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Full text of "Zeitschrift für Volkskunde"

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Toronto 

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ZEITSCHRIFT 


des 


Vereins  für  Volkskunde. 


Begründet  von  Karl  Weinhold. 


Unter  Mitwirkung  von  Johannes  Bolte 

herausgegeben 
von 

Fritz  Boehm. 


24.  Jahrgang. 


Mit  38  Abbildungen  im  Text. 


BERLIN. 

REHREND  &  C'\ 

1914. 


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Inhalt.  III 


Inhalt. 
Abhandlungen  und  grössere  Mitteilungen. 

Suite 
Volkskundliches  aus  den  Kräutcrbiicheni  des  IG.  Jahrliuiulerts.     Von    Heinrich 

Marzell 1—   l'.i 

Hianzischc  Märchen  (1—2.     Von  Samuel  Graf •2ti—  ;',1 

Hausinschrifteu  aus  Nord-  und  Mitteldeutschland.      Von  August  Andrae    ^mit 

zwei  Abbildungen} 31 —  47 

Die  Windsheimer  Handschrift    des  Liedes    'Von   Sankt  Martins  Freuden'.     Von 

August  Gebhardt  und  Elias  Oechsler 17 —  .34 

Volksglauben    und    Volksnieinungen    aus  Schleswig-Holstein,   III  (8.  Haus  und 

Herd,    9.  Arbeit   und   Mahlzeit,    10.   Zeiten,    11.  Wetter,    12.  Tiere;.      Von 

Heinrich  Carstens  f <>5 —  G2 

Maltesische  Legenden  von  der  Sibylla.     Von  Bertha  Ilg Go—  71 

Geschichte  der  Tanzkrankheit  in  Deutschland.     Von  Alfred  Martin  (mit    zwei 

Abbildungen) 113—134.  22.3-23!) 

Le  Medecin  des  Pauvres.     Von  Oskar  Ebermann 134— IG^ 

Neugriechische  Spottnamen  und  Schimpfwörter.     Von  Athanassios  Buturas    .  1G2     175 

Misshandhing  eines  Gespenstes.     Von  Albert  Hellwig 175—182 

Zur  Volkskunde  Argentiniens,    1.  Volksrätsel    aus   dem  La  Plata-Gebiete,     Von 

Robert  Lehmann-Nitsche 24U-2.35 

Eine  alte  Greifswalder  Lokalsage.     Von  Alfred  Haas     256— 2G4 

Das  Zopfgebäck  im  jüdischen  Ritus.     Von  Berthold  Kohlbach 2G5-271 

Beiträge  zur  volkstümlichen  Namenkunde,  I.  Hungerberg,  Honigberg  und  ähn- 
liches. IL  Weinberg,  Wiuterberg,  Venusberg.     Von  Wilhelm  Schoof     .    .  272 — 2'.»2 
Die  Entstehung  des  Berliner  Volkstrachtenmuseums,  jetzt  Königliclie  Sammlung 

für  deutsche  Volkskunde.     Von  Georg  Minden  (mit  einer  Abbildung)   .    .  3;'>7-3r.i 
Die  Entwickelung  der  Königliciieu  Sammlung  für  deutsche  Volkskunde  seit  dem 

Jahre  1904.     Von  Karl  Brunner 349    DW 

Das  Landcsmuscum  für  Sächsische  Volkskunst  in  Dresden.    Von  Franz  Wein itz 

'mit  drei  Abbildungen) 3G1  — 3G7 

Aufgaben  der  deutschen  Sach-Geographie.     Von  Wilhelm  Pessler ;>G7— 387 

Der  Oberinnvicrtler.  Von  Hugo  von  Preen  i^mit  sieben  Abbildungen  ....  387-109 
Die  sogenannten  Apostel-Bienenstöcke    von   Höfel.     Von   Franz  Treichel  (mit 

einer  Abbildung)      109—411 

Kleine  Mitteilungen. 

über  Tiroler  Baueridiochzeiten  und  Primizon,  IL  Von  Oswald  Menghin  .  .  71—  7G 
Aus    den  Reiseberichten    des    Freiherru  Augustin    von    Mörsperg.      \'on    Fritz 

B ehrend    (mit  einer  Abbildung) 77 —  80 

Zum  Bahrrecht.      Von  Oskar  Philipp 80—81 

Zur  Wanderung  der  Scliwankstoffe  0"~''>     ^^n  Johaimes  Bolte 81—  88 

Der  Schwank  vom  Zeichondisput  in  Litauen  und  Holland.     Von  Wilhelm  Caland 

und  Johannes  Bolte 88—  90 


IV  Inhalt. 

Sei  c 

Naclibarreiiiie  aus  Obersachsen.     Von  (.'urt  Müller 90—  5)4.  18o— 188 

Nachtrag  zu  den  Igel.sagen.    Von  (jrt';za  Ilöheirn 94 

Ein  Hclgoländcr  Brautscliinuck.    Von  Max  Höfler  (mit  einer  Abbildung)  .    .    .  94—  95 

Weihnachtsliciler  aus  Mähreu.     X'on  Doniitiiis  8tratil 188-  190 

Die  kluge  Königstochter,  ein  polnisches  Märchen.     Von  Otto  Knoop 191  —  192 

Acker  und  Garten  im  Aberglauben  des  Is(>rgebirges.      Von    Wilhelm  MüUer- 

liüdersdorf 193—194 

Doppeldeutige  Volksrätsel  aus  Schleswig-Holstein.     Von  Arthur  Witt    .    .    .    .  194—195 
Noch    ein  Vorschlag    zur    lexikalischen    Anordnung    von    \'olksmelodien.      Von 

Cottlieb  Brandsch 19(j-199 

Auffrischung  alter  Fastnachtsfeiern  in  der  Rlieinpfalz.     Von    Ludwig  Fränkel  199 

Vernageln.     Von  Max  Höfler  i^mit  einer  Abbildung) 200     201 

Das  kaudinische  Joch.     Von  Tlieodor  Zachariae 201  — 20(i 

Zur  Pflege  der  A^'olkskunde  in  Italien.      Von  Fritz  Boehni 20G— 210 

Zur  Geschichte  des  Aberglaubens  in  der  Obergrafschaft  Katzcnelnbogen.      Von 

Wilhelm  Müller 293-üOö 

Misshandlung  eines  Hexenmeisters.     Von  Albert  Hellwig 305)— 305 

Gebäcke  und  Gebildbrote     Pollweck    und  Osterwolf).      Von    Max  Höfler    (mit 

18  Abbildungen)       305—309 

Beigaben  unter  Rainsteinen.     Von  Oskar  Philipp 310-311 

Jungfrauenvprsteigerung  im  oberen  Nahetal.     Von  Ludwig  Fränkel 311 

Tschuwaschische  Sagen  vom  Igel  als  Ratgeber.     Von  Walter  Anderson.    .    .  312-315 

Drei  Kunstlieder  im  Volksmundc.      Von  Otto  Stückrath 315-317 

Zum  Schwank  vom  Zeichendisput.     Von  Johanne.s  Hertel      317-318 

Nachtrag  zu  S.  281.     Von  Wilhelm  Schoof 319 

Nochmals  das  Soldatenlied:  Hurra,  die  Schanze  vier.     Von  Johannes  Bolte     .  319 

Zum  Rübenzagel.     Von  Georg  Hüsing 320  -  32fi 

Der  'Weiberbraten'  von  Berghausen  bei  Speyer.     Von  Ludwig  Fräukel    .    .    .  411—413 

Braunschweigische  Sagen,  I      Von  Otto  Schütte 414-420 

Rätsel  der  Königin  von  Saba  in  Indien.     Von  Theodor  Zachariae 421-424 

Aus  Hermann  Kestners  Volksliedersammlung.     Von  Johannes  Eolte 424 


Bücheranzeigen. 

Knortz,  K.     Amerikanischer  Aberglaube  der  Gegenwart  (F.  Boehin 9r. 

Bin  Gorion,  M.  J.     Die  Sagen  der  Juden  (I.  Scheftelowitz     ....    97-99.  332 

Laconibe,  M.  Essai  sur  la  Coutume  Poiteviue  du  Mariage  au  dcbut  du  XV.  siccle 

(J.  Kohler) 99  —  100 

Seiler,  F.     Die  Entwicklung  der  deutschen  Kultur  im  Spiegel    des    deutschen 

Lehnworts,  Teil  1    H.  Michel) 210-211 

Hörmann,  K.     Herdengeläutc  und  seine  Bestandteile    E.Hahn) .     211-212 

Thurnwaid,  R.      Forschungen    auf    den    Salomoinsehi    und    dem    Bismarck- 

Archipcl,  Bd.  1  und  :'>  (S.  Feist) 213—214 

Thall>itzer,  W.     The  Ammassalik  Eskimo  (S.  Feist) 214—210 

Müll.'r,  C.    Altgermanische  Meeresherrschaft  (A.  Gebhardt) 216-217 

Schoof,  W.     Die  Schwälmer  Mundart  (0.  Philipp) 32(5—327 

Graber,  G.     Sagen  aus  Kärnten    J.  Bolte      327     328 

Scyfarth,    C.     Aberglaube     und     Zauberei     in     der     Volksmedizin     Sachsens 

y.  Boehm) 328-  329 

Aarne,  A.     Leitfaden  der  vergleichenden  Märchenforschung.  —    Übersicht  der 

Märciienliteratur.  —  Die  'l'iere  auf  df  r  WanderKchaft.  -    Der  (lersprachen- 

kundige  Mann  (J.  Bolte) ;}30  .  ;',3o 

Schulz- Minden,    W.      Das    Germanische    Haus     in    vorgeschichtlicher     Zeit 

(R  Miclke) .^ 332-333 


Inhalt.  ^  V 

Seite 
Bolte,  J.  und  Polivka,  G.     Anmerkungen  zu  den  Kinder-  und  Hausmärchen 

der  Brüder  Grimm,  neu  bearbeitet,  Bd.  1  (F.  v.  der  Leyen) 425     427 

Hausrath,  A.  und  Marx,  A.     Griechische  Märchen  (F.  Boehni) 427—428 

Ackermann,  A.    Der  Seelenglaube  bei  Shakespeare  (H.  Schelenz) 428  —  431 

Notizen  (L.  Bechstein,  F.  Gramer,  A.  Haas.  A.  Hilka,  W.  Hotz,  Gross-Berliner 
Kalender,  E.  Mai,  H.  Marzell,  J.  Mink.  G.  Pitre,  Chr.  Eauck,  G.  Schiero- 
hofer,  R.  Schlegel,  J.  H.  Schwalm,  C.  Sganzini,  A.  Stenzel,  .T.  Vicuna 
Cifuentes,  Vorschläge  zur  psychologischen  Untersuchung  primitiver 
Menschen,  A.  Wrede,  Zeitschrift  für  Kolonialsprachen.  —  A.  Abt.  F.  Bahl- 
mann,  0.  Böckel,  P.  Borchardt,  K.  Braun,  E.  Fehrle,  P.  Grafiunder, 
G.  Hegi,  B.  Kubier,  H.  Marzell,  W.  Müller-Rüdersdorf,  W.  Pessler, 
S.  R.  Steinmetz,  C.  H.  Stratz,  Ch.  Wageiiacr-J.  Fritz,  A.  Wirth.  —  A.  Hell- 
wig,  Th  Imme,  R.  Kleinpaul,  R.  Kühnau,  E.  Lemke,  Quickboru-Bücher, 
B.  Sarasin,  B.  Schmidt,  G.  Steinhausen,  A.  v.  Weissembach.  —  K.  Ahnert, 
G.  Amalti,  S.  Debenedetti,  A.  van  Gennep,  B.  Geyer,  P.  Herrmann, 
J.  Klapper,  E.  F.  Knuchel,  1).  v.  Kralik,  A.  Leskien,  H.  Marzell,  E.  Mogk, 
A.  Nägele,  L.  Neubaur,  G.  Pitre,  J.  Pommer,  W.  S.  Reymont,  E.  Samtei-, 
P.  Sartori,  F.  Vogt) 100-106.  217—221.  334-336.    431-436 

Victor  Chauvin  f.     Von  J.  Bolte 106-107 

Zum  Bericht  über  den  Marburger  Verbaudstag.     Von  J.  Bolte 112 

Max  Höflcr  f.    Von  M.  Roediger 437 

Berichtigungen  und  Mitteilungen 112,  224.  336.  440 

Aus  den  Sitzungsprotokollen    des  Vereins  für  Volkskunde.      Von    K.  Brunner 

1 0,s  -112.  22 1  -  224.     437  -  440 

Register 441-448 


A  olkskundliches  aus  den  Kräiiterbüchern 
des  16.  Jahrhunderts. 

Von  Heinrich  Marzell. 


Eine  wichtige,  bis  jetzt  noch  wenig  gewürdigte  Quelle  zur  älteren 
deutschen  Volkskunde  sind  die  dickleibigen  'Kräuterbücher'  des  16.  Jahr- 
liunderts.  Sie  bringen,  je  nach  der  Persönlichkeit  des  Verfassers,  mehr 
oder  weniger  reichlichen  Stoff  über  Pflanzenaberglauben,  Volksbräuche, 
volksmedizinische  Verwendung  der  Kräuter  und  über  volkstümliche 
Pflanzennamen.  Was  vor  dem  Ki.  Jahrhundert  in  Deutschland  über 
Pflanzenkunde  erschien,  —  es  sei  nur  an  die  sieben  Bücher  'De  Vegeta- 
bilibus"  All)erts  des  CTrossen  (Albertus  Magnus)  und  das  'Buch  der  Natur' 
des  Domherrn  Konrad  v.  Megenberg  (schrieb  um  1349)  erinnert  —  ent- 
hält nur  selir  wenig  auf  deutsche  Volkskunde  Bezügliches,  obwohl  doch 
diese  beiden  Schriftsteller  schon  Ansätze  zu  einer  selbständigen  Natur- 
beobachtung zeigten.  Andere  naturwissenschaftliche  Autoren  kommen 
schon  deswegen  nicht  in  Betracht,  weil  sie  zumeist  die  antiken  Natur- 
forscher (besonders  Theophrast,  Dioskorides  und  Pliuius)  einfach  kopierten. 
Eine  Ausnahme  macht  nur  die  'Physika'  der  hl.  Hildegard  (gest.  1179  als 
Äbtissin  im  Kloster  auf  dem  Ruprechtsberg  bei  Bingen).  Die  zwei  über 
Pflanzen  handelnden  Bücher  des  genannten  Werkes  enthalten  einiges 
Volksbotanische. 

Mit  dem  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  beginnt  in  Deutschland  eine 
neue  Ära  der  botanischen  Forschung.  ^Man  macht  sich,  wenn  auch  nur 
schwer  und  zögernd,  von  dem  Wahne  frei,  dass  die  in  den  antiken 
Schriften  erwähnten  Pflanzen  auch  alle  in  Deutschland  vorkommen  müssten 
und  umgekehrt,  dass  alle  in  der  deutschen  Heimat  wachsenden  Kräuter 
auch  in  den  Büchern  der  Griechen  und  Römer  zu  finden  seien.  Statt 
die  Zeit  nutzlos  mit  der  Frage  zu  vergeuden,  welche  Pflanze  denn  eigent- 
lich unter  dem  lateinischen  oder  griechischen  Namen  zu  verstehen  sei, 
geht  man  hinaus  in  die  freie  Natur,  sammidt  die  einJHMmischcn  Pflanzen 
und  bildet  sie,   wenn  auch  oft  noch   in  sehr  rohen  Holzschnitten,  in  dicken 

Zeitschr.  (1.Verüin.s  f.  Volkskunde.   1914.    Heft  1.  J 


2  Marzell: 

Folianten  ab.  Freilich  sieht  man  noch  immer  ehrfurchtsvoll  in  den 
Schriften  der  Alten  nach,  und  noch  immer  ist  ein  grosser  Teil  des  Inhalts 
dieser  Kräuterbücher  aus  Plinius  und  Dioskorides  übernommen.  Dies 
gilt  auch,  wie  wir  unten  sehen  werden,  von  einem  guten  Teil  des  Pfianzen- 
aberglaubens,  so  dass  es  nötig  wird,  von  Fall  zu  Fall  zu  entscheiden,  ob 
ein  echt  deutscher  Volksglaube  oder  ein  aus  der  Antike  übernommener 
Aberglaube  zugrunde  liegt.  Aber  man  kann  sich  denken,  dass  diese  alten 
Kräuterkundigen  auf  ihren  botanischen  Wanderungen  mit  manchem 
Wurzelgräber,  manch  altem  Weiblein  oder  auch  mit  Hirten  und  Bauern 
zusammentrafen  und  von  diesen  Leuten  allerlei  Abergläubisches  erfuhren, 
das  sie  dann  ab  und  zu  auch  in  ihre  Kräuterbücher  aufnahmen,  teils  weil 
sie  es  für  bare  Münze  nahmen,  teils  aber  auch  um  es  zu  verspotten  und 
sich  darüber  zu  entrüsten.  Die  folgenden  Zeilen  beschränken  sich  fast 
ausschliesslich  auf  die  Kräuterbücher  der  'Väter  der  deutschen  Botanik', 
wie  sie  ein  Geschichtsschreiber  der  Botanik,  Kurt  Sprengel,  genannt  hat. 
Es  sind  dies  Otto  Brunfels^)  (geb.  um  1500  zu  Mainz,  gest.  1534  als 
Stadtarzt  zu  Bern),  Hieronymus  Bock^)  ['Tragus'  nennt  er  sich  in  den 
lateinischen  Ausgaben  seiner  Werke]  (geb.  1495  zu  Heiderbach  im  Zwei- 
brückschen,  gest.  1554  zu  Hornbach  im  Wasgau)  und  Leonhard  Fuchs^) 
(geb.  1501  zu  Wemding  in  Bayern,  gest.  1566  als  Professor  in  Tübingen). 
Auch  die  Kräuterbücher  des  Italieners  P.  A.  Mattioli*)  (gest.  1577)  und 
des  Pfälzers  I.  Th.  Tabernaemontanus^)  (geb.  in  Bergzabern,  gest.  1590 
zu  Heidelberg)  enthalten  einiges  Volkskundliche.  Nur  weniges  bringt  der 
'Gart  der  Gesundheit'  (Ortus  sanitatis),  dessen  Strassburger  Ausgabe 
von  1507^)  hier  benutzt  ist.     Es  ist  dies  eine  Art  botanisches  Volksbuch» 


1)  Contrafayt  Kreuterbuch.  Nach  rechter  vollkommener  Art  /  vnnd  Beschreibungen 
der  Alten  /  besst  /  berümpten  ärtzt  /  vormals  in  Teutscher  spracli  /  der  maszen  nye  ge- 
sehen /  noch  im  Track  auszgangen.  1532.  In  Straszburg  bey  Hans  Schotten.  —  Ander 
Theyl  des  ....  Krcuterbuches  1537. 

2)  New  Kreutter  Buch  von  underscheydt,  würckung  und  namen  der  kreutter  so  in 
Teutschen  landen  wachsen.  Beschriben  durch  Hieronymum  Bock  aus  langwiriger  und 
gewisser  erfarung.  Gedruckt  zu  Straßburg  durch  Wendel  Rihel.  1539.  —  Auch  die  (.dritte' 
Ausgabe  von  1551  habe  ich  an  einigen  Stellen  benutzt. 

3)  New  Kreutterbuch  /  in  welchem  nit  allein  die  gantz  histori  /  das  ist  /  namen  / 
gestalt  /  statt  vnd  zeit  der  wachsung  /  natur  /  krafft  und  würckung  /des  meysten  thejis 
der  kreutter  so  in  Teutschen  und  anderen  landen  wachsen  /  mit  dem  besten  vleiss  be- 
schrieben ....  Getruckt  zu  Basell  durch  Michael  Isingrin.    1543. 

4)  New  Kräuterbuch  mit  den  allerschönsten  und  artlichsten  Figuren  aller  Gewechss 

durch  Georgium  Handsch  verdeutscht.     Gedruckt  zu  Prag  durch  Georgen  Melantrich 

von  Aucntin.    löfiö. 

5)  New  Kreuterbuch.  Mit  schönen,  künstlichen  und  lieblichen  Figuren  und  Conter- 
leyten  aller  Gewächss  der  Kreuter.  .  .  .    Frankf.  am  Mayn.    1588. 

(J)  In  diesem  Buch  ist  der  Herbary  :  oder  krüterbuch  :  genant  der  gart  der  gesunt- 
heit  .  .  .  [auf  der  letzten  Seite  :J  Getruckt  und  llyßlichen  besehen  mit  meer  iiguren 
artlychet  gesetzt  durch  Joanncm  Prüss  buchtruckcr  zum  Tliiergarten.  In  dem  jar  da  man 
zalt  nacli  der  Geburt  Christi  Tusentfünühundertundsyben. 


Volkskundliches  aus  den  Kräuterbüchein  des  IG.  Jahrhunderts.  3 

Jessen  erster  Druck  vom  Jahre  1485  Jatiert  ist^).  Das  meiste  unJ  Jas 
wertvollste  Material  bringt  zweifelsohne  Hieronymus  Bock,  Jessen  Kränter- 
buch  Jäher  hier  besonJers  berücksichtigt  wirJ. 

Dass  Jieser  Botaniker  nicht  selten  unmittelbar  aus  Jem  Volke  schöpfte, 
geht  aus  mehreren  Stellen  seines  Werkes  hervor.  So  sagt  er  z.  B.  von 
Jer  'Eberwurtz'  (Carlinn):  „Man  gibt  Jieser  wurtzel  zu  so  yemans  sie  bei 
im  trag  /  unJ  mit  eym  anJern  über  feit  gehe  /  Jemselben  sol  Jie  krafft  ent- 
zogen werJen  Jurch  Jise  wurtzel  /  glaubs  wer  do  wil  /  ich  finJs  nirgens 
geschriben"  (2,  79a). 

Auch  Paracelsus  kennt  d^s  Mittel,  wenn  er  vom  'Carduus  angelicus'  (Carlina) 
erzählt:  „Der  diser  Wurzel  geniessen  will,  der  muß  allein  mit  großer  Arbeit 
hinder  jhr  Krafft  kommen,  dann  ohne  große  Mühe  tut  sie  nichts.  Ich  hab  erst- 
mahl gesehen,  daß  ein  Mann  im  Elsaß  getragen  hat  von  Rufach  gen  Sultz  auff 
drey  Centner  schwer  ein  lange  Meilwegs  Wein  in  einem  Vass  auf  sich  gebunden 
und  12  Mann  zu  jhm  genommen;  hat  die  12  alle  müde  gegangen  das  sie  jhm 
nicht  haben  mögen  folgen  und  schwach  hernach  gegangen  etlich  Tag  hernach  gar 
geschwecht  gelegen"  (Bücher  u.  Schriften  des  edlen  hochgelehrten  und  bewehrten 
Philosophi  und  Medici  Philippi  Theophrasti  Bombast  v.  Hohenheim  Paracelsi  ge- 
nannt ....  an  Tag  geben  durch  J.  Huserum.  Frankf,  a.  M.  1603.  8,  57).  „In 
die  Gebisse  [der  Pferde]  stecke  oder  knüpffe  man  etwas  von  Chamaeleonte  nigro 
oder  Eberwurtz,  sonderlich  die  in  ihrer  Vollkommenheit  und  Balsamischer  Zeit 
als  zwischen  der  zwei  Frauentagen  umb  den  Herbst  gegraben  sey.  Sintemal  die- 
selbe einem  anderen  Menschen  oder  Roß  magnetisch  und  sichtbarlich  seine  starcke 
Kräffte  und  gute  Natur  entzeucht  oder  benimbt  .  .  .  (Staricius  J.,  Neu  vermehrter 
Heldenschatz  (1682),  S.  «7).  Ähnlich  zitiert  Reichelt,  Amuleta  (1692),  S.  238  nach 
Helmontius:  „radix  Carlinae  plena  succo  et  viribus  evulsa  gestata  et  mumiae  con- 
temperata  tanquam  fermento  ex  homine,  cuius  umbram  quis  premit,  vires  et  robur 
naturale  in  se  trahit."  Schliesslich  erscheint  das  Rezept  auch  in  des  „Albertus 
Magnus  bewährte  u.  approb.  sympathetische  u.  natürl.  egyptische  Geheimnisse 
für  Menschen  und  Vieh."  20.  Aufl.  Toledo  [natürlich  fingierter  Verlagsort;  wohl 
aus  dem  'bekannten'  Verlag  E.  Bartels,  Weissensee  b.  Berlin],  4.  Teil,  S.  5:  „Wie 
man  einem  Pferde  seine  Stärke  benehmen  und  einem  Menschen  einpflanzen  kann. 
Man  nehme  den  Samen  eines  Hengstes,  der  in  einer  Stutterei  leicht  zu  erhalten 
und  vermische  denselben  mit  guter  Erde.  In  diese  pflanze  man  schwarze  Eber- 
wurz und  lasse  es  aufwachsen.  Ein  Mensch,  der  hievon  gegessen  hat,  auch  davon 
bei  sich  trägt,  und  sich  eine  Zeitlang  in  einem  Stalle,  wo  starke  Pferde  befindlich 
sind,  aufhält  und  darin  schläft,  benimmt  den  Pferden  von  ihrer  Kraft  und  eignet 
sie  sich  zu.  Die  genannte  Wurzel  muss  aber  bald  nach  dem  neuen  Mond  ein- 
gepflanzt und  2  oder  3  Tage  vor  dem  darauf  folgenden  neuen  Mond  wieder  ge- 
nommen werden.  —  Auf  gleiche  Art  kann  auch  andern  Thieren  die  Kraft  ge- 
nommen und  dem  Menschen  oder  einem  andern  Thier  eingepflanzt  werden." 
Höfler,  Volksmed.  Botanik  der  Germanen  (1908),  S.  110  vermutet  hinter  diesem 
alten  Aberglauben  mit  Recht  einen  Marenzauber. 

An  mehreren  Stellen  seines  Kräuterbuches  macht  sich  Bock  über 
Jen    Aberglauben    seiner    Zeit    lustig    oJer    eifert    gegen    ihn.      Von    Jer 


1)  Vgl.  näheres  über  dieses  Werk  und  die  Kräntcrbüclicr  iiborliaupt  Ernst  H.  F.  Meyer, 
Geschichte  der  Botanik,  4.  Band.    Königsberg  1857. 

1* 


4  Marzell: 

'Mansstreu'  (Mannstreu-Distel,  Eryngiuni  campestre)  meint  er  ironisch: 
.,Etlicli  liaben  jr  sn])erstition  mit  diser  wnrtzel  /  vermeynen  wann  sie 
sollich  wurtzel  hei  jnen  tragen  /  sie  wollen  Yeneri  und  Sappho  gefallen. 
ich  acht  etlich  mästen  eyn  centner  haben,  wer  nit  zuvil.  wanns 
helffen  wolt"  (2,  85a). 

Ähnlich  auch  bei  Brunfels  (15;5l'),  S.  i>S;'..  Die  Quelle  ist  Plinins  liist.  nat.  2-J,  -JO: 
Porteutosum  est,  quod  de  ea  [von  der  Pflanze  •centum  capita',  die  auf  Eryngium  gedeutet 
wurde]  traditur,  radicem  eius  alterutrius  sexus  similitudinem  reierre,  raro  invento,  set 
si  viris  contigerit  mas,  amabiles  iieri:  ob  lioc  et  Phaonem  Lesbium  dilectum  a  Sappho, 
multa  circa  hoc  non  Magorum  solum  vanitate,  sed  etiam  Pythagoricorum."  Vgl.  auch 
Reichelt,  Amulette  (1(>92).  S.  (IG'.»  und  Frank.  Signatur,  dass  ist  grundtliche  und  warhafftige 
Beschreibung  der  von  gott  und  der  natur  gebildeten  und  gezeichneten  gewachsen  (PbOstock 
l(;iS),  S.  128. 

Der  Aberglaube,  der  mit  dem  Farn  und  seinem  'Samen'  getrieben 
wurde,  gibt  Bock  ganz  besonders  Gelegenheit,  sich  über  Aberglauben 
überhaupt  auszulassen.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  näher  auf  den  Faru- 
aberglauben,  der  in  früheren  Zeiten  eine  sehr  weite  Verbreitung  hatte, 
einzugehen.  Der  Mittelpunkt  dieses  Aberglaubens  bestand  darin,  dass 
man  den  zauberkräftigeu  'Farnsamen'  (der  Farn  bringt  als  Kryptogame 
keine  Samen  hervor;  als  solche  betrachtete  man  die  Sporen  auf  der 
Unterseite  der  Wedel)  nur  zur  Mitternachtstnnde  der  Johannisnacht  unter 
mancherlei  Beschwörungen  gewinnen  zu  können  glaubte.  Bock  lässt  sich 
die  Mühe  nicht  verdriessen,  selbst  in  der  dohannisuacht  auf  die  Suche  nach 
dem  'Farnsamen'  zu  gehen,  um  zu  erfahren,  welche  Bewandtnis  es  damit 
habe.  „Alle  lerer  schreiben  Farnkraut  trag  weder  blumen  noch  saraen  / 
yedoch  so  hab  ich  zum  viertenmal  auff  S,  Johansnacht  /  dem 
Samen  nachgangen  ;  und  morgens  frü  ehe  der  tag  anbrach  schwartzen 
kleynen  samen  /  wie  Magsamen  [Mohnsamen]  /  auff  düchern  und  breytten 
wulkraut  blettern  auff  gehaben  /vnder  eyneni  stock  mehr  dann  under  auderen/ 
etwan  under  hunderten  nit  eyn  körnlin  funden  /  dagegen  hab  ich  widerumb 
under  eynem  stock  mehr  dann  hundert  körnlin  funden.  Zu  solchem 
handel  hab  ich  keyn  segen  kevn  beschwerung  noch  Caracter 
(wie  etliche  darmit  handeln)  gebraucht  /  sunder  on  alle  superstition  / 
dem  samen  nachgangen  /  und  funden  /  doch  eyn  jar  mehr  dann  das  ander  / 
bin  etwan  auch  vergebens  hinauss  gegangen.  Wann  ich  den  samen  hab 
wollen  holen  /  bin  ich  nit  alleyn  gangen  etwan  zwen  zu  mir  genoraen  und 
nachts  in  derselben  gegent  (do  nit  überlauffens  war)  eyn  gross  fewer  ge- 
macht /  und  über  nacht  also  lassen  brennen.  Wie  nun  solchs  zugehe  oder 
was  für  eyn  geheymnüss  die  natur  darmit  gemeyn  /  ist  mir  verborgen. 
Das  hab  ich  wollen  anzeygen  /  sintemal  alle  lerer  den  Farn  on  samen  be- 
schreiben" (1,  Kilb).  Weiter  unten  sagt  er  von  den  'Samen  des  Walt- 
farns": ,,denselbigen  sanilen  etliche  alte  weiber  /  schreien  das  auss  für 
Fareusamen  /  ich  geschweig  was  sie  sunst  mit  treiben"  (1,  162a). 
Nochmals    kommt    dann  Bock    auf    <len  Farnaberglauben  zu  s])rechen  als 


Volkskuudliches  aus  deu  Kräuterbücliern  des  16.  Jahrhunderts.  5 

er  von  dem  (antiken)  Aljerglaubeu  berichtet,  dass  demjenigen,  der  die 
Paeonia  ausgrabe,  der  SjDecht  die  Augen  aushacke:  „Was  ist  das  änderst  / 
dann  wie  man  vom  Farusamen  sagt:  wer  Farnsamen  will  holen  /  der  muli  keck 
sein  und  den  Teuffei  können  zwingen.  Aber  in  summa  solch  narrenspil 
und  spectra  muß  man  den  leutten  machen  /  sie  würden  sunst  in  der 
artznei  auch  gelert  /  grüben  zu  zeitten  jre  wurtzel  selbers  /  samleten 
kreutter  und  samen  /  wann  es  zeit  were;  das  wer  aber  wider  die  Apotecker 
und  wurtzelkremer"  (1,  173a).  Recht  skeptisch  meint  auch  Brunfels 
vom  Farnsamen:  „Was  nun  der  Waltfar  für  kräfft  habe  /  vnd  nämlich  der 
somen  darvon  /  ist  im  geheymnüssz  der  beschwörer  /  sye  sagens  auch  nye- 
mants.  Dann  es  ist  so  ein  kostlich  und  überkostlich  ding  umb  den  somen/ 
dass  man  wunder  darmit  würcke.  Ich  habe  aber  noch  keinen  gesehen  / 
iler  reich  darmit  sey  worden  '  oder  ein  eintzig  wunder  ilaruiit  gewürckt 
habe"  (S.  307). 

Literatur  (nur  ausführliche  oder  entlegenere  Schriften  sind  angeführt!)  über 
den  Farnaberglauben:  Veckeustedt,  Zamaiten  1883  2,  18U;  Wissensch.  Mitteilungen 
aus  Bosnien  u.  d.  Herzegowina  7,  346;  Kuhn,  Mark.  Sagen  (1843),  S.  20G;  Philo 
[Anhorn],  Magiologia  (1IJ75\  S.  7 TG;  Hildegard,  Physica  1,  47  (Migne):  oben  4. 
153;  Cl.  Brentano  in  der  'Gründung  Prags"  (Werke  hrsg.  v.  Schüddekopf)  10,  391; 
Ztschr.  f.  Deutsche  Myth.  u.  Sittkde.  4,  152;  Schulenburg,  Wenden  (1880),  S.  82; 
Baumgarten  1862,  S.  132;  Sebdlot,  Folklore  de  France  3  (1906),  475;  Anthro- 
pophyteia  7,  289;  Alpenburg,  Mythen  (1857)  S.  407;  Krauss,  Sagen  der  Südslaven 
(1884)  2,  424  ff. ;  Kluge,  Über  die  urgesch.  Bedeutung  d.  Johannisfeste  (Jahresber. 
Gymnas.  Mühlhausen  1873);  Höfler,  Volksmed.  Bot.  d.  Germ.,  S.  4;  Marzell  in 
Naturw.  W^ochenschr.    N.  F.    8  (1909),  Nr.  11. 

Bei  der  Besprechung  des  Gauchheils  (Anagallis  arvensis)  benutzt 
Bock  die  Gelegenheit,  um  darauf  hinzuweisen,  dass  der  mit  dieser 
Pflanze  getriebene  Aberglaube  dem  Christen  nicht  zieme:  „Was  die  alten 
heyden  für  abenthewr  und  wort  zu  diesen  kreüttern  vor  dem  aussgraben 
getriben  /  und  gesprochen  zeigt  Plinius  an.  Aber  die  Christen  achten 
superstition  und  gaukelwerk  nichts,  wiewol  under  denselben  noch 
vil  superstition  geduldet  werden"  (1,  112b). 

Plinius  nat.  bist.  25,  145  sagt  von  der  Pflanze  anagallis:  „praecipiunt  aliqui 
effossuris  ante  solis  ortura,  priusc|uam  quicquara  aliud  loquantur,  salutare  eani, 
sublatara  exprimere;  ita  praecipuas  esse  vires".  Dem  Namen  'GauchheiT  zuliebe 
scheint  Fuchs  zu  schreiben:  „Diese  kreuter  haben  die  alten  abergläubischen 
Teutschen  Gauchheyl  darumb  geheyssen,  das  sie  geglaubt  haben  wo  mans  im 
jugang  des  vorhofs  auffhenckte  das  sie  allerley  gauch  und  gespenst  vertrieben"^ 
(cap.  6).  Wenigstens  kann  ich  sonst  nirgends  linden,  dass  diese  Pflanze  im 
germanischen  Aberglauben  eine  besondere  Rolle  spielte. 

Recht  spöttisch  meint  Bock  vom  Sterkkraut  (Reseda  luteola),  das 
man  auch  zum  Gelbfärben  benutzte:  „Dioskorides  sagt  das  Antirrhinon 
guot  seie  für  Zauberei  der  bulschafft  /  alleyn  das  mans  bey  sich  trage  /  als- 
dann möge  niemands  durch  Philtra  oder  ander  abenthewer  zur  l^iebe  be- 
trogen werden.     Zum  anderen  sol  es  diejhenige  so  gedacht  kraut  bei  sich 


6 


Marzell : 


haben  /  für  yedeimann  angeneni  und  werd  machen.  Ich  halt  wol 
schöner  und  geeler  /  sunderlich  wann  sie  sich  darmit  Hessen 
ferben"  (1,  105a). 

Bock  verwechselt  hier  den  Färber- Wau  (Reseda  luteola)  und  das  Löwenmaul 
(Antirrhinum  orontium).  Der  dem  Texte  (v.  1551)  beigegebene  Holzschnitt  zeigt  die 
erstgenannte  Pflanze,  und  auch  die  Bemerkung:  ^Die  weiber  sieden  diß  kraut  dürr 
und  grün  mit  wasser  und  Alun  [Alaun],  machen  also  die  bett  schön  gäl  damit" 
weist  auf  den  Färber-Wau.  Auf  die  zweite  Pflanze  bezieht  sich  der  Name 
'antirrhinum'  und  Bocks  Beschreibung  von  der  einem  'kalbs  antlitz'  ähnlichen 
Frucht,  was  auf  die  Löcher  in  der  Fruchtkapsel  von  Antirrhinum  Bezug  nimmt 
[vgl.  Marzell,  Tierpflanzen  (1913),  S.  40].  —  „Wer  sich  mit  der  Pflanze  antirrhinon 
salbt,  soll  guten  Ruf  erlangen"  (Theophrast  bist,  plant.  9,  cap.  19,  2).  Vgl.  auch 
Dioskorides  mat.  med.  4,  130  und  Plinius  nat.  bist.  25,  129. 

Übrigens  wäre  es  falsch  zu  glauben,  dass  diese  alten  Botaniker  über 
den  Pflanzenaberglauben  schon  ganz  erhaben  gewesen  wären.  Sagt  doch 
der  kenntnisreiche  Mattioli  von  der  Einbeere  (Paris  quadrifolia):  „Dies 
kraut  ist  nicht  so  giftig  wie  sie  meinen.  Etwa  ich  weiss  und  habs  selbs 
erfaren,  das  etliche  menschen  so  durch  unholden  und  Zauberei  jrer 
vernunfft  beraubt  gewesen  mit  diesen  Beeren  widerumb  sey  geholfen 
worden.  .  .  ."  (S.  472.) 

Die  Beeren,  wenn  die  Sonne  in  den  Zwillingen  steht  und  zu  5  oder  9  ge- 
pulvert, empfiehlt  Schröder,  Medicin.-Chymische  Apotheke  (1685),  S.  1007,  „denen, 
die  aus  Hexerey  närrisch  worden."  Im  heutigen  Volksaberglauben  gilt  die  Einbeere 
als  sympathetisches  Mittel  gegen  die  Pest,  die  ja  der  primitive  Volksglaube  auch 
als  von  Dämonen  verursacht  hinstellt.  Vgl.  Andrian,  Altaussee  (1905)  S.  loG; 
Mitteil.  d.  nordböhm.  Exkursionki.  16,  351;  Zeitschr.  f.  öster.  Volkskde.  11,  190; 
ünger,  Steir.  Wortschatz  (1903)  S.  71. 

Derselbe  Mattioli  ist  auch  gleich  bei  der  Hand,  um  Beweise  für  die 
Zauberkraft  des  eben  erwähnten  Antirrhinum  beizubringen:  „Dioskorides 
sagt,  es  [antirrhinum]  sei  gut  gegen  Zauberei  und  gespeust.  Das  hab 
ich  zwar  selbs  gesehen  inn  eines  Herrn  Schloli  von  einem  Kettenhund, 
der  sonst  stets  thet  bellen,  wenn  er  frembde  Leute  sähe,  dass  derselbige 
Hund  in  acht  tagen  nie  gebellet  hat  und  dieweil  man  vermeinet  der  hund 
were  durch  böse  leute  bezaubert,  die  vielleicht  etwas  arges  in  demselbigen 
schloß  zu  begehen  im  sinne  hetten,  hat  man  dies  kraut  wieder  in  die 
hundshütten  gelegt;  bald  darnach  hat  der  hund  wiederum  gebellet" 
(S.  519). 

IMahch  wertvollen  Beitrag  bringen  die  alten  Kräuterbücher  zur 
Kenntnis  der  'Kräuterweihe'.  Bekanntlich  werden  in  katholischen  Gegenden 
an  Maria  Himmelfahrt  (15.  August)  gewisse  Pflanzen  geweiht,  die  dann 
besonders  heil-  und  zauberkräftig  sein  sollen^).   Zu  den  Pflanzen,  die,  so- 


1)  Vgl.  darüber  an  neuerer  Literatin-  besonders  Franz,  Die  kirchl.  ßenediktionen  im 
Mittelalter  (1909)  1.  398-421  und  Höfler,  Der  Fraueudreissiger,  Zeitschr.  f.  österr.  Volks- 
kunde 18,  133-lGl. 


Volkskundliches  aus  den  Kräuterbüchern  des  16.  Jahrhunderts.  7 

viel  ich  übersehen  kann,  heutzutage  nicht  mehr  (oder  nur  selten?)  in  den 
Kräuterbund  kommen,  gehört  das  Immergrün  (Yinca  minor),  von  dem  der 
'Gart  der  Gesuntheit'  (1507)  sagt:  „Mit  diesem  krut  beswert  man,  in 
welchen  Menschen  böse  geist  synt.  Wie  die  Beswerung  zugat  lass  ich 
stan  vmb  kirtze  willen.  Aber  on  zwyfel  mag  keyn  böser  geist  gewalt  in 
dem  huss  haben  darinne  diss  krut  ist.  Und  vil  besser  ist  es  so  es  ge- 
wyhet  wurde  mit  andern  kreütern  uff  unser  frauwen  tag"  (S.  41a). 
„Welcher  diss  krut  by  ym  trat  über  den  hat  der  teüffel  kein  gewalt.  — 
diss  krut  sol  gesamelt  werden  zwischen  den  zweyen  unser  frawen 
tagen  assumptionis  und  nativitatis"  (ebenda). 

Wie  Höfler  a.  a  0.  nachgewiesen  hat,  bilden  die  sog.  Kranzkräuter  (corona- 
menta)  der  Antike  einen  Hauptbestandteil  der  Kräuterbüschel,  ein  Beweis,  dass 
die  Kräutervveihe  vor  allem  durch  die  christlichen  Klöster,  denen  ja  die  antiken 
Schriften  wohl  bekannt  waren,  ins  Volk  drang.  Zu  den  Kranzkräutern  gehört  nach 
Plinius  hist.  nat.  21,  68  auch  die  vi(n)capervica,  die  ja  auf  unser  Immergrün  ge- 
deutet wird.  Solche  Beschwörungsformeln  der  vinca,  auf  die  der  'Gart  der  Ge- 
sundheit' anspielt,  sind  teils  in  lateinischer,  teils  in  deutscher  Sprache  überliefert; 
vgl.  Schönbach,  Altdeutsche  Predigt  (Wien.  Akad.  1900,  142.  Bd.);  Alemannia  2, 
126.  135;  Schmeller,  Bayr.  Wörterb.  ^  2,  291;  Zeitschr.  f.  D.  Altert.  38,  I8f.  Als 
Liebesmittel  kennt  das  'ingrien'  (Singrün,  Vinca  minor)  das  'buch  der  Versamm- 
lung oder  das  buch  der  heymlichkeiten'  des  [Pseudo-JAlbertus  Magnus  (Strass- 
burger  Ausgabe  ISOS,  cap.  5).  Über  das  Immergrün  im  (Liebes-)Zauber  vgl.  ferner 
Alpenburg,  Mythen  (1857)  S.  265.  399;  Leoprechting,  Lechrain  (1855)  S.  188;  oben 
2,  359  und  9,  375;  Zeitschr.  f.  Deutsche  Myth.  und  Sittenkunde  4,  107;  Fischer, 
Abergl.  unter  den  Angelsachsen  (Progr.  d.  Realschule  Meiningen  1891)  S.  32; 
Andree,  Braunschw.  Volkskunde"  S.  335;  Zeitschr.  d.  Ver.  f.  rhein.  u.  westf.  Volks- 
kunde 3,  63;  Schambach,  Wörterb.  d.  niederd.  Mundart  (1858)  S.  154;  Zeitschr. 
d.  histor.  Ver.  f.  Niedersachs.  1878,  84;  Schulenburg,  Wenden  (18.s2)  S.  145; 
Schröder,  Med.-Chym.  Apoth.  (1685)  S.  1093;  Grimm,  Mythol.  *  3,  465.  —  Die 
Ruthenen  lassen  zu  Ostern  Immergrün  mit  Meerrettich,  Knoblauch  und  Wermut 
weihen  (Hoelzl  in  Verh.  d.  k.  k.  zool.  botan.  Gesellsch.  Wien  11.  Band  ([1861] 
S.  169). 

Eine  Pflanze  dagegen,  die  auch  jetzt  noch  im  katholischen  Süddeutsch- 
land häufig  einen  Bestandteil  des  Weihbüschels  bildet,  ist  das  Johannis- 
kraut (Hypericum  perforatum).  „Ton  etlichen  auch  Fuga  demonum  ge- 
nennt darumb  das  man  meynet  /  wo  solichs  kraut  behalten  würt  /  da 
kommt  der  teüffel  nicht  hyn  /  möge  auch  kein  gespenst  bleiben  /  und 
darumb  beräuchert  man  in  etlichen  landen  die  kindtbetterin  damit  /  lassen 
es  aber  vor[her]  segnen  vff  unsser  Frawen  uffarttag  /  und  haben  also 
ire  kurtzweil  damit"  (Brunfels  1532  S.  251). 

Die  Pflanze  heisst  in  Westfalen  Leiwefruggenbettestrauh,  im  Erzgebirge  Maria 
Bettstroh  und  in  Westböhmen  Unsa  löi(b)m  Frau  Bettstrauh;  sie  gehört  wie  Ga- 
lium  verum  (und  Thymus  serpyllum),  dem  gewöhnlich  der  Name  unserer  lieben 
Frau  Bettstroh  gegeben  wird,  in  die  Gruppe  der  'Frauenkräuter';  vgl.  Höfler, 
Frauendreissiger  VI.  Mattioli  sagt:  „die  weiber  bereuchern  die  sechswöchnerinen 
darmit,    derhalben    nennet  mans  an  etlichen  orten  unser  frawen  würtze"    (S.  388). 


g  Marzell: 

Mit  'unser  f(;awen'    dürfte  jedoch  in  diesem  F'all  die  hl.  Maria    zu  verstehen  sein. 
Rosbach,  Paradeissgärtlein  (1588)  reimt  von  St.  Johannskraut: 

„Drey  Loth  all  morgen  getrunken  eyn, 

Soll  ein  gut  Preservatiffe  seyn 

Für  Zauberey  und  Teuffels  Gespenst 

Das  helffen  soll,  wie  vielleicht  wehnst 

Mag  in  der  Natur  gepüantzet  seyn. 

Den  Physicis  solchs  stelle  heym, 

Des  Teuffels  List,  Schreck  und  Betrug 

Vertreibt  ein  anderer  darnach  lug, 

Kraut,  Palmen,  Wasser  hoch  geweiht 

Den  Teuffei  gwis  gar  nicht  vertreibt."    (S.  12.) 

Die  teufelscheuchende  Wirkung  des  Hartheus,  wie  die  Pflanze  auch  heisst, 
wird  auch  in  einem  in  den  alten  Kräuterbüchern  oft  wiederkehrenden  Reime  her- 
vorgehoben: 

y,Dost,  Harthaw  und  weisse  Heidt 

Thun  dem  Teuffei  vil  leidt."  (Bock  1551   S. -iTb.) 

In  der  ersten  Ausgabe  des  Bockschen  Kräuterbuches  von  15;J9  heisst  es  statt 
'weisse  Heidt'  'Wegscheydt'  (1,  18a).  Soll  hier  etwa  an  Beschwörungen  des 
Teufels  an  Kreuzwegen  (Scheidewegen)  gedacht  sein?  Unter  'weisse  Heide'  ist 
der  Sumpf-Porst  (Ledum  palustre)  zu  verstehen,  dem  wegen  seines  starken  Ge- 
ruches dämonenabwehrende  Eigenschaften  zugeschrieben  wurde;  Dost  ist  Ori- 
ganum  vulgare. 

Eine  andere  Pflanze,  die  ebenfalls  auch  jetzt  noch  in  die  Kräuter- 
büschel kommt  (z.  B.  in  Unterfranken  als  'Donnerdister,  im  bayrischen 
Schwaben  als 'Herrgottskrone''),  ist  die 'Dreidistel',  wie  Bock  die  gemeine 
Eberwurz  (Carlina  vulgaris)  nennt.  Von  ihr  schreibt  er:  „Die  ^Yeiber 
stellen  nach  dieser  Distel  vmb  vnser  lieben  frawen  Hymmelfart  tag 
vnd  zelen  sie  vnder  die  Yerbenas  oder  Würtzwuscli,  welche  Dystel  in 
drei  theyl  zertheylt  ist  /  mit  dreien  köpflin  sol  die  best  sein  /  doher  sie  den 
namen  Dreidistel  überkommen  und  Frawendistel  /  darumb  das  sie  auff 
vnser  frawentag  mit  anderen  kreüttern  gew^eicht  würt.  Es  haben  die 
weiber  vil  superstition  mit  den  kreüttern  sunderlich  aber  mit  den  Drei- 
disteln gehört  billich  vnder  die  geweichten  kreütter"  (2,  81a). 

Dagegen  scheint  ein  anderer  Korbblütler,  die  Dürrwurz  (Inula  squar- 
rosa,  Conyza  squarrosa)  in  unseren  Tagen  keine  Bedeutung  mehr  für  die 
Kräuterweihe  zu  haben.  „Dieweil  die  Weiber  diese  Dürrwurz  kenneu  /  und 
auff  unser  lieben  frawen  himmelfarttag  in  jre  sagmina  oder  würtz- 
wusch  und  Yerbenas  samlen  und  weihen  /  für  alle  gespenst  und  sunder- 
lich für  ungewitter  /  vermeynen  gantz  der  donner  und  hagel  könne  nit 
schaden  wo  und  an  welchem  ort  die  Dürrwurtz  sei"  (1,  42). 

Sehr  interessant  ist,  dass  dieselbe  Pflanze  nach  Sailer,  D.  Flora  Oberüster- 
reichs  (1841)  JI2,  171  Donncrwurz,  Donnerer,  Taurer  heisst,  'weil  sie  gegen  das 
Einschlagen  des  Blitzes  hilft."     Es  ist  kaum  anzunehmen,   dass  diese  Angaben  auf 


Volkskundliches  aus  deu  Kräuterbüchern  des  l»».  Jahrhunderts.  9 

das  Bocksche  Kräuterbuch  zurückgehen.  Die  gleiche  (in  anderen  Gegenden  an- 
scheinend ganz  unbeachtete)  Pflanze  wurde  also  in  der  Rheingegend  ('auff  dem 
Gaw  Speier')  und  in  Oberösterreich  gegen  das  Einschlagen  des  Blitzes  verwendet. 

Da  nicht  feststeht,  welche  Pflanze  Bock  unter  dem  'Blutkraut'  ver- 
stellt —  die  meiste  Wahrscheinlichkeit  hat  noch  der  rote  Gäusefuss 
(Chenopodium  rubrum) — ,  so  lässt  sich  auch  nicht  sagen,  ob  diese  Pftanze 
noch  jetzt  in  den  Kräuterbüschel  kommt.  „Die  Weiber  pflegen  das  kraut 
inu  jren  Wurtzwüschen  zu  dörren  und  mit  anderen  Sagminis  zu  be- 
halten" (2.  41a). 

Mit  dem  roten  Günsefuss  ist  der  Fuchsschwanz  (Amarantus)  nahe  verwandt, 
der  in  der  Oberpfalz  in  den  Kräuterbüschel  kommt;  vgl.  Marzell,  Altbayr.  Volks- 
bot.  (19(19),  S.  12. 

Ein  häufiger  Bestandteil  des  heutigen  Kräuterwisches  ist  wiederum 
iler  Wermut  (Artemisia  absinthium),  von  dem  Tabernaemontanus  sagt, 
dass  ihn  „die  weiber  in  jre  Würtzwische  mit  anderen  Kräutern 
sammeln"  (8.  1). 

Der  Wermut  wird  heutzutage  besonders  in  der  Rheingegend  in  den  I^räuter- 
büschel  genommen;  auch  im  Elsass  ist  er  eine  der  neun  Pflanzen,  die  an  Mariae 
Himmelfahrt  geweiht  werden  (Martin  u.  Lienhart,  Elsäss.  Wb.  [1899—1907]  2,854). 

Schliesslich  gehört  auch  nach  dem  'Gart  der  Gesuntheit"  der  Orant 
(Autirrhinum;  vgl.  oben  S.  6)  zu  den  Pflanzen  der  Würzweihe:  „Wer 
diss  krut  by  im  hat  und  gewyhet  würt  zu  vnser  frawentag  assump- 
tionis,  dem  mag  kein  zauberey  schaden"   (S.  126b). 

An  derselben  Stelle  heisst  es  auch  von  dieser  Pflanze:  „Dy  ammen  haben 
diss  krut  by  jnen  so  die  frawen  in  kyndes  nöten  lygent  die  geburt  ist  in  [enj 
dester  leychter".  Der  Dorant  (Orant)  wird  häutig  (besonders  auch  in  Verbindung 
mit  Dost  und  Baldrian)  als  hexenvertreibendes  Mittel  genannt;  vgl.  Wuttke,  Volks- 
abergl."  §  135.  Daher  auch  der  Reim:  „Orant  den  alten  weibern  wol  bekannt" 
(z.  B.  bei  Cordus,  Annotat.  in  Dioscorid.  [15()1]  S.  72a).  Häuflg  kehrt  in  ver- 
schiedenen Gegenden  eine  Sage  wieder,  nach  der  eine  Wöchnerin  (oder 
Schwangere)  dadurch,  dass  sie  den  Dorant  bei  sich  hatte  oder  ihn  unbewusst 
berührte,  dem  auf  sie  lauernden  Teufel  entging.  Vgl.  Praetorius,  Anthropodemus 
plutonicus  (16GG)  2,  135«".;  Keightley,  Mythol.  d.  Feen  u.  Elfen  (1828)  2,  84; 
Schulenburg,  Wendische  Volkssag.  (IS80)  S.  SC;  Köhler,  Voigtland  (1867)  S.  416. 
472;  Irmischia  (1881)  S.  26.  31 ;  Vernaleken,  Mythen  (1859)  S.  225;  Kuhn  u. 
Schwartz,  Nordd.  Sagen  (1848)  S.  431. 

Auch  über  die  Palmenweihe  macht  Bock  einige  Angaben,  als  er  vom 
'Seuenbaum'  (Juniperus  Sabina)  spricht:  „Die  Messpfaffen  und  alte  huren 
geniessen  des  Seuenbaums  am  besten.  Die  Pfaffen  pflegen  auff  den 
Palmtag  den  Seuenbaum  mit  andern  grünen  gewachsen  zu  weihen  /  geben 
für  der  donder  und  der  Teuffei  können  nichts  scliaffeu  /  wo  solche  ge- 
weihete  stengel  inn  heusern  gefunden  werden  /  dardurch  würt  jr  o])ffer 
gemehrt  /  und  der  armen  seckel  gelert.  Zu  dem  so  haben  die  alten  Hexen 
und    huren    aclit    auff    die    erste  schüssling  /  so  der  pfaff'  oder  andere  von 


IQ  Marzell: 

Seuenpalmen  zu  dem  creutz  werffen  /  geben  für,  die  selbige  schüssliiig 
seien  gut  für  hawen  und  stechen  /  für  Zauberei  /  böss  gespenst  /  und  treiben 
darmit  vil  abenthewer  /  lassens  von  newem  weihen  /  vnd  Messen  darüber 
lesen"  (15511)  s.  403b). 

Die  Huren  nennt  Bock  deswegen,  weil  der  Sadebaum  (wie  auch  jetzt  noch) 
als  volkstümliches  Abortivum  benutzt  "wurde.  Über  das  Werfen  der  Palmen  zu 
dem  Kreuz  vgl.  Franz,  Die  kirchlich.  Benedikt.  1,  470 — 507.  Dass  Bock  so  sehr 
gegen  die  Palmbräuche  eifert,  erklärt  sich  auch  daraus,  dass  er  seit  1532  pro- 
testantischer Prediger  gewesen  zu  sein  scheint  und  später  von  der  päpstlichen 
Partei  aus  seinem  Amte  verdrängt  wurde  (Meyer,  Gesch.  d.  Bot.  4,  304).  Der 
Sebenbaum  ist  auch  heute  noch,  besonders  im  katholischen  Süddeutschland  ein 
Bestandteil  des  Palras,  so  in  Altbayern  (Marzell,  Altbayr.  Volksb.  S.  2),  in  Tirol 
(Zeitschr.  f.  D.  Myth.  u.  Sittenkde.  1,  327,  Alpenburg  1S57  S.  396),  in  der  Schweiz 
(Taminathal;  Schweiz.  Arch.  f.  Volkskde.  1,  158).  Von  'sevebalmen'  spricht  eine 
1727  geschriebene  Besegnung  aus  dem  Archiv  Donaueschingen  (Alemannia  2,  137). 
Vgl.  auch  Zingerle,  Sitten  1857  S.  68. 

An  die  Stelle  des  Sadebaums  tritt  im  Palmbuschen  nicht  selten  ein 
anderer  immergrüner  Strauch,  die  Stechpalme  (Hex  aquifolium).  „Gemelte 
Stechpalmen  gehören  unter  die  Sagraina.  Der  gemein  verfüret  hauff 
stecket  disen  palmen  /  Wann  er  geweihet  würt  /  über  die  thürschwellen 
des  hauss  /  und  der  vihe  stalle  /  der  zuuersicht  /  es  sol  das  wetter  nit  da- 
hin schlagen  /  wo  diser  Stechpalmen  gefunden  werde"  (1551  S.  402b). 
Ahnlich  berichtet  auch  Mattioli:  „der  gemeine  mann  gleubt,  das  die 
geweiheten  zweige  dieses  baums  über  die  thür  auffgehenckt  für  dem 
donner  bewaren  sollen"   (S.  52). 

Die  Stechpalme  ist  noch  heutzutage  in  der  Schweiz  ein  Bestandteil  des  Palras, 
weshalb  auch  dort  'Balme(n)',  (Schweiz.  Id.  4,  1218),  Palmedorn  (Bern;  Ztschr.  f. 
D.  Myth.  u.  Sittkde.  4,  174),  Palraertorn  (Messikommer  1910  S.  242),  Balmen- 
stritten  (Aretius,  Stocc-horni  .  .  .  descriptio  [1560]  S.  234b).  „Als  Christus  in 
Jerusalem  einzog,  streute  man  ihm  Palmen  auf  den  Weg.  Als  man  aber  'kreuzige' 
rief,  bekam  die  Palme,  von  welcher  die  Zweige  abgeschnitten  wurden.  Dornen, 
und  es  entstand  die  Stechpalme"  (Zürich;  Ztschr.  f.  D.  Myth.  u.  Sittkde.  4,  174). 
„Am  Palmsonntag  geweihte  Zweige  schützen  vor  Blitz"  (Solothurn;  ebda.).  In 
Sargans  bilden  die  mit  Äpfeln  und  farbigen  Bändern  geschmückten  Zweige  der 
Stechpalme  den  Palm  (Schweiz.  Arch.  f.  Vkde.  10,  225).  In  den  Gegenden  des 
Schneeberges  kommt  das  „Schradllab",  wie  hier  der  Baum  heisst,  ebenfalls  in 
den  Palmbuschen  (Zeitschr.  f.  österr.  Vkde.  2,  193). 

Verhältnismässig  wenige  Beiträge  liefern  die  alten  Kräuterbücher  zum 
Kapitel  des  laudwirtschaftlichen  Aberglaubens.  Merkwürdiges  weiss  Bock 
von  der  'kleyn  Kletten',  worunter  die  Spitzklette  (Xanthium  strumarium) 
zu  verstehen  ist,  zu  berichten :  „Hie  haben  mit  disen  Kletten  etliche 
naturkündiger  und  alte  weiber  jre  Observation  und  erfarung  /  wann  im 
herbst  so  obgemelte  Kletten    zeittig    und  uffgethon  werden  /  finden  sie  in 


1)  Die  erste  Ausgabe  des  Kräuterbuches  von  1539  enthält,  da  sie  noch  keine  Bäume 
und  Sträucher  aufführt,  den  'Seuenbaum'  nicht. 


Volkskundliches  aus  den  Kräuterbüchern  des  16.  Jahrhunderts.  H 

eyner  yeden  Kletten  zwey  Gerstenkörner  verschlossen  /  soll  eyn  gut 
fruchtbar,  volkummlich  jar  bedeutten  /  werden  aber  zwey  spitziger 
habernkörnlin  funden  /  halten  sie  das  gegentheyl  /  nemlich  eyn  künfftige 
thewrung  aller  frucht  /  das  hab  ich  auch  selbs  erfaren  und  gemeynlich 
auss  yeder  Kletten    zwey  schwartzer  Habernkörnlin  genommen"    (2,  75a). 

Unter  den  Gersten-  bzw.  Haferkörnlein  sind  jedenfalls  die  in  ihrer  Form 
etwas  wechselnden  Spitzklettenfrüchte,  von  denen  immer  zwei  beisammenstehen, 
gemeint  (die  weiblichen  Blütenköpfchen  sind  zw  ei  blutig}.  In  ähnlicher  Weise 
deutet  man  aus  der  Anzahl  der  Körner  (Peridiolen),  die  der  Becherpilz  (Cyathus 
striatus,  auch  Teuerling  genannt)  in  seinem  becherartig  vertieftem  Peridium  birgt, 
gute  oder  schlechte  Ernte.  „Soviel  die  Theuerlinge  Körner  in  sich  haben,  so  viel 
Groschen  wird  das  Korn  hinfort  kosten,"  sagt  die  Chemnitzer  Rockenphilosophie 
(Grimm,  Mythol.  *  3,  442).  Dieses  Orakel  ist  auch  jetzt  noch  ziemlich  verbreitet, 
so  in  Böhmen  (Am  Urquell  N.  F.  1,  209),  im  Voigtland  (Köhler  S.  392),  in  der 
Schweiz  (Schweiz.  Id.  2,  1012),  bei  den  Wenden  (Schulenburg  1882  S.  16;J),  in 
Thüringen  (Regel,  Thüring.  [1895]  S.  677). 

Noch  ein  anderes  Orakel  kennt  Bock  vom  Eichenlaub:  „es  geschieht 
offt  das  das  eichenlaub  gegen  dem  Herbst  auff  der  lincken  seitten  weisse 
runde  schüplin  gewint  /  das  feit  dann  ab  und  wann  man  dise  blümlin 
sihet  (dann  also  nennen  es  die  Bauren),  so  verhoff'en  sie  des  künfftigen 
jars  vil  Eicheln  zu  haben"  (1551,  S.  415b). 

Es  handelt  sich  hier  jedenfalls  um  durch  Insektenstiche  verursachte  Aus- 
wüchse ('Gallen')  der  Blattunterseite.  Der  Gallenforscher,  Herr  Konservator 
Dr.  Ro  SS -München,  teiU  mir  gütigst  mit,  dass  sich  Bocks  Notiz  wohl  ohne 
Zweifel  auf  die  linsenförmige  Galle  der  agamen  Generation  der  Gallwespe  Neuro- 
terus  quercus-baccarum  bezieht  (vgl.  auch  Ross,  Pflanzengallen  [1911]  S.  230). 

Viel  bekannter  als  das  ebengenannte  Orakel  scheint  ein  anderes  gewesen 
zu  sein,  das  sich  auf  die  bekannten  grossen  Eichengalläpfel  bezieht.  „Die 
grossem  Galläpfel  haben  diese  Eygenschafft  /  daß  sie  jährlich  deuten  oder 
anzeigen  /  ob  dasselb  Jahr  fruchtbar  oder  unfruchtbar  /  ob  sich  Krieg 
empören  oder  die  Pestilentz  regieren  werde:  Im  Jenner  oder  Hornung 
11  im  ein  newen  gantzen  unversehrten  Gallapfel  /  der  nicht  löcherig  sey  / 
brich  jhn  mitten  entzwey  /  so  findest  du  darinnen  eines  unter  den  drey 
dingen  /  nemblich  ein  Fliege  /  Würmle  /  oder  Spinnen.  Die  Fliege  be- 
deutet Krieg,  das  Würmle  Thewrung  /  die  Spinnen  ein  Sterbens- 
lauf f"  (Mattioli  158^;  S.  64b). 

Unter  'Würmle'  ist  die  (wurmähnliche)  Larve  der  Gallwespe,  unter  'Fliege' 
das  fertige  Tier  kurz  vor  dem  Ausschlüpfen  aus  der  Galle  zu  verstehen.  Bei  der 
Spinne  mag  es  sich  um  eine  ungenaue  Beobachtung  handeln;  allerdings  schreibt 
Ross  a.  a.  0.  S.  16,  ^dass  bisweilen  auch  andere  Tiere  in  den  verlassenen  Gallen 
wohnen."  Konrad  v.  Megenberg,  der  die  erste  Naturgeschichte  in  deutscher 
Sprache  verfasste  (vgl.  oben  S.  1),  schreibt  vom  „laubapfel,  der  auf  des  paumes 
laub  wechst,  galla  haiz":  „in  dem  laubapfel  wirt  ain  Würmel,  dar  an  prüefent  die 
luftsager  oder  die  wetersager  künftigez  wcter,  wan  vindent  si  daz  würmel  mitten 
in  dem  laubapfel,    so    kümt    ain    scharpfer    winter    nach    irr  sag;    wenn   aber  daz 


12  Marzell: 

würmel  an  dem  end  ist,  so  kümt  ain  sänfter  winter"  (Buch  der  Natur,  hrsg.  v. 
Pfeiffer  [1861]  S.  343).  Die  'Bauernpraktik'  v.  J.  1514»)  sagt:  „Wiltu  sehen  wie 
das  iar  geraten  sol  /  so  nym  war  aychöpffel  urab  sant  michelstag  /  bey  den  sieht 
man  wie  das  iar  geraten  sol  /  hond  sy  spinnen  so  kombt  ain  böss  iar.  Hondt  sy 
flign  so  ist  es  ain  milte  zeit.  Hand  sy  maden  ['Würmle'  bei  Mattiolü],  so  kombt 
ain  gut  iar.  Ist  nichts  darinn  /  so  kombt  ain  tod.  Ist  der  öpfel  vil  und  frue  /  so 
wirtt  der  winter  vil  vor  weihenachten  und  darnach  wirt  es  kalt.  Seind  die  (in) 
nerlach  darin  schön  /  so  wirtt  der  sommer  schön  und  das  körn.  Seind  sy  aber 
nass  /  so  wirt  der  sommer  auch  nass.  Seind  sy  aber  mager  so  wirtt  es  ain 
haisser  sommer." 

Zum  laiidwirtschaftlicheii  Aberglauben  gehört  auch,  was  Bock  von  der 
A'ertilgung  des  Farnkrautes  (wohl  Pteridium  aquilinum)  berichtet:  „die 
ackerleut  wissen  den  Farn  nit  wol  zu  vertilgen  /  docli  haben  etliche  dise 
superstition  /  wann  das  feld  /  darauff  Farnkraut  wechst  /  auf  decollationis 
Johannis  (29.  August)  geeret  und  runiher  gerissen  wärt  /  sol  der  Farn 
folgens  keyn  platz  mehr  haben,  mög  auch  nit  wachsen"  (1,  161b). 

Eine  Art  Sympathiezauber!  Der  am  Tag  der  Enthauptung  des  hl.  Johannis 
ausgerissene  Farn  kann  nicht  mehr  nachwachsen,  ist  endgültig  tot.  Ganz  eng  be- 
rührt sich  damit,  was  Sebillot,  Folklore  de  France  3  (1906),  464  aus  den  Vogesen 
berichtet:  hier  muss  man  den  Farn  ain  Tage  Abdon  (30.  Juli)  ausreissen,  dann 
schlägt  er  nicht  mehr  aus.  Hiermit  wäre  wieder  der  mecklenburgische  Aberglaube 
zu  vergleichen,  demzufolge  Hühneraugen  am  Tage  Abdon  zu  schneiden  sind,  da- 
mit sie  gänzlich  vertrocknen.  ^Der  Grund  ist  wahrscheinlich  der  Klang  des 
Namens  (abthun)",  meint  Wuttke^  §'"^^4  dazu.  Vgl.  auch  unten  den  Farn-Namen 
'Abthon'.  Der  vogesische  Aberglaube  wäre  demnach  auf  deutschem  Boden  ent- 
standen, da  ja  in  der  französischen  Sprache  der  Gleichklang  mit  Abdon  nicht 
besteht;  vgl.  dagegen  Rockenphilosophie  (Chemnitz  1709)  2,  "265. 

Betrachten  wir  jetzt  noch  einige  Kräuter,  die  zum  Zauber  oder 
Gegenzauber  benutzt  wurden.  Bei  vielen  dieser  Pflanzen  lassen  es  die 
alten  Kräuterkundigen  mit  Andeutungen  bewenden,  gleichsam  als  ob  sie 
es  verschmähten,  den  Aberglauben  des  Pöbels  oder  'der  alten  Weiber", 
wie  sie  sich  gewöhnlich  ausdrücken,  wiederzugeben.  Hier  mögen  zunäch.^t 
zwei  Kräuter  genannt  w^erden,  deren  sich  die  Alchimisten  bei  ihren 
geheimnisvollen  Arbeiten  bedienten.  Das  erste  ist  ein  Farnkraut,  die 
bekannte  Mondraute  (Botrychium  Lunaria).  „Der  bletter  halben  nennen 
wir  diss  kraut  Mon  Rautten  /  zu  latin  Lunaria.  etlich  wollen,  düj  kraut 
sol  zu  vnd  abnehmen  mit  dem  Monschein  /  also  ,  so  mancher  tag 
das  liecht  am  himmel  alt  /  also  vil  sol  diss  kraut  underschiedliche  zer- 
kerffte  bletter  bringen  /  vil  treiben  abenthewer  mit  disem  ge- 
w^ächs  /  sonderlich  aber  die  Alchymisten.  .  .  .  weiter  darvon  zu 
wissen  /  so  jemands  lustig  /  mag  die  landtstreicher  /  und  die  so  sich  der 
Alchymei  berümen  /  fragen  /  ich  wil  nichts  darvon   schreiben  /  dann  icii 


1    In  disem  biechlein  wirt  gefunden  der  pauren  Practik  vnnd    regel    darauff   sy  das 
gaiitz  iar  ain  auffniercken  liabeii  vinid  halten    9  pag.  .     anno  l.")14. 


Volkskundliches  aus  den  Kräuterbüchern  des  16.  Jahrhunderts.  13 

liabs    nit    versucht    /    was    sein    kraift    oder    würckung'    ist"    (Bock    1551, 
S.  345  a). 

Ahnlich  berichtet  Aelian  hist.  anim  2,  Ö6,  dass  die  Leber  der  JVIaus  mit  dem 
Mond  zu-  und  abnehme  (vgl.  auch  C.  Gesner,  De  raris  et  admirandis  hcrbis 
quae.  .  .  .  Lunariae  noniinantur.  Tiguri  lööö  und  Röscher,  Selene  u.  Verwandt. 
Studien  z.  griech.  Mythol.  ISDO,  4.  Heft).  Bei  den  Slowaken  ist  die  Pflanze  ein 
magisches  Liebesmittel  (Hovorka-Kronfeld,  Vergleichende  Volksmedizin  [1908] 
1,  312). 

Eine  andere  Alcliimistenplianze  ist  die  'Goldwurtz'  (Türkenbund-Lilie. 
Liliuni  Martagon).  „Die  Alchimisten  halten  diss  kraut  in  hohem  werdt 
und  sagen  es  habe  ein  kraft  die  Metall  zu  vereudern  /  das  lass  ich 
sie  verantworten"  (Mattioli  1563  S.  344). 

Der  Glaube  stützt  sich  jedenfalls  auf  die  goldgelbe  Farbe  der  Zwiebel  (daher 
auch  Goldwurz).  In  Württemberg  legt  man  daher  auch  ein  Stück  Gold  würz  in 
die  Butter,  damit  diese  eine  schöne  gelbe  Farbe  bekommt  (Eberhardt,  Mitt.  über 
volkst.  Überlief,  in  Württembg.  Nr.  3.  In:  Württemb.  Jahrb.  f.  Stat.  u.  Landeskde. 
1907  S.  216). 

Eine  Anzahl  von  Pflanzen  gilt  als  'gut  für  die  Zauberei'.  Die  Engel- 
wurz (Angelica)  möge  den  Anfang  machen.  „Diss  kraut  bey  sich 
getragen  sol  gut  für  allerley  zauberey  sein"  (Fuchs  cap.  43). 

Vgl.  auch  Wolff,  Amulette  (16i)2),  S.  144.  In  Norwegen  wurde  die  Pflanze 
(wie  die  Stechpalme  und  andere  zauberkräftige  Kräuter)  als  'Palmen'  (vgl.  oben) 
getragen  (Weinhold,  Altnord.  Leb.  (1856)  S.  79).  Die  Engelwurz  galt  vor  allem 
als  wirksames  Pestmittel.  Den  Ruf  eines  zauberwidrigen  Mittels  verdankt  sie, 
wie  noch  heute  die  verwandte  Meisterwurz  (Imperatoria  Ostruthium)  dem  starken 
aromatischen  Geruch  (ätherisches  iil  der  Doldenblütler!). 

Eine  andere  stark  riechende  Pflanze  ist  die  Eberraute  (Artemisia 
Abrotanum).  „Sie  bringt  lust  zur  unkeuscheit  und  ist  ein  sonderlich  kraut 
wider  alle  zauberey  /  so  den  mannen  ir  recht  nemen  sich  mit  dem 
Weib  zu  vermischen"  (Brunfels  1537  S.  113). 

Dieses  Mittel  ist  übernommen  aus  Plinius  nat.  hist.  21,  162:  „ramo  eins 
(habrotanum),  si  subiciatur  pulvino,  venerem  stimulari  aiunt,  efficacissimamque 
esse  herbam  contra  omnia  veneficia,  quibus  coitus  inhibeatur".  Die  Eberraute 
ist  also  ein  Mittel  gegen  das  'Xestelknüpfen'.  Auf  die  aphrodisische  Wirkung  der 
Pflanzen  weisen  auch  englische  Volksnamen  hin  wie  Boy's  love,  Kiss-me-quick- 
and-go,  Lad's  Love,  Maiden's  Ruin,  Old  Man's  Love  (Britten  and  Holland,  Dict. 
of  engl.  Plant-Names.  I,ond.  187s  ff.).  „Wenn  jemand  ein  Mädchen  zu  seinem 
Schatz  haben  will,  so  muss  er  ihr  heimlich  unter  das  Schürzenband  ein  Büschel 
Eberreis  stecken;  alsdann  kommt  das  Mädchen  von  selbst  zu  ihm.  Die  Liebe 
dauert  aber  nur  einige  Jahre,  weil  sie  keine  natürliche,  sondern  eine  angezauberte 
ist;  dann  wandelt  sie  sich  in  Hass  (Spickendorf,  Prov.  Sachsen;  oben  4,  326). 
Vgl.  auch  Hofier,  Volksmed.  Bot.  d.  Germ.  S.  76. 

Ein  naher  Verwandter  der  Eberraute  ist  der  Beifuss  (Artemisia 
vulgaris),  von  dem  Bock  sagt:  „Diss  erwürdig  kraut  Beifuss  oder  Bücken, 
S.  Johanskraut    und    gürtel    ist    auch    in    die    superstition    und    zauberey 


1 4  Marzell : 

kommen  /  also  das  etlich  diss  kraut  auff  gewissen  tag  und  stund  graben 
wie  Yerbeuam,  suchen  kolen  und  narensteyn  darunder  für  febres,  andere 
hencken  es  umb  sich  /  machen  krentz  darauss  /  folgens  werffen  si  das  kraut 
mit  jrem  unfal  in  S.  Johansfeur  /  mit  jren  Sprüchen  vnd  reymen.  Diss 
afiPenspil  und  cereraonien  /  treiben  nit  die  geringsten  zu  Pareiss  in  Frank- 
reich. Andere  haben  von  Plinio  gelernt  /  wo  sie  Beifuss  mit  Salbei  an- 
hencken,  sollen  sie  auff  der  reyss  nit  müd  werden  und  des  dings  ist  keyn 
ende"  (1,  99a).  Ähnlich  äussert  sich  auch  Brunfels  über  den  Beifuss: 
„Die  magi  graben  disse  Wurtzel  uff  S.  Johannsabent  /  so  die  sonn  under- 
gadt  /  so  finden  sye  darbey  schwartze  körnlein  an  der  wurtzelen  hangen. 
Und  das  dem  also  /  hab  ich  selbs  gesehen  /  ist  ein  sonderlich  geheymnuss 
was  damit  gehandlet  würt.  .  .  .  (S.  Johanskraut)  ist  aber  darumb  in  den 
brauch  kommen  /  das  an  vilen  orten  Teutschlands  menigklich  sich  be- 
fleisset  solich  kraut  zu  bekommen  /  sich  damit  krönen  und  gürten  /  und 
zu  letst  ins  Johannsfewr  werffen.  Solich  soll  ein  sonderlich  expiation  sein 
und  geheimnuss"  (S.  237). 

Vgl.  auch  Fuchs  cap.  13,  Mattioli  S.  357,  Tabernaemont.  S.  37.  Rosbach. 
Paradeissgärtlein  (1588)  reimt: 

„Fürs  Gespänst  die  alten  Weiberlein 
Den  Beyfuss  hencken  hin  zum  Schein, 
Der  Zauberey  soll  widerstehn, 
Mit  Aberglauben  sie  umbgehn"  (S.  254). 

Der  Beifuss-Aberglaube  dürfte  zum  grossen  Teil  germanisch  sein  (vgl.  auch 
Höfler,  Volksmed.  Bot.  S.  74),  jedoch  schreibt  schon  Plinius  nat.  bist.  26,  150: 
„artemisiam  et  elelisphacum  [wird  auf  eine  Salvia-Art  gedeutet]  alligatas  qui  habet 
viator  negatur  lassitudinem  sentire."  Dieser  Aberglaube  —  dass  der  angebundene 
Beifuss  gegen  Müdigkeit  schützen  solle  —  wird  sonderbarerweise  oft  als 
deutscher  angegeben,  so  aus  Tirol  (Zingerle,  Sitten  (1857)  S.  64),  aus  der  Steier- 
mark (Unger,  Steir.  Wortsch.  S.  599),  aus  dem  Saulgau  (Bohnenberger  1904.  1. 
113).  Das  Umgürten  am  Johannistag  mit  Beifuss  kennen  auch  die  Tschechen 
(Zeitschr.  f.  österr.  Volkskde.  11,  123).  Dass  der  Beifuss-Aberglaube  bei  uns  sehr 
alt  ist,  beweisen  seine  Erwähnung  bei  Vintler  (oben  23,  118)  und  bei  Sebastian 
Franck  (vgl.  unten  den  'Rittersporn'). 

Germanisch  ist  wohl  auch  das  Kraut  Modelgeer,  der  Kreuzenzian 
(Gentiana  cruciata);  in  den  Schriften  der  Alten  wird  die  Pflanze  nirgends 
erwähnt.  „Die  alten  weiber  sagen  Modelgeer  sei  aller  wurtzel  eyn  Eer  / 
und  ist  ein  recht  Stergethron  /  dann  sie  wirt  zu  seltzamen  künsten  ge- 
braucht in  fascinationibus  amorum.  Sie  ist  wie  eyn  weiblich  glid  zer- 
spalten in  der  mitten  /  drumb  die  Circeischen  Weiber  jren  Handel 
mit  treiben"  (Bock  2,  70b).  Dieselbe  Pflanze  war  auch  ein  magisches 
Mittel  bei  Schweinekrankheiten:  „Die  hirten  im  Westerich  treiben  jre 
sQperstition  mit  dem  kraut  und  wurtzel  /  dann  sobald  eyn  Saw  sterbent 
einher  /  feit  nemen  sie  das  kraut  und  wurtzel  zerhackt  mit  anderen  pulver 


Volkskundliches  aus  den  Kräuterbücheru  des  IG.  Jahrhunderts.  15 

dazu  bereyt  /  gebens  den  schweineu  indem  ass  mit  etlichen  gebettlin/ 
sol  die  Schwein  behüten  /  das  der  Schelm  |  Viehkrankheit;  vgl.  Höfler, 
D.  Krankheitsnamenbuch  (1899)]  nit  under  sie  kum.  Es  muss  aber  in 
allen  orten  Zauberei  sein,  niemans  ist  der  solchs  mit  ernst  widerfechtet" 
(1,  71a). 

Dass  die  Pflanze  in  hohem  Ansehen  stand,  beweist  auch  die  Beschwörungs- 
formel einer  Giessener  Papierhandschrift  (vgl.  Zeitschr.  f  D.  Myth.  u.  Sittkde.  2, 
170;  3,  333;  Schmeller  Wb.  1,  1568).  Vgl.  ferner  Rosbach,  Paradeissgärtlein 
und  HöfJer,  Volksmed.  Bot.  S.  70 f. 

Einheimischer  Aberglaube  ist  es  jedenfalls,  der  sich  an  zwei  kleine 
Farnkräuter,  den  braunen  Milzfarn  (Asplenium  trichomanes)  und  die 
Mauerraute  (Asplenium  ruta  muraria),  sowie  an  das  Widertonmoos  (Poly- 
trichum)  knüpft.  „Es  haben  die  alte  weiber  vil  fantasei  mit  disen 
kreütteru  /  und  sprechen  also  /  das  rot  Steinbrechlin  mit  den  Lynsen 
bletlin  [=  Asplenium  trichomanes]  sol  man  nennen  Abthon  /  und  das 
nacket  Jungfraw  hör  [=  Polytriclium]  sol  man  nennen  Widderthon  /  dann 
mit  disen  kreüttern  können  sie  beide  sacken  /  nemlich  abthon  und  widder- 
thon jrs  gefallen  /  wer  gesiebt  aber  nit  täglich  dergleichen  werck  und 
Philtra  /  darbei  wollen  wirs  auch  lassen  /  und  fürter  schreiben"  (Bock 
1,  158b).  .  .  .„Die  weiber  reden  also  /  Maurraut  sol  niderlegen  und  ab- 
helffen  /  dagegen  sol  das  braun  hörlin  mit  den  Lynsenbletlin  wider- 
bringen und  auffhelffen  /  solches  thut  auch  das  Jungfrawlior"  (ebda. 
S.  159  a).  „Man  treibt  sonst  vil  abentheur  mit  disem  Wlderthon  [Poly- 
trichum],  das  lassen  wir  als  narrenwerck  und  Teufels  gespenst  faren" 
(Fuchs  cap.  241). 

An  derselben  Stelle  nennt  Bock  den  'Widderthon'  auch  'Widdertod'  (von 
Sohns,  Unsere  Pflanzen  ^^  S.  45  sicher  fälschlich  als  'Wider[den]Tod'  erklärt!). 
Die  drei  oben  genannten  Pflanzen  sind  wohl  der  noch  jetzt  auf  bayrisch-öster- 
reichischem Gebiet  im  Volk  bekannte  'Widritat',  eine  geheimnisvolle  Pflanze,  mit 
deren  Beschreibung  die  Bauern  nicht  gern  herausrücken.  In  Kärnten  heisst  die 
Mauerraute  noch  heute  Widerthat,  in  Steiermark,  in  Niederösterreich  und  im 
Böhmerwald  ist  der  braune  Milzfarn  (Asplenium  trichomanes)  der  Widertod  und 
in  Niederbayern  (Mallersdorf)  wurde  mir  vor  einigen  Jahren  das  Widertonmoos 
als  'Widritod'  gezeigt.  In  Niederösterreich  heisst  die  Mauerraute,  weil  sie  gegen 
das  'Verneiden'  des  Viehes  gebraucht  wird  (und  an  Felsen,  Mauern  usw.  wächst) 
'Stoanneidkraut'  und  bildet  mit  Silene  acaulis,  Homogyne  discolor,  Achillea  Cla- 
vennae  und  'Pöchl'  (=  Pechöl)  die  tägliche  'Maulgabe'  der  Alpenrinder  (Höfer 
und  Kronfeld,  D.  Volksnam.  d.  niederöster.  Pflanz.  [1889]  S.  16).  Vgl.  auch 
Grimm  Myth.*  S.  1016.  In  Steiermark  heisst  das  Widertonmoos  'Nimm  mir  nichts' 
und  wird  getrocknet  und  gestossen  gegen  Milchzauber  verwendet  (Unger,  Steir. 
Wortsch.  S.  478).  Die  Vermutung  bei  Diefenbach-Wülcker,  Hoch- u.  Niederd.  Wb. 
(1875)  S.  27,  dass  'Abthon'  aus  adiantum  (lateinisch-griechischer  Parnname)  um- 
gedeutet sei,  ist  höchst  unwahrscheinlich.  Der  'Widritat'  erscheint  auch  in 
manchen  Fassungen  der  bekannten  Sage,  in  der  der  Teufel  ein  Mädchen,  dem  er 
sich  als  Jäger  usw.  genaht,  entführen  will,  aber  durch  einige  Pflanzen  (z.  B. 
Kuttelkraut,    Wolgemut,  Widritat)    vertrieben  wird,    vgl.  z.  B.  Schönwerth,  Aus  d. 


16 


Marzell: 


Oberpfalz  (ISÖS)  1,  134.  Eine  Beschwörung  des  Wiederthats  bringt  eine  Handschr. 
der  Üniv.-Bibl.  Breslau  v.  J.  ir)94:  Wiltu  haben,  das  dein  Viehe  nicht  soll  be- 
zaubert werden,  So  soltu  an  Walpurgis  abendt  Wiederthat  und  Tellscheiben  (Dill- 
scheiben?)  nehmen,  die  dem  Viehe  eingeben  und  unter  die  Türschwelle  oder 
darüber  wie  es  am  besten  geschehen  kann,  ein  wenig  Esellhar  eingraben  und  also 
sagen:  Wiederthat,  du  weist,  was  dir  Christus  befohlen  hat;  Das  solt  tu  das  gutte 
mehren,  undt  des  bösen  wehren.  Das  zehll  ich  dir  liebes  Viehe  zu  lob  und 
büße.     In  nomine  Patris  etc.  (Mitteil.  d.  schles.  Gesellsch.  f.  Vkde.  18,  l-S). 

Eine  ganz  ähnliche  Besegnung  des  Wiederthons  aus  Tirol  bringt  Alpenburg. 
Mythen  (1857)  S.  408. 

Die  'Rittersblunien  (Rittersporn,  Delphinium  Consolida)  sollen  (viel- 
leicht wegen  ihrer  schön  blauen  Farbe?)  die  Augen  vor  Krankheit  be- 
wahren. „Rittersblunien  dry  in  jungfrawenwachs  gewirckt  und  an  den 
Hals  gehenkt  und  domit  sant  Otilien  eyn  messe  gefrömt  oder  dry 
alnuisen  umb  iren  willen  geben  oder  dry  pater  noster  gebet  oder  drey 
gottsdienst  alle  gethan  .  seyn  äugen  blyben  gesunt  die  wyle  der 
mensch  lebet.  —  Und  etlich  neraen  diser  blumen  ein  büschlin  und 
hencken  sye  über  die  thür  der  stuben  oder  camern  vff  das  sye  darin 
sehen  mögen.  Dise  blumen  hat  die  liebe  jungfrawe  sant  Otilia 
sunderlichen  in  eren  gehabt  /  dovon  juen  dann  sölicher  gewalt  kernen  ist" 
(Gart  d.  Gesuntheit  S.  50a). 

Auch  Sebastian  Franck  berichtet  in  seinem  AVeltbuch  (1534)  S.  51b  von  den 
'Prancken":  „An  S.  Johanstag  machen  sy  ein  siraetfeur  /  Tragen  auch  disen  tag 
sundere  kreutz  auff  /  weyss  nit  auss  was  Aberglauben  /  von  beyfuß  und  eysen- 
kraut  gemacht  /  und  schier  ein  yeder  ein  blaw  kraut  /  Rittersporn  genant  /  in 
der  Hand  /  welches  dardurch  in  das  feur  sihet  dem  tut  diss  ganlz  jar  kein  aug 
wee  /  wie  sy  aberglauben  /  wer  vom  feur  zuhauss  weg  will  geen  der  würfft  diss 
sein  kraut  in  das  feur  sprechende  ,  es  gee  hinweg  vnd  werd  verbrent  mit  disem 
kraut  all  mein  vnglück.'-  Dorstenius,  Botanicon  (1540)  S.  901  schreibt  von  der 
Pflanze:  „Ab  studiosis  in  pretio  habetur,  una  cum  ruta.  Siquidem  credunt  illius 
crebro  intuitu,  numquara  se  ex  oculis  laboraturos.  Quare  eam  in  suis 
musaeis  suspendunt."  Bemerkenswert  ist,  dass  auch  eine  andere  Pflanze  mit 
schön  blauen  Blüten,  die  Wegwarte  (Cichorium  Intybus),  gegen  Augenleiden 
sympathetische  Verwendung  fand. 

Auch  die  bekannte  Sage  vom  Teufelsabbiss  (8uccisa  pratensis),  dessen 
Wurzelstock  wie  abgebissen  scheint,  finden  wir  bereits  in  unseren 
Kräuterbüchern  verzeichnet  oder  doch  angedeutet.  „Und  haben  auch  die 
alten  Weiber  liye  ire  fantasien  /  sprechen  es  sey  so  ein  köstliche  wurtzel  / 
dass  der  böse  feind  soliche  köstliche  artzeney  dem  menschen  ver- 
gunnet  /  vnd  sobald  sye  gewachsst  /  beisse  er  sye  ab  /  dahär  sye  haben  soll 
iren  nammen  Teufels  Abbisz.  Mag  villeicht  sein  /  dass  soliches  [d.  h.  die 
Wurzel]  abgefaulet  /  oder  sonst  /  das  ich  meer  glaub  /  die  natur  ire  wunder 
darinn  habe"  (Brunfels  S.  91). 

Ähnlich  auch  bei  Fuchs  cap.  272.  Nach  einer  estnischen  Sage  war  es  der 
hl.   Petrus,  der  die  Wurzel  abbiss.     „Der  hl.  Petrus    ging  einst   mit  seinem  Herrn 


Volkskundliches  aus  den  Kräuterbüchern  des  IG.  Jahrhunderts.  17 

und  Meister  spazieren  und  wurde  von  heftigen  Leibschmerzen  überfallen.  Um 
sich  zu  helfen,  riss  er  eine  Pflanze  aus  der  Erde,  biss  ein  Ende  von  der  Wurzel 
ab  und  fühlte  sich  auf  der  Stelle  von  den  Schmerzen  befreit.  Seit  dieser  Zeit 
hat  diese  Pflanze  einen  abgebissenen  Wurzelstock,  ja  man  kann  sogar  noch  die 
Stellen  der  Zähne  daran  unterscheiden.  (Russwurm,  Sagen  aus  Hapsal  [18G1] 
S.  190).  Ebenso  bei  Demitsch  18S9  S.  231.  Die  Sage,  dass  der  Teufel  die 
Wurzel  der  Pflanze  abbiss,  findet  sich  anscheinend  zum  erstenmal  bei  Oribasius 
(4.  Jahrh.  n.  Chr.).  Der  'Gart  der  Gesuntheit'  S.  Hob  empfiehlt  übrigens  unsere 
Pflanze  gegen  Zauberei:  „welcher  diss  kraut  bey  jm  traget  oder  die  Wurtzel  dem 
mag  der  teufel  kein  schaden  zufügen.  Auch  mag  im  kein  zauberey  ge- 
schaden  von  den  bösen  weyben."  Der  Teufelsabbiss  ist  auch  noch  heutzutage 
(z.  B.  in  Mecklenburg;  Bartsch  1879  2,  37)  ein  Bestandteil  der  hexenvertreibenden 
Räucherpulver.     Vgl.  Dähnhardt,  Natursagen  1,  203.  351. 

Dass  die  alten  Kräutler  die  Alraunwurzel  nicht  unerwähnt  lassen,  versteht 
sich  von  selbst.  Sie  schreiben  von  den  'landstreichern',  die  den  echten 
Alraun  (Mandragora)  mit  der  rübenförmigen  Wurzel  der  einheimischen 
Zaunrübe  (Bryonia)  verfälschten,  diese  besonders  präparierten  und  dann 
die  Fälschung  als  echten  Alraun  verkauften  (Bock  1539,  2,  70b,  Fuchs 
cap.  201).  Besonders  ausführlich  handelt  Mattioli  darüber;  er  erfuhr 
diese  schwindelhaften  Praktiken  von  einem  'Theriaksschreyer',  der  zu 
Rom  in  seiner  ärztlichen  Behandlung  war. 

Über  den  Alraunglauben  kann  hier  nicht  näher  abgehandelt  werden ;  vgl. 
Hertz,  Ges.  Abhandl.  hs.  von  F.  von  der  Leyen  (1905)  S.  2590".,  A.  Schlosser,  Die 
Sage  von  Galgenmännlein,  Dissert.  Münster  1912  (vgl.  dazu  meine  Bespr.  dieser 
Schrift  in  Mitt.  z.  Gesch.  der  Mediz.  und  der  Naturw.  12,  367,  wo  weitere 
Alraunliteratur  angegeben)  und  Marzell,  Zauberpflanzen  (Naturwiss.  Wochenschr. 
N.  P.  8,  nr.  11). 

Verhältnismässig  kurz  wird  eine  andere  berühmte  Zauberpflanze,  die 
Mistel  (Viscum  album),  abgetan:  Nachdem  Bock  den  bekannten  Bericht 
des  Plinius  (nat.  hist.  16,  249ff.)  über  den  Mistelkult  der  Druiden  wieder- 
gegeben hat,  bemerkt  er  dazu:  „Solcher  fantasei  und  aberglauben  seind 
vil  bei  uns  eingerissen.  Dann  vil  meinen  noch  /  es  haben  die  Eichen 
Misteln  etwas  krafft  und  gewalt  für  böse  gespenst  /  henckens  auch  zum 
theil  den  jungen  hindern  an  die  hälß  /  der  meinung  /  es  soll  denselben 
hindern  kein  zauberei  oder  gespenst  schaden  ....  Etliche  Empirici  und 
künstler  halten  wann  Eychemistel  Hesele  oder  Birbeume  Mistel  die  Erde 
nit  berüren  /  sollen  sie  gut  sein  für  die  fallende  sucht  /  gepulvert  und  in 
wein  gedruncken  /  machen  derhalben  Pater  noster  daraus  /  etliche  lassen 
sie  in  silber  fassen  /  und  henckens  vnder  anderm  geschmeid  den  jungen 
hindern  an  die  halse"  (1551  S.  358  a). 

Da  die  Mistel  äusserst  selten  auf  Eichen  wächst,  so  dürfte  unter  'Eichen- 
mistel'  in  den  meisten  Fällen  die  mit  der  Mistel  nah  verwandte,  fast  aus- 
schliesslich auf  Eichen  schmarotzende  Riemenblume  (Loranthus  europaeus)  zu 
verstehen  sein.     Diese  Pflanze  kommt    in  Deutschland  nur  bei  Pirna  in  Sachsen 

Zeitschr.  d.  Vereins  i'.  Volkskunde.   19U.   Heft  1.  2 


j  g  Marzell : 

vor.  Sicher  ist  es  die  Eichenmistel,  Ton  der  Praetorius,  Coscinomant.  1677  sagt: 
„...Viele  Meissner,  auch  hier  zu  Zwickau,  die  da  meynen:  Wenn  sie  einen 
solchen  Eichenmistel  haben,  so  haben  sie  etwas  gar  großes  und  wichtiges;  daher 
sie  dieselben  lassen  in  Silber  einfassen  und  hängen  sie  den  kindern  an  Hals:  in 
Meinung,  ich  weiß  nit  wofür  sie  dienen  soll."  Welchen  Wert  die  in  Silber  ge- 
fassten  Mistel-Paternoster  darstellten,  beweist  die  Notiz  in  Rulands  handlungsbuch 
„450  rheinisch  gülden  umb  mistlin  paternoster"  (Beneke-MüUer  2,  1,  191). 

Eine  Pflanze,  deren  abergläubische  Wertschätzung  vielleicht  aus- 
schliesslich auf  die  Antike  zurückgeht,  ist  das  Eisenkraut  (Verbena  offi- 
cinalis).  Trotzdem  finden  wir  dieses  Gewächs  sehr  häufig  in  deutschem 
Aberglauben  erwähnt,  obwohl  das  Eisenkraut,  wie  schon  aus  seinen  spär- 
lichen deutschen  Volksnamen  hervorgeht,  im  Volk  nur  wenig  bekannt  ist. 
Übrigens  steht  gar  nicht  fest,  ob  die  Römer  die  von  Linne  als  Verbena  offici- 
nalis  benannte  Pflanze  unter  'verbena'  verstanden,  jedenfalls  waren  die 
'verbenae'  der  Römer  Zweige  von  verschiedenen  Pflanzen,  die  kultischen 
Zwecken  dienten.  „Ire  [d.  i.  der  Römer]  schwartzkünstler  schreiben  also 
darvon  [vom  Issenkraut]  das  es  krafPt  habe  /  den  bössen  feyndt  zu 
zwingen  /  und  zu  allen  zaubereyen  dyenstlich  .  Welches  auch  Vergilius  be- 
zeuget. Item  wer  sich  mit  Issenkraut  safft  bestreicht  /  dem  mag  nye- 
mants  abholdt  sein  /  man  müssz  yn  lieb  haben  .  Es  möge  ym  auch  keyn 
feber  schaden  /  und  beyläuffig  kein  kranckheyt  sey  /  darzu  Issenkraut 
nicht  dyenstlich.  Weiter  /  so  man  das  gasthaus  damit  besprenget  /  so  sollen 
die  gest  alle  frölich  darvon  werden  /  und  keynes  thyers  gifft  da  gelasszeu. 
Wer  ein  guts  kreütlin  für  die  würt  /  und  die  unfridsamen  eeleudt  /  wo 
ym  also  wer."  (Brunfels  S.  47.)  Auch  zu  den  'Johanniskräutern'  gehörte 
die  Pflanze:  „Unsere  Teutschen  zauberer  umbreissens  auff  S.  Johansabent 
mit  golt  und  sylber  /  beschwerens  /  verzauberns  und  grabens  auff  S.  Johanns- 
tag vor  der  Sonnen  aufFgang  etc.  also  fast  ist  die  Zauberei  eingerissen  bei 
den  geistlichen  mehr  dann  bey  dem  gemeynen  man"  (Bock  1,  56  a). 

Über  die  verbena  des  Altertums  vgl.  Dioskorides  mat.  med.  4,  60,  Aelian. 
bist.  amin.  1,  35;  Plinius  nat.  bist.  25,  105.  Bei  den  Griechen  gehört  die  Ver- 
bena officinalis  noch  jetzt  zu  den  Glückspflanzen;  sie  wird  nebst  Knoblauch  und 
Sellerie  an  die  Ställe  oder  Seidenwurmhürden  usw.  angebunden.  (Fraas,  Synops. 
plant,  florae  class.  [1845]  S.  186.)  Auch  Vintler  (vgl.  oben  23,  121)  und  Sebastian 
Franck  (s.  oben  Delphinium!)  erwähnen  die  Pflanze.  Vorschriften,  die  Verbena 
zu  graben,  in  Zeitschr.  f.  dt.  Myth.  u.  Sittkde.  2,  171;  3,  2o3  und  Mitt.  d.  schles. 
Ges.  f.  Vkde.  13,  23;  16,  34. 

Ebensowenig  ist  es  ein  deutscher  Aberglaube,  was  Bock  von  der 
Einbeere  (Paris  quadrifolia)  sagt:  „Etlich  meynen  so  man  diss  kraut  mit 
der  lincken  band  abbrech  /  und  an  die  geschwollene  macht  [pudendum] 
binde  /  es  sol  dardurch  der  schmertzen  gemiltert  und  gewendet  werden." 
(1,  89  a). 

Dioskorides  mat.  med.  4,  119  von  dem  aster  attikos  (vielleicht  Aster  Amellus  L.), 
einer  Pflanze,  die  Bock  mit  Unrecht  für  die  (bei  den  antiken  Schriftstellern  an- 
scheinend nirgends  erwähnte)  Einbeere  hält. 


Volkskundliches  aus  den  Kräuterbüchern  des  16.  Jahrhunderts.  19 

In  das  Gebiet  der  Volkskunde  gehört  schliesslich  noch  ein  ergötzliches 
Geschichtchen,  das  Bock  von  der  Brachendistel  (Eryngium  campestre)  er- 
zählt. „  .  .  .  die  alten  verdorrten  disteln  /  die  fallen  dann  [im  Frühjahr] 
ab  /  werden  riindiert  als  kugeln  /  darumb  sie  stets  vom  wind  hin 
und  her  getrieben  werden  /  daher  man  noch  ein  schimpffredt  höret  /  wie 
das  gemelte  rauhe  distel  eynen  kecken  schneiderknecht  der  in  den  krieg 
ziehen  wolt  seinen  langen  spiess  sol  haben  erlegt  und  abgetriben  /  als 
dise  runde  und  rauschende  distel  vom  winde  gejagt  /  ist  sie  mit  großem 
rauschen  gegen  dem  schneiderknecht  gewaltzt  /  als  eyn  runde  kugel  / 
darvon  der  Schneider  erschrocken  /  das  im  der  spyess  entpfallen  /  sich 
eilends  gewent  /  und  on  gewer  der  disteln  /  als  seinem  auffsetzigen  feindt 
eutrunnen"  (2,  84b). 

Mit  den  obigen  Ausführungen  ist  der  volkskundliche  Stoff  der  alten 
Kräuterbücher  noch  bei  weitem  nicht  erschöpft.  Eine  dankbare  Aufgabe 
wäre,  die  volksmedizinische  Verwendung  der  darin  aufgezählten 
Pflanzen  zu  durchmustern  und  hier  das  aus  den  antiken  Schriftstellern 
Übernommene  von  dem  wirklich  Einheimischen  zu  trennen.  Dieses  letzt- 
genannte dürfte  allerdings  im  Vergleich  zu  jenem  nur  einen  sehr  kleinen 
Teil  ausmachen.  Die  nicht  selten  wiederkehrende  Bemerkung  der  alten 
Kräuterbücher,  dass  die  'alten  Weiber'  diese  oder  jene  Pflanze  bei  ge- 
wissen Krankheiten  verwendeten,  beweist  natürlich  noch  lange  nicht,  dass 
es  sich  hier  um  germanische  Heilkunde  handelt.  Die  Mönchsmedizin,  die 
aus  den  Schriften  der  Alten  schöpfte,  drang  eben  ins  Volk  ein.  Ferner 
bringen  die  Kräuterbücher  manches  Material  zum  Thema  'Die  Pflanzen 
im  Kinderspiel'.  Es  werden  hier  zwar  meist  keine  eingehenden  Aus- 
führuno-en  "emacht,  sondern  die  alten  Kräutler  lassen  es  mit  der  Fest- 
Stellung  bewenden,  „daß  die  Kinder  ihr  Kurtzweil  mit  disen  blumen 
haben".  Des  weiteren  gehören  auch  noch  hierher  die  kurzen  Bemerkungen 
über  die  Verwendung  von  Pflanzen  in  der  Hauswirtschaft  (z.  B. 
bei  Bock  2,  32  a  Verwendung  des  Binsenmarkes  zu  Dochten  für  die 
Ampeln,  Samenbaare  des  Teichkolbens  zum  Füllen  von  Betten  bei  Fuchs 
cap.  ol9,  Benutzung  des  Klebkrautes  [Galium  Aparine]  als  Milchseiher 
bei  Bock  1,  146b).  Ein  Kapitel  für  sich  wären  schliesslich  noch  die 
vielen  volkstümlichen  Pflanzennamen,  an  denen  Bock  besonders 
reich  ist.  Solche  Volksnamen  führt  er  besonders  auf  aus  dem  „Bistumb 
Speier,  Meintz,  Metz,  Trier,  aus  dem  Wormbser  gau  und  aus  dem  Westerich". 
Bock  ist  einer  der  ersten  Botaniker,  die  sich  um  die  Volksbenennungen 
der  Pflanzen  kümmerten,  und  der  erste,  der  fränkische  Pflanzennamen 
sammelte. 

Pullach  bei   München. 


20  GJraf: 


Hianzische  Märchen. 

Von  Samuel  Graf. 


Im  Juli  1909  besuchte  ich,  wie  alljährlich  um  diese  Zeit,  meinen  Geburts- 
ort Oberschützen  CFelsölövö,  Komitat  Eisenburg),  einen  1400  durch- 
weg evangelische  Einwohner  zählenden  Marktflecken,  der,  zwei  Stunden 
von  der  dreifachen  Grenze  von  Ungarn,  Niederösterreich  und  Steiermark 
gelegen,  den  geistigen  Mittelpunkt  der  Hiauzerei  bildet.  Bei  meiner  Be- 
schäftigung mit  der  Sammlung  hianzischer  Sitten  und  Redensarten  ver- 
nahm ich,  dass  Samuel  Ofenbeck,  genannt  Tschali,  schöne  'Geschichten' 
zu  erzählen  wisse  und  deshalb  im  Winter  oft  von  den  Bauern  im  Dorfe 
Tauchen  eingeladen  werde,  ihnen  die  langen  Abende  zu  verkürzen.  Icli 
suchte  den  mir  schon  seit  Jahren  bekannten  Mann  in  seiner  einsamen, 
halbverfallenen  Waldhütte  auf  und  fand  seinen  Ruf  bestätigt. 

Ofenbeck  ist  ungefähr  45  Jahre  alt,  von  ziemlich  hoher  Statur  und 
trägt  einen  langen,  verwilderten  roten  Vollbart.  Seine  Hütte  liegt  im 
Kreuzeggwalde,  eine  Stunde  von  Oberschützen,  eine  halbe  von  Tauchen 
entfernt  und  besteht  nur  aus  einer  Stube  und  einer  Küche,  dazu  gehört 
ein  halbes  Joch  Acker,  Heide  und  Gestrüpp.  Erbaut  hatte  die  Hütte 
Ofenbecks  Vater,  der  früher  ein  Haus  in  Tauchen  besass,  aber  sich  mit 
den  Dorfleuten  nicht  vertragen  konnte.  Auch  der  alte  Ofenbeck  besass 
eine  grosse  Erzählergabe.  Er  rühmte  sich,  dass  während  seiner  vierzehn- 
jährigen Dienstzeit  als  Soldat  oft  die  Kameraden,  wenn  er  in  der  Kaserne 
Geschichten  erzählte,  das  Zimmer  bis  aufs  letzte  Plätzchen  besetzten  und 
mäuschenstill  zuhörten  und  auch  die  Offiziere  ihn  oft  in  die  Kantine 
kommen  Hessen,  um  'lustige',  d.  h.  erotische  Geschichten  von  ihm  zu 
hören,  und  ihm  dafür  Zigarren  oder  auch  Geld  spendierten.  Der  junge 
Ofenbeck  wuchs  einsam  im  Walde  auf;  statt  zur  Schule  zu  gehen,  legte 
er  sich  aufs  Vogelstellen,  Fischefangen,  Klettern  und  Schiessen,  blieb  aber 
des  Lesens  und  Schreibens  unkundig.  Regelmässige  Arbeit  als  Knecht 
war  ihm  zuwider,  wenn  er  sich  auch  bisweilen  notgedrungen  als  Holz- 
hauer oder  Tagelöhner  verdingte  oder  nach  Österreich,  in  die  kleine 
ungarische  Tiefebene  oder  ins  grosse  Alföld  ins  'Schnitt'  ging.  Lieber 
war  ihm  die  Jagdflinte,  und  öfter  hatte  er  sich  wegen  Wilddieberei  vor 
Gericht  zu  verantworten,  bis  endlich  die  Jagdpächter  auf  den  Ausweg  ver- 
fielen, ihn  als  Wildheger  anzustellen.  Das  Erzählertalent  hat  er  vom 
Vater  geerbt;  die  von  diesem  oder  anderwärts  gehörten  Geschichten  hat 
er  in  einem  staunenswerten  Gedächtnis    bewahrt    und    versteht    auch,    sie 


Hianzische  Märchen.  21 

nach  der  Gelegenheit  kurz  und  schlagend  oder  weitläufig  und  mit  Episoden 
geschmückt  zu  erzählen.  Die  Winterabende  verbringt  er,  wie  erwähnt, 
gewöhnlich  in  Tauchen,  wo  er  bei  den  Bauern  mit  Apfelwein  traktiert 
wird  und  dafür  Geschichten  erzählen  muss,  während  die  Mädchen  des 
Dorfes  beim  Spinnrad  sitzen  und  die  Burschen  und  Männer  Besen  binden 
oder  Körbe  flechten.  Bezeichnend  für  seine  Begabung  ist  folgender  Vor- 
fall: An  einem  stürmischen  Winterabende  pochten  einst  die  Gendarmen 
an  der  Tür  seiner  Hütte.  Es  war  zu  der  Zeit,  wo  er  nocli  als  Wilddieb 
gefürchtet  war.  An  das  Bezirksgericht  war  eine  Anzeige  ergangen,  dass 
er  wieder  mit  einem  Gewehr  gesehen  sei,  darum  kamen  die  Gendarmen, 
um  ihm  dasselbe  abzunehmen  und  ihn  dem  Stuhlrichteramte  einzuliefern. 
Seine  Frau  war  mit  den  Kindern  allein  zu  Hause;  die  sagte,  dass  er  in 
Tauehen  bei  dem  Müllermeister  Hutter  sei.  Die  Gendarmen  fanden  ihn 
dort  und  forderten  ihn  auf,  mitzugehen.  Die  ganze  Stube  war  voll  von 
Leuten,  die,  jeder  mit  irgendeiner  Arbeit  beschäftigt,  andächtig  zuhörten, 
wie  er  erzählte.  Er  hatte  gerade  eine  Geschichte  angefangen,  als  die 
Gendarmen  eintraten.  Den  Zuhörern  kam  dieser  Zwischenfall  recht  un- 
gelegen, und  einer  ersuchte  die  Gendarmen,  sie  möchten  den  Ofenbeck 
wenigstens  die  Geschichte  zu  Ende  bringen  zu  lassen.  Den  Gendarmen 
schien  es  in  der  warmen  Stube  zu  behagen,  sie  setzten  sich,  und  der 
Postenführer  forderte  Ofenbeck  auf,  fortzufahren.  Dem  Ofenbeck 
imponierten  die  Gendarmen  nicht  besonders,  und  vor  dem  'Einkasteln' 
auf  ein  paar  Tage  fürchtete  er  sich  auch  nicht,  und  so  erzählte  er  weiter, 
als  wenn  nichts  geschehen  wäre.  Er  wusste  es  so  spannend  zu  machen. 
dass  Stunde  auf  Stunde  verrann,  ohne  dass  es  jemand  wahrnahm.  Es  war 
schon  weit  über  Mitternacht,  als  er  endete.  Die  Geschichte  hatte  auch 
die  Gendarmen  so  ergriffen,  dass  sie  ihn  auf  sein  Versprechen,  nie  mehr 
ein  Gewehr  anzurühren,  ungeschoren  Hessen. 

Von  diesem  Erzähler  stammen  die  nachfolgenden  Märchen  her.  Ich 
hatte  ihn  öfter  aufgefordert,  zu  mir  zu  kommen  und  einige  Geschichten 
zu  erzählen;  doch  nie  erschien  er.  Endlich  traf  ich  ihn  im  Walde  und 
Hess  ihn  nicht  eher  los,  als  bis  er  mir  eine  Geschichte  zu  hören  gab  und 
mir  für  die  folgenden  Vormittage  weitere  versprach.  So  erzählte  mir 
Ofenbeck  im  W^alde,  wo  wir  ganz  ungestört  waren,  in  acht  Tagen  acht 
Geschichten  und  im  folgenden  Sommer  weitere  achtzehn.  Ein  Baumstrunk 
war  der  Tisch,  auf  dem  ich  ihm  nachschrieb^).  Leider  verhinderte  das 
eine  Mal  die  Erkrankung  seiner  Frau,  die  dieser  derbe  Naturmensch  innig 
liebte,  das  andere  Mal  meine  plötzliche  Abreise  die  Fortsetzung  dieser 
Märchen  vortrage;  ich  hoffe  aber,  später  dies  nachzuholen,  da  Ofenbeck 
noch  vieles  zu  erzählen  weiss. 


1  Statt  der  streng  phonetischen  Schreibung  der  Mundart  nach  Birö^  habe  ich  um 
der  besseren  Verständlichkeit  willen  die  sogenannte  Kompromissschreibung  gewählt,  wie 
sie  auch  Bunker  i^ohen  7,  307.  8,  82    anwandte. 


22 


Graf 


1.  Wia'  ta'  Sauholtasun  in  Kliinni  sein  Sun  tarlest  houti). 


'S  is-  amuP)  a  Kheinigin  g'wein^),  tei'»)  hout  kuani  Kinda'  khot^).  Ta' Khinni 
und  sein  Frau  sein  teistweign")  recht  trauri  g'wein.  Ta'  Kliinni  hout  im  Poak') 
a  Kiara'  paam  lous'n*^)  und  olli  Pria'»)  is  a  mit  seina  Frau  tuathiu  pet'n  g":ianga. 

Uaml  in  ta  Fria'  is  sei  an-  olts  Wei'  begeing't.  Mit  zwou  Krucka'  iss'tahea' 
g'aanga'.  Ta'  Kheinigin  houts  tapcamt^")  und  hout  ia  an  Tola'  g'scheinkt.  Tas 
olti  Wei'  hout  si'  fleissi'  bedaankt  und  hout  g'sokk:  „Frau  Keinigin,  i'  kint  iana' 
hölf'm,  owa'i-)  vaspreicha  meissn's  ma'  wos!'' —  „Woss' winsch'n,  ois  kriang'-s'^^^, 
wann  i'  a'  Kind  af  t'  Wölt  bring,"  sokk")  ti  Keinigin.  „Guit,"  sokk"  tas  oUi 
Wei',  „sei  wen^^)  mit  meina'  Tachta,  ta  Sauholtarin,  a  Kind  kriangn  za  tasölm 
Zeit.  Sei  meiss'n  oft i«)  meina' Tnchta'  1- ia' Kind  ois  ia'  oang'si')  äanneimma',  und 
niampp  teafs^^)  wissn,  tas's  nit  iana  oang's  is."  —  „Jo,  tos  va'sprich'  i',"  sokk'  ti 
Keinigin. 

Richti',  in  nein  Maanat'n  hout  ti  Kheinigin  an  Prinz'n  af  t'  Wölt  prouti»), 
und  an  To'  trauf  hout  ti  Sauholtas  Tachta  a'^")  an  Puira'"-'^)  kriak'.  Und  ti  Sau- 
holta's  Tfichta'  hout  ian'  Puim  ta  Keinigin  prout,  und  es  hout  g'hoassn,  ti  Keinigin 
hout  ZwüUing'. 

Ti  Puim  ho'm  si'  recht  ge'n  g'hot^^)  und  sein  fleissi'  g'wein  und  ho'm  oili 
Schul'n  raitg'mocht.  Wias'^s)  19  Jua  olt  sein  g'wein,  is  amul  a  Mola"-^)  ins 
G'schlouss'^^)  'kheimma'.  's  is'  a  recht  an-olta'  Maan  g'wein  und  ta'  Khinni  hout 
g'sok':  „Mol'  'in  Prinz'n  iari  Zimraa'  aus,  owa'  schein  muisst-as  mocha',  sist^ß) 
wiast  um  an  Koupf  kiaza"-')!"  Ta'  Mola'  hout  a  vuls  Mounat  g'oawit'-s).  und 
niampp  hout  in  tea  Zeit  in  ti  Zimraa'  teafm.  In  Prinz'n  sein  Schloufzimma"  hout 
a'  iwa'  'n  Peif-^)  a  wunda'scheini  Prinzessin  g'mol'n,  g'rod  ois  wia  wann's'  g"  leipp' 
het'so).  In  Khinni  und  in  Prinzn  ho'm  ti  Zimma'  recht  g'foln,  olli  Zimma'  ho'ms 
Tiang'schaut,  g'rod  af'n  Prinzn  seih  Schloufzimma'  homs  va'geiss'n. 

Af  t'  Noot,  wia  ta'  Prinz  in  sein  Schloufzimma'  geht  und  ti  Tia'^i)  aufmocht, 
wara'  bold  umg'foln  voa  Schroukka',  wal's  is'-'n  via'kheimma^-),  ois  wann  a 
Scheins  Fraunzimma'  iam  entgeingn  gein  tat"'').  Si  houtn  aang'locht  und  houtn 
t'  Haand  entgeign  g'holtn.  Ea  vuUa  Freid'^^)  hout  am  ia  Haand  g'riff'n  und  hout 
ia  wöüln  a  PussP^)  geim.  Tou  hout  a'  eascht  g'sea^'«),  tass  s'na-r-a  PültP")  is. 
Ea  hout  si  nidag'leikk,  hout  owa'  nit  schlouf'm  kinna'.  Und  sou  is-'s-"n  olli  Noot 
gaahga',  imma'  hout  a'  na'  af  tas  Püld  g'schaut,  und  panToo^«)  hout  a'  mit  niamp 
g'reid't  und  is  imma'  trauri'  g'wöin.  Nou'  an  hol'm  Jua»»)  hout  seih  Voda'  g'sok': 
„Mein  Kind,  tos  geht  nit  sou  fuat,  tu  kränkst  ti'  z'  Tat."  „Jo,  Voda',  i"  kann's 
nit  mea'  laang  ausholtn:  wann  tei  Prinzessin  nit  mein  Frau  -wiad,  stiaw'^')  i'  va' 
lauta'  kränka'.     Wann  si  nit  leip,  wüll  i'  a'  nit  leim." 


1  Wie  der  Sauhalterssohn  den  Königssohu  erlöst  hat.  —  [Das  Märchen 
entspricht  im  ganzen  dem  Grimmschen  ur.  GO  'Die  zwei  Brüder',  hat  aber  in  der  An- 
nahme des  Püegebruders,  der  durch  das  Bild  der  Prinzessin  erweckten  Liebe  und  der 
Entzauberung  der  unsichtbaren  Prinzessin  manches  Eigentümliche.]  .—  2  einmal  als  Zahl- 
wort aber:  uaml)  —  3  gewesen  —  4  die  —  5  keine  Kinder  gehabt  —  (3  deswegen  — 
7)  Park  —  8'  eine  Kirche  bauen  lassen  —  9  alle  Morgen  —  10)  erbarmt—  11)  Taler  — 
12)  aber  —  13  Was  Sie  wünschen,  das  kriegen  Sie  —  14)  sagt  —  15^  Sie  werden  — 
16)  dann  —  17'  als  Ihr  eignes  —  18  niemand  darfs  —  19  gebracht  —  -20*  auch  — 
21)  Buben  —  22  haben  sich  recht  gern  gehabt  —  23)  Wie  sie  —  24  Maler —  25  Schloss 
26)  sonst  —  27)  kürzer  —  28i  einen  vollen  Monat  gearbeitet  —  29)  überm  Bett  —  30^  ge- 
lebt hätte  —  31)  Tür  —  32)  weils  ihm  vorgekommen  ist  —  33!  entgegen  gehen  täte  — 
34i  voll  Freude  —  35)  Kuss  —  3G:i  erst  gesehen  —  37,i  Bild  —  381  bei  Tage  —  ".9  halben 
Jahr  —  4(f  sterbe. 


Hianzische  Märchen.  23 

Ta  Khinni  hout  am  an'^)  olt'n  Mola'  g'schickt.  In  zwoa  Maanat  ho'm  an  f 
Soldätn  g'fund'n.  „Leip'  tei  Prinzessin,  teis  in  Prinzn  sein  Schloufzimma'  g'moln 
ho'm,  oda'  nit?"  froug'^)  ta  Khinni.  „Jo,  leim  tuits  schäaii,  und  a'  a'  Schweista' 
houts,  owa'  va'wunschn  seins'.  Rein^)  kinna's',  owa'  g'sea^)  tuit  ma's'  nit.  Teis 
va'wunschani  Laand  is  weit  iwa'  'n  Mea^)  af  an  Pea*^).  Vülli  homs  scha  tarlCsn') 
wöül'n,  owa'  niamp  houts  kinna';  olli  sein  zar-an  Stuaft  g'woatn^)."  Wia  ta'  Prinz 
teis  g'heat  hout,  hout  a'  si'  nit  mea  oholt'n  louss'n^):  „Voda',  i'  muiss  fuat  und 
muiss  tei  Prinzessin  tarlesn,  wal  i'  aani  sei^°)  nit  leim  käaü!"  Wos  hout  a' 
wöüln  ta'  Khinni,  ea  houtn  fuatlouss'n.  Ta'  Prinz  hout  si'  af  sein  beistz  Rous^^) 
g'seitzt  und  is  fuatgrid'n. 

In  ta'  tritt'n  Woucha^^)  is  a'  in  a  grassi  Säandwistn  kheimma.  Tou  hout  a' 
ollahaand  Geista'  g'sea,  und  grassi  Schlangan  hom  si'  im  Säand  umananda  g'vvolzn. 
Ho'm-an  owa'  nix  taan.  In  ta'  viatn  Woucha  is  a  zan  Mea  kheimma.  Rein  is'  s 
"Wossa'  g'wein,  wiana'  Prindl^^).  Pan  Mea  is'  a'-r-  olda  Neinl")  g'wein,  tea 
houtn  g'froukk,  wou-r-a'  hiri  wül.  „Ti  Prinzessin,  tei  tou^')  va'winscht  sein  sul, 
wül  i'  tarlesn;  kinnas'  ma  nit  hölfm?"  —  „'S  is'  schod'  um  teiii  jung's  Leim,'" 
sok  ta'r  Oldi,  „owa'  wannst-ta's  grod  prowian^'^)  willst,  behülfli  sein  wiad  i  ta^"). 
Wos  tou  ksiast,  teis  Mea  und  tei  grassi  Wistu,  tos  is'  ti  fruchboarsti  Geingd^*), 
is  owa'  ois  va'wunschn.  Tou  houst  a'  Kug'l,  wannst  tea  nou  gehst,  wiast  in-'s 
va'wunschni  Gschlous  kheimma."  Ta'  Prinz  hout  si'  pedankt  und  is'  ta'  Kugl 
nougaanga'. 

In  zwou  Stundn  is'  a'  pan  Gschlous  g'wein.  'S  Toa^**)  is'  ouffm  g'wein.  und 
ea  is'  iagaaiiga.  Kuan-")  Meinsch  is'-'n  pegeingt.  'S  Rouss  hout  a-r-in  Stoll 
p'loat^^),  und  ea  is'  tua  ti  Zimma'  gäailga.  In  tritt'n  Zimma  'is'  a'  Tisch  g'stäand'n, 
af  teim  is'  fia  uan  Peasäaii^-)  auf'deickt  g'wein.  „Guitn  Noumpt^^),  Prinz!"  hout 
a'  Praunzimma'  g'sokk,  „gölt  tu  bist  kheimma',  mi'  za  tarlesn?"  „Jo",  sokk-a', 
hout  owa'  kuan  Meinschn  g'sea.  „Iss  und  trink!"  hout  tei  sölwi  Stimm'  gsokk. 
Ea  hout  sis"*)  nit  zwoaml  schoff'm-^)  louss'n  und  hout  feist^^j  zan  Eissn  g'schaut. 
Wia-r-a'  sou  isst,  mocht  wea  ti  Tia'  auf  und  wida'  zui.  Ta'  Khinni  is'  iagaaiiga, 
is  owa'  nit  zan  g'sea  g'wein.  „Wea  is  tea  jungi  Maaii?"  hout  a  g'froukk.  „A  Prinz 
is."  —  „Ea  sull  toubleim." 

Nou'-'n  Eissn  is  a  schlafari'  g'woatn  und  hout  si  nidag'  leikk'.  'S  hout-"n 
'tramp 2'),  ea  hat  ti  Prinzessin  pan  Hois^**)  g'naamma',  und  si  hout  iam  a'  Pussl 
geim.  —  Am  äandan  Too'  hout  a  tein  Tram  ta'  Prinzessin  tazöült,  tei  houtn  oft'-*) 
drei  Pussl  geim. 

Am  drittn  Too'  hout  ta'  oldi  Khinni  g'sokk:  „Heiut  kaanst  tein  Glick 
prowian!  In  Kölla^*^)  is'  a'  grassi  Hock'^^).  Mit  tea  gehst  in  Guadn^-).  Tuat^^^) 
is  a  grassi  Oacha^^),  tei  hout  a'  schwoaz  Platzl,  wia  Tolla^^)  gras.  Tuat  muist 
feist  hinhaam-'*'),  und  die  Oacha  wiad  af  uan  Stroa''')  foln,  wanns-ta-'s'  guit  triffst. 
Ti  Oacha  is  einwendi  huH^)  und  es  wiad  a  Krout-''')  ausasprifiga.  Tein  muist  a' 
mit  'n  easchtn  Stroa  treif'm.  Wannst  'n  nit  triffst,  sa  wiast  mitzanm-tein  Rouss 
vastuannat^").     Triffst  'n  owa',    oft  wiad-ta  Rrout    an    Bund  Schlissl   fol'n    loussn, 


1  um  den  —  2  fragt  —  '.)  Reden  —  4i  sehen  —  o"  Meer  —  6)  Berg  —  7)  schon 
erlösen  —  8i  zu  Stoin  geworden  —  9^  abhalten  lassen  —  10^  ohne  sie  —  11)  sein  bestes 
Ross  —  12  Woche  —  13  Quelle  —  14  alter  Ahne  hier:  alter  Mann)  —  lo)  da  — 
16  probieren  —  17  dir  —  18  Gegend  —  19 1  Tor  —  20  Kein  —  21  geleitet  —  22  eine 
Person  —  23  Guten  Abend  —  24  sichs  —  25  befehlen  —  26  fest  —  27  geträumt 
-  28  Hals  —  29  darauf  —  :50;  Keller  —  31  Hacke  —  32  Garten  —  33)  Dort  — 
34)  Eiche  —  3Ö  Taler  —  36)  hinhauen  —  37  Streich  —  38  hohl  —  39  Kröte  —  40)  ver- 
steinert. 


24  Graf: 

tei  muisst  neimraa  und  in  Krout  va'breinna',  oft  wiad  ois  sichboa'^)  wen.  Pfiat  ti' 
Gout-j!"  Ta'  Prinz  hout  taan,  wia  ta'  oldi  Khinni  g'sokk  hout.  Wia  ra  in  Guadn 
gäauga  is',  hout  a'  glei'  ti  grässi  Oacha  g'sea.  Ea  pockt  ti  Hock'  und  haut  hin 
afs  schwoazi  Platzl.  Owa'  ea  is'  i  schwoch  g'wein.  T'  Hock  is'  faP)  gäanga, 
und  ea  is'  Stanta  Peta*)  mitzäamrat  sein  Rouss  za-r-an  Stuaii  g'woatn. 

Tahuam^)  ho'm  seini  Öiiltan®)  und  sein  Pruida'  imraa'  g'woat  af  iam.  Owa 
's  is  a  Jua  vagäansja,  und  ta'  Prinz  is'  näan'')  imma'  nit  kheimma'.  Hiaz  hout  ta' 
aafidari  Pruida',  ta'  Sauholtassuü  g'sokk:  „Voda',  mi  loapts^)  mea  nit  tahuani,  i 
muiss  schaam**),  wou  mein  Pruida'  is,  eippa^")  käan  i'  iam  hölfm!"  Sei  hom-an 
nit  wöüUn  fuatlouss'n;  owa'  ea  hout's  nit  äandas  täan,  hout  si  af  a'  Rouss  g'seitzt 
und  is  fuat. 

'S  is'  'n  g'rod  sou  g'äanga',  wia  sein  Pruidan.  Ea  is'  a'  zan  Mea  kheimma' 
und  za  tein  oldn  Neinl.  Tea  hout  si  recht  g' freit,  wiaran^^)  g'sea  hout.  „Griass 
ti  Gout,"  hout  a  g'sokk,  „walst  na-r^^)-amul  tou  bist!  Du  wiast  di  Buag  tarles'n, 
wannst  ois  sou  tuist,  wias  ta'  g'sokk  wiad;  und  oft  wiast  du  ta' Khinni,' wannst  a" 
a'  Sauholtassun  bist.  Dein  Pruida,  ta  Prinz,  kriakk  die  öültari  Prinzessin,  und  tu 
ti  jingere!"  — ■  „Wos,  i  bin  a  Prinz  und  kuan  Sauholtassun!"  —  «Tos  woas  i 
peissa^^).     Owa'  hiaz  geh'  na^*).     Tou  houst  a  Kug'l,  und  tea  geh'  nou!" 

Ta  Sauholtas  Sun  is  a  ins  Gschlouss  kheimma',  und  's  isn  grod  sou  gäanga 
wia  sein  Pruidan.  Am  trittn  To  hout  a'  r-a'  die  Hock'  kriakk,  und  wia  ra  pan 
Oachapaam  is,  hout  a  sit'  Jawln  aufg'strickt^^)  und  hout  si  tas  schwoazi  Platzl 
guit  äang'schaut.  Afn  easchtn  Stroa  is  d'  Oacha  g'leign  und  ta  Krout  is  ansag'spruiiga. 
Tein  hout  a'-r-uans  afn  Puchl^^)  g'eim,  tas  a'  glei  vareickt^^)  is,  und  in  Bund 
Schlissl  hout  a'-r-a'  foU'n  louss'n,  T'  Schlissl  hout  a'  schnöül  eing'steickt  und  a 
Fua^®)  aanzuntn.  Tuat  hout  a'  in  Kroutn  einig'schmissn.  und  wia  si'  ta  Ra 
va'zougn'^)  hout  g' bot,  is  a'-r-in  an  schein  Poak-°)  g'stäaudn  neim^i)  an  Gschlouss. 
Teis  is  vüU  scheinna  g'wein  ois  fria.  Und  vüU  Leit  sein  tuat  umanäanda  gäaiiga". 
Ta' Khinni  is'  a'  duat  g'wein  und  ti  Khinnigin  und  zwou  wundascheini  Prinzessinen 
und  vülla  Mülitäa'--).  Und  ta'  Khinni  hout  g'sokk:  „Tu  houst  ins  olli^^)  tarlest. 
und  tafia  kriast  mein  jingsti  Tächta,  und  tu  wiast  nou  meina'-'^)  Khinni.  Und 
dein  Pruida  kriakk  mein  öültari  Tächta.''  Und  olli  ho'm  si^^)  fleissi  pedäankt  pan 
Sauholtassun,  tas-as  tarlest  hout.  Sei  ho'm  glei'  d'  Häzat-'^)  g'hot.  Tarnou"-")  is" 
da"  Prinz  mit  seina  Frau  za  seini  Öültan,  da'  Sauholtassun  owa'  is  tuat  'plim^«) 
und  is'  Khinni  g'woatn-^). 

2.   'S  Leimswossa'^''). 

'S  is'  amul  a'  Khinni  g'wei'n^^),  a  recht  a'  brava'  Meinsch.  Sein  Frau  owa^^j 
is'  a'   Hex  g'wei'n.     Tei^^)    hout  pan  Too'  nia"'*)  a'  Feinsta'    owa'    a'   Tia'^s)    auf- 

r  alles  sichtbar  —  2)  Behüt  dich  Gott  —  3    fehl  —    4    auf  der  Stelle  ^.stante  pede 

—  5)  Daheim  —  6'  Eltern  —  7)  noch  —  8;  leidet  es  —  9;  schauen  —  10'  vielleicht  — 
11'  wie  er  ihn  —  12  weil  du  nur  —  13)  besser  —  14  nur  —  15  sich  die  Ärmel  auf- 
gestreift —  16    Buckel  —  17    verreckt  —  18)  Feuer   —    19)  Rauch  verzogen  —  20    Park 

—  21  neben  —  22  ^Militär  —  23i  uns  alle  —  24i  nach  mir— 25  haben  sich  —  26  Hoch- 
zeit —  27  Darnach  —  28)  geblieben  —  29~  geworden  —  30  Das  Lebenswasser.  — 
['Das  Wasser  des  Lebens'  bei  Grimm  nr.  97  und  Bunker,  Schwanke  in  heanzischer 
Mundart  1906  nr.  90  ist  hier  durch  verschiedene  Züge  vermehrt:  den  Vogel  Phönix  Grimm  .")7 
'Der  goldene  Vogel' ,  die  nachts  einen  Menschen  in  ein  Pferd  verwandelnde  und  besteigende 
Hexe  (Pi,.  Köhler  1,  220.  586),  den  vom  geschickten  Hufschmiede  abgeschlagenen  und 
wieder  angesetzten  Fuß  des  Pferdes  R.  Köhler  1,  132.  296,  die  mit  Hilfe  dankbarer  Ameisen 
und  einer  Zaubersalbe  gelösten  Aufgaben  des  Schwiegervaters.]  —  31'  Es  ist  einmal  ein 
König  gewesen  —  32)  aber  —  33    Die  —  34    bei  Tag  nie  —  35    Tür. 


Hianzische  Märchen.  25 

g'mocht.  Eascht  am  ochti^)  af  t'  Noot  is'  s'  aussigaanga'.  Am  holwa-r-alfi-) 
is'  s'  ins  Wochzimma^)  und  hout  si'  va'  t'  Soltot'n  uan*)  ausg'suit^)  zar-an 
Reitpfeat.  Hout'  'n  an  Zam^)  um-an  Koupf  g'woaf'm  und  tou  is'-a'  glei'  zar-an 
Puouss  g'vvoat'n.  Af  tein  hout  sa  si'')  aufg'seitzt  und  is'  fuatg'ridn  za  ti  aandan 
Hexn.  Und  wia  s'  ia  Zauwarei  g'mocht  hout  g'ho't,  is'-s'  wida'  z'ruckg'ridn  und 
hout  in  Rouss  in  Zam  oa*)  g'niiamma',  und  tou  is'-'s  wida  zar-an  Soltotn  g'woatn. 
Tea  hout  in  sein'  Peit")  weidag'schloufm.  Tawal^°)  s'  fuat  is'  g'wein,  hout-s'  in 
ia  Peit  an  aanda's  Praunzimma'  iazauwat,  tos  is'  an  Pauan  sein  Wei^^)  g'wein. 
Teis  hout  g'rod  sou  ausg'schaut,  wia  si  söhna^^).  Teistweign  is'  ta'  Rhinni  nia 
wos  inni  g'woat'n^^). 

Amul  is'  ta'  Rhinni  Uraank  g'woat'n.  Ruan  Toukta^*)  hout  'n  hölf'm  kinna', 
und  is'  irama'  schlechta'  g'woat'n.  Tou  hout-'s-'n  amul  tramp i^),  tas  a'  g'sund 
kinnt  wen^^),  wan  a'-r-a'  Leimswossa'  hat  und  va'  tein  tringa'^^)  kinnt.  Tos  hout- 
's-'n  owa  nit  tramp,  wou  tos  Leimswossa'  z'ho'm^*)  is.  Trei  Sin^*)  hout  ta'  Rhinni 
g'hot,  tein  hout  a'-r-in  Tram  tarzöült-"}.  Uana'  is'  zwuanzk,  ta  zweiti  ochza'  und 
ta  jingari  sechza'  Jua-^)  olt  g'wein.  „Voda',  mia  pringa  ta'  's  Leimswossa',  und 
wann  "s  insa'  Leim  kousf-^),  ho'm-s  olli  trei  g'sokk',  „teis  tahiuseam^s)  kim'ma 
nit  leinga  aanschaam." 

Za-r-eascht  is'  ta'  öültari  fuat.  In  seixtn  Too'  is'  a'-r-in  a'  Wüldnis  g'keimraa. 
A"  AVoucha  hiang  hout  a'  kuan  Meinsch'n  und  kuan  Haus  g'sea.  Af-aramuP*) 
kimp  a'  za-r-an  grassn  Fluss.  Tou  is'  a'  scheini  Pruck'  triwa-^)  g'gaanga.  Tei 
hout  via  grassi  Pfala'"^**)  g'ho't.  Pan  inalan^')  Pfala'  is  a-n-olda  Miian  g'seissn 
mit  zw'ou  Rroucka"^*).  Wia  tea  in  Prinz'n  taheareid'n  hout  g'sea',  hout  an  in 
Huit  hing'holdn,  tas-an  wos  gei'm  sult.  Ta'  Prinz  owa'  hout'n  gua'  nit  äan- 
ii'loust-^)  und  is'  weida'  g'rid'n.  Nit  laang  trauf  kimp  a'  zar-an  Wiatshaus.  Tou 
hout  t'  Musi'  g'swült^")  und  vül  Leit'  sein  tuat  g'wein.  Tei  ho'm  feist  aufghaut, 
taanzt  ho'm  s'  und  Rhoatn  g'swült.  „Sakra,"  teinkt  si  ta'  Prinz,  „tou  sein  scheini 
Meinscha'^^).  und, Rhoatn  g'swült  wiad  a';  tou  pleiw'  i'  iwa  Noot."  Ea  hout  sein 
Rouss  in  Hausknecht  g'eim  und  hout  feist  g'mulat^'-)  und  sein  gaanz'  Gold' 
vataan,  und  Schuld'n  hout  a'  r-a'  naan^^)  g'mocht.  In  ta'  Fria  sok'  ta  "Wiat: 
„Sei  sein  ma'  trei-hundat  Tukodn  schuldi'.  Und  sou.  laang  sei  teis  Gold  nit  zol'n, 
lous  i'  lana  nit  fuat.  Und  wäan  s'  as  in  a'  Jua  nit  oliafit^'*)  ho'm,  we'n  s'am-an 
Roupf  kia'za''^^).  Wos  hout  a'  wöüln,  tuat  hout  a'  plei'm  meiss'n  und  va'  ta  Fria 
pis  af  t'  Noot  feist  oawit'n^**). 

Tahuam^')  hout  sein  Voda'  tawal  afs  Leimswossa'  g'woat.  Drei  Mäanat  sein 
vagaanga,  und  ta'  Prinz  is'  holt  nit  g'ki'imma',  und  ta'  oldi  Rhinni  is'  imma' 
schweicha'^*)  g'woatn.  Hiaz  is  ta"  zweiti  Sun  fuat.  Tein  is'  s'  owa'  grod  sou 
gaanga,  wia  sein  'n  Pruidan.  Ea  is'  a'  in  teis  Wiatshaus  g'keimma'  und  hout  si' 
a'  vasouf'm^*). 

Wida'  sein  trei  Maanat  vagaanga,  und  ta'  oldi  Rhinni  hout  umasist*")  af  seini 
Sin  g'woat.     Tou  hout  ta'  Jingsti'  g'sok':    „Voda,    meihi    Priada'    köimraa'    nit,    i' 

r  Erst  um  acht  Uhr  —  2)  Um  halb  elf  Uhr  —  ."5  Wachtzimmer  —  -1  von  den  Sol- 
daten einen  —  5;  ausgesucht  —  6)  Zaum  —  7'  Auf  den  hat  sie  sich  —  8  ab  —  9^  Bett  — 
10  dt?rweil  —  11  eines  Bauern  Weib  —  12)  selber  —  13;  inne  geworden  —  14)  Kein 
Doktor  .—  15)  geträumt  —  IG  könnte  werden  —  17)  trinken  —  18;  zu  haben  —  19)  Drei 
Söhne  —  20  den  Traum  erzählt  —  21  Jahre  —  22  kostet  —  23  dies  Dahinsiechen  [?]  — 
24  auf  einmal  —  25  drüber  —  26  vier  große  Pfeiler  —  27  drüben  belindlichen  — 
28  Krücken  —  29  gar  nicht  angehört  —  30  gespielt  —  31  Mädchen  —  32  unterhalten  — 
33  noch  —  34 1  abgedient  —  35  kürzer  —  36;  arbeiten  —  37  daheim  —  38  schwächer 
—  30    betrunken  —  40    umsonst. 


26  Graf: 

wiad  sfhaarai),  wou'  s'  sein,  und  's  Li'imswossa  pring-  i'  ta-r-aM^s).  Xa"  Khinni 
hout  'n  wul  o'hold'n  wöül'n,  ovva'  ta"  Prinz  hout  nit  ausg'seitzt^),  pis  a'  fuatteaf  m 
hout.  Ea  is  za  tasölm*)  Pruck'  g'keimma',  wia  seini  Priada'.  Ta-r-oldi  Mäafi  is' 
a'  tuat  g'seissn.  Ta'  Prinz  hout'n  an  guit'n  Moang'n  gin'm^)  und  hout  "n  trei 
Tukot'n  g'scheiiikt.  Ta' Oldi  hout  si  ped:iankt  und  hout  g'sok:  „I  ksia's  schuan®), 
tu  pist  nit  sou  stulz,  wia  teini  Priada';  's  sul  ta'  nit  loadi")  sein,  tas  t'ma'  wos 
g'scheinkt  houst!"  —  ^Woast  eippa**),  wou  meini  Priada'  sein  und  wou  's  Leims- 
wossa'  z'-ho'm  is'?"  frouk'  ta  Prinz.  „Jo,"  sok'  ta-r  oldi  Mäan,  „frali**)  woas  is 
's.  Pumpf  Stund'n  va  tou  is  a  Wiatshaus,  tuat  ho'm  si'  teini  Priada"  vasoufm 
und  vahuat^")  und  ho'm  mi'iss'n  tuat  bleib'ra.  In  a  Maanat  wen  s"  aui'g'heinkt, 
wal  s'  iari  Schuld'n  nit  o'oawitn  kinna'.  Tei'm  Wiatshaus  weich'  aus  und  louss 
ti  nit  ialoacha'^i).  Es  wiad  ta'  ois  klik'n^"},  wann-st'  sou  tuist,  wia  ta'  ta'  Fux, 
töin's-t  pegeingnan  wiast,  und  mein  Pruida,  ta  üansidla^-),  sog'n  wiad.  I"  gi'  ta" 
tein  Rout"):  Peleidi  niamp^^}  und  kaf  ta  jo  kuan  Golg'nfleisch  nit!" 

Richti,  ea  is  kamp^")  a  viatl  Stund  laang  gaanga',  steht  a  Fux  af  ta'  Strouss'. 
„Guit'n  Moang'n,  Fux'"  sok'  ta  Prinz  und  rukt  in  Huit.  „Guit'n  Moaiign,  Prinz, 
r  pi  g'keimma',  wal  i'  tia  hölf'm  muiss,  sou  ouf-st^')  mi'  prau'st.  Sul  ta"  wos 
posian^*),  oft^^)  riaff  mi!"  —  „P  taank  ta'  schein,  Fux"  sok  ta  Prinz  und  is"  in 
Fux'n  ausg'wicha',  tas  ta'  Fux  af  'n  schein'n  Wei'  hout  kinna'  weidagein.  Pold 
trauf  kimp  a'  za  r-an  Äamishaufm  und  ti  Äamisn  sein  grod  af  ta'  WAandaschoft 
g'wein.  Si  sein  iwa'  t  Strouss  zougfi.  Ta  Prinz  is"  van  Rouss  o'g'schtign-'')  und 
hout  g'woat,  pis  olli  triwa  sein  g'wein.  T'leitzti  Aamisn  is'  ta'  Aamisnkhinni 
g'wein.  Tea  is'  stein  pli'm-^)  und  hout  g'sok:  „Wal  tu  mein  Vulk  vasohaut^-) 
houst,  winsch  i'  ta'  Glick.  Wanst  ins  praucha'  sulst,  riaff  ins;  mia  sein  ta"  za 
jeda'  Stund  pehülfli!"  Ta'  Prinz  hout  si'  petaankt  und  is'  weida'  grid'n  und  is' 
za  tein  Wiatshaus  g'keimma,  wou  seini  Priada'  seiii  g'wein.  Is'  ow^a"  vari- 
wagrid'n^^). 

Wia  's  finsta'  is'  g'woat'n,  is'  a'-r-in  an  grass'n  Wold  g'keimma'.  Sou  finsta 
is's  tuat  g'wein,  tas  ma-r-uan  ins  Maul  greif'm  hat  kinna.  Teistweingn-^)  is"  a' 
recht  frä^^)  g'wein,  tas  a'-r-a'  Liacht  hout  g'sea.  Ea  is'  teim  Liacht  entgeingn 
gaanga  und  is'  zar  an  kluan  Heis'l-®)  gkeimma.  Pan  Feinsta  hout  a'  äangkloupft 
und  hout  am  a'  NochthiawP')  aang'holt'n.  „Wea  is'  taust-*)?"  hout  wea  g'frouk. 
„r  pift  ta  Prinz  van  Ausland  und  mecht  um  Nochquotia  pit'n",  sok'  ta  Prinz. 
Hiaz  is'  ti  Tia  aufg'richlt-^)  g'woatn,  und  an  olda'  Maan  mit  an  schneeweissn 
Puat^")  hout  'n  ia-loussn.  „Wia  kimmst  tou  hea  und  wos  wülst  tou?"  hout  a' 
g'sok'.  „I  wül  's  Leimswossa'  fia'  mein  kräankn  Vodan  pringa"  sok-a'.  ,.Tu  pist 
a'  prav's  Kind,  mein  Pruida  hout  ma'  scha'  ois  sogii  loussn  tua  ti"  Feichln^^).  Hiaz 
lei'  Ti'  na'  nida'  und  schlouf"  guit!"     Ho'm  si'  olli  zwein  nidag'leik'. 

In  ta'  Fria  sok  ta-r-Oldi:  „Tou  houst  a'  Flaschal  mit  an  Polsaam,  tea  halt^^) 
olli  Wund'n,  pan  Meinschn  und  pan  Viah.  Tein  wiast  nou'  praua'^^).  Wannst' 
hiaz  tou  fuatgehst,  wiast  af  amul  za  trei  Stroussn  keimma'.  Af  wöüla  oist''^) 
weidagein  muisst,    teaf   i'    ta'    nit  sogn.     Olli  trei  Stroussn  fian^^)    zar    an   schein 


1  schauen  —  2)  dir  auch  —  3  abgelassen  —  4  derselben  —  5  guteu  Morgen  ge- 
fjebcn  —  G,  Ich  sehe  schon  —  7  leid  —  8  Weißt  du  vielleicht  —  9  freilich  —  1<»  ver- 
hiut  —  11  hineinlocken  —  12'i  alles  glücken  —  13  Einsiedler  —  14  Rat  —  l."i  Be- 
leidige niemanden  —  16;  kaum  —  17"  so  oft  du  —  18  passieren  —  19  dann  —  20  ab- 
gestiegen —  21)  stehen  geblieben  —  22'  verschont  —  23  vorübergeritten  —  24  des- 
wegen —  25 1  froh  —  2(5)  Häuschen  —  27;  Nachtherberge  —  28)  draussen  —  29  auf- 
geriegelt —  3ü  Bart  —  31)  durch  die  Vögel  —  32  heilt  —  3:i  brauciien  —  34  Auf 
welcher  als  du  —  35    führen. 


Hianzische  Märchen.  27 

Gschloussi).  Im  Houf  va"  tein  Gschlouss  is'  a'  Prüm',  in  tein  is  's  Leiraswossa". 
Links  und  rechts  van  Prüm'  heinga'  zwein  Lewm^),  tei  loussn  kuan  Meinschn 
zui,  pis  hiaz  ho'm  s'  naan  olli  z'rissn,  tei  a'  Wossa'  ho'm  wöülln.  'S  is  owa'  tou' 
zan  zuikeimma'.  Zwisch'n  ti'  zwoa  Vicha  is  a  guldana  Straft).  Af  tein  muiss 
ma'  va  ta  Seit'n  zan  Prüm'  zui.  T'  Heind  muiss  ma'  feist  an  t'  Fiass^)  aantrucka', 
wia-r-a'  Sollot;  wann  a'  Haptacht^)  steht  und  kuan  Finga'  proat*^)  teaf  ma'  nit  af 
t'  Seit'n  van  Straf.  T'  Lewm  wen  z'sammruin"),  owa"  si  kinna'  grod'  na'  pis  zan 
Straf,  weida'  nit.  und  hiaz  geh'  und  miak*)  ta',  wos  i  ta'  g'sok  häan!''  Ta' 
Prinz  hout  si  petaankt  und  is'  fuat. 

Za  Mitto'  is'  a'  schaaii  pa'  ti  trei  Strouss'n  gwein.  Uani  is  mit  Sei'n^),  ti 
aandari  mit  Säamat  und  ti  tritti  is  mit  Petzn^**)  iwazougn  g'wein.  „!'  teink"),  i" 
wiad  iwa  ti  Petzn  reid'n",  sok'  ta  Prinz,  „tou  moch'  i'  am  weinigstn  Scho'n^^j!" 
Und  ea  is'  za'  ta'  Puak  g'keimma',  Im  Houf  is'  ta'  Prüm'  g'wein  mit  ti  zwein 
grassmächtign  Lewm.  Um  a  t  um^^)  is'  a  guldanas  Glanda'^^)  g'wein.  Ea  is' 
zan  Prüm'  hin  und  hout  si'  a  Flosch'n  mit  'n  Leimswossa'  äang'füllt.  T'  Lewm 
sein  wühl  hin  af  iam,  owa'  si  ho'm  an  nit  targ'leinga' ^5)  kinna,  wal  a'  imma'  af 
"n  guldan  Stri'^")  is'  "plim. 

Oft  hout  a'  t'  Ploschn  in  sein  einwendig'n  SeikU")  g'steikt  und  is'  in's  G'schlouss 
ia^8).  Iwarol  ho'm  t'  Liachta'  prunna'^^),  owa'  kuan  Meinschn  hout  ma'  nit  g'sea. 
Ea  hoat  si  wöülln  fias  Leimswossa"  petaanka.  Im  trittn  Zimma'  is  a'  guldas  Peitt 
gstäandn,  und  tuat  is  a"  wundascheini  Prinzessin  trein-°)  g'leigii  und  hout 
g'schloufm.  Ouwa'-'n  Peitt  is'  a  Fgichlstei'-^)  g'wein,  tuat  is'  a  guldanas  Feichl 
treiii  g'wein,  teis  hout  g'sunga:  „Tu  houst-a-'s  Leimswossa'  mitg'naamma',  tu 
wiast  a'  mi'  mitneimma"  und  mein  Prinzessin  a'!"  Ta'  Prinz  hout  nix  g'sok', 
hout  si'  owa  nit  tarholtn  kinna,  wia-r-a'  ti  Prinzessin  sou  im  Peitt  lign  hout  g'sea. 
_r  kaan  ta's  nit  scheinka",  und  wann  's  mein  Leim  gült'".  Und  ea  is'  za'  sei--) 
in  's  Peitt.  .  .  .  Pevoa-r-a  fuat  is,  schreib  a'  af  an  Zeil:  „Ta'  jingsti  Prinz  van 
Ausland,  tea-'s  Leimswossa'  fia  sein  Vodan  g'hult  hout,  is'  's  g'wein.  Vazeih' 
ma-'s,  wos  i'  taan  hä'an!" 

Und  ea  is'  wida  af  tansölm  Wei'  z'ruck,  in  Fouchl  Fenix  hout  a'  mitg'naamma". 
Tan  olt'n  Uaiisidla'  hout  a'  mea  nit  g'fund'n  's  is"  nix  mea  g'wein  af  tein  Ploz 
Zan  Wiatshaus  owa',  wou  seini  Priada'  gwein  sein,  is'  a  g'keiiuma'.  Sei  honi 
srod'  feist  auftrogn  und  ti  Geist'  petiant-^).  Ea  hout  in  W^iat^-»)  riafm  loussn 
und  hout'n  g'frouk,  va  wou-r-a  tei  zwein  Köllna'-'*)  hout?  „Teis  sein  zwein 
Prinzn,  tei  ho'm  tou  Schuld'n  g'mocht,  und  hiaz  meissn-s-as  tou  o-oawitn.  Ta 
öültari  wiad  in  sechs  Togn  aufg'heinkt!"  —  „"V\^os  sein-s  iana  schuldi'?"  „Seix- 
handat  Tukodn!  Pis  hiaz  ho'm  s'a  si'  nix  vatiant,  ois  's  Freiss'n-^)! "  Ea  hout 
si'  seini  Priada'  ria^m  louss'n.  Si  ho'm  an  nit  tarkeint^").  „!'  pin  einka-®}  jingsta" 
Pruida'",  hout  a"  g'sok,  „va-r  eink  aus  kinnt  insa"  Voda"  scha'  vvoat'n  afs  Leims- 
wossa', vFann  s  eink  tou  vasaufts,  hiaz  hään  i'  meissn  fuat.  S'is'  a'  ginka  Glick. 
Tou  hop's  a'  jeda'  trei-hundat  Tukotn  und  lests  eink  aus!''  Sei  ho'm  sf  recht 
petaankt  und  ho'm  iari  Schuld'n  zolt  und  sein  fuat  olli  trei. 

Pa'  ta'  Pruck  is'  wida'  ta-r-oldi  Peitla'-»)  g'seissn.  Ta'  jingsti  hout  'n  wida'  an 
Tukot'n    geim.      „P  tannk    ta'    schein,    jufiga  Prinz",    sok   ta-r-Oldi,    „owa"   weign 


li  Schloß  —  2  hängen  zwei  Löwen  —  3,  Streifen  —  4  Beine  —  ö  Habt  acht  — 
6  breit  —  7)  aufeinander  losstürzen  —  8  merk  —  9'  Seide  —  10  Lumpen  —  11  denke 
—  12'  Schaden  —  13  ringsherum  —  14  Geländer  —  15  erreichen  —  IG  Strich  — 
17  inneren  Sack  —  18  hinein  —  19  gebrannt  —  20  drin  —  21  Vogelkäfig  —  22  zu 
ihr  —  23;  die  Gäste  bedient  —  24  Wirt  —  25  Kellner  —  2G;  Essen  —  27  erkannt  — 
28    euer  —  29-  Bettler. 


28  Graf: 

wosi)  houst  ma'  nit  g'fulk^)?  V  hään  tas  g'sok,  tu  sulst  kuan  Golgnfleisch  kafm." 
Hout's  owa'  kuana'  vastäandn,  wos  ta  Oldi  g'muant^)  hout  und  sein  weidagrid'n,  ta 
jingari  voarään,  ti  zwein  öültan  hintn  nouchi. 

Pan  a'  Wal^)  sok  ta'  Oültasti:  „Tu,  mia  meissn  ins  jo  schaama',  wann  insa 
jingsta'  Pruida  's  Leimswossa'  iiuampringt  und  ois  tarzöült!"  —  „Jo,  wuar^)  is'  's," 
sok  ta  zweiti,  „i'  teink  a'  grod  nou  iwa'  teis."  —  „Woast  wos",  sok'  ta'-r-ötiltari, 
„tou  kimp  hiaz  a  tulfa  Gro'm®);  tou  weaf  ma'  'n  oi,  tas  a'  si'  tarstest'')".  Und 
wia-s'  zan  Gro'm  g'keirama'  sein,  ho'm  s'-'n-'s  Leimswossa'  weikg'näamma'  und 
ho'm-an  in  teiii  tulf'm  Gro'm  oig'stessn.  Int'n^)  is'  a'  gräss'  G'raous^)  g'wein; 
tuat  wiad  a  tarsaufini"),  ho'm  sa  si'  teinkt,  wal  s'  'n  fria  t'  Heint  und  t'  Piass 
zampuntn")  ho'm,  tas  a'  si  nit  ria'n^^)  kinna'  hout. 

Ea  is'  owa'  pan  an  Tan^^)  heinga'  pli'm  und  mit  an  waxn  Stuafi^*)  hout  a 
si'  in  Strick  zarschnid'n,  sou  tas  a'  si'  tarhold'ni^)  hout  kinna'  und  is  nit  iag'foln 
in  's  G"mous.  Jo,  wos  hülft  teis  owa'?  Ausa'  hout  a'  nit  kinna'  und  sou  hat  a' 
tarhuman")  meissn.  Hiaz  hout  a'-'s  g'wisst,  wos  ta-r  Oldi  g'muant  hout,  wia-r-a 
g'sok  hout,  tas  a'  kuan  Golgnfleisch  nit  kafm  sull.  Wia'-r-a-sou  g'simuliat") 
hout,  is'  'n  ta'  Fux  eing'folln.  „Pux!"  hout  a'  treim'l  g'schrian,  und  tou  is'  ta' 
Pux  scha' voa-r-iama'  g'stäant'n.  „Kaanst  ma'  hölf'm  Fuchs?"  —  „Jo,  Prinz,  owa' 
a"  Stund  muiss  ti'  geddld'n.  Nit  weit  va'  tou  is'  a'  Pauanhaus,  va  tuat  pring'  i'  a 
Sälis)  und  mit  tein  zui  i'  ti  aussa'!"  Und  richti'  ta  Fuchs  hout  's  z'weign  prout' 
und  hout  in  Prinzn  aussazaht^^).  Owa'  auf  und  auf  vull  Wundn  und  gäanz  zar- 
schlogn  is'  a'  g'wein,  tas  a'  nit  gein  und  nit  steint»)  hout  kinna.  Ea  hout  owa' 
na'  teis  Flaschal  g'ho't,  teis  iam  tar  Oldi  g'eim  hout,  und  hout  si'  mit  tea  Oaznei^^) 
eing'schmiat,  und  tou  sein  glei'  olli  Wundn  g'hält  g'wein.  Und  ta'  Fux  hout 
g'sok:  „Geh'  hiaz  huam  und  tui  tein  Vodan  tarlesn!  Teini  Priada  owa'  und  tein 
Muita'  suln  ia  Strouf  kriagii.  Tein  Muita'  is'  a'  Hex,  si  hout  a  tein  Vodan  va- 
zauwat,  teistweign  hülft's  Leimswossa'  a'  nit  vül,  tawals  leip^^).  Tou  giw'  i'  ta' 
a'  Schneiztiachl23),  mit  tein  wisch'  ta  iwa  's  G'sicht,  oft  wiast  gäanz  aandast  aus- 
schaun.  Geh"  in  's  G'schlouss  und  louss  ti'  za  ti  Soltofn  aufneimma'!  Pa'  ta' 
Noot  wiad  tein  Muita  'amul  keimma'  und  wiad  ta'  in  Zam  iwa'-'n  Roupf  weafm  wöüln. 
Wann  's  ia  tarlink^*),  pist  a'  Rouss.  Teistweign  pass  auf  und  schlouf  nit!  Wannst 
ta  in  Zam  iwa'  weafm  wül,  muisst  "n  mit  ta'  Häand  tafäanga'^^)  und  muisst  ian'^®) 
zruck  af  'n  Koupf  weafm,  oft-')  wiad  si  sölma  a  Rouss.  Seitz  ti  trauf  und  reit 
gaanzi  Noot  af  t"  Földa'  umanäanda!  In  ta"  Fria  reit  "in  ti'  Puak  und  frou'  in 
ivhinna,  avou  sein  Frau  is.  Und  sei  wen"  s'  suia-^)  und  wen  uani^^)  fintn,  tei  is' 
s"  owa  nit.  Vapreiiin^")  in  Zam,  oft  wiad  s'  täta^i)  im  Peitt  lign,  oda  wou's'^^ 
grod  is!" 

Ta'  Prinz  hout  asou'^^)  täan.  Ea  is'  Soltot  g'woat'n,  und  niamp  hout  'n  g'keint 
ois  wia  sein  Muita".  Tei  hout  s"  g'späant^*),  tas  as  varout'n  wiad,  teistweign  hout 
s"  'n  wöüln  umpringa,  z"  tat  reid'n  hout  s'  'n  wöül'n.  Ea  hout  owa'  aufpasst. 
Ea  hout  si"  gstöült^^),  ois  wann  a'  schlouf m  tat,  und  hout  ia  in  Zam  af  'n  Koupf 
e'woafm.     Gaanzi  Noot  is'  a'  umgridn  af  V  Földa'.     In  ta  Fria  is'  a'    in    ti  Puak 


1  weswegen  —  2  gefolgt  —  3  gemeint  —  4)  Weile  —  ö  walir  —  (3  ein  tiefer 
Graben  —  7'  zerschmettert  —  8  Unten  —  9}  Moor  —  10)  ersaufen  —  11  zusammen- 
gebunden —  12}  rühren  —  13i  Dornbusch  —  14'  scharfen  Stein  —  15^  erhalten  — 
16)  verhungern  —  17)  simuliert,  nachgedacht  —  18)  Seil  —  19)  herausgezogen  — 
20  gehn  und  stehn  —  21)  Arznei  —  22  solange  sie  lebt  —  23)  Da  geb'  ich  dir  ein 
Taschentuch  —  24  gelingt  —  25)  auffangen  —  26)  ihr  ihn  —  27)  dann  —  28'  suchen  — 
29  eine  —  .30;  verbrenne  —  31)  tot  —  32)  wo  sie  —  83)  so  —  34)  gewittert,  geahnt  — 
35    sich  gestellt. 


Hianzische  Mäixhen.  29 

g"keirama'  und  hout  ti  gaanzi  G'schicht  in  Khinni  tarzöült.  Tos  hout  a"  owa'  nit 
g"sok',  wea  teis  Wei'  is'  g'wein.  ^Na',  tos  is  a  scbeini  G'schicht,  tas  sou  wos  in 
meina'  Puak  viakimp^)!"  hout  ta'  Khinni  gsok"  und  hout  sein  Frau  und  seini 
Sin  riafm  loussn.  Und  si  sein  g'keimma",  und  niamp  hout  "s  g'wisst,  tas  teis  nit 
ti  richtigi  Khinnigin  is.  Und  ta'  Prinz  hout  in  Zam  van  Rouss  oag'riss'n  und 
tou  is'  's  Rouss  vaschwundn  und  a'  Frau  is  tuat  g'stäandn,  tei  is'  grod  sou  g'wein, 
wia  ti  Khinnigin,  grod  tas  a'  Pauang'waand  hout  aang'ho't^).  Und  ta'  Khinni  hout 
g'sok':  „Schmeists  tei  Hex  ins  G'fängnis!"  Am  aandan  To"  hout  ta"  Prinz  in 
Zam  vapreint,  und  tou  is'  im  Gfängnis  nix  g'wei'n  mea,  ois  a"  weing  an  Oschn^;. 
In  Prinz'n  hout  niamp  tarkeiiit.  Va"  tea  Stund  aan  is'  ta  Khinni  pumpal-g'sund^) 
g"vvein  und  ti  Pei'rin')  is"  Khinnigin  vaplim,  und  niamp  hout  s  g"wisst,  tas  tos 
nit  ti  richtigi  is.     Ta'  Prinz  owa'  is  weit  fuat. 

Fümpf  Jua  sein  vagaanga.  Tou  kimp  amul  a"  Priaf  va'  ta'  vawunsclman 
Puak:  „Ta'  Prinz,  tea  's  Leimswossa'  prou't  hout,  sul  intar  a'^)  Mäanat  köimma, 
sist')  wiad  i"  ma'-"n  hul'n,  und  oft  wiad  "s  gaanzi  Kheinigreich  zasteat^)!"  Hiaz 
sein  s'  olli  takeimma"^),  ta  oldi  Khinni  und  seini  Sin  naaii  vül  mea.  Owa  "s  houl 
nix  g'hulfm.  Ta"  öültari  hout  si  aufg'mocht  und  is'  fuat.  Ea  hout  si'  in  Wei' 
guit  g'miakt^")  und  in  trei  Woucha'  is'  a'  pa'  ta'  Puak  g'wei'n.  Ti  Prinzessin  hout 
inta  ta  Zeit  an  Sun  g'kriak'.  Van  jingst"n  Prinzn  is'  a"  holt  gwei'n,  und  via"  Jua^^} 
is'  a'  olt  g'wei'n.  Ti  Prinzessin  hout  pan  Feinsta"  aussag'schaut  und  hout  in 
Prinz'n  taheareidn  g'sea.  »Tos  is"  nit  tein  Voda",  hout  s'  za-r  ian  Sun  g'sok', 
„tein  Gauna'  wen  ma'  huamleichtn^^)!"  Und  si  hout  's  ian  Vodan  g'sok',  tas  tos 
nit  ta'  jingsti  Khinnigssuii  is'. 

Tea  hout  in  Prinz"n  pegriasst  und  hout  'n  g'frouk',  oup  ea  "s  Leimswossa' 
ghult  hout.  „Jo"  sok"  ta  Prinz,  „i'  pi'-'s")".  —  „Und  wia  is'  ta'  tenn  teis 
g'lunga',  pis  hiaz  hout  niamp  an  Troupf'm  ho'm  kinna!"  sok"  ta'  Khinni,  Ta' 
Prinz  hout  af  teis  owa"  kuan  Aantwuat  gei  m  kinna',  ea  hout  hin  und  hea  g'stoutat^^) 
und  nix  viara  prou't^^).  „Anhan",  sok'  ta'  Khinni,  „tou  hom  ma'  's  mit  an 
Schwindla'  z'  tuan.  Geip-s'n  25  af  'n  Oasch,  und  oft  käan-a'  gein!"  Zwein  va' 
ta'  Tianaschoft  ho'm  an  pokt^"),  und  a  tritta  hout  "n  ti  fümpfa-zwuanzk  af  "n 
Hintan  geim.  Gsea  hout  a"  owa  "niamp,  es  sein  lauta'  Geista"  g'wein.  „Hiaz  geh"," 
hout  ta'  Khinni  gsok',  „und  wann  ta  jingsti  nit  kimp,  weats  olli  umprou't^")."'  Ea 
is  mit  seini  25  huam. 

"Wida'  is'  a"  Priaf  van  vawunschnan  Gschlous  g'keimma":  ,,Tea  's  Leims- 
wossa' prout  hout,  sul  keimma',  sist  wen  olli  umprout!"  Hiaz  is"  ta' mittlari  fuat. 
Js'  'n  owa'  grod  sou  g'gaanga'.  Ea  hout  si'  a'  nit  ausweisn  kinna"  und  hout  mit 
ti  fümfazwunazk  o'fo'n  meissn. 

Wal  owa'  ta"  richtigi  Prinz  nit  g'keimma'  is,  is  ta  Khinni  und  ti  Prinzessin 
mit  an  grass'n  Hea'^^)  in  Khinni  van  Ausland  sein  Laand  und  ho'm  ti  Puak 
eing'naamma'.  Und  t"  Hean^*)  sein  olli  im  Silal  panaanda"  g'wein,  und  ta  Fouchl 
Fenix  hout  in  gaanz"n  Leimslauf  van  jingst'n  Prinz'n  g'sunga',  wia-'r-a  's  Leims- 
wossa" gscheipft  hout  und  wia  "n  seini  Priada'  in  tulf'm  Grom  g"stess"n  ho"m.  Ti 
7Avein  Prinzn  hom  wöül'n  in  ta  K'huam^o)  van  Saal  aussi  und  ho'm  wöül'n  fuat, 
t'  Soltotn  hom  s'  owa'  pokt,  und  ti  Prinzessin  van  vawunsch'nan  G'schlouss  hout 
g'sok':  „Schmeisst  s'  as  in  töülftst'n  Keaka"'-i),    tuat  suKn  s'  plei'm,    pis  ta  jingsti 


1  vorkommt  —  L'  angehabt  —  3)  ein  wenig  Asche  —  4  ganz  gesund  —  5^  Bäurin 
—  6;  binnen  einem  —  7;  sonst  —  8)  zerstört  —  9"^  erschrocken  —  10)  gemerkt  — 
11)  vier  Jahre  —  12)  heimleuchten  —  13)  ich  bins  —  14'  gestottert  —  15)  vorgebracht  — 
IG  gepackt  —  17""  umgebracht  —  18)  Heer  —  19)  Herren  —  20  insgeheim  —  21)  tiefsten 
Kerker. 


30  Graf:    Hianzischc  Märchen. 

Prinz  nit  zaii  Voaschein  kimp!"  Und  sou  is'  g'schea.  Ta  jingsti  Prinz  is'  owa" 
nit  zan  flnt'n  g'wein  und  ti  Prinzessin  is"  vöülli  g'stoam^)  va  lauta'  Rreinka"-). 

Si  hout  a  schein  s  Rouss  g'ho't,  mit  teim  is"  s"  olli  To  ausg'ridn.  Teis  Rouss 
is'  sou  g'schickt  g'wei'n,  tas  's  af  an  Tala  taanz'n  hout  kinna'.  Uani'l  hout  's 
owa'  pan  Ausreid'n  a  Hulfeis'n^)  valaan,  und  va'  tea  Zeit  aan  hout  's  nit  mea' 
taanz'n  kinna'.  Hiaz  is'  ti  Prinzessin  gua'  eacht  vazweif'lt  g'wei'n,  wal  teis  Rouss 
niamp  hout  p'schlog'n  kinna'.  Ta  B^enix  hout  g'sunga':  „'S  Rouss  kaaii  niamp 
p'schlogn,  ois  tea  's  Eis'n  g'fundn  hout!"  'S  sein  tausnte  Schmied  g"keimma", 
owa'  kuana"  hout  's  p'schlog'n  kinna".  Tou  af  uam"l  is  a'  Schmiedg'söül*)  zan 
Houfschraied  g'keimma'  und  hout  g'sok,  ea  wiad  's  Rouss  p"schlog'n.  Ta'  Houf- 
schmied  hout  'n  va  ta  Seitn  aaiig'schaut  und  hout  in  Koupf  peitlt^).  Ta'  Schmid- 
g'söül  hout  in  Rouss  ti  Augn  va'pundn,  und  oft  is'  a"  va'  ta'  Seit'n  zui  und  hout 
in  Rouss  mit  an  waxn  Meissa'*)  t'  Hax"n'),  o'g"schnidn.  Ta  Houfschmid  is'  vöüli 
in  t'  Äanmacht  g'folln,  wia-r-a  teis  gsea  hout.  Tawal  hout  ta'  G'söül  t'  Haxn  in 
an  Schraubstouk  eing'schraup"  und  hout's  Eisn  traufg'schlogn.  Oft  hout  a"  t'  Haxn 
wida'  z"sammpasst  und  t"  Wundn  mit  a'  Schmia"^)  vaschmiat,  und  glei'  is'  s'  wida" 
aaiig'woxn,  van  Schnitt  hout  ma'  nix  gsea.  Und  ti  Prinzessin  hout  g'sok':  „Pring's 
raa  tein  Mään!" 

Ta"  Gsöül  is'  owa"  niamp  g"wei"n  ois  wia  ta'  jingsti  Prinz.  Ea  hout  seiii 
Prinz'ng'wäand  äang'leig'  und  is'  za'  ta'  Prinzessin  gäanga".  Tei  hout'n  glei'  takeint 
und  hout  an  laut'n  Schroa»)  g"mocht.  Und  ea  is'  nidagniat  voa  sei  und  hout 
g'sok':  „Vazeih'  ma'  s',  wos  i"ta'  täafi  hään!"  Si'  hout  nix  g'sok'  und  is'  'n  um 
an  Hois^")  g'foln  und  hout  g'wuaiit  va  lauta'  Freid"n,  tas  hiaz  tou  amul  z'samm- 
g'keimma'  sein.  Und  ta'  oldi  Khinni  hout  si'  a'  g'freit,  tas  a'  sein  Sun  wida  hout. 
Ti  zweifi  öültan  Prinz'n  sein  af    n  Golgn  g'keimma. 

Ta-r  oldi  Khinni  van  ta  vawunschnan  Puak  hout  si  owa  nit  sou  schnöül") 
z'fried'n  gei'm.  „Tu  houst  mein  Tächta'  söülmst^-)  petrougn,  und  teistweig'n  käanst 
mein  Tächta  und  's  Rhinnireich  na  oft  kriagn,  wannst  mein  Läand  tarlest.  Zwoa 
Stickl  houst  z'mocha'.  Nit  weit  va'  ta  Puak  is'  a'  n-Ocka,  tuat  hout  tar  Schaua^^) 
in  gaanzn  Woaz  ausdrouschn.  Grod  tausnd  Meiz'n  meiss'n  we'n,  nit  um  an  Ke'n") 
mea"  oda  weinga'.     Tea  muiss  in  zwein  To'  af  mein'  Pou'n^'}  sein!" 

Ta  Prinz  is'  af  'n  Ocka  aussi,  owa'  tou  hout's  trauri'  aiisg"schaut.  Kuan  Ken 
is  mea  in  ti  Ea'")  g'wei'n,  ta  gäanzi  Woaz  is  af  ta  Ead  g"wei'n.  Jo,  wos  is"  tou 
z'mocha'!  Pfiat  ti'  Gout  scheini  Prinzessin,  tei  Oawit  pring'  i'  nit  z'weign^'),  deinkt 
si'  ta'  Prinz.  Tou  heat  a-r-"af  araul  a'  Stimm:  ,,Nit  kreink'  ti!  Mein  Vulk  wiad  tei 
Oawit  varichtn,  walsf  ins  söülmst  iwan  Wei  zuign  houst  loussn  und  kuafi  uanzigi 
tartreitn")  houst.  Ea  hout  si  umdrat^®),  und  tou  hout  a'  in  Aamissnkhinna  stein 
gsea,  und  sou  weit  ois  a'  schäam  hout  kinna'  is'  's  ois  schwoaz  g'wein  va  Aamissn. 
Tei  ho'm  ti  Ke'n  taheazaht'-°)  und  sein  direkt  zan  Gschlouss  mit  sei.  Und  'kehr 
um  a  Häand'  sein  ti  tausnd  Meiz'nschaffl^^)  vul  g'wei'n.  Grod  van  leitztn  Meiz'n 
hout  a'  Massl  g'falt^^),  teis  ho'm  t'  Aamissn  nit  z'sammprout.  Ta'  Prinz  und  ta' 
Aamissnkhinni  ho'm  si'  in  Sche'l")  z'proucha',  wou  teis  Kheindl-'')  sein  kaän,  af 
'n  Ocka'  is  mea  kuan  Keit^^)  g'wei'n.  Tou  is  ta'  Fux  taheag'  laf'n  und  hout 
g'sok:  „Teis  Massl  ho'm  t'  Feichl  g'freiss'n;  i'  wiad  sei  im  Wold  aufpassn  und 
wiad  s'  o'  fäanga'  und  wiad  sei  in  Woaz  van  Kroupf^*^}  aussaneimraa." 


1)  fast  gestorben  —  2    Trauer  —  3)  Hufeisen  —  4    Schniiedegesell  —  5    geschüttelt 

—  6)  scharfen  Messer  —  7)  den  Fuss  —  8)  Salbe  —  9'   Schrei  —  10;  Hals  —  11)  schnell 

—  12)  damals  —  13)  Hagel    —    14)  Korn  —  15)  Boden   —    16)  Ähren  —  17)  zuwege  — 
18)  keine  einzige  zertreten  —  VS)  umgedreht  —  20)  herbeigebracht  —  21)  Metzengefässe 

—  22)  gefehlt  —  23)  Schädel  —  24:  Getreide  —  25)  Körnchen  —  26)  Kropf. 


Andrae:    Hausinschrifteii  aus  Nord-  und  Mitteldeutschland.  31 

Und  in  aandan  To'  voamitto"  is  ta  gaanzi  Woaz  panäanda'  g'wei'n,  und  ta 
Khinni  is'  mit  an  Lineal  iwa'  jed'n  Meitz'n  g  fo'n,  und  kuan  Keit  hout  gfalt  va'  ti 
taus'nd  Meitzn.  «Teis  is'  ta  g'lung'a'",  sok  ta  Khinni.  „hiaz  houst'  naan  a'  StickI 
z"  mocha"!  Heint  Noot  rnuisst  af  meioi  Rouss  aufpassen.  Hundattreiazwuanzk 
sein  im  Stol,  kuan'nuaüzign  teaf  wos  passian^)"-.  Ta  Prinz  is  in  Stol  gäanga'  und 
hout  si'  af  ti  Howankistn'-)  nidag'seitzt.  ^Yia  s"  Mittanoeht  g'schlogn  hout,  hout 
si'  wos  g'richlt^)  hinta'  ta'  Rist'n.  Ea  hout  na"  an  Aug'nplick  seini  Aug'n  va  ti 
Rouss  o'g'weind't,  und  in  tein  Aug'nplick  is"  an  jedn  Rouss  ta  Koupf  o"g'schnidn 
■g'wei'n.  Schnöl  hout  a  sein  Flaschal  aussag"naamma"  hout  in  Rouss'n  nou  ta' 
Reih"  ti  Keipf  aufgseitzt  und  in  Schnitt  mit  tein  Öl  Aangschmiat,  und  glei'  sein 
ti  Keipf  wida'  aang'woxn.  Wia-r-a'  zan  leitztn  Rouss  kirap,  hout  a'  grod  nään 
an  Troupfm  g'hot.  Tea  hout  grod  nään  gleiiing'*).  Und  wia-r-a'  in  leitztn 
Troupf'm  vakleiht^)  hout  g'ho't  und  olli  Rouss  wida'  leweinti  sein  g'wei'n,  tou  is' 
grod  t  Sum'®)  aufgäanga',  und  ti  Puak  und  tas  gäanzi  Läand  is"  tarlest  g'wein.  Und 
t'  Leit,  tei  fria  vastuanat")  sein  g'wein,  sein  umaranaand  gäanga',  und  ta  oldi 
Khinni  hout  g'sok:  „Walst  ins  olli  tarlest  houst,  kriast  ti  Prinzessin  und  tas 
gäanzi  Kheinigreich." 

Und  's  is'  a  grassi  Häzat*)  o'g'holt'n  gwoat'n,  und  sein  Voda  is  a  g'keimma', 
und  tea  hout'n  a  sein  Kheinigreich  iwagei'm.  Und  sou  hout  a'-r-iwa  zwoa  Kheinig- 
reich regiat,  und  's  Vulk  hout"  "n  recht  gen*)  g'ho"t,  wal  a-r-a  prava  Khinni 
g'wein  is. 

Ödenburg:. 


Hausiusclirifteu  aus  Nord-  und  Mitteldeutschland. 

Von  August  Andrae. 

(Mit  2  Abbildungen.) 


Brätide,  wie  sie  im  glutheisseu  Sommer  1911  die  Städte  Duderstadt, 
Buxtehude  und  andere  Ortschaften  heimgesucht  haben,  wobei  wer  weiss 
wieviele  Hausinschriften  und  Schnitzereien,  so  in  Duderstadt  beim  Brande 
des  aus  dem  Anfange  des  17.  Jahrhunderts  stammenden,  wegen  seiner  bau- 
lichen Eigentümlichkeiten  bekannten  Gasthauses  'Zur  Sonne',  zugrunde 
gegangen  sein  mögen,  sind  uns  eine  dringende  Mahnung,  unsere  noch 
übrigen,  aber  immer  mehr  und  mehr  verscliwindenden  alten  Hausinschriften 
Tor  und  bei  dergleichen  Nöten  und  dem  unaufhaltsam  gewaltsam  vor- 
dringenden, niederreissenden  Zeitgeiste  wenigstens  durch  Schrift  und 
Druck  möglichst  schnell  sicherzustellen.  Aus  diesem  Grunde  schon  mag 
der  Abdruck  der  nachfolgenden  Inschriften,  die  fast  alle  von  Herbst  1910 
an  in  den  verschiedensten  Gegenden  gelesen  und  gesammelt  wurden,  ge- 
rechtfertisrt  erscheinen. 


1)  passieren  —  2    Haferkiste   —    3)  gerührt  —  4;  ausgereicht  —  5    verstrichen  — 
6    Sonne  —  7^  versteinert  —  8}  Hochzeit  —  9)  gern. 


32  Andrae : 

Göttingen. 

1.  WrK  BAMX^EN  ALLE  FESTE  VNDT  SEIN  DOCH 
FREMDE  GESTE: VNDT  DAß  WIE  EWIG 
SOLLEN  SEIN  .  DAß  BAVWEN  WIR  WEN. 

NIG   EIN :  i>  HANS  OVDEN  ANNO  1618  < 

Von  zwei  Krokodilen  (flügellosen  Drachen)  eingefasste,  über  den  Fenstern 
befindliche  Inschrift;  das  Haus  stammt  also  aus  dem  ersten  Jahre  des  Dreissig- 
jährigen  Krieges.     Dieser  Krokodilinschrift  gegenüber 

2.  Auf  dem  Hofe  des  Gasthaus  „Goldener  Hirsch": 

HANNS   [s.  Abb.  1,  2J  PoESSEN 
Zu  beachten  ist  die  eigentümlich  mit  Eicheln  verzierte  Fünf. 

3.  Jin  bem  xav  als  man  nad)  d^rift  rnfers  iievn  geburt  ^  111  ^  c£i£<I(£C  ^  jrr  v  ^ 
5elet  l|ot  I^ajis  rofenl^agen  bis  I^aus  loffen  baul^en 

[Eine  ßeihe;  es  folgen  die  Verzierungen  Abb.  1,  o.] 

Die  Schnitzereien  am  Ende  werden  als  Violinbogen  und  Schlüssel  im  Pamilien- 
wappen,  andrerseits  als  Zimmermannswerkzeuge,  Säge,  Winkelmass  gedeutet. 

4.  Börnersches  Haus: 

[2  Wappen,  s.  Abb.  1,  5,  links  und  rechts  über  der  Inschrift.] 

(Sobes  IPort  bitft  <2w\di  (5  §  36 

(Sobc  To  lore  Vn  Dtffe  [tat  Abel  Borneman  Dtt  Hus  (Sbe  Bumet  H 

a  t 

Möglicherweise  sollen  die  Figuren  im  linken  Pamilienwappen  Blätter  (Efeu) 
vorstellen. 

5.  Schrödersches  Haus: 

To ^  .  .  .  Weh  .  .  . 

tot  myn  gobcs  bes  l|ercn  .... 
vn  bie  Atem      pube  cnbc 
ftcit  tu  gobcs     Henben 
Gobe  to  looe  vn  bib  AH  feen 
Heft  '^vvqen  Ijoeoet  brt  livs  gebrot 

Mehr  ist  von  der  Inschrift  leider  nicht  zu  entziffern.  Das  mit  der  Jahres- 
zahl 1549  versehene  Haus  weist  ausserdem  eine  ganze  Reihe  herrlicher,  farben- 
leuchtender Holzschnitzereien  auf,  u.  a.  auch  Weberschiffchen  und  Wollkämme, 
woraus  geschlossen  wurde,  dass  das  Haus  ursprünglich  der  Tuchmacherzunft  oder 
einem  Tuchmachermeister  gehört  habe.  Nach  einem  auf  dem  Boden  gefundenen 
Schild  mit  Ring  muss  das  Haus  später  auch  einmal  Gasthaus  (Zum  goldenen 
Ring)  gewesen  sein;  der  Name  „Ring"  ist  ihm  bis  heute  verblieben.  Sogar  im 
Innern  trifft  man  prächtige  Schnitzereien  an,  so  in  einem  nach  der  Strasse  zu  ge- 
legenen Zimmer  im  ersten  Stock  sechs  Medaillonbilder.  Grosse  Ähnlichkeit  mit 
diesem  Gebäude  hat,  auch  aus  derselben  Zeit,  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  stammend, 
das  „Junkernhaus",  ein  Ratshaus,  in  dem  die  Ratsherren  der  Stadt  zusammen- 
kamen, um  bei  einem  Glase  Wein  über  das  Wohl  und  Wehe  der  Stadt  zu  be- 
raten. Wiederum  mit  viel  Schnitzereien,  so  Wappen  einiger,  jedenfalls  hervor- 
ragender Ratsherren  (Gildemeister),  mit  Schwanenflügel  und  Fuchs  mit  Traube  im 


Hausinschriften  aus  Nord-  und  Mitteldeutschland. 


33 


Maul  (Swanflügel  und  Voss).  Dann  fällt  die  interessante  Darstellung  „Simson 
und  Delila"  auf,  sowie  Johannes  der  Täufer  und  der  die  Weltkugel  haltende 
Heiland,  die  beide  auf  diese  Inschrift  an  der  Eckkonsole  hinweisen: 


6. 


(cyt .  bat  3ft  •  ^<^i  ■  I*^^"  ö'^fls  .  bas  .  ör  .  Welt .  fünö 
Dredjt  3otjancs  .an  .  \. 


Die  Inschrift  aus  Ev.  Joh.  1,  29  kehrt  unten  in  nr.  18  wieder. 

Als  wahrer  Schmuckkasten  zeigt  sich  noch  ein  Haus  aus  dem  Jahre  1545 
mit  grossen  bunten  Köpfen,  Ritter  mit  Visier  und  Schwert,  Wappen  mit  Haus- 
marke [s.  Abb.  1,  6]  und  Kleeblättern.  Noch  ein  anderes,  ebenfalls  mit  zum  Teil 
phantastischen  Schnitzereien  geziert,  trägt  die  Jahreszahl  1568.  Als  ältestes  Haus 
in  Göttingen  gilt  das    aus  dem  Jahre  \.  X.9r    (1497   oder  95,  beachte  die  halbe 


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0 


Z84 


Abb.  1. 


8  =  4,  die  noch  in  Witzenhausen  am  Gasthof  „Zum  Deutschen  Haus"  li^SO  und 
in  Frankenhausen  (Thüringen)  an  einem  Hause  15o^  gefunden  wurde). 

Eine  wertvolle  Schnitzerei  wurde  noch  an  der  Hofseite  eines  mächtigen  Ge- 
bäudes der  Gronerstrasse  entdeckt,  die  sich  früher  an  der  Strassenseite  befunden 
haben  soll:  zwei  geflügelte  Drachen,  die  eine  Art  Frucht,  Birne  oder  Apfel,  im 
Rachen  zu  halten  scheinen  (es  kommt  der  Gedanke  an  die  Äpfel  der  Hesperiden, 
die  doch  von  einem  Drachen  gehütet  werden,  hier  im  Rachen  zwischen  den 
Zähnen)  und  deren  Schweife  nach  oben  zu  sich  in  breite  Rosetten  umbiegen; 
zwischen  den  beiden  Tiergestalten  halten  zwei  geflügelte  Engel  ein  Hausmarken- 
wappen [Abb.  1,  5a].  Angeblich  ist  das  Haus  ursprünglich  ein  Kloster  gewesen 
mit  —  wohl  nur  sagenhaftem  —  unterirdischem  Gange  nach  der  Kirche  in  Dorf 
Nikolausberg;  später  ein  Wirtshaus,  als  Einkehr  und  Ausspann  für  die  Fuhrleute 
„Zur  Peitsche"  genannt;  16.  Jahrhundert.  In  der  Seitengasse  ist  das  altertümliche 
Türschloss  beachtenswert. 

7.  Ganz  dasselbe  Drachenmotiv  mit  Spruch  findet  sich  noch  auf  einer  alten 
Spruchtafel,  die  sich  früher  auf  der  Diele  eines  Hauses  der  Jüdenstrasse  (17.  Jh.) 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1914.   Heft  1.  3 


34  Andrae : 

über  einer  jetzt  zugemauerten  Tür  befand,    zurzeit  aber  im    „Junkernhause"    auf- 
bewahrt wird.    Die  Frucht  erweist  sich  hier  deutlich  als  Apfel.   Nach  altem  Volks- 
glauben  gilt    der  Drache    als  unheilabwehrend    und  segenbringend,    so   sind  wohl 
die  Drachengebilde  an  Häusern  zu  erklären. 
Der  Spruch  lautet: 

DaS .  tvQxd .  lobet .  ben  .  meifter  [Verzierung] 

und  ist  dem  Buche  Sirach  (9,  24)  entnommen,  er  kommt  noch  sonst  vor.  An 
dem  Hause  fallen  ausserdem  zwei  Fratzen  (Masken)  auf  und  von  weitem  eine  Art 
Katzengesicht,  das  aber  beim  Näherkommen  in  eine  blosse  Verzierung  übergeht; 
möglicherweise  ist  ein  Vexierbild  beabsichtigt.  Am  alten  Hause  nebenan  erfreut 
die  wundervoll  geschnitzte  Schlagleiste  des  Tores:  Blätter-Blumen-Weintrauben- 
gewinde. 

8.  Dorf  Diemarden  bei  Göttingen  am  Eingange  des  Gartetales  (einreihig): 

AVELT  TOBE  WIE  DU  WILT  GOTT  IST  MEIN  SCHIRM  UNT  SCHILD/ 
DER  WIRD  MICH  WOL  BESCHUCZEN  /  FÜR  IHRES  ZORNES  BLITZEN  MEIN 
UNGLÜCK  KAN  ER  WENDEN  E  ABER  DER  HERR  SORGET  FÜR  MICH:  DARUM 
SEIN  FROLICH  DIE  AM  •  •   • 

18.  bis  1!J.  Jahrhundert;  hinter  'wenden'  ist  zu  ergänzen:  'es  steht  in  seinen  henden'. 

9.  Dorf  Klein-Lengden  (Kr.  Göttingen;   einreihig): 

WER  GOTT  VERTRAUET . HAT  WOL  GEBAUET .  IM  HIMMEL 
UND  AUF  ERDEN  .  ALLE  DIE  VORÜBER  GEHEN  .  UND  MICH 
KENEN .  DEN  GEBE  GOTT  DIE  EHRE  .  DAS  SIE  ES  MIR  GÖNNEN 

Erste  Hälfte  des  lü.  Jahrhunderts,  1814. 

10.  Zwischen  Kl.-Lengden  und  Dorf  Benniehausen  die  alte  Gastwirtschaft 
„Eichenkrug"  mit  der  Inschrift: 

WER  GOT  VERTRAVWET  DER  HAT  WOL  GEBAVWET  1574. 

Mit  hübsch  geschnitztem  Balkenwerk. 

11.  Dorf  Rittmarshausen,  Kr.  Göttingen: 

a)  DER  HERR  UNSER  GOT  SEY  MIT  UNS .  WIE  ER  GEWESEN  IST  MIT 
UNSERN  V.ETERN  .  ER  VERLAS  UNS  NICHT  .  UND  ZIEHE  DIE  HAND  NICHT 
AB  VON  UNS.IOHAN  CHRISTIAN  EGGERT  .  MARIA  ELIESABETH  EGGERT^ 
GEBOHRNE  DIETRICH.  ANNO  1747  .  MONAT  MAJUS. 

Eine  Reihe;  an  der  Hofseite  steht  sogar  noch  Vater-  und  Muttername  des  Er- 
bauers eingeschnitzt. 

b)  ALLES  WAS  MEIN  DUN  UND  ANFANG  IS7'  DAS  GESEH  IN  DEN  NAMEN 
HERR  lESUSKRI  DER  STEH  MIR  BEI  FRVCH  UND  SPA7'  BIS  DAS  DUN. 
EIN  ENDE  HAT.  JOHANN  HENRICH  SCHVTTE.ANNA  MARIA  ANDREAS  .  DEN 
25  APRILIS  .  ANNO  1749. 


Hausinschriften  aus  Nord-  und  Mitteldeutschland.  35 

Eine  Reihe.  Ich  belege  die  Inschrift  noch  in  meinen  „Hausinschriften  aus 
dem  Kreise  Einbeck"  aus  Dorf  Rengershausen,  erste  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts 
(Einbecker  Zeitung,  14.  Oktober  1898). 

12.  Aus  dem  benachbarten  Dorfe  Kerstlingerode  (einreihig): 

DIES  HAUS  IST  .  3IEIN  .  UND  .  IST  .  DOCH  NICHT  MEIN  NACH  MIER  KOMT 
WOL  .  EIN  .  ANDER  DAREIN  .  IST  .  AUCH  .  NICHT  SEIN  .  GOTT  .  WOHL  .  UNS .  AUS . 
GNADEN  .  DEN  .  HIEMMEL  .  VERLEIEN  . 

Weitverbreitete  Inschrift,  mit  den  Namen  des  Bauherrn  und  der  Baufrau, 
Datum  und  Jahreszahl  1782.  Im  nahen  Dorfe  Beienrode  (Kr.  Göttingen)  finden 
wir  die  ebenso  berühmte,  verbreitete  und  uns  schon  aus  Göttingen  (nr.  1)  bekannte 
Inschrift  wieder: 

WIR .  BAUEN .  ALLE .  FESTE .  UND .  SEIND .  DOCH .  FROMDE .  GÄSTE  .  . 

mit  Erbauernamen.  Die  Jahreszahl  beim  Umbau  gefallen,  18.  Jahrhundert.  Am 
Eckständer  fällt  noch  ein  interessantes  eingeschnitztes  Gesicht  auf,  eine  Art  Fratzen- 
gesicht (Maske),  mit  gesenkten  Augenlidern,  auf  zwei  Balkenflächen  verteilt,  wofür 
nach  Aussage  des  Hausbesitzers  'die  Zigeuner  viel  Geld  geboten  haben',  wahr- 
scheinlich ein  unheilabwendendes,  glückbringendes  Symbol.  In  diesem  Sinne  sind 
jedenfalls  auch  die  Pratzen  und  Köpfe,  ursprtinglich  die  von  Schutzheiligen,  an 
unseren  alten  Häusern  zu  erklären.  Das  benachbarte  'Bremkertal'  weist  ebenfalls 
einige  hübsche,  wertvolle  Inschriften  auf  an  einem  alten  Hause  in 

13.  Dorf  Bremke  (Kr.  Göttingen;  einreihig): 

DREI  DINGE  SINT  DIE  BEIDE  GOTT  UNT  DEN  MENSCHEN  WOL  GE- 
FALLEN WEN  BRUDER  EINS  SINT  UNT  NACHTBAHREN  SICH  LIEB  HABEN 
UNT  MAN  UNT  WEIB  SICH  MIT  EIN  ANDER  WOL  BEGEHN  SIRAH 

'Sirah'  ist  natürlich  das  Buch  Sirach,  dem  die  Inschrift  entnommen  ist  (25,  1  —  2). 
Trotz  stellenweiser  Undeutlichkeit  und  Verwitterung  konnte  die  Inschrift  so  richtig 
entziffert  werden.     An  der  Haustürseite: 

Die  bereits  früher  gelesene:  Wer  gott  vertraut  .  .  .  erden.  Es  schliessen 
sich  an  die  Erbauernamen: 

lOHANNIS  ASCHOF  UNT  IMARGRETA  CA  .  ERS  HABEN  DIS  HAUS  MIT  DER 
HÜLFE  GOTTES  LASSEN  ERBAUWEN:HL:UNT  M:HL  GEBRUDER 

Einreihig;  der  Buchstabe  hinter  CA  verwischt  (Capers)  und  die  Stelle  hinter 
Erbauwen  durch  Schild  verdeckt.     Über  der  Haustür  endlich: 

MENSCH  DU  DUHST  WAS  DU  DUHST  SO  BEDENKE 
DAS  ENDE  SO  AVIRST  DU  NIMMER  ÜBELS  DUHN  SRAH 


ANNO  :  ^6b«)  -|-  DEN  :  \8  MAGUS 
IST       DIS       HAUS       ERBAUWET 


'Srah'  ist  wieder  Buch  Sirach  (7,  40),  der  Langstrich  von  R  ist  gleichzeitig  1. 
Das  eingemeisselte  Kreuzchen  erinnert  daran  dass  die  Gegend  früher  katholisch  war. 

3* 


36 


Audrae: 


Ein  hübsches  Seitenstück  zu  der  Diemardener  Inschrift  lesen  wir  an  einer 
anderen  Stelle  des  Kreises  in 

14.  Dorf  Holzerode,  unterhalb  des  'Hünenstollens'  (einreihig): 

DU  :  0  :  SCHÖNES  :  WELT  :  GE  :  BOU  :  DE :  MAGST  G  :  F  :  L  :  WEN  :  DU  :  WILST : 
DENEN  :  SCHEIN  :  BAR  :  LICH  :  GEN  :  FREUN :  D :  IST : MIT :  LAUTTER  ANGST  :  UND : 
MÜ  :  DEN  :  DI :  DEN  :  HIMMEL :  HASSE  :  WIL :  ICH :  IHRE :  WOLLUST :  LASSEN  :  MICH : 
VERLANGET :  NACH :  DIR :  ALLEIN :  ALLER :  SCHÖNSTE :  lESULEIN 

Zweite  Hälfte  des  IT.  Jahrhunderts.  Es  ist  J.  Francks  Dichtung:  'Du,  o 
schönes  Weltgebäude,  magst  gefallen,  wem  du  wilt;  deine  scheinbarliche  Freude 
ist  mit  lauter  Angst  umhüllt.  Denen,  die  den  Himmel  hassen,  will  ich  ihre  Welt- 
lust lassen:  mich  verlangt  nach  dir  allein,  allerschönstes  Jesulein'  (Fischer-Tümpel, 
Kirchenlied  des  17.  Jahrh.  4,  90). 

15.  Aus  dem  nahen  Dorfe  Oberbillingshausen,  Kr.  Göttingen: 

GOTT  BEWAHRE  DIESES  HA 
^  US . ALLE .  DIDA  GEHEN  .  EIN  .   ® 
UND  .  AUS  .  JHR  .  SLL  .  1799 

Jhr  .  SU  =  Johann  Heinrich  Schnelle.  An  der  Scheune  gegenüber  einge- 
geschnitztes  Kreuz  mit  der  Jahreszahl  1800,  also  ein  Jahr  jünger  als  das  Haupt- 
gebäude. Noch  zweimal  wurde  die  Inschrift  im  Dorfe  gefunden:  1819  und  1821. 
An  einem  anderen  Hause: 

16.  BIS  .  HIE  HERR  .  HAT  .  MIR  .  MEIN  .  GOTT 
GEHOLFEN  .  CHRISTIAN  .  GARBODE  .  1784 

Öfter  im  Kreise  Einbeck  gefunden  (s.  Einbeck  er  Zeitung,  6.  Dezember  1898). 
An  einem  andern  Hause  stand  Salomos  Wort  aus  2.  Chronica  6,  20. 

17.  Dorf  Hetjershausen,  Kr.  Göttingen: 

SIHE  ZV  W^AS  DV  THVST  VND  BE 
DENKE  DAS  ENDE.     HANS  KVMACKER 
MARIA  ALRVTZ.     ANNO  .  1665. 
M     .     C     .     K  . 

Jetzt  im  Göttinger  Museum  aufbewahrt.     Nach  Sirach  7,  40. 

Hannover. 

18.  Osterstrasse  an  einem  Gasthaus  (einreihig): 

DAT  .  IS  DAT.  LAM  .  GADES  .  WELCKER  .  DEI  .WERLT  .  SVNDE  .  DRECHT.  | 
GODT  .  DE  .  HERE  .  SI .  VNS  .  GNE 

Vgl.  oben  nr.  6.  Am  Hofgebäude  steht:  ANNO  .  DOMINI.  1584  mit  je  einem 
Wappen  links  und  rechts.  Das  rechte  mit  Hausmarke  zeigt  Abb.  1,  18,  während 
das  linke  mit  demselben  Umriss  einen  Wollkamm  und  darunter  die  Buchstaben  GE 
aufweist  und  rechts  von  diesem  linken  Wappen  ein  Weberschiff  sichtbar  wird. 
Demnach  hätten  wir  wohl  wieder  ein  altes  Tuchmacherhaus  vor  uns. 


Hausinschriften  aus  Nord-  und  Mitteldeutschland.  37 

19.  An  einem  anderen  Hofgebäude  derselben  Strasse  (einreihig): 

WO  .  GODT  .  NICHT  .  SVLVEST  .  DAT  .  HVS  .  VPEICHTET  .  VNDE  .  SCHAF- 
FET .  ALLE  .  DINCK  ,  DARIN^E  .  SO  .  IS  MIT  .  VNS  .  NICHT. VTH  .  GERICHTET  . 
VORLAREN  .  IS  .  STARCK  .  VNDE  .  SINNE  .  ALLE  .  MOIE  .  VNDE  .  SORGE  .  VOR- 
GEVES  .  GEIT.WO  .  GADES  .  HVLPE  .  NICHT. BI  .VNS  .  STEIT.ALL  .  ARBEIT  .  IS  . 
VORLAREN 

Am  Hauptgebäude  auf  der  Strasse  steht:  ANNO .  DOMINI . .  1  .  GOO 

20.  Bilderinschrift  von  einem  Hofe  der  Köbelinger  Strasse  (jeder  Spruch 
eine  Reihe): 

a)  S  MENSCHEN  [Herz:  s.  Abb.  1,  20a]  IN  [Rose;  s.  Abb.  1,20a]  GEHT. 
WENS  MITTEN  VNTERM  +  .  STEHT  .  DAS  4-  IST  .  SCHWER  DAS  GLVCK  . 
IST  GVHT  .  TRVBSAL  .  DIE  [Rose]  BRINGEN  THVT. 

b)  DES  .  VATERS  .  SEGEN  .  BAVWET  .  DEN  KINDERN  .  HEVSER  .  ABER  . 
DER  .  MVTTER  FLVCH  REISSET  .  SIE  .  NIEDER  .  ANNO  .  163  .  5 

[Verschnörkelte  Ziffern]. 

c)  o  DER. HER  DVRCH  DER. ENGEL. SCHAR. MEINE  EIN.VND  AVSGANG  ♦ 
BEWAHR 

Die  Bilderinschrift  verwertet  den  bekannten  Spruch  Luthers.  An  der  vorderen 
Wand  des  Hofgebäudes  liest  man  noch: 

d)  EWIGE  .  FREVDE  ODER  PEIN  .  WIRD  VNSER  ALLER  LONVNG  SEN  und 

e)  WER  GOT  VERTRAVT  .  HAT  WOL  GEBAVT  .  IM  HIMEL  .  VNT  AVF 
ERDEN 

21.  Von  der  Bäckerstrasse  (einreihig): 

VIL  LEVTE  OHNE  VHRSACE  TVN  MICH  HASEN  ICH  TRAVWE  AVF  GOT 
DER  WIRT  MICH  NICHT  VERLASEN  ABGVNST  DER  LEVTE  KAN  NICHT 
SCHADEN  WAS  GOT  WIL  DAS  MVS   WOL  GERATEN 

Früher  ein  Haus,  17.  Jahrhundert;  jetzt  ist  die  linke  Hälfte  durch  einen 
Neubau  ersetzt  und  die  Inschrift  bis  'Verlasen'  verschwunden. 

22.  Strasse  'Tiefenthal'  (einreihig): 

3bt  fracjet  mennvd?  wo  jbt  mv  geyt  (Synge  yt  my  irol  jbt  wcv  cm  leibt  lat  folfcn 
rebcn  alfe  I^e  ybt  mcnet  So  ITyl  ycf  ladjen  wen  f^e  Wenet  3bt  fy  fyn  fdjymp  ebber  Spot 
Wat  bc  my  gunnet  i>at  gbcuc  ohne  gobt  B  K 

'ohne'  =  ihn;  heute  nur  noch  sichtbar  von  Wyl  an,  der  verputzte  und  verschalte 
Anfang  ist,  hier  und  da  berichtigt,  nach  Mithoff,  Kunstdenkmale  1,  90;  16.  Jahrh. 
Früher  soll  an  der  Stelle  ein  Kloster  gestanden  haben;  im  Keller  staunt  man  noch 
über  den  mächtigen  Grundpfeiler,  auf  dem  vermutlich  der  Klosterturm  geruht  hat. 

23.  Eckhaus  Tiefenthal-Burgstrasse  wurde  nun  auch  die  obere  Inschrift  ent- 
ziffert (vgl.  meine  'Hausinschriften'  Globus  1906  S.  186 ff.): 

Höbe  .  bydj .  ror  .  beti  .  fairen.    Pheit .  roiib  .  den  .  rnbc  .  a&^na  .  fragen 


38  Andrae: 

Also  das  alte  berühmte  Sprichwort:  Hüte  dich  vor  den  Katzen,  die  vorne 
lecken  nnd  hinten  kratzen,  das  u.  a.  beim  Anekdotenerzähler  Abraham  a  Santa 
Clara,  bei  Hans  Sachs  und  schon  in  Luthers  „Tischreden"  vorkommt.  Das  Sprich- 
wort wurde  nochmals  als  Hausinschrift  vorgefunden  in  Wiedenbrück  (Westfalen) 
an  einem  mächtigen  Hause  am  Markt  und  wiederum  als  oberste  Reihe  (ein- 
reihig) : 

24.    HOIT  DICH  VOR  DE  KATZEN  DE  VOR  DICKEN   VND  ACHTER   KRATZEN 

Am  Ende  der  zweiten  und  untersten  Reihe  steht  die  Jahreszahl  163Ö.  Von 
den  vielen  Inschriften  des  altertümlichen  Städtchens  wurden  noch  folgende  aufge- 
zeichnet: 

25.  HELPGODT         AVS  NODT 
APGVNSTT         IST  GRODT 

16  4u 

26.  Über  dem  Türeingange  eines  anderen  sehr  interessanten  Hauses  (ein- 
reihig): 

GADES  .  WORT  .  BLIFT  .  IN  EVIF  .  HEIT  .1.5.6   7 

Unter  den  zwei  kleinen  Penstern  links  die  Mahnung: 

27.  HALTET  .  FREDE  .  VPPE  .  DÖSER  .  STEDE. 

Dazu  drollige  Schnitzereien,  Narrenköpfe,  einer  mit  ausgestreckter  Zunge. 
Leider  ist  viel  verwischt,  verwittert  und  verputzt.  Die  erste  Inschrift  begegnete 
nochmals  lateinisch: 

28.  VERBVM  .  DEI  .  MANET  .  IN         ETERNVM  .  A  .  DO  .  1  5  8  3 

[darunter  zwei  Hausmarken,  s.  Abb.  28a  und  b.] 

29.  Braunschweig  (einreihig): 

ANNO  .  1 665  .  AVF  .  GOTT  .  BAVWE  .  ICH  .  VND  .  TRAVWE  .  IHME  .  FEST  . 
DAS  .  ER  .  DIH  .  SEINEN  .  NICHT  .  VERLEST. 

Harzgegend. 

30.  Goslar,  Abzuchtstrasse  (einreihig): 

(Sott  bcr  alle  btng  üermagF,  23etjüte  bi§  l^au)g  311  Hadjt  vni>  üagf.  (Et^i  woüe  ung 
and}  geicibcn.    Wan  wiv  ron  Ijtnett  fdjeiben. 

IG.  bis  17.  Jahrhundert. 

3L    Glockengiesserstrasse  (einreihig); 

a)  (Sott  ber  .Ejerr  bcroar  bilg.I^aus:  2lud}  aü  btc  bar  gel^n  <£in  inib  au3  I]eimttparnfcn. 
^  .  6  . 6  .  (i 

b)  Wev  (Sott  »ertraiyt .  l^at  ir>ol  gebatrt :  im  fjtinniel  Dub  aiiff  <£rbcn  :  IVev  ftdj  rcrlcft 
<^iiff  3cfum  (Jlt^rift :  bcrfclb  .  tpirb  feiig  tucrbcn  :  2tnno  :  \605  . 

Weiter  unten,  rechts  von  der  Haustür: 

c)  (Sott  bei-  fjerr  betuare  .  .  .  (^wie  ola). 


Hausinschriften  aus  Nord-  und  Mitteldeutschland.  39 

Dicht  neben  diesem  Hause  steht  Haus  'Bartoidt.  bethman",  das  Stammhaus 
der  Familie  des  Reichskanzlers,  über  dessen  Inschrift  und  andere  s.  meine  'Haus- 
inschriften aus  Goslar',  oben  15,  42S — 438. 

Die  altehrwürdige,  verlassene,  halb  verfallene,  jetzt  zum  Trocknen  von  Kräutern 
benutzte  Zementmühle  (Lohmühle)  im  'Klapperhagen'  am  Abzuchtgewüsser  trägt 
am  Balken  eingeschnitzt  die  Jahreszahl  1544. 

32.  Osterode,  Gasthof  zur  Ratswage: 

bat  fin  nidjt .  alle  .  teger  be  bc  bornc  blafen 

Bogenförmig  auf  einem  Spruchbande;  Hörn,  dasselbe  oben  noch  einmal  ver- 
kleinert, halbe  Rosette  und  Kopf  ganz  oben  im  Giebel,  unter  dem  die  alte  Wage 
an  Ketten  aufgehängt  gesehen  wird,  während  der  Haken,  woran  sie  einst  hing,  noch 
in  einem  Balken  sitzt;  es  soll  dort  früher  die  Wolle  gewogen  worden  sein.  Der 
hintere  Teil  der  Diele  ist  mit  Kieseln  mosaikartig  ausgelegt.  Der  Wirt  brachte 
das  Hörn  mit  dem  Hirten,  der  das  Vieh  austrieb,  zusammen.  Nach  einem  Artikel 
in  'Niedersachsen'  vom  15.  Juni  1912:  'Aus  Osterodes  Vorzeit"  stammt  das  Haus, 
ursprünglich  ein  Hochzeitshaus,  aus  dem  Jahre  1G53. 

33.  Herzberg  (Flecken,  Kreis  Osterode): 

a)  ANNO  WER  GODT  VER 

lt;66  TRA'VVET  HADT 

WOL  CtEBA^VET 
M  •  Y   •   E   •  H  • 

Mit  vielen  Verzierungen:  Rosette,  Früchte,  Vögel,  Kopf,  der  Zunge  aus- 
streckt, Kopf,  der  mit  breitem  Munde  die  Zähne  zeigt,  Hammer,  Winkeleisen. 

b)  Dersage  ntdjt  V  €vaw  (Sott  2lIIeinn  .  D  Sein  (Snabe  iinb  ürao  M  3ft  ciüe  ITiorgen 
•  neu  I  lüer  (Sott  rcrtratpuct  ♦  A  ^at  rooll  (Scbamet  ♦ 

[Die  fetten  Buchstaben    V  D  M  I  A    sind  je  mit  einem  Kreis  umgeben.] 

Einreihig.  Vor  und  hinter  der  Schrift  Verzierungen;  die  lateinischen  grossen 
Buchstaben  ergeben  natürlich  den  bekannten  Sinnspruch  Friedrichs  des  Weisen 
(Lobe,  Wahlsprüche  der  Kurfürsten  und  Herzöge  von  Sachsen  1878  S.  4):  Verbum 
Domini  Manet  In  Aeternum.     Weiter  unten  steht  noch  in  viel  kleinerer  Schrift: 

c)  Dev  ganzen  Welt  prad^t  mug  oergehn 
yücin  (Sottes  lUort  rotrt  erotg  [tclni. 

d)  OPC)  LA^>ET  /RTIFICE.M.    «Tut  siubcr 

e)  ORA  ET  L.\BORA    £a§  (SCDC  Sorgen 

15  94 

Tut  ist  Abkürzung  von  Timothcus.     An  der  andern  Seite  liest  man: 

f)  S  So  abcneurlid?  gcl^ts  rff  (Erben  ♦  D  Das  einer  oftt  suni  Haren  muß  tuerbn 
P  Pen  man  cinr  meint  er  bab  bas  (Slücf  N  So  wcni>t  bas  glürf  ftd?  balb  surücf  Q  ^IPann 
evnr  meint  es  fei  mit  it^m  au§  C  So  fompt  il|m  balb  bas  (Slürf  3U  bang  N 

[Die  fetten  Buchstaben  S  D  P  N  Q  C  N  sind  je  mit  einem  Kreis  umgeben.] 


40  Andrae: 

Eine  Reihe;  die  Auflösung  dieser  lateinischen  Majuskeln  ergibt  ebenso  sicher 
die  weitverbreitete  Inschrift  (in  Lemgo  u.  a.):  Si  Deus  Pro  Nobis  Quis  Contra 
Nos  (Römer  8,  31).  Auch  die  dritte  Seite  des  Hauses,  wo  jetzt  der  Eingang  ist, 
enthielt  eine  solche,  jetzt  bis  auf  wenige  Spuren  unleserlich  gewordene  Inschrift 
mit  lat.  Majuskeln.  Hier  läge  also  der  interessante  Fall  von  der  Einfügung  einer 
Inschrift  in  eine  Inschrift  vor.  Das  Ganze  war  arg  verfallen  und  ist  nun  so 
wieder  hergestellt,  allerdings  stellenweise  nach  Gutdünken. 

34.  Duderstadt  (Eichsfeld;  einreihig): 

IN  GOTTES  MANNT  STEH  ICH  GEGRÜNDET  ♦  OB  ES  GLEICH  VIEL 
miDER  FINDET  ♦  JEDER  GÖNNE  MIR  DAS  MEINE  WIE  ICH  GÖNNE  .IHM 
DAS  SEINE 

35.  Überm  Eingangstor: 

GOTTES  .  SEEGEN  r:  NEIDER  SIEHE  .  7  . 
MACHET  REICH  .  OHN  .  UIELE  .  MUHE  . 
I  •  C  •  S  •     ANNO    1 723     M  •  E  •  S  • 

Sollinggegend. 

36.  üslar  (einreihig): 

a)  WIL  TV  RICHTEN  MICH  VNDT  DIE  MEINEN  SO  BESIEHE  ZVVOR 
DICH  VNDT  DIE  DEINEN  VNDT  KOMB  DARNACH  AVIEDER  ZV  MIHR  SO  WIL 
ICH  ANTWORDT  GEBEN  DIHR. 

Über  der  Haustür: 

b)  ZV  GOTT  ALLEIN  DIE   HOFNUNG   MEIN  o 

MORITZ  ♦  WILCKE  MARGRETA  ♦  RICKEN  ♦ 

ANNO  ♦     I      6       Z      9      ♦ 

37.  Dassel: 

IT  82 

ZUR   HERBERGE 
SOLL  DiES  HAUS  UND 
NICHT    ZUR    lElMAT    DINEN 
DiEWEIL  MEIN  \ATERLANT 
DES     HIÄELS    WOLNUNG    IST 
LAS  IN  DER  lERBERG 
HIE 
GOTT  UNSERE  BLÄTTER  GRÜIEN 

UND  RICHTE         UNSER  lERZ  HIN  WO        DU  SELBER  BIST 

Hübsche  poetische  Inschrift  des  ehemaligen  'Rauschenplattschen  Hofes',  der 
späteren  'zweiten  alten  Pfarre',  in  dem  über  dem  Eingang  befindlichen  grossen 
Rauschenplattschen  Familienwappen,  das  noch  ein  Spruchband  mit  Anfangsbuch- 
staben der  Namen,  zwei  Hirsche,  ein  Jagdhorn  und  Blätter,  eben  die  'Rausche- 
blätter',   aufweist,    die    in    schöner    poetischer  Beziehung    zu    dem  Familiennamen 


Hausinschriften  aus  Nord-  und  Mitteldeutschland.  41 

stehen.  Ähnliches  werden  wir  noch  in  Jena  lesen  (nr.  51).  Weitere  Inschriften 
aus  der  Sollinggegend  finden  sich  in  meinen  'Hausinschriften  aus  dem  Kreise 
Einbeck',  Einbeck  1898  und  in  'Niedersachsen'  vom  15.  Nov.  1908,  S.  58ff. 

Wer  ra-Weser-Diemel  gegen  d. 

88.    Witzenhausen  (Werra),  Thiermannsches  Haus  (einreihig): 

CONTVLIT  HAVD  lACILFS  SVMTUS  WIDEKINDVS  IN  .ED  MEINHARTVS  : 
DEVS  HAS  VICIBVS  SERVARE  MEMENTO:  [Hausmarke,  s.  Abb.  1,  38]  IN  DO- 
MINO CONFIDO  :  PS  :  XI :  AO  DNI  1579 

Altes  Patrizierhaus  mit  vielen  Schnitzereien.  Kopfzerbrechen  macht  anfangs 
das  dritte  Wort,  das  eine  sinnlose  Buchstabenumstellung  und  weiter  nichts  als 
'facilis'  (oder  'facile')  ist.  Der  erste  Hexameter  besagt:  Es  ist  dem  Erbauer  nicht 
leicht  geworden,  die  Mittel  zum  Baue  zusammenzubringen  (Aed  ist  zu  ergänzen: 
Aedes);  der  zweite:  Gott  möge  diese  Wohnung  vor  Schicksalsschlägen  bewahren. 
Über  der  Tür  befindet  sich  nochmals  das  Hausmarkenwappen  mit  Gründungs- 
inschrift darunter. 

39.  Hedemünden  (Werra;  einreihig'): 

a)  WER  VIEL  FRAGT  NACH  NEVEN  MERN  .  DER  SCHWATZT  NACH 
VND  LEVGT  GERN  .  SOLCHE  LEVT  THV  MEIDEN  .  WILT  DV  NICHT  FALN  IN 
LEIDEN?  LEID  MEID  SCHWEIG  .  VND  VERTRAG  .  DEIN  NOT  NIEMAND  KLAG  . 
AN  GOT  NICHT  VERZAG  .  GLUCK  KOMPT  ALLE  TAG  .  GEDVLT  VBBRWINDET 
VIELES  S 

Den  ersten  Teil  der  Inschrift  kannten  wir  bereits  von  früher  aus  Hannover 
(vgl.  Globus  89,  188),  von  Leid  bis  Tag  ist  wieder  ein  Wort  Luthers.  Die  In- 
schrift der  andern  Seite  ist  stark  verwittert  und  verwischt,  doch  wurde  sie  noch 
einigermassen  entziffert: 

b)  ^ürdjte  (Sott  Dnb  tjalt  [eine  g,eQebot . .  .  ANNO  •  )  -5  •  9  •  o  •  l^at  lianf  l^euntngf  mit 
(Softes  t^iilff  e  Püt  (\(ijon  häufen  3immern  laffeu  vnb  bauen?) 

Zum  Glück  sind  Jahreszahl  und  Erbauername  erhalten.  Auch  fanden  wir 
in  diesem  Städtchen  das  uns  schon  von  früher  aus  Dorf  Volksen  (Leinegegend) 
bekannte  und  als  'Liebesknoten'  ausgegebene  Zeichen  wieder  (vgl.  Globus  89, 
S.  183)  an  einem  Hause  aus  dem  Jahre  1755  zwischen  den  Namen  des  Paares, 
und  es  könnte  wiederum  als  solcher  gelten.  Dennoch  glauben  wir  heute  besser 
diese  krntenartige  Verschlingung,  den  Knoten,  ins  Gebiet  des  Aber-  und  Volks- 
glaubens verweisen  zu  müssen,  wonach  er,  an  einem  Hause  angebracht,  dieses 
vor  Schaden,  vor  Behexung  bewahren  könne,  ein  z.  B.  in  Süddeutschland  ver- 
breiteter Glaube.  Hedemünden  reicht  dem  Süden  schon  so  die  Hand,  und  an 
einem  andern  Hause  aus  dem  Jahre  1747  findet  sich  diese  Verschlingung  zweimal, 
und  zwar  nur  hinter  je  einem  Spruche!  Von  Liebesknoten  kann  also  hier  keine 
Rede  sein. 

40.  Adelebsen  (Kr.  Uslar): 

G  n  CHRISTOPH  AVGVSTAS  AMALI A  HERMEN 

GOTTES  GUTE   VND  TREW  d  IST  ALLE  MORGEN  NEW  JM| 
ANNO  'z  X  0     1(14;)    s-^ 


^2  Andrae : 

mit  altertümlicher  Haustür;  ein  älteres  Haus  an  der  Stelle  angeblich  im  30jährigen 
Kriege  niedergebrannt;  wie  man  sieht,  ist  dies  neue  gleich  nach  Schluss  des 
Krieges  wieder  aufgebaut.     Vgl.  nr.  33b. 

41.  Bodenfelde  (Weser),  altes  Bauernhaus: 

WOR.M£X  BEK  HEREIN  FRVCB.TET  BAR  IST  KE';>'S   ARMOET 
;>SA>AS  AM  40  CAP})^      V      DM      p  E  ANNO    DOMN>    1588 

PVRGE^      BODEKER        D-C 

Der  Bibelhinweis  kann  sich  nicht  auf  das  Vorhergehende  beziehen,  da  im 
ganzen  Propheten  Jesaias  nichts  Ähnliches  steht,  muss  also  auf  das  Nachfolgende, 
V-DM-IE-'gehen;  das  ist  nichts  anderes  als  die  oben  S.  39  als  Wahlspruch  des 
sächsischen  Kurfürsten  Friedrichs  des  AVeisen  angeführten  Worte:  Verbum  Domini 
Manet  In  Eternum,  die  zuerst  bei  Jesaia  40,  8  erscheinen.     Ebenso  in  nr.  G2. 

42.  Dorf  Wehrden  (Weser),  altes  Bauernhaus: 

DIS  HVS  STEHET  IN  GOTTES  ^^N  ER  WOLLE  ES  BEWAREN  VOR  FEVR  VN)  BRANT 
HEINRICH  GADEKEN  VND  ILSABE  CATARIM  REMERS    IIIHVHTE 
ANNO   169G  DEN  26  NOVEMBER 

Die  zweite  P^eihe  gegen  Ende  lückenhaft  und  unsicher;  das  Monogramm 
Christi  zeigt  die  katholische  Gegend  an.    Vgl.  nr.  63. 

43.  Rinteln  (einreihig): 

a)  (£[aic  .\"I  2UIc  btncf  is  rorgenrf lief  .  (Softes  wovt  bitft  ewu}  f  3'"  i^^^  bo  mcn  fcfjrcf . 
1565  •  I^eft  fjans  Pebber  mibe  ~slfabet  fiii  (El^eltfe  tjüffrautre  but  bus  bäumen  laten  2 
<5obt  fi  loff .  vnbe  <£tjre 

Die  Inschrift  geht  wieder  auf  den  8.  Vers  des  uns  schon  bekannten  Kapitels 
zurück.  Weiter  steht  u.  a.  noch  an  dem  altehrwürdigen  Hause  am  Kirchplatze, 
die  wichtige  Stelle  aus  Hiob  19,  2.3: 

b)  3(f  ipett  bat  m\n  crlöfcr  Icrct  .  .  . 

und  das  ebenso  wichtige  neutestaraentliche  Seitenstück  E\^.  Joh.  3,  16.- 

c)  21Ifo  bett  gobt  be  uielt  geleut  .  .  . 

Die  Inschrift  aus  Hiob  wurde  früher  schon  gefunden  in  Hannover  und  Hel- 
singör  (Dänemark);  siehe  darüber  meine  'Hausinschriften  aus  Dänemark'  (Globus  84). 

An  einem  Häuschen  fiel  noch  auf  (einreihig): 

44.  €IN  .  LEVENT  .  ID  .  SI .  WO  .  GVT  .  IDT  .  WOLLE  .  SO  .WART  .  IDT  .  EIN  . 
KLEIN.  TIDT  .  ABER  .  EIN  .  GVDT  .  NAME  .  BLIFT  .  EWICH 

16.  bis  17.  Jahrhundert.  Am  Markt  noch:  Si  deus  pro  nobis  .  .  anno  1659, 
die  uns  schon  bekannte  Inschrift  (nr.  33). 

45.  Stadtoldendorf: 

S)er  §erv  bixvd]  bcv  Gngcliriiav  Seinen  ein  9Snb  ?(u§. 
cjang  Sen)at)r:  ?ln  ©ottee  Segen  ift  5iae§  gelegen  .y. 662 
Jürgen  Sa^j^en  ©attrina  öünecn 


Haiisin Schriften  aus  Nord-  und  Mitteldeutschland.  43 

Ungefähr  aus  derselben  Zeit,  zweite  Hälfte  17.  Jh.,  stammt  noch  diese 
charakteristische  Inschrift: 

-KJ.  MANGER  REDET  V02s\nR  QU  T  DER  SELBST  NICHTS  GVTS  IM ESRZEMA  T 
Hl.V  DAS  VOR  SE2ER  STR  Tl\OE  GESCHiBEN  m.S'  ER  SEN  EBTAG  HETTE 
GETR'BE:^R  JWDE  sich  ZmMAH  BEDEMENS  lER  M'^fWE  3EN:R  EHtE 
KRENKEN 

Zieht  sich  in  einer  Reihe  am  Hause  hin,  ein  alter  Balken  mit  nur  wenig 
Schrift  ist  bei  der  neuen  Türaniage  verschwunden.  Die  vielen  Buchstaben- 
zusammenziehungen sind  eine  Folge  der E-auraknappheit.  Qvat  =  Böses,  Schlechtes; 
Str  =  Stirn;  der  Langstrich  von  E  in  Ebtag  soll  zugleich  L  bedeuten. 

Andere  Inschriften  aus  der  Wesergegend  s.  Niedersachsen  1908,  58. 

47.  Heimarshausen  (a.  Diemel): 

MARTIN   ALLE    DIE    MICH  KENNEN  .  DEN    GEBE    ILSEBEfT 
GODEKEN  GOTT  WAS  SIE  Mim  GÖNNEN.  FRIBERG 

ANNO  1683 

die  überaus  weit  verbreitete  Inschrift.     Ebenso  verbreitet  ist 

48.  lUer  auff  (Sott  trauet  bcr  liatt  rroll  gebauroctt  Svlli  §anS 
Anno  1585 

mit  Hammer,  Kneifzangen,  Bohrer  (Zimmermannswerkzeugen)  und  Hufeisen,  dem 
ünheilabwehrer  und  Glücksbringer. 

49.  3'"  ^5l)^  3ar  fjabc  3*  f^cnrtdj 
Kiman  Mt  I^us  latcn  Surocn  lUer 
auff  (Sobt  rortruroet  ber  befft  roall 
(Scburoet    —.    — s 

Ein  Haus  aus  d.  J.  1694  'den  10.  ivli'  fällt  noch  auf  durch  viele  Inschriften 
(so  PS  38,  23)  und  Schnitzereien,  Ranken-  und  Blattwerk  in  Drachen-  und 
Schlangenköpfe  auslaufend.    Vgl.  den  Göttinger  Deutschen  Boten  1913,  10.  Januar. 

Thüringen. 

50.  Altenburg:    • 

AUXILIVM  MEVM  A  DOMINO   ANNO   1554 

Die  mit  kleinen  Verzierungen  durchsetzte  Inschrift  befand  sich  vor  Er- 
neuerung des  Giebels  bei  der  Tür  des  Hauses,  das  im  Innern  noch  alte  Bauart 
aufweist. 

51.  Jena: 

a  Der  ticrr  b  '^tOes  ?\a\i^ 

betaute  bcinen  €tnc  öerberg  tft 

aug  linb  Drumb  'i>ind  bev  <i5eit 

etngana  *^"5  <Iobcu  hau^^ 

aö  :  ^691  Damit  bir  offcuftcb 

Das  (5ro§c 
iitmeb  tjaitg 

Hof-Haus  „Jenaische  Zeitung";  Schiller  wohnte  in  dem  Hause  1804,  also  ein 
Jahr  vor  seinem  Tode.  Wie  schon  angedeutet,  hat  diese  hübsche  Inschrift  grosse 
Ähnlichkeit  mit  der  im  fernen  Dassel  (nr.  37). 


^^  Andrae: 

52.    Weimar : 

DER  .  GEREcHtTE  .  MVs 
VIL  .  LEIDEN  .  AWER 
DER  .  HERR  .  HILFfT  IM 
AVS  .  DEM  ALLEM  .  34  . 
PSALM .  DAX 
WAS  .  GOT  .  WILL 
IST  .  MIEN  ZIL  .  1 .  5  .  52 

Mit  einigen  kleinen  Verzierungen  und  Wappen,  dessen  Schrift  nicht  mehr  zu 
erkennen  ist,  und  Hausmarke;  der  Inschriftenstein  wurde  beim  Umbau  entdeckt. 
Sollte  DAI  ein  Abkürzung  von  David  sein  (34.  Psalm  Davids)? 

53.  RVP  ZV  GOT  AN   ALE 
SCHEV  .  SO  HILFT  ER 
DIR  BEI  SEINER 
TREV. 

1550 

I  C  M 

1740 

H 

54.  Am  Erker  der  Hofapotheke:  Die  Stelle  aus  Ev.  Joh.:  Also  hat  Gott.. 
1598  und  allegorische  Figuren  Fides,  Porti  (tudo)  und  a.  m. 

55.  Erfurt  (einreihig): 

a)  FRAVDIS.  ET.  IN  VIDLE.  TANDEM.  PACIENCIA.VICTRIX  VIRTVTIS^VE  . 
OP VS .  EST .  TRISTIA .  POSSE .  PATI . 

b)  SINT  .  MAONI  QVICVNQVE  .  NIHIL  .  NISI  MAGNA  .  LOQVVNTVR  NOS 
IVVAT  .  EX  .  ANIMO  .  QVOD  IVBET  .  ESSE  .  DEVS 

Interessante  Inschrift  mit  kleinen  Verzierungen  über  und  unter  den  Penstern. 
Auf  deutsch  lauten  die  Distichen  etwa:  Des  Truges  und  des  Neides  Besiegerin 
ist  endlich  die  Geduld,  und  es  ist  das  Werk  der  Tugend  Trauriges  leiden  zu 
können  —  Mögen  alle  diejenigen  gross  sein,  die  nur  tote  Reden  führen  können, 
uns  frommt  von  Herzen  das  zu  sein,  was  Gott  zu  sein  gebietet.  —  Auf  einem 
Spruchband  befindet  sich  noch  eine  Inschrift,  während  ein  zum  Hause  gehörender 
Stein  mit  Greif,  wonach  es  wohl  'Zum  Greif  hiess  und  heisst,  sich  im  Museum 
befindet.  Man  erzählt  noch,  vor  Jahren  sei  bei  einer  Hochzeit  die  Decke 
durchgebrochen  und  alle  bis  auf  ein  Kind  seien  umgekommen,  wohl  nur  eine 
Sage^). 


1)  Eine  Oiissage  hörte  ich  noch  in  Zwickau  (Sachsen),  die  sich  an  das  'Gewand- 
haus' anknüpft,  dessen  Giebelverzierung  Ähnlichkeit  mit  einer  Brille  liat:  der  Erbauer 
dieses  Gebäudes  und  der  des  Eckhauses  schräg  gegenüber  hätten  miteinander  gewetteifert 
in  der  Fertigstellung  ihrer  Häuser.  Der  des  Gewandhauses  sei  nun  zuerst  fertig  ge- 
worden mit  seinem  Bau,  habe  eine  Brille  aufgesetzt  und  höhnisch    seinem  Gegenüber  zu- 


Hausinschriften  aus  Nord-  und  Mitteldeutschland.  45 

56.  ANNO   15  GOTT  .  SPRICHT  ES  .  SO  GESCHICHIES  61  EM 

ILGEN  ANNA  .  SCH WA  = 

MILWICZ  NFLOGELIN 

Im  rechten  Wappen  ist  ein  Schwanentlügel  sichtbar,    wie  wir  ihn   bereits  am 
Göttinger  'Junkernhause'  (nr.  6)  erbliclvt  haben.     Ausserdem  kleine  Verzierungen. 

57.  1 .  5  .  ö  .  6 

[Bild  eines  Rades,  s.  Abb.  1,57] 
3Ü  bem  gülbe  rabe 

Also  ein  Hausname,  wie  deren  noch  einige  gefunden  wurden. 

58.  DAS  HAVS  STEHET 

IN  GOTTES  HAN)  ZVM 
STOCKFISH  ISTS  GENANT 

mit  Stockfisch  im  Relief,  und  Familienwappen ;  altes  Patrizier-,  eine  Art  'Junkern- 
haus', angeblich  aus  d.  J.  1601. 

59.  DAS  .  HAVS  .  STHET  .  IN  .  GOTTES  .  HANT  .  ZV  .  DER 
BLAVWEN  .  LILGEN  .  IST  .  ES  .  GENANT  .  1576 

.1.5.      76 o 

A- 

IH 
H  N 

Mit  Lilie  und  zwei  Wappen:    Greif",  nackter  Mann.  —  Auf  dem  Hofe: 

60.  IM  .  JAR  .  1 . 5  76 .  NACH 
CHRISTI .  GEBVRD  .  HAT  .      . 
HERBORD  .  NACK  .  DISEN  . 
BAVW  .  AVFF  .  GEFHVRDT 

Der  Name  Nack  steht  jedenfalls  mit  dem  Wappen  im  Zusammenhange. 

61.  Am  Gasthaus  'Vaterland': 

ZUM  GVLDEN 
STERNEN  GENANT 
15  72 

[sechseckiger  Stern,  s.  Abb.  1,  61] 

WAS  GOT  BES 
CHERT.  BLEIBT 
VN .  ERWERBT . 


gerufen:  „Man  sieht  ja  noch  nichts  von  deinem  Baue,  man  muss  ju  durch  eine  Brille 
suchen  .  .  .1"  Die  ostfriesische  Haussage  aus  Norden  (Globus  75,  388)  knüpft  sich  auch 
an  ein  Haus  in  Utrecht  Fr,  Halm,  Adrian  von  Utrecht.  Werke  1856  1,  322):  ein  Junge 
will  später  ein  Haus  bauen  so  hoch,  wie  er  jetzt  seine  Mütze  in  die  Luft  wirft. 


46  Andrae:    Hausinschriften  aus  Nord-  und  Mitteldeutschland. 

62.  Weimar,  am  Markt,  der  Hofapotheke  gegenüber: 

DAS  .  HAVS  .  STEHT 
IN .  GOTTES  .  HANDT 
ZVM  .  SCHWARTZEN 
BEREN  IST  .  ES  GENANT 
IH 
V  D  :\I  I  E 

Diese  Schriftzeichen  sind  wie  in  nr.  41  aufzulösen:  Verbum  Domini .  .  das  Wort 
des  Herrn  bleibt  in  Ewigkeit.  IH  sind  wohl  Anfangsbuchstaben  von  Namen;  mit 
ausgelassenem,  hinzugedachtem  S  ergäbe  sich  Jesus  Hominum  Salvator.  Da- 
zwischen im  Bilde  der  Bär. 

63.  Eine  derartige  gereimte  Hausnameninschrift  fügt  Luise  Schulze-Brück  in 
ihre  Novelle  'Die  heiligen  drei  Könige'  (Kölnische  Zeitung  vom  2.  Januar  1911) 
aus  Hettstädt  ein: 

Dies  Baus,  es  ftebt  in  (Sottcs  Ranb, 
,,§u  ben  heiligen  ^ret  Königen"  ift  es  genannt, 
(Sott  fdjügc  CS  Dor  ^'euer  nnb  Sranb. 
2lnno  ib^i. 

Mit  Stern  und  drei  Köpfen.  Ähnlich  aus  dem  Elsass  1  GOo  in  der  Frankfurter 
Zeitung  1907,  23.  März.  Andere  Hausnamen  siehe  in  meinen  „Bausinschriften  aus 
Holland",  Emden  und  Borkum  1902  und  „H.  aus  Priesland"   (Globus  72,  Nr.  24). 

64.  Eger  (Böhmen;  einreihig): 

^'O-y,  ^  C-VRE.Vv  xc^     HVI75    ^  ^^^ 

^^NS  VIBÖ^  ^4BE,     ^^^  ^>ÜAM     H^^^ 

Altes  Patrizierhaus;  angeblich  Stammhaus  des  jetzt  ausgestorbenen  Geschlechtes 
Adler  von  Adlerfels  (feld),  deshalb  oben  ein  Adler  mit  Ring  im  Schnabel.  Niedriger 
thront  die  Jungfrau  mit  dem  Jesuskinde.  Elf  von  den  Buchstaben  der  Inschrift 
sind  vergoldet,  und  zwar  nur  sog.  Zahlenbuchstaben,  die  deshalb  auch  sofort  an 
ein  Chronogramm  denken  lassen.  Ich  stelle  nun  so  zusammen:  VIC  =  GOO,  L  =  50, 
DI  =  501,  VI  =  6,  VCV  =  505  ergibt  die  Jahreszahl  1662,  die  sehr  gut  für  das 
Haus  passt,  das  keinen  älteren  Eindruck  macht.  Bringt  man  allerdings  das  nicht 
vergoldete  und  deshalb  auch  wohl  auszuscheidende  M  von  Curam  (=  1000)  mit  in 
Rechnung  und  zählt  einfach  zusammen,  so  ergibt  sich  1773.  Die  mächtige,  vom 
Verderben  freie  Jungfrau  nehme  dieses  Haus  in  ihren  Schutz,  lautet  die  Inschrift 
und  erinnert  somit  inhaltlich  an  die  lateinische  aus  Witzenhausen  (nr.  o8).  Be- 
achtenswert ist  noch  der  altertümliche  Hof  mit  Holzgalerie. 

65.  FAX  INTRANTIB9 

SALVS  EXEVNTIBVS. 

Üaüßent  Secf^sl^ünbert  .^el^enbtn  3ar 
(San^  Dadi  vnb  (Smefir  eingriffen  mar 
Don  neu)cn  mihx  Erbauet  ebn 
(Sott  gnai)  rnb  fegn  roeitr  molle  gbn 


Gebhardt-Oechsler:    Die  Windsheimer  Ilamlschrift.  47 

an  einer  anderen  Stelle  die  Jahreszahl  1684;  dann  Wappen  mit  Adler,  Einhorn, 
Pelikan,  Anker  u.  a.  m.  Alte  Schlossmühle  an  der  Eger,  der  aus  Schillers 
'Wallenstein'  bekannten  Kaiserburg  gegenüber,  zu  der  sie  auch  gehört  hat. 


Abb.  2. 

Zum  Schluss  bringen  wir  noch  die  Abbildung  eines  Kamins  (Abb.  2)  mit 
Inschrift,  der  sich  in  der  Küche  des  Klasingschen  Hauses  in  Lemgo  (^Lippe)  be- 
findet. Zwei  Seitenstücke  dazu,  Kamin  aus  Biesterfeld  (Ostfriesland)  und  aus 
Seedeich  (Oldenburg)  siehe  Globus  89,  186. 

Göt  tingen . 


Die  Windsheimer  Handschrift  des  Liedes  'Von  Sankt 

Martins  Freuden. 

Von  August  Gebhardt  und  Elias  Oechsler. 


Das  Trinklied  'Von  Sand  Marteins  Freuden'  oder  'Von  Saut 
Marteins  Geselleschaft',  das  allgemein  dem  sogen.  31önch  von  Salz- 
burg zugeschrieben  wird,  war  bisher  nur  aus  der  Lambach-Wiener  Hand- 
schrift der  Hofbibliothek  Nr.  4696,  4fco  aus  der  ersten  Hälfte  des  15.  Jahr- 
hunderts und  der  gleich  alten,  gerade  an  dieser  Stelle  sehr  stark  ver- 
witterten Tegernsee- Münchener  Hs.  Cgm.  715,  4^0  bekannt,  in  welch 
letztere  noch  ein  in  Freising  erworbenes  nur  Str.  1  und  Tenor  enthaltendes 
Bruchstück  eingeklebt  ist,  endlich  in  alemannischer,  teilweise  recht  ver- 
derbter Fassung  des  15.  Jahrhunderts  aus  dem  Berliner  Mscr.  germ. 
fol.  1035. 


48  Gebhardt-Oechsler: 

Gedruckt  ist  der  Text  nach  der  Lambacher  Handschrift  von  Haupt 
und  Hoffmann  in  den  Altdeutschen  Blättern  2,  314  (Leipzig  1840),  so- 
dann   von    F.  Arn.  Mayer    und    Heinr.  Rietsch  in  den  Acta  Germanica 

4,  511  (Berlin  189ß)  und  zuletzt  hiernach  bei  Wilhelm  Jürgensen, 
Martinslieder,  Breslau  1910,  als  Nr.  104,  wo  auch  die  Anmerkung  zu 
Nr.  104  die  nötigen  Nachweise  bringt.  Den  Berliner  Text  bringt  Johannes 
Bolte,  Alemannia  26,  74f.i). 

Der  Abdruck,  den  K[arl]  S[imrock]  auf  S.  1 — 5  des  Büchleins  'Mar- 
tinslieder hin  und  wieder  In  Deutschland  gesungen  Von  Alten  und  von 
Jungen  ...  in  Druck  gegeben  säuberlich  durch  Anseriuum  Gänserich, 
Bonn  [1846]'  mit  der  sehr  richtigen  Bemerkung  'Hier  und  da  unverständ- 
lich' geliefert  hat,  beruht  jedenfalls  auf  demjenigen  in  den  altdeutschen 
Blättern;  kann  aber,  weil  ohne  Quellenangabe  und  Anmerkungen,  nicht 
als  Grundlage  wissenschaftlicher  Untersuchungen  gebraucht  werden. 

Die  Melodie  zum  ganzen  Liede  ist  nach  der  Lambacher  Hs.  in  den 
Altdeutschen  Blättern  2  auf  einem  vor  Seite  311  eingefügten  Blatte  abge- 
druckt, aber  leider  in  moderne  Noten  umgesetzt,  während  sie  in  den  alten 
Zeichen,  aber  mit  einer  kleinen  Korrektur  und  in  Beschränkung  auf  die 
Tenorstrophe  bei  Franz  M.  Böhme,  Altdeutsches  Liederbuch  (Leipzig  1877) 

5.  322  als  Nr.  349  gedruckt  ist"). 

Nun  sind  aber  unlängst  in  der  Stadtbibliothek  zu  Windsheim  von 
den  beiden  Deckeln  einer  Papierhandschrift  aus  dem  1525  aufgehobenen 
Augustiner kloster  daselbst,  enthaltend  Sermones  sacri  de  tempore 
hiemali,  die  zwei  Hälften  eines  Doppelblattes  losgelöst  worden,  die 
ebenfalls  dieses  Lied,  aber  ohne  Überschrift,  enthalten.  Die  Bruchstücke 
sind  uns  von  dem  Entdecker,  Herrn  stud.  bist,  et  germ.  Friedrich  Horn- 
schnch  freundlichst  zur  Veröffentlichung  überlassen  worden. 

Da  sowohl  der  Wortlaut  des  Textes  als  auch  die  Melodie  von  der 
Überlieferung  in  der  Lambacher  und  der  Münchener  Handschrift  etwas 
abweicht,  der  Text  übrigens  an  einigen  Stellen  besser  zur  Melodie  passt, 
so  lassen  wir  zunächst  den  buchstaben-  und  zeichengetreuen  Abdruck  des 
Textes,  jedoch  mit  Auflösung  der  Abkürzungen,  und  der  Melodie  nach 
der  Windsheimer  Hs.  folgen  und  fügen  einige  Anmerkungen  zu  beiden 
hinzu.     Vorauszuschicken  sind  folgende  Angaben. 

Die  Handschrift  ist  im  allgemeinen  wohl  erhalten  und  gut  lesbar. 
Nur  von  dem  durch  die  übrigen  Hss.  völlig  gesicherten  Worte  un- 
verczeit  1,  1    sind    einige    Buchstaben    und    Buchstabenteile,    sowie    die 


darüber  stehenden  Noten  ^      cd — ^ durch    eine  von    einem  Be- 

schlägnagel verursachte  Lücke  zu  Verlust  gegangen.    Ein  paar  Noten  sind 


1)  Nicht  27,  74ff.,  wie  bei  Jürgensen  Anna,  zu  Nr.  104  verdruckt  ist. 

2)  Die    bibliographischen   Nachweise    hat    uns    zum    grossen    Teile    Herr    Professor 
Johannes  Bolte  geliefert,  dem  dafür  der  wärmste  Dank  ausgesi^rochen  sei. 


Die  Windsheimer  Handschrift.  49 

—  wahrscheinlicli  gelegentlich  der  Lostrennung  der  Blätter  vom  Deckel 
mittels  warmen  Wassers  —  etwas  verblasst,  aber  noch  recht  gut  zu  er- 
kennen. Das  Wort,  das  an  der  Stelle  des  vast  der  übrigen  Hss.  in 
Strophe  3,  7  steht,  ist  durch  Fliessen  des  grossen  Anfangsbuchstaben  un- 
kenntlich geworden.     Ich  lese  es  für  Soent.     Aber  was  heisst  das^)? 

Strophe  4,  1  zeigt  der  Text  eine  starktonige  Silbe  zu  wenig.  Es  ist 
ganz  sicher  das  Wort  naht  der  übrigen  Hss.  versehentlich  ausgeblieben, 
und  wir  haben  es  daher,  wenn  auch  in  eckigen  Klammern,  in  den  unten 
folgenden  Textabdruck  eingesetzt. 

Das  Bruchstück  besteht  jetzt  aus  zwei  nicht  oder  nicht  mehr  zu- 
sammenhängenden Blättern  aus  Papier  in  mittlerem  Folio,  von  denen  eines 
als  Wasserzeichen  eine  heraldische  Lilie  trägt,  ganz  ähnlich  derjenigen, 
die  Charles  Moise  Briquet"j  aus  Würzburger  und  Nürnberger  Urkunden 
nachweist,  und  ist  von  einer  Hand  des  15./16.  Jahrhunderts  beschrieben. 
Der  nicht  von  unserem  Martinslied  eingenommene  Raum  auf  Blatt  I  sowie 
beide  Rückseiten  enthalten  —  anscheinend  vou  der  gleichen  Hand  — 
lateinisch-kirchliche  Texte  in  Kurrentschrift  mit  Melodien,  beides  durch 
starke  Abkürzungen  und  viele  Ligaturen  schier  unleserlich.  An  ein  paar 
Stellen  der  Ränder  finden  sich  kaum  lesbare  Einträge;  wie  es  scheint, 
rechnerische  Notizen. 

Der  Text  des  Martinsliedes  ist  auf  den  beiden  Blättern  so  verteilt, 
dass  auf  Blatt  I  unten  die  in  der  Wiener  und  den  Münchener  Handschriften 
als  'Der  Tenor'  bezeichnete  und  zwischen  die  erste  und  zweite  der  vier 
gleich  gebauten  Strophen    eingeschobene    ungleiche  Strophe    Seyt  wille- 


kumen  steht  bis  zu  den  Worten  g — ^^g ,  während  der  Schluss, 

trüncklein  ein     daz 


1^. 


-ci~—s— 


von    den    Worten :^ —   an,  auf  Blatt  H,  ebenfalls  unten,  folgt. 


vns 


Auf  Blatt  H  oben  steht  zunächst  Strophe  1  mit  darüber  gesetzter  Melodie^ 
dann  folgen  die  übrigen  drei  Strophen  wie  Prosa,  nicht  abgesetzt;  nur 
dass  vor  Str.  3  und  4  jedesmal  das  Zeichen  ^   steht. 

Sollte  aus  dem  Umstände,  dass  die  Tenorstrophe  in  der  Windsheimer 
Handschrift  ganz  für  sich,  in  der  Berliner  am  Ende,  in  den  übrigen  aber 
zwischen  Str.  1  und  2  steht,  nicht  der  Schluss  zu  ziehen  sein,  dass  sie 
den  Refrain  bildete,  der  nach  jeder  der  vier  unter  sich  gleichen  Strophen 
gesungen  wurde? 

Der  Text  und  die  Melodie  der  Windsheimer  Handschrift  lauton  wie 
folfft: 


1)  Sollte  es  etwa  aus  zu  end  entstellt  sein  und  bedeuten  'endlich',  'also'? 

2)  Briquet,  Les  Filigranes,  Paris  und  Leipzig  1907,  2,  Nr.  (i836.  6837. 


Zeitscbr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.   1914.    Heft  1. 


50  Gebhardt-Oechsler : 


Windsheimer  Handschrift. 

^ j KII3 „ 


1.      Wol-auf    lie  -  ben    ge  -  sei  -  len      vn-ver-czeit    seit  ge-meyt     in     der    frew-den 


m 


zÜ—cr- 


cleit,  last    sor  -  gen     vnd    auch  leyt    vns    hat    frew  -  den  pracht  Mar-tein     der    mil- 


-e ig e- 


;==zi^^^^^5=^^£=---=?=^ 


=0— B-0— "i-^ 


de    man     ge       -        seyt  —  "wir     vnd    vnß       genossen         die     grossen 

die    cley  -  nen    ge  -  may  -  nen     sül  -  len    sein     be  -  rayt        die  -  weil      vns      die 

4 -I 4 


_a — a- 


-g — ^ — ^ — s- 


fla  -  sehen    die    kan  -  dein    auz     den      vassen       gu  -  ten  wein    her     treyt    geuz 


aus      schenck      ein.  Seyt    wil  -  le    -    ku  -  men  her       Mer  -  teyn        liber 


._- — fi) — © 2j -j — ( 1 


^ Q g ^ g <^ & O Q- 


zarter    trawter    herre  mein  schenck  ein    vns  den     wein      sunder         pein 


daz     wir      ymmer  selick        müssen  sein       schenck  vns  ein  guts  trüncklein 


2 — -si — g n -^ — S — -- — S 


r— I         H" 


ein,       daz     vns      vn  -  ser    wen  -  ge  -  lein         wer    -    den     veyn.       Seyt    wil  -  le- 
kumen       her       Mer     -     tein. 


1)  Hier  ist  in  der  Handschrift  eine  Lücke:    diese  wurde,  da  die  beiden  ersten  Vers- 
zeilen genau  mit  der  Münchener  Handschrift  übereinstimmen,  nach  letzterer  ergänzt. 

2)  Diese  Note  ist  in  der  Handschrift  radiert,  aber  noch  lesbar. 


Die  Windsheimer  Handschrift. 


51 


I.  Wol  auf  lieben  gesellen 

unverczeit^) 
seit  gemeyt 
in  der  frewden  cleit 
last  sorgen  vnd  auch  leyt 
Vns  hat  frewden  pracht 
Martein  der  milde  man  geseyt 
wir  vnd  vnß  genossen 
die  grossen 
die  cleynen 
gemaynen 
stillen  sein  berayt 
die  weil  vns  die  Haschen 
die  kandeln  auz  den  vassen 
guten  wein  her  treyt 
geuz  auz  schenck  ein 

II.  Wir")  suUen  vns  frewen  seyt 

die  schrift 

guter  gift 

die  vns  allen  trift 

mit  großen  bechern  schifft 

keker  truncke  stift 

zu  beyden  packen  sam  der  pfeyft 

auz  weyten  nassen  krawsen 

das  pawsen 

vnd  nyphen 

vnd  snyphen 

das  vns  die  lebs  entsliphen 

wie  nü  her  epel 

her^)  dyetel  vnd  her  trepel 

vb  ir  nun  zugrift 

geuz  auz  schenck  ein 

III.  Wer  nü  wolle  sein  sand 

Merteins  gast 
sorgen  laßt 
sey  im  als  ein  past 
er  zyh  unmaßen  vast 


wenn  er  wöU  gen  rast 

er  sweb  als  vor  dem  wind  ein  ast 

Soent  so  wöU  wir  trincken 

daz  hincken 

die  lungen 

die  czungen  k 

vnd  vmb  die  wend  gen  tasten 

Nu  raych  her  den  becher 

vnd  laz  vns  aber  zechen 

ob  du  icht  mer  hast 

geuß  auz  schenck  ein  i: 

IV.    Das  sand  Merteins  [naht]*)  noch 
werd  volbracht 
heint  zu  naht 
so  hab  ich  gedacht 
daz  hie  vns  werd  gemacht 
vnd  auch  hy  her  bracht  i 

alles  daz  vnß  hercze  lacht 
nü  schib  wir  ein  die  gense 
die  üense 
die  kesten 

die  besten  n 

vnd  den  küien  wein 
trag  her  bey  vieren 
die  küten  und  die  piren 
ob  sie  gepraten  sein, 
geuß  auz  schenck  ein.  i; 

[Tenor  ]   Seyt  willekumen  her  mertein 
über  zarter  trawter  herre  mein 
schenck  ein 
vns^)  den  wein 

sunder  pein  s 

daz  wir  ymmer  selick  müßen  sein 
schenck  vns  ein  guts  truncklein  ein 
daz  vns  vnser  wengelein 
werden  veyn 
Seyt  willekumen  her  mertein.  i' 


Anmerkungen. 

A.   Zur  Melodie. 

Die  Melodie  zu  dem  Liede  'Von  sand  Marteins  frewden'  darf  als  eine  ur- 
sprüngliche, als  eine  Originalmelodie  bezeichnet  werden.  Eigentliche  Anklänge  an 
alte  weltliche  oder  kirchliche  Weisen  sind  —  von  einzelnen  motivischen  Ge- 
staltungen abgesehen    —    soweit  mir  die  einschUigige  Literatur  bekannt,    nicht  zu 


1;  Das  letzte  Wort  teilweise  ausgerissen.  —  2)  Nach  Wir  noch  ein  zweites  wir 
über  der  Zeile  eingetragen.  —  3)  Das  erste  li  aus  v  korrigiert.  —  A'  Naht  fehlt.  — 
5    s  aus  d  korrigiert. 

4* 


52  Gebhardt-Oechsler: 

finden.  Die  Melodie  verdient  Beachtung;  sie  erhebt  sich  an  vielen  Stellen  zu 
geradezu  wirkungsvollen  Steigerungen,  insbesondere  in  ihrem  zweiten  Teil  bei  der 
Textstelle:  'seyt  willekumen',  und  diese  musikalische  Steigerung  ist  auch  vor- 
waltend bis  zum  Schlüsse  der  Melodie,  der,  wenngleich  die  Windsheimer  Hand- 
schrift die  Textworte:  'Seyt  willekumen'  wiederholt,  wohl  bei  der  Textstelle 
'Wangelein  werden  veyn'  angenommen  werden  darf.  (Vgl.  in  dieser  Beziehung 
die  anderen  Handschriften.)  Da  es  mir  möglich  war,  Einblick  in  die  der 
Münchener  und  der  Wiener  Bibliothek  gehörigen  Handschriften  des  gleichen  Liedes 
zu  nehmen  und  die  drei  Handschriften  zu  vergleichen,  vermag  ich  zu  konstatieren, 
dass  diese  in  der  alten  Fassung  der  Melodie  im  ganzen  übereinstimmen,  wenn- 
gleich sich  an  einzelnen  Stellen  teils  kleinere,  teils  auch  erheblichere  Ab- 
weichungen zeigen.  Über  die  dem  alten  Liede  zugrunde  liegende  Tonart  be- 
merke ich:  die  Melodie  steht  in  der  Hauptsache  in  der  phrygischen  Tonart.  Es 
mag  auf  den  ersten  Blick  befremdend  wirken,  dass  der  Erfinder  der  Melodie  bei 
Vertonung  des  Textes  zum  phrygischen  Modus  griff,  da  doch  jedem  Kenner  des 
alten  Tonartensystems  bekannt  ist,  dass  diese  Tonart  wegen  ihres  tiefsinnigen, 
geheimnisvollen  und  düsteren  Wesens  sich  zunächst  zum  Ausdruck  der  Klage 
eignet  und  in  diesem  Sinne  in  der  alten  Zeit  auch  Verwendung  fand.  Allein  es 
sind  bei  unserer  Melodie  auch  die  tonartlichen  Wendungen,  die  Beziehungen  zu 
anderen,  meist  heiteren  Charakter  tragenden  Tonarten  des  alten  Systems,  also  die 
Modulationen  in  frischere  Tonarten  in  Betracht  zu  ziehen.  Und  in  dieser  Be- 
ziehung sind  Modulationsrichtungen  nach  Tonarten,  die  freudigen  Charakter  tragen 
(jonisch,  selbst  lydisch),  deutlich  erkennbar.  Auch  das  Gebiet  des  dorischen 
Modus  wird  berührt;  dieser  alte  Modus  trägt  aber  keineswegs  düsteren  Moll- 
charakter, sondern  ist  „ein  durch  vorwaltendes  Dur  verklärtes  Moll  von  grosser 
Kraft."  In  der  richtigen  Verkettung  der  Tonarten  liegt  hiernach  die  Möglichkeit, 
der  phrygischen  Tonart  ein  freundlicheres  Gepräge  aufzudrücken,  und  so  konnte 
sie  sich  sogar  auch  zum  feierlichen  Lobgesang,  zum  Te  Deum  laudamus,  erheben. 

ß.   Zum  Texte. 

Das  Schema  des  Strophenbaues  und  der  Reimstellung  ist  also  für  die  vier 
gleichen  Strophen,  wenn  wir  die  Zahl  der  Hebungen,  mit  folgendem  ^  klingenden, 
ausserdem  stumpfen  Reim,  mit  a,  b,  c,  d  den  Reim  selbst,  mit  K  ein  sog.  Korn, 
d.  h.  einen  durch  die  einzelnen  Strophen  gehenden  Reim  und  durch  vorgesetztes  A 
einen  notwendigen  Auftakt  in  klingenden  Zeilen  bezeichnen: 


5  a 

4      a 

3(w) 

2  a 

3  ^  b 

2    -    d 

3  a 

A  1  -  b 

3    w    d 

8  a 

A  1  ^  c 

3         a 

3  a 

A  1  -  c 

2         K 

Bei  Zeile  11  findet  sich  keine  volle  Übereinstimmung:  in  Str.  1  hat  sie  den 
Reim  a,  in  3  ebenfalls  a,  aber  durch  unbetontes  -en  zum  klingenden  Reim 
verändert,  wenn  nicht  statt  tasten  die  Inftnitivform  der  Würzburgnr  Mundart  tast 
einzusetzen  ist^);  in  Str.  2  bringt  sie  den  vorhergehenden  Reim  c  nochmals,  und 
in  der  vierten  reimt  sie,  gleich  der  Zeile  14  (diese  anstatt  des  Reimes  a)  auf  den 
Kehrreim. 


1)  Vgl.  ZfdMda.  5,  14Gf.  (1910). 


Die  Windsheimer  Handschrift.  53 

Für  die  Tenorstrophe  —  den  Refrain  —  ist  das  Scheraa: 

4a 
5  a 
la 
la 
la 

4  a  oder  wie  die  früheren  Herausgeber  lasen:    4a 
4a  2a 

4a  3a 

1  a  4a 

4a  la 

4a 

Abgesehen  von  der  elften  Zeile  der  gleichen  Strophen,  bei  der  keine  durch- 
gehende Gleichförmigkeit  beabsichtigt  zu  sein  scheint,  lassen  sich  Abweichungen 
der  Windsheimer  Hs.  von  den  übrigen  leicht  bessern. 

Str.  1,  5  wäre  vielleicht  —  trotz  der  Übereinstimmung  aller  Hss.  —  reiner 
Reim  herzustellen  durch  Änderung  von  bracht  in  berait,  d.  i.  bereitet. 

Str.  2,  9 — 12  scheint  mir  die  Windsheimer  Hs.  die  richtige  Lesart  zu  haben. 
Einmal  kann  ich  mir  unter  nymphen,  entsliraphen  sowie  hier  unter 
schimphen  sprachlich  nichts  vorstellen,  während  mir  nyphen  und  snyphen 
sog.  überverschobene  Formen  zu  sein  scheinen,  das  erstere  zu  nippen,  das  andere 
mit  Ablaut  zu  schnappen,  und  entsliphen  ist  selbstverständlich  nichts  anderes 
als  ungenaue  Schreibung  für  entslüpfen.  Ferner  aber  fügt  sich  Z.  12  mit  dem 
konsekutiven  daz  besser  an  das  Vorhergehende  an  als  mit  dem  und  der  Lam- 
bacher  Hs.,  während  Z.  10  das  Umgekehrte  der  Fall  ist.  Die  drei  Wörter  pawsen 
'bauschen',  d.  i.  Aufblähen  (des  Mundes  oder  des  Leibes?),  nyphen  und  snyphen 
sind  wohl  substantivische  Infinitive,  abhängig  von  schift,  d.  i.  schiftet  'austeilt'. 
Endlich  fügt  sich  auch  die  alte  starke  Pluralform  lebs,  mhd.  lefse  'Lippen' 
besser  ins  Versmass  als  die  von  Lamb.  eingeführte  zweisilbige  schwache. 

Str.  3,  11  scheint  mir  gleichfalls  die  Windsheimer  Lesart  mit  ihrem  gen 
statt  gent  besser:  der  Infinitiv  ist  noch  abhängig  von  dem  vorhergehenden  so 
well  wir. 

Ebenso  gefältt  mir  4,  6  die  Lesart  der  Windsheimer  Hs.  sowohl  des  Sinnes 
wie  auch  des  Metrums  wegen  besser  —  nur  ist  der  für  den  veraltenden  Genitiv 
des  eingesetzte  Akk.  daz  sicher  eine  Neuerung  des  Schreibers. 

Str.  4,  11  ist  vielleicht  die  richtige  Lesung  herzustellen  durch  Aufnahme  des 
Artikels  den  aus  Windsh.  und  der  Konjunktion  auch  aus  Lamb. 

und  auch  den  külen  wein 

ist  entschieden  der  elften  Zeile  der  übrigen  Strophen  metrisch  am  ähnlichsten. 

Dagegen  scheint  mir  2,  6  Windsh.  abgeändert  zu  haben:  es  hat  hier  die 
fränkische  Überlieferung  das  mitteldeutsch  ausschliesslich  übliche  Wort  backen 
für  das  ihr  ungewöhnliche  oberdeutsche  wangen  eingesetzt,  wogegen  mir  freilich 
umgekehrt  das  sam  in  Windsh.  ursprünglicher  vorkommt  als  das  als  in  Lamb. 

Str.  4,  7/8  sind  mir  so,  wie  sämtliche  Hss.  überliefern,  unverständlich,  und 
es  ist  vielleicht,  wenn  auch  gegen  alle  Handschriften,  mit  Simrock  flense  und 
gense  umzustellen.  Das  ein  die  flense  der  Windsheimer  Hs.  dürfte  dann 
wohl  ein  früher  Beleg  für  die  heute  in  und  um  Würzburg,  Rothenburg  o.  Taub.  usw. 
übliche  Ausdrucksweise  sein  nei  n  Mund  '(hinein)  in  den  Mund', 


^^  Gebhardt-Oechsler:    Die  Windsheimer  Handschrift. 

Denn  so  viel  ist  sicher:  unsere  Niederschrift  ist  fränkisch.  Dafür  zeugen 
ausser  dem  Fundort  und  dem  Wasserzeichen  (vgl.  oben  S.  49)  sprachlich  das 
Nebeneinander  von  ie  und  i  für  mhd.  ie,  z.  B.  Tenor  i  über  gegen  lieben  1,  i, 
schib  wir  4,  r,  zyh  3,  4,  hy  4,  5  neben  hie  4,  4  und  die  "Wiedergabe  von  mhd. 
uo  durch  einfaches  u,  von  üe  durch  einfaches  ü,  z.B.  guten  1,  i4,  guter  2,  a, 
o-uts    Tenor  ?;    külen   4,  n,    müßen  Tenor  e,    sowie    das    ö    in    wolle,     wöll 


7. 


Auch  dasvnßgenossenl,7  scheint  mir  die  fränkische  Gestalt  des  Possessivums 
zu  enthalten^). 

Sprachlich  wäre  noch  zu  bemerken,  was  die  früheren  Herausgeber  übersehen 
zu  haben  scheinen,  dass  2,  6  der  Dichter  wohl  noch  sprach  pfift,  was  der  Reim 
erfordert  und  wie  es  die  alemannische  Mundart  der  Berliner  Hs.  auch  bietet -;. 
A.US  mhd.  phifet  war  zunächst  durch  oberdeutsche  Synkope  pfift  geworden,  und 
vor  der  Konsonantenverbindung  ft  war  i  zu  i  verkürzt,  also  nicht  diphthongiert 
worden.     Erst  die  spätere  Überlieferung    hat    dann  das  analogische  ei   eingeführt. 

Sollte  etwa  die  Rasur  der  letzten  Note  über  dem  Worte  willekumen  —  vgl. 
oben  S.  50  —  anzeigen,  dass  der  Schreiber  der  Windsheimer  Hs.  die  Lautgruppe 
kumen  noch  nach  mhd.  Weise  mit  'Verschleifung'  als  eine  Silbe  empfand? 

Was  noch  bezüglich  der  Textgestalt  das  Verhältnis  der  Windsheimer  zu  den 
übrigen  Handschriften  anlangt,  so  scheint  mir  der  Windsheimer  Text  am  nächsten 
zu  stehen  dem  Bruchstück  des  14.  Jahrhunderts,  das  aus  dem  Besitze  des  Frei- 
singer Antiquars  Motzler  stammte  und  in  Cgm.  715  eingeklebt  ist.  Auch  dieses 
liest  1,  T  vnß  genossen.  Der  vermeintliche  schwache  Akkus,  vns  allen  der 
Windsh.  Hs.  2,  s  geht  vielleicht  auf  eine  Vorlage  zurück,  die  gleich  dem  Frei- 
singer Bruchstück  las:  vns  al  an  trift.  Endlich  teilt  Windsh.  mit  Preis,  die 
Lesart  Tenors:  schenck  vns  ein  guts  trüncklein  ein,  wo  die  früheren 
Herausgeber  nach  der  Lambacher  und,  soweit  der  gerade  hier  arg  beschädigte 
Zustand  erkennen  lässt,  auch  der  Tegernseer  Handschrift  lesen:  schenckh  vns 
ein  /  ein  guetes  trunckchelein. 

Dagegen  liest  allerdings  das  Freisinger  Bruchstück  in  Tenor  e  mit  der 
Tegernsee -Münchener  Handschrift  ir  ....  müesset,  während  die  Lambach- 
Wiener  Ir  .  .  .  müesset  aus  wir  .  .  .  müessen  korrigiert  hat. 

Fassen  wir  das  Ergebnis  dieser  textlich -sprachlichen  Anmerkungen 
zusammen,  so  scheint  mir  der  Windsheimer  Text  trotz  seines  geringsten 
Alters  dennoch  an  allen  Stellen,  mit  einziger  Ausnahme  von  Strophe  2 
Zeile  6,  den  Vorzug  vor  den  anderen  Fassungen  zu  verdienen. 

Erlangen. 


1)  Paul,  Mhd.  Gramm.,  §  151  Anm. 

2)  Sonst  konnte  Boltes  Textabdruck  nach  dieser  Handschrift   mit   ihrer   meist  sehr 
sorglos  entstellten  Textgestaltung  nichts  erbringen. 


Carstens:  Volksglauben  und  Volksmeinungen  aus  Schleswig-Holstein.  55 


Volksglauben  und  Volksmeinungen  aus  Schleswig- 
Holstein. 

Von  Heinrich  Carstens  f. 

(Vgl.  oben  20,  382.  23,  277.^ 


8.  Haus  und  Herd. 

1.  AVer  im  Alter  anfängt,  ein  Haus  zu  bauen,  niuss  bald  sterben  (Gegend 
von  Husum).  —  2.  Von  einem  Bauplatz  muss  man  zuerst  die  Fruchterde  ent- 
fernen, bevor  man  ein  Haus  darauf  baut  (Nindorf  b.  Hohenwestedt).  —  3.  In  die 
neue  Wohnung  wird  zuerst  Salz  und  Brot  getragen  (allgemein).  —  4.  Kommt  ein 
Kind  zum  ersten  Male  in  ein  Haus,  so  muss  man  ihm  ein  Geschenk,  etwa  ein 
Stück  Brot  oder  Backwerk  geben  (Peddring  in  Dithm.).  —  5.  Bei  jedem  Besuch  in 
einem  Hause  muss  man  sich  nach  erhaltener  Aufforderung  setzen;  sonst  nimmt 
man  den  Kindern  des  Hauses  die  Ruhe  fort  (Süderstapel  in  Stapel  hol  m).  In 
Dithmarschen  heisst  es:  Setzt  man  sich  nach  erhaltener  Aufforderung  nicht,  so 
nimmt  man  dem  Hause  die  Ruhe  fort.  —  6.  Wird  zu  Möbeln  'windbraken'  Holz, 
d.  i.  Holz  vom  Winde  abgebrochen,  verarbeitet,  so  knacken  diese  (Drage  in 
Stapelholm).  —  7.  Wenn  die  Uhr  schlägt,  darf  man  den  Mund  nicht  verziehen, 
da  der  dann  so  stehen  bleibt  (Dahrenwurth  bei  Lunden).  —  8.  Ein  Funke  am 
Licht  bedeutet  für  die  nächste  Zeit  einen  Brief  (Dithm.).  —  9.  Hat  das  Licht 
einen  hellen  Kopf,  so  kommt  Besuch  (Norderdithra.).  —  10.  Wenn  die  Lampe 
flackert,  gibt  es  einen  Brief  (Kellinghusen  a.  d.  Stör).  —  11.  Wenn  bei  einem 
Zündholz  zwei  Mann  die  Pfeife  anzünden  können,  so  leben  sie  noch  ein  Jahr  zu- 
sammen (Dithm.).  —  12.  Die  Pfeife  darf  man  nicht  bei  einem  Licht  anzünden 
(Dithm.).  —  lo.  Wenn  ein  Messer  niederfällt  und  senkrecht  im  Fussboden  stecken 
bleibt,  so  gibt  es  Besuch  (Kuden  bei  Burg).  —  14.  Fallen  beim  Öffnen  der  Ofentür 
Kohlen  aus  dem  Ofen  und  rauchen,  so  kommt  Herrenbesuch  (Angeln).  —  lö.  Eine 
Bettstelle  muss  mit  dem  Fussende  nach  der  Tür  hin  stehen  (Lübeck).  —  16.  Stets 
muss  man  sich  rücklings  ins  Bett  legen  (Angeln).  —  17.  Fasst  man  einen 
Schlafenden,  der  im  Schlafe  spricht,  an  die  grosse  Zehe,  so  gibt  er  auf  jede  an 
ihn  gerichtete  Frage  Antwort  (Schwienhusen  bei  Delve).  —  18.  Wenn  das  Schüssel- 
wasser (Wasser  zum  Schüssel-aufwaschen)  kocht,  ist  eine  heimliche  Braut  im 
Hause  (Dithmarschen). 

9.   Arbeit  und  Mahlzeit. 

1.  Das  angeschnittene  Brotende  darf  nicht  nach  dem  Fenster  und  nicht  nach 
der  Tür  hinzeigen;  dann  geht  die  Nahrung  (der  Segen)  fort  (Osdorf  bei  Gettorf 
im  Dänischenwohld).  —  2.  Der  Knust  darf  nicht  aufgegessen  werden,  bevor  ein 
neues  Brot  wieder  im  Hause  ist  (Osdorf  im  Dänischenwohld).  —  3.  Der  Knust 
darf  nicht  weggegeben  werden  (Feddring  in  Dithm.).  —  4.  En  ölen  Knust  holt 
Hus  (Schütze,  Holsteinisches  Idiotikon  2,  309).  —  5.  Den  ersten  Knust  vom  Brote 


5(5  Carstens: 

nennt  man  Tachknust,  den  letzten  Brummknust  (Drage  in  Stapelholm).  —  6.  Ein 
Brot  darf  man  nicht  auf  den  Rücken  legen  (Osdorf).  —  7.  Ist  im  Brote  ein  Loch, 
so  hat  der  Bäcker  seine  'Seele'  da  hinein  gebacken  (allgemein).  —  8.  Auf  das 
Brot  macht  man  ein  Kreuz  (Dithm.).  —  9.  Beim  Ansäuern  muss  man  drei  Kreuze, 
mindestens  doch  ein  Kreuz  auf  den  Teig  machen;  sonst  kommen  die  Hexen 
dabei  (Dithm.,  Stapelholm).  —  10.  Ist  das  Brot  an  der  Seite  gerissen,  so  gibt  es 
Arbeit  (Sehestedt  in  Südschleswig).  —  11.  Ist  das  Weissbrot  an  der  Seite  aus- 
gelaufen, so  werden  Gäste  kommen  und  mit  davon  essen  (Schwienhusen  bei  Delve 
in  Dithm.).  —  12.  Hat  das  Brot  einen  Mund,  so  werden  Gäste  mit  davon  essen 
(Feddring  in  Dithm.).  —  13.  Sobald  das  Brot  in  den  Ofen  geschoben,  muss  man 
den  Tisch,  worauf  es  gelegen,  rasch  rein  waschen  (Feddring),  —  14.  Ist  das 
Brot  in  den  Ofen  geschoben,  so  muss  man  laut  aufjauchzen,  in  die  Hände 
klatschen  und  sprechen:  'Nu  lach,  Kathrin!'  Dann  gerät  es  (Dahrenwurth  bei 
Lunden),  —  15.  Ist  das  Brot  in  den  Ofen  geschoben,  so  spreche  man:  'Uns 
Härgott  segn'  dat  Brot  in'n  Ab'nd'  (Ofen).     Oder: 

„Dat  Brot  is  in'n  Ab'nd, 
Uns  Härgott  is  dar  bab'n: 
ün  all,  de  dar  vun  ät, 
Dat  de  eni  nicht  vergät." 

(Osdorf  bei  Gettorf  im  Dänischenwohld)  —  16.  Die  Brotkrumen  vom  Tische  darf 
man  nicht  an  die  Erde  schütten  (Lunden).  —  17.  "Wem  die  Zähne  weitläufig 
stehen,  muss  sein  Brot  auch  weitläufig  (d.  i.  weit  in  der  Fremde)  suchen  (Drage 
in  Stapelholm).  —  18.  Kommt  während  des  Butterns  jemand  dazu  und  sagt:  'Dat 
is  en  schön  Vatt  Melk'  oder:  'Das  is  en  schön  Stück  Botter',  so  muss  man  ihm 
gleich  erwidern:  'W^enn  din  grot  Muul  ni  weer,  so  weer  et  noch  beeter'.  Unter- 
lässt  man  dies,  so  läuft  man  Gefahr,  dass  die  Butter  überrufen  wird.  Man  buttere 
dann,  so  lange  man  will,  die  Butter  schäumt  und  stinkt,  oder  gibt  weniger,  als 
sonst  (Schütze  1,  144).  —  19.  Kann  man  nicht  buttern,  so  muss  man  'raden'; 
hilft  das  nicht,  so  —  verrichte  man  seine  Notdurft  ins  Butterfass  und  werfe  alles 
durcheinandergerührt  in  die  Schweinedranktonne  (Schütze  2,  144.  3,  269).  — 
20.  Die  Butter  darf  man  nicht  übermässig  loben  (överropen);  sie  gedeiht  nicht 
(Schütze  3,  306).  —  21.  Man  stelle  das  Butterfass  nicht  unter  einen  Balken 
(Lunden).  —  22.  Auf  der  Stelle,  wo  das  Butterfass  stehen  soll,  mache  man  ein 
Kreuz  (Drage  in  Stapelholm).  —  23.  Man  lege  unter  das  Butterfass,  wenn  man 
nicht  abbuttern  kann,  einen  Sargnagel  (Feddringen  in  Dithm.).  —  24.  Ist  das 
Butterfass  behext,  so  fahre  man  mit  einer  glühenden  Stange  in  dasselbe;  dann 
brennt  man  die  Hexe  (Drage).  —  25.  Um  die  Butter  vor  dem  Behexen  zu  schützen, 
binde  man  einen  Zwirnsfaden,  und  zwar  unter  dem  Eisenband,  um  die  'Karrn'. 
Die  Hexen  zählen  jedesmal  die  Bänder,  und  wenn  dann  ein  Band  mehr  um  das 
Fass    ist,     so    haben     sie    die    Gewalt     über    dasselbe     verloren     (Lunden).     — 

26.  Das  Dreschen    des   Korns  am  Sonnabend   bringt  Segen    (Schütze  2,  241).    — 

27.  Am  Weihnachtsabend  muss  gedroschen  werden  und  dem  Vieh,  damit  es  fürs 
folgende  Jahr  gedeihe,  von  dem  gedroschenen  Stroh  etwas  gegeben  w^erden 
(Schütze  2,  241).  —  28.  Beim  Bierbrauen  muss  man  ein  Kreuz  von  Holz  über 
den  Gärkühel  anbringen  und  auf  jedes  Ende  etwas  Salz  legen,  so  kann  keiner 
den  Gest  rauben  und  das  Bier  kann  nicht  verrufen  werden  (Schütze  2,  29).  — 
29.  Wenn  gebraut  werden  soll,  so  stellen  Brauer  einen  Querbaum  in  ihre  Tür, 
damit  niemand,  der  sich  unrein  weiss,  ins  Haus  laufe  und  den  Brau  verderbe 
(Schütze  4,  43).    —    30.  Was  an    'drögen  Dagen',    nämlich  am  Mittwoch,    Freitag 


Volksglauben  und  Volksmeinungen  aus  Schleswig-Holstein.  57 

und  Sonnabend  gesät  oder  gepflanzt  wird,  gedeihet  nicht  (Schütze  2,  201).  — 
31.  Was  an  einem  hochheiligen  Tage,  als  am  Stillfreitag,  am  1.  Ostertag  usw. 
gesät  oder  gepflanzt  wird,  gedeiht  nicht  (Lehe  bei  Lunden).  —  32.  Was  zwischen 
Weihnacht  und  heil,  drei   König  gesponnen  wird,    missrät    (Schütze  4,  171).     — 

33.  Gesponnen  und  gewaschen    darf   in    den  Zwölften  nicht  werden    (Dithm.).    — 

34.  Was  abends  nach  Uhr  12  gesponnen  wird,  gerät  nicht  (Wilster  Marsch. 
Schütze  4,  171).  —  35.  Wenn  eine  Näherin  sich  beim  Nähen  eines  Kleidungs- 
stücks in  die  Finger  sticht,  so  dass  das  Blut  danach  fliesst,  so  wird  diejenige, 
die  das  Kleid  tragen  wird,  Glück  darin  haben  (Lunden).  —  36.  Wenn  ein  Mädchen 
sich  beim  Nähen  ihres  Hemdes  sticht,  so  dass  Blut  fliesst,  so  wird  sie  in  dem 
Hemde  geküsst  werden  (Schwienhusen  bei  Delve).  —  37.  Beim  Einschlachten 
darf  man  keinen  wunden  Pinger  haben;  dann  verdirbt  das  Fleisch  (Süderstapel 
in  Stapelholm).  —  38.  Beim  Eieressen  muss  man  ja  die  Schalen  entzweischlagen, 
damit  keine  Hexen  darin  wohnen  (Schütze  3,  194).  —  39.  Saftausdrücken  darf 
nur  eine  gesunde  Person;  sonst  kann  der  Saft  nicht  aufbewahrt  werden  (Süder- 
stapel in  Stapelholm).  —  40.  Den  Kehricht  darf  man  nicht  über  die  TürschvAclle 
hinwegfegen;  sonst  fegt  man  das  Brot  hinaus  (Süderstapel;  Stadt  Schleswig).  — 
41.  Beim  Ausfegen  darf  man  niemanden  anfegen,  da  man  der  Person  dann  das 
Glück  wegfegt  (Marne  in  Süderdithm.).  —  42.  Beim  Lichtziehen  muss  gelogen 
werden  (Schütze  3,  33;  Heimat  12,  67).  —  43.  Wer  beim  Bettzeugrecken  und 
Zusammenlegen  desselben  die  Mitte  nicht  treffen  kann,  heiratet  einen  Witmann 
(Stadt  Schleswig).  —  44.  Wenn  es  beim  Zeugrecken  und  Zusammenlegen  genau 
einläuft,  d.  h.  die  Enden  genau  zusammentreffen,  so  heiratet  die  betreffende  Person 
einen  Witwer  (Stadt  Schleswig).  —  45.  Dem  Fischer  darf  man,  wenn  er  auf  den 
Fang  ausfährt,  kein  Glück  wünschen  (Delve  in  Dithm.).  —  46.  Wer  beim  Essen 
des  Federviehs  den  Brustknochen  bekömmt,  fasst  das  eine  Ende  an,  während  sein 
Tischnachbar  das  andere  anfasst,  und  indem  nun  beide  sich  etwas  wünschen, 
zieht  ein  jeder  an  seinem  Ende;  derjenige  nun,  der,  wenn  es  auseinanderreisst, 
das  grösste  Ende  erhält,  dessen  Wunsch  geht  in  Erfüllung  (Kellinghusen  a.  d.  Stör). 

—  47.  Liegt  ein  Messer  auf  dem  Rücken,  so  gibt  es  Nahrungssorgen  oder  einen 
scharfen  Tag  (Osdorf  bei  Gettorf  im  Dänischenwohld).  —  4<S.  Liegt  ein  Messer 
auf  dem  Rücken,  so  gibt  es  Leibschmerzen  (Schwienhusen  bei  Delve).  — 
4'.t.  Liegt  ein  Messer  auf  dem  Rücken,  so  reiten  die  Hexen  darauf.  Daher  auch 
die  Redensart:  'Dat  Meß  is  so  stuv,  dar  kann  en  old  Wief  mit'n  Bieten  op  riden 
na  "n  Blocksbarg'.    Oder:  'Dar  kann  en  Hex  op  na  'n  Blocksbarg  rieden'  (Lunden). 

—  50.  Liegt  ein  Brotmesser  auf  dem  Rücken,  so  geht  die  Nahrung  fort  (Lunden). 

—  51.  Liegt  ein  Messer  auf  dem  Rücken,  so  schneidet  es  den  lieben  Herrgott, 
oder  sticht  ihm  die  Augen  aus  (Wesselburen).  —  52.  Liegt  ein  Messer  auf  dem 
Rücken,  so  gibt  es  Streit  (Kellinghusen  a.  d.  Stör).  —  53.  Eine  Harke  darf  man 
nicht  mit  den  Zinken  nach  oben  tragen;  sie  sticht  dann  dem  Herrgott  die  Augen 
aus  (Drage  in  Stapelholm).  —  54.  Was  ein  Kind  in  der  Schule  auswendig  gelernt 
hat,  darf  es  nicht  im  Freien  laut  aufsagen,  da  es  dann  'hartlehrig'  wird  (Dahren- 
wurth  bei  Lunden).  —  55.  Buttermilch  trinken  macht  träge:  Wenn  de  Karrnmelk 
kümmt,  so  nimmt  de  Lenz  Lüde  an  (Schütze  3,  26).  —  56.  Wer  im  Dunkeln 
einen  Dienst  antritt,  hält  nicht  lange  aus  (Dithm.).  —  57.  Ist  man  bei  fremden 
Leuten  und  verschüttet  schon  den  ersten  Tag  Salz,  so  gibt  es  Streit  (Feddringen 
in  Dithm.,  Angeln).  —  58.  Wer  Salz  verschüttet,  muss  soviel  mal  an  der  Himmelstür 
vorbeigehen  und  anklopfen,  als  er  Salzkörner  verschüttet  hat,  bevor  er  hinein- 
kommt (Dahrenwurth  bei  Lunden).  —  59.  Wer  falsch  gewogen  oder  gemessen 
hat,  muss  ewig  stehen  und  wägen  und  messen  (Dithm.).  —  60.  Mit  dem  ümrühr- 


^g  Carstens: 

löffel  darf  man  nicht  auf  den  Grapenrand  schlagen,  da  dann  das  Essen  anbrennt 
(Süderstapel  in  Stapelholm).  —  61.  Mit  einem  Messer  darf  man  kein  Getränk  um- 
rühren; dann  bekömmt  man  Leibschmerzen  (Feddringen).  —  62.  In  einer  Tee- 
gesellschaft muss  man  erst  Zucker  und  dann  Rahm  nehmen;  nicht  umgekehrt 
(Lunden.  Angeln).  —  63.  Wenn  Teekraut  auf  der  Tasse  schwimmt,  so  kömmt 
Besuch.  Ist  das  Kraut  hart,  so  ist  der  Kommende  kein  guter;  wenn  weich,  dann 
ist  er  gut.  Oder:  Ist  der  Teestengel  hart,  so  ist  der  Kommende  eine  männliche 
Person;  ist  er  weich,  so  eine  weibliche  (Dithm).  —  64.  Beim  Flachsbrechen  muss 
der  letzte  Flachs  verbrennen  (Feddringen).  —  65.  Der  Leinsame  muss  aus  einer 
Schürze  gesät  werden;  und  ist  man  mit  dem  Säen  fertig,  so  muss  man  die  Schürze 
hoch  in  die  Luft  werfen;  dann  wird  der  Flachs  recht  lang  (Schwienhusen  bei 
Delve).  —  66.  Kartoffeln  müssen  bei  zunehmendem  Mond  gepCanzt  werden;  bei 
abnehmendem  Mond  gepflanzt,  gedeihen  sie  nicht  (Kellinghusen  a.  d.  Stör).  — 
67.  Was  am  Osterabend  gesät  oder  gepflanzt  wird,  gedeiht  nicht  (Lehe  bei 
Lunden).  —  6s.  Das  Erste  und  Letzte,  was  ein  Mensch  sät  oder  pflanzt,  gedeiht 
am  besten  (Feddring  in  Dithm.).  —  69.  Kohlsamen  muss  man  am  Abend  des 
25.  März  (lev  Fruen,  unse  leven  Fruen)  nach  Sonnenuntergang  säen;  der  erfriert 
nämlich  nicht  (Dithm.).  —  70.  Sollen  die  Vögel  die  gelegten  Erbsen  nicht  ver- 
zehren, so  nehme  man  zwei  in  den  Mund  und  lege  die  eine  zuerst  an  das  eine 
Ende  und  die  andere  zuletzt  an  das  andere  Ende  des  Beets  (Lehe  bei  Lunden).  — 

71.  In  der  Galluswoche  (16.  Oktober)  darf  man  keinen  Roggen  säen  (Dithm.).   — 

72.  St.  Vitus  (15.  Juni)  darf  man  keine  Gerste  säen;  denn:  Vietsgast  ist  Schiet- 
gast I  (St.  Vitusgerste  taugt  nichts.  —  Feddringen).  —  TS.  St.  Urbans  (25.  Mai) 
darf  man  keinen  Buchweizen  säen  (Dithm.).  —  74.  Herbstrüben  müssen  St.  Mar- 
gareten (lo.  Juli)  gesät  werden;  denn: 

Wer  Harströben  will  geneten, 
De  mut  se  sain  St.  Magrethen 

(Feddringen). 

10.  Zeiten. 

1.  Am  Neujahrstage  darf  man  kein  Geld  ausgeben;  sonst  hat  man  das  ganze 
Jahr  hindurch  nichts  (Gegend  von  Breklum,  Nordfriesland).  —  2.  Lichtmess  muss 
man  fertig  sein  mit  dem  Dreschen;  dann  heisst  es: 

Dör  tosnappt 

Un  to  Bett  stappt. 

Licht  wird  dann  nicht  mehr  angezündet;  und  weil  man  das  Licht  'missen'  muss, 
ist  der  Tag  'Lichtmess'  genannt  (Drage  in  Stapelholm). 

3.  Lichtmeß  is  't  heten: 

schast  dat  Fuer  utgeten, 
de  Dör  tosnappen 
un  int  Bett  stappen 

(Klaus  Groth,  Gesammelte  Werke  3,  119  in  der  Erzählung  'Witen  Slachters').  — 
4.  Zu  Lichtmess  legt  man  einen  Büschel  Heu  auf  den  Düngerberg;  weht  dieser  fort, 
so  ist  das  ein  gutes  Zeichen;  bleibt  er  liegen,  so  nehme  man  ihn  wieder  mit 
hinein,  da  man  ihn  noch  gebrauchen  muss  (Drage  in  Stapelholm;  Lehe  bei  Lunden). 
—  5.  Lichtmess  helle  Luft  bringt  kein  gutes  Jahr  (Feddringen).  —  6.  Weht  es 
St.  Blasius  (3.  Febr.),  so  gibt  es  im  Jahr  viel  AVind  (Drage). 


Volksglauben  und  Volksmeinungen  aus  Schleswig-Holstein.  59 

7.  Wat  't  Aschermittwoch  deit, 

so  de  ganze  Fastentid  hendör  steit 

(Drage).  —  8.  Fass'lab'nd  kamt  en  bitten  Steen  in'e  Eer  (Dithra.).  —  9.  Fass'lab'nd 
fallt  en  bitten  Steen  in't  Water  (Hansen,  Charakterbilder  S.  II).  —  10.  St.  Peter 
sinkt  en  heeten  Steen  in't  Water  (Schütze,  Holsteinisches  Idiotikon  3,  '207).  — 
11.  Friert  es  Matthiasnacht,  so  friert  es  noch  40  Nächte  (Dithm.).  —  12.  Am 
Ostermorgen  tanzt  die  Sonne;  auch  ist  ein  Lamm  in  der  Sonne  zu  sehen  (Dahren- 
wurth  bei  Lunden).  —  13.  Am  Osterabend  werfen  die  Mädchen  Eierschalen  vor 
die  Tür;  den  Beruf  des  Mannes,  der  dann  zuerst  vorübergeht,  wird  der  Zukünftige 
haben  (Gegend  von  Husum).  —  14.  Woher  am  Ostermorgen  der  Wind  weht, 
daher  weht  er  sechs  Wochen  (Bergewöhrden  bei  Delve).  —  15.  Wenn  es  in  der  Nacht 
vom  11.  auf  den  12.  Mai  friert,  so  friert  es  noch  40  Nächte  (Lunden).  —  16.  Regnet  es 
am  Siebenschläfertag  (27.  Juni),  so  regnet  es  sieben  Wochen  (Dithm.)  —  17.  Regnet 
es  St.  Margareten  (13.  Juli),  so  werden  die  Nüsse  taub.  Magreth  pisst  in'e  Not 
(Schütze  3,  81).  —  18.  Wenns  am  Margaretentag  regnet,  so  regnet  es  vier 
Wochen  (Schütze  3,  81).  —  19.  Am  14.  Juli  ist  Judas  Ischariots  Geburtstag. 
Wer  an  diesem  Tage  geboren  ist,  dem  wirds  nicht  gut  gehen  (Kleinsee  bei 
Bergenhusen  in  Stapelholm).  —  20.  Nach  Jakobi  (25.  Juli)  muss  man  nach  Osten 
sehen,  ob  dort  eine  Bank  (Wolke)  sitzt;  ist  das  der  Fall,  so  wird  es  am  andern 
Tage  regnen  (Feddringen).  —  21.  Regnet  es  'Peter  Kett'  (I.August),  so  regnet  es 
vier  Wochen  (Dithm).  —  22.  Egidi  (l.Septbr.)  geht  der  Hirsch  'op'n  Brunn',  d.h. 
in  die  Brunst;  regnet  es  dann,  so  regnet  es  vier  Wochen  (Dithm.).  —  23.  Weisse 
Weihnachten,  grüne  Ostern;  grüne  Weihnachten,  weisse  Ostern  (allgemein).  — 
24.  Alle  söben  Jahr  en  Flöhjahr,  alle  söben  Jahr  en  Rupenjahr,  alle  söben  en 
Käver-  (Seve-)Jahr  (Schütze  2,  182). 

11.  Wetter. 

1.  Wenn  der  Kuckuck  lacht,  so  wird  es  regnen  (Dahrenwurth  bei  Lunden).  — 

2.  Wenn  die  Fische  im  Wasser  stark  plätschern,  so  wird  es  regnen    (Dithm.).   — 

3.  Liegt    eine    Harke    auf   dem    Rücken,    so  wird    es    regnen    (Dahrenwurth).    — 

4.  Wenn  die  Enten  im  Wasser  viel  Lärm  machen  und  rufen:  'Natt,  natt',  so  wird 
es  regnen  (Drage  in  Stapelholm).  —  ö.  Ist  das  Feld  mit  Spinngeweben  bedeckt, 
so  wehen  oder  regnen  sie  binnen  drei  Tagen  ab  (Drage).  —  6.  Wenn  der  Wind 
auch  nachts  weht  und  nicht  zu  Bett  geht,  so  wird  es  regnen  (Drage).  —  7.  Wenn 
es  beim  Sonnenschein  regnet,  so  hat  der  Teufel  seine  Grossmutter  auf  der  Bleiche, 
oder  es  kommt  ein  Schneider  in  den  Himmel  (allgemein).  —  8.  Abendrot  makt't 
Well'r  got;  Morgenrot  bringt  Wat'r  in'n  Sod  (Brunnen)  (Dithm.).  —  9.  Abendrot, 
Morgen  god,  Morgenrot  bringt  Water  in'n  Sod  (Schütze,  Holsteinisches  Idiotikon 
4,  159).  —  10.  Wenn  der  Fussboden,  die  Steine,  das  Salz  nass  sind,  so  gibt  es 
Regen  (allgemein).  —  11.  Wenn  die  Hunde  stinken,  wirds  regnen  (allgemein).— 
12.  Frisst  der  Hund  Gras,  so  wird  es  regnen.  —  13.  Wenn  die  Kinder  beim 
Spiel  laut  schreien,  so  wirds  bald  regnen  (Dithm.).  —  14.  Ostwind  mit  Smut  un 
Reg'n,  steit  he  dre  Dag,  steit  ok  näg'n  (neun).  —  15.  Wenn  es-  Freitags  anfängt 
zu  regnen,  so  regnet  es  die  ganze  Woche  (Drage).  —  16.  Wenn  es  unter  der 
Predigt  regnet,  so  regnet  es  die  ganze  Woche  (Lunden).  —  17.  Wenn  die  Schweine 
mit  Stroh  schleppen,  so  wird  es  regnen  (Dithm.).  —  18.  Entstehen  beim  Regen 
Blasen  auf  dem  Wasser,  so  gibt  es  noch  viel  Regen  (Friedrichstadt  a.  d.  Eider).  — 
19.  Wenn  es  zwischen  10  und  11  Uhr  vormittags  regnet,  so  regnet  es  den  ganzen 
Tag  (Dithm.).  —  20.  Wenn  das  Schweinefutter  gärt,  so  wird  es  regnen    (Kelling- 


60  Carstens : 

husen  a.  d.  Stör).  —  21.  Auf  'Rugriep'  (Rauhreif)  folgt  Regen  in  wenig  Tagen 
(Drage).  —  22.  Wenn  mehrere  Frauen  beisammenstehen  (in  der  Nähe  einer  Haus- 
ecke?), so  wird  es  sicher  regnen  (Sehestedt  im  südl.  Schleswig).  —  23.  Liegt  der 
Mond  auf  dem  Rücken,  so  fährt  er  zu  Boot;  liegt  er  schräge  und  zeigt  mit  der 
Spitze  nach  vorne  über,  so  giesst  er  Wasser  aus;  steht  er  steil,  so  ist  er  auf  dem 
Trocknen  (Drage).  —  24.  Ein  Donnerstagsmonat,  d.  i.  ein  Monat,  der  mit  einem 
Donnerstage  beginnt,  ist  vorbedeutend  für  das  Wetter  des  betreffenden  Monats 
(Kellinghusen).  —  25,  Wenn  ein  Butterbrot  mit  der  Butterseite  nach  unten  fällt, 
so  wird  es  regnen  (Dithm.).  —  26.  Krait  de  Hahn  to  Stohl,  so  regnt  dat  morrn 
en  grot'n  Pool.  (Kräht  der  Hahn  auf  der  Stiege,  so  wird  es  am  andern  Tage 
tüchtig  regnen)  (Delve  in  Dithm.).  —  27.  Wenn  der  Hahn  abends  kräht,  so  gibt 
es  Regen  (Kellinghusen).  —  28.  Wenn  der  Hahn  abends  oder  nachts  auf  dem 
Reck  (Stiege)  kräht,  so  ändert  sich  das  Wetter  (Dithm.).  —  29.  Wenn  die  Schwalben 
tief  fliegen,  so  gibt  es  Regen;  wenn  sie  hoch  fliegen,  so  wird  es  schönes  Wetter 
(Dithm.).  —  30.  Wenn  die  Schnecken  umherkriechen  und  Erde  auf  dem  Schwanz 
haben,  so  wird  es  regnen  (allgemein).  —  31.  Wenn  Sonntags  während  der  Predigt 
die  Sonne  auf  die  Kanzel  scheint,  so  wird  es  die  ganze  Woche  gutes  Wetter 
(östl.  Holstein).  —  32.  Wenn  es  Freitags  gutes  Wetter  ist,  so  ist  es  auch  Sonn- 
tags gutes  Wetter,  und  umgekehrt  (Dithm.).  —  33.  Ist  mittags  alles  rein  auf- 
gegessen, so  wird  es  den  andern  Tag  gutes  Wetter  (allgemein).  —  34.  Ostwind 
deutet  auf  eine  trockne  Zeit.  Ostwind  mag  man  gern  haben  bei  der  Bohnenernte 
im  Herbste,  weshalb  man  einen  anhaltenden  Ostwind  auch  'Ostubohnärn'  (Osten- 
bohnenernte) nennt  (Dithm.).  —  35.  Wie  das  Wetter  am  dritten  Tage  nach  dem 
Neumond  ist,  so  bleibt  es  bis  zum  nächsten  Neumond  (Dithm.).  —  36.  Wenn  es 
friert,    so    friert    es    immer  Donnerstags  am  stärksten    (Drage    in  Stapelholm).    — 

37.  Ist  der  Brustknochen  einer  gebratenen  oder  gekochten  Gans  weiss  oder  dunkel, 
so  gibt  es  entweder  einen  heftigen  oder  einen  gelinden  Winter  (Schütze  2,  51).  — 

38.  Wenn  der  Flieder  (Holländer)  stark  blüht,  gibts  einen  strengen  Winter 
(Dithm.).  —  39.  Wenn  eine  Schlange  einen  quackenden  Ton  hören  lässt,  so  gibt 
es  eine  trockne  Zeit  (Dithm.).  —  40.  Wohin  eine  Windhose  (plattd.  Küsel)  geht, 
daher  kommt  nach  drei  Tagen  der  Wind  (Drage).  —  41.  Streifen  in  der  Luft 
verkünden  Wind;  man  nennt  sie  daher  Windstreifen  (allgemein).  —  42.  Wenn 
die  Hühner  stark  schreien,  gibt  es  Wind  (Dithm.).  —  43.  Wenn  die  Katze  niest, 
so  wird  es  schneien  (Stapelholm).  —  44.  Wenn  die  Katze  prustet,  so  wird  es 
morgen  gutes  Wetter  (Schütze  2,  236.  3,  237).  —  45.  Wenn  das  erste  Gewitter 
im  Frühjahr  über  kahle  Bäume  geht,  so  gibt  es  im  Sommer  viele  Gewitter  (Sehe- 
stedt im  südl.  Schleswig).  —  46.  'Lait'  (=  wetterleuchtet)  es  zur  Zeit,  wo  der 
Buchweizen  blüht,  so  wird  dieser  taub  (Stapel holm).  —  47.  Wo  ein  Donnerstein 
(versteinerter  Seeigel)  im  Hause  ist,  schlägt  der  Blitz  nicht  ein.  Vielfach  hat  man 
solche  auf  Blumentöpfen  liegen  (Stapelholm).  —  48.  Beim  Gewitter  legt  man  einen 
Donnerstein  auf  den  Tisch  (Dithm.).  —  49.  Bei  einem  Gewitter  muss  man  fromme 
Lieder  singen,  und  bei  einem  heftigen  Donnerschlag  muss  man  sprechen:  'Help 
Gott  Jesus  Christus!'  (Schütze  2,  58).  —  50.  Ein  Himmelsbrief  im  Hause  schützt 
das  Haus  gegen  Blitzschlag  (Lunden).  —  51.  Man  nimmt  sechs  Zwiebeln,  schneidet 
diese  in  der  Mitte  durch,  höhlt  sie  aus  und  füllt  in  die  Höhlungen  Salz.  Diese 
Zwiebelstücke  stellt  man  nun  in  den  Zwölften  nach  der  Reihe  der  Monate  an 
einen  trocknen  Ort.  Die  Zwiebelstücke,  in  denen  das  Salz  trocken  bleibt,  geben 
die  trocknen  Monate  des  Jahres  an,  während  diejenigen,  in  denen  das  Salz  zur 
Soole  geworden  ist,  die  feuchten  Monate  des  Jahres  erkennen  lassen  (Kleve  in 
Norderdithmarschen).     —     52.    In    den    Zwölften    wird    der    Kalender    gemacht 


Volksglauben  und  Volksmeinungen  aus  Schleswig-Holstein.  61 

(Dithm.)-  —  53.  Sind  die  Kühe  nachts  im  Felde  unruhig,  so  gibt  es  am  nächsten 
Tage  ein  Gewitter  (Dithm.).  —  54.  Wenn  die  Schafe  einander  stossen,  so  wird 
es  anderes  Wetter  (Dithm.).  —  55.  Ein  schmutziger  Storch  deutet  auf  Regen; 
ein  weisser  oder  sauberer  auf  trocknes  Wetter  (allgemein). 

12.  Tiere. 

1.  Ein  Pferd  ist  als  Füllen  neun  Tage  blind;  daher  kann  es  im  Dunkeln  neun 
Schritte  voraus  sehen  (Drage  in  Stapelholm).  —  2.  Wenn  die  Pferde  nicht  ge- 
deihen, so  hole  man  einen  Totenkopf  vom  Kirchhof  und  vergrabe  ihn  im  Pferde- 
stall (Schütze,  Holsteinisches  Idiotikon  3,  201).  —  3.  Halten  die  Pferde  in  der 
Neujahrsnacht  den  Kopf  hoch,  so  kommen  sie  im  nächsten  Jahr  vor  den  Braut- 
wagen, wenn  niedrig,  vor  den  Leichenwagen  (Lunden).  —  4.  Einen  Ziegenbock 
im  Stalle  frei  im  Stalle  umherlaufen  lassen,  schützt  gegen  Krankheit  der  Pferde 
(Peddringen  in  Dithm.).  —  5.  Reitet  man  zu  Markte,  um  ein  Füllen  zu  verkaufen 
und  das  Füllen  will  nicht  von  der  Hofstelle,  so  wird  es  nicht  verkauft  (Feddringen). 
—  6.  Die  Nachgeburt  von  einer  Stute  hängt  man  in  einen  Baum,  da  dann  das 
Pferd  den  Kopf  hoch  tragen  wird  (Schwienhusen  bei  Delve  in  Dithm.).  — 
7.  Ins  Wasser  darf  die  Nachgeburt  nicht  kommen,  da  das  Füllen  dann  später 
ertrinken  wird  (Feddringen).  —  S.  Wird  im  Frühjahr  das  Vieh  auf  die  Weide 
getrieben,  so  lege  man  ein  Beil  auf  die  Stalltürschwelle  und  lasse  das  Vieh  eins 
nach  dem  andern  darüber  hinwegschreiten.  Gut  Gedeihen  bringt  es  dem  Vieh, 
wenn  es  das  Beil  nicht  berührt.  Missgedeihen  aber,  wenn  es  daran  stösst  (Tielen 
und  Drage  in  Stapelholm).  —  9.  Man  bindet  dem  Vieh,  wenn  es  im  Frühjahr  auf 
die  Weide  gebracht  wird,  'Düwelsdreck'  (Assa  foetida)    in  den  Schwanz    (Schütze 

I,  278.  4,  157).  —  10.  Wenn  das  Vieh  auf  die  Weide  gebracht  wird,  reibe  man 
ihm  Salz  zwischen  die  Hörner,  so  kann  es  nicht  verrufen  werden  (Schütze  4,  157).  — 

II.  Sonntags  darf  man  kein  Vieh  auf  die  Weide  bringen  (Feddringen).  —  12.  Vor 
dem  Austreiben  gab  man  früher  dem  Vieh  einen  gesalzenen  und  in  Teer  ge- 
tauchten Hering  ein  (Heide).  —  13.  Wird  das  Vieh  auf  die  Weide  gebracht,  so 
legt  man  einen  Besen  vor  die  Stalltür  und  lässt  es  darüber  hinwegschreiten 
(Krempel  bei  Lunden).  —  14.  Bringt  man  das  Vieh  auf  die  Weide  und  man  will 
verhüten,  dass  es  nicht  von  der  Weide  fortlaufe,  so  ziehe  man  es  an  einem 
(neuen?)  Strick  hin,  und  zu  Hause  angekommen,  verstecke  man  diesen  an  einem 
Platz,  wo  weder  Sonne  und  Mond  scheint;  dann  kommt  das  Vieh  nicht  nach 
Haus  (Preil  bei  Lunden).  —  15.  Beim  Austreiben  der  Kühe  muss  man  den  Strick 
unter  dem  'Heck'  (Tor)  vergraben;  dann  läuft  das  Vieh  nicht  aus  (Lehe  bei 
Lunden).  —  16.  Wenn  eine  Kuh  zum  ersten  Male  gekalbt  hat,  so  muss  eine  reine 
Jungfrau  dreimal  unter  ihr  durchkriechen,  und  zwar  stillschweigend,  so  steht  sie 
gut  (Schütze  2,  313).  —  17.  Auch  überstreiche  man  die  Kuh  dreimal  mit  einer 
Handvoll  Futter  schweigend  vom  Nacken  bis  an  den  Schwanz  und  lasse  es  hinter 
ihr  niederfallen  (Schütze  2,  313).  —  18.  Einer  kalbenden  Kuh  hänge  man  einen 
Himmelsbrief  um  (Dahrenwurth  bei  Lunden).  —  19.  Hat  eine  Kuh  gekalbt,  so 
gebe  man  ihr  eine  Sechlingsschale ^)  voll  Branntwein  mit  Brotkrume  (Drage  in 
Stapelholm).  —  20.  Einer  Kuh  gebe  man  nach  dem  Kalben  drei  'Schrap'^)  vom 
Teekessel  ein  (Dahrenwurth).   —  21.  Will  eine  Kuh  die  Nachgeburt  nicht  lassen, 


1)  Eine  Schale,  die  früher  einen  Sechsling  (S'^  Pfg.  an  \Vert~  kostete. 

2)  Soviel  schwarzer  Kost,  als  man  in  drei  Malen  mit  einem  Messer  von  den  schwarzen 
Stellen  des  Teekessels  abschaben  kann. 


62  Carsten.s:   Volkg'lauben  und  Volksmeinungen  aus  Schleswig-Holstein. 

so  stehle  man  drei  Kohlbüschel  und  gebe  sie  der  Kuh  ein  (Schwienhusen  bei 
j)glye).  —  22.  Sobald  eine  Kuh  gekalbt  hat  und  die  Nachgeburt  noch  nicht  fort 
ist,  so  stelle  man  die  Mistforke  hinter  das  Tier  verkehrt  um  (Wesselburen. 
Christiansholm  b.  Hohn  im  südl.  Schleswig).  —  23.  Den  Hamen  hängt  man  hoch 
in  einen  Baum,  damit  kein  Hund  dabei  kommen  kann;  sonst  hat  das  Vieh  kein 
Gedeihen  (Dithm.;  vgl.  Schütze  2,  96).  —  24.  Beim  Viehstapel  ist  die  Zahl  13 
eine  ünglückszahl.  7,  14,  überhaupt  alle  Zahlen,  die  durch  7  teilbar,  sind  glück- 
bringend für  den  Viehstapel  (Drage).  —  25.  Einen  Wiepeldorn^)  an  dem  Stall- 
türständer befestigen,  schützt  das  Vieh  gegen  Krankheit  (Nindorf  bei  Hohen- 
westedt).  —  26.  Wenn  eine  Kuh  auf  das  Fuel^)  wässert,  so  tut  sie  es  jedesmal, 
wenn  man  gerade  melken  will  (Lehe  bei  Lunden).  —  27.  Gegen  das  Behexen  des 
Viehes  muss  man  in  einen  Balkenständer  Teufelsdreck  stecken  (Kellinghusen).  — 

28.  Will  eine  Kuh  nicht  rindern,  so  gebe  man  ihr  einen  Schrapstuten  (den  letzten 
Teig    aus    dem    Backtrog);    am    dritten    Tage    rindert    sie    (Schütze   2,    313).     — 

29.  Kauft  man  Kühe  (Schweine,  Schafe)  von  jemand,  dem  man  nicht  recht  traut, 
so  gebe  man  ihm  unvermerkt  einen  Schilling  über  den  bedungenen  Preis,  so  kann 
er  das  Gedeihen  nicht  hindern.  Tut  er  es  dennoch,  so  gebe  man  ihm  einen 
Verweis;  sagt  er  dann:  'Gah  man  hen,  et  gift  sik',  so  hat  man  Hoffnung,  dass  das 
Vieh  gedeihe.  Hilft  auch  das  nicht,  so  muss  man  das  Vieh  'raden'  lassen  oder 
es  verkaufen;  denn  sobald  das  Vieh  in  die  dritte  Hand  kommt,  so  kann  ihm  der 
Beschwörer  nichts  anhaben  (Schütze  2,  313.  3,  269).  —  30.  Gibt  man  der  Kuh 
geschnittenes  Putter,  so  spucke  man  dreimal  ins  Gefäss,  woraus  sie  fressen  soll 
(Schütze  2,  313).  —  31.  Will  eine  Quie  beim  Melken  nicht  stehen,  so  lege  man  ihr 
eine  Männerhose  hinten  auf  den  Rücken,  aufs  Kreuz;  oder  man  binde  ein  Strumpf- 
band vom  rechten  Bein  um  das  linke  Hörn  des  Tiers  (oder  umgekehrt);  oder 
aber  man  nehme  dreimal  den  Milcheimer  um  den  Leib  des  Tieres  herum 
(Christiansholm  bei  Hohn  in  Südschleswig.  Dithmarschen).  —  32.  In  den  Zwölften 
muss  man  das  Vieh  mit  Asche  einstreuen,  dann  bekommt  es  keine  Läuse  (Drage). 
—  33.  Wenn  sieben  Stück  Vieh  alle  nach  einer  Seite  hin  liegen,  so  kommt 
Besuch  (Neuenkirchen).  —  34.  Im  Stall  gerade  da,  wo  das  Vieh  seinen  Stand 
hat,  vergrabe  man  Teufelsdreck;  das  bringt  dem  Vieh  Gedeihen  (Dithm.).  — 
35.  Tröpfelt  beim  Melken  Milch  an  die  Erde,  so  werden  die  Kühe  'göst'  (trocken) 
(Dithm.).  —  30.  Ein  Quiekalb  ist  ein  Eckständer  im  Hause  (Lehe  bei  Lunden).  — 
37.  Einem  nüchternen  Kalb  muss  man  in  das  erste  Trinken  ein  Zweipfennigstück 
legen  und  dieses  dann  einem  Bettler  schenken  (Lehe).  —  38.  Wenn  man  mit 
einer  Kuh  zum  Stier  zieht,  so  muss  man  durch  das  eine  Tor  hinauf  auf  die  Hof- 
stelle ziehen,  wo  der  Stier  steht,  und  durch  das  andere  mit  der  Kuh  wieder  fort- 
ziehen; dann  'bullt'  (rindert)  sie  nicht  ab  (Dahrenwurth  bei  Lunden). 


1)  Wiepeldorn  heisst  im  östlichen  Holstein,  auf  dem  Mittelrücken  und  im  Dänischen- 
wohld  die  Heckenrose,  Rosa  canina. 

2)  Fuel,  in  Süderdithmarschen  auch  Heel  -  Nachgeburt. 


Ilfir:    Maltesische  Legenden  von  der  Sibylla.  63 


Maltesische  Legenden  von  der  Sibylla'). 

Von  ßertha  11g. 

1.   Issettisibella  oder  Settusibilla,  die  weise  Herrscherin. 

Diese  Schöne,  Weise  lebte  nach  der  Sünde  Adams  bis  zur  Geburt  Marias, 
also  gerade  4000  Jahre  und  einige  Tage  in  den  zuversichtlichsten  Gedanken  und 
den  ehrgeizigsten  Plänen.  Und  dies  kam  so:  da  von  der  ersten  Tochter  Adams 
und  Evas  an  bis  zur  Geburt  Marias  alle  Mädchen  vom  Versucher  umgarnt  und  zu 
Fall  gebracht  wurden,  so  dass  sie  in  das  ewige  Feuer  kamen,  dachte  die  kluge 
Issettisibella,  dass  der  Sohn  des  Meisters,  der  Mensch  werden  sollte,  allein  in  ihr 
zu  Fleisch  werden  könnte,  die  die  schönste  unter  den  Schönen,  die  weiseste  unter 
den  Weisen  und  die  hochmütigste  unter  den  Hochmütigen  war.  Sie  durchschaute 
alles  und  gab  dem  Meister  vom  Anbeginn  an  Rat  und  weissagte,  was  aus  diesem 
oder  jenem  würde,  falls  er  wirklich  erschaffen  werden  möchte.  Sie  galt  sehr  viel, 
und  ihr  Mut  war  so  gross,  dass  sie  Furcht  oder  Zurückhaltung  nicht  kannte 
Neues  gab  es  nicht  für  sie;  über  Erfindungen  lächelte  sie  und  sagte  höchstens, 
dies  wüssten,  die  vor  tausend  Jahren  zu  den  dümmsten  gerechnet  wurden:  „Euch 
ist's  heute  neu,  weil  es  Mühe  machte,  es  aufzuBnden.  Ihr  bleibt  kleine  Mensch- 
lein." —  An  die  Geburt  eines  Mädchens  aber,  das  zur  Mutter  des  Gottessohnes 
bestimmt  sei,  hatte  sie  nie  gedacht,  da  der  Meister  ihr  nie  etwas  vorenthalten 
hatte.  Sie  war  jederzeit  die  Bevorzugte  gewesen  und  verlangte  die  Ehren  für  sich 
allein.  Dafür  nahm  sie  sich  der  grossen  und  kleinen  Geschicke  an  und  regierte 
mit  fester,  kundiger  Hand.  Die  Natur  wusste  sie  zu  biegen  nach  ihren  Wünschen 
und  ebenso  die  Herzen  und  Geister  der  Menschen.  —  AVann  der  Meister  sich 
diese  Gehilfin  erschaffen  hatte,  weiss  keine  menschliche  Seele.  Einige  der  alten 
Weisen  vermuten,  sie  sei  dagewesen  vom  Anbeginn  der  Welt,  andere  halten  sie 
für  einen  der  Engel,  die  mit  Lucifer  gestürzt  wurden,  wieder  andere  sehen  in  ihr 
das  Geschöpf,  welches  der  Meister  dem  Adam  als  Weib  bestimmt  hatte,  mit  dem 
dieser  aber  nichts  anzufangen  wusste,  da  seine  Klugheit  nicht  hinreichte,  sich  ihr 
gleichzustellen.  Und  sie  sollte  ihm  doch  untertänig  sein.  Die  Schönheit  der 
Issettisibella  blieb  immer  dieselbe,  da  sie  der  Keuschheit  pflog  und  der  Reinheit, 
trotzdem  die  Zeiten  verderbt  waren.  Es  ging  etwas  Überirdisches  von  ihrem 
Körper  aus,  etwas  das  bannte,  und  ihre  Weisheit  konnte  nicht  mit  irdischer  Klug- 
heit verglichen  werden. 

Sie  war  die  Schwester  des  starken  Sarason,  des  weisen  Salomon  und  des 
geduldigen  Job.  Aber  den  dreien  war  sie  weit  über  an  Stärke,  Weisheit  und 
Geduld;  sie  war  älter  als  sie,  und  ihre  Weisheit  war,  wie  andere  Vorzüge,  uralt, 
ururalt.     Sie  regierte  schon  einige  tausend  Jahre,    als   der  Meister  ihr  die  drei  zu 


1)  [Über  die  Sagen  von  der  mit  der  Königin  von  Saba  zusammengeworfenen  Sibylle 
vgl.  Bousset  in  Herzogs  Realencyclopildie  f.  Protestant.  Theologie'  18,  '265  (1900). 
11.  Köhler,  Kleinere  Schriften  2,  87  1900 .  W.  Hertz,  Gesammelte  Abhandlungen  1905 
S.  436.    Kühnau,  Schlesische  Sagen  1,  555.  017  (,1910\| 


64  Ilg: 

Brüdern  gab.  Und  diese  Brüder  achteten  sie  sehr  hoch,  fürchteten  sich  aber  vor 
ihr,  da  sie  alles  durchschaute  und  gerne  nicht  nur  Zänkereien,  sondern  auch  lang- 
wierige Kriege  anzettelte.  Sie  war  nämlich  eine  Kämpferin  und  führte  ihre  Leute 
unter  mannigfaltigen  Verkleidungen  an. 

Dann  war  sie  besonders  tüchtig  und  gelehrt  als  Doktorin.  Eines  Tages,  es 
war  in  den  Jahren,  die  ein  Ausruhen  vom  Kriegsgetümmel  brachten,  machte  sie 
sich  daran,  ein  Buch  über  die  Medizin  zu  schreiben,  da  sie  gegen  jedwede  Krank- 
heit ein  Kraut  kannte.  Dieses  Buch  nun  handelte  von  den  schwersten  inneren 
Leiden,  die  heute  die  Arzte  unheilbar  nennen.  Dazu  schrieb  sie  die  angebrachten 
Heilmittel  und  nannte  die  wichtigen  Kräuter;  von  diesen  Sachen  wusste  dazumal 
noch  kein  Mensch  Bestimmtes  ausser  ihr.  Dies  also  stand  im  ersten  Buch.  Das 
zweite  Buch  handelte  ebenfalls  über  innere  Krankheiten,  doch  solche,  die  leichter 
an  äussere  Zeichen  zu  erkennen  sind.  So  schrieb  sie  über  alles,  was  dem  Men- 
schen begegnen  kann,  Bücher,  bis  sie  neun  beisammen  hatte.  Im  zehnten  aber 
sprach  sie  nicht  für  diejenigen,  die  etwas  Einsicht  haben  in  den  menschlichen 
Körper,  sondern  für  die  Laien,  die  Leute,  die  sich  gerne  selber  helfen  bei  kleinen 
ünpässlichkeiten.  Da  stand  etwas  über  das  Kopfweh,  über  das  Magenweh,  wie 
mit  den  Augen,  die  lichtscheu  geworden,  verfahren  werden  soll  und  mit  den  Ohren, 
die  schmerzen.  Auch  über  verrenkte  Glieder  wusste  sie  zu  reden  und  über  die 
Krankheiten,  die  die  Frauen  treffen.  Da  gab  sie  die  nötigen  Mittel  an,  die  aller- 
einfachsten:  Umschläge  heisser  Breie,  warme  Getränke;  für  den  vom  Wurm  be- 
fallenen Finger  empfahl  sie  das  Abbrühen,  für  andere  Gebrechen  wieder  das 
Aderlassen  und  die  Blutegel.  Steife  Glieder  Hess  sie  solange  im  Meerwasser 
baden,  bis  sie  gelenkig  geworden,  und  für  warzenartige  Gebilde  auf  der  Haut 
empfahl  sie  die  Pflanze  Wolfsmilch  (tenghuda).  Sie  setzte  den  'gewürzten  Wein' 
zusammen,  der  viel  seltsame  Sachen  enthält,  auch  das  Blut  verschiedener  Tiere 
und  eine  Anzahl  von  Heilkräutern,  ein  Getränk,  das  die  Folgen  eines  Schrecks 
aufheben  kann;  auch  stammt  von  ihr  das  Rezept  des  siebenfachen  Mischtrankes, 
der  schon  für  viele  ein  Segen  war,  trotzdem  die  Ärzte  dagegen  eifern.  Dieser 
bestand  aus  Meerwasser,  der  Abkochung  des  Hahnenkammes  (coxcomb,  common 
celosia,  amarante),  der  Gewürznelken,  des  gelben  Safrans  (Safran),  der  Samen- 
körner des  Frauenhaars  (maidenhair,  capelvenere),  der  Orangenschalen  und  des 
roten  Pfeffers^).  Aber  im  Vergleich  mit  den  andern  Büchern  war  dieses  zehnte 
fast  wertlos,  es  behandelte  keine  schwierigen  Dinge.  Kurz  und  gut,  in  den  zehn 
Büchern  war  die  Weisheit  der  Weisheiten  aufgestapelt,  und  der  Belesene,  der  ein 
wenig  eigenes  Denken  mitbrachte,  konnte  sogar  herausfinden,  wie  lange  dieser 
und  jener  am  Leben  bleiben  könne,  ob  das  Leben  eines  Kranken  oder  eines  neu- 
geborenen Kindes  wert  sei,  erhalten  oder  vernichtet  zu  werden.  Über  die  Liebe 
war  gesprochen,  über  die  Macht  der  Weisheit  und  des  Reichtums,  wie  sie  zu 
erzwingen,  zu  erhalten  sei.  Es  war  eine  gelehrte  Arbeit,  so  unübertrefflich,  dass 
ein  gewöhnlicher  Mensch  sie  nie  und  nimmer  zustande  gebracht  hätte.  Nun  schloss 
sie  die  zehn  Bücher  in  ein  Glasgehäuse  und  schrieb  darauf:  ,,Wer  Lust  hat  zu 
lernen,  sich  zum  Doktor  auszubilden,  wende  sich  an  mich!"  Dieses  Glasgehäuse 
stellte  sie  so  hin,  dass  die  vorübergehenden  Leute    es    sehen   mussten.     Natürlich 


1)  Der  Erzähler,  ein  Strassenarbeiter,  hat  eine  genaue  Kenntnis  der  meisten  Kräuter, 
die  auf  der  Insel  zu  finden  sind,  und  geniesst  beim  Volke  einen  gewissen  Ruf  als  Kenner 
der  'alten  Mixturen'.  Da  er  sich  viel  mit  Kurpfuschereien  abgibt  und  vor  der  Polizei 
ängstlich  auf  der  Hut  ist,  überlieferte  er  erst  nach  vielem  Widerstreben  das  vorstehende 
'medizinische  Buch'  der  Issettisibella. 


Maltesische  Legenden  von  der  Sibylla.  65 

ward  es  von  vielen  gesehen  und  besprochen.  Gleichzeitig  war  es  überall  bekannt 
geworden,  dass  diese  klügste  Frau  in  den  angegebenen  Rezepten  alles  verwendet 
hatte,  was  die  Natur  hervorbringt:  angefangen  von  den  Würmern  und  giftigen 
Tieren,  bis  zu  den  Pflanzen  und  verschiedenen  Wassern.  Alles,  alles  war  klar 
gemacht,  doch  hat  man  es  vergessen,  weswegen  wir  heute  so  viel  unheilbare,  so 
viel  ansteckende  Krankheiten  haben.     Nun  aber  weiter: 

Eines  Tages  kam  ein  Jüngling;  er  wollte  den  Preis  erfahren,  der  für  die 
zehn  Bücher  gesetzt  sei.  Sie  sagte:  ,, Hundert  Goldstücke  von  den  grossen,  die  das 
Siegel  meines  Bruders  aufweisen.'"  Da  lächelte  der  Jüngling  spöttisch,  da  es  ihm 
zu  viel  schien.  Es  war  dies  aber  einer  der  reichsten,  angesehensten  Jünglinge  des 
Landes.  Issettisibella  oder,  wie  andere  sagen,  Settusibilla  versetzte:  „Ohne  diese 
meine  Bücher  wirst  du  nie  zur  Erkenntnis  kommen;  ein  Arzt  aber,  der  ohne  diese 
Erkenntnis  ist,  ist  weniger  wert  als  ein  Esel,  weil  dieser  nicht  imstande  ist,  zu 
schaden.  Also  kaufe  du  nur  die  Bücher!"  —  Er  aber  begann  zu  handeln  und  zu 
feilschen.  Feilsche  und  bringe  jemanden,  der  feilscht!  Zuletzt  ging  er  hinweg, 
und  sie  verbrannte  ein  Buch,  wie  sie  angedroht  hatte.  Das  erste,  das  beste  Buch 
verbrannte  sie.  Am  niichsten  Tage  erschien  der  Jüngling  wieder  und  staunte  über 
die  neun  Bücher.  Er  hatte  ihre  Drohung  für  leere  Worte  gehalten.  Nun  aber 
begann  er  erst  recht  zu  feilschen  und  sagte:  „Für  zehn  Bücher  hundert  Goldstücke 
mit  dem  Siegel  des  Sultans,  für  neun  bedeutend  weniger."  Sie  aber  verlangte 
hundert,  nach  wie  vor.  Da  wurden  sie  wieder  nicht  handelseinig,  und  ärgerlich 
ging  der  Jüngling  fort.  So  verbrannte  sie  ein  zweites  Buch;  und  um  eine  lange 
Geschichte  kurz  zu  machen,  sagen  wir  nur  dies:  sie  vernichtete  neun  Bücher 
hintereinander,  und  dabei  ging  sie  nie  mit  der  Forderung  herunter.  Das  letzte 
Buch  nun  erstand  der  Jüngling  für  diese  Menge  Geld,  und  siehe,  das  Wichtigste 
war  nicht  darin.  Sie  aber  lachte  ihn  aus  und  sagte:  ^Du  warst  ein  Esel,  als  du 
es  dir  überlegtest,  für  die  zehn  Bücher  hundert  Goldstücke  zu  geben.  Du  bist 
ein  Esel,  weil  Erkenntnis  nie  und  nimmer  Platz  nehmen  wird  in  deinem  Kopfe. 
Du  bleibst  ein  Esel,  da  das  Buch  deiner  Minderwertigkeit  nicht  aufhelfen  kann. 
Nun  geh  und  lass  die  Totengräber  nicht  zu  lange  warten!''  Und  sie  behielt  Recht; 
der  Jüngling  ward  ein  unfähiger  Arzt  und  büsste  später  schwer  für  seine  Miss- 
erfolge.    Nun  weiter  in  der  Geschichte. 

Ein  andermal  geschah  es,  dass  Salomo,  als  er  zufällig  wieder  mit  ihr  im 
Streite  lag,  an  den  Augen  erkrankte,  und  zwar  derart,  dass  er  das  gedämpfte 
Licht  des  Tages  und  das  Licht,  das  seine  Öllampen  spendeten,  nicht  mehr  er- 
tragen konnte.  Es  bildeten  sich  eitrige  Ansammlungen,  und  die  Augenwimpern  rupfte 
er  sich  aus  vor  Pein;  er  litt  grosse  Schmerzen  und  ward  verzagt  wie  ein  Bettler, 
der  Ton  Hunden  verfolgt  wird.  Da  er  aber  seine  Schwester,  die  kluge  Settusibilla, 
nicht  um  Hilfe  angehen  wollte,  weil  diese  sie  ihm  nicht  ohne  Hohn  und  Spott' 
oder  gar  nicht  hätte  angedeihen  lassen,  so  versuchte  er  es  mit  allen  möglichen 
Mitteln.  Er  Hess  sich  Kräuter  holen  von  nah  und  fern,  er  badete  alle  Augenblicke 
die  kranken  Teile  und  liess  sie  sogar  von  Zauberern  besprechen,  er,  der  König 
und  Richter.  Aber  das  Übel  verschlimmerte  sich  mit  jedem  Tag,  und  er  lebte 
beständig  in  der  Furcht,  hilflos  wie  ein  Aussätziger  erblinden  zu  müssen.  So  litt 
er  volle  vier  Jahre,  und  fast  täglich  versuchte  er  ein  neues  Mittel ;  die  Gaukler 
und  Quacksalber  hatten  nun  freien  Zutritt,  und  schöne  Zeiten  wussten  sie  daraus 
zu  schlagen.  Zuletzt  aber  rausste  er  es  einsehen,  dass  all  seine  Mühen  vergeblich 
waren,  und  so  sagte  er  zu  sich  in  seiner  Seele:  „Ich  muss  versuchen,  das  Heil- 
mittel durch  eine  List  aus  meiner  Schwester  herauszulocken.  Freiwillig  steht  sie 
mir  nicht  bei,  und  demütig  zu  sein  steht  mir  nicht  an!"    So  rief  er  einen  grossen 

/.eitschr.  d.  Vereins  f.  Volkslcuuilc.    1914.    Heft  1  5 


66  Ilg'- 

Haufen  Kinder  seiner  Stadt  zusammen  und  sagte  ihnen:  „Versammelt  euch  und 
lauft  und  springt  durch  die  Strassen!  Dabei  sollt  ihr  frohlocken  und  jauchzen 
und  schreien;  ich  werde  euch  reichlich  belohnen.  Begebt  euch  wie  von  ungefähr 
hin  an  den  Palast  meiner  Schwester  und  jubelt  und  schreit  noch  lauter.  Tritt  sie 
dann  heraus  und  erkundigt  sich  nach  der  Ursache  eures  Lärmens,  so  antwortet: 
Wir  sind  so  übermütig  und  lärmen  so  froh,  weil  Salomon,  unser  Sultan,  nun  end- 
lich von  seinem  Augenübel  geheilt  ist,  so  dass  er  das  Licht  des  Tages  und  seiner 
tausend  Öllampen  schauen  kann!  Dann  merkt  genau  auf,  was  sie  erwidert,  und 
hinterbringt  es  mir  getreulich!  Grosser  Lohn  soll  euch  werden."  —  So  gingen  die 
Kinder,  die  sich  keinen  lustigeren  Auftrag  denken  konnten,  hin  und  vollführten 
einen  unbeschreiblichen  Lärm.  Als  sie  hinkamen  an  den  Palast  der  Settusibilla, 
trat  diese  richtig  ganz  verwundert  heraus  (sie  war  nämlich  sehr  wissensbegieriger 
Natur  und  ging  jedweder  grossen  oder  kleinen  Sache  auf  den  Grund)  und  er- 
kundigte sich  nach  der  Ursache  des  Freudengeschreis,  worauf  die  Kinder  ver- 
setzten: „Unser  Sultan  ist  von  seinem  Augenübel  geheilt  und  kann  jedes  Licht 
schauen.  Wir  aber  jubeln  und  frohlocken."  Da  sagte  sie:  „Ich  glaube  es  wohl, 
denn  als  kluger  Mann  wird  er  seine  Augen  wohl  nur  mit  dem  Ellbogen  berührt 
haben."  Da  gingen  die  Kinder  heim  und  berichteten  alles,  Wort  für  Wort.  Salomon 
aber  schlug  sich  vor  die  Stirn  und  rief:  „Dacht'  ich's  doch!  'Mit  dem  Ellbogen 
berühren'  heisst  'nicht  berühren',  und  so  gebe  ich  jetzt  die  Kuren  auf."  Er  tat 
es  auch  wirklich  und  badete  die  Augen  fortan  nur  so,  dass  er  sie  offen  in  das 
mit  reinem  Wasser  gefüllte  Becken  hielt.  Bald  waren  sie  rein  und  frei  von  dem 
wilden  Fleisch,  das  sich  gebildet  hatte  mit  dem  Eiter. 

Sie,  die  unerbittliche  Settisibella,  die  selber  über  grosse  Reiche  herrschte, 
lebte  lange  Zeit  mit  Salomo  zusammen.  Es  geschah  dies  aber,  um  ihn  zu  prüfen 
und  um  die  geheimnisvollen  Kräfte,  die  er  in  sich  hatte,  kennen  zu  lernen.  So 
kam  es  auch,  dass  Settisibella  die  erste  Ursache  seines  Unterganges  war;  er  hatte 
sich  ihr  verraten  in  Stunden,  die  ihn  lässig,  dem  Vergnügen  hingegeben,  gefunden. 
Settisibella  gab  nämlich  nie,  ohne  zu  nehmen,  auf  den  eigenen  Vorteil  bedacht 
zu  sein.  Sie  war  sehr  oft  in  Streit  mit  Salomo.  Dieser  ärgerte  sich  oft  zu  Tode, 
weil  sie  ihn  stets  zu  überbieten,  zu  überführen  wusste.  War  z.  B.  von  den  ersten 
Menschen  die  Rede,  so  fragte  sie  ihn:  „Was  dachte  sich  Eva,  als  sie  sich  Mutter 
fühlte?"  Und  Salomo  antwortete:  „Sie  fand  einen  Trost  darin,  gesegnet  zu  sein." 
Sie  aber  lachte  ihn  aus  und  sagte:  „Falsch!  Sie  hatte  so  entsetzliche  Angst  vor 
sich  selber,  eine  Angst,  die  sich  mit  der  Zeit  bis  zum  Wahnsinn  steigerte,  dass 
Adam  vor  ihr  fliehen,  sich  verbergen  musste,  bis  ihre  Zeit  gekommen."  Oder  sie 
fragte  Salomo:  „War  es  gemäss  dem  Willen  unseres  Meisters,  dass  Eva  sich  dann 
ein  zweites  Mal  Mutter  fühlte?"  Salomo  versetzte  dann:  „Sicher!  Er  wollte  die 
Erde  bevölkern."  Settisibella  aber  spottete:  „Falsch!  Du  müsstest  es  an  den 
Folgen  ersehen:  Kain,  das  Kind  der  Sünde,  empfangen  gegen  das  Gebot  des 
Meisters,  trug  den  Fluch  in  sich  und  lebte  nur,  um  die  Frucht  der  zweiten  Sünde, 
begangen  an  Eva,  zu  töten.  Der  Meister  hätte  andere  Mittel  und  Wege  gehabt, 
die  Erde  zu  bevölkern,  wäre  ihm  daran  gelegen  gewesen."  Settisibella  kannte 
nämlich  die  alte  Geschichte  gar  gut,  da  sie  vom  Anbeginn  gelebt  hatte  und  mit 
allen  Geistern  in  Verbindung  war.  Sie  wusste,  in  wessen  Leibe  sich  eine  der 
wundervollen  Perlen  befand,  und  konnte  genau  sagen,  welche  Wanderung  diese 
vorgenommen!  Sie  selber  glaubte  eine  Perle  in  sich  zu  tragen,  und  ihr  un- 
beschreiblicher Stolz  wird  wohl  deshalb  so  stark  gewesen  sein;  sie  hoffte  immer, 
die  Mutter  des  Sohnes  ihres  Meisters  zu  werden.  Wir  werden  davon  erzählen 
und  die  Geschichte  dann  abbrechen.    Sagen  müssen  wir  noch,  dass  sie  schwierige 


Maltesische  Legenden  von  der  Sibylla.  67 

Aufgaben,  über  welche  Salomo  und  andere  weise  Männer  Wochen  und  Monate 
lang  nachgedacht  hatten,  um  sie  zu  verwirren,  zu  beschämen,  in  kurzer  Zeit  löste. 
Und  da  sie  Salomo  an  AVeisheit  übertraf,  so  stellte  sie  ihm  ihrerseits  Aufgaben, 
die  zu  lösen  er  nie  imstande  war.  So  gab  es  stets  Hader  und  Zank  zwischen  den 
beiden:  jedes  wollte  den  Meister  spielen,  und  wenn  Settisibella  sich  für  eine 
Stunde  unterwürfig  zeigte,  so  durfte  Salomo  gewiss  sein,  dass  sie  etwas  Böses 
gegen  ihn  ausspielen  wollte.  Sie  beherrschten  aber  die  ganze  Welt  und  hatten 
grosse  Macht  über  die  Herzen  und  die  Geister;  auch  Salomo  glaubte  die  wunder- 
herrliche Perle  in  sich  zu  fühlen  und  schrieb  ihr  alles  zu,  was  an  Kräften  in  ihm 
war.  und  so  wollen  wir  sagen,  wohin  Settisibella  gebracht  wurde  durch  diesen 
ihren  Glauben,  dass  ihr  Leib  geheiligt  sei. 

Sie  lebte  sehr  gern  mit  jungen  Mädchen  zusammen.  Es  war  ihre  Lust,  deren 
Wachsen  an  Leib  und  Seele  zu  verfolgen.  So  gründete  sie  eine  Art  Schule;  da- 
mals hiess  man  es  anders,  wir  wollen  aber  Schule  sagen.  In  diese  Schule 
nun  konnte  kein  Mädchen  aufgenommen  werden,  welches  nicht  schon  körperlich 
entwickelt  war.  Eltern,  die  ihre  Mädchen  vor  dieser  Zeit  in  die  Schule  geben 
wollten,  bedeutete  sie,  dass  das  geistige  Wachsen  im  Verhältnis  zum  Wachstum 
des  Körpers  stehe,  und  dass  sie  deswegen  nur  vollkommen  entwickelte  Mädchen 
in  die  Lehre  nehmen  könnte.  Diese  Mädchen  nun,  die  alle  aus  den  angesehensten 
Familien  stammten,  behielt  sie  bis  zum  achtzehnten  Jahre,  nicht  länger.  Hatten 
sie  dieses  Alter  erreicht,  so  war  ihre  Lehrzeit  beendet.  Im  ganzen  hatte  sie 
meistens  15,  einige  Male  17  Mädchen.  Es  war  aber  etwas  Geheimnisvolles  um 
diese  Schule,  und  die  Schülerinnen  wurden  zum  Schweigen  verpflichtet.  Nun 
weiter;  da  es  Sitte  war,  dass  die  angesehenen  Leute  ihre  Töchter  in  die  Schule 
der  Settisibella  gaben,  bevor  sie  verheiratet  wurden,  geschah  es,  dass  Maria'), 
die  spätere  Mutter  des  Gottessohnes,  auch  in  diese  Schule  kam  und  dort  verbleiben 
musste,  trotzdem  sie  Tränen  weinte,  die  andere  Menschen,  ja  selbst  solche,  die 
Steine  an  der  Stelle  tragen,  wo  das  Herz  sein  soll,  erweicht  haben  würde.  Nicht 
so  die  Settisibella. 

Die  Meisterin  hatte  eine  besondere  Sitte  eingeführt;  jeden  Morgen  fragte  sie 
die  Mädchen,  die  einzeln  vor  ihr  erscheinen  mussten,  was  sie  geträumt.  Oft  legte 
sie  dann  die  Träume  aus,  doch  war  ihr  nicht  darum  zu  tun,  ihre  Neugierde  zu 
befriedigen.  Das  eine  Mädchen  erzählte  nun  z.  B.,  sie  hätte  von  einem  schönen 
Kleide  geträumt,  das  andere  von  angebissenen,  gekochten  Saubohnen  (einem  von 
den  Maltesern  hochgeschätzten  Gericht),  das  dritte  von  einem  herrlichen  Jüngling 
usw.  All  diese  Mädchen  fertigte  sie  meist  kurz  ab  und  war  nur  darauf  bedacht, 
zu  erfahren,  was  die  stille  Maria  für  einen  Traum  gehabt.  Es  schien  ihr  sehr 
viel  daran  zu  liegen,  und  immer  war  es  ihr,  als  trüge  dieses  Mädchen  die  heilige 
Perle,  die  den  Leib  heilig  machte,  in  sich,  nicht  sie  selber,  die  Settisibella.  Aber 
seltsamerweise  träumte  Maria  nie,  was  der  Meisterin  so  grosso  Freude  machte, 
dass  sie  sie  vor  allen  auszeichnete.  Immer  wieder  sagte  sie  sich  dann:  ,,Der 
Empfängnis  des  Gottessohnes  geht  ein  Traum  voran,  der  von  der  Perle  kommt, 
und  ich  selber  bin  wohl  die  Erkorene,  werde  die  Geliebte  des  Meisters."  —  Eines 
Tages  fragte  sie  die  stille  Maria  wieder,  und  diese  berichtete  freudig:  „Ich  träumte, 
dass  ein  Same  in  meinem  Schoss  keimte,  zum  Pflänzchen  wurde,  Sprossen  trieb, 
bis  ein  Baum  daraus  entstand,  dessen  blätterbesetzte  Aste  sich  über  die  ganze 
Welt  breiteten.  Schatten  spendend  und  zur  Rast  einladend."  —  So  erzählte  die 
stille  Maria  in  aller  Einfalt;    die  Lehrmeisterin    aber    wurde    ausser  sich  vor  Wut 


1)  Vgl.  De  Nino,  Usi  e  costiimi  abriizzesi  4, 16   bei  Dälinhardt,  Natursagen  2,  2G3  nr.  4c' 

5* 


68  Ilg: 

und  Enttäuschung,  raufte  sich  die  Haare  aus,  die  so  lang  waren  wie  die  doppelte 
Länge  ihres  Körpers;  sie  schlug  mit  dem  Kopfe  an  die  Wand,  biss  sich  die 
Zunge  blutig  und  wälzte  sich  wie  ein  unreines  Tier  auf  dem  Estrich,  Laute  aus- 
stossend,  die  an  Irrsinnige  gemahnten. 

Im  Himmel  beobachtete  man  dieses  verzweifelte  Rasen,  und  da  sie  die  grösste 
Meisterin  war,  vom  Anbeginn  gelebt  hatte  und  so  durch  viele  Auszeichnungen, 
die  ihr  durch  den  Meister  geworden,  sich  als  durch  die  göttliche  Perle  geheiligt 
betrachten  durfte,  hatte  man  Mitleid  mit  ihr,  wollte  sie  vielleicht  auch  unschädlich 
machen  zum  Besten  der  stillen  Schülerin  Maria.  Es  flog  also  ein  Engel  zur  Erde, 
der  sprach:  „Meisterin,  sei  ruhig!  Was  du  verlangst,  soll  dir  werden;  nur  von 
dem  einen  Wunsche,  Mutter  des  Meistersohnes  zu  werden,  musst  du  ablassen. 
Diese  Gnade  kann  dir  nicht  gewährt  werden,  sie  ist  einer  reinen  Jungfrau  vor- 
behalten. Wähle  also  eine  andere  Gnade!"  Sie  aber,  die  grosse,  weise  Meisterin 
Settisibella,  begann  nun  erst  recht  ein  tolles  Rasen,  und  der  Engel  war  entsetzt, 
als  er  ihr  Gebahren  gewahrte.  Sich  wie  ein  wildes  Tier  wälzend  und  mit  den 
erniedrigendsten  Gebärden,  die  alles,  was  ihr  noch  Hoheit  verblieben  war,  aus- 
löschten, schrie  sie  zuletzt  wie  besessen:  „Ich  wünsche  ewig  in  der  Hölle  zu 
leben."  Im  selben  Augenblick  öffnete  sich  ein  Spalt,  eine  entsetzliche  Kluft,  und 
sie  fuhr  hinunter,  mitten  hinein  in  das  unterirdische  Reich.  Seitdem  lebt  sie  dort, 
in  derselben  Weise,  wie  sie  auf  Erden  gelebt  hatte;  sie  lebt,  sie  kann  nicht 
sterben,  in  alle  Ewigkeit  muss  sie  dort  verweilen,  da  es  für  sie,  die  die  Perle  ge- 
kannt und  den  Sinn  derselben,  keinen  ewigen  Tod  geben  kann.  Das  Feuer  aber 
und  all  die  Qualen,  die  den  Verdammten  kein  Ausruhen  gönnen,  verspürt  sie 
nicht  und  lebt  verhältnismässig  glücklich;  sie  ist  immer  noch  Herrin,  zwar  im 
dunklen  Reiche,  aber  doch  Gebieterin'). 

Maria  aber,  die  stille,  bereitete  sich  unwissentlich  darauf  vor,  die  Mutter  des 
Erlösers  zu  werden.  Nun  geschah  es  aber  eines  Tages,  dass  Lucifer,  der  bis  dahin 
über  das  Reich  der  Hölle  zu  gebieten  hatte,  von  seiner  nunmehrigen  Gebieterin, 
der  Settisibella,  einen  Auftrag  erhielt,  den  er  sofort  ausführen  musste.     Nun  hört: 

Bis  dahin  hatte  ihm  kein  Mädchen  widerstanden,  es  gab  auch,  ausser  der 
stillen  Maria  keine  Jungfrau,  sie  alle  waren  gefallene  Mädchen  und  insgesamt  für 
die  Hölle  bestimmt.  So  nahm  Lucifer  sich  vor,  die  stille  Maria  zu  versuchen,  um 
dann  hinzutreten  mit  dem  Zeichen  ihres  Falles  vor  die  stolze  Settisibella.  Er 
nahm  die  Gestalt  eines  sehr  einnehmenden  Jünglings  an  und  trat  vor  die  stille, 
schöne  Maria,  indem  er,  linde  Schmeichelei  in  die  Stimme  legend,  sagte:  „Du 
Schönste  unter  den  Schönsten,  im  freiwilligen  Gewähren  liegt  nie  und  nimmer 
eine  Schuld,  nur  im  Erzwungenen  und  ohne  Vorbedacht,  im  Leichtsinn  Gegebenen. 
Mir  dürftest  du  eine  Gnade  freien  Herzens  gewähren,  einen  Kuss,  Lass  mich  dich 
küssen;  deine  Reinheit,  alles,  was  an  Lichtem,  Gutem  in  dir  ist,  wird  aufleben, 
wird  dich  hochstellen  über  deine  Genossinnen.  Alles,  was  du  tust,  wird  nie 
Schatten  werfen,  sondern  Licht  austrahlen  auf  deine  Bestimmung.  Du  wirst  sie 
dann  erkennen,  sie  wird  dich  entwickeln,  aufnahmefähig  machen.  Lass  mich  für 
diesmal  deinen  Lehrer  sein!"  —  Und  die  stille  Maria,  die  einzige,  die  unter  den 
Mädchen  ihrer  Zeit  nicht  für  die  Hölle  bestimmt  war,  sagte:  „Tu,  wie  es  dir  im 
Sinne  liegt!"  und  dabei  lud  sie  ihn  mit  einer  Handbewegung  ein,  näherzukommen. 
Kaum  aber  beugte  er  sich  über  ihr  Gesicht,  so  schlug  sie  ihn  mit  der  flachen 
Kinderhand  so  heftig  ins  Genick,  dass  er  laut  mit  den  Zähnen  knirschte.  Die 
ganze  Welt  vernahm    es,    dieses    Knirschen,    es  war    ein    schreckliches  Erdbeben, 


1)  Vgl.  oben  17,  57.  250.  21,  8  über  den  hohlen  Berg  der  Sibylle. 


Maltesische   Legeuden  von  der  Sibylla,  69 

auch  das  Meer  trat  aus  seinem  Rinnsal.  Seit  dieser  Zeit  trägt  der  Teufel  die 
Merkmale  dieses  Schlages  am  Nacken,  da  dieser  breitgedrückt  ist  und  wulstig. 
Und  die  stille  Maria  erfüllte  so  das  Wort,  das  geschrieben  steht  vom  Tage  an, 
als  der  Herr  Adam  und  Eva  aus  dem  Garten  wies:  „Es  wird  eine  Jungfrau 
kommen,  die  dich  auf  den  Nacken  schlägt  und  ihn  dir  breitquetscht." 

So  endet  die  Geschichte  der  klugen  Settisibella,  derengleichen  es  durch 
Gottes  Willen  nicht  mehr  geben  wird.  Sie  hatte  des  Meisters  Gaben  gemissbraucht, 
Salomo,  den  weisen  Herrscher,  zu  bösem  Ende  geführt  und  die  Völker  aufgewiegelt 
Die  Macht  stund  eben  ihrer  eigenwilligen  Hand  nicht  an.  Deswegen  entriss  sie 
ihr  der  Herr,  der  Meister.^) 

2.  Der  weise  Salomon  und  seine  kluge  Schwester  Issettisibella. 

Der  weise  Salomo  hatte  eine  Schwester,  die  Issettisibella  hiess  oder  auch 
Sittazbrilja^).  Es  kam  nun  oft  vor,  dass  diese  beiden  sich  gegenseitig  mit  Rätsel- 
aufgaben neckten,  und  da  seltsamerweise  stets,  oder  fast  stets,  die  kluge  Schwester 
die  rechte  Lösung  brachte,  so  zürnte  ihr  Salomon  sehr  oft  und  begann  zu  streiten 
über  Nichtigkeiten. 

Einst  unterhielten  sich  diese  beiden  über  die  Geschichte  des  Joseph,  der  in 
Ägypten  König  war.  Sie  kamen  nun  über  die  Frau  des  Putiphar  zu  reden,  die 
es  versucht  hatte,  den  Joseph  zu  verführen.  Und  so  kam  es,  dass  Issettisibella 
den  Bruder  fragte:  „Was  hättest  du  an  Stelle  des  Putiphar  getan,  wie  hättest  du 
gerichtet?-  Salomon  sagte:  „Der  Schein  war  gegen  ihn.  Und  er  hatte  seine 
Frau  nie  Lügen  oder  falsche  Worte  aussprechen  hören.  So  gab  der  Mantel,  den 
die  Frau  in  der  Hand  hielt,  mit  Fug  und  Recht  den  Ausschlag."  Da  lachte  Issetti- 
sibella den  Bruder  aus  und  sagte:  „Dass  ihr  Männer  von  Anbeginn  das  Nächst- 
liegende übersehen  müsst;  dass  euer  Urteil  immer  aus  Worten  besteht,  die 
ängstlich  und  unklar  angespannt  sind,  und  dass  trotzdem  euer  Mut  nicht  fällt, 
weiter  als  Herrscher  und  Richter  zu  gelten!  Siehe,  Putiphar  hätte  das  zu  fällende 
Urteil  einfach  und  schlicht  vom  Rock  ablesen  können,  den  seine  Frau  ihm  vor 
die  Augen  hielt:  war  der  Rock  auf  der  Vorderseite  zerrissen,  so  war  Joseph  der 
Angreifer,  der  Schuldige;  war  er  auf  der  Rückseite  zerrissen,  wie  es  ja  auch  war 
(ich  überzeugte  mich  selber),  so  war  sie  die  Angreiferin,  die  Schuldige.  Aber 
das  Urteil  der  Männer  ist  wie  der  Topf  aus  Tonerde,  der  einen  Klang  in  sich 
hat,  solange  er  heil  ist  und  nicht  in  Scherben."  —  Da  staunte  Salomon  über  ihre 
Weisheit,  wollte  dies  aber  nicht  zugestehen,  weil  er  sich  wieder  gekränkt  fühlte, 
und  sagte  nur:  „Deine  Rede  mag  gut  sein;  mich  mahnt  sie  aber  an  ein  Bild  aus 
Lehm,  aus  weichem,  das  willkürlich  unter  den  Fingern  entsteht,  ohne  dass  man 
Wert  darauf  legt.  Es  kann  ein  solches  Bild  gut  oder  schlecht  sein,  Bestand  hat 
es  keinen  und  also  keinen  Wert.  Folgerungen  lassen  sich  unschwer  aufstellen." 
—  Issettisibella  aber,  die  ihn  wohl  durchschaute,  sagte  abweisend  und  höhnisch: 
„Würdest  du,  wenn  ich  dir  ein  Bild  machte  von  der  körperlichen  Erscheinung  des 
Putiphar,    daraus    schliessen  können,    welche    Veranlagung   und  Gewohnheiten  er 

1;  Der  Erzähler,  ein  einfacher,  aufrichtiger  Mann,  ist  etwas  zur  Mystik  geneigt  uud 
spricht  gerne  in  dunklen  Ausdrücken.  Er  nimmt  es  sehr  ernst  mit  seinen  Ausführungen 
und  Erklärungen;  oft  berichtigt  er  unaufgefordert  nach  Tagen  irgendeinen  Punkt,  „damit 
nichts  geändert  oder  falsch  aufgefasst  werde  von  den  alten  Worten  der  Vorfahren,  die 
diese  Überlieferungen  weitergeben  von  Sohn  zu  Sohn". 

2)  In  sicilischen  Legenden  (Pitre,  Fiabe  e  leggcnde  sie.  1888  p.  127.  129)  heisst 
Salomos  Schwester  Sapienza  oder  Stella. 


70  Ilg':   Maltesische  Legenden  von  der  Sibylla. 

hatte?  Das  ist  mehr  als  ein  Bild  aus  Lehm."  Salomo  wollte  sich  nicht  unsicher 
zeigen  und  bat  um  die  Beschreibung'.  Issettisibella  aber  sagte  nur:  „Es  sei  dir 
genug  zu  wissen,  dass  sein  Bart  und  auch  sein  Schnurrbart  weiss  waren,  das 
Kopfhaar  hingegen  dunkel,  ohne  einen  weissen  Strich.  Was  siehst  du,  mein 
kluger  Bruder,  darin?"  —  Darauf  wusste  Salomon  nichts  Ganzes  zu  sagen,  er 
behalf  sich  mit  allgemeinen  Redensarten,  und  dabei  galt  er  als  weiser  Mann,  als 
ein  wahrhaft  kluger.  Sie  aber  antwortete:  „Wer  viel  denkt  und  mit  dem  Kopfe 
arbeitet,  dessen  Haar  wird  bald  weiss,  er  wird  müde.  Wer  viel  kaut,  viel  isst, 
mit  dem  Munde  und  den  Kinnladen  schafft,  dessen  Bart  wird  auch  bald  weiss.  So 
sollst  du  leicht  ein  Urteil  fällen  können,  welche  Charaktereigenschaften  er  besass." 

Ein  andermal  besprachen  sich  die  Geschwister  wieder  über  viel  wichtige 
Sachen,  solche,  die  von  anderen  Leuten  hingenommen  werden,  wie  sie  sind,  richtig 
oder  unrichtig.  Issettisibella  aber  Hess  nichts  leicht  unbeachtet  und  nahm  nichts 
leicht  als  Wahrheit  an.  Es  war  eine  grosse  Fähigkeit  in  ihr,  die  ein  Niederziehen 
zum  Gewöhnlichen  nicht  gestattete.  So  besprach  sie  sich  gerne  mit  Salomo,  dem 
klügsten  Menschen  seiner  Zeit.  Und  sie  sprachen  von  Eva  und  darüber,  wie  sie 
zur  Schlange  gestanden  hatte.  Salomo  sagte  das,  was  er  gehört,  Issettisibella 
das,  was  sie  gesehen.  Und  da  stritten  sie.  Zuletzt  aber  überzeugte  sie  ihn  etwas, 
trotzdem  er  dies  nicht  wollte.  Sie  führte  aus:  „Eva  war  die  Freundin  der 
Schlangen.  Sie  spielte  mit  diesen  Tieren,  und  diese  waren  es,  die  sie  dazu 
brachten,  die  Sünde  zu  kosten,  um  sich  dann  mit  Adam  zu  vergehen  gegen  den 
Willen  des  Meisters,  der  ihnen  eine  Frist  festgesetzt  hatte.  Und  da  der  böse 
Engel  wusste,  wie  nah  sie  den  Schlangen  stand  und  wie  sie  sie  liebte,  nahm  er 
diese  Gestalt  an  und  versuchte  sie  nochmals;  da  lernte  sie  Verderbliches,  und 
Adam  wusste  nichts  davon.  Der  Meister  aber,  der  Herr,  erzürnte  über  die  unreine 
Frau  und  den  leichtsinnigen,  blinden  Mann  und  fügte  es,  dass  beide  sich  in  be- 
stimmten Zeiträumen,  dem  Laufe  des  Mondes  gemäss,  unwohl  fühlten.  Es  blieb 
dies  auch  lange  Zeit  so,  doch  änderte  der  Meister  dies  dann  dahin  ab,  dass  die 
Frau  allein  mit  der  Unpässlichkeit  heimgesucht  wurde,  da  der  Mann  es  nicht  ver- 
stand, sich  in  anständiger  Weise  zu  verhüllen.  Doch  geschah  dies  viel,  viel 
später  und  erst  dann,  nachdem  auch  die  Männer  Kinder  zur  Welt  gebracht  hatten, 
die  aber  samt  und  sonders  schwach  und  krüppelhaft  waren :  der  Mann  muss  seiner 
schweren  Arbeit  nachgehen  und  kann  auf  sich  selber  nicht  viel  Rücksicht  nehmen." 
So  redete  Issettisibella  mit  Salomo  und  sagte  viel  wahre  Worte. 

Auch  sprachen  sie  einst  über  Kain,  und  Salomo  hatte  eigene  Ansichten.  Issetti- 
sibella wusste  aber  mehr  und  erzählte  folgendes,  um  zu  zeigen,  wessen  Kind  er 
war:  „Eva  gebar  Zwillinge,  erst  ein  Mädchen,  das  Adam  zum  Vater  hatte,  und 
einen  Sohn,  dessen  Vater  die  Schlange  war,  oder  umgekehrt;  aber  es  wird  wohl 
so  sein,  wie  ich  gesagt.  Und  Adam  hatte  keine  Liebe  zu  Kain,  er  fühlte  sich  hin- 
gezogen zum  Mädchen,  welches  sehr  schön  war.  Und  der  Meister  sagte:  ,, Diese 
beiden  Kinder  sind  für  einander  bestimmt,  sie  sollen  Mann  und  Weib  werden  und 
ein  neu  Geschlecht  bilden."  Nun  geschah  es  aber,  dass  Eva  wieder  Zwillinge 
gebar,  und  zwar  diesmal  einen  Sohn,  den  sie  Abel  hiessen  und  eine  Tochter. 
Nun  war  aber  dieser  Sohn  Adaras  Kind,  das  Mädchen  aber  hatte  denselben  Vater 
wie  Kain.  Eva  gebar  dann  noch  viele  Kinder,  aber  wir  wollen  nur  über  diese 
vier  reden.  Die  Kinder  wuchsen  auf,  und  eines  Tages  sagte  Abel  zu  seinem  Vater: 
„Meine  Frau  gefällt  mir  nicht;  ich  hange  an  der,  welche  meinem  Bruder  zugesagt 
ist.  Gib  sie  mir!  Kain  soll  sich  zufriedengeben  mit  meinem  Weibe."  Da  staunte 
Adam  sehr,  ohne  zu  wissen,  welchen  Vater  die  beiden  anderen  hatten.  Er  hatte 
nämlich    gerade    Abel    und    die    Schwester  Kains    gar    lieb.     Da   ging    er  hin    zu 


Menghin:    Kleine  Mitteilungen.  71 

Kain  und  suchte  ihm  sein  Weib,  das  schöne,  mit  Gewalt  zu  nehmen,  da  Worte 
und  Drohungen  nichts  fruchten  wollten.  Kain  ward  nun  sehr  betrübt  und  wusste 
sich  vor  Leid  und  Hass  nicht  zu  fassen.  Zuletzt  sagte  er:  „Wir  wollen  Altäre 
errichten  und  Opfer  bringen.  Wessen  Feuer  Rauch  zu  erzeugen  vermag,  der  in 
die  Höhe  steigt,  der  soll  das  schöne  Weib  haben.  Steigt  der  Rauch  von  beiden 
Holzstössen  in  die  Höhe,  so  bleibt  es  so,  wie  es  sich  bei  der  Geburt  begeben: 
jeder  habe  seine  Zwillingsschwester  zum  Weibe."  Nun  geschah  es  aber,  dass 
Eva  dies  Gespräch  hörte  und  ihrem  Lieblingskinde  Kain  helfen  wollte,  denn  sie  hatte 
ihn  sehr  lieb.  Eilig  ging  sie  hin  und  schüttete  rund  um  das  Opfer  Abels  Wasser, 
auf  dass  sich  keine  Flamme  bilden  könne.  Die  Brüder  wussten  nichts  davon. 
Sie  zündeten  ihre  Stösse  an,  und  das  Wasser,  das  aussen  alles  benässt  hatte,  Hess 
es  nicht  zu,  dass  das  Feuer  sich  ausbreitete.  Es  brannte  nur  in  der  Mitte  des 
Stosses,  und  siehe,  der  Rauch  stieg  gerade  zum  Himmel,  während  Kains  Opfer 
loderte  und  nicht  rauchte,  oder  nur  sehr  wenig  aus  den  Fugen  heraus.  Da  froh- 
lockte Abel  und  wandte  sich  heimwärts,  um  seine  schöne  Schwester,  das  Weib 
Kains,  zu  besitzen.  Kain  aber  lief  ihm  nach  und  erschlug  ihn;  er  hatte  das 
Wasser  gesehen,  das  um  Abels  Stoss  geschüttet  war.  So  kam  das  grosse  Leid 
über  Adam  und  Eva. 

La  Vallette,  Malta. 

(Schluss  folgt.) 


Kleine  Mitteilungen. 


über  Tiroler  Bauernhochzeiten  und  Priniizeu. 

(Vgl.  oben  23,  399-40G.)  ' 

3.   Eine  Primizfeler  im  Burggrafenamte  und  ein  Primiztafeiiied  aus  dem  Pustertale. 

Die  Primiz,  d.  i.  die  erste  Messe  eines  neugeweihten  Priesters,  vom 
Volke  als  Vermählung  desselben  mit  der  Kirche  aufgefasst,  wird  in  den  Alpen- 
Hlndern  allgemein  überaus  feierlich  begangen  und  stellt  so  gewissermassen  eine 
geistliche  Parodie  der  Hochzeit  dar.  Es  ist  klar,  dass  bei  solcher  innerer  Ver- 
wandtschaft auch  die  Formen  der  weltlichen  Hochzeit  in  die  Primizfeier  ein- 
gedrungen sind.  Allerdings  ist  die  Primiz,  wie  schon  Kohl  in  seinem  oft  an- 
gezogenen Buche  betont  1),  im  allgemeinen  an  Gebräuchen  viel  ärmer  und  gleich- 
förmiger als  die  weltliche  Hochzeit.  Kohl  bringt  eine  Primizbeschreibung  aus 
dem  Sarntale,  die  ganz  gut  als  Typus  der  südtirolischen  Primiz  überhaupt  an- 
gesehen werden  kann,  wenn  auch  anderorts  Abweichungen  vorkommen.  Ins- 
besondere ändert  sich  der  äussere  Eindruck  dieses  Festes  nach  den  wirtschaft- 
lichen Verhältnissen  der  Gegend;  eine  Primizfeier  wird  im  reichen  Etschtal 
natürlich  mit  viel  mehr  Gepränge  und  Kostenaufwand  verbunden  sein  als  in  einem 


1)  Kohl,    Die  Tiroler  Bauernhochzeit  11)08    S.  27G.    —    Vgl.    Piger,   Eine    Primiz   in 
Tirol  (oben  9,  396—399)  und  Blümml,  Drei  Primizlieder  (oben  18,  88—90;. 


72  Menghin: 

Bergdörflein  'eines  hochgelegenen  Seitentales.  Ich  möchte  daher  hier,  obgleich 
die  Ähnlichkeiten  grosse  sind,  die  Beschreibung  einer  Primiz  oder  'nuien  Möss' 
(neue  Messe)  bieten,  wie  sie  sich  in  einem  reichen  Weindorfe  des  Burggrafen- 
amtes (Meraner  Gegend)  abspielt.  Vielleicht  lohnt  es  sich  auch  deswegen,  weil 
ich  doch  den  einen  oder  den  anderen  Zug  mit  grösserer  Ausführlichkeit  zu  be- 
handeln in  der  Lage  bin.  Mein  Gewährsmann  ist  ein  geistlicher  Freund,  der  vor 
einigen  Jahren  hier  primiziert  hat. 

Zu  den  wichtigsten  Vorbereitungen  der  Feier  gehört  die  Aufstellung  von 
Triumphbögen.  Solche  stehen  vor  dem  Kirchenportal,  vor  dem  Widen  (Pfarr- 
haus), am  Eingange  des  Dorfes,  vor  dem  Elternhause,  gelegentlich  auch  in  einer 
Dorfgasse,  durch  die  der  Zug  kommen  muss,  und  vor  dem  Wirtshause,  in  dem 
das  Festessen  stattfindet.  Die  notwendigen  Taxen  (Fichten-  oder  Tannenäste)  und 
das  Gerüstholz  werden  auf  Kosten  der  Gemeinde  herbeigeschafft.  Das  Winden 
der  Girlanden  übernehmen  meist  freiwillig  junge  Burschen,  die  dafür  vom  Hause 
des  Priraizianten  reichlich  mit  Wein  versorgt  werden.  Zwischen  den  einzelnen 
Triumphpforten  stehen  oft  noch  'Mandlen'  (taxenumvvundene  Säulen),  die  mit 
Bogen  von  Taxengewinden  untereinander  und  mit  den  Triumphpforten  verbunden 
sind.  Der  Bau  dieser  Bogen  geschieht  nach  gewissen  Traditionen,  und  es  gibt 
eigene  Leute,  die  sich  darauf  verstehen.  Der  Hauptstolz  jedes  Bogenbauers  ist 
es,  die  Tore  möglichst  hoch  zu  machen.  Das  Grundschema  der  Pforten  nähert 
sich  zumeist  der  Form  eines  gotischen  Kirchenfensters.  In  den  Giebel  werden 
allerlei  Zierrate,  gewöhnlich  auch  ein  Kelch,  hineinkomponiert.  Zahllose  Fahnen, 
die  zwischen  die  Gewinde  gesteckt  werden,  beleben  das  Gesamtbild.  In  hervor- 
ragender Weise  müssen  auch  deutsche  und  lateinische  Chronogramme  der  Ver- 
herrlichung des  Festes  dienen.  Gewöhnlich  ist  es  ein  alter  Frühmesser  oder 
Pater,  der  diese  Dinge  zusammenstellt;  es  gibt  deren,  die  in  diesem  Metier 
berühmt  sind.  Chronogramme  werden  vor  allem  an  den  Triumphbögen,  dann  am 
Widen,  an  der  Kirche,  am  Wirtshaus,  im  Speisesaale  und  vor  dem  Schlafzimmer 
des  Primizianten  angebracht;  sie  enthalten  in  aphoristischer  Form  (manchmal  auch 
in  Versen)  Gratulationen  an  den  Primizianten,  an  seine  Eltern,  an  die  beglückte 
Gemeinde,  auch  fromme  Sprüche.  Die  aufgelösten  Zeitangaben  geben  das  Geburts- 
jahr des  Primizianten,  das  Jahr  der  Primiz  u.  dgl.  an. 

Eine  sehr  wichtige  Rolle  bei  jeder  bäuerlichen  Feier  in  Tirol  spielt  das 
Schiessen.  In  alten  Zeiten  wurde  zu  Hochzeiten,  Kindstaufen  und  Primizen  mit 
Gewehren  geschossen,  wie  aus  den  Verordnungen  Maria  Theresias  und  Kaiser 
Josephs  IL  hervorgeht,  die  sich  lange  vergeblich  bemühten,  den  Unfug,  zwischen 
den  Häusern  zu  schiessen,  abzustellen,  und  strenge  Strafen  dafür  androhten^). 
Diesem  Brauche  müssen  wohl  alte  Vorstellungen  zugrunde  liegen,  da  es  dem 
Bauern  gar  so  schwer  fällt,  sich  davon  loszusagen.  Heute  begnügt  man  sich 
zwar  mit  Pöllern,  die  auf  einer  Anhöhe  ausserhalb  des  Dorfes  losgelassen  werden; 
aber  sie  kommen  desto  reichlicher  zur  Verwendung.  Bei  der  Primiz  meines 
Gewährsmannes  wurden  jedesmal  nicht  weniger  als  154  losgelassen.  Es  gehört 
zu  den  Vorbereitungen  der  Primiz,  die  PöUer  zusammenzuleihen,  um  möglichst 
viele  Schüsse  in  einer  Reihe  abgeben  zu  können. 


1)  Hofentschliessuug  vom  (1.  Juli  1752  (k.  k.  Theresianisches  Gesetzbuch  1,  3G7),  Ver- 
ordnungen vom  13.  Februar  1754  (ebd.  2,  330),  17.  Jänner  1756  (ebd.  3,  350),  17.  Juni 
17GG  (ebd.  5,  61),  17.  Mai  1768  (ebd.  5,  297),  16.  August  1775  (ebd.  7,  349  für  Steiermark), 
15.  Jänner  1787  (Handbuch  aller  unter  der  Regierung  des  Kaisers  Joseph  II.  f.  d.  k.  k. 
Erbländer  ergangenen  Verordnungen  und  Gesetze  13,  55  für  Böhmen\  24.  März  180i» 
Sr.  k.  k.  Majestät  Franz  II.  politisclie  Gesetze  und  Verordnungen  15,  42  für  Böhmen). 


Kleine  Mitteilungen.  73 

Umfassende  Vorbereitungen  werden  natürlich  auch  für  das  Primizmahl  ge- 
troffen. Da  wird  schon  tagelang  vorher  gesotten,  gebacken  und  gebraten,  und  viel 
Vieh  muss  das  Fest  mit  seinem  Leben  bezahlen.  Die  Tafel  wird  mit  Blumen, 
Türmen  von  Obst-  und  Backwerk,  Eispyramiden  usw.  aufs  prunkvollste  heraus- 
geziert. Auch  für  diese  Verrichtungen  gibt  es  eigene  Leute,  die  oft  weit  und 
breit  berühmt  sind  und  herbeigeholt  werden.  Sie  machen  sich  natürlich  recht 
wichtig  und  tragen  schon  im  Gesicht  einen  Abglanz  ihrer  Bedeutung.  Die  Sitz- 
ordnung wird  vorbestimrat:  der  Festgast  findet  seinen  Namen  neben  dem  Teller. 
Den  Ehrenplatz  nimmt  natürlich  der  Frimiziant  ein,  neben  ihm  sitzen  der  Primiz- 
prediger  und  die  Eltern,  unfern  auch  die  Primizbraut.  Im  übrigen  ist  man  nicht 
sehr  heikel,  lässt  aber  die  Geistlichen,  die  Städter  und  die  Bauern  möglichst  in 
Gruppen  beisammen  sitzen.  Alle  neugierigen  Leute  gehen  am  Tage  vor  der  Priraiz 
ins  Wirtshaus  und  sehen  die  Primiztafel  an. 

Einen  wichtigen  Teil  der  vorbereitenden  Handlungen  bildet  ferner  das  Ein- 
laden. Es  wird  gewöhnlich  von  einem  Bruder  des  Primizianten,  der  dazu  die 
schmucke  Nationaltracht  anlegt  und  einen  grossen  Buschen  auf  dem  Hut  hat,  und 
dem  Pfarrer  des  Ortes  besorgt.  Die  beiden  fahren  im  Wagen  zur  ganzen  'Freund- 
schaft', auch  in  den  entlegeneren  Nachbargemeinden  herum,  und  bringen  ihre  Ein- 
ladung an.  Überall  bekommen  sie  Essen  und  Trinken  vorgesetzt.  Es  ist  Sitte, 
bei  dieser  Gelegenheit  nur  weissen  Wein  zu  bieten.  Eingeladen  werden  ausser 
den  Verwandten  die  Geistlichen  der  Umgebung,  alte  Schulkollegen,  Theologen, 
besonders  die  vom  selben  Jahrgang.  Die  Zahl  der  Festteilnehmer  überschreitet 
150  nicht  selten. 

Zur  Priesterweihe,  die  in  unserem  Falle  in  Trient  stattfindet,  finden  sich  nur 
die  allernächsten  Verwandten  ein.  Mit  ihnen  reist  dann  der  Primiziant  in  seine 
Heimat,  gewöhnlich  kommt  er  dort  erst  am  Vorabende  des  Festtages  an,  damit  er 
die  Vorbereitungen  zur  Feier  nicht  sieht.  Am  Eingang  des  Dorfes  —  in  Eisen- 
bahnstationen am  Bahnhof  —  erwartet  ihn  die  Geistlichkeit,  eine  Abordnung  der 
Gemeindevertretung  und  die  Verwandtschaft,  ferner  was  an  Primizgüsten  schon 
da  ist  und  natürlich  viel  schaulustiges  Volk.  Unter  dem  Krachen  der  Polier  hält 
der  Vorsteher  eine  Anrede  an  den  Gefeierten,  auf  die  derselbe  kurz  erwidert.  Der 
Zug  geht  dann  zur  Kirche,  wo  ein  kurzes  Gebet  verrichtet  wird,  und  darauf  in 
den  Wicien  zum  Abendessen.  Der  Primiziant  zeigt  sich  wenig  und  schläft  nicht 
zu  Hause,  sondern  im  Widen. 

Am  nächsten  Tage,  dem  der  eigentlichen  Feier  —  gewöhnlich  ein  Sonn-  oder 
Festtag  —  wecken  schon  in  aller  Frühe,  beim  Betläuten  um  4  oder  5  Uhr,  Böller- 
schüsse. Die  Primiz  beginnt  gewöhnlich  um  8  Uhr.  Vorher  kommen  alle  Gäste 
in  Festtracht,  die  Bauern  im  Nationalkostüm,  Jungfrauen  mit  einem  Kranz  in  den 
Haaren,  im  Widen  zusammen  und  erhalten  den  Primizbuschen,  Geistliehe  einen 
Kranz  am  Arm,  Laien  ein  Sträusschen  für  Hut  oder  Rock,  der  Primiziant  selbst 
einen  Kranz  mit  Kelchbild  oder  ähnlichem.  Das  Befestigen  besorgen  Verwandte, 
alte  Tanten  u.  dgl.  Der  Primiziant  wird  hier  auch  mit  Albe  und  Pluviale  be- 
kleidet, ebenso  die  Diakonen,  gewöhnlich  Primizianten  desselben  Jahrganges.  Vor 
dem  Widen  warten  die  Leute  und  die  Himmelträger.  Beim  Verlassen  des  Widens 
sagen  Kinder  oder  die  weissgekleidete  und  bekränzte  Primizbraut  nicht  selten  ein 
Gedicht  auf.  Dann  beginnt  der  Einzug  in  die  Kirche,  der,  wenn  viele  Leute  da 
sind,  oft  grosse  Umwege  machen  muss,  um  sich  entwickeln  zu  können.  Im  Zuge 
befinden  sich  die  Musik,  die  Geistlichkeit  mit  dem  Primizianten  unter  dem  Himmel, 
die  Braut,  die  auf  einem  Kissen  einen  Kranz  trägt,  und  die  Verwandten  und 
Gäste.      Das  Volk    bildet  Spalier.      Dazu    läuten    die    Glocken    und    krachen    die 


Y4  Menghin : 

Polier.  Beim  Betreten  der  Kirche  erschallt  vom  Chor  ein  Einzugslied,  dann  das 
Veni  Creator  spiritus.  Darauf  folgt  die  Primizpredigt,  die  gewöhnlich  der  Priester 
hält,  der  den  Primizianten  seinerzeit  für  das  Gymnasium  vorbereitet  hat;  sonst 
ein  Verwandter  oder  besonderer  Gönner,  Zur  Primizpredigt,  die  sich  vornehmlich 
mit  der  hohen  Bedeutung  der  Priesterwürde  beschäftigt,  gehört  unbedingt  eine 
Apostrophe  an  den  Primizianten,  dessen  Eltern,  Verwandte  und  Gönner.  Das  ist 
der  Moment  allgemeiner  Erbauung  und  Rührung  und  geht  nicht  ohne  reichliche 
Tränen  ab.  Nach  der  Predigt  erteilt  der  Primiziant  den  Segen,  der  ein  eigenes 
Formular  und  besondere  Kraft  besitzt.  Nun  folgt  das  Amt,  bei  dem  zwei  Diakonen 
assistieren.  Der  Pfarrer  des  Ortes  ist  Zeremoniär;  der  Dekan  fungiert  gewöhnlich 
als  Assistent,  ein  tirolischer  Abusus,  da  das  Recht  auf  eine  Assistenz  von  der 
Kirche  nur  infulierten  Prälaten  zuerkannt  wird.  Die  Primizbraut,  womöglich  eine 
Schwester  des  Primizianten,  tritt  während  des  Hochamtes  wieder  in  Funktion. 
Sie  ist  gewissermassen  das  Symbol  der  Kirche  Christi,  mit  der  sich  der  Primi- 
ziant im  Augenblicke  seines  ersten  heiligen  Messopfers  vermählt,  und  tritt  daher 
beim  Offertorium  an  den  Altar,  legt  dort  das  Kissen  mit  dem  Kranze  nieder  und 
holt  es  wieder  nach  der  Wandlung.  Bei  den  Hauptteilen  der  Messe  erdröhnen 
auch  wieder  die  Polier.  Bei  der  Kommunion  empfangen  die  Braut,  die  Eltern  und 
Verwandten  das  Sakrament.    Nach    dem  Amte  wird  wieder  der  Primizsegen  erteilt. 

Der  Primiziant  geht  nun  mit  den  Geistlichen  in  den  Widen,  um  dort  zu  früh- 
stücken. Die  liturgischen  Kleider  hat  er  schon  in  der  Kirche  abgelegt.  Vor  dem 
Widen  wartet  das  Volk  und  die  Musik,  bis  der  Primiziant  wieder  herauskommt; 
dann  gehts  in  lustigem  Zuge  zum  Wirtshaus. 

Das  Essen  beginnt  ungefähr  um  11  Uhr.  Zuerst  kommt  die  Suppe;  am  vor- 
nehmsten ist  Milzschnittensuppe.  Die  gewöhnlichen  Leute,  die  nicht  eigentlich 
zu  den  Primizgästen  gehören,  aber  sich  durch  Aufstellen  von  Triumphbogen  und 
ähnliche  Arbeiten  verdient  gemacht  haben,  werden  in  einem  anderen  Räume, 
etwas  weniger  üppig,  abgespeist.  Sie  erhalten  zumeist  Nudelsuppe  mit  Wurst, 
das  Ideal  der  bäuerlichen  Bevölkerung.  Wein  fliesst  natürlich  von  allem  Anfang 
an  in  Strömen.  Besonders  die  Musikanten,  die  sich  vor  dem  Wirtshaus  auf- 
stellen und  fleissig  spielen,  fühlen  sich  zu  grossem  Durst  verpflichtet.  Auch  Bier 
wird  getrunken.  Als  erster  Gang  folgt  auf  die  Suppe  regelmässig  kalter  Aufschnitt, 
besonders  Schinken.  Inzwischen  wird  es  12  Uhr.  Der  englische  Gruss  wird  ge- 
betet. Draussen  krachen  die  Polier.  Man  sagt  sich  gegenseitig  guten  Nach- 
mittag. Dann  kommt  das  Rindfleisch.  Nach  diesem  Gange  folgt  die  erste  Rede, 
die  dem  Primizprediger  zufällt.  Sie  ist  humoristisch  gehalten  und  nimmt  ins- 
besondere die  Jugendzeit,  die  Freuden  und  Schmerzen  der  Studienjahre  des 
Primizianten  zum  Thema.  Der  Rede  folgt  grosser  Tusch,  Pöllerkrachen  und 
Hoch  auf  den  Primizianten. 

Damit  ist  gewissermassen  der  offizielle  Teil  erledigt,  und  die  Stimmung  geht 
ins  Gemütliche  über.  Braten  folgt  auf  Braten,  dann  kommen  Mehlspeisen, 
Bäckereien,  Obst,  Eis  und  wenn  einer  schon  genug  getan  zu  haben  glaubt,  muntern 
ihn  die  andern  zum  Essen  und  Trinken  auf.  Dabei  werden  viele  Reden  ge- 
schwungen. Gewöhnlich  spricht  noch  der  Dekan  auf  die  Eltern  und  Wohltäter 
des  Primizianten,  der  Pfarrer,  der  Vorsteher,  ein  Studienfreund  usw.  Am  Schlüsse 
auch  noch  der  Primiziant;  er  richtet  seine  Dankesworte  an  die  Eltern,  den  Orts- 
pfarrer, seine  Wohltäter,  an  alle,  die  sich  um  die  Primiz  verdient  gemacht  oder 
daran  beteiligt  haben.  Nach  dieser  Rede  folgt  ein  grosses  Anstossen  und  Leben- 
lassen. Nicht  selten  traten  dann  noch  Kinder  in  Nationaltracht  auf,  die  Gedichte 
deklamieren  und  Blumensträusse  überbringen. 


Kleine  Mitteilungen.  75 

Um  2  Uhr  beginnt,  durch  Pöllerschüsse  eingeleitet,  die  Vesper,  zu  der  sich 
der  Primiziant,  die  Geistlichkeit,  und  wer  sonst  noch  will,  entfernen.  Die  meisten 
bleiben  im  Wirtshaus  und  tun  sich  ungezwungen  gütlich.  Es  ist  unglaublich, 
was  die  Bauern  bei  solchen  Gelegenheiten  vertilgen  können.  Dass  diese  Gelage 
früher  masslosen  Umfang  angenommen  haben,  lehrt  wieder  eine  Verordnung  aus 
der  Zeit  Maria  Theresias^),  die  die  bei  Hochzeiten  und  Primizen  üblichem  Gelage 
und  Tänze  der  Bürger  und  Bauern  von  drei  Tagen  auf  einen  einschränkt.  In 
Tirol  ist  man  ja  verhältnismässig  recht  bescheiden.  In  Niederösterreich  hingegen 
herrschen  z.  B.  noch  Esssitten,  die  an  Zustände  des  15.  und  16.  Jahrhunderts 
erinnern.  Nach  der  Vesper,  die  nicht  sehr  lange  dauert  und  mit  dem  Segen,  zu 
dem  wieder  gepöllert  wird,  schliesst,  setzt  das  Essen  ganz  obligat  wieder  mit  ge- 
backenen  Schnitzeln  ein.  Die  frohe  Stimmung  steigt  immer  höher  an;  es  werden 
nun  heitere  Gesänge,  in  unserer  Gegend  jedoch  kaum  mehr  Volkslieder  oder 
eigene  Dichtungen  vorgetragen.  Den  Chor  bestreiten  meist  sangestüchtige  Geist- 
liche, Theologen,  Studenten  und  Lehrer.  Dass  besonders  letzteren  früher  das 
Musizieren  und  Singen  bei  Hochzeiten,  Kirchtagen  und  ähnlichen  Anlässen  über- 
tragen war  und  oft  zu  Unzukömmlichkeiten  führte,  zeigt  uns  das  Verbot,  das  Maria 
Theresia  dagegen  erliess").  Auch  das  Brautstehlen  wird,  wo  es  noch  Sitte  ist,  in 
diesen  vorgerückten  Stunden  besorgt.  Gewöhnlich  wird  die  Primizbraut  von 
Theologen  in  ein  benachbartes  Wirtshaus  entführt.  Der  Primiziant  muss  sie 
suchen  und  durch  Bezahlung  der  Zeche  auslösen. 

Den  Beschluss  des  Mahles  bildet  auf  jeden  Fall  das  Anschneiden  der  Torten 
und  der  Kaffee.  In  früheren  Zeiten  waren  Krapfen  üblich.  Die  Torten  sind  in 
grosser  Zahl  vorhanden,  viele  mit  Sprüchen  und  Darstellungen  versehen.  Eine 
derselben  ist  die  Primiztorte.  Sie  steht  an  der  Tafel  vor  dem  Primizianten  und 
ragt  durch  einen  besonders  hohen  Aufbau,  häufig  auch  durch  eine  Darstellung 
des  Primizianten  am  Altar  aus  Zucker,  hervor.  Jeder  Primizgast  hat  das  Recht, 
für  seine  Angehörigen  etwas  von  den  Speisen  mitzunehmen.  Man  heisst  das  die 
Aschneatlen.  Die  Gäste  werden  von  den  Angehörigen  des  Primizianten  auf- 
gefordert, nur  ungeniert  einzustecken;  es  gehört  zum  guten  Ton,  sich  zu  weigern. 
Es  kommt  da  oft  zu  lustigen  Szenen,  wenn  einer  sich  mit  allen  möglichen  Redens- 
arten dagegen  wehrt,  etwas  mitzunehmen,  und  es  sich  dann  herausstellt,  dass  er 
die  Taschen  schon  zum  Platzen  voll  hat.  Im  Verlaufe  des  Nachmittags  werden 
ferner  auf  Tellern  die  Primizbilder  mit  der  Inschrift  'Andenken  an  das  erste  hl. 
Messopfer  des  N.  N.  in  N.  am  soundsovielten'  herumgereicht.  Man  nimmt  sich 
davon,  was  einem  gefällt. 

Beim  Avemarialäuten  wird  wieder  mitgebetet.  Die  Polier  werden  zum  letzten 
Male  losgelassen.  Man  wünscht  sich  gegenseitig  guten  Abend.  Es  wird  dann 
nicht  allzuspät  Schluss  gemacht.  Gelegentlich  findet  noch  ein  Feuerwerk  oder 
eine  Bergbeleuchtung  statt.  Dann  gehen  die  Geistlichen  und  die  allernächsten 
Verwandten  in  den  Widen,  wo  noch  ein  kleines  Nachtessen  wartet. 

Damit  ist  die  Feier  zu  Ende.  Der  Primiziant  verbringt  die  Tnge  bis  zur  Be- 
rufung auf  einen  Posten  durch  den  Bischof  im  Heimatsdorfe.  Er  wohnt  nicht 
hei  den  Eltern,  sondern  im  Pfarrhofe.  Für  die  künftige  Amtstätigkeit  laufen  bei 
ihm  verschiedene  Geschenke  der  Verwandten:  Kelche,  liturgische  Kleider,  Breviere, 
Messbücher,  Versehbeutel  u.  dgl.  ein;  zumeist  werden  die  Sachen  schon  zur 
Primiz  mitgebracht. 

1)  Hofdekret  vom  24.  Juni  1771  (k.  k.  Theresianisches  Gesetzbuch  (>,  36n\ 

2)  Patent  vom  (i.  Dezember  1774  (k.  k.  Theresianisches  Gesetzbuch  7,  135). 


76 


Menghin,  Behrend: 


Oben  wurde  erwähnt,  dass  der  volkstümliche  Gesang  in  der  Meraner  Gegend 
bei  solchen  Gelegenheiten  nicht  mehr  gepflegt  wird.  Die  Regensburger  und 
andere  Quartette  haben  ihn  ganz  verdrängt.  Es  ist  aber  nicht  überall  in  Tirol 
so.  Besonders  im  Puster-  und  Eisacktale  blüht  die  Sitte  noch,  sowohl  die  Ein- 
ladungen zur  Primiz  ganz  nach  den  bei  der  Hochzeit  üblichen  Formen  vor- 
zunehmen, —  Kohl  veröffentlicht  drei  solcher  Reimreden ^)  —  als  auch  während 
der  Tafel  eigens  für  den  Tag  gedichtete  Lieder  abzusingen.  Kohl  bringt  ein 
geistliches  Tafellied  aus  dem  Eisacktale  und  eines  aus  Hochfilzen-Pillersee  bei"). 
Ich  verdanke  die  Handschrift  eines  solchen  aus  Reischach  bei  Bruneck  wiederum 
der  Liebenswürdigkeit  P.  Gaudentius  Kochs.  Es  ist  eigens  für  die  Primiz,  die 
zugleich  mit  der  Hochzeit  eines  Bruders  stattfand,  gedichtet  und  sehr  charakteristisch 
für  die  Gefühle,  die  das  Volk  einem  solchen  Feste  entgegenbringt.  Für  Sprache 
und  Wiedergabe  gilt  hier  dasselbe  wie  beim  oben  abgedruckten  Brautbegehren. 

Tafellied    zur    Primitz    des    H.   H.    Georg  Kronbichler. 


1,  Komt  her,  ihr  geladenen  Gäste, 
Du  ganze  versammelte  Schaar, 

Heut  zu  diesen  freudvollen  Feste 

"Wie  keines  in  Reischach  nie  war, 

Primitz  und  Hochzeit-Tag  zugleich, 

0  wie  freudenreich 

Heut  für  alle  gleich, 

Ein  Tag  wie  noch  keiner  nie 

War  bei  uns  allhier 

Noch  nie. 

Und  der  Vater  feurt 

Den  Geburt  Tag  heut 

Und  das  Namensfest 

Auf  das  allerbest. 

So  wie  durch  acht  und  siebzig  Jahr 

Nie  kein  Namenstag 

So  schön  war"). 

2.  Du  JörgP),  du  hast  das  errungen. 
Nach  döu  du  dich  lange  gesehnt 

Und  uns  ist  es  auch  nun  gelungen, 
Dich  Priester  des  Höchsten  zu  nenn, 
Des  ist  für  dich  a  Himmelsglück 
Das  dir  Gott  geschickt 
Und  für  uns  a  Glück 
In  der  Gmeuude  in  und  aus, 
Freud  in  jeden  Haus, 
lu  und  aus, 
0  welch  große  Freud 
Ist  in  der  Gemeind, 
Wenn  ein  Nachbars*)  Sohn 
Priester  werden  kan, 
Ist  für  die  Gemeind  a  Zier 
Immer  für  und  für, 
Eine  Zier. 
Wien. 


3.  Dir  Vater  vergun  mir*^)  die  Freude, 
Die  dir  durch  die  Söhne  zu  Theil, 

Der  eine  in  den  Priester  Kleide, 

Der  Menschheit  zum  Wohle  und  Heil, 

Der  andr  als  Baur  in  der  Gemeind, 

Allen  gut  gemeint, 

Hat  sich  heut  vereint 

Mit  der  Moidlan,  seiner  Braut, 

Die  ihn  anvertraut 

Als  Braut 

Und  die  Moidl  thuit') 

Als  was  recht  und  guit®), 

Schaugl,  £0  wie  sie  kan, 

Geht  ihn  an  die  Hand. 

Regiert  in  Hause  nach  Gebühr 

Immer  für  und  für 

Nach  Gebühr. 

4.  Geschwister,  Verwandte  und  Freunde, 
Die  ihr  da  versammelt  hier  seid, 

Ihr  Nachbarn  der  Reischinger  Gmeinde 

Denkt  oft  zurück  an  diese  Freud 

Und  danket  Gott  für  diese  Tag 

Und  die  große  Gnad, 

Welche  er  uns  hat 

Erwiesen  uns  zur  größten  Freud, 

Danket  ihn  allzeit. 

Nicht  bloß  heut. 

Diese  Freiidenzeit 

Ins  Gedächtnis  schreibt. 

Diesen  Freudentag, 

Der  in  Reischach  war 

Im  neunzehnhundert  dritten  Jahr, 

Da  im  Juli  war 

Zwölfter  Tag. 

Oswald  Menghin. 


1)  Kohl  S.  186.  —  2)  Kohl  S.  87.  —  3)  Der  Vater  war  also  78  Jahre  alt.  —  4)  Georg, 
der  Primiziant.  —  5)  Nachbar  hier  in  dem  Südtirol  vielfach  gebräuchlichen  Sinn  'Gemeinde- 
genosse'. —  6)  Vergönnen  wir.  —  7)  Pustertaler  Ma.  für  tut.  —  8    gut. 


Kleine  Mitteilungen.  77 


Aus  den  Reiseberichten  des  Freiherrn  Augustin  von  Slörsperg. 

Eine  lange  als  verschollen  geltende  Chronik,  über  die  zum  erstenmal  wieder 
Professor  ^V agner  in  den  Preussischen  Jahrbüchern  73,  484:  (1893)  Kunde  geben 
konnte,  ist  jüngst  in  den  Besitz  der  neubegründeten  Landesbibliothek  zu  Sonders- 
hausen gelangt  und  bildet  ihren  wertvollsten  Schatz.  Es  ist:  „Ein  schönne 
lustige  vnd  warhafftige  Erzellung  vonn  dem  hochloblichen  vnd  Ritterlichen  Sant 
Johan  Ordens  .  .  .  .  zue  dem  andere,  was  sich  -bey  meinen  Zeitten  in  14.  Jaren 
von  anno  1573  anfangent  Namhafftigs  vnd  wirdigs  zue  wasser  vnd  land  zuegetragen, 
zum  dritten  nach  abzug  von  Malta  was  Ich  nachgentz  für  lustige  vnd  fürneme 
Reisen  durch  ettliche  Königreich  in  Europa  .  .  .  verricht  vnd  gesehen  hab,  dz 
alles  In  Kürtze  In  drey  bücher,  hie  ein  ander  nach  sovil  möglichen  durch  mich 
Augustin  Freiherr  zu  Mörsperg  vnd  Beffort,  dises  Ordens  Ritter  vnd  commenden 
zu  Sant  Johan  Dorlesheim,  Bassell,  Keraendorf  vnd  Rexingen,  ordentlich  be- 
schryben  .  .  ." 

Der  Freiherr  von  Mörsperg  war  ein  tapferer  und  menschlicher  Ordensritter, 
von  schier  ungebändigter  Neubegier,  vieler  Menschen  Städte  und  ihre  Landsart 
kennen  zu  lernen;  vor  1606  muss  er  noch  im  rüstigen  Alter  gestorben  sein.  Dem 
Historiker  bleibt  die  Frage  zu  lösen,  wie  viele  seiner  Reisen  in  nordische  Länder: 
Dänemark,  Schweden,  Norwegen,  England  und  Schottland  dem  persönlichen  Wunsch 
oder  dem  sachlichen  Ordensinteresse  entsprangen;  beides  wird  sich  miteinander 
verbunden  haben,  möchte  ich  zunächst  annehmen.  Der  Freiherr  beobachtet  gut 
und  weiss  mit  einem  trockenen  Humor  zu  erzählen,  wenn  auch  seine  Prosa  zer- 
hackt ist.  Starken  Eindruck  hat  auf  ihn  der  Hof  der  Königin  Elisabeth  gemacht; 
er  bemerkt  aber  nüchtern-drastisch,  dass  man  der  gewaltsam  jugendlichen,  präch- 
tigen Königin  anmerke,  sie  sei  kein  'heurigs  Häslein'  mehr.  —  Wie  schade,  dass 
der  Freiherr  nicht  genug  englisch  verstand;  so  flüchtet  er  aus  den  kurz  gestreiften 
Theatern  Londons  zu  den  Hunden,  Bären  und  Eseln  und  beobachtet  bei  den 
Tierkämpfen  das  erregt  anteilnehmende  Volk. 

Besonderen  Wert  verleihen  der  Handschrift  die  überaus  zahlreichen,  gut  aus- 
geführten Bilder  oft  in  Blattgrösse.  Freilich,  so  sehr  der  Reisende  auch  den 
Schein  zu  erwecken  sucht,  als  habe  er  die  Menschen  und  Trachten  an  Ort  und 
Stelle  'abreissen'  lassen,  so  ist  das  ein  naiver  Täuschungsversuch;  für  die  grössto 
Zahl  der  Trachtenbilder  konnte  mir  ein  Kenner  wie  Dr.  Doege  an  unserem  Kunst- 
gewerbemuseum binnen  kurzem  die  Vorbilder  älterer  Reisewerke  vor  Augen 
führen;  immerhin  mögen  einige  (wie  das  Bild  Bl.  187 ^  'Wie  die  frauwen  vnd 
megt  zue  Hamburg  Im  Karren  ziehen  miessen'  und  die  bildliche  Darstellung  des 
Rattenfängers  von  Hameln,  die  wir  unten  bringen)  bisher  unbekannt  sein.  Kritische 
Betrachtung  wird  auf  jeden  Fall  geboten  sein;  denn  gleich  am  Eingang  begegnet 
uns  ein  eingeklebter  Stich  mit  der  Unterschrift  'Augustin  Freiherr  zu  Mörsperg\ 
Wir  freuen  uns,  den  kühnen  Reisenden  vor  uns  zu  haben,  und  suchen  Gesicht 
und  Schicksal  in  Einklang  zu  bringen.  Eine  lateinische  Umschrift,  die  früher 
überklebt  war,  kündet  uns  aber,  dass  der  stattliche  Ritter  'summus  Caesarei 
exercitus  Imperator  illustrissimus  princeps  Carolus  Mansfoldus  coraes'  sei; 
oder,  sagen  wir  vorsichtiger,  ihn  vorstellen  solle. 

Immerhin  richtig  gefasst,  bleibt  das  Buch  ein  Kleinod.  Mögen  sich  die 
Gönner  finden,  welche  die  vollständige  Wiedergabe  ermöglichen!  Auch  für  die 
Volkskunde  wird  manches  dabei  abfallen;  als  Proben  hebe  ich  folgende  Teile 
heraus: 


78 


Behrend : 


I.  Vom  Rattenfänger  zu  Hameln^). 

Von    der  Stat  Hamblen    In  Westfalen  vnd    von    den  130  Kindern,    so    sich    da 

verloren  haben. 

Von  Cassell  wider  fortzogen  vff  Minden,  so  2  Meil,  zuo  Pfert  nach,  von 
Cassell  laufet  auch  ein  Wasser  die  Fulda  genant,  by  Minden  oberhalb  in  die 
Weser,  können  auch  kleine  schiff  drauf  faren. 

Zue  Minden  vff  ein  schiff  gesessen  vnd  auf  der  Weser  gefaren  biß  gen 
Hamblen,  In  Westfalen  an  Braunschwig,  dohin  ich  dan  Vorhabens  vphar,  so  man 


Rechnet  zu  wasser  12.  Mcil,  jn  drythalb  dagen  verriebt  vnd  vff  der  Weser  durch- 
zogen oder  für  vber,  nämlich  [Hier  fehlen  zwei  Zeilen]. 

Hamblen  ein  feyne  Statt,  dem  hertzogen  von  Braunschwig  zuestendig,  an  der 
Weser.  Dieweil  ich  dan  allerhant  abenthür  von  disem  Ortt  gehört,  jch  selber  es 
sehen  vnd  hören  wolt,  vnd  nämlich  mier  nit  allein  von  den  fürnempsten  des  Rhatts 
vnd  prediger,  sonder  menniglich  bestettet  whartt,  das  vor  308.  Jar,  do  man  zeit 
1284,  vff  Johanni  vnd  paulj  Tag  dohin  komen  sei  ein  pfiffer  vnd  spilman,  mit  einem 
bundten  Kleidt  von  vil  färben  jn  dise  Statt,  so  vil  wunders  gedriben  haben  soll 
mit  syner  pfiffen,  damit  er  jhnen  vff  ein  kleine  zeytt  alle  Ratten  vnd  meuß,  durch 


1)  Augustin  von  Mörsperg-,  Reisebuch  Reise  1592)  Bl.  l!)ob.  —  Vgl.  Grimm,  Deutsche 
Sagen  ^  nr.  245.  Dörries,  Zs.  des  histor.  Vereins  f.  Niedersachsen  1880,  169.  Meinardus, 
Der  historische  Kern  der  Hameler  Rattenfängersage  (ebd.  1882,  25G).  Jostes,  Der  Ratteu- 
fänger von  Hameln  (1896).  Meissel,  Die  Sage  vom  Rattenfänger  von  Hameln  (1907). 
Gutch,  Folklore  3,  227.  Bode,  Des  Knaben  Wunderhorn  1909  S.  511.  Schmidt,  Studien 
zur  vgl.  Litg.  8,  125. 


Kleine  Mitteilungen.  79 

sein  pfiffen  für  die  Stadt  hiuaußer  jn  denn  wasser  fluß  die  Weser  gefiert  vnd 
bracht,  dem  sie  all  nachzogen,  also  vf  ein  schiffly  gehalten  uf  dem  wasser,  biß 
sie  all  erseufft  vnd  vmbkoramen  seint,  deren  ein  vnsegliche  wuest  da  gewesen 
sein  soll.  Vnd  aber  jme  die  Stat  ein  schlechte  besoldung  oder  Vererung  vmb 
ein  gar  geringers,  ja  ein  spott  gegen  jrem  Versprechen  nach,  so  30  golt  gülden, 
geben  wellen,  das  er  nit  annemen  wollen.  Sondern  bald  darnach  an  einem 
Sontag,  dieweil  man  In  der  Kirchen  gewesen,  sein  pfiffen  wider  braucht  vnd  hören 
lassen,  do  jme  ein  große  menge  Kinder,  so  do  zu  hauß  bliben  waren,  nämlich 
130  Kinder  von  ettlichen  straßen  in  der  Stat,  dardurch  er  pfiffen  gieng,  mit  jme 
hinauß  fhuerett  für  die  Statt  ettlich  lOü  Schrit  gegen  einem  Bergly  Calvariä  genant, 
welches  bergly  sich  aufgethon,  dorin  der  pfiffer  mitsampt  seinen  Rindern  zogen, 
mit  allenn  sammen,  biß  auf  eins,  so  vff  der  Strassen  vnderwegs  ligen  bliben,  aber 
Erstumet  gewesen,  also  nur  zeigen  vnd  nit  hören  können,  vnd  gedeut,  wo  die 
andern  hinkommen  seint,  also  solche  Kinder  mit  grossem  schrecken  vnd  klagen 
Jaraer[lich]  verloren  worden,  das  niemantz  mer  von  jhnen  gehortt  hatt,  wo  sie 
hinkommen. 

Vnd  solches  factum  die  Statt  jn  jerem  Ratsbuch  geschrieben  befindet  vf  Jar 
vnd  dag,  das  die  fürnempsten  Ratsherrn  vnd  auch  geistlichen  mir  das  gezeuget 
war  sein,  vnd  aber  diser  actus  vf  Johanni  et  pauli  anno  1-284  sich  begeben  vnd 
wenig  zuvor  zu  jhnen  körnen.  Dise  geschieht  ist  an  gar  vilen  ortten  jn  der  Statt, 
Rathauß,  Kirchen  biß  jn  den  Wirtsheusern  nit  allein  abgemalt,  sondern  jn  vil 
glaßfenstern  gar  artlich  gemacht.  Vnd  hab  hieneben,  wie  ich  gesehen  jn  glaß 
fenstern,  abmalen  lassen. 

Also  von  der  Zeit  an  hatt  die  Stat  vnd  Rhatt  jn  allen  jeren  schreyben  zue 
Endt  gebraucht,  nämlich  noch  Cristus  geburtt  vnd  was  es  den  gewesen,  vnd 
doran  gesetzt:  vnd  nach  vnser  lieben  Kinder  außfartt,  vnd  auch  so  lang  es  dan 
geweßt,  vnd  noch  erst  vor  wenig  Jaren  by  menschen  gedencken  solcher  brauch 
abgang  wider  [!].  Vnd  noch  vf  diße  stundt  laßt  man  kein  seittenspyl  durch  solche 
Straßen  passieren  by  hocher  straff,  das  hab  jch  gesehen. 

2.    Von  einer  dänischen  Bauernhochzeit. 

Von    einer  wunderbarlichen  bauren    hochtzeit  jn   Dennemarck    gegen  Nort- 
wegen  zue,   dahin   jch  geladen   wart  vnd  kam. 

Anno  1592.  Vff  eynen  Sontag  ward  Jacob  Krabbe  von  eynem  seyner  Riehen 
Bauren  geladen,  vff  ein  Hochzeit,  vff  ein  groß  dennemarckisch  dorff  jme  zuestendig, 
dahin  er  mich  dan  auch  mit  namb,  erstlich  zum  kirchgang,  volgentz  zue  der  mittag 
Maltzeit.  Da  waren  seltzam  zue  sehen  die  Ceremonien  vnd  gebreuch,  wie  klei- 
dungen.  Dan  die  Hochzeitterin  sonderlich  [hatte]  ein  Rock  vnd  Kleidt'),  blau- 
farb,  vnd  vberall  mit  kleinen  silbern,  auch  vergulten  blechly,  von  allerhant  buech- 
staben,  blumen,  rosen,  sterncn  vnd  zeichen  vberzogen,  wie  hie  vornne  abgerißen, 
jtem  ein  breitte  gürtel  rott,  auch  also  von  allerhant  Sachen,  vnd  wie  schellen 
formiert,  auch  klingten  vmblegt,  den  Kopf  wunderbarlich  zugericht;  jn  summa  es 
glitzet  gar  fast. 

In  einem  iedera  langen  Haus'O  von  holtz  gebaut,  do  die  fenster  oben  jm 
dach,  stuenden  .  3  .  langer  disch,    vberlegt    mit  proviant,    vf   einander   gebigt  vnd 


1    Am  Rande  steht:    Notta.    Jedes  dorf  oder  gemein  haben  ein  solch  kleid  für  jere 
Hochtzeiterin. 

2)  Am  Rande:    Dennemarckhisch  aucli  Nortwegischc  Hochtzeit  vnder  den  Baureu. 


30  Behrend,  Philipp,  Bolte: 

zusamengelegt,  von  brott  oder  langen  kuchen,  darzwischen  von  gedortten  brot- 
würsten,  schuncken,  gedigenen^)  gensen,  huner,  Caponen,  allerhant  gereucht  fleisch, 
vnd  auch  wilpret  vnd  fisch,  aber  nichtz  kocht,  sonder  wie  man  es  auß  dem  rauch 
oder  kemmern  herab  nimpt,  vf  ein  halb  elen  hoch,  vf  einander  gelegt,  vnd  [war] 
gleich  wol  ein  provision  Verbanden,  das  ein  fendly  knecht,  ein  dag  oder  zwee 
genuegsamb  hatten  gehabt.  Do  kam  nichtz  warmbs  vf  den  disch,  biß  schier  zuem 
lesten  kam  haber  kerne ^)  auch  von  körn  vnd  reiß,  aber  alles  vf  ein  weiß  kocht, 
in  lautter  butter  wie  jn  erden  schißlen,  wart  eim  jeden  gast  ein  schißel  voll,  mit 
4  oder  5.  flnger  hoch  mit  butter  vberschwembt.  Das  fleischwerck  wie  auch  fisch- 
werck  von  Laxen,  Hechten,  braxmen,  vnd  allerhant  sortten,  gleich  wie  das  fleisch 
gedort,  aß  man  also,  schneyd  jm  ein  jeder  ein  stuck  ronder,  wa  jrae  gefellig, 
bestreichs  mit  butter,  vnd  aß  (zecht)  dahin.  Die  gewonheit  vnd  hunger  war  in 
disem  ort  ein  guetter  koch.  Dise  provision  lag  vf  ein  ander  ein  halb  elen  hoch 
durch  den  disch  außen,  das  kommerlich  4.  oder  5.  finger  platz  mer  vf  beiden  selten 
whar  vf  dem  disch.  Was  das  gedrenck  [anlanget],  war  guet  starck  hier,  so  man 
dranck  nit  auß  glesern,  sonder  auß  schisslen,  nepfen,  döpfen,  kantten^),  krügen, 
helfen,  kublen,  vnd  allerhant  geschir;  aber  die  gemalten  schisslen  war  der  großt 
bracht,  vnd  groß  gemalt  leffell  mit  langen  stilen.  Das  Haus  oder  Zimmer,  dan 
doselbsten  jedes  Hauß  ein  sonder  zimer  ist,  whar  zimlich  hell,  wiewol  es  keine 
fenster  vf  der  seitten  [hatte],  sonder  oben  jm  dach  ettlich  wenig,  do  dorzue  jrs 
Junckern  Wappen  jnstuent,  vnd  ein  Zimer  [hat]  selten  vber  "2.  fenster,  aber  den 
gantzen  dag  die  son,  die  dorüber  und  dorin  scheint,  vnd  dergleichen  Heusser  jn 
Nortvvegen  vnd  Schweden  gewinlich  seint. 

Große  Ehr  nach  jerera  brauch  geschah  vnß  von  disen  leutten,  aber  mit 
hungrigen  bauch  wie  auch  durstig  zogen  wier  vf  den  abent  darvon,  vf  seiner 
Heußer  eins  gegen  Nortwegen,  zue  flußhalm  genant  2.  meil,  alda  wier  vnß  er- 
quickten wider  mit  vnser  gewonlicher  proviant,  vnd  allein  mier  zue  gefallen  die 
seltzamen  brauch  diser  lantzartt  sehen  wellen  laßen;  dan  diser  Erlich  von  Adel 
mier  vil  freintschafft  vnd  Ehr  andhatt. 

üross-Lichterfelde.  Fritz  Behrend. 


Zum  Bahrrecht. 

Die  bisher  veröffentlichten  Belege  über  Ausübung  des  Bahrrechts  auf  deutschem 
Boden  beziehen  sich  meines  Wissens  nur  auf  den  Süden,  vgl.  diese  Zeitschrift 
6,  208;  Zs.  f.  dt.  Altertum  39,  6 ff.;  Elsässische  Monatsschrift  f.  Gesch.  u.  Volks- 
kunde 1,  238  ff.  und  436  ff.  (1910).  Auch  das  Bildchen  'Bahrprobe'  bei  Georg 
Steinhausen,  Geschichte  der  deutschen  Kultur^  (1913)  S.  328,  stammt  aus  Ober- 
deutschland: es  ist  entnommen  aus  Diebold  Schillings  Schweizerchronik  (1507 — 13) 
in  der  Bürgerbibliothek  zu  Luzern. 

Für  Mitteldeutschland  kannte  ich  aus  der  mir  zugänglichen  Literatur  bisher 
kein  Beispiel.      Erst  ein  kürzlich  erschienenes  Buch*)    machte    mich    darauf   auf- 


1)  Gediegen  -  geräuchert,  gedönt. 

2)  Haberkerne  =  Hafergrütze. 

3)  Kanten  =  Kannen. 

4)  Edm.  Wauer,  Geschichte  der  Industriedörfer  Eibau  und  Neueibau  (Dresden  191B) 
S.  1(50  f. 


Kleine  Mitteilungen.  81 

merksam,  dass  bereits  vor  zehn  Jahren  Aug.  Weise  in  seinen  Geschichtsbildern 
von  Ebersbach  ^)  und  Umgegend  aus  älterer  Zeit  (Ebersbach  1904)  S.  79,  folgende 
Stelle  aus  dem  zweiten  Löbauer  Rügenbuch  abgedruckt  hat:  „Dornstags  den 
18.  December  1557  ist  von  den  königl.^_)  Gerichten  alhier  zur  Löbau  ein  peinlich 
Halsgericht  vnd  dingk  gehalten,  durch  den  Pronbothen  publicirt  vnd  außgeschrien, 
darauf  Brosig  Windisch  mit  gebürlicher  protestation  ihm  nahmen  Christoff  Webers, 
seyner  Bruder  vnd  Freundschaft  vorgetreten  vnd  gebethen,  den  ermordeten  zu  be- 
sichtigen. Dorauff  ßoviel  erschienen,  daß  ehr  einen  todtlichen  schos  vnter  der 
rechten  Achsel  gehabt,  daß  ihm  der  Odem  außgegangen  vnd  also  davon  hat  sterben 
müssen.  Dorauff  ehr  geklagt,  daß  Ihme  Jurge  Panewitz  von  der  Eibe^)  solchen 
schaden  zugefügt  vnd  vom  leben  wider  got,  gleich  vnd  recht  zum  Tode  bracht 
habe.  Als  aber  Jurge  Panewitz  solches  nicht  geständig  ist,  ist  er  zur  Leiche 
gefurt  vnd  dieselbe  anrühren  müssen  vnd  als  er  sie  zum  drittenmal  angerührt,  ist 
aus  der  wunden  schwarze  Jauche  gelauffen."  —  Dies  Zeugnis  erscheint  mir 
namentlich  deshalb  wertvoll,  weil  die  Gegend,  aus  der  es  stammt,  dem  Deutschtum 
erst  verhältnismässig  spät  gewonnen  wurde,  im  wesentlichen  erst  im  13.  Jahrh. 
Im  Zusammenhang  hiermit  sei  daran  erinnert,  dass  der  Brauch  ausserhalb 
Deutschlands  nicht  nur  in  Nordfrankreich*)  geübt  wurde,  dessen  Bevölkerung  ja 
einen  starken  germanischen  Einschlag  hat,  sondern  auch  in  England  bekannt  war. 
In  Shakespeares  Richard  III.  (I,  2)  ruft  Anna  am  offnen  Sarge  Heinrichs  VI. 
in  Gegenwart  des  Mörders^): 

0,  gentlemen!  see,  see!   dcad  Heury's  wounds 
Open  their  congeal'd  mouths,  and  bleed  afresh! 

Hierbei  verweist  Nie.  Delius*^)  auf  des  Dichters  Landsmann  Michael  Drayton 
(aus  Warwickshire,  1563 — 1631),  der  in  einem  seiner  Sonette  folgende  Stelle  hat: 

If  the  vile  actor  of  the  heinous  deed 

Near  the  dead  body  happily  be  brought, 

Oft  't  has  been  proved  the  breathless  corse  will  bleed. 

Dresden.  Oskar  Philipp. 


Zur  Wanderung  der  Schwankstoffe. 

I.   Münchhausens  Entenjagd. 

Unter  den  neun  Geschichten,  die  Bürger  1786  seiner  Verdeutschung  von 
Raspes  englischem  'Münchhausen'  einfügte,  um  sie  zwei  Jahre  später  um  weitere 
fünf  Nummern  zu  vermehren,  ist  eine  der  eindrucksvollsten  die  Luftfahrt  des 
ingeniösen  Barons  mit  den  listig  gefangenen  Enten,  die  im  Schornsteine  seines 
eignen  Hauses  ein  überraschend  glückliches  Ende  nimmt.  An  den  von  Müller- 
Fraureuth'')    und  Grisebach^j    nachgewiesenen    älteren    Parallelen    kann    man    die 

1)  Südwestlich  von  Löbau,  Oberlausitz. 

2)  Löbau  gehörte  damals,  wie  überhaupt  die  Oberlausitz,   zum  Königreich  Böhmen. 

3)  Dorf  Eibau,  nordwestlich  von  Zittau. 

4)  Oben  6,  208;  Zs.  f.  dt.  Altert.  39,  G. 

5)  Die  Stelle  erwähnt  schon  Bieger  in  seiner  Schulausgabe  des  Nibelungenlieds  ^ 
(Leipzig  1908)  S.  65. 

6^  Shakspere's  Werke«  i;i876)  1,  994. 

7)  Müller-Fraureuth,  Die  deutschen  Lügendichtungen  1881  S.  70.  136. 

8)  Wunderbare  Reisen  des  Freyherru  von  Münchhausen  hsg.  von  Grisebach  1890 
S.  16  und  XXXVL 

Zeitschr.  d.  Vereins  t.  Volkskunde.    1914.    lieft  1.  li 


82 


Bolte: 


Entstehung  dieses  Lügenschwankes  aus  geringen  Anfängen  studieren.  Im  Volks- 
buch vom  Eulenspiegel  (1515  cap.  8)  foppt  der  Held  einen  geizigen  Bauern, 
indem  er  dessen  Hühnern  Fäden,  an  denen  Brotstückchen  angebunden  sind,  hin- 
wirft, und  ergötzt  sich  daran,  daß  die  Hühner  danach  schnappen  und  sich  um 
das  Luder  ziehen,  d.  h,  Strebekatze  spielen').  Bleibt  es  hier  bei  einem  blossen 
Schabernack,  so  zieht  in  dem  1579  erschienenen  französischen  Schwankbuche  'La 
nouvelle  fabrique  des  excellens  traits  de  verite'  von  Philippe  d'Alcripe^)  ein 
schlauer  Vogelsteller  Nicolas  des  Murs  aus  einer  ähnlichen  List  besondern  Vorteil; 
er  wirft  den  Kranichen  eine  an  eine  Angelschnur  gebundene  Bohne  hin,  die  vom 
ersten  verschluckt  bald  unverdaut  hinten  herauskommt,  vom  zweiten  aufgerafft 
wird  und  so  fort,  bis  Nicolas  alle  Vögel  packt  und  heimträgt,  wenn  sie  auch 
anfangs  mit  ihm  in  die  Höhe  flattern  (combien  qu'il  fut  enleve  assez  haut  de 
terre).  Diese  Entführung  durch  die  Luft  ist  in  der  Jagdgeschichte  des  Vincentius 
Ladislaus  beim  Herzog  Heinrich  Julius  von  Braunschweig^)  und  in  einigen 
späteren  von  MüUer-Praureuth  zitierten  Schwankbüchern  zur  Hauptsache  geworden: 
ein  Schütz,  der  zwölf  Kraniche  mit  einem  Schrotschuss  verwundet  und  eilig  in 
den  Gürtel  gesteckt  hat,  wird  von  den  sich  wieder  erholenden  Vögeln  in  die  Ferne  ent- 
führt. In  einer  neuerdings  aufgezeichneten  brandenburgischen  Sage*)  sind 
es  nicht  Kraniche,  sondern  Wildgänse,  die  von  dem  aus  einem  lecken  Fass  auf 
den  Weg  geflossenen  Spiritus  trinken  und  betäubt  daliegen.  Ein  Schneider  kommt 
des  Weges  und  steckt  die  gefundenen  Gänse  mit  den  Hälsen  in  seinen  Gürtel. 
Allmählich  aber  erwachen  diese  aus  ihrem  Rausch,  regen  die  Flügel  und  tragen 
den  Schneider  durch  die  Luft  davon. 

Münchhausens  Abenteuer  entspricht  am  meisten  der  französischen  Jagd- 
geschichte, die  nach  Grisebach  auch  Bürgers  Vorlage  bildete.  Wenn  man  aber 
die  nachstehende  Geschichte  vom  Entenfange  durch  einen  Bindfaden  mit  einem 
Speckköder  liest,  die  dem  ersten  Teile  von  Bürgers  Erzählung  auffällig  gleicht, 
wird  man  mindestens  zugeben  müssen,  dass  Philippe  d'Alcripe  nicht  die  einzige 
Quelle  Bürgers  war.  Ich  entnehme  sie  einem  bisher  kaum  beachteten  Abenteuer- 
romane, der  sowohl  als  Nachahmung  von  Grimmeishausens  Rriegsschilderungen 
als  durch  die  eingelegten  galanten  Lieder^)  interessiert:  Der  verkehrte  doch 
wiederbekehrte  |  Soldat,  1  Adrian  Wurmfeld  |  von  Orsoy,  ]    .  .  .  Durch  Crispinum 


Ij  Vgl.  über  dies  Spiel  Bolte-Seelmann,  Niederdeutsche  Schauspiele  1895  S.  *31.  Zs. 
f.  Volkskunde  17,  244.    Alemannia  35,  126. 

2)  Neudruck,  Paris  1853  S.  66.  Übernommen  von  Du  Moulinet,  Facecieux  devis 
1612p. 78. 

3)  Heinrich  Julius  von  Braunschweig,  Schauspiele  hsg.  von  Holland  1855  S.  536 
(1594)  =  Goedeke,  Schwanke  des  16.  Jahrh.  1879  S.  69.  —  Dagegen  fehlt  in  der  Enten- 
geschichte der  Zimmerischen  Chronik  3,  568  =  Goedeke  S.  71  der  Flug  durch  die  Luft. 

4)  Graffunder,  Nachtrag  zu  den  Sagen  der  Mark  Brandenburg  (Progr.  Berlin  1912 
nr.  99)  S.  20  'Der  Schneider  von  Petersdorf'.  Der  Herausgeber  vergleicht  damit  Lokis 
Abenteuer  mit  dem  Adlerriesen  Thjazi  (Herrmann,  Nord.  Mythologie  1903  S.  439). 

5)  S.  8  ein  Tabakslied:  'Hab  ich  schon  itzund  nichts  dann  dieses  dürre  Kraut' 
(5  Str.).  —  S.  12  ein  March-Liedgen:  'Frisch  auff,  frisch  auff,  Soldaten-Blut,  Frisch  auff, 
erhebe  deinen  Muth'  (4  Str.;  ähnlich  Kopp,  Ältere  Liedersammlungen  1906  S.  87).  — 
S.  15  ein  Liebeslied:  'Schwartzes  Mädgen,  meine  Freude'  (6  Str.  Chr.  Weise,  Überflüssige 
Gedanken  2,  52.  1674).  —  S.  17:  'Gesteh  es  nur,  mein  Kind,  und  lächle  nicht  zu  viel' 
(7  Str.  —  Aus  Clodius  hsl.  Liederbuch  von  1669  nr.  65  bei  Blümml,  Futilitates  3,  41.  1908 
und  bei  Hoffmannswaldau,  Gedichte  1,  33.  1695).  —  S.  18:  'Soldaten-Manier  Erfordert 
nicht  hier'  (2  Str.). 


Kleine  Mitteilungen.  83 

Bonifacium  |  Von  Düsseldorp  |1  Gedruckt  im  Jahr  1675.     (39  S.  4 ».   _  Berlin 
Pb  11080).    Hier  steht  auf  S.  20  folgendes  Abenteuer  des  Helden: 

Als  er  sich  einmahls  zu  Fusse  in  das  Holtz  geschlichen,  ein  Wildpret  zu  suchen,  hat 
er  einen  grossen  Teich  angetroifen,  auff  welchem  sich  sehr  viel  wilde  Endten  befunden^ 
weil  er  aher  keine  Schrot-büchse  nicht  bey  sich,  und  mit  seinem  Carbiner  nicht  viel 
würde  außgerichtet  haben,  als  brauchte  er  diese  List.  Er  nahm  einen  Knaul  Bindfaden^ 
machte  unten  ein  Stückgen  Speck  sehr  fest  an,  und  ließ  es  auff  dem  Wasser  hin  schwimmen^ 
er  aber  versteckte  sich  in  dem  Schliff  und  laurte,  biß  die  Endten  deß  Specks  gewahr 
worden,  da  schwuramon  sie  mit  grossem  Geschrey  darauff  [21]  zu.  Die  erste,  auß  Beysorg, 
die  andern  möchte  ihrs  wegrauben,  verschluckte  den  Speck  sehr  geitzig,  und  worgte  sich 
wegen  deß  Bindfadens  so  starck  ab,  biß  der  glatte  Speck  ihr  durch  den  hintersten  fahr, 
welchen  flugs  eine  andere  erschnappte,  der  es  wie  der  ersten  ergieng,  woraufi  auch  die 
dritte  herbey  kam,  mit  welcher  sichs  gleichfalls  nicht  anders  ereignete,  also  daß  Adrian 
auff  einem  Zug  drey  Enden  an  einem  Bindfaden  hinter  einander  herauß  ziehen  und  ihnen 
die  Hälse  umbdrehen  konte. 

Ähnlich  lautet  eine  klein  russische  Erzählung-  'Wie  ein  Jäger  Gänse  ohne 
einen  Schuss  eingefangen' ^;. 

2.   Die  misslungene  Ehestiftung  Friedrich  Wilhelms  I. 

Über  den  Ruhm  Friedrichs  des  Grossen  beim  niederen  Volke  erzählt  der 
Turnvater  F.  L.  Jahn 2)  im  Jahre  1800: 

'Im  Vaterlande  und  Auslande  wurden  nun  bald  alle  Begebenheiten,  welche  Volks- 
sagen fortpflanzten,  auf  den  großen  König  übergetragen.  So  wie  im  Orient  noch  jetzt 
alles  Merkwürdige,  die  größten  Denkmäler  und  wichtigsten  Unternehmungen  Alexander, 
dem  großen  Eroberer,  zugeschrieben  werden,  so  wurde  in  Preußen  und  Deutschland  fast 
alles  Vergangene  dem  großen  König  angedichtet.  Auf  Eeisen  durch  Preußen  und 
Deutschland  habe  ich  in  verschiedenen  Ländern  die  Volkssage  erzählen  gehört,  welche 
der  treffliche  Bürger  in  seinem  Abt  von  St.  Gallen  verewigt  hat»).  In  Preußen  und  an- 
grenzenden Landen  ist  der  Kaiser  aus  diesem  lustigen  Märchen  verschwunden,  Friedrich 
der  Große  ist  an  seine  Stelle  gekommen,  aber  der  Geistliche  und  Schäferknecht  haben 
sich  behauptet.' 

Diese  Beobachtung  Jahns  lässt  sich,  wie  hoffentlich  nächstens  ein  besonderer 
Aufsatz  in  diesen  Blättern  genauer  schildern  wird,  auch  aus  späterer  Zeit  vielfach 
belegen.  In  geringerem  Masse  als  die  Gestalt  Friedrichs  IL  hat  die  seines  Vaters, 
des  strengen  und  sparsamen  Königs  Friedrich  Wilhelm  I ,  sich  im  Andenken  des 
Volkes  fortgepflanzt  und  dessen  Phantasie  beschäftigt.  Immerhin  hat  seine  Lieb- 
haberei für  die  'langen  Kerls'  seiner  Garde  mindestens  in  einem  Falle  eine  ähn- 
liche Anekdotenübertragung  wie  die  von  Jahn  beschriebene  veranlasst.  In  einem 
lesenswerten  Aufsatze  machte  E.  Damköhler*)  darauf  aufmerksam,  dass  sich 
in  dem  umfänglichen  Romane  Herzog  Anton  Ulrichs  von  Hiaunschweig  'Die 
römische  Octavia'  eine  Episode  finde,  die  auffällig  mit  einer  Begebenheit  aus  dem 


1)  Tarasevskyj,  Hnatjuk  und  Krauss,  Das  Geschlechtleben  des  ukrainischen  Bauern- 
volkes 1,  55  nr.  83  (190'.»). 

2)  Über  die  Beförderung  des  Patriotismus  im  Preussischen  Reiche  (unter  dem 
Pseudonym  0.  C.  C.  Höpffner  gedruckt  Halle  1800)  S.  7  =  Jahn,  Werke  1,  4   (Hof  1884). 

3)  Vgl.  Oesterley  zu  Pauli,  Schimpf  und  Ernst  nr.  55.  R.  Köhler,  Kl.  Schriften  1,  82. 
267.  492.  Grimm,  KHM.  nr.  152  'Das  Hirtenbüblein'.  Eine  Monographie  wird  von 
Dr.  W.  Anderson  in  Kasan  vorbereitet. 

4)  Zeitschrift  für  den  deutschen  Unterricht  22,  595—599  'Anekdotenübertragung'  (1908). 

6* 


84 


Bolte: 


Leben  des  preussischen  Königs  übereinstimme.  In  der  unvollendeten  letzten, 
siebenbändigen  Bearbeitung  der  Oetavia,  die  in  den  Jahren  1712—1714  erschien, 
berichtet  der  Gesandte  Vatinius  über  Julius  Vindex,  den  römischen  Statthalter  in 
Aquitanien,  (5,  G3)  folgendes: 

Es  hatte  Julius  Vindex  sich  fürgenommen,  unter  seine  Leib-Wache  lauter  grosse 
starkke  ansehnliche  Kerls  zu  nehmen,  und  war  damit  nicht  vergnügt,  daß  die  für  ihre 
Persohn  und  bey  selbiger  Zeit  solcher  gestalt  angeschaffet  wurden,  besondern  er  wolte 
auch  diese  grossen  Arth  auf  die  Nachkommen  fortgepflantzet  wissen;  daher  musten  alle 
diese  grosse  Soldaten  sich  mit  den  grossesten  Weibs-Bildern,  die  man  nur  im  Lande 
ausfinden  konte,  vereidigen,  daß  sonder  eintzige  Ein-  noch  Wiederrede  öffters  Leuthe  zu- 
sammen kamen,  die  sich  vorhin  nie  gesehen  hatten,  auch  die  geringste  Zuneigung  einer 
zu  dem  andern  in  sich  nicht  entfunden. 

Gleich  wie  nun  zu  dieser  Musterung  sich  sehr  viele  Zuschauer,  so  mehrentheils  iu 
Land-Volcke  bestunden,  einfanden,  also  muste  es  sich  auch  so  fügen,  daß  Julius  Vindex 
unter  denen  Weibes-Leuthen  eine  überaus  grosse  Dirne  erblickte,  die  ihm  gleich  so  für 
käme,  daß  sie  sich  für  einen  seiner  Soldaten  schickte.  Er  erkiesete  demnach  eineu  darzu, 
der  unferne  von  dar  unter  deu  damahUgen  Obristen  Aelius  Gracilis  eingelagert  war,  an 
welchen  Obristen  danu  sofort  ein  schrifftlicher  Befehl  ergienge,  daß  er  vorerwehnten  Sol- 
daten mit  derjenigen,  die  ihn  diesen  Befehl  zubringen  würde,  gleich  solte  trauen  lassen. 
Diese  Dirne  nun,  welcher  solches  nicht  anstünde,  muste  zwar  gehorsahmen  und  mit  den 
Befehl  fortwandern;  unterwegens  aber  traffe  sie  eine  alte  Frau  an,  welcher  sie  den  Brief 
gäbe,  mit  Bitte  selbigen  an  ihrer  statt  den  Aelius  Gracilis  zu  überbringen. 

Die  guthertzige  Alte  an  nichtes  arges  gedenckend,  Hesse  sich  mit  diesem  Schreiben 
gantz  gutwillig  beladen,  welches  sie  auch  dem  Aelius  Gracilis  sofort  überbrachte,  der  den 
Befehl  des  Julius  Vindex  ersehend,  nicht  wüste,  wie  er  daran  war,  und  es  dahin  aus- 
deutend, als  wann  diesem  Soldaten  zu  sonderbahrer  Straffe  dis  alte  Weib  solte  gegeben 
werden,  forschete  er  nicht  ferners  nach,  wie  es  hierum  bewand,  besondern  aus  der  Er- 
fahrung wol  wissend,  daß  Julius  Vindex  ohne  einige  Wiederrede  gehorchet  wolte  seyn, 
Hesse  er  die  Alte  in  eine  Neben-Kammer  treten  und  den  Soldaten  auch  zu  sich  fordern, 
deme  er  bedeutete,  daß  zufolge  des  erhaltenen  schrifftlichen  Befehls  er  ihn  sogleich  eine 
Frau  solte  geben  lassen.  Der  Soldat  aus  schuldigem  Gehorsam  war  hiezu  sofort  bereit, 
mit  Verlangen  erwartend  diejenige  zu  sehen,  so  man  ihme  bestimmet,  worauf  dann  Aelius 
Gracilis  das  alte  Weib  zum  Vorschein  kommen  Hesse.  Man  kan  sich  leicht  einbilden, 
wie  dieser  junge  Kerl  bey  Ansichtigung  derselben,  wie  nicht  weniger  die  Alte  bestürzt 
müsse  seyn  geworden;  massen  die,  als  ihr  dieser  Fürtrag  auch  geschähe,  fast  sinnloß 
bHebe,  daß  sie  einen  so  jungen  Menschen  nehmen  solte,  der  unmügHch  wohl  mit  ihr 
würde  hausen  können.  Ihrer  beider  Wiederreden  halöe  aber  nichtes,  weil  der  gemessene 
Befehl  des  Stadthalters  da  war,  sondern  es  muste  sofort  ein  Druide  erscheinen,  der  die 
gewöhnHchen  Gebräuche  bey  der  Hochzeit  solte  verrichten.  Die  Verzweifflung  demnach, 
so  den  gezwungenen  Bräutigam  und  die  gezwungene  Braut  darauf  überfiele,  verursachte, 
daß  sie  an  statt  sich  die  ehHche  Hand  zu  geben,  sich  beiderseits  einander  in  die  Haare 
fielen  und  mit  allen  Kräfften  sich  zur  wehre  setzeten.  Da  dann  der  starcke  Soldat  die 
schwache  Frau  dergestalt  zurichtete,  daß,  ehe  man  diese  Gewaltthätigkeiten  steuren 
konte,  sie  von  Eyfer,  Schrecken  und  von  ihres  Bräutigams  plumpen  Umfahungen  nicht 
allein  ohnmächtig  wurde,  sondern  auch  darauf  so  schwehrlich  befiele,  daß  unumgängHch 
die  Vertrauung  aufgeschoben  muste  werden. 

Einige  Tage  nach  der  verrichteten  Musterung  bekäme  Julius  Vindex  von  dem  Aelius 
GraciHs  hievon  Bericht,  der  also  lautete:  Daß,  so  gerne  er  auch  dem  Befehl  des  Stadt- 
haiters  sofort  woUen  ein  Genügen  thun,  die  WiedersetzHchkeit  der  beiden  Persohnen 
dennoch  so  groß  gewesen  wäre,  daß  er  noch  zur  Zeit  damit  inhalten  müssen.  Juhus 
Vindex,  der  aus  diesem  Bericht  nicht  erfahren,  daß  ein  Irrthum  in  der  Persohn  für- 
gegangen, ergrimmete  dergestalt  auf  den  Soldaten,  daß  der  an  Händen  und  Füßen  ge- 
schlossen, sofort  ins  Lager  gebracht  muste  werden,  da  man  seines  Ungehorsams  halber 
ihn  zum  Tode  verdammete    und    sogleich    auf    den  Richtplatz    führte,    allwo    er    getödtet 


Kleine  Mitteilungen.  85 

solte  -R-erden.  Die  Neugierigkeit  brachte  daselbst  viel  Volck  zusammen,  unter  denen  sich 
dann  auch  nebst  andern  die  grosse  Dirne  befunde,  so  dieses  Spiel  angerichtet,  die,  den 
jungen  frischen  Soldaten  ersehend,  deme  man  sie  bestimmet  gehabt,  in  sich  ein  Mit- 
leiden empfände  und,  um  ihn  vom  Tode  zu  retten,  alles  bekannte,  wie  sie  es  damit  an- 
gefangen. So  sehr  des  Julius  Vindex  Zorn  zuvor  entbrandt  gewesen,  so  sehr  verwandelte 
sich  derselbe  hierauf  in  ein  gnädiges  Urtheil,  daß  sowohl  der  Dirne  ihr  Fürwitz,  als  dem 
Soldaten  sein  Ungehorsam  vergeben  und  sie  beide  darauf  mit  einander  verehlicht  wurden. 

Die  entsprechende  Geschichte  über  den  preussischen  Soldaten,  für  die  Dam- 
köhler nur  K.  F.  Beckers  Weltgeschichte  7,  274  (1886)  als  Beleg  anfuhrt,  ist  oft 
erzählt  und  bearbeitet  worden^);  ich  setze  sie  nach  dem  ältesten  mir  bekannten 
Bericht  in  dem  11.  Bande  der  'Karakterzüge  aus  dem  Leben  König  Friedrich 
Wilhelm  I.'  (Berlin  1797)  S.  98—104  her: 

Einst  befand  sich  der  König  auf  einen  Spatzierritt  in  der  Nachbarschaft  von  Pots- 
dam, als  ihm  auf  dem  Wege  ein  wohlgewachsenes  Mädgen  entgegen  kam.  Ihre  ansehn- 
liche Leibesgestalt  fiel  ihm  gleich  in  die  Augen.  Er  wandte  sich  zu  den  ihn  begleitenden 
Generaladjutanten  von  Derschau^)  und  sagte  zu  ihm:  Nicht  wahr,  das  wäre  so  ein  Mädgen 
für  MackdoU?  (Dies  war  ein  Irrländer,  der  bei  den  groi3en  Grenadiers  stand,  und  welcher 
dem  Könige  sehr  gefiel,  indem  er  ein  schöner  Kerl  war.)  Derschau  wagte  es  nicht  zu 
widersprechen  und  gab  dem  Monarchen  geradehin  Beytall.  Wo  willst  du  hin?  fragte 
hierauf  der  König  dem  [!J  Mädgen.  Diese,  welche  ihn  nicht  kannte,  antwortete  ganz 
schüchtern:  Nach  Potsdam,  lieber  Herr.  —  So?  fuhr  der  König  fort,  willst  du  mir  wohl 
einen  Gefallen  thun  und  etwas  an  den  Kommandanten  da  zu  [!]  bestellen?  —  Warum 
nicht,  antwortete  das  Mädgen.  Sogleich  mußte  Derschau  ein  Blatt  Papier  aus  der  Brief- 
tasche geben,  worauf  der  König  schrieb:  Sobald  Überbringerin  dieses  zu  euch  kömmt,  so 
laßt  sie  ohne  Verzug  und  Widerrede  dem  Mackdoll  antrauen.  Dies  Blatt  schlug  der 
König  zusammen,  gab  es  dem  Mädgen  und  band  es  ihr  recht  ernstlich  ein,  es  ja  sogleich 
abzugeben,  welches  sie  zuversichtlich  versprach.  Hierauf  schenkte  er  ihr  einen  Gulden 
und  verließ  sie,  mit  sich  selbst  vergnügt,  ein  gutes  Werk  gestiftet  zu  haben,  und  zu- 
frieden, daß  sein  Mackdoll  eine  so  gute  Frau  bekommen  würde. 

Inzwischen  dachte  das  Mädgen  nach,  was  das  wohl  zu  bedeuten  haben  möchte.  Ein 
Gulden  für  den  kleinen  Dienst  schien  ihr  zu  viel,  und  da  sie  etwas  blöde  war  und  nicht 
lesen  konnte,  so  sann  sie  nach,  wie  sie  sich  dieser  ihr  verdrießlichen  Kommission  ent- 
ledigen könnte.  Indem  sie  darauf  dachte,  begegnete  ihr  kurz  vor  Potsdam  ein  altes 
Weib,  welches  sie  anredete  und  ihr  sagte,  sie  hätte  eine  Bestellung  bei  einem  Officier  in 
Potsdam,  der  der  Kommandant  hieße;  da  sie  aber  nicht  gerne  bei  Oi'ticiere  ginge,  weil 
die  Herren  nicht  immer  mit  den  Mädgen  gut  umgingen,  so  wollte  sie  ihr  einige  Groschen 
geben,  wenn  sie  die  Mühe  übernähme  und  dies  Billet  an  den  Kommandanten  abgeben 
wollte.  Das  Weib  versicherte,  daß  sie  diesen  Kommandanten  wohl  kenne,  daher  sie  keine 
Bedenklichkeit  fände,  für  diese  kleine  Mühe  einige  Groschen  zu  verdienen,  und  versprach 
alles  wohl  auszurichten.  Das  Mädgen  gab  ihr  mit  Freuden  das  Billet  nebst  einigen 
Groschen,  und  darauf  schieden  sie. 

Sogleich  ging  das  Weib  zum  Kommandanten,  der  das  Billet  durchlas,  fand,  daß 
es*)  mit  des  Königs  Hand  geschrieben  war,  sähe  aber  mit  Verwunderung  das  Weib 
von  oben  bis  unten  an  und  konnte  nicht  begreifen,    wie    der  Monarch   zu  dieser  Idee  ge- 


1)  Fr.  Förster,  Friedrich  Wilhelm  1.  König  von  Preußen  2,  oüO  (Potsdam  1835); 
A.  Streckfuß,  500  Jahre  Berliner  Geschichte  1880  S.  310;  Julius  v.  Voß,  Berlin  1724  (Lust- 
spiele für  das  kgl.  Hoftheater  zu  Berlin  1824.     J.  Hahn,  J.  v.  Voß  1910  S.  130)  usw. 

2)  Der  Generaladjutant  CR.  v.  Derschau,  Major,  später  Oberst  beim  Forcadischen 
Infanterie -Regiment,  ITiJS  Kommandeur  des  späteren  Regiments  Prinz  von  Preußen, 
t  1742,  war  ein  Liebling  des  Königs  (Beneckendorf  1,  89,  2,  37.   AUg.  dt.  Biographic  5,  (i7). 

3'  er]  Druck. 


86  Bolte: 

kommen  wäre,  mit  einem  solchen  abgelebten  Gerippe  einen  so  schönen  Kerl,  als  der 
Grenadier  war,  zu  verheirathen.  Inzwischen  beschloß  er  zu  gehorsamen.  Mackdoll 
mußte  erscheinen,  ein  Prediger  gleichfalls,  und  nachdem  er  ihnen  des  Königs  Willen  be- 
kannt gemacht  hatte,  befahl  er  die  Trauung  vorzunehmen.  Mackdoll  wollte  unsinnig 
werden  und  protestirte  dagegen  aus  allen  Kräften.  Das  half  aber  zu  nichts,  da  ihm  der 
der  Kommandant  die  Ordre  des  Königs  vorzeigte  und  sagte,  daß  dawider  nichts  einzu- 
wenden sey:  er  müsse  sich  fügen.  Nach  der  vollzogenen  Kopulation,  die  sehr  unruhig 
herging,  ließ  der  Kommandant  das  neue  Paar  in  Mackdolls  Quartier  eskortiren,  weil 
letzterer  von  nichts  wissen  wollte  und  seiner  neuen  Gattin,  die  ebenfalls  nicht  begreifen 
konnte,  wie  ihr  geschehen  und  ganz  stumm  geworden  war,  eine  nicht  geringe  Anzahl 
Rippenstösse  beibrachte,  die  sie  nicht  verdient  hatte. 

Kaum  war  der  König  auf  den  Abend  zurückgekommen,  als  er  nachfragen  ließ,  ob 
der  Kommandant  seine  Ordres  vollzogen  habe  und  Mackdoll  kopuliren  lassen.  Dieser 
ließ  zurück  melden,  er  hätte  Sr.  Majestät  Befehl  zwar  gehorsamst  beobachtet,  allein  er 
befürchte,  daß  ein  Unglück  entstehen  werde,  weil  sich  das  Paar  unmöglich  für  einander 
schicke.  Der  Kerl  ist  ein  Narr,  sagte  der  König  lächelnd,  sie  werden  sich  wohl  an  ein- 
ander gewöhnen.  In  der  Abendgesellschaft  sprach  er  noch  viel  von  der  gestifteten 
Heirath  und  versicherte,  daß  man  seinem  Beispiele,  stets  Gutes  zu  thun,  wo  man  könne, 
nachzuahmen  sehr  wohl  thun  würde. 

Am  folgenden  Tage  ganz  früh  trat  Mackdoll  den  Monarchen  an  und  beklagte  sich 
gegen  ihn  heftig,  daß  man  ihn  mit  Gewalt  und  wider  seinen  Willen  mit  einem  so  häß- 
lichen alten  Thiere  zusammengebracht  und  auf  dessen  Befehl  kopulirt  hätte.  Der  König 
wunderte  sich  über  diesen  Ausdruck  sehr  und  erwiederte,  er  müsse  keine  Augen  im  Kopfe 
haben,  um  das  artige  Mädgen  zu  sehn,  das  er  selbst  für  ihn  gewählet  hätte  und  von 
dem  er  zuverlässig  glaube,  daß  er  mit  ihr  glücklich  sein  werde,  wozu  er  denn  noch 
übrigens  alles  weiter  beitragen  wolle.  Mackdoll  wußte  gar  nicht  mehr,  was  er  sagen 
und  vorbringen  sollte,  um  sein  Unglück  zu  schildern;  so  unzusammenhängend  und  wun- 
derbar war  ihm  alles,  was  mit  ihm  vorgegangen  war.  Inzwischen  nahm  er  nochmals  alle 
seine  rednerische  Kräfte  zusammen,  beschrieb  dem  Könige  das  alte  Weib,  so  gut  er 
konnte,  indem  er  gebrochenes  Deutsch  sprach,  und  fragte,  ob  er  wohl  mit  einem  solchen 
Geschöpfe  glücklich  seyn  könnte;  lieber  wolle  er  sich  ersäufen  als  das  Ungeheuer  länger 
um  sich  leiden.  Der  König  wüste  nun  auch  nicht  aus  der  Sache  klug  zu  werden  und  befahl, 
den  Kommandanten  sowohl  als  die  neue  Frau  eiligst  vor  ihm  zu  bringen. 

Als  sie  gekommen  waren  und  der  König  die  letztere  erblickte,  wußte  er  gar  nicht,- 
was  er  zu  diesem  allen  sagen  sollte,  und  schwieg  einige  Minuten  ganz  ernsthaft  still 
Mackdoll  rief  nun  aus:  Nun,  Ew.  Majestäten,  sehen  Sie  nun  das  schöne  Thier!  Mit  der 
soll  ich  leben!  Lieber  todtl  —  Hierauf  erzählte  der  Kommandant  dem  Könige,  wie  alles 
geschehen  sei,  und  dieser  merkte  nun  wohl,  daß  das  Mädgen  ihn,  den  Kommandanten 
und  am  meisten  den  armen  Mackdoll  hintergangen  habe.  Er  schalt  heftig  darauf  und 
verlangte,  dass  man  die  H  .  .  .  aufsuchen  sollte;  die  sich  aber  nirgend  finden  lassen  wollte. 
Mackdolls  Ehe  ward  sogleich  für  null  und  nichtig  erkläret,  und  dieser  erhielt  ein  Ge- 
schenk, um  alles  wieder  zu  vergessen. 

Über  die  enge  Verwandtschaft  dieser  beiden  Anekdoten  kann  kein  Zweifel 
herrschen,  ebensowenig  darüber,  dass  die  Lösung  bei  Anton  Ulrich  durch  den 
Jähzorn  des  Statthalters,  der  den  armen  Ehemann  wider  Willen  zum  Tode  ver- 
urteilt, und  durch  das  Schuldbekenntnis  der  reuigen  Dirne  bedeutend  romanhafter 
und  effektvoller  wirkt  als  der  zahme  'Schluss  der  Potsdamer  Geschichte,  wo  der 
König  die  Ehe  aufhebt  und  den  bedauernswerten  Soldaten  durch  ein  Geschenk 
tröstet.  Nun  hat  Damköhler  (Zs.  f.  dt.  Unterricht  22,  598)  darauf  hingewiesen, 
dass  die  Erzählung  noch  nicht  in  der  vorhergehenden  sechsbändigen  Ausgabe  der 
Octavia  von  1711  steht  und  somit  vom  Herzog  1712  oder  1713  hinzugefügt  sein 
muss^),  dass  ferner  Friedrich   Wilhelm  I.   am  25.  Februar  1713    den    preussischen 

1)  Über   die  bis  zu  seinem  Lebensende   währende  Arbeit   des  Herzogs  Anton  Ulrich 


Kleine  Mitteilungen.  87 

Thron  bestieg  und  möglicherweise  ein  Vorfall  aus  den  ersten  Monaten  seiner 
Regierung  den  Anlass  zu  jener  Einschaltung  in  den  Roman  lieferte^).  Diese 
Möglichkeit  jedoch  erscheint  an  sich  wenig  glaublich  und  verliert  noch  mehr  an 
Wahrscheinlichkeit,  wenn  man  das  älteste  Zeugnis  für  die  Potsdamer  Geschichte 
näher  ins  Auge  fasst.  Die  11.  Sammlung  der 'Karakterzüge'  nämlich  ist  nicht  wie 
die  voraufgehenden  10  Bände  von  dem  Präsidenten  K.  F.  v.  Beneckendorf 
(f  1788),  sondern  von  einem  wenig  gebildeten,  breit  erzählenden  Anonymus  ver- 
fasst,  der  in  der  Vorrede  S.  4f.  selber  bekennt:  'Um  diese  Sammlungen  nicht 
allein  zu  vermehren,  zu  ergänzen  und  vollständiger  zu  machen,  hat  man  alles  auf- 
gesucht, was  dazu  dienen  kann  ....  Und  wenn  es  auch  seyn  sollte,  daß  eine 
oder  die  andere  Anekdote  nicht  ganz  so  der  Wahrheit  gemäss  vorgetragen  wäre, 
als  es  bey  näherer  Kenntniß  mit  ächten  Quellen  hätte  seyn  können,  so  thut  dies 
zur  Sache  wenig  oder  nichts,  indem  sie  doch  immer  in  den  [!]  Ton  abgefaßt  ist, 
in  welchem  sie  sich  bis  jetzt  von  Mund  zu  Mund  erhalten  hat,  und  also  wird  sie 
stets  eine  Art  von  Eigenthümlichkeit  behalten,  welche  sie  der  Aufbewahrung  werth 
macht.'  —  Es  ist  also  nach  dem  eigenen  Geständnis  des  Verfassers  eine  trübe 
Quelle,  aus  der  die  späteren  Berichterstatter  wie  Friedrich  Förster,  K.  F.  Becker 
usw.  geschöpft  haben,  und  trotz  der  bestimmt  auftretenden  Personennamen 
V.  Derschau  und  MacDoll  werden  wir  ihr  so  wenig  Glauben  schenken,  als  etwa 
der  Anekdote  vom  BrotlöfTel,  den  der  alte  Ziethen  an  der  Tafel  Friedrichs  des 
Grossen  improvisierte^).  Entweder  stammt  die  Potsdamer  Geschichte  aus  der 
Römischen  Octavia  oder  aus  einer  noch  unbekannten  älteren  Vorlage  für  diese ^) 
ab  und  ist  später  auf  den  durch  eine  Vorliebe  für  hochgewachsene  Soldaten  be- 
kannten Friedrich  Wilhelm  I.  übertragen  worden. 

3.  'Hast  du  denn  mehr?' 

Vor  einigen  Jahren  ging  eine  Geschichte  durch  die  Zeitungen,  die  dem  Herzog 
Johann  Albrecht  von  Mecklenburg  bei  einem  Aufenthalte  auf  einem  mecklen- 
burgischen Rittergute  begegnet  sein  sollte,  als  er  frühmorgens  allein  umher- 
wandelnd, sich  mit  einem  Hütejungen  unterhielt.  Genau  dieselbe  Geschichte  finde 
ich  jetzt  bei  einem  vergessenen  oldenburgischen  Schriftsteller  G.  A.  von  Halem 
wieder,  der  sie  vor  mehr  als  hundert  Jahren  in  seinen  Schriften  1,  269 — 275 
(Münster  1803)  von  einem  alten  Herzoge  von  Baiern  erzählt.  Bei  einer  Unter- 
haltung über  den  Ausspruch  des  Sokrates,  Genügsamkeit  sei  der  natürlichste  Reich- 
tum, berichtet  der  Herzog  folgendes  Erlebnis  (S.  274): 


an    seinem    grossen    Eomane  vgl.    Zimmermann,    Braunschweigisches    Magazin  7,  90.    102 
(1901);    auch  Bolte,  Zs.  f.  vgl.  Literaturgeschichte  3,  454. 

1)  Dass  Anton  Ulrich  vielfach  Anspielungen  auf  zeitgenössische  Ereignisse  und  Per- 
sonen einflocht,  ist  bekannt:  doch  existiert  gerade  zur  'Gesandtschaft  des  Vatinius'  (4.  Aus- 
gabe 1712  5,  57—67)  kein  Schlüssel:  s.  Zimmermauu,  Br;iuuschweigisches  Magazin  7,  108. 
Es  gab  aber  auch  vor  dem  preussischen  Könige  Fürsten,  die  auf  eine  Garde  von  Riesen 
ausserordentlichen  Wert  legteu  und  dadurch  dem  brauuschweigischen  Herzoge  Anlass  zu 
einem  kleinen  Stichelschwanke  geben  konnten. 

2)  Vgl.  darüber  Bolte,  Forschungen  zur  braudeuburgisch- preussischen  Geschichte 
11,  204  (1898). 

3)  Vielleicht  deuten  auf  eine  solche  gedruckte  Quelle  die  Schlussworte  des  Vatinius 
bei  Anton  Ulrich:  'Des  damahls  berühmten  Petronius  seine  nunmehr  bekannte  Schrifft 
Eustion  hat  diese  Begebenheit  gar  artig  ausgefnhret  .  .  .  gleichwie  ich  bey  meinem  Herrn, 
den  Calpurnius  Piso,  selbige  nachdem  mit  meiner  großen  Belustigung  gelesen.' 


88  Bolte,  Caland: 

Icli  traf  auf  dem  Felde,  nahe  bei  der  Wildbahn,  einen  Bauernknaben,  der  die  Schafe 
hütete.  Er  kannte  mich  nicht.  Ich  liess  mich  mit  ihm  in  ein  Gespräch  ein.  'Wie  viel 
Lohn  bekommst  du?'  —  'Ich  habe  Kost  und  Kleidung.'  —  'Was  mehr?'  —  'Sonst  nichts.' 
—  'Ei,'  erwiderte  ich,  'das  ist  doch  zu  wenig.'  Der  Knabe  sah  mich  an  von  oben  bis 
unten;  dann  fragte  er  schnell:  'Hast  du  denn  mehr?'  Die  Frage  machte  mich  stumm. 
So  viel  Wahrheit  in  vier  Worten  hatte  ich  noch  nie  gehört.  Glaubt  ihr's  wohl,  dass  ich 
nicht  das  Herz  hatte,  dem  genügsamen  Buben  Avas  zu  schenken?    Ich  ritt  meines  Weges. 

Berlin.  Johannes  Bolte. 


Der  Schwank  vom  Zeichendisput  in  Litauen  und  Holland. 

Im  31.  Heft  rler  Mitteilungen  der  Litauischen  literarischen  Gesellschaft  (1912) 
werden  von  den  verschiedensten  Dialekten  des  Litauischen  von  Dr.  A.  Doritsch 
eine  Menge  Proben  mitgeteilt.  Eine  von  diesen,  in  der  Mundart  von  Wisborienen 
abgefasst,  lautet  in  möglichst  wortgetreuer  Übersetzung  wie  folgt: 

Ein  gewisser  Spanier  war  einmal  in  Gesellschaft  eines  Fürsten  in  der  Stadt 
London  angekommen.  Nach  dem  Mittagessen  fragte  er  den  Fürsten,  ob  nicht  in 
dieser  Stadt  jemand  zu  finden  wäre,  der  die  Geberdensprache  zu  reden  verstände. 
„Freilich  nicht  hier,"  antwortete  der  Fürst,  „sondern  (wohl)  in  Glasgow."  „Gut," 
antwortete  der  spanische  Professor,  „dann  werde  ich  (dahin)  reisen."  Da  bedachte 
der  Fürst  mit  Schrecken,  was  er  jetzt  machen  sollte;  da  depeschierte  er  sofort 
nach  Glasgow  an  die  Studenten  der  Universität,  dass  ein  Professor  Soundso  dort- 
hin auf  Reisen  sei,  der  die  Geberdensprache  reden  wolle.  Da  erschraken  auch 
jene,  und  (unmittelbar)  nachdem  die  Depesche  eingelaufen,  war  auch  dieser  Spanier 
da.  Als  er  fragte,  ob  der  Professor  (da)  war,  der  die  Geberdensprache  zu  reden 
verstand,  antworteten  sie:  „Er  ist  nicht  zu  Hause,  er  ist  verreist."  Da  antwortete 
der  Spanier:  „Ich  werde  warten,  wenn  auch  drei  Tage;  ich  will  mich  mit  ihm 
unterhalten."  In  der  Stadt  gab  es  nun  einen  gewissen  Fleischer,  der  nur  ein 
Auge  hatte,  Nilsen  mit  Namen.  Die  Studenten  bestellten  diesen  zu  sich  (und 
fragten  ihn),  ob  er  es  nicht  übernehmen  wolle,  mit  dem  spanischen  Professor  die 
Geberdensprache  zu  reden.  Als  er  es  übernommen  hatte,  kleideten  sie  ihn  in  die 
Professoren-Toga,  und  als  sie  fertig  waren  und  der  Fleischer  ein  Stück  Brot  in  der 
Tasche  hatte,  wie  die  Fleischer,  wenn  sie  die  Schenke  besuchen,  beim  Schnaps 
davon  einen  Bissen  zu  nehmen  lieben  —  jetzt  als  der  Fleischer  fertig  war,  riefen 
sie  den  Spanier  und  sagten  ihm,  dass  der  Professor  schon  von  der  Reise  zurück- 
gekehrt war.  Da  begab  sich  der  Spanier  auf  den  Rasen,  wo  jener  Professor 
war.  Beim  Eintreten  verbeugte  sich  der  Spanier,  und  der  Fleischer  ver- 
beugte sich  dreimal  so  viel  mehr.  Da  steckte  der  Spanier  einen  Finger  empor, 
der  Fleischer  aber  steckte  zwei  empor.  Der  Spanier  steckte  drei  Finger  empor, 
der  Fleischer  aber,  die  ganze  Faust  zusammenkneifend,  hielt  ihm  dieselbe  vor. 
Der  Spanier  nahm  eine  Apfelsine  aus  seiner  Tasche  und  hielt  ihm  dieselbe  vor. 
Der  Fleischer  nahm  das  Stück  Brot  aus  seiner  Tasche  und  hielt  ihm  dasselbe 
vor.  Jetzt  hatten  die  beiden  alles  ausgeredet,  und  als  alles  erledigt  war,  verbeugte 
sich  der  Spanier,  und  der  Fleischer  verbeugte  sich  wiederum  seinerseits.  Als  der 
Spanier  jetzt  in  das  Universitätsgebäude  hereinkam,  da  fragten  ihn  die  Studenten, 
wie  er  sich  mit  dem  Professor  unterhalten  hätte.  Da  antwortete  jener:  „Pracht- 
voll! Solch  einen  Menschen  habe  ich  weder  in  Spanien  noch  anderswo  angetroffen 
wie  in   Glasgow:    ich    steckte    ihm    einen  Finger    empor,    da  steckte   er  mir  zwei 


Kleine  Mitteiluiigeu.  89 

empor;  ich  steckte  ihm  drei  empor,  da  hielt  er  mir  die  ganze  Faust  vor;  ich 
zeigte  ihm  eine  Apfelsine,  da  nahm  er  ein  Stück  Brot  aus  der  Tasche  und  hielt 
es  mir  vor."  Der  spanische  Professor  entfernte  sich.  Jetzt  riefen  sie  den  Fleischer 
zu  sich.  Der  Fleischer  nun  antwortete  ihnen:  „Wenn  ich  mit  ihm  auf  der  Strasse 
zu  reden  bekommen  hätte,  würde  er  Prügel  bekommen  haben.  Er  steckte  einen 
Finger  empor  und  zeigte,  dass  ich  nur  ein  Auge  habe;  ich  steckte  ihm  zwei 
Finger  empor  und  zeigte,  dass  ich  mit  dem  einen  Auge  soviel  sehe  wie  er  mit 
den  zwei;  aber  er  steckte  wieder  drei  Finger  empor  und  zeigte  mir,  dass  wir 
beide  nur  drei  Augen  hätten.  Es  ist  sein  Glück,  dass  wir  uns  nicht  auf  der 
Strasse  getroffen  haben." 

In  dieser  hübschen  Geschichte  vermissen  wir  etwas,  nämlich  erstens  die 
Deutung  der  Geberden  von  seiten  des  spanischen  Professors  und  zweitens  den 
Schlussteil  der  Deutung  der  vom  Fleischer  ausgeführten  Gesten. 

Dieselbe  Geschichte  nun,  aber  vollständig,  ist  in  Holland  bekannt.  Mein 
Kollege  und  Freund  Dr.  S.  D.  van  Veen,  Professor  der  Theologie  an  der  hiesigen 
Universität,  erzählte  sie  mir  einst  in  der  folgenden  Weise.  Er  hatte  schon  als 
Student  die  Geschichte  von  jemandem  erzählen  gehört,  konnte  sich  aber  seines 
Gewährsmannes  nicht  mehr  entsinnen. 

Ein  indischer  Prinz  kam  nach  Holland  und  wollte  auch  die  Leidener 
Universität  besuchen.  Die  Studenten  wollten  ihm  alle  Ehre  erweisen  und  zu 
gleicher  Zeit  einen  guten  Eindruck  ihrer  Universität  beibringen.  Als  Bauern  ver- 
kleidet reisten  sie  ihm  entgegen.  In  einem  Dorfe  redeten  einige  von  ihnen  den 
Prinzen  auf  Lateinisch,  in  einem  zweiten  einige  andere  auf  Griechisch,  in  einem 
dritten  wieder  einige  auf  Hebräisch  an.  Da  war  der  Prinz  ausserordentlich  er- 
staunt. „Wenn  schon  die  Bauern  in  diesem  Lande  so  gebildet  sind,  wie  müssen  da 
erst  die  Leidener  sein,"  sagte  er,  ,,und  dann  wird  es  dort  unter  den  gelehrten 
Professoren  wohl  auch  einen  geben,  der  die  Geberdensprache  zu  reden  versteht." 
„Gewiss,"  wurde  ihm  geantwortet.  „Dem  möchte  ich  wohl  gerne  einmal  be- 
gegnen," sagte  der  Prinz  wieder,  „ich  selber  habe  nämlich  auch  ein  besonderes 
Studium  dieser  Sprache  gemacht."  Man  versprach  nun,  ihm  Gelegenheit  zu  geben, 
sich  auch  in  dieser  Sprache  zu  unterhalten.  Nun  hatten  die  Studenten  einen  ge- 
wissen einäugigen  Kees  als  ihr  Faktotum  in  ihrem  Dienste;  dieser  wurde  von 
den  Studenten  gerufen,  und  nachdem  man  ihn  als  Professor  gekleidet  hatte,  wurde 
er  beauftragt,  sich  genau  nach  den  Vorschriften  zu  betragen:  er  solle  einem 
Herrn  begegnen,  dürfe  aber  kein  Wort  reden,  sondern  nur  Geberden  machen. 
Jetzt  wurde  dem  orientalischen  Prinzen  mitgeteilt,  dass  der  Professor  der  Ge- 
berdensprache bereit  sei,  ein  Kolloquium  mit  ihm  zu  halten.  Als  sich  die  beiden 
zur  bestimmten  Zeit  und  am  bestimmten  Orte  eingefunden  hatten,  verbeugte  man 
sich  gegenseitig,  und  der  Prinz  steckte  einen  Finger  empor,  worauf  Kees  zwei 
erhob.  Darauf  steckte  der  Prinz  drei  Finger  empor,  Kees  aber  zeigte  ihm  die 
geballte  Faust.  Der  Prinz  hielt  dem  Kees  eine  Apfelsine  vor.  Kees  aber  holte 
ein  Stück  Brot  aus  seiner  Tasche  und  zeigte  ihm  dasselbe.  Als  die  Unterredung 
damit  beendet  war,  bezeugte  der  Prinz  den  Studenten  seine  grosse  Zufriedenheit 
über  den  in  der  Geberdensprache  so  überaus  erfahrenen  Professor.  „Denn,"  so 
sagte  er,  ,,wir  haben  eine  tiefsinnige  Unterredung  über  theologische  Sachen  ge- 
führt. Ich  sagte  ihm:  „Es  gibt  nur  einen  einzigen  Gott:  Allah,"  da  antwortete 
er,  indem  er  zwei  Finger  empor  hob:  „Und  dennoch  glaubet  ihr,  dass  Mohammed 
der  Prophet  als  zweiter  neben  ihm  steht."  Da  erhob  ich  drei  Finger  und  sagte 
damit:  „Aber  ihr  Christen  glaubt  auch  an  die  Dreieinigkheit."  Da  erhob  er  die 
geballte  Faust  und  besagte  damit:    ,,Und    diese    drei    sind  Eins"  (1.  Joh.  5,  7). 


90  Caland,  Bolte,  Müller: 

Da  holte  ich  eine  Apfelsine  aus  der  Tasche  hervor  und  versicherte  ihm  damit, 
dass  wir  doch  denselben  Gott  erkennen,  der  die  Welt  geschaffen  und  alles  so 
schön  gemacht  hat;  er  seinerseits  zeigte  mir  ein  Stück  Brot,  damit  andeutend: 
„Der  Mensch  lebt  nicht  allein  von  Brot,  sondern  von  einem  jeglichen  M^orte 
Gottes"  (Luk.  4,-  4).  —  Nachher  wurde  aber  der  Kees  von  den  Studenten  befragt, 
was  er  denn  eigentlich  mit  dem  fremden  Herrn  gemacht  habe.  „Der  verfluchte 
Kerl!"  antwortete  Kees.  „Er  hat  angefangen  mich  tief  zu  beleidigen,  indem  er, 
einen  Pinger  emporsteckend,  sagte:  „Nur  ein  Auge  hast  du."  Ich  erwiderte  un- 
mittelbar, zwei  Pinger  in  die  Höhe  steckend:  „Und  ich  sehe  mit  meinem  einen  Auge 
gerade  so  viel  wie  du  mit  den  zwei."  Er  aber  steckte  drei  Pinger  empor,  wo- 
mit er  offenbar  sagen  wollte:  „Wir  beide  haben  aber  doch  nur  drei  Augen."  Da 
wurde  ich  böse  und  zeigte  ihm  meine  geballte  Paust.  Er  aber  wollte  mich  ver- 
söhnen, indem  er  mir  eine  Apfelsine  darbot.  Da  sagte  ich,  ein  Stück  Brot  aus 
meiner  Tasche  nehmend:  „Kerl,  friss  du  Brot,"  und  damit  kehrte  ich  ihm  den 
Rücken."  — 

Vielleicht  ist  diesem  oder  jenem  Leser  dieser  Zeitschrift  der  Ursprung  dieser 
Geschichte  bekannt,  wodurch  es  möglich  wird  zu  erklären,  wie  dieselbe  in  so 
weit  voneinander  entfernten  Ländern  wie  Litauen  und  Holland  gleichlautend  ge- 
funden wird. 

Utrecht.  Wilhelm   Caland. 


Die  vorstehende  Geschichte  von  der  Disputation  durch  Zeichen  zwischen 
einem  Gelehrten  und  einem  üngelehrten  wird  schon  im  13.  Jahrhundert  von  dem 
Juristen  Accursius,  im  14.  von  Giovanni  Sercambi  und  Juan  Ruiz,  im  15.  von 
Hans  Rosenblüt,  im  16.  von  Francois  Rabelais  und  Beroalde  de  Verville  erzählt, 
von  vielen  andern  zu  schweigen;  vgl.  R.  Köhler,  Kleinere  Schriften  2,  479  (1900) 
und  dazu  etwa  Toldo,  Revue  des  etudes  Rabelaisiennes  1,  23  (1903);  Spina,  Die 
alttschechische  Schelraenzunft  Prantova  prava  1909  S.  172;  Chauvin,  Bibliographie 
des  ouvrages  arabes  8,  125;  Revue  des  traditions  pop.  26,  178.  —  Die  litauische 
Passung  des  Schwankes  zeigt  deutliche  Abhängigkeit  von  einem  englischen  Volks- 
buche 'George  Buchanan  the  king's  fool',  das  J.  Napier  (Polk-lore  Record  3,  127. 
1880)  nach  einem  um  1830  zu  Glasgow  erschienenen  Drucke  besprochen  hat;  hier 
disputiert  ein  spanischer  Professor  in  Aberdeen  mit  einem  Schuhmacher.  Viel- 
leicht bildete  eine  englische  Grammatik,  eine  Zeitung  oder  ein  Kalender  die  Brücke 
für  die  Übertragung  des  Schwankes  nach  dem  Osten;  doch  kann  natürlich  auch 
mündliche  Übertragung  stattgefunden  haben.  Johannes   Bolte. 


Nachbarreirae  aus  Obersachsen. 

Die  Dorfgenossen  unserer  alten  Dörfer  bildeten  seit  altersher  eine  innige 
Lebensgemeinschaft,  die  in  Preud  und  Leid  zusammenhielt.  Dass  innerhalb  einer 
solchen  die  Eigenart  des  Einzelnen,  besonders  dessen  Eigentümlichkeiten  und 
Sonderbarkeiten  allen  klar  vor  Augen  lagen,  ist  natürlich.  An  diesen  Eigenheiten 
hat  von  jeher  der  Kritische  und  Spottsüchtige  unter  den  'Nachbarn'  seine  Zunge 
gewetzt  und  sie  in  Spitznamen  und  Spottreimen  der  Öffentlichkeit  und  Allgemeinheit 
möglichst  drastisch  ins  Ohr  gerufen  und  diese  öffentliche  Kritik  in  Umlauf  gesetzt. 


Kleine  Mitteilungen.  91 

Während  die  Kinder  in  ihren  persönlichen  Spottreimen  an  die  Vornamen  an- 
knüpfen und  diese  selbst  möglichst  verunglimpfen,  bedienen  sich  die  Erwachsenen 
der  Familiennamen  oder  der  traditionellen  Beinamen.  Neben  Reimen,  die  auf 
einzelne  bestimmte  Personen  gemünzt  sind,  erregen  besonderes  volkskundliches 
Interesse  die  sogenannten  'Nachbarreime',  längere  volkspoetische  Gebilde,  in  denen 
in  einer  Art  Kettenreimen  die  Bewohner  des  ganzen  Dorfes  oder  einer  Strasse 
durchgehechelt  werden.  Die  Volkspoesie  ist  ja  auch  sonst  reich  an  ähnlichen 
Erscheinungen  in  den  Kettenreimen,  Kettenpredigten,  Zählgeschichten,  Klöppel- 
reimen usw.,  das  Volk  liebt  es,  rhythmische  und  gereimte  Sätze  mit  einer  festen 
gegebenen  Reihe  zu  verknüpfen.  So  sind  auch  die  Reihereime  in  vielen  Dörfern 
unserer  mittel-  und  norddeutschen  Gebiete  sehr  beliebt  und  verbreitet.  1896  hat 
bereits  Andree  oben  6,  'öGlf.  auf  diese  Bauernspottverse  hingewiesen,  ebenso  in 
seiner  'Braunschweiger  Volkskunde'  S.  459  f.,  wo  er  sie  als  Nachbarreime  und 
Bauernreihereime  bezeichnet,  betont,  dass  sie  sehr  alt  sein  müssten^).  Sie  haften 
häufig  mehr  am  Hofnamen  als  am  Namen  etwaiger  neuer  Besitzer,  werden  aber 
durch  neue  Zusätze  für  Zugezogene  vermehrt.  Selbst  in  alten  Städten,  wie  Braun- 
schweig, sind  sie  nachweisbar,  so  heisst  es  in  einer  'dat  schichtspeeV  genannten 
Reimchronik  von  1492  über  die  Braunschweiger  Bürger: 

Hans  Scheppenstidde  de  goltsmedt 
Hinrik  Wetenborne  nastredt, 

Hinrik  Myddendorp  de  güde  was  in  der  herschop  by  mode, 
Hinrik  Scrader,  Hennigh  Reymbolt,  Hans  Pitik  was  tomalen  stolt  usw. 

(Z.  f.  Vk.  G,  369.) 

Noch  um  1840  gab  es  in  einigen  Braunschweiger  Strassen  ähnliche  Nachbar- 
reime, so  in  der  Wilhelmstrasse: 

Daubert  de  lert,  Glindemann  de  smert, 

Stockmann  kikt  an  de  wand,  Schwartz  is  in  de  ganse  Welt  bekannt, 

Graf  Schulenburg  wont  in  de  midde,  Schreiber  hat  ne  gue  stidde, 

Kuhlmann,  de  de  Anzeigen  dräggt,  Michel,  de  dat  Dach  besläggt, 

[Winter?]  de  hat  fülen  kese,  Meyer  is  darum  böse. 

Hecht,  de  vele  kinner  hat,  Gemmeke  frett  sik  nimmer  satt. 

(Braunschw.  Vk.  S.  460f.) 

Man  erkennt  schon  aus  diesen  wenigen  städtischen  Beispielen,  denen  Andree 
viele  andere  aus  niederdeutschen  Dörfern  anreiht,  die  eigenartige  ähnliche  Form 
und  die  volkskundliche  Bedeutung  des  Inhalts.  Aus  meinen  umfangreichen  Samm- 
lungen zum  Kinder-  und  Volkslied  im  Königreiche  Sachsen  seien  folgende  ver- 
wandte Erscheinungen  aus  diesem  Gebiete  angeführt  und  dann  einige  Parallelen 
aus  verschiedenen  Gebieten  angeschlossen. 

A.  Spottreime  gegen  Einzelne. 

1.  Busa,  ty  ko^ana  dusa  ta  sukna  je  t'i  kuSa. 
(Wendisch:    Busch,  du  lederne  Seele,  der  Rock  ist  dir  zu  kurz.) 

(Radibor,  sächs.  Oberlausitz)  ^). 


1)  Vgl.    auch  W.  Seelmann,    Nachbarreime   (Jahrbuch   für   niederdeutsche    Sprach- 
forschung :'>G,  65 — 74). 

2)  Die  wendischen  Reime  stammen    aus    der  Sammlung  Pilks    im  Archiv  d.  Ver.    f. 
Sächs.  Volksk.  zu  Leipzig. 


92  Müller: 

2.  Bennewitz,  Bennewitz  hascht  en  Floh, 
Bennewitz,  Bennewitz  kriegt'n  nich, 

Bennewitz,  Bennewitz  ärgert  sich.     (Eosswein.     Dähnhardt,   Volkstümliches  aus 

Sachsen  2,  148.) 

3.  Baldauf  gieh  ne  Dorf  nauf,  klaub  Zeppln  (Gebäck  in  Zopfform)  auf, 
schmier  Butter  drauf,  's  schmeckt  gut.     (Kleinrückerswalde  i.  Erzg.) 

4.  Stille,  stille,  sonst  kimmt  der  Burthels  Hille, 

Hat  e  Sack  voll  Steene,  die  wirft  dreh  alle  a  de  Beene. 

(Hertigswalde  b.  Sebnitz.) 

5.  Boßler  Lob  (=  Gottlob)  hot  Sopp  verschott  mitten  offn  Wäg, 
kimmt  der  Gelner  (Gelenauer)  Ehregott,  dar  frißt  se  mitn  dräk. 

(Ehrenfriedersdorf  i.  Erzg.) 

6.  Bäle  mit  dr  weißen  Fahle  (=  Falbe,  Pferd).     (Lawalde,  Oberlaus.) 

7.  Eichelgruß  hot  e  Löchel  in  Fuß, 

steckt  6  Eöhrl  rei,  nahn  kimmt  Wasserbrei.     (Thalheim  i.  Erzg.) 

Spottreim  eines  Kuhjungen,    der  an  der  Haustüre  seines  Herrn  angeschrieben 
gefunden  wurde,  als  jener  ausgerissen  war: 

8.  Gute  Nacht,  Günther,  bei  dir  is  nischt  'n  Sommer,  viel  wenger'n  Winter, 
bei  dir  is  weiter  nischt  wie   Fleh  und  Drack,  gute  Nacht,  der  Kuhjung  is  wag. 

(Dänkritz  i.  Erzg.) 
Auf  eine  Wirkmagd: 

9.  Franziska  Gabler  heiß  ich,  schön  bin  ich,  das  weiß  ich, 
schön  bin  ich  von  Angesicht,  dreizehn,  vierzehn  zähl  ich  nicht. 
Geh  ich  in  Gesellschaft  mite,  ei,  so  mach  ich  große  Schritte, 
doch  der  Gang  verändert  nicht 

und  de  Flieh  sind  mir  gemeen,  ich  ho  a  ganzes  Nest  derheem. 

(Dittersbach  b.  Ostritz.) 

10.  Günzels  Wilhelm  bläst  Posaune,  wenn  an  Dürfe  is  wos  lus, 

huttr  ober  schlechte  Laune,  wird  de  Äberlippe  grüß.     (Herwigsdorf  b.  Zittau.) 

11.  Hantus  sedzi  w  sacku  zomi  ma  kaz  kacku. 
(Hantusch  sitzt  im  Nestchen,  eine  Frau  hat  er  wie  ne  Ente). 

(Radibor  b.  Bautzen.) 

12.  Handrika  ma  wjela  bozu  zonu  ma  kaz  staru  kozu. 
(Handrik  hat  viele  Holunder,  eine  Frau  hat  er  wie  ne  alte  Ziege.) 

(Radibor  b.  Bautzen.) 

13.  Härtelmaus  gecht  de  junge  Hihner  aus, 

gecht  se  bis  of  Wiesental,  kriegt  en  Dreier  überalL   (Ehrenfriedersdorf  i.  Erzg.) 

14.  Hentschel  Bentschel  Besenbinder,  du  verfluchter  Rattenschinder. 

(Cunewalde,  Oberlaus.) 

15.  Herrmanns  Schimmel  war  imgefall'n, 

se  hurtens  bis  a  Rummeah  (Rumburg  i.  B.)  knall'n.     (Ebersbach,  Oberlaus.) 

16.  Klonkemichel,  Klonkemichel,  heirot  net, 
nahm  das  alle  dicke  fette  Sauleder  net. 

Gald  hot  se  wühl,  schie  sieht  se  net, 

Klonkemichel,  Klonkemichel,  heirot  net.     (Thalheim  i.  Erzg.) 


Kleine  Mitteilungen.  93 

17.  Kodn  Fitzfud'n,  zieh  übr  dn  Teich, 

drei  Mützen,  drei  Spitzen,  is  Kodn  sei  Reich.     (Östl.  Erzgeb.) 

18.  Kümmelandrcs,  Kümmelandies,  wo  bist  de  gewest? 

Bi  drin  meiner  Wies'  rümgehupft,  ho  mr  weng  Kümmel  zamgezupft. 
Kümmelandres,  Kümmelandres,  wo  bist  de  gewest. 

Dieser  Reim  ist  schon  traditionell  geworden  in  mehreren  Orten  des  Vogt- 
lands. 

19.  Hüller  Lieb  hat's  Geld  vertan  mit  de  Mäd  im  Stalle, 

hat  ersch  uf  de  Scharz  gezählt,  hat  gesät,  's  is  alle.     (Hainichen.) 

Der  Name  wechselt  bei  diesem  traditionell  gewordenen  Reime. 

'20.    Fritzens  Lobs  Lirche  (?)  ließ  an  Bumbs  (Leibwind)  a  de  Kirche, 
ließ  an  Bumbs  as  Butterfaß,  Sapperlot,  wie  knallte  das.      (Oderwitz,  Oberlaus.) 

Auch  hier  ist  ein  sonst  traditioneller  Reim  aus  einer  Scherzgeschichte  auf  eine 
bestimmte  Person  gemünzt  worden,  ebenso  wird  häufig  derselbe  Spottreim  auf 
Personen  gleichen  Familiennamens  bezogen. 

21.  Meier  schlacht  ein  Kalb,  und  Jedermann  nimmts  halb.     (Mühlbach.) 

22.  MüUersch  Auguste,  wenn  de  nich  willst,  da  mußte.    (Hainichen.) 

23.  Mlynkowa,  ricata,  tajka  dolha  whota. 
(Müllerin  großarschige,  so  eine  langbeinige).     (Radibor.) 

24.  Moritz  Schwenke  ging  in  die  Schenke  und  huppt  über  die  Bänke, 
was  ist  das  für  eine  Mengenke  (=  Verwirrung).     (Mühlbach.) 

25.  Natus,  Tatus,  beio  konja,  w^;itke  psy  so  za  nim  konja. 
(Natusch,  Tatusch  [hast]  ein  weißes  Pferd,  alle  Hunde  laufen  ihm  nach). 

(Radibor.) 

26.  Nudelmüller  vu  Breetenburn  ging  uffs  Siessen  Kuchen  schnurrn  (=  betteln). 

(Oderwitz,) 

27.  Pippigslob,  Pippigslob,  gehste  de  mit  in  de  Pflaume? 

Ich  ka  net  miet,  ich  ka  net  miet,  ho  an  biesen  Daume.     (E.  Werdau.) 

28.  Recklebäck,  mir  schmeckts  heit  net, 

wenn  ich  ner  Reckele*)  hätt'.     (Netzschkau  i.  Vogtl.) 

29.  Die  Schniebsen  in  der  Bude  saß  und  verfaulte  Griebsche  aß.    (Löbau.) 

30.  Sattler  Karlie  Brotwurscht  und  Brüh, 

Sattlerkar  Hannel,  Brotwurscht  und  Sammel.     (Zschorlau  i.  Erzg.) 

31.  Stocke  hoppe,  friß  de  Soppe  mit  e  Toppe.     (Kaiiienz.) 

32.  Schießelbeen,  Schießelbeen  gieht  an  Dürfe  runter, 

hot  a  schienes  Röckel  a  und  a  bloes  drunter.    (Eibau,  Oberlaus.) 

33.  Schubertlob,  Schubertlob,  geh  nur  in  de  Pflaume! 
Ka  net  miet  gieh,  ho  en  biesen  Daume. 
Schubertlob,  Schubertlob,  geh  nur  in  de  Schuten! 

Ka  net  miet  gieh,  ho  en  biesen  Pfuten.     (Zschorlau  i.  Erzg.) 


1)  Reckele,  ein  Roggengebäck. 


94  Müller,  Röheim,  Höfler: 

34.  Viertelland  hat  den  Finger  verbrannt 
of  dr  kalten  Ofenbank.     (Affalter  i.  Erzg.) 

35.  Schmiedeheckel  hots  Feuer  an  Säckel, 

hots  Feuer  am  Loche  de  ganze  Woche.    (Friedersdorf  b.  Löbau.) 

Leipzig.  Curt  Müller. 

(Schluss  folgt.) 


Nachtrag  zu  den  Igelsagen. 

(Oben  23,  407  f.) 
Nach  Drucklegung  meines  Aufsatzes  finde  ich  noch  folgende  Fassung: 

k)    Aus  Neu-Süd-Wales.     Wathi-wathi  und   Wonghibonstämme. 

Das  wenige  Essen,  welches  vorhanden  war,  wurde  dem  Ameisenigel  zur  Auf- 
bewahrung anvertraut,  alle  anderen  waren  auf  der  Suche  nach  neuen  Vorräten. 
Sie  hatten  jedoch  wenig  Glück,  und  am  Nachmittag  bei  ihrer  Rückkehr  fanden 
sie,  dass  der  Ameisenigel  die  Vorräte  allein  verzehrt  hatte  und  danach  einge- 
schlafen war.  Hierüber  erzürnten  sie  sich  so  sehr,  dass  sie  alle  Speere,  die  im 
Lager  aufzutreiben  waren,  in  den  schlafenden  Ameisenigel  stiessen.  Die  Stacheln 
sind  noch  heute  sichtbar  und  erklären  die  Wahrheit  der  Geschichte*). 

Die  Gefrässigkeit  des  Tieres  wird  hier  betont  wie  in  Fassung  g.  In  etwas 
abweichender  Form,  als  Antropophagie,  kommt  derselbe  Zug  auch  in  den 
Passungen  e  und  h  vor. 

Zu  S,  414  Antn.  2  sei  ferner  noch  auf  folgende  Werke  verwiesen:  L.  E.  Threlkeld, 
An  Australian  Language  as  spoken  by  the  Awabakal  (1892)  S.  41);  E.  V.  Palmer,  Nineteenth 
Century  1906  Aug.  Nr.  354  S.  319:  A.  Oldfield,  Transactions  of  the  Ethnological  Society 
1865  S.  258;  J.  W.  Gregory,  The  Dead  Heart  of  Australia  (1906)  S.  209-221:  C.  Lum- 
holtz,  Au  Pays  des  Cannibales  (1890)  S.  311. 

Budapest.  Geza  Röheim. 


Ein  Helgoländer  Brautschmuck. 

Der  Güte  der  Frau  John  Suhr  Witwe  in  Hamburg  verdankt  der  Unterzeichnete 
beifolgende  Abbildung  eines  Helgoländer  Brautschmuckes  'Dat  Hatje'  (das  Herzchen) 
genannt,  aus  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  (1660);  Material  Silber;  Zweidrittel 
der  natürlichen  Grösse.  Oben  in  der  Mitte  das  Brautpaar,  darüber  die  Braut- 
krone von  Engeln  gehalten.  Das  Anhängsel  zeigt  links  die  Rückseite  des 
Lootsenzeichens  mit  Namenszug  Christian  V.  mit  Krone;  rechts  das  Lootsen- 
zeichen  Nr.  60  (Lootse  mit  Senkblei  und  Rettungsring),  weiter  unten  zwei  Engel 
mit  Palmzweigen,    und  zwei  Schellfische.      In  der  Mitte    das    mit    Ornament   um- 


1)  A.  L.  P.  Cameron,  Traditions  and  Folklore  of  the  Aborigines  of  New  South  Wales. 
(Science  of  Man  1903)  S.  48. 


Kleine  Mitteilungen. 


95 


o-ebene  Herz.  Unten  an  einem  Anker  hängend  das  Lootsenboot  mit  zwei  Glücks- 
engeln. Auf  der  Rückseite  in  Prunkschrift  C  H  —  A  R  1660.  Auf  dem  Lootsen- 
boot nochmals  die  Zahl  1660. 


Bei    der  Seltenheit    des  Schmuckes    dürfte    die  Abbildung    das  Interesse    der 
Freunde  der  Volkskunde  erwecken. 

Bad  Tölz.  Max  Höflor. 


96  Boehm,  Scheftelowitz: 


Bücheranzeigen. 


Karl  Knortz,    Amerikanischer  Aberglaube    der    Gegenwart.     Ein  Beitrag 
zur  Volkskunde.    Leipzig,  Th.  Gerstenberg  1913.    156  S.    8°.    geb.  3  Mk. 

Unter  'amerikanischem  Aberglauben'  versteht  der  Verf.,  wie  aus  dem  Inhalt 
des  Buches  hervorgeht,  im  allgemeinen  den  der  weissen  Bevölkerung  der  Ver- 
einigten Staaten,  wenn  er  auch  bisweilen  die  Bewohner  von  Kanada,  die  Neger 
und  Indianer,  z.  T.  sogar  die  Südamerikas  in  den  Kreis  seiner  Darstellung  zieht. 
Reiches  Material  über  alle  möglichen  Äusserungen  des  Aberglaubens  im  alltäg- 
lichen Leben  und  an  Festtagen  hat  der  durch  zahlreiche  Schriften  über  volkskund- 
liche Gegenstände  bekannte  Verfasser  zusammengestellt,  teils  aus  eigenen  Samm- 
lungen, teils  aus  gedruckten  Quellen.  Dankenswert  sind  die  an  verschiedenen 
Stellen  (S.  13.  53.  130.  152)  beigebrachten  Züge  aus  dem  Seemannsaberglauben. 
Auch  Sagenhaftes  (Spukhäuser,  Geisterschiffe,  Teufelssagen)  und  Volksbräuche, 
wie  das  aus  Deutschland  (Pfalz,  Kurhessen)  nach  Pennsylvanien  mitgewanderte 
'Elfentritschen'  (S.  102)  finden  wir  mitgeteilt.  Von  einem  einheitlichen  Bilde  kann 
bei  dem  bunten  Völkergemisch  Amerikas  natürlich  noch  viel  weniger  die  Rede 
sein  als  etwa  in  Deutschland.  Fast  in  jedem  Falle  kann  man  feststellen,  dass  die 
aufgezählten  Volksmeinungen  und  -brauche  denen  der  verschiedenen  Vaterländer, 
wie  Englands  und  Deutschlands,  genau  entsprechen.  Der  Verf.  will  davon  ab- 
sehen, „Untersuchungen  über  die  Herkunft  oder  Vergleiche  mit  ähnlichen  Er- 
scheinungen bei  anderen  Völkern  zu  liefern"  (S.  8),  tritt  aber  doch  häufig  aus 
dieser  Zurückhaltung  heraus;  bisweilen  sind  seine  Erklärungen  rationalistisch  ge- 
färbt und  wenig  ansprechend,  so  S.  11:  „Wer  ein  Waisenkind  aufnimmt,  hat 
Glück;  warum  auch  nicht?  Er  ist  unstreitig  ein  gutmütiger  und  wohltätiger  Mann, 
dem  niemand  so  leicht  eine  Gefälligkeit  abschlägt."  Das  bekannte  Rezept,  einen 
Vogel  zu  fangen,  indem  man  ihm  Salz  .auf  den  Schwanz  streut  (S.  57),  gehört 
doch  wohl  mehr  zu  den  Neckereien,  als  zum  Aberglauben,  dasselbe  gilt  von  dem 
Mittel,  ein  durchgehendes  Pferd  dadurch  zum  Stillstehen  zu  bringen,  dass  man  es 
in  das  Ohr  beisst  (S.  130).  Weit  unerfreulicher  als  solche  kleinen  Anstösse  sind 
die  zahlreichen  Wiederholungen  innerhalb  des  Werkes.  Von  den  zukunftkündenden 
körperlichen  Empfindungen  (Jucken,  Brennen)  ist  zuerst  S.  21,  dann  wieder  S.  143 
die  Rede,  von  Liebesorakeln  S.  25  und  S.  144  f.,  vom  Verschütten  des  Salzes 
S.  56  und  S.  139  u.  a.  m.  Der  Mangel  einer  festen  Gliederung  des  Stoffes  wird 
noch  verstärkt  durch  das  Fehlen  einer  Inhaltsangabe  oder  eines  Wortregisters. 
Viele  Leser  hätten  gewiss  gern  anstatt  der  heftig  gegen  die  Kirche  polemisierenden 
Einleitung  ein  solches  Hilfsmittel  gesehen.  Es  ist  zu  bedauern,  dass  durch  diese 
methodischen  Mängel  die  Benutzung  des  inhaltreichen  Buches  sehr  erschwert  wird. 

Berlin-Pankow.  Fritz  Boehm. 


Bücheranzeigen.  97 

Micha  Josef  Bin  Goriou,  Die  Sagen  der  Juden,  bearbeitet.  Bd.  I:  Von 
der  Urzeit.  Frankfurt  a.  M.,  Rütten  &  Loening  1913.  XVI,  378  S.  8°. 
Geheftet  6  Mk. 

Der  Verfasser  will  die  in  den  Midrasch-Werken  enthaltenen  Sagen,    die    sich 
an  die  Bibel  anknüpfen,   nach  der  Reihenfolge  der  biblischen  Geschichte  ordnen. 

Der  hier  vorliegende  erste  Band,  der  die  Sagen  der  Urzeit  enthält,  zeugt 
von  grosser  Sachkenntnis.  Wer  sich  mit  der  vergleichenden  Sagen-  und  Volks- 
kunde befasst,  der  wird  hier  manches  interessante  Material  finden  und  dafür  dem 
Verfasser  Dank  wissen.  An  einzelnen  Beispielen  werde  ich  dieses  darzulegen 
suchen:  S.  14:  Die  Fabel  von  dem  Eisen,  bei  dessen  Erschaffung  die  Bäume  zu 
zittern  begannen,  ist  bereits  B.  Talm.  Sanhedrin  89  b  erwähnt  und  kommt  schon 
in  der  syrischen  Version  der  Abikar-Erzählung  vor  (Conybear,  Rendel  Harris, 
Smith  Lewis,  Story  of  Ahikar  1898  S.  70  nebst  Übers.  S.  82).  Durch  David 
Friedländer,  Der  Philosoph  der  Welt,  Berlin  1860  S.  36  ist  diese  Fabel  in  die 
deutsche  Literatur  aufgenommen  und  findet  sich  in  vielen  Schullesebüchern.  In 
der  Friedländerschen  Bearbeitung  lautet  sie:  „Aus  einer  Eisenschraiede  fuhr  ein 
mit  neugehämmerten  Äxten  beladener  Wagen  durch  den  nahe  gelegenen  Wald. 
Die  Sonne  glänzte  mit  dem  Stahle,  und  die  Bäume  des  Waldes  erzitterten  ob  der 
Erscheinung:  „Wer  wird  vor  ihnen  bestehen?  Diese  Eisen  fällen  uns  alle!"  So 
klagte  ihr  Angstgeräusch.  Aber  eine  bejahrte  Eiche  rief  ihnen  zu:  Fürchtet  nichts! 
Solange  keiner  von  euch  diesen  Ästen  Stiele  leiht,  kann  euch  ihre  Schärfe  nichts 
schaden."  —  S.  44:  'Der  Ozean  ruht  auf  den  Flossen  des  Leviatans'.  Nach  Pirqe 
des  R.  Eliezer  c.  9  ruht  die  Grundlage  der  Erde  zwischen  den  beiden  Flossen 
des  Leviatan.  Da  diese  Anschauung  in  der  jüdischen  Literatur  erst  spät  auf- 
taucht, so  könnte  sie  wohl  von  den  Arabern  entlehnt  sein.  Denn  die  Moham- 
medaner glauben,  dass  die  ganze  Welt  auf  einem  gewaltigen  Fisch  ruht  (Dieterici, 
Rechtsstreit  zwischen  Mensch  und  Tier  S.  2;^7  Anm.  8;  derselbe,  Chrestomathie 
Ottomane  1JS54  S.  58.  Über  den  Leviatan  vgl.  Scheftelowitz,  Arch.  f.  Rel.-Wiss.  14,  6). 
Diese  Anschauung  hat  sich  weit  verbreitet,  so  bei  Firdusi,  >"<ähnäme  (vg\.  v.  Schack, 
Firdusi  18G.T  S.  160),  in  Burma  (H.  J.  Wehrli,  Beitrag  zur  Ethnologie  der  Chingpaw 
von  Ober-Burma,  Leiden  1904  S.  51),  auf  den  Carolinen  (A.  Bastian,  Die  mikro- 
nesischen  Kolonien  18  '9  S.  112);  in  Japan  verursacht  dieser  gewaltige  Fisch,  so 
oft  er  sich  bewegt,  Erdbeben  (B.  H.  Chamberlain,  Things  Japanese,  London  1902 
S.  127).  In  Indonesien  glaubt  man,  dass  eine  gewaltige  Schlange  die  Trägerin 
der  Erde  sei,  die,  wenn  sie  sich  bewegt,  Erdbeben  hervorruft  (Globus  42,  45;  G5, 
95 f.,  A.  Bastian,  Indonesien  4,  22).  —  S.  85  (vgl.  S.  287):  'Mann  und  Weib  waren 
zu  Anfang  ein  Fleisch  und  zwei  Angesichter;  dann  zersägte  der  Herr  den  Leib  in 
zwei  Leiber  und  machte  einem  jeden  einen  Rücken'  (Midr.  Ber.  R.  VIII,  1).  Auch 
nach  Midr.  Jalqut  zu  Gen.  §  20  hat  Gott  den  Adam  ursprünglich  als  ein  Mann- 
weib (das  mit  dem  griechischen  Wort  dvÖQoyvvrjg  übersetzt  wird)  geschaffen.  Diese 
Sage  entstammt  meines  Erachtens  aus  dem  Griechischen.  Plato  erzählt  in  seinem 
Symposion,  dass  der  Urmensch  einen  hermaphroditischen  Körper  hatte;  hierauf 
habe  ihn  Zeus  in  zwei  Hälften  geteilt.  Darum  hat  jede  Hälfte  Sehnsucht  nach 
ihrer  andern  Hälfte.  Im  Altindischen  ist  diese  Sage  gleichfalls  zu  belegen. 
So  heisst  es  im  Catapatha  Brähmana:  'Der  Atman  war  im  Anfang  allein  da,  einem 
Manne  gleich;  „er  schaute  um  sich  und  sah  nichts  anders  als  sich  selbst,  er  sprach 
das  erste  Wort:    'Ich  bin",  daher  kommt  der  Name:    'Ich'  ...    Er  fürchtete  sich, 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1914.    Heft  1.  7 


98  Scheftelowitz,  Kohler: 

deshalb  fürchtet  sich,  wer  allein  ist.  Da  gedachte  er;  Da  nichts  ist  als  ich,  wovor 
fürchte  ich  mich  denn?"  Da  verschwand  seine  Furcht.  Wovor  hätte  er  sich 
auch  fürchten  sollen?  Vor  einem  Zweiten  empfindet  man  Furcht.  Er  fühlte  sich 
auch  nicht  zufrieden;  deshalb  fühlt  sich  nicht  zufrieden,  wer  allein  ist.  Er  be- 
gehrte nach  einem  Zweiten;  er  umfasste  in  sich  die  Wesenheit  von  Weib 
und  Mann,  die  sich  umschlungen  halten.  Er  spaltete  diese  seine 
Wesenheit  in  zwei  Teile;  daraus  wurden  Gatte  und  Gattin;  deshalb 
sind  wir  jeder  gleichsam  eine  Hälfte,  sagt  Yäjiiavalkya,  deshalb  wird  diese  Lücke 
durch  das  Weib  ausgefüllt.  Er  vereinte  sich  mit  ihr;  so  wurden  Menschen 
erzeugt.'  —  S.  116:  'In  der  Stunde,  da  der  Mensch  schläft,  steigt  die  Seele  empor 
und  schöpft  ihr  Leben  von  oben.'  (Ber.  R.  P.  14.)  Dieselbe  Auffassung  findet 
sich  auch  Debärim  Rabbfi  Par  ö  (zu  c.  20,  10):  'Alle  heidnischen  Völker  erzürnen 
Gott;  während  sie  aber  schlafen,  steigen  alle  Seelen  zu  ihm  empor.'  Im  Midr. 
Tehillim  11,  6  heisst  es:  'Schläft  der  Mensch,  so  geht  seine  Seele  hinaus  und 
schweift  in  der  Welt  umher,  und  das  sind  die  Träume,  die  der  Mensch  sieht.' 
Diese  primitive  Anschauung  vermag  ich  für  die  verschiedensten  Völker  der  fünf 
Erdteile  nachzuweisen.  —  S.  1901".:  Das  Hahnenkrähen  verscheucht  die  bösen 
Geister  (Wajiqrä  R.  P.  5).  Diese  Anschauung  ist  weit  verbreitet.  Sie  findet  sich 
z.  B.  im  altchristlichen  Glauben,  vgl.  Aurelius  Clem.  Prudentius,  Hymnus  ad 
galli  cantum  10:  Ferunt  vagantes  daemonas  laetos  tenebris  noctium  gallo 
canente  exterritos  sparsim  tiniere  et  cedere.  Gemäss  dem  deutschen  Volksglauben 
weichen  beim  Hahnenkrähen  die  nächtlichen  Gespenster  und  der  Teufel  (A.  Wuttke, 
Deutscher  Volksaberglaube  ^  §  156;  Siebs,  oben  .3,  383;  R.  Eisel,  Sagenbuch 
des  Voigtlandes  1871  S.  7ff.;  Ch.  Schneller,  Märchen  und  Sagen  in  Wälschtirol 
1867  S.  13).  Derselbe  Glaube  findet  sich  bei  den  Schweden  (oben  10,  "201),  den 
Zigeunern  (H.  v.  Wlislocki,  Aus  dem  Innern  Leben  der  Zigeuner  1892  S.  135) 
und  den  Russen  (A.  Bastian,  Rechtsverhältnisse  S.  2S0).  Weiteres  Material 
bei  Scheftelowitz,  Huhnopfer  l!»  14  S.  51  f.  —  S.  320:  Die  Auffassung,  dass 
der  Dämon  eine  katzenähnliche  Gestalt  annimmt,  die  in  der  aus  einem  mittel- 
alterlichen kabbalistischen  Werke  entnommenen  Sage  enthalten  ist,  taucht  zuerst 
in  Sefer  Hasidim  auf  (vgl.  Sefer  Hasidim  §  465,  Sulzbach  5445),  also  um  1200 
n.  Chr.  und  ist  entlehnt.  Im  deutschen  Mittelalter  verwandelten  sich  Hexen  in 
Katzen,  weshalb  sie  auch  Wetterkatzen  genannt  wurden.  (Schindler,  Abergl.  d. 
Mittelalters  1858  S.  28;  G.  Grupp,  Kulturgeschichte  des  Mittelalters  3  ^  1912  S.  32). 
Nach  dem  deutschen  Volksglauben  nehmen  die  Hexen  nachts  die  Gestalt  von 
Katzen  an  (A.  Wuttke,  Deutscher  Volksabergl.  ^  §  217.  402;  J.  W.  Wolf,  Nieder- 
ländische Sagen  1843  Nr.  240.  293.  561).  Die  galizischen  Juden  lassen  darum 
keine  Katze  in  das  Zimmer  einer  Wöchnerin  ein.  Auch  nach  dem  russischen 
Volksglauben  verwandeln  sich  Hexen  oft  in  Katzen  (Globus  18,  171).  Diesel-be 
Anschauung  treffen  wir  bei  den  Zigeunern  (v.  Wlislocki  a.  a.  0.  S.  115).  Dämonen 
erscheinen  häufig  in  Gestalt  von  Katzen  bei  den  Malaien  (Skeat  und  Bladgen, 
Malay  Magie  1900  S.  191  398),  den  Imeretiern  im  Kaukasus  (Globus  SO,  306), 
den  Japanern  (Globus  32,  124 f.),  den  Chinesen  (R.  P\  Johnston,  Lion  and  Dragon 
in  Northern  China  1910  S.  293  f.),  den  Mohammedanern  Ägyptens  (E.  W.  Laiie, 
Sitten  und  Gebräuche  der  heutigen  Ägypter,  übers,  v.  Zenker  2,  35),  den  Indern 
und  Persern  (Crooke,  Natives  of  North.  India  p.  198.  256;  Bundehes  c.  32).  Nach  dem 
Glauben  der  Eingeborenen  von  Madagaskar  wird  ein  Sünder  nach  seinem  Tode 
eine  Katze,  weshalb  dieses  Tier  ängstlich  gemieden  wird  (J.  Sibree,  Madagaskar 
1870  S.  244.  378).  —  S.  348:  Die  Anschauung,  dass  der  ganze  Luftraum  von  un- 
zähligen  Geistern    erfüllt   ist,    kommt    bereits    B.  T.   Berfiköt  6a,    Midr.    Debärim 


Bücheranzeigen.  99 

R.  P.  4  (zu  c.  10,  1)  vor.  Sie  findet  sich  im  primitiven  Glauben  der  ver- 
schiedensten Völker.  So  bevölkern  nach  griechischer  Anschauung  böse  Geister 
den  Luftraum,  weshalb  sie  deoioi  heissen  und  noch  heute  in  Griechenland  die  Ge- 
spenster (.h'oiy.a  genannt  werden  (Kroll,  Rhein.  Mus.  1897,  S.  345).  Auch  nach 
dem  Glauben  der  Grönländer  und  der  Sundanesen  ist  die  ganze  Welt  von  un- 
sichtbaren Geistern  erfüllt  (Globus  19,  -23;  44,  301).  Noch  M.  Luther  sagt:  „Es 
sind  viele  Teufel  um  uns,  die  uns  alle  Stunden  wohl  könnten  töten"  (M.  Luthers 
sämtl.  Schriften  3,  1561). 

Cölna.  Rhein.  IsidorScheftelowitz. 


Maurice  Lacombe,  Essai  siir  la  Coutume  Poitevine  du  Mariage  au 
debut  du  XY.  siecle  d'apres  le  vieux  'Coustumier  de  Poictou'.  Paris, 
M.  Champion  1910. 

Dieses  Werk  handelt  von  der  Coutume  von  Poictou  aus  dem  Jahre  1417  und 
ihren  rechtlichen  Bestimmungen,  einer  coutume,  welche  die  Grundlage  bot  für 
die  späteren  offiziellen  Coutumes  von  1514  und  1559. 

Die  Ehe  war  in  dieser  Zeit  eine  Ehe  mit  priesterlicher  Einsegnung  (beneisson 
des  nopces);  der  altkanonische  gratianische  Standpunkt  war  völlig  verlassen,  die 
Mitwirkung  der  Kirche  gesichert.  Die  Vermögensfolge  der  Ehe  war  die  Güter- 
gemeinschaft des  beweglichen  Vermögens  und  der  Errungenschaft,  dieselbe  wie 
heutzutage  nach  dem  Code  Napoleon:  diese  Art  des  Güterrechts  war  schon  damals 
in  Frankreich  weit  verbreitet.  Die  Frau  aber  hatte,  wenn  die  Gemeinschaft  ver- 
schuldet war,  bei  ihrer  Auflösung  nicht  wie  heutzutage  die  freie  Möglichkeit  des 
Verzichts;  dieses  Recht  stand  bis  in  die  Mitte  des  IG.  Jahrhunderts  nur  der  femme 
noble  zu,  picht  der  roturiere:  der  Adel  war  damals  durch  vornehme  Allüren, 
allerdings  auch  durch  Kriege  und  durch  Züge  in  das  Ausland  stark  verschuldet, 
und  die  Adelswitwe  sollte  vom  Konkurs  gerettet  werden  —  die  bürgerliche  Frau 
war  selten  in  solcher  Bedrängnis,  und  war  dies  der  Fall,  so  überliess  man  sie 
ihrem  Schicksal. 

Bei  dem  Verzicht  auf  die  Gütergemeinschaft  herrschte  der  Brauch,  dass 
die  Frau  bei  Beerdigung  des  Mannes  ihre  Geldbörse  in  das  Grab  warf  und 
dann  nicht  mehr  in  das  Heim  zurückkehrte,  ein  Brauch,  der  im  Grand 
Coutumier  de  France  von  Ableiges  (herausgegeben  von  Laboulaye  und  Dareste 
p.  376)  geschildert  wird.  Im  übrigen  hatte  die  Frau  Anspruch  auf  ein  Wittum 
von  Eindrittel  oder  der  Hälfte  des  Vermögens  des  Mannes,  aber  in  der  Art,  dass 
sie  nicht  Eigentum,  sondern  blosse  lebenslängliche  Nutzniessung  erwarb. 

Das  Verhältnis  der  ehelichen  Kinder  zu  dem  Hausvermögen  war  in  der  Art 
geregelt,  dass  der  Hausvater  nicht  von  der  gesetzlichen  Teilung  abweichen  durfte: 
er  durfte  nicht  'lieb  Kind'  machen,  also  keinem  Kinde  mehr  als  den  gesetzlichen 
Teil  zuwenden,  und  dieser  Teil  war  nicht  mathematisch  gleich,  denn  es  be- 
stand ein  droit  d'ainesse  des  ältesten  Sohnes  und  betreffendenfalls  der  ältesten 
Tochter. 

Doch  war  folgendes  möglich:  der  Vater  konnte  einem  Kinde  etwas  zuwenden, 
was  bei  der  Erbteilung  angerechnet  werden  musste;  war  dies  mehr  als  sein  Teil, 
so  konnte  das  Kind  auf  die  Erbschaft  verzichten  und  das  Zugewendete  behalten, 
jedoch  nicht  über  den  Betrag  der  quotitö  disponible  hinaus.  Dies  ist  das  in  den 
französischen    Rechten    viel    verbreitete    System    der    Egalite    imparfaite,     über 


100  Notizen, 

welches  ich  in  dem  Kollationsrecht  in  den  französischen  Coutumes  (Fest- 
gabe für  Gneist  1888  S.  206)  eingehend  gehandelt  habe.  Uneheliche  Kinder 
waren  von  der  väterlichen  Erbschaft  ausgeschlossen,  beerbten  aber  die  Mutter 
wie  eheliche. 

Von  besonderem  Werte  für  uns  ist  neben  den   juristischen  Erörterungen    der 
Abdruck  der  wesentlichen  einschlagenden  Bestimmung  des  Rechtsbuchs  von  1417. 

Berlin.  Josef  Kohler. 


Notizen. 


L.  Bechstein,  Thüringens  Sagenschatz  I.Band:  Sagen  von  Eisenach  und  der  Wart- 
burg, dem  Hörselberg,  Reinhardsbrunn  und  der  Ruhl,  neu  bsg.  von  Arthur  Richter- 
Heimbach.  Quedlinburg,  H.  Schwanecke  (1913).  "210  S.  8  °  geb.  2  Mk.  —  Die  hier  ver- 
einigten Sagen  sind  zumeist  aus  den  beiden  ersten  Bänden  des  zuletzt  1862  erschienenen 
Bechsteinschen  Werkes  entnommen;  aber  die  Ordnung  ist  zum  Teil  verändert,  und  die 
anderweitigen  Quellen  sind  nirgends  angegeben.     [J.  B.] 

Franz  Gramer,  Deutschland  in  römischer  Zeit.  Berlin  und  Leipzig,  G.  J.Göschen 
1912.  165  S.  23  Abb.  kl.  8 «.  0,90  Mk.  (Sammlung  Göschen  Nr.  633).  -  Der  Hauptteil 
des  sehr  nützlichen  Buches  ist  rein  geschichtlich  und  gibt  in  Kap.  1—16  eine  Darstellung 
der  römisch-germanischen  Beziehungen  in  Krieg  und  Frieden  von  den  ältesten  Zeiten  bis 
zum  Zusammenbruch  des  weströmischen  Reiches.  Besonders  ausführlich  und  mit  steter 
Berücksichtigung  der  neusten  Ausgrabungen  und  Funde  werden  die  römischen  Waffen- 
plätze und  Stützpunkte,  der  Limes  usw.  behandelt.  Volkskundlichen  Inhalt  bieten  zum 
Teil  die  Kapitel  17—20,  in  denen  von  den  römischen  Handelsbeziehungen,  von  Kunst- 
gewerbe und  Handwerk,  von  der  interessanten  Mischkultur  im  Mosellande  und  von 
mannigfaltigen  Kultureinflüssen  auf  deutschem  Boden  die  Rede  ist.     [F.  B.] 

Alfred  Haas,  De  Fir(d)kopp  in  der  pommerschen  Volkssage.  (Monatsblätter,  hsg. 
V.  d.  Ges  f.  Pommersche  Geschichte  und  Altertumskunde  1913,  H.  9  S.  1.36 — 140).  —  In 
einer  Anzahl  norddeutscher  Ortssagen  wird  erzählt,  dass  Ortschaften,  die  heutzutage  durch 
breite  Flüsse  oder  Meeresarme  getrennt  sind,  in  früheren  Zeiten  durch  Wasserläufe  ge- 
schieden wurden,  die  so  schmal  waren,  dass  man  sie  auf  einem  ins  Wasser  geworfenen 
'Pferdekopf'  (Perdekopp,  Pärkopp)  überschreiten  konnte.  H.  Handelmann  hatte  oben  16, 
397  nr.  134  a  diesen  Sagenzug  auf  eine  missverständliche  oder  absichtlich  witzige  Deutung 
des  slawischen  Percop  =  Kanal,  Meerenge  zurückgeführt.  Haas,  der  diese  Erklärung  in 
seinen  Rügenschen  Sagen  4.  Aufl.  S.  175  abgelehnt  hatte,  widerruft  sich  in  dem  vor- 
liegenden Aufsatz,  da  ihm  eine  Fassung  der  Sage  von  der  Insel  Vilm  bekannt  geworden  ist, 
in  der  mit  'Pirkopp'  zwar  nicht  ein  Graben  selbst,  wohl  aber  ein  zu  dessen  Überschreitung 
dienender  Stein  bezeichnet  wird  und  von  einem  Pferdeschädel  überhaupt  nicht  die  Rede 
ist.  Als  Entsprechung  führt  er  ausserdem  die  volkstümliche  Deutung  der  rügenschen 
Bezeichnung  'Perd'  (sl.  perd  =  das  Vordere,  Vorgebirge)  als  'Pferd'  an,  die  durch  die 
Gestalt  der  so  benannten  Höhenrücken  erklärt  wird.     [F.  B.] 

A.  Haas,  Das  Riesenschiff  in  der  pommerschen  Volkssage  (Pommersche  Heimat  3,  2). 
—  Die  Sage  von  einem  in  alter  Zeit  die  Ostsee  befahrenden  Schiffe  von  ungeheurer  Aus- 
dehnung, mit  tausend  Masten  usw.  ist  an  der  Ostseeküste  vielfach  anzutreffen.  Zu  zwei 
schon  früher  von  ihm  veröffentlichten  Fassungen  fügt  der  verdiente  Sammler  pommerscher 
Überlieferungen  hier  eine  dritte  von  K.  Rosenow  jüngst  mitgeteilte,  in  der  das  Schiff  den 
Namen  'Nackelfragar'  trägt,  der  mit  dem  'Naglfar'  des  nordischen  Mythus  identisch  wäre. 
Es  würde  sich  um  ein  interessantes  Überlebsei  handeln,  wenn  man  die  von  Rosenow 
angegebene  Quelle  als  unbedingt  rein  und  unbeeinflusst  ansehen  dürfte.  Sollte  sein  alter 
Kapitäo  den  Namen  doch  nicht  vielleicht  von  irgendeiner  Seite  her  gehört  und  in  sein 
'Garn'  miteingesponnen  haben?     [F.  B.] 


Notizen.  101 

Historia  septem  sapientum  1:  Eine  bisher  unbekannte  lateinische  Übersetzung 
einer  orientalischen  Fassung  der  Sieben  weisen  Meister  (Mischle  Sendabar)  hsg.  und 
erklärtvonA.Hllka,  Heidelberg,  C.  Winter  1912.  XXV,  35  S.  1,20  Mk.  —  II:  Johannis 
de  Alta  Silva  Dolopathos  sive  De  rege  et  septem  sapientibus,  nach  den  festländischen 
Handschrilten  kritisch  hsg.  von  A.  Hilka.  Ebd.  1913.  XIV,  112  S.  2.20  Mk.  (Sammlung 
mittellateinischer  Texte  4— 5\  —  Die  für  die  mittelalterliche  Novellistik  bedeutsame  Ge- 
schichte des  indischen  Sindibad-Buches  erhält  durch  Hilkas  beide  Publikationeu  erwünschte 
Förderung.  Bekanntlich  ist  die  im  13.  Jahrhundert  entstandene  hebräische  Bearbeitung 
dieses  Romans  von  den  sieben  weisen  Meistern,  Mischle  Sendabar,  deshalb  besonders 
wichtig,  weil  sie  die  Brücke  von  den  orientalischen  Fassungen  zu  den  abendländischen  ge- 
bildet zu  haben  scheint.  Sie  beruht  auf  einer  verlorenen  arabischen  Vorlage  und  enthält 
21  Novellen,  die  in  die  bekannte  Rahmenerzählung  von  dem  durch  die  ehebrecherische 
Stiefmutter  verleumdeten  Prinzen  eingelegt  sind,  darunter  aber  mehrere  neue.  Der 
hebräische  Text  ist  zwar  dreimal,  von  Sengelmann,  Carmoly  und  Cassel,  herausgegeben 
worden,  bedarf  aber,  wie  die  von  Hilka  aus  einer  Berliner  Hs.  vom  Jahre  1407  hervor- 
gezogene lateinische  t'bersetzung  zeigt,  durchaus  noch  einer  kritischen  Behandlung.  Aller- 
dings ist  in  der  lateinischen  Version  die  Einleitung  gekürzt,  aber  verschiedene  Einzel- 
heiten, z.  B.  der  Feuertod  der  schuldigen  Königin,  stimmen  näher  zu  den  occidentalen 
Bearbeitungen.  Auf  die  Abweichungen  von  Cassels  Text  und  von  den  übrigen  Fassungen 
der  Sieben  weisen  Meister  hat  H.  durch  Sperrdruck  und  kurze  Fussnoten  hingewiesen 
und  eine  Tabelle  über  die  Novellen  der  sämtlichen  orientalischen  Fassungen  hinzugefügt. 
—  Mit  der  kritischen  Ausgabe  des  Dolopathos  führt  Hilka  den  von  G.Paris  und  Stude- 
mund  gehegten  Plan  aus,  Oesterleys  mangelhaften  Druck  vom  Jahre  1S73  zu  ersetzen. 
Ausser  der  Luxemburger  Hs.  des  13.  Jahrhunderts  benutzt  er  noch  fünf  jüngere  Hss.  aus 
dem  15.  Jahrhundert  und  liefert  auch  Nachweise  für  die  antiken  und  christlichen  Zitate 
des  lothringischen  Mönchs  von  Haute-Seille,  der  die  orientalische  Rahmenerzählung  mit 
einem  christlichen  Schluss  versehen  und  neue  Novellen  eingeflochten  hat:  doch  erzählt 
jeder  Weise  nur  eine,  nicht  zwei  Geschichten,  während  die  Erzähhingen  der  Königin  bei 
Johannes  ganz  fortgefallen  sind.     [J.  B.] 

Wilhelm  Hotz,  Die  Flurnamen  der  Grafschaft  Schlitz  (Flurnamenbuch  des  Gross- 
herzogtums Hessen,  hsg.  im  Auftrag  der  hessischen  Vereinigung  für  Volkskunde  von 
J.  R.  Dieterich  und  0.  Schulte,  Heft  1.  Provinz  Oberhessen  Bd.  V,  Kreis  Lauterbach, 
Heft  1).  Darmstadt,  Grossherzoglich  hessischer  Staatsverlag  1912.  XLIV,  67  S.  8°.  — 
W.  Hotz,  durch  dessen  Sammlertätigkeit  dieses  erste  Heft  der  hessischen  Flumamen- 
sammlung  entstanden  ist,  hat  dessen  Erscheinen  nicht  mehr  erleben  können  (f  14.  Juni 
1910),  die  abschliessenden  Arbeiten  sind  von  Prof.  Alles  geleistet  worden.  Mit  Hilfe  von 
Fragebogen,  deren  Bearbeitung  sich  besonders  Lehrer  und  Geistliche  haben  angelegen 
sein  lassen,  werden  die  Flurnamen  der  einzelnen  Gemarkimgen  des  Schlitzerlandes  in 
übersichtlicher  Anordnung  mitgeteilt.  Vorbildlich  ist  die  Reichhaltigkeit  der  Angaben, 
es  werden  möglichst  bei  jedem  Gewann  die  durch  Hofrat  Kofier  in  Darmstadt  festgestellten 
offiziellen  Namen,  die  daneben  vorkommenden  alten,  historischen  Bezeichnungen,  mund- 
artliche Formen  und  volkstümliche  Erklärungen  beigebracht.  Besonders  die  letzte  Rubrik 
enthält  mancherlei  Interessantes  aus  Volkssage  und  Ortsgeschichte.  Sehr  hübsch  und 
lehn-eich  ist  das  neben  anderen  Beigaben  in  der  Einleitung  enthaltene  ausführliche 
'Gespräch  über  hessische  Ortsbezeichnungen  und  vom  Wert  ihrer  Sammlung'  von  Dieterich 
zwischen  dem  'Sammler'  und  einem  Lehrer.     [F.  B.] 

Gross  -  Berliner  Kalender  1914.  Herausgegeben  von  E.  Friedel,  Berlin, 
K.  Siegisraund.  :'.6S  S.  8 ".  Geb.  2  Mk.  —  Zum  zweiten  Male  ist  das  schmucke  Kalender- 
buch erschienen,  herausgegeben  von  unserem  unermüdlichen  Stadtältesten  unter  redak- 
tioneller Beiliilfe  von  Dr.  H.  Brendicke  und  gefüllt  mit  einer  reichen  Anzahl  von  kurzen, 
äusserst  belehrenden  Aufsätzen  aus  der  Feder  von  Männern,  deren  Namen  im  geistigen 
und  kommunalen  Leben  unserer  Reichshauptstadt  zum  grossen  Teil  an  erster  Stelle  stehen, 
wie  Ludw.  Hoffmann,  Reicke,  Holtze,  Lindenberg,  Silberglcit  usw.  Die  meisten  Beiträge 
beschäftigen  sich  naturgemäss  mit  der  Geschichte  und  den  modernen  Problemen  Berlins, 
doch  fällt    auch  für  die  Volkskunde  etwas  ab.      So    bringt  Jülicher    (S.  253f.)    eine    Fort- 


102  Notizen. 

setiung  seiner  im  1.  Jahrgang  begonnenen  'Atemzüge  der  Berliner  Volksseele',  Pfeffer- 
kuchenpoesie  und  allerlei  Blüten  der  Berliner  Denk-  und  Mundart,  von  denen  freilich 
viele  schon  aus  H.  G.  Meyers  'Richtigem  Berliner"  bekannt  sind.  Etwas  störend  wirkt  die 
inkonsequente  Wiedergabe  der  Mundart  ('breete  Schnauze'  [S.  260]  sagt  kein  echter  Berliner), 
auch  sind  die  S.  262  aus  den  'Lustigen  Blättern'  mitgeteilten  Wendungen  auf  keinen  Fall 
als  'zu  den  Äusserungen  der  Berliner  Volksseele  unentbehrlich  gehörend'  zu  bezeichnen. 
Volkskundlich  von  Interesse  sind  ferner  die  Beiträge  von  A.  Förster  'Innungsschicksale' 
und  die  kleine  Schlussplauderei  von  Elisabeth  Lemke  über  'Märkisches  Fischerei- 
gerät'. Es  .ist  nicht  zu  bezweifeln,  dass  dies  mit  vorzüglichen  Text-  und  Einschalt- 
bildern geschmückte  Berliner  Jahrbuch  denselben  Erfolg  haben  wird  wie  der  erste  Jahr- 
gang.    [F.  B.] 

E.  Mai,  Das  mittelhochdeutsche  Gedicht  vom  Mönch  Felix  auf  textkritischer  Grund- 
lage philologisch  untersucht  und  erklärt  (Acta  Germanica,  Neue  Reihe,  Heft  4).  Berlin, 
Mayer  &  Müller  1912.  VIII,  515  S.  8 «.  15  Mk.  —  Vorliegende,  gründlich  gelehrte  Arbeit, 
die  dem  380  Verse  umfassenden  mhd.  Gedicht  mit  allen  denkbaren  Mitteln  der  Philologie 
Erkenntnisse  abzugewinnen,  ja  abzutrotzen  weiss,  hat  auch  schöne  Resultate  und 
Beobachtungen  gezeitigt,  die  der  Volkskunde  zugute  kommen.  Einen  Ausschnitt  seiner 
Forschungen  legte  Erich  Mai  bereits  in  der  1903  erschienenen  Berliner  Dissertation  vor, 
die  einer  Anregung  Karl  Weinholds  entsprang  und  auch  Max  Roediger  als  zuhtäri  guato 
zu  danken  hatte.  Den  rein  germanistischen  Fragen,  denen  Mai  mit  seltener  Hingabe 
Jahre  hindurch  seinen  Scharfsinn  zugewandt  hat,  ist  hier  nicht  nachzugehen:  sie  haben 
eine  Besprechung  und  Kritik  u.  a,  durch  Privatdozenten  Dr.  Ludwig  Pfannmüller  in  der 
Deutschen  Literaturzeitung  1913  Nr.  20  Sp.  1250—53  gefunden.  —  Wie  oft  begegnen  wir 
nicht  in  unseren  Volksbüchern  und  Volksballaden  grauen  Mönchen.  Die  Nachweise  Mais 
belehren  uns,  wie  die  Bezeichnung  der  Orden  zu  den  verschiedenen  Zeiten  geschwankt 
hat:  „  .  .  bereits  im  14.  Jahrhundert  wurden  die  Mitglieder  beider  Orden  —  der  Zister- 
zienser und  der  Franziskaner  —  als  Graumönche  charakterisiert,  trotzdem  eine  Ver- 
wechslung (wenigstens  für  Fremdlinge  in  den  jeweiligen  Ortsverhältnissen)  keineswegs 
ausgeschlossen  war.  Das  eigentliche  Konkurrenzjahrhundert  aber  ist  .  .  .  das  15.,  während 
das  16.  den  Franziskanern  zu  fast  unbestrittener  Alleinherrschaft  in  Nord-  und  Ostmittel- 
deutschland verhalf  .  .  .  Vielmehr  gehört,  wenn  auch  nicht  gleich  das  12.,  so  doch  das 
für  den  Mönch  Felix  in  Betracht  kommende  13.  Jahrhundert  den  Zisterziensern"  (S.  79ff.). 
Überzeugend  ist  die  Beweisführung,  dass  ein  Angehöriger  eines  thüringischen  Zisterzienser- 
Klosters  des  13.  Jahrhunderts  als  Dichter  des  M.  F.  zu  gelten  habe:  wir  lernen  die 
Dichtung  geradezu  als  ein  Mittel  zisterziensischer  Heiligung  und  Propaganda  auffassen; 
literarhistorisch  fällt  so  auf  die  häufig  als  bäurisch  beleumundeten  Zisterzienser  ein  besseres 
Licht.  Höchst  fesselnde  Erörterungen  bringt  die  Besprechung  des  'Mönches  von  Heister- 
bach', einer  Ballade  Wolfgang  Müllers  von  Königswinter,  die,  zuerst  1841  in  Simrocks 
Rheinsagen  ^  erschienen,  einen  dem  Mönch  Felix  aufs  nächste  verwandten  Stoff  behandelt. 
So  bestechend  auch  die  Hypothese  erscheint,  dass  Müllers  Mönch  von  Heisterbach 
niemals  in  Heisterbach  gewandelt  habe,  sondern  nur  vom  Dichter  dorthin  lokalisiert  sei, 
mit  Recht  macht  Mai,  mit  Hilfe  von  älteren  Reisehandbüchern  die  Frage  klärend,  doch 
bei  der  Feststellung  halt,  ..dass  schon  für  die  dreissiger  Jahre  des  l!i.  Jahrhunderts  eine 
Heisterbacher  Lokalsage  existiert",  deren  Held  zwar  nicht  über  dem  Gesang  eines 
engelischen  Vögleins  drei  Jahrhunderte  vergisst,  sondern  über  seiner  eigenen  dämonisch  ge- 
steigerten Spekulierwut.  „Die  Spur  des  Heisterbachers  verliert  sich  im  Dunkeln."  Die 
Darlegung  des  stofflichen  Problems  (ein  verwandtes  behandelte  1910  Michael  Huber  in 
der  'Wanderlegende  von  den  Siebenschläfern')  veranlasst  Mai  zu  einer  schnellen  Übersicht 
über  die  räumlich  weit  getrennten,  ältesten  Fassungen  und  legt  von  seiner  Gelehrsamkeit 
und  Umsicht  günstigstes  Zeugnis  ab.     [Fritz  Behrend.] 

Heinrich  März  eil,  Die  Klette  im  Volksglauben  (Naturwissenschaftliche  Wochen- 
schrift hsg.  von  H.  Potonie,  N.  F.  12,  2,  S.  23—26).  Die  Klette  spielt  im  Volksglauben 
eine  Avenig  hervortretende,  aber  doch  in  manchen  Punkten  interessante  Rolle.  Besonders 
ausführlich  behandelt  der  Verf.  die  in  einigen  Krankheitsbeschwörungen  vorkommenden 
Anrufungen  der  Klette.     Hieraus  zu  folgern,  dass  die  Klette  als  Verkörperung  eines  Haus- 


Notizen.  103 

dämons  galt,  geht  wohl  zu  weit.  Auch  der  S.  25  mitgeteilte  albanesische  Brauch,  gegen 
die  Bedrängungen  durch  einen  Waldgeist  in  Wein  getauclites  Brot  auf  eine  Klette  mit 
grossen  Blättern  zu  legen,  kann  diese  Annahme  kaum  stützen;  die  breiten  Klettenblätter 
sind  eben  besonders  dazu  geeignet,  die  Opfergabe  darauf  zu  legen.  Im  übrigen  dürften 
in  dem  Aufsatz  wohl  alle  wichtigeren  Notizeu  über  die  volkskundliche  Bedeutung  der 
Klette  zusammengestellt  sein;  nachzutragen  wäre  noch  Wuttke  *  §523  (Weichselzopf  durch 
Klettensamen  erzeugt,  Ostpreussen).     [F.  B.] 

J.  Mink,  Vorschläge  für  eine  zukünftige  Benennung  der  Fleischstücke  vom  Kinde 
im  Fleischergewerbe  des  Deutschen  Eeiches.  Leipzig  1912.  66  S.  4  ".  —  Die  Schrift  erfüllt 
ohne  Zweifel  einen  dringenden  Wunsch  der  Fachkreise  des  Fleischergewerbes.  Denn  da 
auch  diese  sonst  mehr  bodensässigen  Kreise,  ebenso  wie  die  gesamte  Bevölkerung  des 
Deutschen  Reichs  vielmehr  umher  und  durcheinander  kommen,  wurden  die  vielfach  hier 
so  besonders  ausgebildeten  Dialekt-  und  Lokalbezeichnungen  im  Gewerbe  wahrscheinlich 
ebenso  störend  empfunden,  wie  anderswo.  Steht  doch  der  norddeutsche  Reisende  häufig 
vor  einer  österreichischen  Speisekarte  wie  vor  einem  Buch  mit  sieben  Siegeln,  und  um- 
gekehrt ist  es  nicht  anders.  Nuu  haben  wir  es  als  Volkskundler  sicher  zu  bedauern, 
wenn  manch  gute  alte  Bezeichnung  hier  jetzt  dem  Aussterben  überantwortet  wird,  um  so  mehr 
ist  aber  es  da  zu  begrüssen,  dass  hier  alle  Bezeichnungen  noch  einmal  zusammengefasst 
werden.  So  ist  von  Fachseite  eine  Menge  Sprachgut  für  den  künftigen  Forscher  auf- 
bewahrt und  deshalb  habe  ich  auch  hier  auf  dieses  Schriftcheu  hinweisen  wollen. 
|Ed.  Hahn.] 

G.  Pitre,  The  swallow  book;  the  story  of  the  swallow  told  in  legends,  fahles,  folk 
songs,  proverbs,  omens  and  riddes  of  many  lands  gathered;  rendered  into  english  and 
arranged  for  the  use  of  our  boys  and  girls  by  Ada  Walker  Camehl.  New  York,  Ameri- 
can book  Company.  (1912).  158  S.  8  ".  —  Die  behenden,  zierlichen  und  zutraulich  in  der 
Nähe  menschlicher  Behausungen  nistenden  Schwalben  haben  Denken  und  Glauben  des 
Volkes  oft  beschäftigt.  Es  war  daher  eiu  hübscher  Gedanke  des  Altmeisters  der 
italienischen  Volkskunde,  für  seine  Enkelin  ein  Büchlein  zusammenzustellen,  das  die 
Lebensgewohnheiten  der  Schwalbe  und  die  von  ihr  handelnden  Märchen,  Legenden,  aber- 
gläubischen Vorstellungen,  Sprichwörter,  Lieder  sowie  ihre  Verwendung  in  der  Volks- 
medizin aus  reicher  Kenntnis  der  europäischen  und  aussereuropäischen  f'berlieferungen 
beleuchtet.  Da  es  ein  Kinderbuch  sein  soll,  ist  der  gelehrte  Anstrich  und  der  z.  B.  in 
Paulus  Cassels  Schriftchen  'Die  Schwalbe  und  ihre  Heimkehr'  (Berlin  1866)  hervor- 
tretende Notenballast  vermieden.  Der  englischen  Übersetzung  sind  viele  hübsche  Zeich- 
nungen beigegeben.     [J.  B.] 

Chr.  Ranck,  Kulturgeschichte  des  deutschen  Bauernhauses.  Zweite  Auflage.  (Aus 
Natur  und  Geisteswelt  Nr.  22;i.)  Leipzig,  Teubner  1913.  VI,  88  S,  71  Abb.  1,25  Mk.  — 
Rancks  Kulturgeschichte  des  deutschen  Bauernhauses  ist  in  der  zweiten  Auflage  im  wesent- 
lichen unverändert  geblieben.  Gegen  die  Darstellung  der  Entwicklung  lässt  sich  ebenso- 
wenig einwenden  wie  gegen  die  landschaftliche  Gruppierung,  die  der  Verfasser  eng  an 
die  Zweiteilung  in  das  ober-  und  niederdeutsche  Haus  anschliesst.  Dadurch  wird  die 
Aufmerksamkeit  nie  von  den  Hauptsachen  abgelenkt.  Bei  einer  neuen  Auflage  würde 
wohl  auch  das  ostdeutsche  Vorhallenhaus  etwas  Berücksichtigung  finden  müssen,  für  das 
heute  bereits  ein  umfangreicheres  ^Material  vorliegt,  als  Meitzen  und  Henning  zur  Ver- 
fügung stand.  Nicht  völlig  gerecht  wird  Ranck  dem  nordischen  Hause,  das  der  Verfasser 
in  seine  Entwicklung  einbezieht.  Vereinzelt  erweckt  seine  Darstellung  Widerspruch.  So 
seine  Ausführung  über  den  Skot,  der  keineswegs  im  Norden  allgemein  verbreitet  ist. 
Auch  das  Sparrendach  ist  nicht,  wie  man  nach  R.  annehmen  könnte,  gemein-nordisch, 
sondern  kommt  nur  in  einem  grösseren,  aber  von  Niederdeutschland  beeinllussten  Gebiet 
vor.  Die  angeführte  Literatur,  in  der  man  manches  wichtige  deutsche  Werk  (von 
Dachler,  Eigl,  NordhofiF,  Lindner,  Rhamm  u.  a.)  vermisst,  zeigt  allerdings,  dass  dem  Ver- 
fasser das  nordische  Haus  nur  unvollkommen  vertraut  ist.  Ohne  die  Kenntnis  der 
Schriften  von  Eilert  Sund,  Feilberg,  Gudmundsson,  Hylten-Cavallius,  Lauridsen,  Ni- 
colaissen  wird  man  ein  klares  Bild  über  die  Entwicklung  nicht  gewinnen.  Es  soll 
dies    den   Wert  der   Ranckschen  Arbeit    nicht   herabsetzen,    sondern   nur   hinweisen   auf 


104  Notizen. 

die  Schwierigkeit,  die  deutsche  Entwicklung  mit  der  nordischen  in  Beziehung  zu  setzen 
[Robert  Mielke] 

G.  Schierghofer,  Altbayerns  Umritte  und  Leonhardifahrten.  München,  Bayerland- 
Verlag  1913.  XII,  73  S.  2.50  Mk.  —  Die  besonders  in  Bayern  üblichen,  aber  auch  in 
Schwaben,  Belgien,  Frankreich  und  sonst  nachweisbaren  Umritte  sind  eigentlich  Wall- 
fahrten zu  Ehren  eines  Heiligen,  von  dem  der  Bauer  für  sich  und  seine  Haustiere  Segen 
und  Gedeihen  erhofft.  Nachdem  Andree,  Höfler  u.  a.  mehrfach  auf  diesen  Brauch  hin- 
gewiesen liatten,  hat  sich  der  Vf.  daran  gemacht,  durch  fleissige  Umfragen  und  Studien 
dessen  Art  und  Ausdehnung  genau  festzustellen.  Er  ordnet  die  Nachrichten  über  die 
einzelneu  Orte  nach  dem  Kalender:  denn  es  gibt  fast  keinen  Monat,  indem  nicht  irgendwo 
in  Bayern  ein  Umritt  gehalten  wurde  oder  noch  wird.  So  ziehen  zu  Ostern  in  Traun- 
stein  und  St.  Georgen  zu  Ehren  des  heiligen  Georg  die  Bauern  mit  ihren  Pferden  hinter 
den  ebenfalls  beritteneu  Geistlichen,  Engeln  und  Kriegern  in  römischer  oder  mittelalter- 
licher Tracht  einher:  andere  Umritte  finden  zu  Pfingsten,  Martini  und  Stefani  statt;  be- 
sonders aber  am  G.  November,  dem  Feste  des  h.  Leonhard.  Über  den  heidnischen  Ursprung 
solcher  Bräuche  äussert  sich  der  Vf.  S.  11  mit  löblicher  Vorsicht.  Das  hübsche  Büchlein, 
das  die  Liebe  zu  heimatlichen  Bräuchen  wecken  und  pflegen  will,  ist  mit  trefflichen  Ab- 
bildungen von  Klemens  Thomas  geziert.     [J.  B.J 

Richard  Schlegel,  Uhrumschriften,  gesammelt  und  herausgegeben.  Berlin, 
B.  Poetschki  1913.  22  S.  kl.  8^.  0,80  Mk.  —  Inschriften  auf  Uhren  sind  bisher  unseres 
Wissens  in  grösserer  Menge  nicht  zusammengetragen  worden.  Verwiesen  sei  auf  die  un- 
nötigerweise in  novellistische  Form  gekleidete  Studie  über  Inschriften  auf  Sonnenuhren 
von  M.  L.  V.  in  Korrbl.  f.  d.  höh.  Schulen  Württembergs  19,  48 -T)!  und  die  Nachträge 
von  Nestle  ebda.  S.  208,  sowie  auf  die  Behandlung  zweier  antiker  Sonnenuhrinschriften 
im  Musee  Beige  17,  145 f.  Die  vorliegende  Sammlung  enthält  ungefähr  neunzig  Sprüche. 
Leider  fehlen  fast  ausnahmslos  Angaben  über  Ort  und  Zeit  der  Inschriften  sowie  bei  den 
literarischen  die  genaueren  Bezeichnungen  der  Stellen.  Zu  'horas  nou  numero  nisi 
serenas'  (S.  21)  vgl.  oben  15,  429;  ich  glaube  die  Worte  auch  in  Sanssouci  gelesen  zu 
haben.  Manche  dieser  Sinnsprüche,  wie  der  bekannte  'Vulnerant  omnes,  ultima  necat', 
sind  übrigens  nichts  anderes  als  Rätsel.     [F.  B.] 

Joh.  H.  Schwalm,  'Schwälmer  Wees'  (Schwälmer  Weizen).  Das  Schwälmerleben 
im  eigenen  Sprichwort,  Kassel,  F.  Scheel  1913.  GGS.  kl.  8 ».  1,20  Mk.  —  Der  Vf.  hat 
seine  ursprünglich  im  'Hessenland'  veröffentlichten  Sammlungen  in  einem  mit  hübschen 
Zeichnungen  von  J.  Happ  gezierten  Büchlein  vereinigt.  Der  Begriff  'Sprichwort'  ist  von 
ihm  im  weitesten  Sinne  gefasst,  da  er  auch  bildliche  Redewendungen,  Neckereien,  Wetter- 
regeln u.  dgl.  bringt.  Die  Kapitelüberschriften  (Kindheit,  Wie  die  Zucht,  so  die  Frucht, 
Berufswahl,  Scherz  und  Ernst,  Liebeszeit  und  Ehestandslebcu,  Tages-,  Jahres-  und  Lebens- 
arbeit) lassen  die  Art  der  Anordnung  erkennen.  Etwas  schwerfällig  wird  die  Darstellung 
dadurch,  dass  der  Vf.  es  für  nötig  gehalten  hat,  jedes  Sprichwort  wörtlich  ins  Schrift- 
deutsch zu  übertragen,  selbst  wenn  ein  Missverständnis  ausgeschlossen  ist.  Auch  darf 
man  doch  voraussetzen,  dass  den  Lesern  die  Bedeutung  des  Wortes  'Ferkel'  bekannt  ist 
S.  35).  Die  Redensart  'Schlecht  wie  Galgenholz'  ist  sicherlich  älter,  als  die  dafür  an- 
geführte ätiologische  Sage  (S.  37),  vgl.  patibulum-patibulus,  auch  das  .-ravovayiy.w  H'/.ov 
in  dem  von  Preisendanz  Hess.  Bl.  f.  Vkde.  12,  1391.  veröffentlichten  Diebeszauber  gehört 
in  diesen  Gedankenkreis.  Die  Redensart  'Bann  de  Gugguk  reift,  muss  m"r  sich  of  de 
Reck  leeng"  erklärt  der  Vf.:  Wenn  der  K.  ruft,  muss  [=  darf]  man  sich  auf  den  Rücken 
legen  [weil  dann  der  Boden  warm  ist].  Das  'darf  scheint  mir  etwas  willkürlich  ein- 
geschoben. Sollte  es  sich  nicht  um  einen  unbewussten  Stärkungs-  oder  Fruchtbarkeits- 
ritus handeln?  s.  Dieterich,  Mutter  Erde"-'  S.  8f.)  —  Die  Sammlung  bedeutet  nicht  nur 
einen  Beitrag  zur  Kenntnis  der  Schwälmer  Denkart,  wie  der  Vf.  es  im  Untertitel  aus- 
drückt, sondern  auch  für  die  Kenntnis  der  hessischen  Mundart.     [F.  B.] 

Carlo  Sganzini,  Die  Fortschritte  der  Völkerpsychologie  von  Lazarus  bis  Wundt. 
(Neue  Berner  Abhandlungen  zur  Philosophie  und  ihrer  Geschichte  lisg.  von  Richard 
Herbertz,  2).  Bern,  A.  Francke  1913.  247  S.  kl.  8°.  4  Mk.  —  Ein  vortreffliches  Buch, 
das    alle  Richtungen    der   Völkeipsychologie    von    Lazarus    und    Steinthal    bis    zu  Wundt 


Notizen.  105 

Revue  passieren  lässt  und  kritiscJi  mustert.  Auch  Grenzgebiete  wie  Soziologie  und 
Massenpsychologie  werden  gebührend  berücksichtigt.  Die  Einleitung  orientiert  umsichtig 
über  die  IJntstehung  der  Völkerpsychologie,  wobei  nur  wieder  die  alte  Fabel  vom  'un- 
geschichtlichen Sinn'  des  18.  Jahrhunderts  aufHCtischt  wird.  Sehr  ausführlich  behandelt 
der  Vf.  Wuudts  monumentales  Werk,  obwohl  er  gegen  Grundlagen,  Aufbau  und  Aus- 
führuEg  höchst  beachtenswerte  Einwände  vorzubringen  weiss.  Dagegen  werden  Stein- 
thals Verdienste  zwar  zutreffend,  aber  etwas  summarisch  gewürdigt;  auch  hätte  noch  sein 
methodisch  wichtiger  Aufsatz  im  1.  Bande  unserer  Zeitschrift  (1891  S.  10 — 17)  herangezogen 
werden  können:  er  stellt  zudem  das  letzte  Wort  dar,  das  dieser  feine  und  tiefe  Geist  in 
Sachen  der  Völkerp>ychologie  gesprochen  hat.  Ungern  vermisst  man  ein  Register. 
[H.  Michel.] 

A.  Stenzel,  Das  Riesenbett  im  Sachsenwalde  (Wissenschaft  und  Technik,  Beilage 
zu  Jsr.  8  der  'Astronomischen  Korrespondenz',  7.  Jahrg.  1910).  —  Ausführliche  Be- 
schreibung des  Dasseudorfer  Hünengrabes  und  Mitteilung  einer  darauf  bezüglichen  Volks- 
sage.    [F.  B.] 

Julio  Vicuj^ia  Cifuentes,  Romances  populäres  y  vulgares,  recogidos  de  la  tradiciim 
oral  chilena.  Santiago  de  Chile,  Imprenta  Barcelona  1912.  XXXIII,  581  S.  8"  (Riblio- 
teca  de  escritores  de  Chile  7).  —  Zum  ersten  Male  erhalten  wir  durch  die  vorliegende 
dankenswerte  Arbeit  einen  tieferen  Einblick  in  das  Leben  des  spanischen  Volksliedes  in 
Chile.  16G  Texte  hat  der  Vf.  in  zwölf  Jahren  aus  dem  Volksmunde  aufgezeichnet,  die,  da 
in  dieser  Summe  auch  blosse  Varianten  mitgezählt  sind,  83  Romanzen  angehören.  Durch 
Heranziehung  der  spanischen  Volksliedliteratur  Hess  sich  feststellen,  dass  der  grössere 
Teil  davon  durch  mündliche  Fortpflanzung  oder  durch  tliegende  Blätter  (pliegos  sueltos) 
im  Laufe  des  1(5.  bis  19.  Jahrhunderts  aus  dem  Mutterlande  eingeführt  worden  ist  Eine 
Reihe  anderer  Lieder  gibt  sich  durch  Inhalt  und  Ausdruck  als  einheimisches  Gewäch.s  zu 
erkennen,  z.  B.  nr.  101  'Atahualpas  Tod',  144  'das  Erdbeben  in  Chile'  u.  a.  Auch  zeigen 
nach  S.  XXII  die  chileniscben  Melodien,  von  denen  wegen  der  unüberwindlichen  Scheu 
der  Sänger  vor  dem  Phonographen  leider  keine  Proben  mitgeteilt  werden  konnten,  einen 
lebhafteren  Charakter  als  die  in  Spanien  üblichen.  Unter  den  geistlichen  Stoffen  begegnen 
Legenden  von  der  Jungfrau  Maria,  von  Magdalena  und  Katharina  (nr.  Si-i),  der  auf  die 
mittelalterliche  Yisio  Fulberti  zurückgehende  Streit  von  Seele  und  Leib  (136),  die  dem 
Leontius-  und  Don  Juan-Drama  zugrunde  liegende  Sage  von  dem  zu  Gast  geladenen 
Totenschädel  (.")0:  vgl.  Zs.  f.  vergl.  Litgesch.  13,  389.  Studien  zur  vergl.  Litgesch.  9,  190): 
aus  den  weltlichen  Stücken  hebe  ich  hervor  die  ovidische  Fabel  von  Procne  und  Philo- 
mela,  hier  Bianca  Flor  und  Fiiomena  genannt  -24—34),  die  von  ihrem  unkeuschen  Vater 
verfolgte  Delgadina  (8—14),  den  heimkehrenden  Gatten  (lö  23.  41-45.  160;  vgl.  oben 
12,  59)  und  Mambrü  d.i.  Marlborough  (68-70;  vgl.  Erk-Röhme,  Liederhort  nr.  325),  um 
von  den  bekannten  spanischen  Nationalhelden,  dem  Cid,  Bernardo  del  Carpio,  dem  Grafen 
Alarcos,  zu  schweigen.  Wenn  der  Herausgeber  über  das  Schwinden  der  alten  Lieder  klagt, 
die  vielfach  nur  bruchstückweise  zu  erlangen  sind,  wenn  verschiedene  Romanzen  nur  als 
Kinderspiele  fortleben  (S.  155.  170.  176.  178.  54:'))  oder  gar  in  Prosaerzählungen  umge- 
gewandelt  sind  (nr.  150—152),  so  sehen  wir  darin  eine  Wiederholung  von  Erfahrungen,  die 
auch  anderwärts  von  den  Sammlern  der  Volksdichtung  gemacht  wurden.     [J.  B.] 

Vorschläge  zur  psychologischen  UntersucJiung  primitiver  Menschen 
gesammelt  und  herausgegeben  vom  Institut  für  angewandte  Psychologie  und 
psychologische  Sammelforschung.  I.Teil.  124  S.  —  Ethno-psychologische  Studien 
an  Südseevölkern  auf  dem  Bismarck- Archipel  und  den  Salomo-Insoln  von  Richard 
Thurnwald.  Mit  21  Tafeln.  163  S.  (Beihefte  zur  Zeitschrift  für  angewandte  Psychologie 
und  psycliülogische  Sammelforschung  hsg  von  William  Steni  und  Otto  Lipmanu,  5  und  6). 
Leipzig,  J.  A.  Barth  li>12  und  1913.  4  Mk.  und  9  Mk.  —  Es  ist  erfreulich,  dass  die  zum 
Teil  sehr  fein  ausgebildeten  Methoden  der  experimentellen  Psychologie,  die  lange  Zeit  in 
stark  esoterischer  Weise  gehandhabt  wurden,  nun  auch  auf  Wissensgebieten  Anwendung 
finden,  wo  sie  mit  Nutzen  verwertet  werden  und  in  Zukunft  wichtige  Ergebnisse  liefern 
können.  Sprachwissenschaft,  Rechtswissenschaft,  Pädagogik,  Ästhetik  u.  a.  sind  bereits 
mit  Hilfe  der  psychologischen  Forschung    nicht    unbeträchtlich  gefördert  worden,   und  es 


1 06  Notizen. 

ist  mir  gar  nicht  zweifelhaft,  class  auch  die  Völkerkunde  aus  Untersuchuno^en  dieser  Art 
reichen  Gewinn  ziehen,  ja  vielleicht  auf  eine  höhere  Stufe  ihrer  Entwicklung  als  Wissen 
Schaft  gelangen  wird.  Aber  auch  für  die  Volkskunde  ist  diese  Forscliungsweise  mit  ge- 
wissen Einschränkungen  und  Änderungen  verwendbar:  mit  vollem  Recht  fordert  Thurn- 
wald  neben  der  Analyse  der  zeitgenössischen  Fremdvölker  eine  nach  ähnlichen  Grund- 
sätzen auszuführende  Zergliederung  der  modernen  europäischen  Völker  in  ihren  ver- 
schiedenen Schichten.  Eine  methodische  Anleitung  zu  derlei  Forschungen  bieten  die  'Vor- 
schläge', zu  denen  ausser  Thurnwald  auch  Tschermak,  Guttmann,  Lipmann,  Stern,  Vier- 
kandt  und  Meinhof  sachkundige  Beiträge  geliefert  haben.  Thurnwald,  dem  diese  Unter- 
suchungen vor  allem  am  Herzen  liegen,  hat  sich  dann  dadurch  kein  geringes  Verdienst 
erworben,  dass  er  die  neuen  Methoden  auf  seiner  Eeise  nach  den  melanesischen  Südsee- 
Inseln  an  den  Bewohnern  des  Bismarck-Archipels  und  der  Salomo-Inselu  praktisch  erprobt 
hat.  Er  darf  mit  seinen  Resultaten  zufrieden  sein.  Für  die  Fruchtbarkeit  der  ethno- 
psychologischen  Fragestellungen  legt  sein  Buch  beredtes  Zeugnis  ab.  Die  Mitteilungen 
über  die  Sprache  und  die  Zeichnungen  der  behandelten  Völker  seien  besonders  hervor- 
gehoben; auch  was  S.  39 ff.  über  die  Fortpflanzung  von  Berichten  gesagt  wird,  ist  sehr 
beachtenswert  und  sollte  von  Märchen-,  Sagen-  und  Volksliedforschern  nicht  übersehen 
werden.     [H.  Michel.] 

A.  Wrede,  Eifeler  Baueruleben  in  Sitte  und  Brauch  (Sonderabzug  aus  der  Eifel- 
festschrift  1913,  S.  392—423).  Mit  acht  Abbildungen.  Gr.  8 ».  —  Teils  auf  eigenen 
Beobachtungen,  teils  auf  früheren  Veröffentlichungen  fussend,  gibt  der  Verfasser  eine  kurze 
Übersicht  über  Glaube  und  Brauch  der  bäuerlichen  Bevölkerung  der  Eifel  bei  Geburt, 
Hochzeit,  Tod  und  anderen  wichtigen  Lebensereignissen  und  -abschnitten,  ihre  Wohnstätte, 
Tracht,  Feste  usw.  Volksglaube  und  -brauch  deckt  sich  fast  durchgehends  mit  dem  aus 
dem  übrigen  Deutschland  bekannten;  als  besonders  bemerkenswert  seien  hervorgehoben 
die  fast  orgiastisch  anmutenden  Weiberumzüge  nach  der  Kindtaufe  (S.  402)  und  das  wohl 
auf  alte  Frühlingsriten  zurückgehende  Anzünden  der  'Burg'  am  Sonntag  luvocavit  (8.417); 
die  Verbände  der  Burschen  und  Mädchen  spielen  auch  in  der  Eifel  im  Leben  der 
Dorfgemeinde  eine  sehr  wichtige  Rolle  (S.  404 f.).  Sehr  gut  gelungene  Abbildungen 
nach  Photographien  schmücken  die  übersichtliche  und  reichhaltige  Zusammenstellung. 
[F.  B.] 

Zeitschrift  für  Kolonialsprachen  hsg.  von  C.  Meinhof  3,  3  (Berlin,  D.  Reimer  1913); 
0.  Dempwolff,  Beiträge  zur  Kenntnis  der  Sprachen  in  Deutsch-Ostafrika,  C.  G.  Selig- 
manu,  Pive  melanesian  vocabularies  from  British  New-Guinea.  H.  Rehse,  Die  Sprache 
der  Baziba  in  Deutsch-Ostafrika.  W.  Bourquin,  Adverb  und  adverbiale  Umschreibung 
im  Kafir.  G.  Schürle  und  M.  Klamroth,  Afrikanische  Liebeslieder.  —  4,  1  (ebd. 
1913):  J.  Irle,  Herero-Sprichwörter.  S.  H.  Ray,  The  languages  of  the  papuan  Golf 
district.     W.  Bourquin,  Adverb  im  Kafir.     [J.  B.] 


Victor  Chauvin  f. 

Am  19.  November  1913  verstarb  infolge  eines  Schlaganfalles,  der  den  zur 
Universität  Schreitenden  auf  der  Strasse  traf,  der  Lütticher  Universitätsprofessor 
Dr.  Victor  Chauvin,  in  dem  wir  nicht  nur  einen  Forscher  von  seltener,  erfolg- 
reicher Arbeitskraft,  sondern  auch  einen  hochgeschätzten  Mitarbeiter  unserer  Zeit- 
schrift betrauern. 

Chauvin,  der  am  26.  Dezember  1844  zu  Lüttich  geboren  wurde,  entstammte 
einer  französischen  Familie,  die  zeitweise  auch  in  Deutschland  heimisch  war;  er 
selber  jedoch  blieb  seiner  Vaterstadt,  die  er  nur  zu  kürzeren  Reisen  verliess,  zeit- 
lebens treu.  In  Lüttich  besuchte  er  das  königliche  Athenäum,  an  welchem  Felix 
Liebrecht  als  Lehrer  angestellt  war,  das  Lehrerseminar  (Ecole  normale  des  huma- 


Victor  Chauvin  j.  107 

nites),  studierte  auf  der  Universität  die  Rechte  und  wirkte  bis  1872  als  Advokat^). 
Zugleich  über  widmete  er  sich  unter  Burggraffs  Leitung  so  eifrig  dem  Studium 
des  Hebräischen  und  Arabischen,  dass  er  1872  als  Charge  de  cours  und  nach 
kurzer  bibliothekarischer  Tätigkeit  1878  als  ordentlicher  Professor  der  orientalischen 
Sprachen  angestellt  wurde.  Über  die  Grammatik  hin  zog  es  ihn  bald  hin  zu  den 
Realien;  er  las  über  moslemisches  Recht  und  ältere  Geschichte  des  Orients, 
übertrug  auch  Dozys  Geschichte  des  Islam  ins  Französische  (1879).  Sein  Haupt- 
werk aber  ward  die  nach  langjähriger  Vorbereitung  1892  ans  Licht  tretende 
'Bibliographie  des  ouvrages  arabes  ou  relatifs  aux  Arabes  publiös  dans  l'Europe 
chretienne  de  1810  ä  1885',  von  welcher  bis  1909  elf  Bände  erschienen  sind. 
Hier  schreitet  Chauvin  über  die  Aufgabe  einer  sämtliche  Ausgaben  und  Über- 
setzungen beschreibenden  und  die  einschlägigen  Zeitschriftenartikel  buchenden 
Bibliographie  weit  hinaus,  um  Inhalt  und  Charakter  der  behandelten  Schriftwerke 
mit  wirklicher  Sachkenntnis  und  Ausführlichkeit  darzulegen.  Seine  Arbeit,  die 
sich  etwa  mit  Goedekes  Grundriss  zur  Geschichte  der  deutschen  Dichtung  ver- 
gleichen lässt,  gibt  von  dem  Fabelvverke  Kalilah  und  Dimnah,  von  Locimans  Fabeln, 
der  Barlaamlegende,  der  1001  Nacht,  dem  Romane  Syntipas,  den  Erzählungen  des 
Petrus  Alphonsus  usw.  genaue  Analysen  und  verfolgt  die  Geschichte  der  einzelnen 
Novellenmotive  in  erstaunlich  reichhaltigen  Anmerkungen  durch  die  ^\'eltliteratur. 
Aus  langjährigen,  ausdauernden  Studien  erbaut  sich  hier  eine  sichere  Grundlage 
für  die  orientalische  Literaturgeschichte  und  für  die  "Würdigung  der  Vermittler- 
rolle zwischen  Orient  und  Occident,  die  den  Arabern  im  Mittelalter  zugefallen  ist. 
Der  hohe  Wert  dieses  leider  noch  nicht  vollendeten  Werkes  ist  von  der  Pariser 
Akademie  wie  von  der  deutschen  morgenländischen  Gesellschaft  durch  Erteilung 
von  Preisen  und  Druckunterstützungen  wiederholt  anerkannt  worden.  Aus  der 
langen  Reihe  seiner  übrigen  Werke  stehen  uns  seine  Aufsätze  zur  Volkskunde  am 
nächsten,  die  in  der  Wallonia  (z.  B.  1900—1901  La  parabole  des  trois  anneaux; 
1902  Les  souliers  uses),  in  den  Annales  de  l'academie  d'archeologie  de  Belgique 
(1902:  Le  jet  des  pierres  au  pelerinage  de  la  Mecque),  in  den  Memoires  de  la  soc. 
des  sciences  du  Hainaut  (1902:  La  legende  egyptienne  de  Bonaparte),  in  der  Revue 
des  traditions  populaires  (KJ:  Le  reve  du  tresor  sur  le  pont.  16:  Les  obstacles 
raagiques),  in  unserer  Zeitschrift:  (12:  Felix  Liebrecht;  14:  Wunderbare  Ver- 
setzungen unbeweglicher  Dinge;  15:  Die  rechtliche  Stellung  der  wiedererwachten 
Toten;  21:  Les  contes  populaires  dans  le  livre  des  rois  de  Perdausi)  u.a.  ver- 
öffentlicht wurden.  Sie  zeigen  alle  ebenso  Chauvins  treue  Sorgfalt  im  kleinen 
wie  seinen  auf  die  grossen  Zusammenhänge  gerichteten  Blick.  Eifrig  wirkte  er 
als  Mitglied  der  Gesellschaft  für  wallonische  Literatur  und  widmete  sich  als 
Stadtrat  verschiedenen  Aufgaben  der  Wohlfahrtspflege.  Was  er  hier  in  engeren 
Kreisen  wirkte,  entzieht  sich  naturgeraäss  dem  Blicke  der  Fernerstohenden.  Deutlich 
aber  steht  von  einem  Berliner  Besuche  her  sein  freundliches  Lächeln,  die  aus 
seinen  blauen  Augen  strahlende  lebendige  Frische  und  der  elastische  Gang  der 
kaum  mittelgrossen  Gestalt  vor  meinem  Gedächtnis.     Ehre  seinem  Andenken! 

Berlin.  Johannes   Bolte. 


1)  Für  diese  Lebensnachricliten  habe  ich  dem  Sohne  des  Verewigten,  Herrn  Hermann 
Chauvin,  Repetenten,  am  Institut  ]\Iontefiore  in  Lüttich,  zu  danken. 


108  Brunner: 


Aus  den 

Sitziings- Protokollen  des  Vereins  für  Volkskunde. 


Freitag,  den  24.  Oktober  1913.  Der  Vorsitzende  Geh.  Rat  Prof.  Dr.  Roediger 
teilte  eine  Einladung  zur  Eröffnung  des  Landesmuseums  für  sächsische  Volks- 
kunst in  Dresden  mit,  die  der'Perien  wegen  leider  nicht  rechtzeitig  zur  Kenntnis 
der  Vereinsmitglieder  gebracht  werden  konnte.  Hr.  Dr.  Paul  Przygodda  sprach 
über  typische  Erscheinungen  in  Charakteren  und  Motiven  der  Grimmschen 
Märchen.  In  den  Vorreden  zu  verschiedenen  Auflagen  der  Märchen  hat  Wilhelm 
Grimm  abweichende  Auffassungen  über  das  Wesen  des  Märchens  kundgegeben. 
Ursprünglich  hielt  er  sie  für  autochthon,  aber  schon  in  der  dritten  Auflage  hat  er 
diese  Auffassung  widerrufen.  Typische  Motive  und  Charaktere,  besonders  auch 
Tierfabeln  weisen  auf  den  Zusammenhang  des  deutschen  Märchens  mit  dem  in- 
dischen hin.  In  älteren  Auflagen  hat  W.  Grimm  auch  mehr  den  mythischen 
Gehalt  der  Märchen  betont.  Die  in  neuerer  Zeit  bekannter  gewordenen  afrikanischen 
Märchen  klingen  zwar  oft  mit  den  deutschen  zusammen,  sind  jedoch  durch  eigen- 
tümliche Auffassung  wieder  verschieden.  Die  gegenwärtige  Märchenforschung 
arbeitet  im  Sinne  der  Kombination,  und  von  der  Leyen  hat  die  Grimmschen 
Märchen  in  diesem  Sinne  neu  geordnet.  Betont  wird  die  künstlerische  Vorstufe 
des  Märchens:  Traumerlebnisse  werden  zu  Märchen  umgestaltet,  und  primitive 
Anschauungen  sowie  kulturelle  Einflüsse  werden  als  Hauptbestandteile  des  Volks- 
märchens nachgewiesen.  Solche  primitiven  Anschauungen  z.  B.  von  der  Seele 
sind  der  Glaube  an  verwunschene  Menschen,  singende  Knochen,  Namenzauber 
und  dergleichen.  Auf  die  weitere  Ausgestaltung  der  ethischen  Begriffe  hat  später 
das  Christentum  eingewirkt.  Im  16.  Jahrh.  sind  viele  Motive  aus  dem  damals 
blühenden  Handwerk  ins  Märchen  eingedrungen.  Ebenso  sind  die  Spuren  be- 
merkenswerter Perioden  der  deutschen  Geschichte  und  Kulturgeschichte  in  den 
Märchen  nachzuweisen.  Tierfabeln  stammen  vielfach  aus  dem  Altertum,  Schild- 
bürger- und  Schwabenstreiche,  gemütvolle  Erzählungen  von  Christus  und  seinen 
Jüngern  gehören  auch  bestimmten  Zeitaltern  an.  Manche  Zeitalter  haben  gewisse 
Ähnlichkeit  miteinander,  und  daher  ist  die  Einordnung  gewisser  Märchen  schwierig. 
Der  Redner  erklärte  sich  gegen  den  Neudruck  der  Grimmschen  Märchen  in 
anderer  Ordnung  und  hält  die  ursprüngliche,  deren  Absicht  Abwechselung  war, 
für  unantastbar.  —  Hr.  Prof.  Dr.  J.  Bolte  erwähnte,  dass  schon  Jakob  Grimm 
versucht  habe,  die  Märchen  nach  Jahrhunderten  zu  ordnen;  eine  andere  An- 
ordnung, nach  Stoffen,  habe  Dr.  Aarne  getroffen;  eine  Schwierigkeit,  Aufschluss 
über  bestimmte  Märchenstoffe  zu  erhalten,  liege  darin,  dass  die  einzelnen  Märchen- 
forscher die  Motive  verschieden  bezeichneten.  Der  Vorsitzende  legte  den  neu- 
gedruckten 1.  Band  Anmerkungen  zu  den  Grimmschen  Märchen'  vor,  der  von 
Bolte  und  Polivka  (Leipzig  1913)  herausgegeben  ist.  Er  bemerkte  noch  gegen 
v.  d.  Leyens  Auffassung,  dass  nicht  immer  erst  die  literarische  Verarbeitung  den 
Märchen  ihre  Form  gegeben  habe.  —  Hr.  Prof.  Bolte  berichtete  dann  über  die 
Tagung    des  Verbandes    deutscher  Vereine  für  Volkskunde    in  Marburg    (s.  oben 


Protokolle.  10^ 

23,  440).  —  Hr.  Rittergutsbesitzer  Treichel  verlas  ein  noch  ungedrucktes  Epi- 
gramm von  Justinus  Kerner,  in  dem  Korse  und  Korsett  miteinander  in  Beziehung 
gebracht  werden.  Er  legte  dann  ein  Tonfragment  vor,  das  er  für  ein  Bruchstück 
eines  primitiven  Leuchters  hält,  und  eine  aus  einem  Stücke  Holz  gearbeitete 
Streichholzbüchse  aus  Westpreussen,  die  er  der  Sammlung  für  deutsche  Volks- 
kunde überwies. 

Freitag-,  den  28.  November  1913.  Vorsitz  Geh.  Rat  Roediger.  Hr.  Prof. 
Dr.  Boite  widmete  dem  verstorbenen  Mitarbeiter  an  unserer  Zeitschrift.  Prof. 
Dr.  Viktor  Chauvin  in  Lüttich,  warme  Worte  ehrenden  Gedächtnisses.  —  Der 
Vorsitzende  legte  die  neu  erschienene  volkskundliche  Bibliographie  vor,  die  als 
erweiterte  Fortsetzung  der  bisherigen  'Zeitschriftenschau'  von  A.  Abt  unter  dem 
Titel:  Die  volkskundliche  Literatur  des  Jahres  TJll  bearbeitet  ist  und  den  Vereins- 
mitgliedern zu  erraässigtem  Preise  geliefert  werden  kann.  Für  eine  in  Aussicht 
genommene  Änderung  der  Satzung  erbat  und  erhielt  er  von  der  Versammlung 
Aufschub  der  Beratung  bis  zur  Januarsitzung.  Dann  sprach  Frl.  Elisabeth  Lemke 
über  'Glück'  und  anderes  Neujahrsgebäck,  worüber  sie  selbst  wie  folgt  berichtet: 
„Unter  Hinweis  auf  die  Zusammengehörigkeit  von  Weihnachten,  Neujahr  und 
Dreikönigstag  kamen  (durch  12  Blätter  mit  Abbildungen  unterstützt)  die  in  diese 
Zeit  fallenden  Kult-  bzw.  Heilgebäcke  zur  Erörterung.  Einen  grossen  Anteil  an 
diesen  zum  Teil  in  ferne  Zeit  zurückreichenden  Gebacken  haben  die  in  dieselben  Tage 
fallenden  Totengedenkfeiern,  die  allerdings  schon  lange  nicht  mehr  an  die  Winter- 
sonnenwende gebunden  sind,  sondern  von  der  Kirche  auf  andere  Tage  verlegt 
wurden.  Ausser  der  Treue  und  Furcht,  mit  denen  man  der  Verstorbenen  gedenkt 
(das  Umherschwärmen  der  Seelen  ist  noch  immer  nicht  vergessen),  spricht  die 
Furcht  vor  Dämonen  mit;  die  Gesundheit  bei  Menschen  und  Haustieren  wird 
durch  mancherlei  Gebäck  'gesichert';  es  werden  Menschen,  Tiere.  Sterne  usw.  ge- 
backen. Zum  sog  'Glückgreifen'  in  der  Sylvesternacht  gehören  neun  Figuren: 
1.  Ring,  2.  Mann  und  Frau,  3.  Kind,  4.  Geld,  5.  Brot,  <>.  Kreuz  (oder  Glück  oder 
Engel),  7.  Tod,  8.  Himmelsleiter,  9.  Himmelsschlüssel;  dreimal  kann  man  je  drei 
der  Teller  aufheben,  unter  denen  dies  Gebäck  geborgen  ist,  das  allemal  anders 
geordnet  wurde.  Es  kamen  ferner  zur  Schilderung:  Fieberbrötchen,  Neujahr- 
backen, Glück  für  die  Tiere,  Neujahrshündlein  (allerlei  Dinge),  Howölfel,  Neu- 
jahrsbaum, Drei  Könige  (am  Sylvester  gebacken  und  bis  zum  6.  Januar  auf- 
bewahrt) usw.  In  einer  Gegend  Ostpreussens  setzte  man  am  Sylvesterabend  ein 
gebackenes  Neujahrsbäumchen  und  gefüllte  Salzfässer  für  die  Toten  hin.  Auch 
streut  man  vor  dem  'für  die  Toten  geheizten  Ofen'  Asche,  um  Fussspuren  sehen 
zu  können."  Dazu  teilte  Hr.  Pastor  Jahn  mit,  dass  in  Züllchow  bei  Stettin  der 
Ausdruck  'Wolf  für  ein  Weihnachtsgebäck  allgemein  sei.  Der  Vorsitzende  er- 
wähnte, auch  in  Sachsen  sei  die  Bezeichnung  'Hoch-Neujahr'  für  den  Epiphanias- 
tag noch  üblich.  —  Hr.  Dr.  Antti  Aarne  hielt  darauf  einen  Vortrag  über  die 
Veränderungen  in  den  Märchen.  Die  Ursachen  dieser  Veränderungen  sind  selten 
zufällig.  Es  kommt  häufig  vor,  dass  eine  Person  des  Märchens  in  der  Weiter- 
erzählung vergessen  wurde,  was  dann  weitere  Änderungen  erforderlich  machte. 
Andrerseits  ist  Erweiterung  der  Stoffe  sehr  allgemein,  besonders  am  Anfange 
oder  Ende  des  Märchens.  Oft  werden  auch  verschiedene  Märchen  zu  einem 
Ganzen  vereinigt.  Ferner  sind  Vervielfältigungen  von  Daten,  Personen  usw.  häufig. 
Sehr  gewöhnlich  sind  Dubletten  oder  Analogieformen  in  den  Märchen.  Verall- 
gemeinerungen oder  Vertauschung  an  Stelle  eines  bestimmten  Zuges  im  Märchen 
sind  weitere  Ursachen  der  Veränderung.  Lösungen  der  Handlung  und  Verbin- 
dung   der    Personen    zu  anderen    sind    ebenfalls    nicht    selten.     In    den  anthropo- 


HO  Brunner: 

morphischen  Märchen  ist  die  Verwandlung  eines  Menschen-  in  ein  Tierabenteuer 
selten,  während  Vermenschlichungen  von  Tieren  häufig  vorkommen.  In  alte 
Teufelsraärchen  sind  später  oft  Tiere  hineingekommen.  Veränderung  der  Gegend 
bringt  naturgemäss  Akklimatisierungsversuche  hervor,  was  an  dem  verbreiteten 
Märchen  von  der  Einkehr  in  ein  Gasthaus  gut  erkennbar  ist.  Dieser  Grund  zur 
Veränderung  der  Märchen  spielt  überhaupt  eine  grosse  Rolle.  Von  grösster 
Wichtigkeit  ist  es,  dass  alle  Veränderungen  nach  bestimmten  Gesetzen  erfolgen. 
Hr.  Prof.  Bolte  wies  darauf  hin,  dass  der  gehörte  Vortrag  das  Ergebnis  langer 
gründlicher  Studien  auf  dem  Gebiete  der  vergleichenden  Märchenforschung  sei. 
Er  erinnerte  dann  an  die  von  Ulr.  Jahn  beobachtete  Tatsache,  dass  einer  seiner 
Gewährsmänner,  der  als  Husar  gedient  hatte,  alle  Helden  seiner  Märchen  als 
Husaren  auftreten  Hess.  Auch  begabte  Erzähler  bilden,  wie  Bunker  nach- 
wies, im  Laufe  der  Zeit  ihre  Märchen  um,  und  Volkslieblingen  wie  Eulen- 
spiegel oder  dem  alten  Fritz  werden  viele  ältere  Geschichten  angehängt.  In 
jüngerer  Zeit  macht  sich  eine  Neigung  des  Volks  bemerkbar,  eine  glückliche 
Lösung  des  Märchens  herbeizuführen,  während  die  Urform  öfter  einen  tragischen 
Ausgang  bietet. 

Freitag,  den  19.  Dezember  1913.  Der  Vorsitzende,  Geh.  Rat  Roediger, 
beantragt  mit  Rücksicht  auf  das  Programm  des  Abends  die  Verschiebung  der 
Vorstandsneuwahl  auf  die  Januarsitzung,  wogegen  sich  kein  Widerspruch  erhebt. 
Hr.  Musikdirektor  Karl  Heck  er  hielt  dann  einen  Vortrag  über  das  deutsche,  ins- 
besondere das  rheinische  Volkslied,  welcher  durch  eine  Anzahl  von  Volkslieder- 
vorträgen des  1').  bis  19.  Jahrhunderts,  trefflich  ausgeführt  vom  Chor  des  Kgl. 
Lehrerseminars  in  Köpenick,  erläutert  wurde.  Am  Klavier  begleitete  mit  Anmut 
Frl.  Dora  Becker.  Der  Redner  führte  aus,  dass  die  Geschichte  der  Entstehung 
des  Volksliedes  noch  nicht  geschrieben  sei.  Seit  Herder,  Goethe  und  Uhland  ist 
CS  aber  von  den  Literaturforschern  vielfach  behandelt  worden,  nach  Hoffraann  von 
Fallersleben  in  neuerer  Zeit  besonders  durch  M.  Priedlaender  und  John  Meier. 
Im  Gegensatz  zum  Kunstliede  bringt  das  Volkslied  typische,  allgemeine  Erlebnisse 
zur  Darstellung,  nicht  subjektive  Empfindungen.  In  sprunghaftem  Stile  wird  Selbst- 
verständliches übergangen.  Text  und  Melodie  sind  miteinander  verwachsen.  Daher 
der  unvergängliche  Zauber  der  Jugend  im  Volksliede.  Im  fortgesetzten  Gebrauch 
schwanden  allmählich  alle  Ecken  und  Härten  des  Liedes.  Man  ordnet  die  Volks- 
liedersammlungen zweckmässig  nach  dem  Stoffe,  den  sie  behandeln.  In  Deutsch- 
land sind  Kriegslieder  häufig  im  Volksmunde  anzutreffen,  besonders  zahlreich  in 
der  Rheinebene.  Dagegen  wurden  Balladen,  die  aus  der  Mythologie  und  Tier- 
sage schöpfen,  durch  kirchliche  Einflüsse  verdrängt,  während  Liebeslieder  in 
Balladenform  sehr  zahlreich  sind.  Nach  dem  Abklingen  des  Minnegesanges  und 
der  Marienhymnen  kam  im  15.  Jahrhundert  das  A^olkslied  auf,  im  16.  Jahrhundert 
waren  sie  noch  zahlreicher  vorhanden,  aber  im  Zeitalter  des  Dreissigjährigen 
Krieges  gingen  viele  Volkslieder  unter.  Im  18.  Jahrhundert  kam  der  noch  heute 
nicht  überwundene  Bildungsdünkel  auf  und  drängte  das  Volkslied  zurück.  Aller- 
dings setzte  nun  bald  die  mit  Herder  beginnende  Gegenströmung  ein  und  führte 
für  das  Volkslied  eine  neue  Ära  herbei,  bei  der  aber  die  Melodie  vernachlässigt 
wurde.  Erst  Erk  widmete  auch  ihr  die  nötige  Aufmerksamkeit,  ausserdem  Böhme, 
Liliencron  u.  a.  Am  Rhein  sammelte  zuerst  Hoffmann  von  Fallersleben  Volks- 
lieder. Sein  'Liederhort'  wird  in  der  Berliner  Kgl.  Bibliothek  aufbewahrt,  welche 
überhaupt  die  meisten  hsl.  Volksliedersammlungen  enthält.  W.  von  Zuccalmaglio 
sammelte  über  600  Volkslieder,  änderte  aber  leider  sein  Material  nach  Gutdünken 
um.      Auch   Kretschmer    und  Simrock  sammelten   Volkslieder    des    Rheingebietes, 


Protokolle.  111 

wenn  auch  nicht  erschöpfend.  Der  Redner  selbst  hat  etwa  seit  1870  im  ganzen 
Rheinlande  Volkslieder  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Melodie  gesammelt 
und  beabsichtigt  nahezu  lOOO  zu  veröffentlichen,  von  denen  viele  Variationen,  bis 
zu  "20,  vorliegen.  Die  Notierung  der  Melodien  ist  schwieriger  als  die  der  Texte, 
und  es  gehört  dazu  viel  Erfahrung  und  musikalische  Begabung.  Grossen  Reiz 
geben  den  Melodien  die  oft  wechselnden  Taktarten.  Zu  einer  umfassenden  Dar- 
stellung des  deutschen  Volksliedes  müssten  noch  mehr  Sammlungen,  besonders 
auch  der  Melodien,  in  allen  deutschen  Gauen  veranstaltet  werden»).  Der  Vor- 
sitzende dankte  Hrn.  Becker  für  die  willkommenen  Belehrungen  über  das 
deutsche  Volkslied  und  die  musterhaften  Vorträge  des  von  ihm  geleiteten  Chores. 
Er  sprach  die  Hoffnung  aus,  dass  die  aus  der  trefflichen  Schule  des  Hrn.  Vor- 
tragenden hervorgehenden  jungen  Lehrer  mit  ganz  besonderem  Verständnis  sich 
in  Zukunft  die  Pflege  des  Volksliedes,  zumal  auf  dem  Lande  angelegen  sein  lassen 
werden. 

Freitag,  den  23.  Januar  1914.  Der  Vorsitzende,  Hr.  Geh.  Rat  Roediger, 
erstattete  den  Jahresbericht  und  der  Schatzmeister  Hr.  Treichel  den  Kassen- 
bericht. Dann  wurde  der  bisherige  Vorstand  wiedergewählt.  Er  besteht  also  aus 
den  Herren  Roediger,  Bolte,  Brunner,  Mielke,  Treichel,  Minden  und  Sökeland. 
Der  gleichfalls  neugewählte  Ausschuss  setzt  sich  wie  folgt  zusammen:  Friedel  als 
Obmann,  Schulze-Veltrup,  Boehm,  Behrend,  Hahn,  Ludwig,  Samter,  Maurer,  Lemke, 
Heusler,  Simon,  Ebermann.  Auf  Antrag  des  Vorstandes  stimmte  die  Versammlung 
einer  Änderung  der  Satzung  zu,  welche  neugedruckt  und  den  Mitgliedern  über- 
sandt  werden  soll.  Darauf  hielt  Hr.  Prof.  Dr.  Ernst  Samter  einen  Vortrag  über 
Pteligion  und  Sittlichkeit  bei  den  Griechen.  Die  Götter  haben  nach  griechischer 
Anschauung  die  Welt  und  die  Menschen  nicht  erschaffen,  aber  sie  regieren  sie. 
Dass  sie  immer  gerecht  regieren,  kann  nicht  behauptet  werden.  Die  homerischen 
Götter  ergreifen  bekanntlich  in  den  Kämpfen  der  Griechen  und  Trojaner  sehr 
energisch  Partei.  Durch  Opfer  an  die  Gottheit  glaubte  man  sozusagen  einen 
Kontrakt  zwischen  Gott  und  Mensch  festzusetzen.  Die  Gunst  der  Götter  beruht 
keineswegs  nur  auf  guten  Taten;  das  gilt  auch  für  spätere  Formen  des  griechischen 
Volksglaubens.  Auch  in  die  Mysterien  ist  erst  später  ein  sittliches  Moment  ein- 
getreten. Natürlich  gab  es  auch  Gegner  der  unethischen  Anschauungen  des  Volks- 
glaubens. So  hat  besonders  Xenophanes  (6.  bis  5.  Jahrhundert)  scharf  diese  un- 
sittlichen Auffassungen  der  Dichter  über  die  Gottheit  kritisiert.  Er  gelangte  so 
zu  einer  mono-  oder  pantheistischen  Religionsanschauung,  die  viele  geistig  hoch- 
stehende Griechen  mit  ihm  teilten.  Hesiod  gibt  in  seiner  Theogonie  und  seinen 
'Werken  und  Tagen',  die  eine  Art  von  Bauernkalender  sind,  eine  weniger  poetische 
als  moralisierende  Götterlehre.  So  spricht  er  z.  B.  von  einer  segensreichen  Eris, 
die  zu  Fleiss  und  Arbeit  anreizt.  Ähnliche  Vorstellungen  von  gerechter  göttlicher 
Regierung  hegte  auch  Solon.  Er  spricht  auch  von  dem  Erbe  des  Bösen,  d.  h. 
der  Strafe  an  den  Nachkommen.  Herodot  dagegen  schreibt  den  Göttern  mensch- 
liche Schwächen  zu,  z.  B.  den  Neid,  der  es  dem  Menschen  verwehrt,  zu  glücklich 
zu  sein.      Auch  Pindar  spricht  ähnlich,    ferner  urteilen    so    die    sieben  Weisen  in 


1)  Es  kamen  folgende  Volkslieder  zum  Vortrag:  15.  Jahrhundert:  Ich  fahr  dahin. 
Innsbruck,  ich  muss  dich  lassen.  IG.  Jahrhundert:  Es  ist  eine  Ros'  entsprungen.  18.  Jahr- 
hundert: Drei  Lilien.  0  Strassburg,  du  wunderschöne  Stadt.  18.  bis  19.  Jahrhundert: 
Jetzt  gang  i  ans  Brünnele.  l'J.  Jahrhundert:  Ich  liabe  den  Frühling  gesehen.  Zu  Strass- 
burg  auf  der  langen  Brück.     Weh,  dass  wir  scheiden  müssen. 


112  Brunner:   Protokolle.  —  Zum  Marburger  Verbandstag.  —  Berichtigung. 

ihren  Sprüchen  an  dem  Heiligtume  von  Delphi.  Unter  den  grossen  Tragikern  hat 
Aeschylus  in  vielem  am  alten  Glauben  festgehalten,  aber  seine  Vorstellungen 
über  die  Gottheit  sind  doch  weit  über  den  Volksglauben  hinausgewachsen.  Mass- 
halten ist  ihm  eine  Notwendigkeit  für  den  Menschen,  denn  Zeus  ist  ein  scharfer 
Richter  der  Cberhebung.  Eine  Forderung  der  Gerechtigkeit  ist  Strafe,  auch  an 
Kindern  und  Kindeskindern.  Aber  die  Sünden  der  Väter  sind  nur  Mithelfer  der 
bösen  Tat,  zum  Entschluss  ist  der  Mensch  frei.  Zeus  ist  ihm  der  Gott  schlechthin; 
seine  Weisheit  und  Güte  preist  er  in  fast  alttestamentlicher  Kraft  und  Majestät.  Im 
Chor  des  'Agamemnon'  gibt  er  seiner  Anschauung  über  die  Macht  des  Zeus  ge- 
waltigen Ausdruck.  Bei  Sophokles  findet  sich  ähnliche  Frömmigkeit,  doch  steht 
sie  dem  Volksglauben  näher  als  bei  Aeschylus.  Zu  seinen  religiösen  Forderungen 
gehört  auch  die  Erfüllung  äusserlicher  Vorschriften,  und  er  hält  noch  fest  am 
Alten,  auch  zuweilen  itn  Gegensatze  zum  Geiste  seiner  Zeit.  Sein  Philoktet  muss 
wie  Odysseus  nach  dem  Willen  der  Gottheit  schuldlos  leiden.  Der  Mensch  hat 
sich  eben  dem  unbegreiflichen  Willen  der  Gottheit  zu  unterwerfen,  und  als  Trost 
bleibt  ihm  nur  die  Ergebung  in  den  Willen  der  Gottheit.  Eine  Hoffnung  auf 
Lohn  im  Jenseits  wird  nicht  gegeben.  Im  Gegensatze  dazu  spricht  aber  Aeschylus 
von  einem  Gerichte  im  Jenseits.  Auch  Pindar  weist  auf  diese  Gerechtigkeit  hin 
und  entwirft  von  ihr  ein  blumenreiches  Bild.  Aber  dem  Volksglauben  waren 
solche  Anschauungen  fremd.  Im  »i.  Jahrhundert  lehrten  die  Orphiker,  die  Schüler 
des  Thrakers  Orpheus,  dass  in  der  Ekstase  des  Dionysoskultes  Vereinigung  mit 
der  Gottheit  erfolge.  Es  war  eine  Erlösungsreligion  mit  Vorstellungen  von  Seelen- 
wanderung und  körperlicher  Askese,  z.  B.  Enthaltung  vom  Fleischgenuss.  Aber 
eine  sittliche  Umwandlung  war  ursprünglich  nicht  verlangt.  Unter  dem  Schutze 
des  Pisistratos  hingen  die  attischen  Bauern  des  <>.  Jahrhunderts  dieser  Sekte  an. 
Bei  Pindar  finden  sich  Erinnerungen  an  diese  Anschauung  von  Seelenwanderungen 
wieder;  aber  stärker  wirkte  die  orphische  Lehre  auf  die  Philosophen,  besonders 
Plato  ein.  Manches  ging  auch  in  das  Christentum  über.  Der  Vorsitzende 
legte  zum  Schlüsse  einen  neu  erschienenen  Leitfaden  zur  Märchenforschung  von 
Dr.  A.  Aarne  vor. 

Berlin.  Karl   Brunner. 


Zum  Bericht  über  den  Marburger  Verbandstag 

(oben  23,  441) 

sei  hier  eine  Berichtigung  nachgetragen.  Der  geschäftsfiihrende  Ausschuss  bestand  und 
besteht  aus  den  Herren  John  Meier  (Freiburg),  A  Götze  (Freiburg).  Hoffniann-Krayer 
(Basel)  und  I.auffer  (Hamburg).  Dagegen  gehören  die  Herren  Fehrle  (Heidell)erg)  und 
Helm  (Giessen)  mit  Hepdlug,  Jostes,  Spamer  und  Wünsch  der  Kommission  für  die 
Sammlung  der  Segen-  und  Zauberformeln  an.  (J.  B.) 


Berichtigung. 

Oben  23,  S.  424,  Z.  9  von  unten  ist  statt  'Streitberg'  zu  lesen:    'Helm". 


//3 


Gescliiclite  der  Tanzkrankheit  in  Dentschland. 

Von  Alfred  Martin. 

(Mit  3  Abbildungen.) 


Im  Jahre  1832  Hess  der  Berliner  Geschichtsforscher  und  Arzt  Hecker^) 
eine  Monographie  über  die  'Tanzwut'  erscheinen,  die  von  Dubois^)  ins 
Französische  übersetzt  und  1865  von  dem  Berliner  Professor  August 
Hirsch^)  nochmals  und  mit  Zusätzen  herausgegeben  wurde. 

Die  Autorität  Heckers  auf  dem  Gebiet  der  grossen  Volkskrankheiten 
des  Mittelalters  hat  bewirkt,  dass  die  Grundzüge  seiner  Darstellung  bis 
heute  massgebend  gewesen  sind^)  und  Berichtigungen  sowie  einige  neu 
hinzugekommene  Ergebnisse  fast  unberücksichtigt  blieben. 

Ich  bin  bei  keiner  Arbeit  auf  soviel  unkritisch  zusammengetragenen 
Stoff,  auf  so  wenig  Ausnutzen  der  den  Autoren  zu  Gebote  stehenden 
Quellen  und  des  von  ihnen  selbst  mitgeteilten  Stoffes  gestossen  als  bei 
der  Geschichte  der  Tanzkrankheit. 

1.  Der  Veitstanz  in  Strassburg  1518. 

Am  schärfsten  umschrieben  steht  die  Strassburger  Veitstanzepidemie, 
wie  ich  gleich  vorwegnehmen  will,  vom  Jahre  1518  da.  Die  grossen 
Medizinhistoriker  Hecker,  Hirsch  und  Häser  legen  sie  ins  Jahr  1418. 

In  einer  Anmerkung  zu  Königshovens  Elsässer  Chronik  sagt  der 
Herausgeber  Schilt  er  1698,  dass  mau  von  der  Strassburger  Tanzplage 
in  Chron.  M.  S.  Argent.  p.  318  folgende  Reime  finde: 


1)  J.  F.  C.  Hecker,  Die  Tanzwuth.  Berlin  1832.  Abdruck  mit  Zusätzen  von  Hirsch 
in:  Die  grossen  Volkskrankheiten  des  Mittelalters,  Historisch -pathologische  Unter- 
suchungen von  J.  F.  C.  Hecker,  Gesammelt  und  in  erweiterter  Bearbeitung  heraus- 
gegeben von  Dr.  August  Hirsch.  Berlin  18G5.  S.  M:')  — 192.  —  2)  Memoire  sur  la  choree 
epidemique  du  moyen  age;  par  le  docteur  J.  F.  C.  Hecker  (Traduit  de  l'allemand  par 
M.  Ferdinand  Dubois).  Annales  d'Hygiene  publique  et  de  medicine  legale,  12.  Bd. 
Paris  1834.  —  ?>)  H.  Hasser,  Lehrbuch  der  Gesch.  der  Medizin  und  der  epid.  Krank- 
heiten, 3.  Bearbeitung.  3.  Bd.  Gesch.  d.  epid.  Krankh.  Jena  1882;  0.  v.  Hovorka  und 
A.  Kroiifeld,  Vergleichende  Volksmedizin,  2.  Brl.    Stuttgart  1909. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1914.    Heft  2.  8 


114  Martin: 

^St.  Veits  Tantz  Au.  1418. 

Viel  hundert  fingen  zu  Straßburg  an 
Zu  tantzen  und  springen,  Fraw  und  Mann, 
An  oifnen  Mark,  (lassen  und  Strassen. 
Taor  und  Naclit  ihren  viel  nicht  assen, 
Biß  jn  das  Wüten  wieder  gelag. 
St.  Vits  Tantz  ward  genant  die  Plag"^). 

Was  Schilter  weiter  mitteilt,  ist  ohne  Angabe  eines  Jahrhunderts.  Da 
Heckers  3Iitteilungeu  nur  auf  denen  von  Schilter  beruhen,  ging  die 
Jahreszahl  1418  in  die  spätere  Literatur  über. 

Bei  einer  gelegentlichen  Durchsicht  der  Chronica  neuer  Geschichten 
des  Nürnberger  Chronisten  Wilhelm  Rem  fiel  mir  auf,  dass  dort  die 
Epidemie  1518  datiert  ist. 

Es  heisst  da:  „Wie  zu  Straspurg  vil  leut  sant  Veitz  tantz  ankam.  Anno  dni. 
1518  im  Summer  da  kam  es  zu  Straspurg  fast  vil  leutt  sant  Veitz  tantz  an,  daß 
ain  tag  wol  bei  15  menschen  ankam.es  weret  fast  lang,  also  verbott  man  das 
tantzen  und  pfeiffen  und  paugkenschlagen"^). 

Zunächst  glaubte  ich  an  einen  Druckfehler,  zumal  der  Herausgeber 
der  Chronik  Roth  unter  den  Hinweisen  auf  andere  Quellen  auch  eine 
von  Häser  veröffentlichte  und  bei  diesem  1418  datierte  Ratsverordnung 
anführt.  Als  ich  mich  dann  mit  den  weiteren  Quellen  beschäftigte,  gab 
es  Überraschungen. 

Die  Epidemie  von  1518  steht  nach  dem  mir  vorliegenden  Stoff"  fest. 
Längere  Zeit  glaubte  ich  an  eine  zweite,  im  Jahre  1418,  einmal  wegen 
der  Stelle  bei  Schilter,  dann  wegen  des  Ratsbeschlusses  von  1418  bei 
Häser,  und  drittens,  weil  1418  Tanzkranke  im  obern  Deutschland  erwähnt 
w^erden.  In  Zürich  kommen  sie  in  diesem  Jahre  nach  Yö gelin ^)  in  den 
Rats-  und  Richtbüchern  vor.  Er  niacht  ausdrücklich  darauf  aufmerksam, 
dass  sie  in  den  Züricher  Chroniken,  die  sonst  Kleinigkeiten  berichten, 
nicht  erwähnt  werden,  und  nimmt  deshalb  Veitstänzer  an,  die  von  Zabern 
im  Elsass  kamen,  denn  dorthin  hatte  Strassburg  seine  Kranken  geschickt. 

Die  Jahreszahl  über  den  Versen  bei  Schilter  konnte  nicht  nach- 
geprüft werden.  Wie  mir  die  Strassburger  Landesbibliothek  mitteilt,  ist 
die  angeführte  Chronik  beim  Bibliotheksbrande  1870  zugrunde  gegangen. 
Ich  glaube,  es  geschah  schon  früher,  da  keiner  der  Schriftsteller  vor  1870, 
die  nach  handschriftlichem  Stoff  suchten,  ausser  Schilter  ihrer  gedenkt. 


1)  Die  älteste  teutsche  so  wol  allgemeine  als  insonderheit  elsassischc  und  Straß- 
burgische Chrouike,  von  Jacob  von  Königshoven,  Priestern  in  Straßburg,  von  Anfang  der 
Welt  biß  ins  Jahr  nach  Christi  Geburth  MCCCLXXXVI  beschrieben.  Anjetzo  zum  ersten 
mal  heraus  und  mit  historischen  Anmerkungen  in  Truck  gegeben  von  D.  Joliann  Schiltern. 
Straßburg  1698.  Anmerkung:  Vom  Veitz-Tantz  S.  1085  -  10i)U.  —  2)  Wilhelm  Rem, 
Chronika  newer  Geschichten.  Bearb.  von  Friedrich  Roth,  Chroniken  der  deutschen  Städte 
25.  Bd.  Leipzig  18%.  —  3)  Salomon  Vögelin,  Gesciiichte  der  Wasserkirche  in  Zürich. 
Zürich  1848  (Xeujahrsblatt  hsg.  v.  d.  Stadtbibliothek  in  Zürich  auf  das  Jahr  18-47— 48;. 


Geschicilte  der  Tanzkrankheit  in  Deutschland.  115 

Die  bei  Häser  wörtlich  abgedruckte  Ratsverordnung  findet  sich  schon 
bei  Schilter  und  ist  dort  datiert  „Veneris  post  Magdalene  etc.  XYIII". 
Das  Original  (Anlage  11)  liegt  noch  im  Archiv  der  Stadt  Strassburg 
(GUP  200)  und  hat  auch  nur  etc.  XVIII.  Nach  der  Charakteristik  der 
Schriftzüge  ist  1518  anzunehmen.  Auch  ein  ausserdem  von  Schilter  mit- 
geteiltes KatsprotokoU  (Anlage  I),  das  nicht  datiert  ist,  gehört  demselben 
Jahre  an;  das  geht  aus  den  dort  mitgeteilten  Namen  der  Magistrats- 
personen hervor  (Angabe  des  Archivs  der  Stadt  Strassburg). 

1836  gab  nun  Boersch^)  eine  französisch  geschriebene  grössere  Arbeit 
über  die  Sterblichkeit  in  Strassburg  heraus  und  bringt  richtig  die  Yeits- 
tanzepidemie  beim  16.  Jahrhundert.  In  einer  Anmerkung  schreibt  er 
aber,  dass  die  verschiedenen  Chronisten  sich  mit  dem  Jahre  1518  geirrt 
hätten.  Nach  seinen  letzten  Forschungen  stehe  es  ausser  Zweifel,  dass,  wie 
Schilter  angibt,  1418  richtig  sei,  auch  Hecker  sage  das;  er  bedaure,  dass 
er  wegen  des  vorgeschrittenen  Druckes  die  betreffende  Stelle  nicht  mehr 
berichtigen  könne.  Und  doch  hat  er  noch  geändert,  nämlich  in  die  fran- 
zösische Übersetzung  der  erwähnten  Ratsverordnung  das  Yierzehn- 
hundert  eingesetzt,  wodurch  ans  dem  18.  Jahre  1418  wurde.  Den  deutschen 
Originaltext  bringt  er  noch  richtig  mit  etc.  XVIII.  Darauf  hat  Häser  ^) 
dem  deutschen  Originaltext  das  14  .  .  hinzugefügt  (er  gibt  keine  Quelle 
an.  zitiert  aber  an  anderer  Stelle  Boersch),  und  so  entstand  in  der  Rats- 
verfügung die  gefälschte  Jahreszahl  1418.  Damit  war  für  die  Medizin- 
historiker die  Strassburger  Veitstanzepidemie  abermals  und  nun  doppelt 
begründet  auf  14:18  festgelegt. 

Von  elsässischen  Schriftstellern  nehmen  Grandidier^),  Hermann^),  Glöckler») 
das  Jahr  1418  an,  Krieger*^),  Witkowski^),  Adam^)  löl8,  Boersch,  wie  erwähnt, 
zuerst  1518,  dann  1418,  StrobeP)  und  Fischer'«)  1418  und  1518.  Beiläufig  sei 
bemerkt,  dass  Holländer")  ohne  Quelle  die  falsche  Jahreszahl  1438  bringt. 

Wesentlich  falsche  Schilderungen  der  Epidemie  geben  Grandidier  und 
Strubel  a.  a,  0.,  welche  Vorkommnisse  einer  früheren  Tanzplage,  die  im  14.  Jahr- 
hundert vorzugsweise  in  Niederdeutschland  herrschte,  für  die  Strassburger  an- 
geben. 

Die  Schilderung  der  Strassburger  Epidemie,  wie  sie  die  bekannteren 
ärztlichen  Geschichtsschreiber  (Hecker,  Hirsch,  Häser  und  die,  welche  aus 
ihnen    schöpfen)    geben,    gründet    sich    auf    Schilter    und    auf    das,    was 


1)  Charles  Boersch,  Essai  sur  la  niortalitc  a,  Strasbourg.  Strassburg  1S3G.  — 
2)  Lehrbuch  o,  '.}.  —  3)  Ph.  A.  Grandidier,  Oeuvres  historiques  inedits,"  4.  Bd.  Colmar 
186(1.  —  4)  Jean-Fred.  Hermann,  Notices  historiques  etc.  sur  la  ville  de  Strasbourg, 
2.  Bd.  Strassburg  181'.».  —  5)  L.  Glöckler,  Gesch.  des  Bistums  Strassburg.  Strassburg 
1879.  —  6)  J.  Krieger,  Beiträge  zur  Gesch.  der  Volksseuchen  etc.  von  Strassburg,  1.  Heft. 
Strassburg  1879.  —  7)  L.  Witkowski  in  Laehrs  Allg.  Zs.  f.  Psychiatrie  35.  Berlin  1879. 
—     8)    A.    Adam,     Sankt    Veit    bei    Zabern    oder    der    hohle    Stein.      Zubern    1879.    — 

9)  A.  W.  Strobel,    Vaterländische  Geschichte  des  Elsasses,    3.  Teil.     Strassburg  1843.    — 

10)  Dagobert  Fischer,  Das  alte  Zabern.     Zabern  18G8.    —    11)  E.  Holländer,  Die  Medizin 
in  der  klass.  Malerei,     Stuttgart  1903. 


116  Martin: 

Boerschi)  zusammengetragen  hat,  der  die  Angaben  aus  der  (1870  ver- 
brannten)'') handschriftlichen  Chronik  von  Schadaeus  (Oseas  Schad, 
17.  Jahrhundert)')  und  den  im  17.  Jahrhundert  gedruckten  von  Gold- 
meyer und   Kleinlawel  vermehrte. 

Nach  Schadaeus  fing  eine  Frau  1518  acht  Tage  vor  [Häser  sagt 
falsch  nach]  Maria  Magdalenentag  [22.  Juli]  zu  tanzen  an.  Sie  tanzte  vier 
ganze  Tage.  Der  Magistrat  Hess  sie  zur  Kapelle  des  heiligen  Veit  nach 
Zabern  führen,  und  sie  blieb  ruhig.  Darauf  begannen  noch  mehrere  bei 
den  Stadtställen  zu  tanzen,  und  im  Verlauf  von  vier  Tagen  waren  es 
34  Personen,  Männer  und  Frauen.  Der  Magistrat  verbot  Trommeln  und 
Pfeifen,  und  man  führte  die  Tänzer  nach  St.  Yeit,  aber  in  wenigen  Tagen 
vermehrte  sich  die  Zahl  auf  mehr  als  200.  Die  Chroniken  von  Gold- 
meyer und  Kleinlauel  fügen  hinzu,  dass  die  Kranken  Tag  und  Nacht 
tanzten,  bis  sie  erschöpft  und  ohnmächtig  umfielen,  und  viele  unter  ihnen 
konnten  sich  nicht  erheben  und  starben.     Soweit  Boersch  a.  a.  O. 

Ähnlich  ist  die  Schilderung  in  Duntzenheims  Chronik.  Nach  ihr 
ging  die  Tollheit  von  einer  Frau  aus,  welche  zuerst  vier  Tage  in  einem- 
fort  tanzte;  wenige  Tage  darauf  waren  es  schon  vierunddreissig,  und  in 
der  vierten  Woche  —  darin  weicht  sie  von  der  Schadschen  ab  —  stieg 
die  Zahl  auf  mehr  als  zweihundert^). 

Kleinlawel  bringt  unter  Vitsdantz  1518  die  Verse: 

„Ein  Seltzam  sucht  ist  zu  der  zeit 
Vnder  dem  Volck  vmbf>angen, 
Dan  viel  Leut  auß  Vnsiunigkeit 
Zu  Dantzen  angefangen. 
Welches  sie  allzeit  Tag  und  Nacht 
Ohn  vnter  laß  getrieben, 
Biß  das  sie  fielen  in  ohnmacht, 
Viel  sind  Todt  drüber  blieben"^). 

Die  Goldmeyersche  Chronik  erwähnt  nach  Angabe  der  Strassburger  Landes- 
universität den  Veitstanz  von  1518  nicht. 

Aus  den  sogenannten  Brantschen  Annalen,  die  Auszüge  aus  den  Ratsproto- 
kollen sind,  führe  ich  noch  an:  „1518.  Als  diss  jars  um  Margarethen  ['22.  Juli] 
ein  schwäre  erschreckliche  krankheit  mit  St.  Vitstanz  erhub,  also  dass  uff  fünfzig 
personen  damit  behafft  tag  und  nacht  tantzeten  dass  jämmerlich  zu  sehen  war, 
wurden  dieselben  alle  in  der  Stattcosten  verwahrt  und  zn  dem  lieben  heil.  St.  Vit 
im  Hohenstein  bei  Zabern  geführt  und  fast  erledigt  [vollständig  frei  von  der 
Krankheit].  Da  setzten  unsere  herren  ufl"  und  lissen  ein  gebot  üssgon,  daß  nie- 
mand tantzen  soll  bis  Michaelis  [29.  September]  in  der  ganzen  Statt  und  burgban, 
bei  30  seh  pf.  und  kein  beucken  [Pauken]  schlagen;  wol  möchte  man  boy  braut- 
läuften  und  ersten  messen    mit  saitenspiel  tantzen    nach  eines  jeden  conscienz'"^). 

1)  Essai  1836.  —  2)  Haeser  a.  a.  0.  —  3)  Desgl.  —  4)  Fragments  de  diverses 
vieilles  chroniques,  nr.  3981.  iMitt.  d.  Ges.  f.  Erhaltung  der  gesch.  Denkm.  des  Elsass, 
2.  Folge,  Bd.  18).  Strassburg  1897.  —  5)  Kleinlawel,  Strassburgische  Chronik.  Strassbg. 
1625.  —  6)  Jac.  Wencker,  Extractus  ex  protocollis  Dom.  XXI  vulgo  Sebastian  Brants 
Annalen,  nr.  3443  (Mitt.  2.  Folge,    Bd.  15;.     Strassbg.  1892. 


Geschichte  der  TaDzkrankheit  in  Deutschland.  117 

Die  Bürger,  welche  Kranke  in  ihren  Familien  hatten,  mußten  die  Kosten  zum 
heiligen  Veit  nach  Zabern  tragen,  für  die  Armen  übernahm  sie  der  Rat.  Der 
Transport  geschah  auf  drei  dreispännigen  Wagen,  nicht  auch  zu  Fuß,  wie  Hecker 
und  Häser  angeben,  auch  wurden  die  Kranken  nicht  hingeschleppt,  wie  Holländer 
schreibt;  aus  allem  geht  hervor,  daß  sie  gern  die  Wallfahrt  machten.  Die 
Knechte  hatten  der  Kranken  zu  warten  und  bei  ihnen  zu  bleiben.  Wenn  sie 
Zabern  nahten,  sollte  einer  vorausreiten  und  drei  oder  vier  Priester  mit  Rat  des 
Dechanten  von  Zabern  bestellen,  um  jeder  Rotte  gesondert  nacheinander  gesungene 
Ämter  zu  halten.  Nach  jedem  Amt  sollten  die  armen  Leute  um  den  Altar  geführt 
werden  und  jeder  Kranke  1  Pfennig  opfern;  wo  ihn  der  Kranke  nicht  hatte, 
mußte  es  der  Führer  für  ihn  tun.  Was  vom  Almosengeld,  das  den  armen  Leuten 
mitgegeben  war,  übrig  blieb,  sollte  in  den  Opferstock  gelegt  werden.  (Beschlüsse 
Freitag  nach  Marie  Magdalene,  Anlage  I  und  IL) 

Nach  dem  einem  Ratsprotokoll  waren  die  Kranken  nach  St.  Yit, 
nach  dem  anderen  in  der  Wiedergabe  bei  Schilter  nach  St.  Vit  zuni  Roten- 
stein,  nach  den  ßrantschen  Annalen  im  Hohenstein  zu  schicken.  Es  muss 
zum  Hohlenstein  heissen.  Schilter  hat  falsch  gelesen,  es  steht  im 
Original  Holenstein  (Anlage  II,  zu  der  die  bei  Schilter  als  Überschrift  zu 
Anlage  I  gegebenen  Worte  gehören).  Hecker  und  Häser  schreiben  sogar 
zu  den  Kapellen  des  heiligen  Veit  zu  Zabern  und  Rotenstein. 

Der  Veitsberg,  gewöhnlich  Vixberg  genannt,  liegt  nach  Fischer  399  m  über 
dem  Meere,  westlich  hinter  Zabern  mit  einer  Felsenhöhle,  nach  der  der  Berg  einst 
der  Hohlestein  genannt  wurde.  (Unter  diesem  Namen  kommt  er  öfter  im  Stadt- 
archiv zu  Zabern  vor.)  Diese  ist  4  m  hoch,  7  m  breit,  13  >ii  tief.  Zu  ihr  führt  ein 
schmaler  ansteigender  Pfad').  In  Wenckers  handschriftlicher  Chronik  von  1637 
heisst  es,  die  Kranken  seien  nach  St.  Veit  zum  hellensteg  hinter  Zabern  ge- 
schickt worden^).  Mit  diesem  Hellensteg  ist  sicher  der  zur  Höhle  ansteigende 
Steg  gemeint,  der  also  auch  dem  Kultort  den  Namen  gab. 

Die  Grotte  war  als  Kapelle  eingerichtet,  in  ihr  nahm  man  das  Grab  des 
hl.  Veit  an  (Sankt  Fitts  Grab  under  dem  Felsen).  Diese  'untere  Kapelle'  (1654) 
heisst  sonderbarerweise  1.H2  'Sant  Trügen  Kapelle',  1601  und  später  Aurelien- 
kapelle.     Die  eigentliche  Veitskapelle  lag  oberhalb  der  Höhle. 

17.")8  wurde  die  Kirche  vom  Kardinal  von  Rohan  visitiert,  der  verfügte,  dass 
die  wurmstichigen  und  zersprungenen  St.  Veitsstatuen  wegzunehmen  seien.  Kr 
verbot  ausdrücklich,  in  dieser  Kapelle  fernerhin  eiserne  Kröten,  Fratzenbilder  von 
Menschen  und  andere  abergläubische  Figuren  auszustellen  und  in  der  unterhalb 
der  St.  Veitskapelle  erbauten  Aurelienkapelle  Messe  zu  lesen;  die  dortigen  Statuen 
sollten  hinvveggenoramen  werden.  Der  Pfarrer  von  Zabern  wurde  mit  der  Aus- 
führung beauftragt,  um  jeden  Aberglauben  zu  verhindern^).  In  der  Revolutions- 
zeit ging  das  ganze  Gebiet  in  Privatbesitz  über  und  wurde  dann  als  Meierei  be- 
wirtschaftet. Die  Kapelle  zerstörte  und  verbaute  der  Käufer.  Aber  1818  wurde 
die  Grotte  wieder  zum  Kultus  eingerichtet  und  der  Altar  dorthin  geschafft*). 
Heute  ist  auch  hier  kein  Gottesdienst  mohr^). 


1  Fischer,  Das  alte  Zabern  18G8,  —  li  Schnegans,  Auszüge  aus  Wenckers  Manusc. 
Chronik  von  1G37,  nr.  3007  (Mitt.  2.  Folge,  Bd.  15).  Strassbg.  1892.  —  :])  Adam,  St.  Veit 
1879.  —  4    Fischer  18GS.  —  5'  Adam  a.  a.  0. 


118  Martin: 

Am  Ostermontage  und  am  15.  Juni,  dem  Veitstage,  kamen  auf  dem  Berg 
zahlreiche  Wallfahrer  zusammen.  Die  Bewohner  der  unteren  Ortschaften  zogen 
in  Prozession  hinauf.  Zu  den  Reliquien  pilgerten  an  Veitstanz  und  fallender 
Sucht  (Epilepsie)  Leidende.  Manche  Epileptiker  stellten  ihre  Stöcke  an  den  Weg 
in  der  Meinung,  dass,  wer  den  Stock  wegnehme,  auch  die  Krankheit  mit  fort- 
nehme. Hysterische  und  unfruchtbare  Frauen  opferten  eiserne  Kröten.  Der 
Heilige  wurde  auch  bei  Viehseuchen  angerufen^).  Der  letzte  Pächter  von  St.  Veit, 
ein  86jähriger  Mann,  versicherte,  wie  Adam  1897  schreibt,  dass  er  zu  seiner  Zeit 
noch  Kröten  bringen  sah.  Das  Zaberner  Museum  besitzt  übrigens  solche  Opfer- 
bilder^).  Es  geht  aus  diesen  Angaben  hervor,  dass  die  eisernen  Kröten  von  un- 
fruchtbaren Frauen  geopfert  wurden.  Das  erklärt  sich  aus  dem  Volksglauben,  die 
Gebärmutter  sei  eine  Kröte.  Ich  kann  deswegen  Glöckler')  nicht  zustimmen, 
wenn  er  behauptet,  die  Strassbur^er  Veitstänzer  wären  nach  St.  Veit  gepilgert, 
um  dort  als  Sinnbilder  ihrer  Krankheit  •eiserne  Fröschen'  zu  opfern. 

Fischer  hat  aus  der  Lage  des  Berges  und  den  abgemeisselten  Flächen  der 
Höhle  auf  einen  druidischen  Kultort  geschlossen,  der  Einbau  der  Kapelle  soll  nach 
Adam  die  Abglättungen  erklären. 

Nach  dem  bisher  Mitgeteilten  ist  die  Strassburger  Yeitstanzepidemie 
nur  von  medizinischem,  allenfalls  noch  von  theologischem  Interesse.  Die 
Krauken  wurden  der  damaligen  Anschauung  entsprechend  behandelt,  als 
Geisteskranke  der  Fürbitte  der  Kirche  anheimgestellt  und  durch  gottes- 
dienstliche Handlungen  in  der  Kapelle  ihres  Krankheitspatrons  geheilt. 
Volkskundliche  Besonderheiten  kamen  dabei  nicht  vor.  Ein  eigentlicher 
Yeitstanzaberglaube  tritt  uns  —  nach  den  bisherigen  Darstellungen  — 
erst  gegen  Ende  des  16.  Jahrhunderts  entgegen.  Und  doch  lassen  sich 
die  Bräuche  von  den  sagenhaften  Anfängen  bis  zum  17.  Jahrhundert 
nachweisen,  auch  im  Strassburger  Veitstanze,  nur  sind  sie  da  sonderbarer- 
weise nicht  bekannt  geworden. 

Die  Heilweise  in  St.  Veit  war  nämlich  eine  andere  als  die  bisher 
geschilderte  —  was  dort  geschehen  sollte  und  was  in  Wirklichkeit  ge- 
schah, ist  zweierlei  — ,  und  ausserdem  hatte  der  Rat  von  Strassburg  in 
Strassburg  selbst  die  Kranken  auf  zwei  andere  Arten  zu  heilen  gesucht, 
aber  ohne  Erfolg.  Das  ist  den  grossen  Literaten  der  Geschichte  der 
Medizin  unbekannt  geblieben. 

Nach  den  schon  erwähnten  sogenannten  Annalen  des  Sebastian  Braut 
(der  von  1458 — 1521  lebte  und  seit  1503  Ratsschreiber  war)*),  die  nicht 
von  Brant,  sondern  später  von  Wencker  aus  den  Ratsprotokollen  aus- 
gezogen und  vor  ihrer  Vernichtung  beim  Brande  1870  von  anderen  teil- 
weise abgeschrieben  waren "),  wurde  in  mehreren  Sitzungen  des  Rats  der 
21  von  Yeitstänzern  gesprochen.  Die  Ärzte  erklärten  es  für  eine  natür- 
liche Krankheit,    die    von  hitzigem  Geblüt    komme.     Indessen  'die  armen 


1)  Fischer  a.  a.  0.  —  2)  Adam  a.  a.  0.  —  3)  Gesch.  d.  Bistums  Strassbg.  18T'.\  — 
4)  Witkowski,  Allg.  Z.  f.  Psychiatrie  1879.  —  5i  Annales  de  Sebastian  Brant,  ur.  4398 
(Mitt.  d.  ües.  f.  Erhaltg.  d.  gcsch.  Denkm.  d.  Elsass,  2.  Folge,  Bd.  19;.    Strassbg.  1899. 


Geschichte  der  Tanzkrankheit  in  Deutschland.  IJt) 

leute'  wünschten,  dass  man  für  sie  Messe  lese  usw.  Der  Rat  schickte 
deswegen  zu  dem  bischöflichen  Vikarius,  der  antwortete:  „Dass  dis  im 
unnot  zu  sin  dünkt,  sondern  diwyl  die  Artz  anzeigen,  daß  es  eine  natür- 
lich krankheit  sy,  daß  man  auch  natürlich  mittel  mit  in  versuche,  aber 
domit  nit  nichts  beschehe,  woll  er  alle  Predikanten  beschickhen  und  in 
bevelhen,  daß  sie  öffentlich  in  cancellis  ermaneten  zu  betten  und  an- 
zurieffen,  daß  er  sin  gnad  und  barmherzigkeit  uns  sende ^)." 

Was    der  Rat    ausserdem  tat,    geht    aus    folgenden  Berichten   hervor. 

Die  sogenannte  Imlinsche  Familienchronik  der  Strassburger  Landes- 
bibliothek bringt  als  Zeugnis  eines  Zeitgenossen:  „Anno  1518  jar  8  tag 
vor  S.  maria  magdalena  hub  ein  frauw  an  zu  dantzen,  vnd  dan[a]ch  weren 
woll  6  tag  da  leiss  sey  meinw  y  [gnädigen  Herrn]  nach  St.  Vit  gehn 
Zabern  füren  da  war  sey  still,  vnd  die  will  sey  noch  uff  dem  weg  da 
fing  noch  mehr  an  zu  dantzen  bei  dem  y  [Magistrats-]  stall  also  daz  in 
4  tagen  bey  34  frauw  vnd  man  waren,  da  verbatten  meinw  y  [gnädigen 
Herrn]  die  drummeln  vnd  pfiffen  vnd  fürt  ein  teil  uff  die  gewererstub 
[Zunftstube  der  Gerber]  die  and  uff  die  Zimraerleutstub,  vnd  an  dem  and 
tag  da  leiss  man  sey  alle  nach  S.  Vit  füren  vnd  da  dantz,  und  in 
4  Wochen  wurden  Ir  mehr  denn  400  Dantzer"  '"*). 

In  der  handschriftlichen  Chronik  des  Daniel  Specklin,  der  1536  in 
Strassburg  geboren  wurde,  also  seine  Nachrichten  noch  von  älteren  Leuten 
haben  kann,  die  den  Tanz  erlebten,  heisst  es: 

„1518.  Da  erhub  sich  ein  dantz  von  iungen  und  alten  leutten,  die 
tantzten  tag  und  nacht,  dass  sie  nieder  fielen,  also  dass  über  100  zu 
Strassburg  auff  einmal  tanzten.  Da  gab  man  in  etliche  zunftstuben 
ein,  auch  auff  dem  Ross-  und  Kornmarckt  macht  man  gerüst 
und  bestellte  eigene  leutt  umb  lohn,  die  mussten  stets  mit 
ihnen,  tanzten  mit  trummen  und  pfeiffen;  es  half  alles  nichts. 
Viel  tanzten  sich  zu  tode.  Do  schickte  man  sie  hinder  Zabern  zu 
St.  Veit,  zum  holen  stein,  auf  waegen;  da  gab  man  ihnen  creuzle 
und  rothe  schuh,  und  macht  mess  über  sie.  An  den  schuhen  war 
unten  und  oben  creutz  mit  dem  chrisam  [geweihtem,  mit  Balsam 
gemischtem  SalböP)]  gemacht  und  mit  weywasser  besprengt  in 
St.  Veits  nahmen,  das  halff  ihn  vast  [sehr|  allen.  Und  kam  solches  viel 
leuth  an,  denen  man  St.  Veitstantz  fluchte,  lieft'  auch  viel  schelmenwerk 
mit  unter'"*). 

Wencker  hat  diesem  Bericht  1637  hinzu2:efüo't,  dass  man  den  Tänzern 
die  Zimmerleut-  und  Gerberstub  gab,  viel  nach  St.  Veit  schickte,  andere 
selbst  dahin  liefen    und  'also    dantzend    vor  dem  bild  niederfielen'. 


1)  Seb.  Brantl899.  —  2;  Witkowski  a.  a.  0.  —  3  M.  Lexer,  Mhd.  Haiulwörterbuch. 
Leipzig  1ST2.  —  4)  R.  Reuss,  Les  coUectanees  de  Daniel  Specklin,  architecte  de  la  ville 
de  Strasbourg,  nr.  221(;    Mitt.,  2.  Folge,  Bd.  14  .     Strassbg.  ISS'J. 


120  Martin: 

Wegen  der  dortigen  Behandlung  habe  man  die  Krankheit  S.  Vitstanz 
genannt^). 

Hermann  schreibt  1819  ohne  Quellenangabe,  dass  die  allgemeine 
Meinung  war,  wenn  man  in  St.  Veit  um  den  Altar  tanze,  werde  man 
von  der  ungeregelten  Leidenschaft  des  Tanzes  geheilt^). 

Hieraus  geht  hervor,  dass  der  Tanz  nicht  nur  die  Krankheit  selbst 
war,  sondern  man  ihn  auch  als  Heilmittel  benutzte,  der  Rat  öffentliche 
Tanzplätze  auf  Zunftstuben  und  Märkten  errichtete,  Musik  stellte,  den 
Kranken  gesunde  Mittänzer  gab,  dass  bis  zur  Bewusstlosigkeit  getanzt 
wurde.  Mit  deren  Eintritt  glaubte  man  die  Krankheit  beseitigt.  Viele 
starben  dabei,  den  andern  halfs  nicht. 

Ich  möchte  hier  daran  erinnern,  dass  man  bis  in  den  Anfang  des  19.  Jahr- 
hunderts erregte  Geisteskranke  in  besonderen  Apparaten  schüttelte,  drehte,  bis 
Schwächezustände  eintraten,  eine  scheinbare  Beruhigung  sich  einstellte. 

Und  bei  St.  Veit  gings  anders  her,  als  man  bisher  annahm,  vor  allem 
anders,  als  Hecker  annahm  (und  Hirsch  hat  die  Stelle  übernommen),  wenn 
er  schreibt:  „Nach  vollbrachtem  Gottesdienst  führte  man  sie  in  feierlichem 
Umzüge  um  den  Altar,  Hess  sie  von  ihrem  Almosen  ein  geringes  opfern, 
und  viele  mögen  durch  Andacht  und  die  Heiligkeit  des  Orts  von  trost- 
losem Irrwahn  genesen  sein.  Man  beachte  hier  wohl,  dass  sich  in  dieser 
Zeit  die  Tanzwut  au  den  Altären  des  Heiligen  nicht  erneute,  dass  man 
von  diesem  nur  Hilfe  flehte  und  von  seiner  Wundertätigkeit  die  Genesung 
hoffte,  welche  ausser  dem  Bereich  menschlicher  Einsicht  lag",  und  damit 
der  Strassburger  Epidemie  eine  Ausnahmestellung  zuweist.  In  Wirklich- 
keit tanzte  man  auch  in  St.  Veit  zu  Heilzwecken  (neben  der  Messe,  die 
gelesen  wurde)  um  den  Altar  in  besondern,  geweihten  roten  Schuhen,  die 
unten  und  oben  ein  mit  geweihtem  Ol  gemachtes  Kreuz  trugen,  doch 
wohl,  um  auf  die  tanzenden  Beine  einzuwirken.  Die  selbst  hinliefen, 
fielen  tanzend  vor  dem  Bild  des  Heiligen  nieder,  nach  meiner  Meinung 
ohne  gottesdienstliche  Handlung,  weil  keine  Priester  auf  St.  Veit  wohnten 
(die  deswegen  der  Rat  für  die  von  ihm  hingeschickten  Krauken  aus  Zabern 
kommen  Hess).     Das  half. 

In  der  aus  der  Specklinschen  Chronik  mitgeteilten  Stelle  wird  die 
vermeintliche  Ursache  des  Veitstanzes  wenigstens  für  viele  von  den 
Tänzern  angegeben.     Man  hatte  ihnen  St.  Veitstanz  geflucht. 

'Gott  geb  dir  Sankt  Veit'  oder  'Dass  dich  Sankt  Veit  ankäme',  waren 
damals  sehr  gebräuchliche  Verwünschungsformeln ^).  Die  letztere  Formel 
kommt  bei  elsässer  Schriftstellern  des  15.  und  IG.  Jahrhunderts  häufig 
vor*),  und  im  Rottweiler  Stadtrecht  heisst  es  1485: 


1)  Schnegans  1892.  —  2)  Notices  historiques,  Strassburg  1811).  —  ;>;  Adam  18;»7.  — 
4)  Fischer  1868. 


Geschichte  der  Tanzkrankheit  in  Deutschland.  121 

„Item  welcher  den  andern  unzüchtigklich  schultet  oder  fluchet,  den  ritten 
[das  Fieber]  sant  Vitstantz  oder  derglychen  wort,  der  sol  verfallen  sin  .3  sh.  h.  )." 

Ich  habe  noch  weiter  von  der  Strassburger  Epidemie  zu  berichten, 
denn  waren  auch  die  nach  St.  Veit  Geschickten  geheilt,  so  kamen  neue 
Fälle  vor. 

In  den  Brantschen  Annalen  heisst  es  weiter:  „5a  Mariae  Magdalenae. 
Item  als  etlich  frauen  und  knaben  den  bössen  dantz  tantzen,  soll  die 
termeu(?)  abstellen  und  heimlich  seitenspiel  haben  ^)."  Was  mit  termen 
gemeint  ist,  weiss  man  nicht.  Nach  diesem  Beschluss  wurde  aber  nicht 
mehr  zu  Heilzwecken  öffentlich  mit  Musik  getanzt,  sondern  es  sollte 
heimlich  geschehen. 

Weiter  heisst  es  in  den  Annalen:  „Darnach  ufp  4a  post  Laureutii 
[10.  August]  ist  erkannt  den  zünfften  zedel  zu  schicken  dass  jedermann 
sin  kiud  und  die  sinen  verwart  und  die  bruderschafFten  ir  brüder  in  ihren 
kosten  undersuchten  oder  zu  den  heyligen  schickten." 

Im  Stadtarchiv  zu  Strassburg  finden  sich  sechs  gleichlautende,  undatierte  Be- 
kanntmachungen, die  wohl  zum  Verteilen  an  die  Zünfte  bestimmt  waren:  „Aissich 
yetzt  die  kranckheit  des  dantzens  wider  erhept  unnd  zu  besorgen  von  tag  zu  tag 
meren  möcht,  do  habent  unser  herren  rete  und  XXI.  erkandt,  das  eyner  yeden 
bruderschafft  buchssenmeistere,  die  jhennen  so  inn  irer  bruderschafft  sindt  und  mit 
solcher  krankheit  beladen  werden,  versorgen,  und  versehen,  das  die  nyder  ge- 
tüschet  oder  zu  dem  heiligen  santViten  gefürt  werden,  und  inen  keynerley  seytten 
oder  fröydenspiel  gebrachen,  cleynötter  oder  hübsche  cleyder  uff  oder  anthün,  ouch 
sie  nirgent  lossen,  uff  den  gassen  louffen,  dann  welche  brüderschafft  oder  buchssen- 
meistere solchs  verbrechent,  die  wöUent  unser  herren  darumb  straffen,  unnd  ir 
ernstliche  hut  darufif  setzen,  des  wiß  sich  menglich  zu  halten."  (Archiv  der  Stadt 
Strassburg  G  U  P  200.) 

Hier  wurde  nun  die  ursprünglich  vom  Rat  angewandte  ]\Iethode,  durch 
Musik  und  Tanz  zu  heilen,  gänzlich  verboten,  dafür  sollten  die  Kranken 
niedergetuscht  oder  nach  St.  Veit  geschickt  werden. 

Dann  finden  wir  wieder  Kranke,  wahrscheinlich  Arme,  und,  im  Gegen- 
satz zu  früher,  im  Spital.  Im  Anschluss  an  deren  Sendung  nach  St.  Veit 
brachte  der  dankbare  Rat  dem  Heiligen  ein  gewaltiges  Opfer  dar,  nach- 
dem er  noch  vorher  beschlossen  hatte,  die  Leichtfertigen  eine  Zeit  lang 
aus  der  Stadt  zu  weisen: 

.,Item  die  verordneten  herren  bringen  an  des  tantzens  halb.  Erk,  in  Unser 
Frauen  capell  mittwuch  ein  herrlich  amt  halten,  porro  erkant  die  tantzent  im 
Spittal  zu  dem  heiligen  schicken  und  ein  opfer  von  der  ganzen  Statt  wegen  dem 
heiligen  bringen.  Die  leichtfertigen  der  Statt  ein  zitlang  verwisen,  darauf  die  hh. 
bedacht  des  opfers  halb  zu  St.  Viten."  „Herren  bringen  ihren  bedacht  des  opffers 
halben  zu  St.  Viten,    dass    man    ein  wäccen  bild    eines    centners  schwer  mit  dem 


1    Greiner,    Das  älteste  Recht  der  Stadt  Rottweil.     Stuttgart  1900.    —   2)  Wencker, 
Extractus  1892. 


l<22  Martin: 

rentmeister  oder  kornmeister  zu  St.  Viten  schicke  für  ein  opffer,  oder  aber  das- 
selbig  wächseriii  bild  auf  einen  altar  im  Münster  stelle  und  da  ehre  bis  die  neu 
capell  ausgemacht,  dann  einen  altar  in  derselben  capellen  in  St.  Viten  ehren 
weyhen  lassen.  Erkt.  den  zentner  wachs  zu  einer  kerzen  machen  und  zu  dem 
lieben  heyligen  mit  dem  Rentmeister  schicken,  und  ein  singent  erlich  ampt  und 
3  neben  messen  lassen  lesen  von  wegen  des  ganzen  Raths  und  gemeiner  Statt 
wegen.     Dienstag  post  Adolphi  ['2\l  September] ')." 

Die  Krankheit  hielt  trotzdem  noch  an,  nnd  der  Rat  drohte  energischer 
mit  Strafen: 

„Als  dann  die  kranckheit  mit  dem  dantzen  sich  leider  nit  enden  will,  do 
haben  unser  herren  rät  und  XXI  erkant  daz  ein  jeder  burger  sin  kind,  der  massen 
behafft,  und  gesind  die  daz  vermögen,  inn  iren  husern  behalten  und  zutuschen  soll: 
wo  aber  ein  dienstknecht  also  behafft  wurt,  sollen  die  brüderschaftmeister  sins 
hantwercks,  inn  der  bruderschaft  costen,  denselben  verwaren  oder  zu  dem  heiligen 
Sant  Viten  ('dem  heiligen  Sant  Viten'  durchgestrichen  und  dafür  steht 
'den  heiligen,  wo  inen  geliebt')  schicken,  domit  sie  nit  also  öfflich  uff  der 
gassen,  zu  beswernis  anderer  menschen,  sich  des  dantzens  annemen,  dann  welcher 
den  sinen  nit  also  verwaret,  den  wollen  unser  herren  darumb  heffteklich  straffen.'" 
(Archiv  der  Stadt  Strassburg  G  Ö  P  200.) 

Ob  sämtliche  Schriftstücke  zeitlich  so  aufeinander  folgen,  weiss  ich 
nicht.  Jedenfalls  heisst  es  in  dem  einen  'zu  den  heyligen'  und  im  letzten 
deutlich  'zu  den  heiligen,  wo  inen  geliebt',  nachdem  vorher  der  heilige 
A^eit  bei  Zabern  allein  an  der  Stelle  gestanden  hatte.  (Über  andere 
Heilige  in  der  Nähe  siehe  später  unter  Tanzkrankheit  nach  1518.)  Das 
werden  wohl  die  letzten  Schriftstücke  gewesen  sein.  Dass  die  einzelnen 
Katsmitglieder  den  heiligen  Veit  bei  Zabern  verschieden  bewerteten,  geht 
aus  den  stark  voneinander  abweichenden  Vorschlägen  zur  Ehrung  des 
Heiligen  hervor.  Das  Zutrauen  war  nicht  mehr  das  alte,  und  Wencker 
sagt  1637:  'Da  maus  anfing  aus  Gottes  wort  zu  widerlegen,  liss  alles 
nach^).'  Er  setzt  Gottes  Wort  dem  heiligen  Veit  entgegen  und  meint 
wohl  den  Einfluss  der  Reformation. 

Der  Strassburger  Veitstanz  begann  demnach  acht  Tage  vor  Maria 
Magdalentag  ('iL'.  Juli),  also  am  15.  Juli,  und  dauerte  weit  länger,  als  man 
bisher  annahm,  mindestens  bis  nach  Adolphi,  dem  29.  September  löliS. 

Anlagen  zum  StrassburiS^er  Veitstanz. 
I. 

„Vff  Fritag  post  Marie  Magdalene  in  presentia  Herrn  Gladi  Bocklin,  Caspar 
Hoffraeisters  vnd  Martin  Berlin  als  verordent  Herren  ist  geratslagt  der  armen 
menschen  halb  so  izt  dantzen. 

Haben  sy  anfenglich  gcradtslagt  die  Burger  so  kind  daby  haben  zu  beschicken 
vnd  sagen,  das  sy  jr  kind  versorgen  by  jn  haben  oder  aber  nach  anzall  costen 
mittheilen. 


1^  Wencker,  Extractus  1892.  -  2)  Schnegans  1802. 


Geschichte  der  Tanzkrankheit  in  Deutschland.  125 

Staden  Jerg  daruff  beschickt  vnd  jra  solchs  furgehalten,  sagt,  er  sy  selber  ein 
armer  dienstknecht,  sy  in  sym  vermugen  nit  jn  zu  jra  zu  halten  und  nemen,  bit 
aber  jn  by  den  andern  zu  behalten,  oder  zu  dem  Heiligen  zu  füren,  wil  er  nach 
sym  vermiegen  nach  miner  Herren  erkantnus  vnd  willen  leben.  Sin  mume  hab 
auch  dem  knaben,  sim  son  XV.  ß  gesamlet,  die  haben  die  uff  der  Zimmerlüt 
Stuben  hinder  sich  genomen. 

Wither  geradtslagt  die  armen  personen  in  dry  huffen  theilen  vnd  nach  ein- 
ander zu  dem  Heiligen  schicken,  vnd  so  es  sin  mag  dry  gesungen  Empter  singen 
lassen,  so  nit,  eins  singen  vnd  zwey  lesen  lassen,  von  eim  Ambt  XVJII  Pfenning 
geben  für  eins,  darzu  1.  pfenning  zu  pfrymen')  vnd  1.  pfenning  zu  opfern  dem 
Heiligen  geben,  vnd  1.  pfenning  in  stock  für  das  opffer. 

Balthasar  Burgawer  der  Lermeistcr  hinder  den  Barfußen  beschickt  vnd  jm 
solchs  ouch  furgehalten.  Sagt,  sin  Son  Bernhart  hab  zugesehen  und  hüt  morgen 
angefangen  dantzen,  do  er  jm  die  kindt  solt  helfl'en  vnderwisen;  hab  er  jn  ge- 
dutzset  bitz  nachmittag,  nach  den  zweyen  hab  er  zu  dem  dantz  geweit,  hab  jn 
dohin  müssen  füren.  Erbüt  sich  nachmals  sin  costen  so  uff  sin  Son  godt  ußzu- 
richten,  dan  er  dhein  Prauw  noch  gesind  hab,  könne  ouch  von  sin  lerkinden  nit  wichen. 

Antheng  Silinger  der  Wagener  Apolonigen  Hußwürt  so  dantzt,  uff  der  Zimer- 
lut  Stuben  befragt,  Er  sy  uß  der  Erne  kommen,  sy  sin  frauw  in  der  stuben  ge- 
standen vnd  uffgehüpfft,  hat  sy  dryer  gefragt,  wie  jr  sy,  vnd  geachtet,  sy  wer 
abermals,  als  sy  dan  vormals  ouch  gewesen,  von  Sanct  Martzolff  [Epilepsie]  be- 
laden, vnd  nider  gedutscht  vnd  nach  die  armen  lüte  mit  einer  Sackpfiffen  kommen, 
sy  sy  uffgewust  vnd  jn  nachgelouffen,  wol  gern  sin  frauw  do  hinfüren,  sy  sonst 
ein  arme  mensch. 

Item  Hanß  Eckart  von  Brüssel  got  dem  Almusen  noch,  hat  ein  Dochter  by 
dantz,  genant  Apolonia,  Sagt,  er  sy  ein  armer  alter  gebrochner  Man,  wil  aber  gern 
die  dochter  hin  zum  Heiligen  füren,  wen  es  min  Herren  wellen,  vnd  als  er  ein 
armer  s wacher  man,  haben  jm  die  Herren  miner  Herren  meynung  gesagt  vnd  er- 
laubt heim  zu  gon. 

Karle  Schansleben  [Lesart  zweifelhaft]  sins  sons  halb  beschickt,  sagt  er  sy 
ein  armer  gesel,  sy  mer  schuldig,  dan  er  in  lip  und  gut  hat. 

Dem  Schaffner  im  spital  gesagt,  gerust  zu  sin  mit  dry  pferden  und  1  wagen 
und  warten  uff  die  subent  ure  uff  bescheidt.  Dem  Schaffner  uf  unser  frauenhus'-') 
gerust  zu  sin  mit  2  wegen  und  in  jden  dry  pferd. 

Dilchin  und  Heintz  zum  ersten  huffen,  Peter  von  Rixingen  zum  andern  huffen 
und  Pantaleon  zum  dritten  huffen  zu  ritten  verordnet.  Hans  Wagner  zum  ersten, 
Jacob  Buckenheim  zum  andern  und  Barthel  Schryner  zum  dritten  huffen.  Und 
denselben  bevelch  geben  zu  handeln  lut  ingelipter  instruction." 

Strassburgcr  Stadtarchiv  G  U  P  200,  Bei  Schilter  unvollständig  und  mit  sinn- 
störenden Fehlern. 

II. 

„Instruction  der  armen  dantzen[den]  Personen  so  zu  Sant  Vit  ge- 
schickt. Veneris  post  Magdalene  etc.  XVIH.  Gedencken  angfenglich  die  armen 
menschen  in  den  dryen  huffen,  wie  sy  dan  gerodt  [soll  wohl  heisscn:  „in  Rotten 
eingeteilt"]  werden,  zu  behalten. 


1  Bedeutung  von  'pfrymen'  ist  unklar.  Vgl.  Scherz,  Glossarium:  Brinckmeyer, 
Glossarium  diplomaticum  etc.  —  2  Das  Frauenhaus  oder  Stift  Unser  Frauen  Werk  diente 
zur  Bauuntcrhaltun«-  des  Münsters. 


124  Martin: 

Vnd  das  die  knecht  so  uff  die  armen  lüt  bescheiden,  derselbigen  warten  vnd 
by  jn  bliben. 

Vnd  so  sy  gon  Zabern  nohen,  der  ein  zu  Zabern  in  ryten  vnd  do  dry  oder 
vier  Priester  mit  rat  des  Dechans  zu  Zabern,  bestellen,  die  do  ider  Rotten  in- 
sonders  noch  einander  gesungen  empter  halten. 

Vnd  wann  je  ein  Ambt  einer  rotten  gesungen,  sollen  dieselbigen  armen  lüt 
in  derselbigen  rotten  umb  den  Altar  gefürt  werden,  vnd  ein  iedes  kranckes  mensch 
ein  pfennig  pfrymen,  desglichen  dornach  ouch  opfern,  vnd  so  ein  person  nit  so 
geschickt  wer,  das  es  solchs  thun  mecht,  sol  der  jhin  so  es  umb  den  altar  fürt, 
für  jn  darlegen. 

Vnd  also  demnach  je  ein  Kot  nach  der  andern  also  vrabgefürt  und  gehalten 
werden. 

Vnd  wan  die  dry  empter  also  volbracht,  sollen  sy  Erlich  nach  rat  des  Dechans 
usgericht  werden. 

Daryn  jdes  armes  mensch  1  pfennig  in  den  stock  geben,  vnd  solchs  von  dem 
almusen  gelt,  so  den  armen  lüten  geben  ist,  ußrichten. 

Vnd  was  uberig  blibt  in  den  stock  ouch  stossen." 

Auf  der  Rückseite:  „üantzende  arme  personen  sozuSanctVit  zum  Holenstein 
geschickt." 

Strassburger  Stadtarchiv  G  U  P  200.  Bei  Schilter  unvollständig  und  mit  Lese- 
fehlern, dann  aus  Schilter  bei  Boersch  und  bei  Häser  (über  deren  Abänderungen 
siehe  oben). 

2.  Die  Tauzkrankheit  nach  1518. 

Dieselbe  Methode  des  Niedertanzens  mit  Ausschluss  der  Hilfe  eines 
Heiligen,  wie  sie  anfänglich  der  Strassburger  Rat  gebrauchte,  wandte 
einige  Zeit  später  die  Stadt  Basel  an.  Der  dortige  Professor  Felix 
Plater,  der  1536  geboren  wurde ^),  erzählt  in  seinen  Observationen  unter 
St.  Yits  Dantz: 

„Als  ich  noch  ein  Knabe  war,  wurde  eine  an  dieser  schrecklichen  Krankheit 
leidende  Frau  aus  dem  niedern  Volk  der  Aschenvorstadt  hier  zu  Basel  zu  einem  Hause 
zum  Rupff  [in  seiner  Praxis  medica  sagt  er  'an  einen  öffentlichen  Ort'"'^)],  nicht  weit 
vom  Hause  des  Vaters,  von  den  Stadtdienern  geführt,  welchem  Weibe  die  Obrigkeit, 
wie  ich  in  meiner  Praxis^)  bemerkt  habe,  einige  starke  Männer  bestimmte,  welche 
abwechselnd  (wenn  einer  müde  geworden,  folgte  der  andere)  mit  ihr  Tage  und 
Nächte  tanzten,  was  beinahe  den  Zeitraum  eines  Monats  unter  dem  Zuschauen  vieler 
mit  seltener  Unterbrechung  dauerte,  obgleich  die  Haut  ihrer  Fasse  abgerieben  war. 
Und  wenngleich  sie  bisweilen,  um  Speise  zu  nehmen  und  vom  Schlaf  ergriffen,  zu 
sitzen  gezwungen  war,  bewegte  sich  dennoch  durch  unruhige  Haltung  und  Be- 
wegung zeitweise  nichtsdestoweniger  der  Körper  wie  tanzend,  bis  sie  nach  Verlust 
ihrer  Kräfte,  sodass  sie  nicht  einmal  mehr  stehen  konnte,  mit  dem  Tanz  aufzuhören 
genötigt  war  und  ins  Hospital  gebracht  wurde,  wo  sie  gekräftigt  und  allmählich 
wieder  gesund  geworden  ist'')."     (Übersetzung  aus  dem  Lateinischen.) 


1)  J.  Pagel,  Einführung-  in  die  Gesch.  d.  Medizin.  Berlin  1898.—  2  Felicis  Plateri 
praxeos  medicae  opus.  Basel  KIGG.  —  )1;  Observationum  Felicis  Plateri  quondam  archiatri 
et  profess.  Basil.  libri  tres.     Basel  1680. 


Geschichte  der  Tanzkraiikheit  in  Deutschland.  125 

Grossi)  bringt  in  seiner  Basler  Chronik  einen  Auszug  dieses  Berichtes  unter 
Zugrundelegung  der  ersten  Ausgabe  der  Observationen,  während  ich  eine  spätere 
benutzte.  Dem  Grossschen  Auszug  nach  sollen  die  von  der  Obrigkeit  verordneten 
Männer  in  roten  Kleidern  und  mit  weissen  Federn  auf  dem  Hute  getanzt  haben. 
Es  wäre  nachzuprüfen,  ob  das  bei  Plater  ursprünglich  stand  oder  von  Gross  hinzu- 
gefügt ist,  weil  auch  zu  St.  Veit  bei  Zabern  die  rote  Farbe  (rote  Schuhe)  eine 
Rolle  spielte. 

Während  Gross  richtig  angibt,  dass  der  Tanz  in  der  Kindheit  Platers  geschah, 
und  bemerkt,  den  Bericht  habe  er  aus  den  1614  ausgegangenen  Observationen 
genommen,  verlegt  Böhme^)  unter  Hinweis  auf  Gross  den  Tanz  ins  Jahr  1615. 
Wir  müssen    ihn    am  Anfang  der  vierziger  Jahre  des    16.  Jahrhunderts  annehmen. 

Ich  lasse  nun  die  Berichte  folgen,  bei  denen  Heilige  in  Frage 
kommen. 

Philipp  Camerarius  (geb.  1537  in  Tübingen,  seit  1573  Rats- 
konsulent  in  Nürnberg,  hier  1624  gestorben)^)  schreibt  1610,  als  er  von 
Tanzkrankheiten  im  allgemeinen  gesprochen  hat: 

„Aber  damit  wir  nicht  zu  viel  Beispiele  bringen,  ich  denke  an  die  bei  uns, 
die  nicht  vor  langem  [vielleicht  die  Strassburger  oder  die  nachher  geschilderten 
in  Schwaben]  geschah  und  die  im  untern  Deutschland  [hier  ist  die  Epidemie  im 
14.  Jahrhundert  gemeint],  die  einstmals  stattfand,  die  durch  eine  Raserei,  welche 
das  Volk  die  Krankheit  des  heiligen  Veit  oder  Modestus  [Lehrer  des  hl.  Veit], 
wir  in  unserer  Gelehrtensprache  Veitstanz  nennen,  Verwirrung  brachten  ...  Es 
wird  wirklich  noch  jetzt  eine  Kapelle  auf  einem  Berge  bei  der  Stadt  Ravensburg 
in  Schwaben  gezeigt,  auf  welchem  eine  berühmte  Burg  [die  Stammburg  der 
Weifen]  erbaut  ist,  der  nach  St.  Veit  heutigen  Tags  genannt  wird  [heute  heisst 
der  Berg  nicht  mehr  Veitsberg,  sondern  Veitsburg],  weil  in  einzelnen  Jahren 
vor  nicht  so  langem  die  Schar  der  Tanzenden  gleichsam  jenem  Heiligen 
Opfer  brachte,  mit  dessen  Hilfe  gesund"  wurde  und  gewohnt  war,  hierher  mit 
Tanzen  Zuflucht  zu  nehmen.  Aber  da  der  Zutritt  verhindert  wurde  und 
jene  Kapelle  zu  anderem  Gebrauch  bestimmt  wurde,  hörte  der  Zulauf  bis  jetzt 
auf*)."     (Übersetzung  aus  dem  Lateinischen.) 

Ziemliche  Verwirrung  hat  eine  Beschreibung  von  Schenk  von  Grafen- 
berg^)  gegeben.  Er  lebte  von  1530  bis  1598  und  war  Stadtarzt  seiner 
Vaterstadt  Freiburg  im  Breisgau*). 

Er  berichtet  zunächst,  dass  'nach  der  Erinnerung  unserer  Väter'  damals  lange 
und  heftig  eine  furchtbare  Art  des  Wahnsinns  sowohl  anderswo  als  besonders  in 
Deutschland  wütete.  Und  dann  beschreibt  er  deutlich  und  ziemlich  eingehend 
die  Epidemie  im  14.  Jahrhundert  und  kürzer  den  Strassburger  Veitstanz,  ohne 
allerdings  Ort  und  Zeit  zu  nennen.  Er  trägt  auch  Nachrichten,  die  wir  vom 
Tarantismus  haben  (z.  B.  das  blinde  Hineinstürzen  in  Gewässer),  in  den  deutschen 
Veitstanz  hinein. 


1)  Joh.  Gross,  Kurtze  Basier  Chronik.  Basel  1614.  —  2)  Franz  M.  Böhme,  Geschichte 
des  Tanzes  in  Deutschland.  Leipzig:  1886.  —  o)  Allg.  Deutsche  Biographie  3.  J^eipzig 
187().  4)  Ph.  Camerarius,    Operae  horariim  subcisivanim,    sive  meditationes  historicae. 

Centuria  altera.     Frankfurt  KlOl.    —    5)  Joannis  Schenckii    a    Grafenberg    observationum 
medicariim  variarum  libri  VII.     Frankfurt  1665.    —    6)  Hecker-Hirsch  a.  a.  0. 


■^2Q  Martin: 

Da  Hecker^)  die  Vorgänge  für  das  IG.  und  den  Ausgang  des  15.  Jahr- 
hunderts gelten  lässt,  den  Strassburger  Veitstanz  auf  1418  festsetzt  und  ihn 
anders,  als  er  wirklich  war,  schildert,  so  gibt  er  uns  von  der  im  Laufe  der  Zeit 
geschehenen  Änderung  im  Wesen  der  Tanzkrankheit  ein  falsches  Bild. 

Leider  ersieht  man  bei  Schenk  den  Übergang  von  der  Zeit  der  Yäter 
zu  seiner  Zeit  nicht  deutlich. 

Durch  'neuere  Beispiele'  ist  belegt,  „dass  schwangere  Frauen,  den  übergrossen 
Leib  mit  erweitertem  Gurt  umspannt,  auf-  und  niederwärts  ohne  Schaden  für  die 
Frucht  in  auffallenden  Sprüngen  unter  den  andern  dahinliefen.  Die  Unsrigen  ver- 
sichern, dass  dies  [Tanzen]  auch  durch  Musikinstrumente  so  in  Bewegung  gesetzt 
und  hervorgerufen  werde,  dass  der  Magistrat  aus  öffentlichen  Mitteln  nicht  sowohl 
Pauker  und  andere  Musiker  beordert  hat,  als  auch  einige  sehr  starke  Leute,  welche 
die  Tänze  durch  Führen  der  Rasenden  solange,  bis  die  Wut  ausgetobt  hatte,  aus- 
trieben. Die  Unsrigen  wurden  auch  beobachtet,  wie  sie  oft  ihre  eigenen  Kleider 
zerrissen.  Aber  die  mit  Rot  Bekleideten  halten  sie  für  so  feindlich,  dass  sie  die 
schon  von  weitem  Erblickten  anzufallen  und  feindlich  anzugreifen  sich  bemühten, 
wenn  sie  nicht  gehindert  wurden.  Daher  ist  es  ernstlich  zu  vermeiden,  dass  jemand 
mit  Rotem  bekleidet  sich  erblicken  lässt  und  eine  weitere  Gelegenheit  zur  Raserei 
bietet.  Einen  Grund  zu  dieser  Antipathie  kann  niemand  leicht  nennen.  Die 
Reicheren  führen  auf  eigene  Kosten  Begleiter,  welche  aufpassen,  dass  nicht 
andern  oder  ihnen  selbst  eine  Gefahr  zustosse,  welche  gleichsam  als  Tanzführer 
die  Reigen  der  rasenden    Genossen   leiten." 

Dann  kommt  wieder  eine  Stelle  aus  der  Epidemie  des  14.  Jahr- 
hunderts. Und  weiter  sagt  er,  es  sei  auch  sicher,  dass  die  meisten  vom 
Veitstanz  so  geschwächt  und  von  gebrochenen  Kräften  sind,  dass  sie  oft 
kaum  durch  belebende  Mittel  wiederhergestellt  werden  können. 

Schliesslich  berichtet  er  Lokales:' 

„Die  Unsrigen  nehmen  auch  zu  heiligen  Helfern,  zum  heiligen  Veit  oder  zu 
Johannes  dem  Täufer  ihre  Zuflucht  in  der  Hofl'nung,  die  Gesundheit  zu  er- 
langen. Die,  welche  in  unserm  Breisgau  und  der  Nachbarschaft  dieser  Raserei 
unterworfen  sind,  kommen  alljährlich  am  Vorfeste  Johannes  des  Täufers 
an  zwei  Heiligtümern,  das  eine  ist  in  Blessen,  dem  heiligen  Veit  geweiht  und 
Breisacher  Herrschaft,  das  andere  sehr  nahe  bei  W  äsen  weil  er,  aber  diesseits 
des  Rheins  gelegen  und  dem  heiligen  Johannes  dem  Täufer  geweiht,  zusammen, 
wo  die  eilig  Herbeigeeilten  sich  nach  deutschem  Reigen  [also  zum  deutschen 
Tanz,  der  später  Allemande  genannt  wurde]  ordnen,  sei  es,  dass  sie  durch  ein 
abzuleistendes  Gelübde  gehalten  werden,  sei  es,  weil  sie  von  jenen  Heiligen  Hilfe 
zur  Unterdrückung  ihrer  Raserei  erhoffen.  Und  worüber  man  sich  wundert,  sie 
gehen  allgemein  in  jenem  Monat,  welcher  dem  Feste  des  heiligen 
Johannes  vorausgeht,  sehr  traurig,  furchtsam,  ängstlich,  nur  mit  ge- 
drücktem Geist  einher  und  spüren  am  ganzen  Körper  rupfende  und 
gleichsam  hüpfende  Schmerzen  wie  Vorspiele  und  Zündstoff  dieses 
Übels.  Sie  sind  davon  überzeugt,  dass  sie  im  übrigen  nie  beruhigt  und 
befreit  werden  würden,  wenn  sie  nicht  durch  Tanzen  bei  der  Stätte 
des  Heiligen  diese  Krankheit   herausschütten  könnten,  indem  der  Erfolg 


1)  Hecker-Hirsch  a.  a.  0, 


Geschichte  der  Tanzkrankheit  in  Deutschland.  127 

die  Sache  bestätigt.  Freilich  werden  sie  nach  Vollendung  dieser  jährlichen 
Tanzereien,  welche  sie  vorzüglich  im  Zeitraum  von  drei  Stunden  vor- 
nehmen, in  der  Regel  von  dieser  Raserei  im  selben  Jahr  frei  gesehen^)".  (Über- 
setzung aus  dem  Lateinischen.) 

Horstius^)  (geb.  1578  in  Torgau,  von  1608  — 1G22  Professor  in  Giessen, 
später  Stadtphysikus   in  Ulm,  wo  er  1636  starb, ^)  schreibt: 

„Ich  entsinne  mich,  im  vorigen  Frühjahr  mit  einigen  Frauen  gesprochen  zu 
haben,  welche  alljährlich  die  St.  Veitskapelle,  die  in  Drefelhausen  ist, 
nicht  weit  von  Geislingen  bei  Weissenstein  im  Ulmer  Gebiet  in  Rechberger 
Herrschaft,  besuchen  und  dort  Tag  und  Nacht  mit  verwirrten  Sinnen  tanzen, 
bis  sie  in  Ekstase  zusammenbrechen,  auf  welche  Weise  sie  wieder  hergestellt 
erscheinen,  dass  sie  ein  ganzes  Jahr  hindurch  wenig  oder  nichts  spüren  bis  zum 
nächsten  Mai,  wo  sie  durch  Unruhe  der  Glieder  gequält  werden,  wie 
sie  berichten,  dass  sie  wieder  gezwungen  werden,  sich  um  die  Zeit  des  heiligen 
Veits  festes  zu  dem  genannten  Ort  des  Tanzes  wegen  zu  begeben,  wie  eine  von 
diesen  Frauen  20  und  mehr,  eine  andere  32  Jahre  hindurch  dort  jährlich  getanzt 
haben  soll  .  .  .  Ich  habe  ein  ehrbares  Mädchen  kennen  gelernt,  die  Tochter  eines 
Kaufmanns  in  dieser  Gemeinde,  welche  schon  einige  Jahre  hindurch  zur  Frühjahrs- 
zeit mit  einer  allerdings  leichten  Geistesstörung  an  einer  ähnlichen  Affektion 
leidet,  dass  sie  unruhig  bald  dies,  bald  das  Glied  zu  bewegen  gezwungen  wird, 
indem  öfter  auch  die  Zunge  und  das  Sprachvermögen  unterbrochen  ist,  die  von 
einer  Stelle  zur  andern  bald  hierhin,  bald  dorthin  bewegt  wird,  was  durch  einige 
^^'ochen  in  einzelnen  Jahren  Tag  und  Nacht  anhält.  Ich  fürchte  sehr,  dass  hier 
noch  etwas  Schwereres  zu  erwarten  ist.  Obgleich  ich  von  einigen  Autoren  weiss, 
dass  sie  am  Veitstanz  nichts  Konvulsivisches  zugeben  wollen,  im  Gegensatz  zu 
den  arabischen  Autoren,  insofern  ihnen  eine  geistige  Erkrankung  vorzuliegen 
scheint,  wodurch  der  perverse  Drang  und  das  Verlangen  nach  Tanz  entsteht,  so 
stelle  ich  nichtsdestoweniger,  wenn  jenen  Frauen,  mit  welchen  ich  über  die  Sache 
im  vergangenen  Frühling  geredet  habe,  Glauben  beizumessen  ist,  fest,  dass  hier 
konvulsivische  Bewegungen  statthaben,  zumal  sie  versicherten,  dass  sie  während 
mehrerer  Wochen,  ehe  sie  zur  St.  Veitskapelle  kamen,  an  spannenden  Schmerzen 
aller  Glieder  zusammen  mit  von  selbst  eingetretener  Mattigkeit  und  Schwere  des 
Kopfes  gelitten  hätten,  worin  sie  verblieben  wären,  bis  sie  zum  gewohnten 
Tanzort  hinzutretend  das  Musikinstrument  gehört,  das  für  sie  ge- 
schlagen wurde,  wo  sie  mehr  und  mehr  im  Geiste  verwirrt  (vielleicht  durch 
das  hinzutretende  seelische  Einwirken  der  stärkeren  Einbildung,  die  Hoffnung 
auf  Genesung)  zu  tanzen  gezwungen  wurden".  (Übersetzung  aus  dem  Latei- 
nischen). 

Als  neu  kommt  jetzt  liinzu,  dass  auch  Johannes  der  Täufer  Krank- 
lieitspatron  war,  und  vor  allem,  dass  nicht  nur  eigentliche  Tanzkranke 
zur  Heilung  tanzten,  sondern  auch  sonst  anscheinend  Güesimde,  die  an  ge- 
wissen Tagen  tanzten,  am  Johannistag  (24.  Juni)  und  am  Veitstage 
(15.  Juni),  worüber  später  noch  berichtet  wird,  um  von  allerlei  un- 
angenehmen Empfindungen   in  den  Muskeln    und    seelischer  Verstimmung 


1)  Schenck  a.  a.  0.  —  2)  Gregorii  Horstii  observationum  medicinalium  singularium 
libri  quatuor.  Ulm  1625.  —  3)  Hirsch,  Biogr.  Lexikon  der  hervorragenden  Ärzte  3.  Wien 
und  Leipzig  188(i. 


128  Martin: 

befreit  zu  werden.     Diese    krankhaften  Veränderungen    stellten  sich  aber 
erst  ein,  wenn  der  Tanztag  herannahte. 

Sind  die  eigentlichen  Tänzer  Leute,  die  die  Zwangshandlung  des 
Tanzens  vornehmen,  so  haben  wir  es  hier  mit  Krauken  zu  tun,  die  unter 
dem  Zwangsgedanken  stehen,  am  Johannis-  oder  Veitstag  tanzen  zu 
müssen.  Von  der  Zwangsidee  zur  Zwangshandlung  ist  nur  ein  kleiner 
Schritt  und  die  Krankheit  in  beiden  Fällen  dieselbe,  der  Veitstanz.  Das 
möchte  ich  Wicke  ^)  gegenüber  hervorheben,  der  meint,  dass  die  zu  den 
Kapellen  wallfahrenden  Kranken  keine  Veitstänzer  waren  (siehe  später 
Brueghels  Bild,  das  das  Gegenteil  beweist),  der  Veitstanz  sei  hier  nur 
Heilmittel  gewesen. 

In  Italien,  namentlich  in  Apulien  [dem  Stammlande  des  hl.  Veit],  haben  wir  eine 
Parallele  des  Veitstanzes  im  Tarantismus.  Die  ersten  Nachrichten  darüber  stammen 
aus  dem  15.  Jahrhundert,  es  wird  aber  da  schon  von  ihm  als  einem  bekannten 
Übel  gesprochen.  Die  von  der  Tarantel  Gebissenen,  oder  die  sich  gebissen 
glaubten,  verfielen  gewöhnlich  in  Trübsinn  und  waren  wie  betäubt,  ihres  Verstandes 
kaum  mächtig.  Bei  den  ersten  Tönen  der  Musik  sprangen  sie  aber  jauchzend 
vor  Freude  auf  und  tanzten  ohne  Unterlass  so  lange,  bis  sie  erschöpft  und  halb 
leblos  niedersanken.  Es  bestand  der  Glaube,  jedes  Jahr  wieder  tanzen  zu  müssen, 
und  so  wurde  die  Heilung  der  'Tarantati'  ein  wahres  Volksfest,  das  man  mit  un- 
geduldiger Freude  erwartete.  Man  nannte  die  Zeit  des  Tanzes  und  des  Spiels 
—  die  Sommermonate  —  im  17.  Jahrhundert  den  kleinen  Karneval  der  Frauen, 
weil  diese  meist  ergriffen  waren  ^). 

Was  war  überhaupt  der  Veitstanz  für  eine  Krankheit,  und  wer  waren 
die  Veitstänzer? 

Der  Veitstanz  als  Krankheit,  mit  dem  wir  es  zu  tun  haben,  ist  eine 
Hysterie.  Er  heisst  auch  der  grosse  Veitstanz  und  führt  den  wissen- 
schaftlichen Namen  Chorea  hysterica  rhythmica^).  Sicher  fanden  sich 
unter  den  Veitstänzern  auch  ausgesprochen  Geisteskranke:  Maniakalische 
(im  heutigen  Sinne)  mit  grossem  Bewegungsdrang  und  froher  Stimmung, 
chronisch  Verrückte,  die  infolge  von  Wahnideen  tanzten,  Katatoniker  mit 
dauernd  wiederholten  Bewegungen  einzelner  Körperteile.  Das  waren  wohl 
die  Kranken,  die  in  Strassburg  den  Tanz  begannen,  denen  es  Hysterische 
nachmachten,  und  vor  allem  waren  sie  es,  die  sich  zu  Tode  tanzten. 

Selbst  die  Tollwut  fasste  die  Anschauung  der  Zeit  als  eine  Art  Veits- 
tanz auf.  Der  berühmte  Züricher  Naturforscher  und  Arzt  Conrad 
Gessner  schreibt  1551:  „Aus  dem  Biss  eines  tollwütigen  Hundes  wird 
bisweilen  anteneatmos  (der  Name  ist  verderbt),  eine  Art  der  Wut,  an  die 
Gariopontus  (gest.  1056*)  I.  H  erinnert;  die  Unsrigen  nennen  sie  gewöhn- 
lich St.  Veitstanz")".   Baglio  (Diss.  de  Tarantel,  c.  12)  erwähnt,  dass,  wer 


1)  E.  C.  Wicke,  Versuch  einer  Monographie  des  j;rossen  Veitstanzes.  Leipzig  1844.  — 
2)  Hecker  a.  a.  0.  -  3)  H.  Eichhorst,  Handb.  d.  spez.  Patholo^jie'''  ;5,  2.  Berlin  und  Wien 
1907.  —  4)  Hecker  a.  a.  0.  —  5)  Coiuradi  Gesneri  historiae  animaliuin  üb.  I.  Zürich 
1551. 


Geschichte  der  Tanzkrankheit  in  Deutschland.  129 

vom  tollen  Hunde  gebissen,  vor  dem  40.  Tage  sich  zu  der  Stadt  des 
hl.  Yeit  begibt  und  dort  aufrichtig  betet,  durch  die  Fürbitte  dieses 
Heiligen  bald  befreit  werde,  wie  jeder  in  Apulien  wisse  ^). 

Die  Kranken,  welche  am  Veits-  oder  Johannistage  zu  den  Kapellen 
jener  Heiligen  wallfahrteten,  waren  nur  zum  kleinsten  Teile  eigentliche 
Yeitstänzer  (denn  die  gingen  hin,  wenn  sie  krank  waren,  ohne  sich  an 
den  Tag  des  Heiligen  zu  halten).  Es  waren  an  der  Zwangsidee  des 
Veitstanzes  Leidende,  sonstige  Hysterische  (besonders  mit  hysterischen 
Krämpfen),  Kranke,  die  am  kleinen  Veitstanz,  der  sogenannten  Syden- 
h  am  sehen  Chorea,  litten  (wie  das  Mädchen,  bei  der  Horstius  vermutet, 
dass  etwas  Schwereres  vorliegt),  allerlei  Schwachsinnige,  vor  allem 
Epileptiker,  und  andere  Kranke,  bei  denen  unnatürliche  Muskelbewegungen 
das  Krankheitsbild  beherrschten. 

Ausser  in  den  drei  letzten  Berichten  haben  wir  das  bei  der  Be- 
schreibung der  Wallfahrt  zum  hl.  Veit  bei  Zabern  gesehen,  vor  allem  tritt 
es  heute  noch  in  der  Springprozession  von  Echternach  zutage,  die 
ursprünglich  weiter  nichts  als  ein  Heiltanz  der  genannten  Krankheiten  ist. 

Die  Prozession  findet  alljährlich  am  dritten  Pfingstfeiertage  zu 
Echternach  im  Luxemburgischen  zu  Ehren  des  hl.  Willibrord  statt. 
Angetreten  wird  an  der  Sauerbrücke.  Der  Klerus  stimmt  die  Willi- 
brorduslitanei  ('Hl.  Willibrord,  bitte  für  uns')  an  und  eröffnet  den  Zug. 
300  bis  1000  Sänger  schliessen  sich  ihm  an.  Hinter  sie  reiht  sich  die 
Echternacher  Stadtmusik  und  spielt  die  Springmelodie  [welcher  der  Volks- 
mund den  Text  'Adam  hatte  sieben  Söhne'  untergelegt  hat,  der  aber 
nicht  gesungen  wird].  Die  Leute  verbinden  sich  untereinander  mit 
Tüchern,  die  aus  der  Nähe  gekommenen  Marxweiler  gar  mit  Regen- 
schirmen, und  nun  wird  nach  der  Musik  gesprungen,  zwei  Schritte  vor, 
einen  schräg  rückwärts.  Die  Ordnung  wird  durch  die  Stadtkapläne  auf- 
recht gehalten.  Im  Zuge  befinden  sich  mehrere  Musikkapellen  oder 
wenigstens  Trommler  und  Pfeifer.  Er  bewegt  sich  durch  die  Strassen 
die  Ortschaft  hindurch.  Aber  anstatt  in  die  Basilika  zu  gehen,  springt 
man  die  r>2  Stufen  des  Petersberges  zur  Pfarrkirche  hinauf,  zur  Evan- 
gelienseite der  Pfarrkirche  hinein,  um  das  Grab  des  Heiligen,  wo  ge- 
wöhnlich zwei  Geistliche  den  Pilgern  ihre  Devotionalien  anrühren,  zur 
Türe  der  Epistelseite  wieder  hinaus,  um  mit  dreimaligem  Umspringen 
des  grossen  Holzkreuzes  auf  dem  ehemaligen  Friedhofe  die  Prozession 
zu  beenden.  Die  Länge  des  zurückgelegten  Weges  beträgt  1'225  Schritt, 
die  Dauer  ist  zwei  bis  drei  Stunden. 

Die  meisten  Wallfahrer  tragen  einen  schweren  Kummer  auf  dem 
Herzen,    da    meist    ein    wegen    fallender    Sucht    oder  'Wilvertskrankheit' 


1^    R.    J.   Camerarii    et    Th.  Ch.  Scharf   Dissert.    de    Alysso    clavo,    Tübingen  1709. 
Albrecht  v.  Hallers  Sammlung  akad.  Streitschriften,   in  einen  vollständigen  Auszug  ge- 
bracht und  mit  Anmerkungen  versehen  v.  Lorenz  Grell.     1.  Bd.     Helmstedt  1779. 
Zeitschr.  (I.Vereins  f.  Volkskunde.  1914.    Heft  2.  9 


130  Martin: 

[Epilepsie]  gemachtes  Gelübde  sie  hierhergeführt.  Unter  10  000  Mit- 
springeru,  von  denen  viele  von  Kindheit  an  mit  der  Fallsucht  und  anderen 
epileptischen  Krankheiten  behaftet  sind,  die  aber  selbst  im  Arm  ihrer 
Verwandten  raitspringen  wollen,  kommt  es  vor,  dass  einer  oder  der  andere 
wieder  einen  Anfall  seiner  Krankheit  erleidet  oder  in  Ohnmacht  fällt. 
So  selten  aber  geschieht  dies,  dass  mein  Gewährsmann  Keiners^),  der 
sieben  Jahre  die  Ordnung  der  Prozession  mit  überwachte,  kaum  jedes 
Jahr  ein  bis  zwei  Fälle  gesehen  hat.  Man  frage  nur  den  ersten  besten 
Springer,  sagt  er,  entweder  verdankt  er  selbst  dem  hl.  Apostel  die  Ge- 
sundheit und  kommt  aus  Dank  alljährlich  zu  springen,  oder  er  springt, 
weil  er  sich  für  einen  Bruder,  ein  Kind  usw.  zu  springen  vor- 
genommen hat. 

Reiners  sagt,  dass  viele  der  Springer  mit  Fallsucht  [Epilepsie]  und 
anderen  epileptischen  Krankheiten  behaftet  sind.  Unter  diesen  sind  die 
oben  genannten  Bewegungskrankheiteu  zu  verstehen.  Vom  Springen 
gegen  Veitstanz  und  auch  gegen  Schwachsinn  ist  mir  berichtet  worden. 
Die  Prozession  ist  also  der  Heiltanz,  wie  wir  ihn  kennen. 

Keiners  will  allerdings  in  der  Prozession  eine  Buss-  und  Sühneandacht  sehen 
und  im  Springen  mit  Musik  ein  sehr  mühevolles  Gebet.  Wenn  Leute,  wie  ich 
erzählen  hörte,  den  stark  mit  Steinen  beschwerten  Korb  auf  dem  Rücken,  mühe- 
voll mit  blaurotem  Gesicht  springen,  so  ist  das  sicher  eine  Bussübung.  Das  kann 
später  hinzugekommen  sein,  wie  dies  bei  dem  Schritt  rückwärts,  der  die  Prozession 
so  sehr  erschwert,  der  Fall  ist,  obwohl  ja  bei  manchen  Tänzen  nicht  nur  vor-, 
sondern  auch  rückwärts  gegangen  wird.  Die  von  Reiners  herangezogene  Parallele, 
nach  der  eine  Königin  von  Prankreich  gelobte,  beim  Gelingen  eines  Unternehmens 
einen  Pilger  nach  Jerusalem  zu  Puss  zu  senden,  der  immer  drei  Schritte  vor  und 
einen  rückwärts  ginge,  beweist  deshalb  nichts.  1842  sprang  man  einen  Schritt 
rechts,  einen  links  und  einen  vorwärts^).  Man  sprang  auch  drei  vor,  einen  zurück 
oder  fünf  vor  und  zwei  zurück^).  Reiners  selbst  sagt,  dass  die  Prozession,  1786 
unterdrückt,  nach  dem  Tode  Josephs  II.  wieder  gehalten  wurde,  aber  ein  anderer 
Sprung  in  Übung  kam,  indem  man  nunmehr  einen  Schritt  schräg  zurücksprang. 
Wie's  vorher  war,  gibt  er  nicht  an,  wahrscheinlich  war  doch  der  Rücksprung  weg- 
geblieben. 

Übrigens  tanzten  schon  zur  Zeit  Schenk  von  Grafen bergs*)  Leute  im 
Veitstanz  mit,  die  durch  ein  abzuleistendes  Gelübde  dazu  gelialten  waren.  Auch 
die  von  ihm  berichtete  kurze  Dauer  des  Tanzes  von  drei  Stunden  und  das  Auf- 
rechterhalten der  Ordnung  durch  Reigenführer  erinnert  sehr  an  die  Echternacher 
Prozession. 

Noch  einige  Angaben  nach  anderen  Quellen  über  die  Springprozession. 
Sie  begann  auf  der  Brücke,  die  die  luxemburg-preussische  Grenze  bildet^). 


Ij  Adam  Reiners,  Die  Springprozession  zu  Echternach,  Haffners  Frankfurter  Zeit- 
gemässe  Broschüren,  N.  F  5.  Frankfurt  a.  M.  1884.  -  2  Hecker  a.  a.  0.  —  3)  Paul 
Richer,  L'art  et  la  medecine.  Paris  (o.  J.;.  —  4)  Observ.  medic.  1665.  —  5)  Hecker 
a.  a.  0. 


Geschichte  der  Tanzkrankheit  in  Deutschland.  131 

M.  Majerus,  Richter  in  Luxemburg,  berichtet  aus  eigener  Anschauung, 
dass  man  für  sich,  für  andere,  Angehörige,  Freunde,  sogar  für  Tiere 
springt.  Wer  zu  alt,  zu  krank  ist,  bezahlt  Echternacher  Burschen,  die  für 
12 — 20  Sous  springen,  häufig  für  mehrere  Pilger  und  Pilgerinnen.  Man 
sieht  nicht  selten  epileptische  Krämpfe  0-  Ich  weiss,  dass  gebildete  Leute 
für  ihr  schwachsinniges  Kind  springen  li essen. 

Der  Übernahme  durch  bezahlte  Leute  ist  nichts  Auffallendes.  Sie  kam  auch 
bei  anderen  Heilverfahren  vor  Im  kalten  Bad  auf  der  Rischi-Alp  hinter  der  Eck 
in  Unterwaiden  (Schwendi-Kaltbad),  das  bis  ins  19.  Jahrhundert  schwer  zugänglich 
war,  bestand  vormals,  wne  Ziegler  1799  schreibt,  die  Sitte,  Leute  für  Geld  zu  dingen, 
um  sich  für  einige  Minuten  ins  kalte  Bad  zu  setzen  für  Rechnung  und  Frommen 
irgend  eines  Kranken,  welcher  diese  Verrichtung  an  dem  wilden,  sehr  entlegenen 
Orte  selbst  nicht  übernehmen  wollte  oder  konnte^). 

Die  Springprozession  wird  von  der  nicht  unbedeutenden  Anzahl  namhafter 
Geschichtsschreiber  der  Echternacher  Benediktinerabtei,  die  oft  bis  in  kleinste 
Einzelheiten  die  Erlebnisse  der  Abtei  berichten,  nicht  erwähnt.  Selbst  der  Abt 
ßertels  (gest.  1607)  spricht  von  den  unbedeutendsten  Dingen,  über  Volkssitten, 
religiöse  Feste,  sogar  von  dem  religiösen  Tanz  auf  dem  Johannisberg  bei  Luxem- 
burg, erwähnt  sie  aber  mit  keiner  Silbe ^). 

Die  erste  schriftliche  Nachricht  von  der  Echternacher  Springprozession 
gibt  der  triersche  Historiker  Brower  (gest.  1617),  der  als  gangbare  Er- 
zählung mitteilt,  dass  seine  Zeitgenossen  als  Knaben  von  den  ältesten 
Leuten  gehört  hätten,  bei  jeweiliger  Unterlassung  des  Gelöbnisses  der 
Votiv-Springprozession  habe  das  Vieh  in  den  Ställen  zu  tanzen  an- 
gefangen und  nicht  eher  abgelassen,  bis  die  Springprozession  abgehalten 
war*),  also  der  Abwehrtanz  gegen  Bewegungskrankheiten.  Dass  man 
auch  für  derartige  Erkrankungen  des  Viehs  in  Echternach  springt,  wurde 
oben  erwähnt. 

Weiteres  über  Echternach  folgt  im  nächsten  Abschnitt. 

Aus  dem  Jahre  1564:  besitzen  wir  eine  Abbildung  von  Tanzkranken 
auf  einer  Handzeichnung  in  der  Albertina  zu  Wieu  von  Pieter  Brueghel 
d.  Ä.  Romdahl  hat  sie  veröffentlicht  (siehe  Abb.  1)  und  sie  für  eins 
der  bedeutendsten  Werke  des  Meisters  erklärt.  Es  ist  eine  grössere  (ein 
wenig  mit  Weiss  gehöhte)  Federzeichnung  auf  blaugrauem  Papier,  die 
von  Brueghel  eigenhändig  mit  einer  Unterschrift  versehen  ist^).  Sie 
lautet:  dit  sin  dye  pelgerommen  die  up  sint  Jans  dach  buyten  bruessel 
de  muelebeec  danssen  moeten  ende  als  sy  ouer  een  brugge  gedanst  oft 
gesprongen  hebben  dan  sin  sy  genesen  vor  een  heel  Jaer  van  sint  Jans 
siechte  .  bruegel  •  M  •  ccccc  •  Ixiiij  . 


1~^  Richer  a.  a.  0.  —  2)  A.  Martin,  Deutsches  Badewesen  in  verjjangenen  Tagen, 
Jena  190G.  —  3)  Reiners  a.  a.  0.  —  4)  Ebenda.  —  5"^  Axel  L.  Romdahl,  Jahrb.  der 
kunsthist.  Sammlungen  des  Allerh.  Kaiserhauses  24,  3.     Wien   und  Leipzig  1905. 

9* 


132 


Martin: 


's  Rijks  Prentenkabinet  in  Amsterdam  besitzt    eine  Zeichnung,    die    sich    im 
Bild  beinahe  mit  der  in  der  Albertina  deckt.    Sie  trägt  rechts  unten  die  (falsche?) 


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Signatur  ^brueghel',  und  die  Unterschrift  ist  durch  eine  horizontale  Linie  von  der 
Komposition  getrennt  (wie  das  vielfach  auf  Stichen  vorkommt).  In  der  mir  mit- 
geteilten Unterschrift    fehlt    hinter    'buyten    bruessel'    die    nähere    Ortsangabe    'de 


Geschichte  der  Tanzkrankheit  in  Deutschland. 


133 


muelebeec'.  Das  Bild  ist  in  dem  zweibändigen  Handzeichnungswerke  des  Amster- 
damer Kupferstichkabinetts  auf  Tafel  22  von  E.  W.  Mo  es  herausgegeben  worden. 
(Mitteilung  des  Kupferstichkabinetts  in  Amsterdam).  Nach  Romdahl  ist  es  1569 
(nicht  1564  wie  das  in  der  Albertina)  datiert. 

1642  hat  Hondius  die  Brueghelsche  Zeichnung  in  drei  Stichen  (im  Spiegel- 
bild) reproduziert.  Zwei  davon  sind  bei  Holländer^)  und  Richer^)  (die  linke  Tanz- 
gruppe) und  bei  Hovorka  und  Kronfeld ^)  (die  rechte  Tanzgruppe)  abgebildet;  sie 
zeigen  weit  mehr  und  zum  Teil  andere  Zeichnung  als  das  Original  (siehe  Abb.  2  u.  3). 

Romdahl  sieht  in  den  dargestellten  Frauen  Fallsüchtige  [Epileptiker]; 
Richer,  der  Umrisszeichnungeu  des  Bildes  ohne  die  Unterschrift  bringt, 
behauptet,  ßrueghel  habe  die  Echteruacher  Springprozession  gezeichnet^). 


Abb.  2  und  3.     Stiche  von  Hondius  von  1642  nach   Brueghel. 
(A.US  Spemanns  historischem  Medizinal[abrciss]kalender.' 

Uns  illustriert  die  Abbildung  das,  was  wir  bereits  von  anderen  Orten 
wissen.  Romdahl  nennt  den  Ort  des  Vorgangs  Molenbeck  Siut  Jans  in 
der  Nähe  von  Brüssel.  Die  dortige  Kirche  wird  also  dem  hl.  Johannes 
geweiht  sein.  An  seinem  Tage  tanzen  dort  Frauen  in  geordnetem  Zuge 
unter  Öackpfeifenbegleitung,  jede  mit  zwei  gesunden  Mittänzern. 

Wo  die  Kräfte  versagen,  stützen  die  Mittänzer.  Die  Prozession  musste 
auf  jeden  Fall  über  die  Brücke  hinwog,  dann  trat  Gesundung  ein  auf  ein 
Jahr.  Die  Frauen  waren  also  erst  kurz  vor  St.  Johannestag  krank  ge- 
worden. Ihr  Zustand  gleicht  dem  der  Frauen,  von  denen  Schenk  von 
Grafenberg  und  Horstius  berichten. 


1)  Die  Medizin  in  der  klass.  Malerei.  —  2)  L'art  et  la  medecine. 
3^  Vgl.  Volksmed.  2. 


134  Ebermann: 

Im  Hintergrunde  sehen  wir  eine  Kirche,  die  auf  dem  Hondiusschen 
Stiche  fehlt.  Auffallend  sind  zwei  neben  dem  Zuge  vorwärtsstürmende 
Personen,  ein  Mann  und  eine  Frau,  die  jeder  in  den  Händen  vorsichtig 
eine  Schale  halten.  Von  den  Tänzerinnen  hat  eine  den  Mund  weit  ge- 
öffnet, sie  ringt  nach  Atem  oder  schreit,  eine  andere  sinkt  ermattet  um, 
bei  einer  dritten    treten  Krämpfe  auf,    die    den  ganzen  Körper  verzerren. 

Hier  gesellt  sich  zu  den  krankhaften  rhythmischen  Bewegungen  des 
Tanzes,  dem  Charakteristikum  des  grossen  Veitstanzes,  noch  ein  weiteres 
hysterisches  Zeichen,  der  hysterische  oder  hystero-epileptische  Krampf. 
Von  ihm  werden  wir  später  noch  hören.  Man  beachte  auch  die  Mittänzer, 
wie  sie  überanstrengt  sind  und  teils  mit  sorgenvollen  Gesichtern  die 
Kranken  unterstützen.  Bei  den  Musikanten  sieht  man  fast  den  Schweiss 
an  den  Haaren  herunterlaufen.  Das  Original  charakterisiert  dies  alles 
viel  feiner  als  der  Stich. 

Bad-Nauheim. 

(Schluss  folgt.) 


Le  Medecin  des  Pauvres. 

Von  Oskar  Ebermann. 


Die  Kommission  für  Sammlung  der  deutschen  Zauber-  und  Segens- 
sprüche hat  in  dankenswerter  Weise  auch  die  Erforschung  der  Entwicklung 
der  volkstümlichen  Segensbücher  mit  in  ihr  Arbeitsprogramm  einbezogen. 
■Gerade  diese  Untersuchungen  werden  aber  voraussichtlich  auf  besondere 
Schwierigkeiten  stossen.  Die  Zauberbücher  geben  nur  in  seltenen  Fällen 
Ort  und  Jahr  ihrer  Entstehung  richtig  an,  suchen  .vielmehr  auf  die 
gläubigen  Benutzer  durch  Angabe  eines  frühen  Erscheinungsjahres  und 
«ines  entlegenen  Druckortes  Eindruck  zu  machen.  Die  Bibliotheken  haben 
diesen  interessanten  Zweig  volkstümlicher  Literatur  leider  wenig  oder  gar 
nicht  beachtet,  so  dass  Material  aus  älterer  Zeit  nur  mit  grossen  Schwierig- 
keiten aus  Privatbesitz  zu  erlanoren  ist.  Schliesslich  —  und  das  ist  für 
die  Untersuchung  das  Wichtigste  —  haben  diese  Bücher  zwar  den  Titel 
meist  mit  ängstlicher  Gewissenhaftigkeit  bewahrt,  dagegen  ist  zuweilen 
der  Inhalt  stark  verändert  worden,  so  dass  Bücher  gleichen  Titels  ge- 
legentlich inhaltlich  kaum  etwas  miteinander  gemein  haben.  So  gibt  es 
neben  Ausgaben  des  Albertus  Magnus,  die  in  vier  Teilen  fast  ausschliess- 
lich Segenssprüche  enthalten,  auch  solche,  in  denen  keine  einzige  derartige 
Formel  vorhanden  ist. 


Le  Medecin  des  Pauvres.  I35 

Wie  in  Deutschland,  so  werden  auch  in  Frankreich  Zauberbücher 
noch  massenhaft  durch  gewissenlose  Buchhändler  vertrieben,  und  Hefte 
wie  "La  poule  noire  aux  ceufs  d'or',  'Le  Grand  Grimoire',  'Cla- 
vicule  de  Salomon',  'La  baguette  divinatoire',  'Le  dragon 
rouge*,  'Les  raerveilleux  Secrets  du  Petit  Albert',  'L'enchiri- 
dion  du  Pape  Leon  III',  'Curiosites  infernales  et  occultes'  u.  a.  sind 
in  Paris  bei  den  Bouquinisten  der  Seinequais  stets  zu  billigen  Preisen  zu 
haben.  Auf  der  Suche  nach  derartigen  Heften  wurde  ich  im  Jahre  1904 
von  dem  nunmehr  verstorbenen,  um  die  französische  Volkskunde  hoch- 
verdienten Emile  Rolland  auf  ein  in  Frankreich  weitverbreitetes  Heftchen 
'Le  Medecin  des  Pauvres'  aufmerksam  gemacht.  Von  den  17  in  der 
Bibliographie  de  la  France  bis  zum  Jahre  1001  angeführten  Heften  enthält 
die  Bibliotheque  Nationale  15,  so  dass  sich  der  Entwicklungsgang  eines 
solchen  Segensheftes  —  denn  um  ein  solches  handelt  es  sich  —  für  den 
Verlauf  des  letzten  Jahrhunderts  einigermassen  übersehen  lässt. 

Ich  gebe  zunächst  eine  Übersicht  in  zeitlicher  Reihenfolge,  wobei  die 
einzelneu  Hefte  durch  den  Erscheinungsort  unterschieden  werden. 

1.  Valence,  de  Timprimerie  de  J.-F.  loland.     4  p.     18'21. 

2.  Coulommiers,  Impr.  de  Brodard.     8  p.    18'27. 

3.  St.-Quentin,  Impr.  de  Cottenest.     8  p.    1828, 

4.  Epinal,  Impr.  de  Faguier.  8°,  d'une  demi-feuille.  (Bibliogr,  de 
la  France  1832.) 

5.  Doudeville,  chez  Patin.  Impr.  de  Delamarre,  12°,  d'un  tiers  de 
feuille.     1 833. 

6.  Paris,  Librairie  populaire  des  villes  et  campagnes,  18  p,  12°. 
1848.     (Nisard  2,  78.) 

7.  Laon,  Typ.  Ern.  Marechal,    rue  Chätelaine,  16.     8  p.     8**.     1850. 

8.  Rouen,  Imp.  veuve  A.  Surville,  rue  des  Bons-Enfants,  46.  (Stem- 
pel der  Bibl.  Nation,  vom  J.  1851.) 

9.  Chälons-sur-Saöne,  Typ.  Montalan.     16  p.     16".     1857. 

10.  Troyes,  chez  Baudot.  Imp.  Libraire.  Rue  du  Temple,  30.  11p. 
12«.     1858. 

11.  Paris,  Impr.  de  Gosse  et  J.  Dumaine,  rue  Christine,  2.  8  p. 
8^     1862. 

12.  Paris,  Impr.  Prissette,  passage  Kuszner,  17.  —  Maison  passage 
du  Caire,  17.     8  p.     8°.     1863. 

13.  Beaune,  Autographie  Boutton.     1868. 

14.  Argenteuil,  Typogr.  Worms.  Henry,  Lithographe  ä  Argenteuil. 
8  p.     8°.     1868. 

15.  Mäcon,  Impr.  Protat.     24  p.     16°.     1868. 

16.  Macon,  Impr.  Romand.     64  p.     16°.     1875. 

17.  Orleans,  Impr.  Morand,  rue  Baunier,  47.  (Stempel  der  Bibl. 
Nation,  vom  Jahre  1896.) 


136  Ebermann: 

Ferner  werden  in  der  Revue  des  traditions  populaires  (7,  243)  zwei 
Hefte  erwähnt  unter  dem  Titel  'Medecine  des  Pauvres',  und  zwar: 

18.  Paris,  chez  Moronval,  rue  Galande.     12  p.     32 ^ 

19.  Youziers,  par  Auguste  Lapie. 

Schliesslich  sind  wegen  der  Ähnlichkeit  des  Titels  noch  zu  er- 
wähnen: 

20.  Le  Medecin  des  Pauvres.  Dans  les  Communes  rurales  des 
Basses-Pyrenees,  par  M.  Blandin,  Pau,  1852.  (Eine  Wohltätigkeitsschrift, 
die  mit  den  übrigen  Heften  nichts  gemein  hat  als  den  Titel.) 

21.  Le  Medecin  du  Yillage.  Contenant  un  choix  de  Moyens 
simples  et  efficaces  pour  la  guerison  de  plus  de  cent  Maladies.  Amiens, 
1851.     (Enthält  Rezepte.) 

Diese  Aufzählung  ist  sicher  sehr  lückenhaft*),  denn  viele  Auflagen 
des  Heftes  werden  wegen  ihres  geringen  Umfanges  der  Statistik  entgangen 
sein,  und  dann  fehlen  alle  diejenigen,  die  auf  französischem  Sprachgebiete 
ausserhalb  Frankreichs  erschienen  sind^). 

Ich  lasse  nunmehr  den  Inhalt  der  einzelnen  Hefte,  soweit  ich  ihrer 
habhaft  werden  konnte,  in  der  Weise  folgen,  dass  ich  jeder  Formel  ein 
Varianten  Verzeichnis  beigebe.  Yon  der  obigen  Reihenfolge  bin  ich  ge- 
zwungen abzuweichen. 

I.   Le  Medecin  des  Pauvres.     (Oben  Nr.  S.) 

Titelbild. 

Christus  regnat.  Christus  imperat. 

J.-C.  regne.  J.-C.   comraande. 

Christus  vincit. 

J.-C.  est  vainqueur. 

En  Dieu  la  confiance. 

1.    Friere  pour  arreter  le  mal  de  dents. 

Sainte  Apolline  assise  sur  la  pierre  de  marbre,  Notre-Seigneur,  passant  par  lä, 
lui  dit:  Apolline,  que  fais-tu  lä?  Je  suis  ici  pour  mon  chef,  pour  mon  sang  et 
pour  mon  mal  de  dents.  Apolline,  retourne-toi;  si  c'est  une  goutte  de  sang,  eile 
tombera;  si  c'est  un  ver,  il  mourra.  —  Dites  cinq  Pater  et  cinq  Ave  Maria  en 
l'honneur  et  en  Tintention  des  cinq  plaies  de  N.-S.-J.-C,  et  faites  le  signe  de 
croix  sur  la  joue  avec  le  doigt,  en  face  du  mal  que  vous  ressentez,  disant:  Dieu 
t'a  gueri;  et  en  tres  peu  de  temps  vous  serez  gueri. 

Vgl.  Ch.  Nisard,  Histoire  des  livres  pop.  2,  76;  Aug.  Hock,  Croyances  et  re- 
medes  pop.  (3.  Aufl.)  S.  42;  Meyrac,  Traditions,  coutumes  etc.  des  Ardennes  S.  179 
nr.  95;  Reinsberg-Düringsfeld,  Calendrier  beige  1,  108  Anm.  1;  Sauve,  Folk-Lore 
des  Hautes-Vosges  S.  35;  G.  Vicaire,  Etudes  sur  la  poesie  pop.  S.  73;  Melusine  3, 


1)  Nisard  2,  78 f.  erwähnt  noch  eine  Auflage  aus  Montereau,  12  p.  12".  o,  J.  und 
druckt  daraus  einige  Formeln  ab,  die  in  den  unten  angeführten  Heften  nicht  ent- 
halten bind. 

2)  Vgl.  Hock,  Croy.  pop.  S.  42;  Monseur,  Folkl.  wallon  S.  23;  Wallonia  5,  112. 


Le  Medeciu  des  Pauvres.  137 

114  nr.  10a:  Rev.  celt.  6,  73  nr.  8;  Rev.  des  trad.  pop.  1,  3G;  0ns  Volksleven  12,  97; 
J.  W.  Wolf,  Beitr.  z.  deutschen  Mytbol.  1,  260  nr.  34.  —  Spanisch:  Nisard,  Hist. 
des  livres  pop.  1864  2,  82;  F.-R.  Marin,  Cantos  pop.  espanoles  (Sevilla  1882)  1,  445 
nr.  1063  —  64.  —  Der  Name  derApollonia  ist  in  diese  Formel  eingedrungen  wegen 
der  Beziehung  auf  das  Martyrium  dieser  Heiligen.  In  den  älteren,  lateinischen 
Fassungen  dieses  Segens  wird  statt  ihrer  Petrus  genannt.  Vgl.  dazu:  R.  Köhler, 
Kl.  Sehr.  3,  544 ff.;  0.  Ebermann,  Blut-  u.  Wundsegen  S.  19 f.;  Fr.  Hälsig,  Der 
Zauberspruch  bei  den  Germanen  S.  79ff.;  H.  Affre,  Lettres  ä  mes  neveux  (Ville- 
franche  1858)  2,  73;  Derselbe,  Dictionnaire  des  institutions  etc.  duRourge  (Rodez 
1903)  S.  388. 

2.  Friere  pour  arreter  le  sang  de  teile  coupure  que  ce  soit  et  de  toute  sorte 
de  plaie. 

Dieu  est  ne  la  nuit  de  Noel,  ä  minuit;  Dieu  est  mort;  Dieu  est  ressuscite;  Dieu  a 
commande  que  le  sang  s'arrete,  que  la  plaie  se  ferme,  que  la  douleur  se  passe,  et  que 
cela  n'entre  ni  en  matiere,  ni  en  senteur,  ni  en  chair  pourrie,  comme  ont  fait  les  cinq 
plaies  de  N.-S.-J.-C.  NATUS  EST  CHRISTUS;  MORTÜUS  EST  ET  RESUR- 
REXIT  CHRISTUS.  —  On  repete  trois  fois  ces  mots  latins,  et,  a  chaque  fois,  on 
soufl'le,  en  forme  de  croix,  sur  la  plaie,  en  nommant  le  nom  de  la  personne, 
disant:  Dieu  t'a  gueri.  Ainsi  soit-il.  On  commencera  ensuite  la  neuvaine  u  jeun, 
ä  l'intention  des  cinq  plaies  de  N.-S.-J.-C. 

Vgl.  Hock,  Croyances  pop.  S.  43;  Sauve,  F.-L.  des  Hautes-Vosges  S.  230^ 
Melusine  3,  114  nr.  9a;  Schweiz.  Arch.  10,53;  Rev.  des  trad.  pop.  1,39. 

Die  französische  formelhafte  Einleitung  und  der  entsprechende  lateinische 
Schluss  sind  nicht  diesem  Segen  eigentümlich,  sondern  werden  auch  oft  anderen 
Formeln  vorausgeschickt  oder  angehängt,  z.  ß.  Melus.  6,  282.  —  Vgl.  den  deutschen 
Segen  gegen  Seuchen  und  Geschwülste  (1460)  in  Mitt.  d.  Schles.  Ges.  f.  Vk.  Heft  18,  24. 
Die  Worte  sind  schon  früh  in  deutsche  Reime  gebracht  worden:  ZfdA.  4,  577  (1405) 
oder  in  anderer  Weise  Germania  26,  230.  Vermutlich  hat  sich  daraus  der  Typus 
der  Segen  von  den  drei  glückseligen  Stunden  entwickelt;  vgl.  Ebermann,  Bl.  u.  W. 
S.  71  ff.  —  Der  Teil  des  Segens,  der  den  Wunsch  ausdrückt,  dass  die  Wunde  sich 
nicht  verschlimmern  möge,  geht  auf  eine  lat.  Formel  zurück.  Vgl.  Ebermann,  Bl. 
u.  W.  S.  52 f.;  Hälsig  a.  a.  0.  S.85ff. 

3.  Oraison  pour  guerir  les  rhumatismes  ou  douleurs  quelconques. 

Sainte  Anne,  qui  enfanta  la  Vierge  Marie,  la  Vierge  Marie  qui  enfanta  Jesus-Christ, 

Dieu  te  benisse  et  te  guerisse,  pauvre  creature,  N de  renouure,  blessure,  rompure, 

d'entraves  et  de  toutes  sortes  d'infirmites  quelconques,  en  l'honneur  de  Dieu  et  de 
la  Vierge  Marie,  de  Saint  Come  et  Saint  Damien.  Amen.  —  Dites  trois  Pater  et 
trois  Ave  pendant  neuf  jours,  tous  les  matins  a  jeun,  en  l'honneur  des  angoisses 
qu'a  souffertes  N.-S.-J.-C.  sur  le  calvaire. 

Vgl.  Sauve  a.  a.  0.  S.  266;  J.-B.  Thiers,  Traite  des  superst.  (3.  Aufl.)  1,412; 
Rev.  des  trad.  pop.  1,36;  1,37  nr.  8;  19,488.  —  Die  zahlreichen  lateinischen 
Varianten  dieser  Formel,  die  ursprünglich  ihrem  Inhalt  entsprechend  als  Segen 
zur  Erleichterung  der  Geburt  Verwendung  fand,  lassen  sich  bis  in  das  10.  Jahrh. 
zurückverfolgen.  Vgl.  ZfdA.  52,  171;  Hälsig,  Der  Zauberspruch  bei  d.  Germ. 
S.  96ff.;  Ad.  Franz,  Die  kirchl.  Benediktionen  im  Ma.  2,  198f. 

4.  Friere  pour  la  teigne. 

Paul,  qui  est  assis  sur  la  pierre  de  marbre,  N.-S.  passant  par  lä  lui  dit:  Paul, 
que  fais-tu  lä?  Je  suis  ici  pour  guerir  le  mal  de  mon  chef.  Paul,  leve-toi  et  va 
trouver  sainte  Anne;    qu'elle    te    donne  teile  huile    quelconque,    tu    t'en  graisseras 


138  Ebermann: 

legerement  ä  jeun,  une  fois  le  jour  et  pendant  un  an  et  un  jour.  Celui  qui  le 
fera  n'aura  jamais  ni  rogne,  ni  gale  ni  teigne,  ni  rage.  —  II  faut  repeter  cette 
oraison  pendant  un  an  et  un  jour,  sans  y  manquer,  tous  le  matins,  ä  jeun,  et, 
au  bout  de  ce  teraps.  vous  serez  radicalement  gueri  et  exempt  de  tous  ces  maux 
pour  la  vie. 

Vgl.  Hock  a.  a.  0.  S.  44;  Monseur,  Folklore  wallon  S.  28;  Rev.  des  trad. 
pop.  1,  37  nr.  11.  Ähnlich  auch  Sauvo  a.  a.  0.  S.  350:  Saint  Pierre  sur  le  pont 
de  Dieu  s'assit.  —  Notre-Dame  de  Caly  vint  et  lui  dit:  —  Pierre,  que  fais-tu  lä? 
—  Dame,  c'est  pour  le  mal  de  mon  chef  que  je  me  suis  mis  lä.  —  Saint  Pierre, 
tu  te  leveras,  —  A  Saint- Agie  tu  t'en  iras;  —  Tu  prendras  le  saint  onguent  — 
Des  plaies  mortelles  de  Notre-Seigneur,  —  Tu  t'en  graisseras,  —  Et  trois  fois  tu 
diras:  —  „Jesus,  Maria."    —    J.  W.  Wolf,  Beitr.  z.  deutschen  Myth.  1,  2»J1  Nr.  39. 

5.  Oraison  pour  couper  et  guerir  toutes  sortes  de  fievres.  , 
Quand  J.-C.   porta  sa  croix,    il  lui  survint  un   juif  nomme  Marc-Antoine,    qui 

lui  dit:  „Jesus,  tu  trembles?"  Jesus  lui  dit:  „Je  ne  tremble  ni  ne  frissonne." 
Et  celui  qui  dans  son  coeur  ces  paroles  prononcera,  jamais  fievre  ni  frisson  n'aura. 
Dieu  commande  aux  fievres  tierces,  fievres  quartes,  fievres  intermittentes,  fievres 
purpureuses,  de  se  retirer  du  corps  de  cette  personne.  JESUS,  MARIA.,  JESUS! 
II  faut  faire  une  neuvaine  ä  jeun,  ä  l'intention  de  la  personne,  en  memoire  des 
souffrances  qu'a  endurees  N.-S.-J.-C.  sur  le  calvaire. 

Vgl.  A.  Meyrac,  Traditions,  coutumes  etc.  des  Ardennes  S.  179  nr.  96;  Sauve 
a.  a.  0.  S.  269;  Melus.  3,  111  nr.  4;  Rev.  d.  trad.  pop.  1,  36  nr.  6;  18,  298.  — 
Ähnlich:  Rolland,  Faune  pop.  5,  106;  Mel.  3,  197;  Schw.  Arch.  14,259  (18.  Jh.); 
Thiers,  Traite  1,412:  Hock.  Croy.  pop.  1,412.  —  Engl.:  W.  Henderson,  Notes  on 
the  Folk  Lore  of  the  Northern  Counties  of  England  S.  137.—  In  deutschen  Fieber- 
segen ist  das  Motiv  des  Zitterns  vor  dem  Kreuz  seit  dem  15.  Jh.  nachweisbar: 
ZfdA.  17,  429;  Alem.  25,  266  (16.  Jh.);  J.W.  Wolf,  Beitr.  z.  deutschen  Myth.  1,257 
Nr.  17.  —  Cechisch:  Grohmann,  Abergl.  etc.  S.  164  nr.  1157. 

6.  Oraison  pour  guerir  promptement  la  colique. 

Mettez  le  grand  doigt  de  la  raain  droite  sur  le  nombril,  et  dites:  Marie  qui 
etes  Marie,  ou  colique,  passion  qui  etes  entre  mon  foie  et  mon  coeur,  entre  ma 
rate  et  mon  poumon,  arrete,  au  nom  du  Pere,  du  Fils  et  du  Saint-Esprit.  Dites 
trois  Pater  et  trois  Ave,  et  nommez  le  nom  de  la  personne,  disant:  Dieu  t'a  gueri. 
Ainsi  soit-il. 

Vgl.  Meyrac  a.  a.  0.  S.  175  nr.  68:  Monseur,  Folkl.  wallon  S.  23;  Rev.  des 
trad.  pop.  1,  36  nr.  7;   19,  488;  Musee  Neiichätelois  34,  57. 

Es  hat  den  Anschein,  als  ob  im  Anfang  dieser  Formel  Maria  angerufen  würde, 
indessen  hat  ursprünglich  dafür  zweifellos  ein  Ausdruck  gestanden,  der  dem 
lateinischen  matrix  entspricht.  Es  begegnen  in  Segen  die  Formen  amarry,  matrice, 
mare,  maire,  mere  u.  a.  Auch  marris  ist  zu  belegen  in  der  Bedeutung  'Maladie 
de  la  matrice.'  (La  Curne  de  St.-Palaye,  Dict.  de  l'ancien  langage  frano.  7,  291). 
Demnach  entspricht  unsere  Formel  genau  den  zahlreichen  deutschen  Segen  für 
die  Bermutter.  Diesen  liegt  die  Anschauung  zugrunde,  dass  die  Kolik  dadurch 
entsteht,  dass  die  Gebärmutter  gegen  das  Herz  aufsteigt  (vgl.  M.  Höfler,  Deutsches 
Krankheitsnamen-Buch  S.  427).  Die  aufsteigende  Gebärmutter  wird  in  den  Segen 
aufgefordert  anzuhalten  und  an  den  ihr  von  Gott  bestimmten  Platz  zurückzukehren. 
Dieselbe  Vorstellung  finden  wir  in  mehreren  französischen  Koliksegen.  Vgl.  Schweiz. 
Arch.  10,  49    nr.  58;    12,  104    nr.  43.    —    Die    folgende    Formel    findet    sich    bei 


Le  Medecin  des  Pauvres.  139 

M.  L.  Joubert,    La  premiere  et  seconde  partie  des  erreurs  populaires,    touchant  la 
Medecine  et  le  regime  de  sante.    Rouen  1601. 

Conjuration  de  l'amarry  delouee,  en  langue  Angenoise. 

Mayre  mayris,  que  as  cinquanto  dos  rasits, 

Et  uno  raays  que  l'on  non  dits: 

Tiro  te  das  coustas, 

A  qui  non  son  pas  tas  estas. 

Tiro  te  de  las  esquinas. 

A  qui  non  son  pas  tas  esinas. 

Tiro  te  del  son  de  ventre: 

A  qui  non  te  podes  estendre. 

Mais  bouto  te  u  Fambonnil. 

La  ou  la  Vierge  (Marie)  portet  son  (car)  fil. 

Cric,  croe,  Mairo  torno  tel  al  loc. 

Pater  noster.     Ave  Maria.     Faut  reiterer  cela  par  trois  fois. 

C'est  ä  dire  en  Franoois. 
Amarry  merasse,  qui  as  cinquante  et  deux  racines, 
Et  une  plus  que  l'on  ne  dit, 
Tire  toy  aux  costez: 
Ce  ne  sont  pas  lä  tes  estres,  ou  places. 
Tire  toy  vers  l'eschine: 
Yci  ne  sont  pas  tes  aises. 
Tire  toy  au  fond  du  ventre: 
Yci  tu  ne  te  peux  estendre. 
Mais  boute  toy  au  nombril, 
La  oü  la  vierge  (Marie)  porta  son  (eher)  fils. 
Cric,  croc,  maire  retourne  ä  ton  lieu. 
Pater  noster  etc. 

7.  Oraison  pour  guerir  et  arreter  toutes  sortes  de  brülures. 

Par  trois  fois  differentes,  vous  soufflerez  dessus  eri  forme  de  croix  et  direz: 
Feu  de  Dieu,  perds  ta  chaleur-comme  Judas  perdit  sa  couleur-quand  il  trahit 
N.-S.-au  Jardin  des  Olives;  et  nommez  le  nom  de  la  personne,  disant:  Dieu  t'a 
gueri  par  sa  puissance;  sans  oublier  la  neuvaine  ä  l'intention  des  cinq  plaies  de 
N.-S.-J.-C.  Ainsi  soit-il. 

Vgl.  Hock,  Croyances  pop.  S.  130;  Sauve,  Folk-Lore  des  Hautes-Vosges  S.  215; 
Thiers,  Traite  des  superst.  1,409;  Melus.  1,  400;  3,  112;  Musee  Neuchätelois  34,  56; 
Rev.  de  l'Avranchin  2,  364;  Rev.  d.  trad.  pop.  1,  38;  15,  380;  18,  298;  19,  489; 
Schweizer  Arch.  12,  102.  —  In  deutschen  Segen  ist  mir  das  Motiv  nur  einmal  be- 
gegnet: Gegen  das  wilde  Feuer. 

Feuer,  feuer,  feuer, 

verliere  deine  hitz, 

wie  der  Judas  seine  färb  verloren  hat, 

als  er  den  herrn  Jesum  Christum  verrathen  hat. 

ZfdA.  7,  536  nr.  14. 

8.  Oraison  pour  l'epine. 

Pointe  sur  pointe.  —  Mon  Dieu  guerissez  cette  pointe  comme  saint  Cöme  et 
Saint  Damien  ont  gueri  les  cinq  plaies  de  N.-S.-J.-C.  au  Jardin  des  Olives. 
NATUS  EST  CHRISTUS,   MORTUUS  EST   ET  RESURREXIT  CHRISTUS.  — 


240  Eberinanü: 

Apres  que  vous  aurez  dit  cette  oraison,  vous  prendrez  un  linge  d'homme,  blanc  de 
lessive,  que  vous  couperez  long  et  large  comine  le  doigt,  puis  vous  le  mettrez  en 
croix  sur  l'epine,  et  ensuite  vous  l'envelopperez  comme  il  est  dit;  ensuite  le 
souffrant  fera  une  neuvaine  a,  jeun,  a  l'intention  des  souffrances  qu'a  endurees 
N.-S.-J.-C.  sur  le  calvaire. 

Vgl.  Hock  a.  a.  0.  S.  478;  Rev.  d.  trad.  pop.  1,  38  nr.  15;  Musee  Neuchät.  35,  68; 
J.  W.  Wolf,  Beitr.  z.  deutschen  Myth.   1,  'Hil  nr.  41. 

9.  Oraisons  ä  saint  Antoine  de  Padoue,  pour  les  pestes  et  autres  besoins  que 
nous  avons  chaque  jour. 

Pere  et  patron,  saint  Antoine  de  Padoue, 
Qui  vous  invoque  au  besoin  evident, 
Peril  de  raort  et  de  calamites, 
Remedie  ä  mort  subite  et  peste, 
En  terre  et  mer,  en  foudre  et  tempete. 
Pour  retrouver  toutes  choses  perdues, 
Des  bonnes  sont  par  vous  defendues, 
Et  bien  souvant  aux  pauvres  innocents 
Faites  gagner  proces  tous  contents; 
Jeunes  et  vieux,  qui  ä  vous  ont  recours, 
A  leurs  besoins  vous  donnez  tous  secours. 
Priez  pour  nous,  qu'en  sortant  de  ce  monde, 
Dans  le  ciel,  en  joie  et  paix  durable, 
Toujours  en  repos  delectable.     Ainsi  soit-il. 

Dieses  verdorbene  Stück  besteht  offensichtlich  aus  zwei  Gebeten,  so  dass  die 
Mehrzahl  'oraisons'  in  der  Überschrift  gerechtfertigt  ist.  Zeile  6  ist  die  Über- 
schrift des  zweiten  Gebetes;  zu  diesem  vgl.  Rev.  d.  trad.  pop.  12,  511: 

Saint-Antoine  de  Padoue 
Qui  etes  si  bon  et  si  doux 
Et  qui  faites  qu'on  retrouve  toujours  tout, 
Faites  que  je  retrouve  (l'objet  perdu). 

Nisard,  Bist,  des  livres  pop.  2,  54  zitiert:  Prieres  et  oraisons  en  l'honneur  de 
saint  Antoine  de  Padoue,  pour  les  ämes  devotes  qui  les  diront  ou  qui  les  porteront 
sur  elles  dans  toutes  leurs  necessites,  raaladies,  adversites  et  perils,  32";  23  pages. 
Toulouse,  Ronnemaison  et  Fages.  o.  J.  —  Der  Grund,  weshalb  Antonius  Ver- 
lorenes wiederfindet:    Nisard  2,  55. 

10.  Friere  pour  dissiper  les  mauvais  esprits. 

Chaque  raatin,  ä  votre  lever.  —  0  Pere  tout-puissant,  Mere  la  plus  tendre 
des  meres,  ö  exemple  admirable  des  sentiments  et  de  la  tendresse  de  toutes  les 
meres;  6  Fils,  la  fleur  de  tous  les  fils,  6  femme  de  toutes  les  femmes;  ärae,  esprit, 
harmonie;  6  nombre  de  toutes  choses,  conservez-nous,  protegez-nous,  et  soyez- 
nous  propice  en  tous  temps  et  en  tous  lieux. 

Puis  vous  direz  par  trois  fois:  Mon  Dieu,  j'espere  en  vous,  le  Fils  et  le  Saint- 
Esprit,  et  en  moi.     Ainsi  soit-il. 

11.  C'est  ici  la  mesure  de  la  plaie  du  cote  de  N.-S.-J.-C. 

(Stilisierte  Abbildung  einer  Wände.) 

Laquelle  fut  apportee  de  Constantinople  ä  l'empereur  Charlemagne.  dans  un 
coffre  d'or,    comme    relique  tres-precieuse.      Elle  a  teile  vertu,    que    celui    qui    la 


Le  Medecin  des  Pauvres.  141 

portera  sur  soi,  avec  respect  et  devotion,  bravera  tout  danger,  ne  perira  ni  en  feu 
ni  en  eau,  ni  en  bataille,  et  aura  bonheur  et  victoire  sur  tous  ses  ennemis;  et 
celui  qui  toujours  la  portera,  de  mauvaise  raort  ne  mourra. 

Vgl.  Ch.  Nisard,  Hist.  des  livres  pop.  2,  5.  Das  beinahe  wörtlich  gleich- 
lautende Zitat  stammt  aus:  Le  Trepassement  de  la  Sainte  Vierge,  contenant  les 
litanies  et  plusieurs  oraisons;  ensenible  la  plaie  du  cote  de  Notre-Seigneur; 
36  pag.  24°.  Epinal,  Pellerin,  s.  dat.  —  Thiers,  Traite  1,  312:  Haec  est  mensura 
plagae  quae  erat  in  latere  Christi  delata  Constantinopoli  etc. 

12.  L'oraison  suivante  a  ete  trouvee  sur  le  sepulchre  de  Notre-Dame,  en  la 
vallee  de  Josaphat,  et  a  tant  de  vertus  et  de  proprietes,  que  celui  qui  la  lira  ou 
la  fera  lire  une  fois  le  jour,  ou  qui  la  portera  sur  soi  en  bonne  intention  et 
devotion,  ne  peut  perir  ni  par  le  feu,  ni  par  l'eau,  ni  en  bataille;  il  aura  bonheur 
et  victoire  sur  ses  ennemis;  on  ne  peut  lui  faire  ni  dommage  ni  gene;  et  a  tant 
d'avantages,  que  si  une  personne  etait  tombee  en  peche  mortel,  Dieu  lui  donnera 
la  grace  de  s'en  relever  avant  sa  mort;  eile  verra  la  vierge  Marie  ä  son  aide  et 
reconfort. 

Oraison  precieuse  pour  dissiper  les  nuages,  en  la  repetant  trois  fois,  comme 
ayant  trois  proprietes  differentes. 

0  glorieuse  vierge  Marie,  Mere  de  Dieu,  dame  des  anges,  benigne  et  pure 
esperance  et  reconfort  de  toute  bonne  creature; 

Plaise  a  vous,  dame  et  mere  et  mere  des  anges,  nous  garder  le  corps  et  l'äme. 
Nous  prions  votre  precieux  fils  qu'il  veuille  nous  garder  de  tout  peril  et  de  tout 
danger,  de  l'ennemi,  d'enfer  et  de  tentation,  par  les  merites  de  son  amere  passion; 
fasse  cesser  raortalite,  guerre,  et  conserve  les  fruits  de  la  terre,  afin  que  nous 
puissions  vivre  en  concorde.  0  mere  de  Dieu,  pleine  de  misericorde,  ayez  pitie 
des  pauvres  pecheurs  et  gardez-nous  de  l'infernal  tourment  et  menez-nous  au 
royaume  Celeste  oü  nous  nous  trouverons  tous  devant  Dieu,  le  pere  tout-puissant, 
ä  qui  ä  genoux  nous  demanderons  pardon;  et  lui  plaise  nous  pardonner  comme 
ä  la  Madeleine  et  au  bon  larron,  lorsqu'il  demanda  pardon  sur  l'arbre  de  la  croix. 

Une  ferame  en  travail  d'enfant,  en  mettant  la  dite  Oraison  sur  eile,  sera 
d'abord  delivree. 

13.  Oraison  pour  guerir  le  mal  d'yeux. 

Bienheureux  saint  Jean  passant  par  ici,  trois  vierges  sur  son  chemin,  leur 
dit:  „Que  faites-vous  lä?"  „Nous  guerissons  de  la  maille."  Guerissez,  vierges; 
guerissez  l'oeil  ou  les  yeux  de  N  .  .  .  Puis  faisant  le  signe  de  la  croix  et  soufflant 
dans  Toeil,  on  dit:  „Maille,  feu,  grief  ou  que  ce  soit  ongle,  graine  ou  araignee, 
Dieu  te  commande  de  pas  avoir  plus  de  puissance  sur  cet  oeil,  que  les  Juifs,  le 
jour  de  Paques,  sur  le  corps  de  N.-S.-J.-C;  puis  on  fait  encore  un  signe  de 
croix  en  soufflant  dans  les  yeux  de  la  personne,  disant:  Dieu  t'a  gueri;  sans 
oublier  la  neuvaine  ä  l'intention  de  la  bienheureuse  sainte  Ciaire. 

Vgl.  Hock  a.  a.  0.  S.  44;  Sauve  a.  a.  0.  S.  188;  Melus.  3,  113  nr.  Sa;  Rev. 
d.  trad.  pop.  19,  49;  22,  453;  Schw.  Arch.  14,  260;  J.  W.  Wolf,  Beitr.  z.  deutschen 
Myth.  1,  260  nr.  36;  Enchiridion  du  pape  Leon  III  nr.  7  (arg  verstümmelter  Über- 
rest). —  Die  Segen  von  den  drei  Frauen  werden  auch  in  Deutschland  häufig  gegen 
Augenleiden  gebraucht,  z.  B.:  Bartsch,  Mekl.  2,  11;  das.  S.  358 ff.:  Curtze,  Volks- 
überlieferungen aus  .  .  .  Waldeck  S.  424;  Engelien  und  Lahn,  Der  Volksmund  in 
derMark  Brandenburg  S.  153;  K.  MüUenhoff,  Sagen  usw.  S.  516;  Alem.  16,56;  Ndd. 
Korrespbl.  21,  23;  ZfdPh.  6,  160;  oben  7,  54;  Zs.  f.  rhein.  u.  westf.  Vk.  1,  217.  — 
Dasselbe  Motiv  zum  Stillen  von  Blutungen:  Ebermann,  Bl.  u.  W.  S.  80ff. 


]42  Ebermann: 

14.  Friere  pour  guerir  les  tranchees  des  chevaux. 

Cheval  noir  ou  gris  (car  il  faut  distinguer  la  couleur  du  poil  de  la  bete), 
appartenant  ä  N.,  si  tu  as  Jes  avives,  de  quelque  couleur  quelles  soient,  ou 
tranchees,  ou  rouges,  ou  trente-six  sortes  d'autres  maux,  en  cas  qu'ils  y  soient, 
Dieu  te  guerisse  et  le  bienheureux  saint  Eloi;  Au  nom  du  Pere,  du  Fils  et  du 
Saint-Esprit.     Ainsi  soit-il. 

Et  vous  direz  cinq  Pater  et  cinq  Ave  pour  remercier  Dieu  de  sa  grace. 

Vgl.  Hock  a.  a.  0.  S.  476;  Volkskunde  (ndl.)  7,  139;  Rev.  d.  trad.  pop.  19,  490. 

15.  Lettre  miraculeuseraent  trouvee  dans  un  lieu  nomme  Arois,  ä  trois  lieues 
de  Saint-Marcel,  ecrite  en  lettres  d'or  par  la  main  de  notre  Sauveur  et  redempteur 
Jesus-Christ. 

Umfangreicher  Himmelsbrief,  abgedruckt  Wallonia  5,  112.  —  Über  Himmels- 
briefe ygl.  Hess.  Bl.  f.  Vk.  8  (1909)  81  ff.;  Mitt.  d.  Schles.  Ges.  f.  Vk.  Heft  19.  45ff.; 
Wiener  Akademie  (philos.-hist.  Kl.)  1901,  wo  eine  umfassende  Bearbeitung  der  H. 
in  Aussicht  gestellt  wird. 

16.  Oraisons  au  saint-sepulchre  de  N.-S.  Jesus-Christ. 
Lange  Gebete  ohne  volkskundliches  Interesse. 

17.  Saint  Roch,  qui  ne  fut  jamais  invoque  en  vain  dans  les  contagions, 
n'aquit  (!)  a  Montpellier  en  1284.  Ayant  perdu  ses  parents  ä  Tage  de  vingt  ans, 
il  distribua  ses  biens  aux  pauvres;  deguise  en  pelerin,  il  prit  le  chemin  de  Rome, 
en  passant  par  Aqua.  Cependant  il  apprit  que  la  peste  y  faisait  de  grands 
ravages;  il  s'offrit  pour  soigner  les  pestiferes  qu  on  transportait  a  l'hopital.  A  peine 
fut-il  parmi  les  malades,  que  la  peste  disparut  de  l'hopital  et  de  toute  la  ville; 
le  fleau  ayant  passe  ä  Cesane,  il  y  va,  et  sa  presence  fait  cesser  la  maladie:  la 
contagion  ayant  penetre  dans  Rome,  ce  fut  un  motif  pour  presser  notre  saint  d'y 
aller.  A  son  arrivee  le  mal  cessa  encore.  De  la  il  se  rendit  ä  Plaisance,  ou  une 
maladie  epidemique  desolait  toute  la  ville;  il  y  signala  sa  charite.  11  fut  attaque 
lui-meme  d'une  fievre  ardente  et  d'une  douleur  cruelle  dans  la  cuisse  gauche,  ce 
qui  l'obligea  a  se  retirer  dans  une  hutte  au  fond  d'un  bois  jusqu'a  sa  guerison. 
l\  retourna  dans  son  pays  ou  il  mourut  en  odeur  de  saint,  apres  avoir  re^u 
pieusement  les  sacraments  de  l'eglise.  Apres  sa  mort  on  trouva  ces  mots  ecrits 
pres  de  son  corps:  Ceux  qui,  frappes  de  la  peste,  invoqueront  mon  serviteur  Roch 
seront  gueris. 

Seigneur,  qui  avez  glorieusement  recompense  les  vertus  de  saint  Roch  en 
rendant  sa  protection  si  puissante  et  si  salutaire  pour  les  pestiferes,  exaucez  dans 
votre  grande  misericorde  les  voeux  ardents  de  votre  peuple  afflige,  qui  implore 
aujourd'hui  avec  confiance  la  protection  de  votre  illustre  serviteur:  daignez  preter 
l'oreille  ä  nos  humbles  supplications  et  nous  accorder,  par  les  merites  de  saint 
Roch,  d'etre  preserves  de  toute  maladie,  des  epidemies  et  surtout  du  peche,  le 
plus  grand  de  tous  les  maux;  nous  vous  en  prions  par  Jesus-Christ,  notre  seigneur, 
notre  refuge,  notre  consolateur.     Ainsi  soit-il. 

ORAISON. 

Jesus-Christ,  fils  du  Dieu  vivant,  ayez  pitie  de  moi;  Sauveur  du  monde,  sauvez- 
moi;  Vierge  sainte,  priez  pour  moi  votre  eher  fils  bienaime;  Reine  des  anges  et 
des  bienheureux,  aidez-moi;  et  a.  l'heure  de  ma  mort,  oü  mon  äme  sortira  de  mon 
Corps,  priez  pour  moi  votre  eher  fils,   afin  qu'il  daigne  me  pardonner  mes  peches. 

Rouen,  imp.  veuve  A.  Surville,  rue  des  Bons-Enfants,  46.  —  Stempel  der 
Bibl.  nat.  von  1851. 


Le  Medecin  des  Pauvres.  143- 

II.  Le  Medecin  des  Pauvres  ou  recueil  de  prieres  et  oraisons  precieuses 
contre  le  Mal  de  Dents,  les  Cöupures,  les  Rhumatismes,  les  Fievres,  la  Teigne^ 
la  Colique,  les  Brülures,  les  Mauvais  Esprits  etc.  (Ohne  Angabe  des  Jahres; 
Stempel  der  Bibliothek  von  1896.  Am  Schlüsse  Orleans.  —  Imp.  Morand,  rue 
Baunier,  47).  —  (Oben  nr.  17.) 

1.  Oraison  pour  toutes  sortes  de  brülures. 

Par  trois  fois  differentes,  vous  soufflerez  dessus  en  forme  de  croix  et  vous 
direz  ä  saint  Laurent:  Sur  un  brasier  ardent,  —  vous  retourniez  et  n'etiez  pas 
souffrant,  —  faites-moi  la  grace  —  que  cette  ardeur  se  passe,  —  feu  de  Dieu,  perds 
ta  chaleur  —  comme  Judas  perdit  sa  couleur,  —  quand  pour  sa  passion  juive,  — 
il  trahit  Jesus  au  jardin  des  Olives,  —  et  apres  avoir  nomme  la  personne  vous 
ajouterez:  Dieu  t'a  gueri  par  sa  puissance.  —  Sans  oublier  la  neuvaine  a  l'intention 
des  cinq  plaies  de  N.-S.  Jesus-Christ.     Ainsi  soit-il. 

Der  hl.  Laurentius  wird  mit  Beziehung  auf  sein  Martyrium  in  deutschen  und 
niederländischen  Formeln  gegen  Brandwunden  angerufen,  z.  B.  Frischbier,  Bexenspr. 
und  Zauberb.  S.  40;  Ganzlin,  Sächsische  Zauberformeln.  Progr.  Realsch.  Bitterfeld 
1902.  S.  9;  Alera.  22,  122;  25,  127;  Hess.  Bl.  1,  17;  2,  18;Mitt.  d.  schles.  Ges.  f.Vk. 
Heft  6,  31;  Pfarrhaus  16,  104:  Schweiz.  Arch.  4,  322;  7,  48;  oben  7,  65—66 
nr.  4a — c;  Zs.  f.  rh.  u.  wf.  Vk.  2,  286;  6,  289;  8,  77;  Verdam,  Over  Bezwerings- 
formulieren  S.  26  und  32;  Biekorf4,  176;  0ns  Volksleven  6,58.  —  Zur  zweiten 
Hälfte  unseres  Segens  vgl.  oben  S.  139  nr.  7. 

2.  Oraisons  pour  les  epines  et  echures  et  pour  le  bourbillon  des  clous  et 
furoncles. 

Doux  Jesus,  la  couronne  d'epines  qui  fut  posee  sur  votre  front  n'y  laissa  que 
trous  de  gloire,  pourtant  l'epine  est  raalfaisante,  mais  oü  regne  la  foi,  eile  n'est 
qu'innocente:  j'espere  en  vous  et  vous  prie  ä  mains  jointes,  que  vous  retiriez 
cette  pointe;  mon  Dieu,  commandez  qu'elle  sorte,  et  pour  tout  dire,  ouvrez  la 
porte  (nommez  la  personne)  per  Christum  natura  mortuum  resurrectum  et  vivum 
in  aeternum  exi  spina  aut  vermiculuni. 

Cette  oraison  dite,  vous  prendrez  du  linge  d'homme,  blanc  de  lessive,  vous  en 
taillerez  deux  morceaux  que  vous  poserez  en  croix  sur  l'epine,  et  en  ayant  soin 
d'en  envelopper  le  doigt,  avant  comme  apres  l'oraison,  vous  soufflerez  trois  fois 
sur  l'epine,  sur  le  clou  ou  le  furoncle,  le  patient  fera  une  neuvaine  a  jeun  en 
memoire  des  souffrances  de  Jesus-Christ  sur  le  Calvaire. 

3.  Priere  pour  arreter  la  rage  de  dents,  pour  guerir  un  mal  de  tete  ou  un 
mal  d'oreilles. 

Der  Segen  entspricht  dem  ersten  des  vorigen  Heftes  (S.  136),  ist  aber  vrie  die 
ersten  fünf  Formeln  des  vorliegenden  Heftes  durchgereimt;  er  ist  abgedruckt  bei 
Nisard,  Hist.  des  livres  pop.  2,  76  und  R.  Köhler  3,  548. 

4.  Oraison  pour  mal  d'aventure  et  panaris. 

Apres  avoir  plonge  le  doigt  dans  l'eau  bouillante,  couvrez-le  d'un  linge  que 
vous  aurez  fuit  toucher  a  une  relique  de  saint  et  dites:  qui  bout,  qui  bat,  qui  cuit 
sous  cette  peau" —  m'ote  sorameil  et  repos.  —  C'est  germe  venu  de  Satan  —  qui  me 
cause  un  si  grand  tourment,  —  j'ai  croyance  et  mon  äme  est  pure,  —  soulage- 
moi,  Saint  Bonaventure. 

On  recitera  cette  priere  jusqu'ä  ce  que  guerison  s'ensuive.  —  Vgl.  Nisard 
2,  76. 


144  Ebermann: 

5.  Oraison  pour  le  mal  d'yeux. 

Le  bienheuieux  saint  Jean,  —  s'en  allait  cheminant  et  meditant,  —  trois 
vierges  il  vit  qui  lui  passaient  devant,  —  que  faites-vous  seant  purete  et  lumiere. 
Nous  guerissons  de  souffrir  et  mal  voir.  —  Vierges  guerissez  l'oeil  ou  les  yeux 
de  (on  nomme  la  personne  en  lui  soufflant  dans  l'oeil)  et  l'on  dit  en  faisant  le  signe 
•de  la  croix:  mal-orbit,  dragon,  taie,  feu  gregeois,  ongle,  graine,  pouron,  araignee 
ou  poussiere,  ongle  ou  paille  de  fer.  Dieu  te  commande  de  n'avoir  pas  plus  de 
puissance  sur  cet  oeil  que  les  juifs  apres  l'Ascension  sur  le  corps  de  Notre 
Seigneur  Jesus  Christ.  On  fait  un  second  signe  de  croix  en  soufflant  de  nouveau 
dans  l'ceil  du  malade,  et  l'on  dit:  Dieu  t'a  gueri.  Si  le  mal  persiste,  on  fait  une 
neuvaine  a  l'intention  des  bienheureuses  sainte  Ciaire  et  sainte  Luce.  —  Vgl. 
oben  S.  141  nr.  13. 

6.  Oraison  contre  le  cholera,  le  typhus,  la  suette,  la  scarlatine,  la  veröle,  et 
toute  espece  de  contagion. 

Umfangreiches  Gebet  ohne  volkskundliches  Interesse. 

7.  Oraison  a  la  vraie  croix. 

Elle  doit  etre  recitee  avec  grande  devotion  par  le  malade  et  par  les  personnes 
qui  l'assistent. 

1.  —  Sainte  vraie  croix  arrosee  du  sang  du  juste. 

2.  —  Bois  sacre  qui    fut  orne    du  corps  de  Dieu  ä  l'heure  supreme  de  la 

Passion. 

3.  —  Relique  precieuse  et  sans  pareille,  defends  mon  corps  de  mal  engence 

de  putridite  et  de  souffrance. 

4.  —  Et  donne  ä  mon  äme  allegeance. 

5.  —  Par  les  larmes  des  saintes  ferames. 

6.  —  Par  ton  signe  glorieux. 

7.  —  Par  la  couronne  d'epines. 

8.  —  Que  mort  ne  me  surprenne  et  me  mette  au  cercueil  que  confesse  et 

administre.     Ainsi  soit-il. 

8.  Oraison  contre  la  maladie  des  pommes  de  terre. 
Abgedruckt  bei  Nisard  2,  77. 

9.  Oraison  pour  la  femme  qui  est  en  mal  d'enfant,  afin  d'obtenir  prompte  et 
heureuse  delivrance. 

La  femme  enceinte  doit  toujours  avoir  sur  eile  cette  oraison,  et  quand  vien- 
dront  les  douleurs,  eile  devra  la  lire  ou  se  faire  lire,  et  la  repetera  a  mesure 
qu'on  la  lui  lira. 

Anne  a  enfante  Marie;  Marie  le  Sauveur;  Elisabeth,  saint  Jean-ßaptiste; 
Marie  Jacobe,  Jacques  de  Galice;  ainsi  pauvre  femme  qui  soulTre  enfantera  comme 
elles  enfanterent,  sans  qu'il  y  eüt  trace  de  vives  douleurs;  au  nom  du  divin 
Sauveur,  enfant  qui  est  dans  le  ventre,  male  ou  femelle,  viens  au  bapteme  oü 
t'appellent  Jean  et  Jesus,  viens  au  bapteme  te  laver  et  te  purifier,  que  l'eau  efface 
le  peche.  Femme  qui  enfante  est  en  angoisse  et  en  tristesse  parce  qu'elle  craint 
deux  morts  en  ce  moment;  mais  est-elle  delivree  eile  n'a  memoire  de  la  torture 
et  tout  est  joie  en  eile,  car  l'homme  est  ne  en  ce  monde  et  Jesus  triompfiant 
fera  repandre  sur  son  chef  l'eau  de  misericorde.  Jesus  de  Nazareth,  roi  des  Juifs, 
ayez  pitie  de  nous;  Jesus  le  commencement  et  la  fin  ne  nous  abandonnez  pas; 
Jesus,  regnez  et  soulagez,  Jesus  fermez  la  plaie.     Ainsi  soit-il. 


Le  Medecin  des  Pauvres.  145 

On  recitera  cinq  Pater  et  cinq  Ave,  en  memoire  des  cinq  plaies  de  Notre 
Seigneur,  et  ä  chaque  etoile  marquee  ci-dessus  (?),  on  devra  faire  le  signe  de  la 
croix. 

Zum  Anfang  dieser  Formel  vgl.  S.  140  nr.  3. 

10.  Oraison  contre  les  crouelles,  scrofules,  humeurs  froides  et  mauvaises 
humeurs. 

Jesus  qui  avez  gueri  le  lepreux,  delivrez  votre  serviteur  du  vilain  mal  qui 
l'afflige. 

Grand  saint  Louis,  vous  qui  touchiez  les  scrofuleux  et  les  renvoyiez  sains  et 
purs  en  leur  logis,  faites  descendre  votre  esprit  sur  le  pauvre  monde,  et  que  toutes 
plaies  soient  fermees. 

Bienheureux  saint  Maclou,  soulagez  ceux  qui  vous  venerent  et  renouvelez  en 
leur  faveur  le  miracle  de  Reims. 

On  repetera  cette  oraison  soir  et  matin,  la  veille  de  toutes  les  grandes  fetes 
et  apres  avoir  recite  cinq  Pater  et  cinq  Ave,  on  dira  trois  fois:  Mon  Dieu,  je 
vous  offre  mes  aCfections  comme  Job  sur  son  fumier  vous  offrit  les  siennes.  Mon 
Dieu,  j'eleve  mon  äme  ä  vous  comme  Job  elevait  la  sienne.  Mon  Dieu,  ayez 
pitie  de  moi. 

11.  Oraisons  ä  saint  Hubert,  contre  les  betes  enragees,  scorpions,  basilice,  et 
autres  animaux  venimeux. 

0  grand  saint  Hubert,  veillez  sur  nous,  et  qu'aucune  bete  enragee  ou  veni- 
meuse  ne  puisse  nuire  ä  nous,  ä  nos  parents,  amis  ou  connaissances.  —  Ö  grand 
saint  Hubert,  preservez-nous  de  tous  dangers  par  les  champs,  par  les  chemins, 
par  les  bois,  par  les  vallees,  par  les  monts  et  en  autres  lieux.  —  0  grand  saint 
Hubert,  preservez  aussi  toutes  les  betes  de  notre  maison,  et  qu'aucune  d'elles  ne 
soit  atteinte  ou  mordue.  —  0  grand  saint  Hubert,  guerissez-nous,  soufflez  de  votre 
esprit  sur  la  plaie  et  sur  le  venin,  que  la  plaie  se  forme  et  que  le  venin  se 
dissipe.  —  Ce  dernier  verset  ne  doit  etre  prononce  que  quand  la  personne  a  ete 
mordue.  Apres  avoir  bien  lave  avec  de  l'eau  et  du  sei  la  plaie  faite  par  la 
morsure,  sur  etendue  de  laquelle  on  appliquera  en  appuyant  forteraent  a  plusieurs 
reprises  une  grosse  clef  de  fer  rougie  au  feu;  pendant  qu'on  fera  cette  Operation, 
on  recitera  le  Miserere. 

Über  die  Anrufung  des  heiligen  Hubertus  zum  Schutz  gegen  den  Biss  toller 
Hunde  vgl.  die  ausgezeichnete  Monographie  von  H.  Gaidoz,  La  Rage  et  St.-Hubert. 
Paris  1887  (Bibliotheca  Mythica  L),  worin  jedoch  das  vorliegende  Gebet  nicht 
enthalten  ist.  Ähnliche  Anrufungen  des  hl.  Hubert  s.  Wallonia  •>,  100 f.;  E.  Rolland, 
Faune  pop.  11,  69.  —  Über  den  im  Schluss  unserer  Formel  erwähnten  Hubertus- 
schlüssel vgl.  Gaidoz  a.  a.  0.  S.  126 ff.;  Thiers,  Traite  des  superst.  1,  371 ;  P.  Lebrun, 
Histoire  critique  des  pratiques  superst.    Paris  1702,  p.  358;  oben  11,  207  und  342. 

12.  Oraison  aux  deux  Genevieves  pour  obtenir  que  tous  les  troupeaux  soient 
preserves  des  loups  et  de  toutes  mauvaises  maladies. 

Sainte  Genevieve  de  Paris  vous  qui  gardiez  les  brebis  comme  jadis  Joseph  a 
garde  les  troupeaux  de  Pharaon  en  Egypte,  donnez  votre  houlette  au  berger  pour 
que  le  loup  ni  aucune  mechante  bete  ne  le  puisse  approcher.  —  Sainte  Genevieve 
de  Brabaut,  dont  Jesus  et  votre  bon  ange  garderent  votre  biche  de  tout  peril  et 
votre  personne  de  la  fureur  de  Golo,  veillez  sur  les  brebis  du  Bon  Pasteur  et 
defendez-les  du  loup  devorant.  —  Jesus  notre  doux  sauveur,  qui  naquites  dans  la 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1914.   Heft  2.  10 


146 


Ebermann : 


creche  de  Bethleem,    ne  souffrez  pas,    nous  vous  en  conjurons,    que  mal  arrive  a 
aucun  des  animaux  qui  furent  les  premiers  temoins  de  votre  venue  en  ce  monde. 

Sainte  Genevieve  de  Paris,  intercedez  pour  nous. 
Sainte  Genevieve  de  Brabant,  priez  pour  nous. 

Le  troupeau  dont  le  berger  portera  sur  lui  cette  oraison,    qu'il  devra   reciter   soir 
et  matin,  ne  sera  jamais  attaque. 

Eine  dem  ersten  Teil  unseres  Gebetes  ähnliche  Formel  verzeichnet  Sauve, 
F.-L.  des  Hautes-Vosges  S.  15.  Daher  Rolland,  F.  pop.  8,  85.  —  Andere  Formeln 
zum  Schutze  des  Viehes  gegen  Wölfe  sind  im  Französischen  recht  häufig,  vgl. 
z.  B.  Rolland,  Faune  pop.  1,  124ff.  u.  8,  84ff. 

13.  Oraison  contre  toutes  sortes  de  charmes,  enchantements,  sortileges,  visions, 
illusions,  possessions,  obsessions,  empechements,  maleftces  de  mariage,  et  tout  ce 
qui  peut  arriver  par  le  malefice  des  sorciers,  ou  par  l'incursion  des  diables  et 
aussi  tres  profitable  contre  toutes  sortes  de  malheur  qui  peut  etre  donne  vent  aux 
chevaux,  juments,  boeufs,  moutons,  brebis,  et  autres  especes  d'animaux. 

Lange  Beschwörung  ohne  volkskundliches  Interesse. 

14.  Friere    pour   l'hydropsie,    les    päles    couleurs    et   les  boules    d'eau    dans 

la  tete. 

Mon  Dieu,  ordonnez  ä  l'eau  de  se  retirer  de  mon  sang,  comme  vous  retirätes 
autrefois  les  eaux  du  deluge  et  l'eau  du  Jourdain.  Mon  Dieu,  changez  en  sang 
l'eau  de  mon  corps,  comme  vous  changez  en  vin  l'eau  des  cruches  aux  noces  de 
Cana.  Mon  Dieu,  ne  me  refusez  pas  ce  miracle,  et  qu'il  s'opere  enfin,  per  Dominum 
nostrum  Jesum  Christum. 

Nr.  15—19  entsprechen  Heft  I  nr.  2— G;  20—21  entsprechen  I,  9—10. 

22.    Oraison  precieuse  pour  la  parfaite  guerison  du  charbon. 

0  Jesus,  mon  Sauveur,  vrai  Dieu  et  vrai  homme,  je  crois  fermement  que 
vous  avez  repandu  votre  sang  pour  nous;  je  crois  dans  l'Eucharistie,  avoir  souffert 
pour  nous,  repandu  votre  sang  precieux  de  votre  gräce  et  ne  m'oubliez  pas  dans 
votre  sainte  gräce  pour  ma  maladie  dont  j'implore  notre  saint  patron,  intercedez 
pour  nous.  Ainsi  soit-il.  —  Au  pied  de  l'autel,  il  faut  interceder  le  patron  de 
l'endroit  oü  est  le  malade,  et  ensuite  vous  prendrez  du  lierre  le  plus  proche  de 
la  terre,  du  savon  qui  n'a  point  servi,  vous  le  battrez  le  tout  ensemble  avec  de 
la  jeune  creme,  vous  appliquerez  cela  avec  l'oraison  et  on  est  promptement 
gueri. 

Nr.  23  entspricht  I,  14;  nr.  24  entspricht  I,  12. 

III.  Auf  dem  Titelblatt  eine  Darstellung  der  Kreuzigung,  umrahmt  von  einer 
Dornenkrone.  Darunter  'Christus  regnat'  etc.  wie  bei  Heft  I.  Am  Schluss:  A  Va- 
lence,  de  l'imprimerie  de  J.-F.  Joland.    Erscheinungsjahr  1821.     (Oben  Nr.  1.) 

Das  Heft  enthält  vier  Formeln,  die  mit  geringen  Abweichungen  den  nr.  1  —  2 
und  4—5  des  Heftes  I  gleichen.  An  die  vierte  Formel  schliesst  sich  eine  Er- 
mahnung an  Väter  und  Mütter,  die  Kinder  zu  gottesfürchtigen  Menschen  zu  er- 
ziehen, die  so  schliesst:  Portons  sur  nous  le  Saint-Suaire  de  Notre  Sauveur  Jesus 
Christ,'  cette  image  sainte  et  salutaire  sera  en  tout  lieu  notre  appui;  eile  met  les 
Chretiens  a  l'abri  du  feu  du  ciel  et  du  tonnerre;  portons  les  armes  du  Seigneur,. 
pour  nous  preserver  de  malheur. 


Le  Medecin  des  Pauvres.  147 

Journee-Pratique. 

Chretien, 

Souvieus-toi  que  tu  as  aujourd'hui : 

ün  Dieu  ä  glorifier, 

ün  Jesus  ä  imiter, 

La  Vierge  et  les  Saints  a  prier, 

Les  bons  Anges  a  honorer, 

Une  äme  ä  sauver, 

Un  Corps  ä  mortifler, 

Des  vertus  a  demander, 

Des  mechans  ä  expier, 

Un  Paradis  ä  gagner, 

Un  enfer  ä  eviter, 

Une  eternite  a  mediter, 

Un  temps  a  menager, 

ün  prochain  a  edifler, 

Un  monde  a  apprehender, 

Des  demons  ä  combattre. 

Des  passions  a  abattre, 

Peut-etre  la  mort  a  souffrir. 

Et  le  jugement  a  subir. 

IV.  Das  Titelbild  zeigt  Gott  Vater  umgeben  von  Wolken  und  Sternen. 
Darunter:  Laissez  dire  et  faites  le  bien.  Quiconque  me  meprisera  plus  tard  s'en 
repentira.  Christus  regnat  usw.  8  Seiten.  Am  Schluss:  Imprimerie  de  Brodard, 
a  Couloramiers.     (Oben  Nr.  2.) 

Inhalt:  Nr.  1—10  wie  Heft  I,  1—10.  Nr.  11  wie  Heft  H,  22.  Nr.  12  wie  II, 
24.     Nr.  13  wie  11,  5.     Nr.  14  wie  11,  23.     Nr.  15  wie  I,  15. 

V.  St.-Quentin.  Impr.  de  Cottenest,  1828.  (Oben  Nr.  3.)  —  Der  Inhalt  ist 
derselbe  wie  der  des  vorigen  Heftes,  nur  steht  an  Stelle  von  Nr.  15  folgendes 
Gebet:  Oraison  a  Notre-Dame  des  affliges.  —  0  Dieu,  infiniment  misericordieux, 
qui  ne  voulez  pas  que  le  pecheur  perisse,  mais  qu'il  se  convertisse,  et  qu'il  vive, 
accordez-nous  par  Tintercession  de  Notre-Dame  des  Affliges,  consolatrice  des 
malheureux,  secours  de  tous  nos  maux,  tant  de  l'äme  que  du  corps;  nous  vous 
supplions,  avec  une  parfaite  resignation  a  sa  sainte  volonte.  Par  Jesus-Christ, 
notre  Seigneur. 

VI.  Titelblatt  ähnlich  den  übrigen.  Chälons-sur-Saöne,  typ.  Montalan,  1857. 
16  Seiten.     (Oben  Nr.  9.) 

1.    Priere  pour  guerir  de  l'enflure. 

Dieu  et  la  bonne  Sainte  Notre  Dame  se  promenant  parmi  les  champs  ren- 
contrerent  le  bienheureux  St.-Pierre  qui  gardait  son  troupeau,  et  lui  dirent:  Bien- 
heureux  St.-Pierre  que  fais-tu  la?  —  Mon  bon  grand  Dieu  et  ma  bonne  Sainte 
Notre  Dame,  je  garde  mon  troupeau  qui  est  attaque  de  l'entlure;  je  crois  que  j'ai 
mal  garde  et  qu'il  en  perira.  —  Dieu  et  la  bonne  Sainte  Notre  Dame  lui  repondi- 
rent:  Mon  bienheureux  Saint-Pierre,  va-t-en,  et  pendant  que  tu  t'en  iras  et  que  tu 
reviendras,  ta  bete  se  guerira. 

10* 


148  Ebermann: 

2.    Remede  contre  la  rage. 

Vous  prendrez  quatre  oeufs  frais  et  du  jour,  vous  enoterez  les  germes. 
Vous  prendrez  des  verses  pilees,  que  vous  trouverez  sous  l'ecorce  d'un  vieux  ebene 
abbatu  depuis  7  ä  8  mois;  vous  ferez  secher  cette  poudre  et  apres  l'avoir  tamisee, 
vous  en  prendrez  une  pleine  cuillere  que  vous  mettrez  dans  l'omelette.  Vous 
fricasserez  l'omelette  avec  de  l'huile  de  noix  pure.  Vous  la  luangerez  sans 
crainte  et  vous  serez  gueri  pour  la  vie.  —  Nota:  Ce  remede  est  celui  de  madame 
Morange,  de  la  commune  d'Ige. 

S.   Friere  pour  les  cochons  malades. 

Quand  vous  voyez  votre  cochon  malade,  jetez-le  ä  terre,  et  mettez-lui  dans  la 
gueule  un  morceau  de  bois,  de  crainte  qu'il  vous  morde.  Mettez  ensuite  votre 
main  sous  le  gueuloyon,  et  votre  cochon  sera  gueri  du  poil  du  loi(?),  du  rouge  et 
du  charbon.  Continuez  de  tenir  votre  main  sous  le  gueuloyon,  jusqu'u  ce  que  la 
priere  soit  achevee,  en  disant:  Ronfe,  saute  a  la  moelle,  ce  qui  est  a  la  moelle 
saute  aux  os,  ce  qui  est  aux  os  saute  a  la  chair,  ce  qui  est  a  la  chair  saute  ä  la 
peau,  ce  qui  est  ä  la  peau  saute  au  poil,  ce  qui  est  au  poil  saute  a  bas,  je  te 
souhaite,  et  dire  trois  fois  sur  le  cochon,  au  nom  du  Pere,  du  Fils  et  du  St.  Esprit 
et  ne  pas  ajouter:  Ainsi  soit-il.  Saignez  votre  cochon  ä  la  gueule  ou  ä  la  queue  et 
il  sera  gueri. 

Das  stufenweise  von  innen  nach  aussen  Zaubern  dieser  F'ormel,  das  dem  Rück- 
wärtszaubern  ähnlich  ist,  habe  ich  sonst  in  französischen  Segen  nicht  gefunden, 
dagegen  ist  es  in  deutschen  Formeln  nicht  selten.  So  lautet  ein  Segen  'für  die 
wilden  Geschoss  oder  bösen  Luft',  der  im  Jahre  lfil7  aufgezeichnet  ist,  folgender- 
massen:  'Wilde  schoss,  ich  gebeut  dir  aus  dem  Markh  in  das  Bain,  wilde  Ge- 
schoss, ich  gebeut  dir  aus  dem  Bain  in  das  Flaisch,  w.  G.  i.  g.  d.  aus  dem  Flaisch 
in  das  Bluot  (die  Anfangsbuchstaben  werden  bei  jedem  folgendem  Satze  wieder- 
holt), aus  dem  Bluot  in  die  Haut,  aus  der  Haut  in  das  Haar,  aus  dem  Haar  in  die 
Erden,  neun  Claffter  tief!'  Mones  Anzeiger  6  (1837)  470  nr.  27.  Daselbst  noch 
zwei  andere  Lesarten.  Vgl.  ferner:  Alemannia  15,  123  (1650);  Germ.  26,  235  nr.  33; 
31,  345  nr.  2;  oben  11,  84;  Zföst.  Vk.  6,  6;  ZdVfrh.  u.  wf.  Vk.  2,  29G;  8,  68  nr.9; 
8,  70  nr.  21;  Hovorka  u.  Kronfeld,  Vergleichende  Volksmedizin  2,  864.  Vgl.  auch 
M.  S.  Dkm.  1,  17  Nr.  5. 

4.  Remede  pour  la  fievre. 

Prenez  trois  cuillerees  de  miel  et  trois  verres  d'eau,  prenez  aussi  trois  petits 
bouquets  de  saule,  faites  reduire  le  tout  a  un  verre,  et  donnez  le  au  malade  qui 
sera  bientot  gueri. 

5.  Recette  pour  detruire  les  mouches  qui  tourmentent  les  animaux. 

Prenez  des  feuilles  de  noyer,  faites-les  bouillir  ou  tremper,  frottez  avec  un 
Chiffon  votre  betail,  et  jamais  mouche  ou  taon  ne  le  tourmentera.  —  Pour  detruire 
les  mouches  des  raaisons,  prenez  du  sucre  avec  du  poivre,  reduisez  le  tout  en 
poudre  et  faites-en  un  melange  que  vous  deposerez  sur  une  assiette.  Le  mouches 
tres  avides  de  ce  remede,  l'avaleront  et  periront  infailliblement. 

6.  Priere  pour  guerir  la  matrice. 

Monsieur  de  St.-Jean,  madame  St.-Jean  et  le  fils  St.-Jean,  j'espere  que  vous 
guerirez  cette  personne,  comme  je  crois  que  la  Ste-Vierge  est  la  mere  de  notre 
Sauveur,  Jesus-Christ.     Au  nom  du  Pere  etc. 


Le  Medecin  des  Pauvres.  149 

7.  Friere  pour  le  scorbut. 

Chancre  blanc,  chancre  rouge,  chancre  noir  et  toutes  sortes  de  chancres  ma- 
lins,  je  referme  le  scorbut  dedans,  je  te  jure  et  je  te  conjure  de  t'en  aller  aussi 
vite  devant  moi  que  la  rosee  s'en  va  devant  le  soleil  le  jour  de  la  St. -Jean,  en 
soutflant  pendant  trois  matins  de  suite  dans  la  bouche  de  la  personne  avant  le 
soleil  leve.  —  Vgl.  Melus.  3,  116  nr.  15;  Rev.  d.  trad.  pop.  7,  243;  7,  247  nr.  17; 
Schweiz.  Arch.  12,  104;  14,  2G5.  —  Der  Wunsch,  dass  die  Krankheit  so  schnell 
verschwinden  möge,  wie  der  Tau  vor  der  Sonne,  ist  ein  in  französischen  Segen 
häufig  wiederkehrendes  formelhaftes  Elen\ent. 

8.  Recette  pour  avoir  de  beaux  bwufs    exempts    de    maladie  pendant  un  an. 
Prenez    une    fourche    de    noisetier  que  vous    couperez    au  lever  du  soleil,    et 

arrangerez  promptement  le  matin  de  la  premiere  Notre-Dame.  Vous  entrerez  ensuite 
dans  l'ecurie  et  vous  direz  trois  fois:  Bonjour  mes  boeufs,  mes  boeufs  mangeront, 
boiront,  y  tireront  et  y  seront  victorieux  comme  moi.  Donnez  ä  manger  ä  vos 
bceufs  avec  la  fourche  que  vous  avez  coupee.  Cinq  Pater  et  cinq  Ave  a  l'honneur 
de  St.-Thomas.     Au  nom  etc. 

9.  Friere  pour  les  convulsions. 

Dieu  y  a  part  et  la  Sainte  Vierge  aussi.  St. -Jean  de  Bresi,  convulsion,  va-t-en 
d'ici,  nous  ne  t'avons  pas  ete  querir. 

10.  Friere  pour  faire  rendre  le  lait. 

Achetez  un  pot  neuf,  allez  sous  votre  vache,  et  tirez  la  premiere  fois  du  lait 
dans  le  furnier,  disant:  Rendez  ä  Cesar  ce  qui  est  ä  Cesar.  Tirez  ensuite  dans 
le  pot:  rendez  a  Cesar  ce  qui  appartient  ä  Cesar;  tirez  enfin  dans  le  furnier:  rendez 
ä  Cesar  ce  qui  appartient  ä  Cesar.  Apportez  votre  lait  a  la  maison  et  passez  le 
pot  derriere  la  cremaillere  d'une  main  et  reprenez  le  de  l'autre.  Alors  vous  rous 
mettez  ä  genoux  devant  votre  pot,  et  vous  dites:  Dieu  est  ne  la  nuit  de  Noel  ä 
minuit,  puis  benissant  le  pot  vous  repetez:  Au  nom  etc.  Jetez  dans  le  feu  tout 
le  lait  qui  est  dans  le  pot,  et  Jamals  sortilege  n'aura  pouvoir  sur  votre  lait.  —  Zu 
dem  Durchziehen  der  Milch  hinter  dem  Kesselhaken  vgl.  Schweiz.  Arch.  12,  119 
nr.  4.  —  Milch  auf  den  Mist  giessen  als  Schutz  gegen  Milchhexen  vgl.  Mitt.  u. 
Umfragen  z.  bayrischen  Vk.  1910  S.  36. 

11.  Moyen  de  degonfler  subitement  le  betail. 

Four  degonfler  un  boeuf,  une  vache  ou  un  mouton,  ouvrez-lui  promptement  la 
gueulo,  faites  un  petit  cornet  du  surot,  et  soufflez-lui  trois  fois  dans  la  gorge. 
Aussitöt  qu'ils  ont  recu  du  vent  de  chretien,  ils  sont  promptement  gueris. 

12.  Pour  l'accouchement  des  femmes. 

Prenez  un  poulet  tout  vif,  que  vous  ouvrez.  Otez-lui  le  coeur,  et  mettez  le 
sur  la  poele  pour  le  faire  griller  pendant  une  minute.  Faites-le  prendre  par  la 
personne  souffrante  dans  du  vin  et  du  bouillon,  et  dites:  Ste-Notre-Dame, 
prenez  pitie  de  cet  accouchement,  et  abbattez  tranchees  contre  tranchees.  Au 
nom  etc. 

13.  Four  regogner. 

Vous  dites:  Veine  ä  l'aise,  veine  a  l'aise,  veine  ä  l'aise,  va  de  l'cndroit  oü  tu 
etais,  que  ce  soit  de  la  droite  ou  de  la  gauche.  Au  nom  de  la  Sainte-Vierge  et 
au  nom  du  patron  de  la  personne.     Dire  trois  fois,  au  nom  etc. 


1'50  Ebermann: 

14.  Pour  le  sang. 

Demandez  le  prenom  de  la  personne,  et  dites  trois  Notre-Dame  pour  le  sang. 
La  premiere  Notre-Dame  dit,  en  repetant  le  prenom:  Jaques  ou  Pierre  perd  tout 
son  sang,  au  nom  etc.;  la  seconde  Notre-Dame  dit:  mon  Dieu  nous  le  guerissons, 
au  nom  etc.;  la  troisieme  repond:  Mon  Dieu,  il  est  gueri  au  nom  etc. 

15.  Conjuration  de  la  colique. 

On  doit  dire:  colique  cordee,  colique  tranchee,  colique  tranchee  rouge,  colique 
tranchee  noire,  colique  tranchee  jaune,  colique  tranchee  verte,  colique  tranchee 
bleue,  colique  tranchee  grise,  colique  tranchee  blanche,  colique  tranchee  qui  est 
venue,  ou  qui  a  ete  donnee,  je  te  renvoie  comme  tu  est  venue  ou  donnee.  —  Coli- 
que tranchee  ou  cordee,  je  te  decorde,  colique  tranchee  je  te  deboucle,  colique 
cordee  qui  es  dans  les  entrailles,  je  te  detranche.  —  Colique  tranchee  cordee  que 
Dieu  te  tranche,  comme  je  te  tranche. 

VII.  Le  Medecin  des  Pauvres  ou  Recueil  de  Prieres  pour  le  soulagement 
aux  maux  d'estomac,  Charbon,  Pustule,  Fievres,  Plaies,  Flux  de  sang,  Hydropsie,  Rhu- 
matismes,  Asthmes,  Etouffements,  Rompures,  Convulsions  des  enfants,  Cholera, 
Typhus,  Scarlatine,  Suette,  Veröle,  Piqüres  ou  Morsures,  Maux  de  dents,  mauvaises 
Humeurs,  Gales,  Dartres  etc.  —  Das  Titelbild  zeigt  den  im  Tempel  lehrenden 
Jesus.  —  A  Troyes,  chez  Baudot,  Imp.  Libraire;  rueduTemple,  30.   (Oben  Nr.  10.) 

Preface. 

Loin  de  nous  ces  idees  de  malefices  et  enchantements,  de  semblables  croyances 
ne  peuvent  qu'irriter  le  Seigneur.  —  Que  l'on  accepte  donc  cette  nouvelle  edition 
du  Medecin  des  Pauvres  comme  seule  digne  de  l'homme  pieux  et  de  bon  sens, 
ce  petit  livre  nous  rapprochera  de  Dieu  et  pourra  nous  en  attirer  toutes  les  gräces, 
s'il  y  a  foi  et  piete  dans  la  recitation  de  ces  prieres.  —  Sur  terre  il  n'y  a  jamais 
eu  que  Dieu  visible  ou  invisible  et  l'homme;  croire  aux  reveiiants  est  absurde,  on 
a  pendant  des  siecles  abuse  de  la  faiblesse  des  intelligences,  on  a  fait  jouer  des 
pantins,  ou  on  a  fait  parier  ou  gemir  dans  l'ombre;  tout  cet  echafaudage  d'une 
sorcellerie  organisee  aurait  pu  etre  souvent  renversee  par  la  simple  balle  d'un 
pistolet;  un  enfant  de  notre  epoque  eut  fait,  avec  son  sabre  de  fer-blanc,  fuir  ces  re- 
venants  qui  tromperent  si  longtemps  la  credulite  publique. 

1.  Oraison  pour  demander  la  guerison  du  mal  caduque,  de  la  danse  de  saint 
Gui,  et  des  maux  d'estomac. 

Le  malade  dira  ou  bien  l'on  dira  ü  son  Intention  la  priere  que  voici:  Comme 
David  avec  sa  harpe  guerit  le  roi  Saul,  Dieu,  guerissez  le  cerveau  du  pauvre  en 
son  affliction;  bienheureux  saint  Gui,  intercedez  pour  celui  qui  a  perdu  son  guide 
et  la  liberte  de  son  mouvement. 

2.  entspricht  Heft  11  nr.  22.     Nr.  3  entspricht  I  nr.  5. 

4.  Priere  pour  arreter  le  sang  d'une  coupure  ou  d'une  plaie,  le  flux  de 
sang  etc. 

Dieu  est  ne  la  nuit  de  Noel  a  minuit,  Dieu  est  mort,  Dieu  est  ressuscite, 
Dieu  a  commande  au  sang  de  s'arreter,  le  sang  ne  coula  plus,  ä  la  marque  des 
clous;  il  dit  de  s'efl'acer  et  cette  marque  disparut,  sta  sanguis,  ut  sanguis  Christi, 
ut  sanguis  Christi,    sta  sanguis.     On  repete  cinq  fois    ces  mots  latins  en  memoire 


Le  Medecin  des  Pauvres.  151 

des  cinq  plaies  de  Jesus,    6  Seigneur  nous  vous  supplions  pour  celle  de  .  .  .  (dire 
le  nora  du  malade}, 

5.  wie  II,  14. 

6.  Oraison  pour  demander  guerison  des  rhumatismes,  fraicheurs,  douleurs, 
rhumes,  toux,  asthmes,  coquetuches,  etouffements,  nouures,  rompures,  blessures  et 
aütres  infirmites. 

Par  la  bienheureuse  sainte  Anne,  mere  de  la  vierge  Marie  qui  enfenta  Jesus, 
par  les  merites  de  la  Passion,  par  les  miracles  de  la  croix  de  salut,  nous  prions 
Dieu  de  guerir  (on  nomrae  la  personne)  comme  par  ta  gräce  saint  Come  et  saint 
Damien  ont  gueri  les  plaies  du  Maitre  divin. 

7.  Oraison  pour  demander  guerison  des  convulsions  des  enfants  et  des 
entorses. 

0  mon  Dieu,  nous  supportons  tout  pour  l'amour  de  vous,  cependant  des  que 
nous  vous  en  supplions,  repandez  sur  nous  votre  benediction,  dissipez  ces  maux 
qui  nous  assiegent.  0  mon  Dieu,  daignerez-vous  guerir  (dire  le  nom  du  malade). 
On  recite  ensuite  cinq  Pater  et  cinq  Ave. 

Nr.  8  wie  11,  6.  —  9  wie  II,  2.  —  10  wie  I,  1.  —  H  wie  II,  10.  —  12  wie 
1,  4.  —  13  wie  II,  12.  —  14  ähnlich  II,  21,  aber  kürzer. 

15.  Oraison  pour  demander  la  guerison  de  la  pierre,  des  retentions  d'urine  et 
des  maux  de  reins. 

Mon  Dieu  qui  lites  tomber  les  rochers  de  Jericho,  brisez  les  pierres  qui  fönt 
souffrir  votre  serviteur,  et  que  par  l'efficacite  des  rocbs  de  hirim  et  thumim  por- 
tees  par  le  grand-pretre  Melchisedec  en  l'arche  d'alliance,  elles  eclatent  en  poussiere 
et  ne  puissent  se  reformer.    Amen. 

Abgedruckt  bei  Nisard,  Hist.  des  livres  pop.  2,  80. 

16.  Oraison  ä  saint  Antoine  de  Padoue,  pour  quand  on  est  dans  le  besoin  ou 
qu'on  implore  quelques  objets  perdus  ou  voles. 

Grand  Saint  que  partout  on  loue, 
Vertueux  saint  Antoine  adore  ä  Padoue, 
Daigne  nous  preserver  de  calamites, 
De  fievres,  tourments,  lepre  et-  infirmites. 
Pais  que  nous  ne  soyons  frappes  de  mort  subite. 
Et  ne  soyons  atteints  des  maux  que  l'on  evite; 
Jeunes  et  vieux,  en  toi  s'ils  ont  recours 
Esperent  tous  d'avoir  ton  bon  secours. 
En  terre  en  raer,  prie  que  toutes  tempetes 
Se  detournent  et  fuient  loin  nos  tetes. 
Aux  bons  et  innocents,  prie  pour  gain  en  proces, 
Aux  travailleurs  procure  bon  succes. 
A  qui  te  prie,  rends-toi  si  favorable, 
Que  tu  voudras  nous  etre  secourable, 
Nous  t'invoquons,  daigne  nous  ecouter. 
Et  de  tout  ton  pouvoir  au  moins  nous  proteger, 
Pour  retrouver  toutes  choses  perdues, 
Pais  que  nos  voeux  de  Dieu  soient  entendus; 
Pour  que  l'objet  cherche,  si  cache  nous  soit-il, 
Nous  puissions  retrouver  bientöt.     Ainsi  soit  il. 
Vgl.  oben  Heft  I,  9. 


152  Ebermann: 

17  wie  II,  11. 

18.  Precieuse  oraison  pour  demander  la  preservation  de  tous  maux  et  dangers 
0  glorieuse  Vierge  Marie,  raere  de  Dieu,  plaise  ä  vous,  dame  et  mere  des 
anges,  nous  garder  le  corps  et  l'ärae!  Nous  prions  votre  precieux  fils,  qu'il  nous 
reuille  garder  de  tout  peril  et  danger.  0  mere  de  Dieu,  pleine  de  raisericorde, 
ayez  pitie  des  pauvres  pecheurs,  et  nous  menez  au  royaume  Celeste  oü  nous  nous 
trouverons  tous  devant  Dieu,  le  pere  tout-puissant. 

Maria  virgo,  ora  pro  nobis, 
Jesus  gloria  coeli,  exaudi  nos. 

Vni.  Titelblatt  wie  gewöhnlich,  ohne  Bild.  Laon,  Typ.  Ern.  Marechal,  rue 
Chätelaine,  16.  —  1850.  —  8  Seiten.     8°.     (Oben  nr.  17.) 

1.  Friere  de  saint  Bernard  a  la  sainte  Vierge.  —  Gebet  um  Erhörung. 

2.  Friere  ä  Saint  Roch.  —  Gebet  um  Abwendung  der  Fest. 

3.  Friere  ä  saint  Sebastien.  —  Gebet  um  Befreiung  von  ansteckenden 
Krankheiten. 

Nr.  4— 13  wie  IV,  2—11.  —  14  wie  I,  13. 

15.    Four  guerir  le  chancre. 

Chancre  blanc,  chancre  rouge,  chancre  douloureux,  eteins  ton  feu  et  ta  rougeur 
comme  Judas  a  perdu  sa  couleur  quand  il  a  trahi  Notre  Seigneur.  —  Vous  dites 
l'oraison  trois  fois,  vous  soufflez  en  croix  sur  la  bouche  de  la  personne  et  vous 
trouvez  une  parfaite  guerison.  —  Vgl.  VI,  7  und  I,  7. 

16  wie  11,  24.  —  17  wie  I,  14. 

18.    Oraison  pour  guerir  l'entorse. 

Vous  dites  trois  fois:  Et  te,  super  ante,  super  ante  te,  puis  vous  soufflez  en 
croix  sur  l'entorse  et  ä  la  fin  de  chaque  oraison,  vous  ferez  la  raeme  chose  pour 
un  faux  ecart  u  un  cheval. 

Diese  letzte  Formel  ist  in  der  auf  dem  Titelblatt  verzeichneten  Inhaltsangabe 
nicht  enthalten.  —  Die  anscheinend  sinnlosen  lateinischen  Worte  dieser  Formel 
finden  sich  —  mit  geringen  Änderungen  —  nicht  selten.  Vgl.  Vicaire,  Etudes 
S.  68;  Melus.  1,  499;  Rev.  des  trad.  pop.  7,  247;  17,  413;  19,  489;  21,  3U7;  22,  4.31; 
23,268;  Schweiz.  Arch.  10,  52.  Auch  wenn  in  der  niederländischen  'Volkskunde' 
7,  140  gegen  Fussverrenkung  beim  Fferd  die  "Worte  empfohlen  werden:  aule,  aulele, 
super  aule,  so  sind  diese  Worte  zweifellos  durch  A^erlesen  aus  unserer  Formel 
entstanden. 

IX.  Paris.  —  Imprimerie  de  Gosse  et  I.  Dumaine,  Rue  Christine,  2.  —  1862. 
—  8  Seiten.     8".     (Oben  nr.  11). 

Nr.  1 — 13  entsprechen  denselben  Nummern  in  Heft  IV,  wo  auch  diese 
Formeln  durch  einen  auf  nr.  13  folgenden  Strich  als  besonderer  Abschnitt  ge- 
kennzeichnet sind.  Aber  nr.  9  des  vorliegenden  Heftes  stimmt  im  Wortlaut  nicht 
mit  der  entsprechenden  Formel  von  IV,  sondern  von  I  überein. 

14.  Oraison  pour  le  Tonnerre,  u  saint  Donat,  eveque  et  martyr.  Langes 
Gebet  ohne  besonderes  Interesse. 

15  wie  I,  15. 


Le  Medecia  des  Paovres.  153 

X.  Paris.  —  Imprimerie  Prissette,  passage  Kuszner,  17.  —  Maison  passage 
du  Caire,  17.  —  1863.  —  S  Seiten.     S».     (Oben  nr.  12.) 

Wortgetreuer  Abdruck  von  Heft  IX. 

XI.  Beaune.  —  Autographie  Boutton.     1868.     (Oben  nr.  13.) 

Diese  schriftliche  Vervielfältigung  stimmt  inhaltlich  mit  Heft  IV  überein;  am 
Schluss  ist  hinzugefügt: 

Priere  pour  reraettre  les  Entorses,  les  Hernies  et  les  Cassures. 

Les  quatre  Evangelistes  St.-Jean,  St.-Luc,  St.-Mathieu  et  St.-Marc  sont  ici 
presents  pour  remettre  cassures  et  demetures,  faire  le  signe  de  la  croix  sur  le 
mal  en  disant  trois  fois  ces  paroles.  —  Pendant  la  neuvaine  dire  cinq  Pater  et 
cinq  Ave,  a  jeun. 

Xn.  Argenteuil,  Typographie  Worms.  Henry,  Lithographe  a  Argenteuil. 
(Oben  nr.  14.) 

Nr.  1 — 8  stimmen  überein  mit  den  entsprechenden  Nummern  von  Heft  IV. 

9.  Oraison  pour  nous  preserver  des  ennemis  qui  nous  environnent,  comme 
ennemis  ou  allies,  et  qui  nous  persecutent. 

Fils  de  Dieu  vivant,  ayez  pitie  de  moi!  que  la  puissance  de  Dieu  paraisse, 
que  l'ennemi  se  dissipe,  et  que  tous  ceux  qui  me  haissent  fuient  de  moi  et  de  ma 
presence,  comme  la  fumee  se  dissipe  par  les  vents,  comme  la  cire  fond  au  feu! 
De  meme  que  les  pecheurs  perissent  en  la  presence  de  Dieu,  et  que  Jesus  soit 
eleve  et  rejoui  en  la  presence  de  Dieu!    Gloire  soit  au  Pere  etc. 

10  wie  I,  11.  —  11  wie  II,  24.  —  12  wie  I,  13.  —  13  wie  I,  15. 
Am  Schluss:  Vu  et  perrais  d'imprimer,  Sans,    le  8  septembre  1817  (!).     Signe 
Ferrand,  sous-prefet. 

Xm.    Mäcon,  imp.  Protat.  —  1868.  —  24  Seiten.     16°.     (Oben  nr.  15). 

1  wie  I,  1.  —  2  wie  I,  6.  —  3  wie  I,  2.  —  4  wie  I,  3.  —  5  wie  I,  7.  — 
6-7  wie  I,  8—9.  —  8  wie  I,  4.  —  9  wie  I,  5.  —  10  wie  I,  10.  —  11  wie  II,  22  — . 
12  wie  I,  12.  —  13  wie  I,  14.  —  14  wie  I,  13.  —  15  wie  I,  15. 

16.  Priere  pour  le  mal  de  dents. 

On  offre  neuf  Pater  et  neuf  Ave  Maria  pendant  neuf  jours,  ä  l'honneur  de  la 
mort  et  de  la  passion  de  notre  Seigneur  Jesus-Christ,  pour  le  repos  des  ames 
dans  le  Purgatoiro;  ä  l'honneur  de  sainte  Appoline  et  de  saint  Lazare.  On  se 
met  un  doigt  sur  la  dent,  en  disant:  Dent  malade  que  tu  guerisses  selon  la 
volonte  de  Notre  Seigneur  Jesus-Christ  et  de  la  Tres-Sainte  Vierge.  Et,  faisant 
trois  signes  de  croix,  on  repete  trois  fois:    Au  nom  etc. 

17.  Priere  pour  guerir  l'entorse.  Ante,  au  nom  du  Pere,  du  Fils  et  du  Saint- 
Esprit.  Ante  te,  au  nom  etc.  Per  super  ante  te,  au  nom  etc.  Ainsi  soit-il.  — 
Vgl.  Heft  VIII,  18. 

18.  Contre  la  colique. 

On  prend  un  morceau  de  pain  que  Ton  met  sur  la  main,  en  disant:  Pain,  je 
te  benis,  que  Dieu  et  la  Sainte  Vierge  tc  benissent  aussi.  Au  nom  etc.  On  omet 
Ainsi  soit-il.  —  En  repetant  ainsi  trois  fois  les  memes  mots:  Au  nom  etc.  La 
derniere  fois  on  ajoute  Ainsi  soit-il,  en  disant:  Que  Dieu  tc  guerisse  vite,  s'il  lui 
plait;  ensuite  vous  donnez  le  morceau  de  pain  au  malade. 


3^54  Ebermann: 

19.  Friere  pour  guerir  l'entorse. 

Entorse,  detorse,  veines  nerfs,  veines  sautees,  tressautees,  je  prie  Dieu  et  la 
bonne  Notre-Dame  de  Mars  d'y  remettre  dans  l'endroit  oü  eile  etait.    Au  nom  etc. 

20.  Friere  pour  la  brülure. 

Notre  Seigneur  Jesus- Christ,  un  jour  se  promenant  avec  Saint  Simon, 
rencontrerent  une  personne  qui  souffrait  beaucoup;  Saint  Simon  lui  dit:  Seigneur, 
voilä  une  personne  qui  souffre  bien.  Jesus-Christ  lui  repondit:  Si  tu  voulais,  Simon, 
tu  la  guerirais  bien.  Seigneur,  je  n'ai  pas  celte  puissance.  Simon,  approche 
d'elle,  tu  souffleras  trois  fois  sur  la  brülure  et  eile  sera  guerie.     Au  nom  etc. 

21.  Four  la  guerison  des  bestiaux. 

Saint  Fierre  et  saint  Jean,  s'en  allant  parmi  les  champs,  rencontrerent  un 
berger.  Berger  gardes-tu  bien?  Non,  pas  trop,  j'ai  une  bete  qui  est  bien  malade, 
peut-etre  qu'elle  en  va  perir.  Non,  berger  (en  pronogant  le  nom  de  la  bete),  que 
ce  qui  est  a  la  gorge  saute  au  pansigot;  ce  qui  est  au  pansigot  saute  ä  la  moelle; 
ce  qui  est  a  la  moelle  saute  aux  os;  ce  qui  est  aux  os  saute  a  la  chair;  ce  qui 
est  ä  la  chair  saute  au  poil;  ce  qui  est  au  poil  saute  a  bas.     Au  nom  etc. 

Vgl.  Heft  VI,  3.  ~  Ähnlich  Melusine  3,  115  nr.  14;  Rev.  des  trad.  pop.  25, 
390.  —  Schweiz.  Arch.  12,  108  nr.  58. 

22.  Friere  contre  la  morsure  de  la  vipere, 

Saint  Simon  s'en  va  ä  la  chasse;  il  a  chasse,  lui  et  ses  chiens,  trois  jours  et 
trois  nuits,  sans  rien  trouver  qu'une  mauvaise  bete  venimeuse  de  plusieurs 
Couleurs,  qui  Ta  raordu  lui  et  ses  chiens;  Saint  Simon  a  fait  un  si  haut  cri  que 
Notre  Seigneur  Jesus-Christ  l'a  entendu  et  lui  a  dit:  Simon,  qu'as-tu  donc?  Mon 
Seigneur,  j'ai  chasse  trois  jours  et  trois  nuits  sans  avoir  trouve  qu'une  mauvaise 
bete  venimeuse  de  plusieurs  couleurs  qui  m'a  mordu  moi  et  mes  chiens.  Notre 
Seigneur  Jesus-Christ  lui  a  dit:  Va-t-en,  Simon,  tu  prendras  neuf  feuilles  de  ronces 
et  de  la  graisse  de  porcelin,  et  tu  frotteras  la  plaie  de  chaque  feuille  jusqu'a  neuf, 
en  mettant  un  morceau  de  graisse  dessus,  tu  gueriras  toi  et  tes  chiens  et  la  bete 
en  perira.     Au  nom  etc. 

Vgl,  Holland,  Faune  pop.  11,  68—69;  Vicaire,  Foes.  pop.  S.  159. 

23.  Four  guerir  l'erisipele. 

On  prend  trois  cuillerees  d'huile  de  noix  et  trois  cuillerees  d'eau  qu'on  bat 
bien  ensemble,  et  l'on  s'en  frotte  la  plaie  avec  une  plume  plusieurs  fois,  et  on 
est  gueri. 

'  24.  Friere  pour  guerir  la  matrice. 
La  Sainte  Vierge  s'en  va  promener  de  bon  matin,  et  rencontre  son  fils  Jesus. 
Bonjour  mon  fils.  Bonjour  ma  mere;  oü  allez-vous  ma  mere?  Je  m'en  vais 
guerir  la  fille  d'un  tel,  qui  est  derangee  de  la  matrice.  Retournez-vous-en,  ma 
mere,  vous  prendrez  de  la  graisse  de  porcelin  et  vous  lui  en  frotterez  les  flaues 
et  les  cotes,  en  disant  que  Dieu  et  la  bonne  Notre-Darae  de  Mars  la  remettent 
dans  l'endroit  oü  eile  etait.     Au  nom  etc. 

XIV.    Macon.  —  Imp.  Romand.   —  1S75.  —  64  Seiten.     IG".    (Oben  nr.  16.) 
1 — 4  volkstümliche  abergläubische  Vorschriften. 
5.    Friere  pour  faire  degonfler  les  bestiaux. 

11  faut  prononcer  ces  mots:  Fierre  ronde,  la  mere  de  Dieu  te  commande  que 
la  gonflure  de  la  vache  blanche  (on  indique  la  couleur  de  la  bete)    fonde  comme 


Le  Medecin  des  Pauvres.  155 

le  sei  dans  l'onde,  au  secours  de  St.-Antoine  de  Berry,  puis  reciter  trois  Pater  et 
trois  Ave  Maria  an  l'honneur  de  St.-Antoine  de  Berry;  si  on  ne  peut  pas  voir  la 
bete,  on  dit:  quel  poil  que  oa  soit. 

6.  Friere  pour  empectier  le  sang  ä  couler. 

Notre  Seigneur  Jesus-Christ  est  ne  le  jour  de  Noel,  Jesus-Christ  a  ete 
circoncis  le  jour  de  la  circoncision,  Jesus-Christ  est  mort  le  Vendredi-Saint,  Jesus- 
(]hrist  est  monte  au  Ciel  le  jour  de  l'Ascension,  Jesus-Christ  a  envoye  le  Saint- 
Esprit  a  ses  apötres  le  jour  de  la  Pentecote;  Jesus-Christ  commande  que  le  sang 
s'arrete.     A  chaque  verset  on  fait  le  signe  de  la  croix. 

7.  Priere  ä  Saint-Hubert. 

Saint-Hubert  a  des  vertus  et  bienheureux  toutes  choses,  nous  defend  de 
l'ennemi  et  le  serpent,  toute  bete  sauvage  ne  puissent  nous  approcher  de 
cinquante-deux  pieds  et  derai,  moi  et  (hier  bricht  die  stark  verstünamelte  Formel 
plötzlich  ab.) 

8.  Priere  pour  arreter  le  mal  en  buvant  dans  les  rivieres,  fontaines  ou 
ruisseaux. 

Voilä  de  l'eau,  c'est  le  Bon  Dieu  qui  l'a  faite.  La  bonne  Vierge  a  bu,  eile 
n'a  pas  pris  de  mal,  ni  moi  non  plus,  s'il  plait  ä  Dieu.     Au  nom  etc. 

9.  Priere  pour  l'entorse. 

Entorse  maudite,  entorse  rentre  dans  ton  endroit  comme  Jesus-Christ  aux 
Oliviers.     Au  nom  etc. 

10 — \o.   Anweisungen. 

14.  Remede  par  les  prieres  et  oraisons  du  pape  Leon. 

Sagaroth  +  Aspanidore  +  paatia  +  vra  jodion  +  Samacron  -f-  Fondon  Aspargon 
Alamar  Bourgavis  Veniat.  Serebonis,  on  ajoute  le  verbe  qui  a  ete  fait  chaire  et 
habite  parmi  nous. 

In  meinem  Exemplar  des  Enchiridion  du  Pape  Leon  III  ist  diese  Formel 
nicht  enthalten. 

15.  Pour  les  brülures  de  feu. 

Notre  St.-Pere  sauva  par  une  voix  cet  enfant  d'un  brasier  ardent;  prenez  du 
sang  de  porc,  frottez-en  trois  fois  le  sang  de  votre  corps  et  le  feu  sera  dehors.  — 
Diese  Formel  steht  vollständig  bei  Nisard,  Hist.  d.  livres  pop.  1,  188:  Notre  Saint- 
Pere  s'en  va  une  voie,  trouve  un  enfant  qui  crie:  Pere,  qu'a  cet  enfant?  II  est 
chu  en  braise  ardente.  Prenez  du  sang  de  porc  et  trois  fascines  de  votre  corps, 
et  le  feu  en  sera  dehors. 

16.  Entorse. 

Dites,  ce  que  Dieu  a  fait  est  bien  fait,  os  desosse,  veine  noire,  nerf  foule, 
entresaute,  que  Dieu  et  la  bonne  Notre-Dame  de  Mars  le  remette  dans  l'endroit 
oü  11  etait.  Au  nom  etc.  —  Repeter  trois  fois  les  raots  suivants:  forcure,  blessurc, 
foulure,  sang,  humeur,  chaud  et  froid,  ne  fais  pas  plus  de  mal  que  la  Sainte- 
Vierge  n'en  a  pas  fait  quand  eile  a  marche  sur  terre. 

17.  Contre  la  maille.     Entspricht  I,  13. 

18.  Pour  hv  piquüre  de  la  couleuvre. 

Martin  sen  va  a  la  chasse  avec  son  chien,  il  a  rencontre  N.-S.  J.-C.  qui  lui 
dit:  j'en  ai  bien  le  sujet  de  l'etre.  —  N.-S.:  Pourquoi  donc  Martin'?  —  Mon  chien 


156  Ebermann: 

a  ete  pique  ä  mort.  N.-S.  lui  dit:  Martin,  retourne  ä  ta  maison,  tu  prendras  des 
feuilles  de  l'angiles  (?),  de  la  graisse  de  porcelin,  tu  en  frotteras  de  haut  en  bas, 
la  couleuvre  en  perira,  ton  chien  en  guerira  et  toi  aussi. 

Wie  in  vielen  anderen  Formeln  dieses  Heftes,  so  ist  auch  in  dieser  der 
"Wortlaut  arg  entstellt.  Hinter  'dit'  ist  etwa  einzuschieben:  Martin,  pourquoi  es-tu 
si  triste?  —  Vgl.  Heft  XHI,  22. 

19.  Friere  pour  les  dartres. 

Dites:  dartres  rouges  de  neuf  racines,  de  neuf  ä  huit,  de  huit  a  sept,  de  sept 
a  six,  ...  de  une  ä  rien,  dites:  que  toutes  se  passent,  comme  elles  sont  venues; 
dites  une  neuvaine  de  dix  jours  ou  de  dix-huit  jours,  et  5  Pater  et  5  Ave  Maria. 

Vgl.  Melus.  9,  210;  Rev.  Celt.  3,  203  nr.  908;  6,  70  nr.  4;  Rev.  des  trad.  pop. 
1,  37;  25,  392.  —  Das  in  dieser  Formel  empfohlene  Rückwärtszaubern  scheint 
über  ganz  Europa  verbreitet  zu  sein,  was  sich  aus  der  lateinischen  Herkunft  der 
Formel  —  sie  wird  zuerst  von  Marcellus  erwähnt  —  erklärt.  Vgl.  P.  Drechsler, 
Das  Rückwärtszaubern  im  Volksglauben  (Mitt.  d.  Schles.  Ges.  f.  Vkd.  Heft  7, 
45 ff.);  Hälsig,  Zauberspruch  bei  d.  Germ.  S.  103 ff. 

20.  Pour  les  vers. 

Notre-Seigneur  s'en  va  avec  St.-Pierre  faire  une  neuvaine,  soit  dans  un  champ, 
il  trouve  trois  vers,  un  blanc,  un  rouge  et  un  noir.  Vers  rongeurs,  je  vous  defends 
de  ne  plus  gäter  le  sang  de  N.  Dites  trois  Pater  etc. 

Verwandte  Wurmsegen  sind  in  Deutschland  ungemein  häufig,  vgl.  z.  B.  Hälsig, 
Germ.  Zauberspr.  S.  92 ff. 

21.  Anweisung. 

22.  Contre  l'hydropisie.     (Adresser  une  priere  fervente  a,  St.-Eutroque). 

23.  Contre  la  goutte. 

Dites  neuf  mois  (!)  ä  jeun:  terra,  pastem,  tenere,  satene,  falerene,  salenes, 
monetes,  his,  hirco,  pedibus;  puis,  baisez  la  terre  et  crachez  dessus,  frottez  d'une 
goutte,  les  membres  atteints,  avec  de  la  colle  volatile  pendant  sept  jours. 

24.  Anweisung. 

25.  Pour  le  mal  caduc. 

Soufflez  dans  l'oreille  droite,  dites  ces  paroles:  Jaspare,  fers,  migraine,  thus, 
malechiar,  balthazard,  ou  ronce,  il  restera  une  heute  pour  le  guerir,  il  faut  avoir 
trois  clous  de  la  longueur  du  petit  doigt,  enfoncez-les  profondement  au  lieu  de  sa 
premiere  chute,  sur  chacun  d'eux  nommez  le  nom  de  la  personne.  Cinq 
Pater  etc. 

In  dieser  Formel  sind  noch  die  verstümmelten  Überreste  des  Dreikönigssegens 
erkennbar,  der  folgendermassen  lautet: 

Gaspar  fert  myrrham,  thus  Melchior,  Balthasar  aurum. 
Haec  tria  qui  secum  portabit  nomina  Regum 
Solvitur  a  morbo  Christi  pietate  caduco. 

Vgl.  H.  Affre,  Dictionnaire  .  .  du  Rourgue  S.  387;  H.  Affre,  Lettres  ä  mes 
neveux  2,  71;  Reinsberg-Düringsfeld.  Cal.  Beige  1,  22;  Rolland,  Faune  pop. 
4,  198  nr.  58;  Thiers,  Traite  1,  107;  Melus.  3,  115;  Wallonia  5,  186ff.  —  Hälsig, 
Germ.  Zauberspr.  S.  98. 

26—30.    Anweisungen:    Contre  mal  caduc.    31—32  desgl.  contre  mal  de  tete. 


Le  Medecin  des  Pauvres.  157 

83.    Pour  la  teigne. 

Dites  pendant  dix  jours  ce  qui  suit:  Saint  Pierre  sur  le  pont  de  Dieu  s'assit. 
Notre-Dame  de  Calais  vint  et  lui  dit:  Pierre  que  fais-tu  lä?  —  A,  dame,  c'est 
pour  le  mal  de  mon  chef  que  je  suis  mis  lä.  —  Pierre  tu  te  leveras;  ä  saint 
Oyer,  tu  t'en  vas,  tu  prendras  du  saint  onguent  des  plaies  mortelles  de  Notre- 
Seigneur,  tu  t'en  graisseras,  tu  diras  trois  fois:    Jesus,  Maria  etc. 

Vgl.  Heft  I,  4. 

32.  Pour  le  flux  de  ventre. 

II  faut  boire  ä  jeun,  trois  jours  de  suite,  du  plantin  des  pies  et  dire  ce  qui 
suit:  je  suis  au  tres-saint  Jardin  des  Oliviers,  j'ai  rencontre  sainte  Elisabeth;  eile 
me  parla  du  flux  de  son  ventre;  je  lui  ai  deniande  gräce  pour  le  mien  et  eile 
m'a  ordonne  de  dire  trois  Pater  etc. 

33.  Pour  le  flux  de  sang. 

Huvez  deux  onces  de  jus  d'ortie  (sa  fleur  rouge)  et  dites:  Omnia,  peruvie, 
Marianne,  Elisabeth,  peruvis,  Joannem,  Maria,  Antem,  Christini  in  nomine,  Jesum 
cessit,  sanguis  ad  hoc  omelo  ou  ab  hoc  famula.  —  Der  verstümmelte  lateinische 
Text  wird  etwa  so  zu  lesen  sein:  Anna  peperit  Mariam,  Elisabeth  peperit  Joannem, 
Maria  autem  Christum.  In  nomine  Jesu  cesset  (?)  sanguis  ab  hoc  famulo  vel  ab 
hac  famula. 

34.  Pour  la  colique. 

On  dit:  Colique  passez,  colique  fache,  colique,  vat-t-en  comme  Judas  a  trahi 
Notre  Seigneur  au  Jardin  des  Olives  et  faites  le  signe  de  la  croix.  Vous  serez 
gueri. 

35.  Pour  la  colique. 

Saint  Blaise,  serviteur  de  Dieu,  je  te  coromande  de  faire  descendre  la  matrice 
et  le  ventre  de  N.  Au  nom  etc.  —  Vgl.  Schw.  Arch.  10,  49  und  58;  12,  104 
nr.  43.     Oben  Heft  I,  (3. 

36.  Pour  les  hemorroides.     (Ohne  Interesse.) 

37.  Pour  arreter  le  sang. 

Au  sang  d'Adam  ne  la  mit  au  sang,  es-tu  lä?  6  sang,  arrete-toi!  aussitot  bände, 
il  faut  le  voir. 

Die  Formel  ist  unheilbar  verdorben.  War  sie  vielleicht  verwandt  mit  dem 
Blutsegen  'in  sanguine  Adae  orta  est  mors'  etc.?  Vgl.  Ebermann,  Blut-  und  Wunds. 
S.  78  ff. 

38.  Pour  arreter  le  sang.     (Ohne  Interesse.) 

39.  Pour  la  coupure.  —  Das  Auflegen  von  Spinngewebe  wird  empfohlen. 
Vgl.  dazu  Hovorka-Kronfeld,  Vergleiehende  Volksmedizin  2,  3.")8. 

40—41.    Anweisungen. 

42.    Pour  le  mal  de  dents. 

On  offre  neuf  Pater  et  neuf  Ave  Maria  pendant  neuf  jours  en  l'honneur  de 
la  sainte  mort  et  la  passion  de  Notre  Seigneur  Jesus-Christ  pour  le  repos  des 
ämes  du  purgatoire,  en  l'honneur  de  sainte  Brigitte,  sainte  Appoline  et  saint 
Laurent.      On    se    met    le    doigt   sur   la   dent   en  disant:    Dent,   je  veux  Que  tu 


158  Ebermarm: 

guerisses  comrae  les  plaies  de  N.  S.  J.-C.  et  les  maux  de  la  sainte  Vierge  vous  a 
gueri  par  la  permission  de  Dieu.  On  fait  le  signe  de  Ja  croix  en  disant:  Äu 
iiom  etc. 

43.  Contre  le  mal  de  dents.     (5  mal  Pat.  nost. ;  5  mal  le  Salue  Marie.) 

44.  Pour  le  mal  d'yeux. 

Saint  Jean  traversant  la  mer  Rouge  rencontra  Notre  Seigneur  qui  lui  dit:  Saint 
Jean,  ou  allez-vous?  Monseigneur,  je  vais  chercher  la  guerison  pour  mes  yeux, 
soit  pour  les  rougeurs,  soit  pour  la  chaleur.  Saint  Jean,  retourne-toi,  car  il  ne 
reste  aueun  mal.     Au  nom  etc. 

45.  Pour  les  meurtrissures  des  yeux.     (Anweisung.) 

46.  Pour  les  paillettes  de  fer  dans  les  yeux. 

Dites  ou  faites  dire  l'oraison  suivante,  adressee  ä  sainte  Ciaire,  vierge  dont 
on  celebre  la  fete  le  13  aoüt:  Bienheureuse  sainte  Ciaire  qui  etes  morte  dans  les 
sentiments  de  piete  si  pure  et  si  mere  que  Dieu  a  voulu  que  vous  soyez  calomniee, 
faites  que,  par  votre  efficace  intercession,  j'obtienne  la  prompte  guerison  des  maux 
que  j'endure.  Durant  cette  priere,  tu  te  seras  procure  un  fort  aimant.  Tu  le  feras 
mettre  sur  les  paupieres  ouvertes,  tandis  une  personne  promenera  l'aimant  tant 
pres  que  possible.  Si  la  priere  ä  sainte  Ciaire  a  ete  fervente,  tu  seras  bientot 
gueri.  A  defaut  d'aimant,  on  racle  un  morceau  de  papier  blanc,  de  maniere  que 
d'un  cöte  il  forme  une  pointe,  qu'avec  cette  pointe,  la  personne  remuant  la 
paillette  bien  doucement  vers  le  coin  de  l'oeil,  on  l'enleve. 

47.  Pour  les  yeux.     Verstümmeltes  Bruchstück  von  I,  13. 

48.  Dieu  est  venu  au  raonde  pour  nous  racheter  de  nos  peches.  II  a  jeüne 
pendant  trois  ans  et  trois  jours.  II  a  ete  vendu  aux  Juifs  trente  deniers.  Fievres 
tierces,  fievres  quartes,  fievres  de  quelle  qualite  qu'elles  soient  ne  puissent  demeurer 
sur  mon  corps,  ä  l'arbre  de  la  croix,  oü  il  a  repandu  son  sang  juste  pour  nos 
peches.     Etc. 

49.  Pour  les  fievres.     (Ähnlich  I,  5.) 
50 — 52.   Anweisungen. 

53.    Pour  se  debarrer. 

Je  me  barre,  je  me  debarre,  au  nom  du  Pere  et  du  Pils  et  du  bardebarre  et 
contredebarre,  au  nom  du  Saint-Esprit.     Trois  Pater  etc. 

54 — 55.    Anweisungen:   Pour  les  ecrouelles  und  Pour  les  envies    des   enfants. 

56.  Oraison  pour  guerir  toutes  sortes  de  maladies.     (Lateinisches  Gebet.) 

57.  Pour  les  betes  a  cornes.     (Anweisung.) 

58.  Pour  les  betes  a  cornes. 

II  faut  arracher  7  brins  de  crin  de  la  queue  de  la  bete,  disant  a  chaque 
brin:  Venin,  sens  respire  (?)  ne  sont  plus.  Les  tordre  ä  gauche  et  les  mettre  dans 
l'oreille  gauche  de  la  bete. 

59.  Pour  les  sorts.     (Anweisung.) 

60.  Pour  lever  le  sort  qui  est  dans  une  ecurie.     (Anweisung.) 

61.  Pour  lever  toutes  sortes  de  sorts. 

Prenez  un  coeur  de  mouton  et  le  percer  de  clous,  le  suspendre  ä  la  cheminee, 
disant:  Restia  clasta,  avarro,  chasta,  castadia,  dara,  N  .  .  .  II  faut  dire  ces  memes 


Le.  Medecin  des  Pauvres.  159" 

paroles  sur  le  corps:  II  nye  et  bovuite  (!).  Un  jour  ne  passera  pas  que  le  sorcier 
qui  a  jete  le  sort,  s'il  en  a  ete  jete,  ne  vienne  presser  le  laisser  le  coeur,  parce 
qu'il  sent  de  grandes  douleurs  au  sien,  celui  qui  demandera  d'oter  le  sortilege, 
et  il  demandera  quelques  animaux  pour  lui  jeter,  ce  que  tu  pourras  lui  aecorder, 
sinon  il  crevera  par  le  miliard  du  coq';(le  milieu^du  corps?),  et  dites  la  priere  des 
Commandements  de  Dieu  et  de  l'Eglise. 

G2— 65.    Pour  les  sorts.     (Anweisungen.) 

66.  Pour  le  lait  caille.     (Anweisung.) 

67.  Pour  rompre  tout  uialfaisant. 

Prenez  une  tasse  de  sei,  plus  ou  moins,  selon  la  quantite  des  animaux 
malfaisants.  Prononcez  dessus:  Herego,  gomet,  hum  guerdon  visseront  deliberont. 
Paites  trois  tours  autour  des  animaux  en  commencant  du  cöte  du  soleil  levant  et 
continuant  suivant  le  cours  de  cet  astre,  les  animaux  devant  vous  et  faites  les 
memes  paroles,  disant:  Delivrez-moi,  Seigneur,  s'il  vous  plait,  Seigneur  de  tous 
les  maux,  et  ä  l'avenir  ayez  recours  a  Dieu  dans  toutes  vos  entreprises.  Dieu 
soit  loue. 

Von  der  verstümmelten  lateinischen  (?)  Formel  werden  Melus.  18,  301  und  305 
zwei  ähnliche,  gleichfalls  verdorbene  Lesarten  mitgeteilt. 

68.  Oraison  merveilleuse  pour  faire  raarcher  une  voiture  qu'un  cheval  ne  peut 
pas  bouger. 

Chostia,  Sacra,  vego,  cavrum.  En  deposant  le  grand  Putiphar  des  embarras 
tout  pour  l'enchantement  et  caractere  qui  ont  ete.  Dites-lui  et  celebrer  sur  le  corps  de 
nies  vifs  chevaux.  Apres  cela,  vous  reciterez  le  verbe:  Que  le  Seigneur  soit  avec 
vous  etc. 

Die  Eingangsworte  der  Formel  haben  vermutlich  gelautet:  'Hostia  sacra  veho 
carrum',  der  Rest  ist  rettungslos  verdorben. 

69.  Pour  faire  perir  les  chenilles. 

II  faut  ecrire  sur  un  morceau  de  papier  ce  qui  suit  et  entourer  Tarbre  et 
dites:  Christus  regnat,  Christus  imperat,  Christus  vincit,  Christus,  vobis  (Christus) 
imperat  ibi  acciderunt  qui  Operator.     Gloire  ä  Dieu. 

70.  Pour  la  grele, 

Dites:  Uno,  apotre  un  abe,  un  apotre,  coro  me.  Que  Dieu  nous  garde  de 
la  grele,  de  l'orage  du  ciel,  temps,  deux  apotres,  deux  sobe(?),  deux  apotres  cou- 
ronnes.  Que  Dieu  nous  garde  de  la  grele,  de  l'orage,  du  mauvais  temps.  Que 
Dieu  nous  garde  de  l'orage  du  ciel,  tempete  du  ciel.  Continuez  jusqu'ä  douze  fois 
apotres,  etc. 

71.  Puur  arreter  le  feu  du  ciel. 

II  faut  prendre  un  oeuf  du  jour  de  Noel  et  le  jeter  contre  le  feu  du  ciel, 
en  disant:  Que  Dieu  t'arrete,  commc  Judas  arreta  Jesus-Christ  au  Jardin  des 
Oliviers. 

72.  Pour  arreter  le  feu  d'une  raaison. 

Qu'il  arrete,  qu'il  arrete,  qu'il  arrete.  J'espere  en  Dieu;  il  confondra  tout 
pour  sa  gloire  dans  reternite  qui  lui  appartient.  In  te  domine  speravi,  non  con- 
fundo  in  aeternum.     Dieu  de  bonte,  protegez-moi.     Dieu  de  misericorde. 


160  Ebermann: 

73.  Pour  tirer  un  bon  numero. 

Seigneur,  qui  n'avez  pas  voulu  que  votre  robe  fut  dechiree,  raais  jetee  au 
sort,  faites-moi  la  gräce  de  m'acquitter  aujourd'hui  que  je  suis  exempt.  Seigneur, 
exemptez-moi,  s'il  vous  plait. 

74.  Pour  ses  ennemis. 

In  nomine  patris  .  .  .  amen.  Jn  nomine  domini  Jesus-Christi  crusifl,  sigo 
(sie!)  qui  me  odini  perti  osesimo  quinipe  me  regati  benedicit  custodiat  possidiat 
hac  horate,  et  die  in  semper  ut  in  super  una  voluntate  sua  seraper  fiat.    Amen. 

75.  Pour  deposseder.     (3  Seiten.) 

76.  Grande  Oraison.     (S'/o  Seiten.) 

77.  Pour  dompter  les  animaux.     (Kurze  Anweisung.) 

Amen. 

Über  die  Entstehung  dieser  Hefte  ist  bisher  nichts  bekannt.  Zwar 
lässt  sich  der  Titel  in  ähnlicher  Form  weiter  zurückverfolgen,  aber  wenn 
Nisard  (Hist.  des  livres  pop.  2,  79)  behauptet:  'C'est  un  tres-mince 
extrait  d'un  livre  celebre:  La  Medecine  et  la  Chirurgie  des  pauvres,  par 
Dom  Nicolas- Alexandre,  Paris  1714,  in  —  12;  souvent  reimprime',  so  ist 
diese  Angabe  irrig.  Herrn  Prof.  Dr.  J.  Bolte,  der  die  Güte  hatte,  diese 
Angabe  nachzuprüfen,  verdanke  ich  darüber  folgende  freundliche  Mit- 
teilung: 'Barbier,  Dictionnaire  des  ouvrages  anonymes,  1875  (3,  100) 
zitiert  drei  Werke  ähnlichen  Titels: 

1.  [Dom  Nicolas  Alexandre,]  La  medecine  et  la  Chirurgie  des 
pauvres,  qui  contiennent  des  remedes  choisis,  faciles  ä  preparer  &  sans 
depense,  pour  la  pluspart  des  maladies  internes  &  externes  qui  attaquent 
le  Corps  humain.  Par  ^*^.  Paris  1714.  —  Ferner  Paris  1740.  1753.  1758. 
Rouen  1818.  Avignon  1820.  Lyon  1822.  Avignon  1823.  1835.  Paris 
1869.     Avignon  1868. 

2.  Phil.  Hecquet,  La  medecine,  la  Chirurgie  et  la  pharmacie  des 
pauvres.     Paris  1740  u.  ö. 

3.  Dube,  Le  medecin  et  Chirurgien  des  pauvres.     Paris  1669. 
Diese    drei  Werke    enthalten    nur    wirkliche    Heilmittel,    aber    keine 

Wundsegen,  Krankheitsbesprechungen  und  Gebete,  und  kommen  daher 
als  Quelle  unserer  Hefte  nicht  in  Betracht'.  Es  ist  auch  von  vornherein 
unwahrscheinlich,  dass  diese  Heftchen  Auszüge  aus  umfangreichen  Büchern 
darstellen,  näher  liegt  die  Annahme,  dass  sie  zusammengestellt  sind  aus 
Flugblättern  ähnlichen  Inhaltes.  Solche  sind  schon  im  Anfang  des 
16.  Jahrhunderts  sicher  bezeugt:  'Nicol.  Le  Rouge  Fimprimeur  a  Troyes 
(wird  am  26.  Juni  1521  bestraft,  weil)  .  ,  .  il  a  imprime  depuis,  en  grande 
qualite  (quantite?),  un  papier  sur  lequel  il  y  avait  une  croix,  avec 
certaines  oraisons  ecrites  en  latin  et  en  franeois  et  qui  sont  super- 
stitieuses'.     (Rev.  des  trad.  pop.  6,  691). 


Le  Medecin  des  Pauvres.  161 

Ein  Vergleich  des  Inhaltes  der  verschiedenen  Hefte  zeigt,  dass 
«eine  bestimmte  Zahl  von  Formeln  sich  durch  die  meisten  von  ihnen 
hindurchzieht.  Es  sind  das  besonders  die  Formeln  1  —  8  des  Heftes  I, 
die  nur  in  VI  und  XIV  ganz  fehlen.  Sie  finden  sich  in  der  gleichen 
Keihenfolge  wie  in  I  auch  in  IV,  V,  VIII,  IX,  X,  XI  und  besonders  auch 
in  XII,  das  am  Ende  eine  Druckerlaubnis  vom  Jahre  1817  anführt.  Die- 
selben Formeln  sind  auch,  wie  sich  aus  den  Anmerkungen  ergibt,  am 
häufigsten  aus  dem  Volksmunde  aufgezeichnet  worden,  in  ihnen  werden 
wir  mithin  den  ältesten  geschlossenen  Kern  unserer  Hefte  erblicken 
dürfen.  Auch  die  in  I  vorhandenen  Gebete  wiederholen  sich  in  mehreren 
Auflagen.  Trotz  dieser  mannigfachen  Übereinstimmungen,  die  die  Ab- 
hängigkeit der  verschiedenen  Auflagen  von  den  früheren  gewährleisten, 
ist  es  selten,  dass  ein  Heft  dem  anderen  so  vollkommen  gleicht,  dass  es 
als  einfacher  Abdruck  desselben  angesehen  werden  muss.  In  dem  vor- 
liegenden Material  ist  das  nur  bei  IX  und  X  der  Fall.  Sonst  haben  sich 
die  Herausgeber  bemüht,  durch  Auslassungen,  Umstellungen  und  besonders 
durch  Hinzufügung  neuer  Formeln  ihrer  Auflage  eine  gewisse  Selbständig- 
keit zu  o;eben.  Zuweilen  sind  auch  besondere  Gründe  für  die  Änderungen 
massgebend  gewesen.  So  werden  im  Vorwort  zu  Heft  VII  die  in  früheren 
Heften  gleichen  Titels  enthaltenen  abergläubischen  Vorstellungen  aus- 
drücklich verworfen,  und  die  Formeln  dieses  Heftes  nähern  sich  deshalb 
dem  kirchlichen  Gebet.  Heft  VI  versucht  offenbar,  sich  den  Bedürfnissen 
ländlicher  Benutzer  anzupassen,  und  dass  der  Medecin  des  Pauvres 
auf  dem  Lande  sich  einer  sehr  grossen  Verbreitung  erfreut,  wird  mehrfach 
hervorgehoben^).  Heft  XIV  hat  gegenüber  den  übrigen  bedeutend  an 
Umfang  gewonnen,  was  darauf  zurückzuführen  ist,  dass  —  in  sehr  ver- 
stümmelter Gestalt  —  lateinische  Formeln  anscheinend  aus  einer  Fassung 
des  Enchiridion  du  Pape  Leon  III  darin  abgedruckt  sind.  Der  ver- 
wahrloste Zustand,  in  dem  sich  die  lateinischen  wie  auch  die  französischen 
Segen  dieses  Heftes  befinden,  lässt  vermuten,  dass  die  Vorlage,  nach  der 
es  gedruckt  wurde,  durch  handschriftliche  Verbreitung  unter  einfachen 
Leuten  zustande  gekommen  ist. 

Zuweilen  scheint  auch  der  Titel  der  Hefte  geändert  worden  zu  sein, 
denn  Monseur  (a.  a.  0.)  berichtet  von  dem  Medecin  des  Pauvres:  'II  a  ete 
edite  tres  souvent  dans  ce  siecle;  nous  en  connaissons  une  cdition  de  Huy 
et  deus  (!)  de  Nivelles,  dont  Tuue  sous  le  titre  ordinaire,  l'autre  sous  celui 
de  Les  heureux  secrets,  tresor  des  menages  (V2  pages  sans  date 
ni  nom  d'imprimeur)\  Indessen  ist  hier  noch  die  Möglichkeit  gegeben,  dass 
es  sich  um  ein  Heft  ähnlichen  Inhaltes  gehandelt  hat,  das  aber  nicht  in 
unmittelbarer  Abhängigkeit    von    dem    Medecin    des  Pauvres  stand,    denn 


1    Monseur,  Folkl.  wallon  S.  23;  Hock,  Croy.  pop.  S.  42. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1914.    Heft  2.  11 


162  Buturas: 

wenn  wir  in  diesem  wohl  das  Hauptarsenal  der  französischen  Segensprecher 
vor  uns  haben^  so  ist  die  Zahl  der  anderweitig  veröffentlichten  Segen,  die 
in  unserem  Material  nicht  enthalten  sind,  doch  so  bedeutend,  dass  wir 
annehmen  müssen,  dass  noch  andere,  ähnliche  volkstümliche  Segens- 
bücher vorhanden  sind. 

Abschliessend  mag  noch  bemerkt  werden,  dass  die  hier  gemachten 
Feststellungen  nicht  ohne  weiteres  auf  die  entsprechenden  deutschen  Ter- 
hältnisse  übertragen  werden  dürfen.  Vielmehr  scheint  hier,  soweit  ich 
das  Material  zu  übersehen  vermag,  der  wörtliche  Abdruck  älterer  Segens- 
bücher im  allgemeinen  bis  heute  noch  die  Regel  zu  sein. 

Berlin -Haiensee. 


Neugriechische  Spottnamen  und  Schimpfwörter'). 

Von  Athanassios  Buturas. 


Yorbemerkungen. 

Die  Erforschung  des  Lebens,  der  Sprache  und  der  Überlieferungen 
der  Neugriechen  beweist,  dass  sie  alle  geistigen,  sittlichen  und  kulturellen 
Vorzüge  ihrer  Vorfahren,  der  Altgriechen,  geerbt  haben  und  sie  allmählich 
auch  in  die  Tat  umsetzen.  Trotz  der  grossen  Last  einer  Überlieferung- 
von  Jahrtausenden  und  nationaler  Missgeschicke  trifft  man  bei  dem  neu- 
griechischen Volke  auf  Schritt  und  Tritt  denselben  fröhlichen  Geist  in 
den  Einrichtungen  des  sozialen  Lebens,  eine  ähnliche  Beweglichkeit  und 
Kraft  in  der  Gestaltung  der  sprachlichen  Elemente  und  eine  ebenso  grosse 
Phantasie  in  Metaphern  und  Vergleichungen  wie  sie  für  die  Altgriecheu 
charakteristisch  sind^).  Gerade  wie  der  seinen  Nachbarvölkern  kulturell 
überlegene,    das  Schöne    in    der  Natur  verstehende    und  Harmonie  in  die 


1)  Diese  Abhandlung  ist  als  Supplement  der  vor  Jahren  von  Prof.  S.  Lampros 
unter  den  Titel  'EOvixal  vßQFig  veröffentlichten  zu  betrachten,  welcher  gründlicher  den 
Spott  bei  den  Altgriechen  und  den  Byzantinern  untersucht  hat.  Ein  grosser  Teil  des 
Materials  derselben  stammt  aus  dem  Nachlasse  meines  in  dem  letzten  Kriege  gefallenen 
Freundes  Dr.  K.  Gunaris,  der  in  den  vor  Jahren  mit  dem  Preis  der  Fhoocixi]  'Eraioeia 
zu  Athen  gekrönten  und  seitdem  unediert  gebliebenen  Sammlungen  sprachlichen  und 
volkskundlichen  Materials  aus  den  neugriechischen  Idiomen  viele  darauf  bezügliche  Be- 
merkungen gemacht  hat.  Ausserdem  sind  auch  die  unedierten  volkskundliclien  Samm- 
lungen des  'Ekhpnxo?  <PdoXoyLxo:  Sv'/loyoQ  KcovotuviivovjiöIeco?  berücksichtigt  worden. 

2)  Vgl.  meine  zwei  Abhandlungen  Tu  6v6f.iuTa  tmv  fujvtov  h  xf]  jS^eoe/.bjrixfj,  Athen  1910 
und  Ta  AsosV,rjvixä  xvoia  ovo/naia,  Athen  1912. 


Neugriechische  Spottnamen  und  Schimpfwörter.  163 

Gesellschaft  bringende  Altgrieche,  hat  auch  der  Neugrieche,  sein  echter 
und  mit  denselben  Eigenschaften  begabter  Nachkomme,  die  seinem  Ge- 
schmacke  widerstrebenden  geistigen  und  körperlichen  Mängel  seiner 
Nachbarvölker  und  mancher  seiner  Laudsleute  bemerkt,  fröhlich  ver- 
spottet und  scharfsinnig  kritisiert.  Der  Spott,  welcher  sehr  oft  im  alltäg- 
lichen Leben  gegen  einzelne  Individuen  gerichtet  wurde,  gestaltete  sich 
allmählich  zu  einer  der  Hauptquellen  der  mittel-  und  neugriechischen  Zu- 
namen, die  jetzt  eine  reiche  und  ausserordentlich  wichtige  Quelle  der 
Forschung  darstellen  und  unbedingt  systematisch  erforscht  werden  müssen, 
weil  sie  das  ganze  Leben  des  Mittel-  und  Neugriechentums  repräsentieren. 
Von  diesem  wichtigen  Abschnitt  der  mittel-  und  neugriechischen  Forschung 
wird  in  dieser  Abhandlung  nicht  die  Rede  sein,  da  diese  Fragen  mit  dem 
ganzen  Material  der  Zunamen  zusammen  behandelt  werden  müssen,  wie  ich 
es  nächstens  in  einer  grösseren  Arbeit  zu  tun  gedenke.  Hier  soll  allgemeiner 
die  Rede  sein  erstens  von  der  Verspottung  der  schlechten  Eigenschaften 
von  Fremdvölkern,  die  zu  den  Neugriechen  in  irgend  eine  geschichtliche 
Verbindung  getreten  sind,  und  zweitens  von  der  Verspottung  mancher  in 
der  neugriechischen  Gesellschaft  selbst  zu  bemerkenden  Tendenzen  und 
Mängel. 

1.  Fremd  Völker. 

L  Asiaten.  Trotz  seines  nationalen  Missgeschicks  seit  der  zweiten 
byzantinischen  Periode  und  des  Verlustes  seiner  Freiheit  durch  den  Fall 
von  Konstantinopel  hat  das  neugriechische  Volk  niemals  die  Überzeugung 
aufgegeben,  dass  es  im  Orient  allen  anderen  Völkern  geistig  und  kulturell 
überlegen  sei,  gerade  wie  die  Altgriecheu,  die  darin  soweit  gegangen 
sind,  dass  sie  alle  anderen  Nationen  als  ßdgßagoi  kennzeichneten,  und  wie 
später  auch  die  Byzantiner.  Obwohl  die  Neugriechen  sich  nach  der 
byzantinischen  Auffassung  geographisch  in  den  Orient  einrechnen  und 
Westeuropa  bloss  mit  dem  Namen  EvQCOJirj  kennzeichnen,  rechnen  sie  sich 
doch  kulturell  zu  den  westeuropäischen  Völkern  und  unterscheiden  sich 
in  (lieser  Beziehung  scharf  von  den  Orientalen.  Mit  dem  Namen 
"AvaroXm]^  'der  Orientale'  benennen  sie  hauptsächlich  den  Kleinasiaten, 
den  sie  als  schwerfällig  und  dumm  ansehen  und  deswegen  mit  der  Be- 
nennung "AvaToMrixo  öovio  'orientalischer  Dummkopf  und  gleichbedeutenden 
Adjektiven  wie  Xalnovm]^  und  öov6ovi.ii]g  belegen.  Von  den  Arabern 
haben  sie  nur  eine  dunkle  Vorstellung.  Ihren  Namen  "AQU7i)]g  haben  sie 
auf  die  nordafrikanischen  Völker  im  allgemeinen  übertragen  (s.  weiter 
unten),  weil  die  Araber  diese  Völker  einst  beherrscht  haben.  Ihre  byzan- 
tinische Überlieferung  stellt  die  Araber  als  Eindringlinge  und  Seeräuber 
und  besonders  als  Verfolger  der  christlichen  Religion  dar.  Deswegen 
benennen  die  Neugriechen  dieselben  ausschliesslich  mit  den  Religions- 
bezeichnungen Jagaxip'oi  und  'AyaQrjvoi,  welche  sie  auch   auf    die  moham- 

11* 


164  Buturas: 

medanischen  Türken  übertrugen  und  welche  den  Begriff  der  Härte  und 
Ungläubigkeit  in  sich  schliessen,  wie  der  sprichwörtliche  Ausdruck 
'Agarenische  Hunde'  bezeugt.  Aus  diesem  Gruud  wird  Zagarnive  in  Syros 
als  Schimpfwort  gebraucht,  und  ^aoayjp'ot  werden  in  Kreta  die  bösen 
Dämonen  genannt.  Die  Armenier  werden  von  dem  neugriechischen  Volke 
als  Häretiker  betrachtet  und  durch  die  Adjektive  jiiayaQio^uevoi  'besudelt' 
und  jujiot'iidsg  'Mistesser'  (von  türk.  bok  'der  Mist')  verspottet,  weil  sie  nach 
einer  Yolksüberlieferung,  als  sie  einmal  mit  den  Orthodoxen  über  Eeligions- 
sachen  stritten,  die  Wette  verloren  und  danach  gezwungen  wurden  Mist 
zu  essen.  Deswegen  glaubt  jetzt  das  Yolk,  dass  die  Armenier  eine 
Gelegenheit  suchen  sich  dafür  zu  rächen,  und  mahnt  jeden  Griechen  zur 
Beherzigung  des  Sprichwortes  'Iss  im  Hause  des  Juden  und  schlafe  bloss 
(nicht:  iss)  im  Hause  des  Armeniers'.  Ausserdem  wird  der  Armenier  als 
viel  zu  sanft  und  mutlos  angesehen,  und  so  verspottet  ihn  das  auch  sonst 
gebräuchliche  Sprichwort  'Schlachte  mich,  mein  Herr  und  Gebieter 
(=  Türke),  damit  ich  ein  Heiliger  werde'.  Ebenso  werden  die  Armenier 
als  sehr  feige  betrachtet  und  spottweise  Tiuiegieg  'PfefiFerbaumfrüchte' 
genannt,  weil  sie  nach  der  Volksüberlieferung  bei  den  zur  Zeit  des  Auf- 
standes von  1821  von  den  Türken  unter  den  Griechen  angerichteten 
Gemetzeln  zur  Unterscheidung  von  ihrem  Ees  eine  Pfefferbaumfrucht 
baumeln  Hessen.  Sie  werden  auch  als  lästig  verspottet,  wie  es  der  sprich- 
wörtliche Ausdruck  'ÄQjLievixr}  ßi'Qira  'armenischer  (=  lauger)  Besuch'  zum 
Ausdruck  bringt.  Die  armenischen  Frauen  sind  auch  als  sehr  schlimm 
und  hart  gegen  die  Kinder  verschrieen,  was  den  Ausdruck  oäv  'Aojim'iooa 
'wie  eine  Armenerin  (schlimm)'  entstehen  Hess.  Von  den  anderen  asiatischen 
Völkern  hat  das  Volk  bloss  von  den  Tataren  (Täragrjg  oder  TdoraQijg)  eine 
dunkle  Vorstellung  und  verspottet  sie  als  ungebildet  und  grob.  Die 
Perser  aber  sind  in  dem  Bewusstsein  des  Volkes  mit  den  Türken  in  ein 
Volk  verschmolzen  (vgl.  weiter  unten).  Über  die  Hebräer  und  Türken 
wird  noch  später  die  Rede  sein. 

H.  Afrikaner.  Von  diesen  kennt  das  neugriechische  Volk  bloss  die 
Bewohner  der  nördlichen  Küsten,  die  es  mit  dem  allgemeinen  Namen 
der  ehemaligen  Beherrscher  derselben  Araber  Agarnjöeg  nennt,  wie  auch 
Afrika  'Aoajim  genannt  wird.  Sie  werden  allgemein  als  wild  betrachtet, 
was  der  Spottname  derselben  Kaxdgajiag  'schlimmer  Araber'  zum  Ausdruck 
bringt.  Ebenso  werden  sie  als  hartnäckig  und  eigensinnig  angesehen,  wie 
der  sprichwörtliche  Ausdruck  ror  e'jTiaoe  tö  äQdmxo  'das  Arabische  hat  ihn 
eingefangen  (=  er  verharrt  hartnäckig  bei  seiner  Idee)'  und  der  gleich- 
bedeutende dgaTTixo  junovgi  'arabischer  Eigensinn'  bezeugt.  Auch  sonst 
werden  sie  wegen  ihrer  schwarzen  Farbe  verspottet,  und  daher  bedeutet 
ägd7T7]g  im  Neugriechischen  den  schwarzen  Menschen.  Von  den  einzelnen 
Völkern  Nordafrikas  hat  das  neugriechische  Volk  nur  eine  sehr  dunkle 
Vorstellung.    Die  Ägypter  kennt  es  bloss  von  den  obdachlosen  Wanderern 


Neugriechische  Spottnamen  und  Schimpfwörter.  165 

FvcfTot  (■=  AiyvTinoi).  welche  die  griechischen  Länder  durchziehen  und  sich 
fast  ausschliesslich  mit  Schmiedehandwerk  beschäftigen,  so  dass  der 
Gattungsname  yvcprog  jetzt  im  Neugriechischen  den  Schmied  bedeutet, 
während  ihre  Frauen  Zauberei  treiben.  Auch  sie  werden  wegen  ihrer 
halbschwarzen  Farbe  verspottet,  und  yvqnog  bedeutet  in  der  neugriechischen 
Sprache  fast  dasselbe  wie  das  oben  erwähnte  dgdm]^.  Ausserdem  gelten 
sie  als  höchst  schmutzig,  weshalb  das  Wort  yvcpTtla  im  Xeugriechischen 
den  schlechten  Geruch  bedeutet.  Eine  Sprache  haben  sie  nach  der 
Meinung  des  Volkes  nicht.  Sie  wurden  nämlich  nach  der  Yolksüber- 
lieferung  von  Gott  durch  Sprachlosigkeit  bestraft,  weil  sie  die  Nägel 
schmiedeten,  mit  denen  Jesus  Christus  ans  Kreuz  genagelt  wurde.  Ab- 
gesehen davon,  dass  sie  als  immer  mittellos  gelten,  sind  sie  auch  als  sehr 
geizig  verschrieen,  und  diese  Bedeutung  haben  im  Neugriechischen  die 
Wörter  yvcprog,  yvcprid,  yvcpncika  und  yvqnoXaouj..  Sie  werden  spottweise 
auch  0agaol  genannt  von  dem  Titel  ^agacj  der  alten  Ägypterkönige, 
weshalb  das  Wort  q:aoac6v}]g  im  Neugriechischen  den  tyrannischen  und 
unersättlichen  Menschen  bedeutet.  Im  übrigen  werden  sie  als  ein  und 
dasselbe  Volk  mit  den  Zigeunern  betrachtet,  obwohl  letztere  eine  eigene 
Benennung  "Axoiyyavoi  oder  Toiyyavoi  oder  Toeyyevedeg  oder  KazoißEXoi  haben. 
Auch  diese  werden  wegen  ihres  Wanderlebens,  ihrer  Armut  und  Schmutzig- 
keit verspottet,  weshalb  das  Wort  jor/yavnjL  im  Neugriechischen  Schmutzig- 
keit bedeutet.  Wegen  ihrer  Geizigkeit  haben  diese  Bedeutung  auch  die 
Wörter  daoiyyavoi;  und  roeyyeveg  und  die  daraus  entstandenen  raiyyovvi]g, 
TOtyyovvid,  roiyyovvevofiac.  Die  Tripolitaner,  Tunesier  und  Algerier 
(M:Tagju^-iaotCoi,  '"Ä/aOoivoi)  kennt  das  neugriechische  Volk  bloss  vom  Hören- 
sagen als  Seeräuber  und  betrachtet  ihr  Land  als  ungastlich,  wie  der  Fluch 
jUJiaojiiJiaQid  xal  rovvs^a  vd  oe  Jüdorj  beweist.  Die  Mamelucken  werden 
wegen  ihrer  Schwelgerei  verspottet,  und  diese  Bedeutung  hat  das  Wort 
ua/taÄovxog.  Die  Bengasier  aber,  von  denen  ein  Teil  in  Kreta  ein- 
gewandert ist,  werden  wegen  ihrer  Art,  durch  die  Kehle  zu  sprechen, 
verspottet  und  deswegen  ya/uy.ovxeg  aus  dem  Tone  'häl-häl'  genannt. 

IIL  Balkanvölker.  Diese  Völker  hat  das  Griechentum  seit  dem 
Falle  von  Konstantinopel  und  während  der  ganzen  Periode  der  traurigen 
Türkenherrschaft  unter  seine  Fittiche  genommen  und  als  cliristliche  durch 
sein  Patriarchat  ebenso  wie  sich  selbst  verwaltet.  So  ist  mit  dem  Namen 
Rum  (=  'Fcojiialoi),  womit  die  Türken  die  um  ihr  nationales  Dasein 
kämpfende  griechische  Nation  benannten,  auch  die  Nationalität  dieser 
Völker  gerettet  worden.  Die  Griechen  übten  natürlich  eine  ungeheure 
Einwirkung  auf  diese  Völker  aus,  und  so  entstand  eine  gemeinsame  Kultur 
mit  denselben  Überlieferungen  aus  der  verfallenen  byzantinischen  Welt, 
eine  Kultur,  welche  die  natürlichen  Gegensätze  zwischen  ihnen  grossen- 
teils  ausglich.  So  erklärt  sich  die  Tatsache,  dass  diejenigen  Völker, 
welche  auf  dem  Baliian  in  keinen  Gegensatz  zu  den  Griechen,  besonders 


Ißß  Buturas: 

in  religiöser  Beziehung,  getreten  sind,  auch  vom  neugriechischen  Volke 
versöhnlich  und  freundlich  behandelt  werden,  wie  es  mit  den  Serben  der 
Fall  ist,  die  dem  Patriarchat  immer  treu  geblieben  sind,  und  mit  den 
Rumänen,  deren  Land  den  Griechen  gegenüber  immer  gastfreundlich 
geöffnet  war.  Anders  verhält  sich  die  Sache  mit  den  turanischem  Ursprung 
entstammenden  und  von  Natur  aus  viele  schlechten  Eigenschaften  be- 
sitzenden Bulgaren,  mit  den  zum  Islam  übergetretenen  und  seiner  Ein- 
wirkung entgangenen  Albanesen  und  mit  dem  aus  dunklem  Ursprung 
hervoraeo^ano-enen  nomadischen  Hirtenvolke  der  Walachen  oder  Arro- 
munen,  welche  sich  frühzeitig  unter  den  Griechen  niedergelassen  haben. 
Diese  alle  werden  schon  seit  den  byzantinischen  Zeiten  mit  scharfen  Aus- 
drücken beschimpft  und  verspottet.  Besonders  verachtet  das  neugriechische 
Volk  als  wild,  treulos  und  häretisch  die  Bulgaren,  die  es  mit  dem 
Spottnamen  äQxovöeg  'Hirsche'  belegt,  welche  Benennung  zugleich  ihre 
Hässlichkeit  verspottet.  Um  ihre  durch  viele  Mordtaten  und  Plünderungen 
bezeugte  Wildheit  und  Unersättlichkeit  auszudrücken,  hat  der  Grieche 
kürzlich  das  Wort  ßoidyaQiofiög  geprägt,  welches  mit  'Vandalismus'  gleich- 
bedeutend ist.  Sie  werden  auch  als  sehr  schmutzig  betrachtet  und  es 
gibt  ein  Gedicht,  worin  der  Dichter  erzählt,  er  habe  'Läuse  wie  Büffel 
auf  bulgarischen  Köpfen  gesehen'.  Um  ihre  Grobheit  und  Unwissenheit 
zu  verspotten,  gebraucht  das  Volk  ein  mit  ihrem  Namen  fast  gleich- 
lautendes bulgarisches  Wort  und  sagt  BovQydgoi  juayxaQi  'die  Bulgaren 
sind  Esel',  und  um  ihre  Nichtswürdigkeit  und  Hässlichkeit  auszudrücken, 
sagt  es  spottweise  'Bulgare,  ungesalzen  und  mit  einem  Zwiebelkopf.  Er 
wird  sogar  als  unwürdig,  wie  ein  Mensch  zu  leben  und  sich  zu  nähren, 
verspottet  mit  dem  Sprichwort  'wir  (Griechen)  essen  Käse  und  Fische, 
und  du  (Bulgare)  frissest  die  Kruste  des  Esels'.  Die  Albanesen  werden 
wegen  ihrer  Rauheit  und  Rachsüchtigkeit  verspottet,  die  auch  das  Wort 
äQßavm]g  im  Neugriechischen  ausdrückt.  Sie  werden  auch  als  Analphabeten 
verlacht,  denn  als  Gott  nach  der  Volksüberlieferung  den  Menschen  die 
Buchstaben  gab,  kamen  zuletzt  auch  die  Albanesen,  ihr  Alphabet  von  ihm 
zu  bekommen;  da  er  aber  kein  Papier  mehr  bei  sich  hatte,  schrieb  er 
die  albanesischen  Buchstaben  auf  ein  Kohlblatt,  welches  aber  bald  aus 
Unvorsichtigkeit  der  Albanesen  von  einer  Kuh  gefressen  wurde,  so  dass 
dieselben  ohne  Buchstaben  blieben.  Die  Walachen  =  BXdxoi,  von  denen 
ein  grosser  Teil,  besonders  die'  sogenannten  Kutzowalachen,  hoUenisiert 
wurden,  werden  als  grob  und  ungeschliffen  verspottet,  welche  Bedeutung 
auch  die  Wörter  ßXdyog,  ßlaym  im  Neugriechischen  haben.  Da  die  meisten 
Hirten  sind,  gelten  sie  als  schlecht  riechend,  was  auch  durch  das  Wort 
ßXayJXa  im  Neugriechischen  ausgedrückt  wird. 

IV.  Westeuropäer.  Von  den  westeuropäischen  Völkern  hat  das 
neugriechische  Volk  bloss  eine  dunkle  Vorstellung.  Es  betrachtet  sie  als 
ein  fast  ffleichmässio;es  Ganzes  und  gibt  ihnen  ohne  Unterschied  von  Nation 


Neugriechische  Spottnamen  und  Schimpfwörter.  167 

und  Religionsdogmen  den  gemeinsamen  Namen  Franken  {(pQuyxoi).  Da 
es  täglich  die  Erfahrung  macht,  dass  alles  Gute  für  seine  Lebenshaltung 
aus  fpgayxid  oder  Evqcotii]  kommt,  so  betrachtet  es  sie  als  auf  ähnlicher 
Kulturstufe  mit  ihm  stehend.  Die  Vorwürfe  gegen  sie  sind  entweder 
Reminiszenzen  aus  den  byzantinischen  Zeiten  oder  entstanden  infolge 
dogmatischer  Spaltung  in  Religionsangelegenheiten  und  der  Abweichung 
in  manchen  Lebenseinrichtungen,  hauptsächlich  aber  infolge  der  katho- 
lischen Propaganda  im  Orient,  in  welcher  man  eine  Gefahr  für  seine 
heilige  Orthodoxie  und  Nationalität  zu  sehen  glaubte.  So  entstanden  die 
Benennungen  oi  Aaxivoi  tu  oxvlhjx  'die  Hundelateiner'  oder  ^xvlXöqpQayxoi 
'Hundefranken',  womit  der  Abscheu  gegen  die  kirchlichen  und  politischen 
Angriffe  der  westeuropäischen  Völker  auf  das  Byzantinische  Reich  seit  den 
Kreuzzügen  ausgedrückt  wird.  Von  der  katholischen  Propaganda  im 
Orient  werden  besonders  geringschätzig  diejenigen  betrachtet,  welche  sicli 
im  Orient  ständig  niedergelassen  haben  und  mit  dem  fast  spöttischen 
Namen  ^gayxohßavrTvoi  'orientalische  Franken'  benannt  werden,  von  denen 
manche  der  griechischen  Nationalität  angehören.  Diese  werden  beschul- 
digt, weil  sie  sich  in  den  Freiheitskämpfen  feindselig  gezeigt  haben  und 
manclimal  den  Türken  die  Absichten  und  Pläne  der  Griechen  verraten 
haben.  Daher  kommt  es,  dass  sie  als  listig  betrachtet  werden,  wie  hervor- 
geht aus  den  sprichwörtlichen  Ausdrücken  'den  Franken  kannst  du  zum 
Freund  haben,  aber  es  ist  nicht  gut  ihn  als  Nachbarn  zu  haben'  und 
Mooie  xai  Mioik  oro  omn  oov  fij)  ßuQi]?  'nimm  du  nicht  in  dein  Haus  den 
Mosche  und  Mische'.  Die  Geistlichen  derselben,  die  fpgaQOi  oder  ^Mqoi, 
werden  ebenfalls  verspottet,  wie  der  gemeingriechische  Fluch  tov  xaxo  oov 
TÖ  (f}Aoo  und  die  Bedeutung  des  Wortes  rphigos  'Teufel'  in  Kastellorizo 
beweisen.  Sie  werden  ausserdem  als  unrein  betrachtet,  weil  sie  Frösche 
und  Schildkröten  essen.  Auch  ihre  Vorliebe  für  die  Maccaroni  wird  ver- 
spottet durch  den  Spielvers  ^gdyxo  vre  vrio,  dcod  tojv  Jiaidlco,  vd  cpdye 
fiaxaQovWL  'Herrgottsfranke,  gib  den  Kindern,  Maccaroni  zu  essen'. 

V.  Hebräer.  Obwohl  das  neugriechische  Volk  fast  nur  die  unter 
ihm  lebenden  spanischen  Juden  kennt,  so  hat  es  doch  starke  religiöse 
Reminiszenzen,  dass  es  bei  den  '^Q.xnQn'EßQo.Toi — 'Oßonloi  —OßQioi—'Oßgoi  sich 
hauptsächlich  der  gegen  seinen  Religionsstifter  von  diesem  Geschlecht  be- 
gangenen Freveltaten  erinnert.  Die  Juden  werden  also  ohne  Rücksicht 
auf  ihre  Herkunft  als  lästerlich  betrachtet,  weil  sie  unseren  Herrgott  ans 
Kreuz  schlugen,  und  mit  der  Benennung  KaQcpoxQiojoi  'Kreuziger  Christi' 
und  lldära  vom  Namen  des  Pontius  Pilatus,  der  im  Neugriechischen 
gleichbedeutend  mit  'Quäler'  ist,  belegt.  Das  Volk  unterlässt  keine  Ge- 
legenheit seinen  Abscheu  gegen  sie  zu  zeigen,  und  besonders  ist  dies  der 
Fall  während  der  Osterfeiern,  wenn  von  den  Bauern  das  Bild  des 
Judas,  dessen  Name  gleichbedeutend  mit  'Verräter'  ist,  öffentlich  auf  einem 
Esel  verspottet    und    endlich    erschossen  wird.     Sie  werden   als   desto  ab- 


168  Buturas: 

scheulicher  betrachtet,  weil  sie  nach  der  Yolksüberlieferung  noch  jetzt 
das  Blut  christlicher  Kinder  gemäss  ihren  lieligionsvorschriften  trinken. 
Wegen  ihrer  Freveltat  gegen  Christus  sind  nach  dem  Glauben  des  Volkes 
die  Juden  von  Gott  zu  nationaler  Zerrissenheit  verurteilt.  Sie  werden 
deswegen  auf  immer  vereinzelt  umherirren,  und  der  sprichwörtliche  Aus- 
druck ijifjye  xaTu  'loQaijX  'er  ging  in  der  Richtung  von  Israel'  bedeutet  im 
Neugriechischen  'er  ist  ruiniert'.  Man  glaubt  sogar,  dhv  Jiedmrow  äX}.d 
y>o(povv  'sie  sterben  nicht  (wie  die  Menschen),  sondern  sie  verrecken  (wie 
die  Tiere)'.  Sie  werden  ebenso  wie  Judas  als  verräterisch  und  intrigant 
betrachtet;  dies  wird  durch  den  sprichwörtlichen  Ausdruck  'der  Hebräer 
wird  ausgehen,  um  Nüsse  zu  verkaufen'  ausgedrückt,  was  von  Leuten  ge- 
sagt wird,  die  kein  Geheimnis  behalten  können.  Sie  werden  als  unge- 
tauft,  schmutzig  und  schlecht  riechend  angesehen,  wie  aus  dem  sprich- 
wörtlichen Ausdruck  'schlecht  riecht  der  Jude  und  auch  sein  guter  Anzug' 
hervorgeht.  Sie  werden  als  die  feigsten  Menschen  verspottet,  man  sagt 
von  einem  Feigling  rge/uei  oäv  'Eßgaloq  'er  zittert  wie  ein  Jude'.  Trotzdem 
glaubt  man,  dass  sie,  wenn  sie  vereinigt  sind,  keine  Gelegenheit  unter- 
lassen, ihre  Härte  gegen  die  Christen  zu  zeigen,  und  besonders  werden 
als  solche  die  Juden  aus  Saloniki  betrachtet,  wie  der  spöttische  Ausdruck 
Ealovixibg  'EßgaTog  bezeugt.  Ihre  Unfähigkeit,  etwas  Mannhaftes  zu  denken, 
wird  durch  den  sprichwörtlichen  Ausdruck  'der  Jude  auch  hat  eine  Salbe' 
verspottet.  Ihr  einziger  Gedanke  ist  das  Geld,  und  diese  Nebenbedeutung 
hat  das  Wort  'EßQolog  im  Neugriechischen.  Um  Geld  zu  verdienen,  werden 
sie  als  jeder  Lüge  und  Schmutzigkeit  fähig  betrachtet,  gerade  wie  ihr 
Vorfahre  Judas.  Besonders  beim  Verkaufen  wird  vor  ihrem  Geiz  und 
ihrem  Wucher  gewarnt,  welche  Eigenschaften  durch  den  sprichwörtlichen 
Ausdruck  eßgauxa  naCdgia  'jüdische  Verhandlungen'  verspottet  werden. 
Diese  Eio-enschaften  bedeuten  im  Neugriechischen  die  aus  ihren  türkischen 
Benennungen  re/ovvTijg  und  Toicpomi^g  entstandenen  Wörter  yeyovvTid, 
xoi(povrt]g,  Toi(povrm.  Endlich  werden  sie  als  Lärmmacher  verspottet,  und 
diese  Bedeutung  haben  die  sprichwörtlichen  Ausdrücke  odi'  'Eßgaun  y.dvsTe 
oder  odv  XaXdaXoi  xdvere  'sie  machen's  wie  Juden  (oder  Chaldäer)',  was 
auch  die  Benennung  roKpovrrjg  bedeutet.  Dieselbe  Nebenbedeutung  hat 
das  Wort  ydßqa  'Synagoge'  in  den  sprichwörtlichen  Ausdrücken  fc-r5fö  elvai 
xdßga  'hier  ist  es  zu  lärmend',  wie  auch  der  Name  ihres  Geistlichen 
Xaxdfxrjg. 

VI.  Türken.  Seine  Eroberer  unterschied  das  neugriechisclie  Volk 
von  sich  hauptsächlich  hinsichtlich  der  Religion.  Deswegen  umfasste  es 
unter  dem  Namen  Tovqxoi  alle  mohammedanischen  Völker  und  hauptsäch- 
lich die  zwei  grösseren,  die  Araber  und  die  Perser.  Die  oben  erwähnten 
Benennungen  der  Araber  IJagaxip'oi  und  'Ayagrjvot  werden  deswegen  auch 
für  die  Türken  gebraucht.  Als  Hauptkennzeichen  der  Türken  betrachteten 
die  Griechen    ihren  Fanatismus    gegen    die    christliche  Religion    und   be- 


Neugriechische  Spottnamen  und  Schimpfwörter.  169 

schimpften  sie  deswegen  mit  oxvÄbd  'Hunde'  oder  Zy.vVMTouQy.oi  'Hunde- 
türken'. Auf  ihre  Wildheit  und  Härte  deutet  die  Benennung  des  scharfen 
Essigs  durch  lovgxog  im  Neugriechischen.  Als  wildeste  unter  diesen  werden 
die  Kurden,  die  Zirkassier  (=  TosgyJCoi)  und  die  in  Kreta  lebenden  Türken 
(=  TovQxoxoijxeg)  angesehen.  Berüchtigt  wegen  ihrer  Grobheit  aber  sind 
die  Geschlechter  der  KoviagT^deg  und  riovQovxi]deg,  woraus  das  Wort 
yiovQovx7]g  im  Neugriechischen  entstanden  ist,  welches  'ungeschickt'  be- 
deutet. Besonders  hat  das  neugriechische  Volk  die  Härte  und  Willkür 
der  türkischen  Soldaten  schmerzlich  empfunden,  und  deswegen  sind  auch 
die  Namen  von  verschiedenen  Armeeabteilungen  unvergesslich  in  dem  Be- 
wusstsein  des  Volkes  haften  geblieben.  So  sind  die  Wörter  yeviroaoog 
und  yeriToaQiojiidg  nach  den  Janitscharen  jetzt  gleichbedeutend  mit  'Roh- 
heit',  d.rCou:rcddeg  nach  den  Azapen  werden  in  Kreta  die  bösen  Geister  ge- 
nannt, vTafjg  nach  den  Dais  bedeutet  einen  Arroganten,  vTelfjg  nach  den 
Delis  einen  Tollen,  und  ßaoißov'Qovxog,  ßaoißovCovxiopidg  nach  den  Baschi- 
bosuks  ist  gleichbedeutend  mit  Ruine.  Die  verschiedenen  Fehler  der 
Türken  kennzeichnen  die  Griechen  durch  die  türkischen  Fremdwörter 
jjLovQT&ii^g,  /ouvzovrrjg,  dQjuovT7]g,  juJiovgjLiäg  u.  a.  Ihre  Schwelgerei  wird  auch 
sprichwörtlich  erwähnt.  Besonders  aber  wird  ihre  Religion  verabscheut 
und  als  grosser  Eid  gilt  Tovgxog  (oder  3Iovxajn£^i]g}  vd  ne&dvco  'wenn  ich 
mein  Versprechen  nicht  halte,  so  will  ich  als  ein  Türke  (oder  Mo- 
hammedaner) sterben'.  Sie  werden  deswegen  ebenso  wie  die  Juden  ver- 
spottet, dass  sie  'nicht  sterben,  sondern  verrecken',  und  als  ämoroi  'Un- 
gläubige' und  oxarö  T//g  Mexxag  'Mist  von  Mekka'  beschimpft.  Sie  werden 
ausserdem  mit  dem  Spottnamen  yovQovvojuvT}]g  'Schweinsnasler'  benannt 
wegen  der  Volksüberlieferung,  dass  die  Absicht  Mohammeds,  den  Moses 
nachzuahmen  und  mit  List  aus  versteckten  Schläuchen  Wasser  hervor- 
springen zu  lassen,  durch  die  Schweine  vereitelt  wurde,  die  mit  ihren 
Rüsseln  die  Schläuche  durchbohrten,  und  das  Wasser  während  der  Nacht 
zum  Auslaufen  brachten.  Der  türkische  Geistliche  aber,  der  yorCag,  spielt 
in  dem  Bewusstsein  des  Volkes  immer  eine  lächerliche  Rolle.  Endlich 
werden  die  Türken  von  jeher  vom  Volke  stark  verachtet  und  immer  nur 
als  provisorische  Eroberer  des  Byzantinischen  Reiches  betrachtet,  die  aus- 
schliesslich deswegen  dazu  gekommen  sind,  weil  'es  Gottes  W^ille  war, 
dass  Konstantinopel  (provisorisch)  türkisch  würde',  wie  ein  Volksgedicht 
sagt.  Das  Volk  hält  unerschütterlich  an  dem  Glauben  fest,  dass  früher 
oder  später  die  Türken  von  den  Griechen  wieder  aus  Konstantinopel, 
Brussa  und  Ikonium  nach  der  Köxxivrj  Mif/jd  'Roter  Apfelbaum  (=  Persien)' 
verjagt  werden,  weil  es  ihm  prophezeit  wurde,  dass  'nach  Jahren  diese 
Städte  wieder  in  unsere  Hände  fallen  werden',  wie  dasselbe  Volksgedicht 
besagt. 


170  Buturas: 

2.  0  riechen. 

I.  Nationalnamen  der  Griechen.  Infolge  der  in  verschiedenen 
Epochen  erfolgten  Veränderung  der  Religions-  und  Lebensauffassungen 
der  griechischen  Nation  wurden  auch  ihre  Nationalnamen  gewechselt  und 
haben  Anlass  zum  Spott  gegeben.  Es  ist  bekannt,  dass  nach  dem  Verfall 
des  Klassizismus  und  dem  Siege  des  Christentums  die  Kirche  dem  Namen 
^'EÄb]v  die  üble  Bedeutung  'Heide'  gegeben  hat  und  dass  die  Griechen 
ihren  Nationalnameu  gegen  die  Bezeichnung  ihrer  römischen  Staatsange- 
hörigkeit ausgewechselt  haben  und  sich  seitdem  'PcojLiaToi  nannten.  Während 
der  ganzen  byzantinischen  Periode,  als  die  griechische  Gesellschaft  ihr 
theokratisches  Zeitalter  durchlief  und  im  Mittelpunkt  ihrer  sozialen 
Fragen  die  Religionsangelegenheiten  standen,  wurde  der  Nationalname 
*'E/M]veg  der  einer  anderen  Religionsauffassung  huldigenden  Vorfahren  ver- 
mieden und  verspottet,  wenigstens  von  der  Kernmasse  der  griechischen 
Nation,  während  einige  ferngelegene  Zweige  eine  Ausnahme  machten,  wie 
z.  B.  Pontus,  wo  der  alte  Nationalname  immer  seinen  Glanz  be- 
wahrt hat. 

Als  sich  nun  nach  den  Freiheitskämpfen  der  Brennpunkt  der  sozialen 
Ideen  verschob  und  den  Griechen  wieder  der  Glanz  der  alten  Hellas  vor- 
zuschweben begann,  nahmen  sie  den  alten  Nationalnamen  wieder  an.  Und 
da  der  bisherige  Nationalname  'PcojuaToi — "Pcojliioi  einerseits  der  fremden 
römischen  Herrschaft  seinen  Ursprung  verdankte  und  anderseits  an  die 
lange  Türkenherrschaft  und  die  nationalen  Leiden  der  Griechen  erinnerte, 
nahm  er  allmählich  eine  üble  Nebenbedeutung  an  und  bezeichnet  jetzt 
spottweise  jede  schlechte  Gewohnheit  und  jede  Unordnung  in  dem  neu- 
errichteten griechischen  Staat  und  der  neubelebten  griechischen  Gesell- 
schaft. 

Ebenso  hat  auch  der  Name  der  byzantinischen  Griechen  BvCavTiroi, 
deren  Kultur  von  den  jüngeren  Gelehrten  zu  Unrecht  nach  den  jetzigen 
Kulturzuständen  beurteilt  und  folglich  als  rückständig  betrachtet  wurde, 
eine  üble  Nebenbedeutung  angenommen  und  drückt  Rückständigkeit, 
eitle  Zeremonien  und  komplizierte  bureaukratische  Organisation  im  Staats- 
wesen aus. 

IL  Öffentliches  und  privates  Leben.  Auch  die  Lebensweise  der 
Neugriechen  gab  Anlass  zu  allgemeinem  oder  gegenseitigem  Spott.  Da 
wegen  der  langen  Sklaverei  unter  den  Türken  und  der  langen  Dauer  des 
Befreiungskrieges  die  finanzielle  Lage  ebenso  des  Staates  wie  auch  der 
einzelnen  lange  Zeit  nicht  eben  günstig  und  blühend  sein  konnte,  gab 
sie  Veranlassung  zu  allgemeiner  Verspottung  der  Armut  des  Staates 
durch  Wo)Qoxd)OTaiva  'krätzige  Frau  Konstantins'  wie  auch  des  Adels, 
welcher,  wie  seine  Titel,  in  Griechenland  nicht  anerkannt  ist,  durch 
xi)cooox6in)ig  'krätziger  Graf,   XijuoxovrÖQog  'hungriger  Graf  und  /Modoy.6(fT}]g 


Neugriechische  Spottnamen  und  Schimpfwörter.  171 

'der  von  grossem  Hunger  gepeinigte  Lord"^).  Mit  der  Armut  ist  gewöhn- 
lich auch  die  Unreinlichkeit  verbunden,  weswegen  die  Griechen  sich  selbst 
mit  dem  Spottnamen  ipeiQooy.oTOJvi]?  'Läusemörder'  verspotten.  Nur  in 
Maue  werden  die  Bewohner  in  zwei  Klassen  geteilt,  in  Adelige,  die 
Nix/Jüvoi,  und  ünadelige,  die  (Pafxeym  heissen.  Bevor  sich  ein  erheblicher 
Teil  des  Landes  der  Schiffahrt,  dem  Handel  und  der  Industrie  zuwandte, 
was  ebenso  für  den  Staat  wie  für  die  einzelnen  eine  Quelle  finanzieller 
Hebung  und  Veränderung  der  sozialen  Verhältnisse  war,  beschäftigten  sich 
die  Bewohner  Griechenlands  hauptsächlich  mit  Landwirtschaft  und  Vieh- 
zucht, und  die  Bergbewohner  unterschieden  sich  scharf  von  den  auf  dem 
flachen  Lande  Wohnenden.  Die  Bergbewohner,  stolz  auf  ihre  Selbst- 
benennuug  ßovv})om,  welche  die  Nebenbedeutung  der  'Stärke,  Gesundheit 
und  Willenskraft'  hat,  betrachteten  die  anderen  als  schwächlich  und  un- 
gesund, und  diese  Nebenbedeutung  hat  das  Wort  xa/umpiog  im  Neu- 
griechischen, wie  auch  das  Wort  roojisAog  =  xojzeÄog  in  Messenien,  womit 
von  den  Bauern  spöttisch  die  in  der  Stadt  Lebenden  bezeichnet  werden. 
So  halten  die  Bewohner  der  Berge  Pindos  und  Olymp  die  Thessalier  für 
geistig  niedriger  stehend  als  sie  selbst.  Die  Bewohner  der  Berge  von 
Olympia  verspotten  die  Bewohner  der  Triphyllia  als  schw^erfällig  und  faul 
unter  dem  Spottnamen  fj,7iaxavidg}]deg.  Die  Bewohner  von  Levadia  werden 
von  den  Bergbewohnern  jLmaxohßadheg,  die  Bewohner  von  Naxos  von  den 
Bewohnern  der  Insel  Tenos  ^ujiaxova^icüzeg  genannt.  Ausserdem  verspotten 
die  Bergleute  die  anderen  als  nicht  so  reine  Griechen  wie  sie  selbst,  weil 
sie  sich  angeblich  mit  den  Türken,  mit  welchen  sie  verkehrten,  ver- 
mischten, weswegen  sie  auch  als  tovqxöojioqoi  'Türkenprodukte'  verspottet 
werden.  Anderseits  verspotten  die  Bewohner  der  Städte  und  der  Ebene 
die  Bergleute  als  arm,  ungehobelt  und  grob  und  nennen  sie  spöttisch 
ß)Ayoi.  Die  Bewohner  von  Triphyllia  nennen  ihrerseits  die  Berg- 
bewohner von  Olympia  oxaojueveg  (pregveg  'zersprungene  Ferse'  wegen 
ihrer  harten  Lebensart.  Die  Armut  der  Bergleute  von  Arkadien  wird  ver- 
spottet durch  den  sprichw^örtlichen  Ausdruck  TreJra  Aohav'nixi].  Kaojgkixi] 
ij'f-Tga  'Hunger  von  Doliana  und  Laus  von  Kastri  (sind  berühmt)',  ebenso 
wie  die  Altgriechen  ÄijuodojQisig  spöttisch  gebrauchten.  Die  Bewohner  des 
Dorfes  Kalamion  in  Attika,  die  sich  von  Feigenbrot  nähren,  werden  mit 
dem  Spottnamen  ofvjxouatö'  gehöhnt.  Endlich  hat  auch  die  verschieden- 
artige Traclit  manchmal  Anlass  zu  gegenseitigem  Spott  gegeben.  So  wird 
die  ßgdxa  der  Inselbewohner  verspottet  und  werden  diese  von  den  Be- 
wohnern des  Festlandes  spöttisch  ßQnxocpoooi  genannt,  wie  diese  umgekehrt 
die  (fovciavüla  der  anderen  verspotten  und  sie  'AgßariTeg  'Albanesen' 
nennen.     Die  Peloponnesier  verspotten  die  Rumelioten  durch  .laboxanoxeg 


V  Dieses  Wort  hat  als  erstes  Kompositionso:lied    den  Namen  ?.öo8o^  'Lord'    mit  An- 
spielung auf  Xooda  'grosser  Hunger,  auf  welches  das  zweite  Kompositionsglied  sich  bezieht. 


172  Buturas: 

wegen  der  >ian6xa  'bäuerlicher  Mantel'  und  letztere  wieder  die  ersteren 
durch  xaroov/iia  wegen  der  spitzigen  Kapuze,  die  sie  an  ihrem  Mantel 
haben. 

III.  Eigenschaften.  Die  Einfälle  verschiedener  barbarischer  Völker 
und  dann  die  lange  Knechtschaft  unter  den  Türken  hatten  als  Ergebnis 
die  Vernachlässigung  der  Wissenschaften  und  des  Unterrichts  und  infolge- 
dessen die  ehemals  in  grossem  Umfange  anzutreffende  Verbreitung  von 
Unwissenheit  bei  dem  Volke.  Selbst  die  Geistlichen,  die  immer  mehr 
oder  weniger  gebildet  waren  und  für  die  Bildung  des  Volkes  sorgten, 
wurden  oft  als  ungebildet  verspottet.  So  verspottet  ein  Sprichwort  die 
Geistlichen,  die  nicht  lesen  konnten,  durch  äßißXog  jiajiäg  jiieydlog  rpevTrjg 
'Ein  Pfarrer,  der  keine  Bücher  kennt,  ist  ein  grosser  Lügner'.  Viele  Ver- 
höhnungen gibt  es  für  Geistliche,  welche  das  Evangelium  missverstanden 
oder  das  für  jedes  Fest  geeignete  Stück  nicht  finden  konnten  oder  den 
Tag,  wann  diese  gefeiert  werden  sollten,  nicht  wussten.  Die  Mediziner 
wurden  verspottet  mit  der  Benennung  y.oiinoyiavvm]?,  was  den  Unwissenden 
und  zugleich  den  Betrüger  bedeutet.  Als  Folge  der  Unwissenheit  ward 
die  Dummheit  verspottet,  die  in  unbestimmter  Weise  verschiedenen  Pro- 
vinzialen  zugeschrieben  wurde,  welche  einst  angeblich  den  Mond  aus  dem 
Ziehbrunnen  durch  einen  Haken  zu  ziehen  versuchten  oder  Salz  säten 
oder  eine  Sardine  in  einen  Käfig  setzten,  damit  sie  singe.  Besonders 
sind  die  Chioten  Ziel  derartigen  Spottes,  wie  auch  das  Sprichwort 
'Alle  Chioten  sind  Narren,  der  eine  weniger  und  der  andere  mehr'  be- 
zeugt. Eine  weitere  Folge  der  Vernachlässigung  der  allgemeinen  Bildung 
waren  verschiedene  schlechte  Eigenschaften,  die  jetzt  manchen  Landsleuten 
spottweise  zugeschrieben  werden.  So  werden  die  Bewohner  des  Peloponnes 
als  Lügner  und  charakterschwach  verspottet,  welche  Nebenbedeutung  auch 
ihr  Name  McoQaijrjg  'Peloponnesier'  hat.  Die  Bewohner  von  Naxos  werden 
als  Diebe  verspottet  und  Kkeqpta^iöjreg  'diebische  Naxioten'  genannt.  Fast 
in  jeder  Provinz  gibt  es  ein  oder  mehrere  Dörfer,  deren  Bewohner  wegen 
verschiedener  schlechter  Eigenschaften  verspottet  werden.  Die  Athener 
und  die  Bewohner  von  "Agra  werden  als  schlimm  gebrandmarkt  durch  den 
sprichwörtlichen  Ausdruck  'Gott  behüte  dich  vor  einem  Juden  aus  Saloniki, 
einem  Türken  aus  Euböa  und  einem  Griechen  aus  Athen  (oder  Arta)'. 
Die  Bewohner  von  Kravara  werden  als  Bettler  verspottet,  und  das  Wort 
KQaßßagiTt]g  hat  diese  Nebenbedeutung  in  der  Sprache  bekommen.  Be- 
sonders werden  in  dieser  Beziehung  die  Kreter,  die  Manioten  und  die 
Bewohner  von  Kephallonia  verspottet,  indem  die  Volksüberlieferung 
zu  erzählen  weiss,  dass  'der  Teufel  drei  Kinder  hatte,  deren  eines 
sich  in  Mane,  das  andere  in  Kreta  und  das  dritte  in  Kephallonia  nieder- 
liess'. 

IV.  Sprache.  Besonders  aber  stammen  die  gegenseitigen  Ver- 
spottungen   der  Neugriechen    aus    der  mundartlichen  Einteilung    der  neu- 


Neugriechische  Spottnamen  und  Schimpfwörter.  173 

griechischen  Sprache.  Diese  Einteilung  hat  sich  ganz  natürlich  vollzogen, 
und  diejenigen  irren  sich  stark,  welche  sie  als  eine  Folge  der  nationalen 
Verhängnisse  und  die  Mundarten  als  durch  fremden  Einfluss  verdorben  be- 
trachten. Die  nationalen  Missgeschicke  und  besonders  die  Knechtschaft 
unter  den  Türken  haben  bloss  dazu  beigetragen,  die  schnellere  Yervoll- 
ständigung,  Bereicherung  und  Verbreitung  der  Gemeinsprache  (Koivf'])  zu 
hemmen.  Diese  Tatsache  ist  auch  die  Hauptursache  der  jetzigen  Doppel- 
sprachigkeit  in  Griechenland,  weil  die  Gelehrten  des  17.,  18.  und  19.  Jahr- 
hunderts deswegen  eine  Schriftsprache  aus  der  gelehrten  Überlieferung 
einführten  und  die  gesprochene  Gemeinsprache  vernachlässigten.  Diese 
existierte  immer  beim  Volke,  und  es  ist  ein  Irrtum,  die  Spielereien  in 
der  Baßvhovia  des  K.  BvCdvriog  ernst  zu  nehmen.  Sie  will  nicht  zum 
Ausdruck  bringen,  dass  es  nach  dem  Befreiungskrieg  in  Griechenland 
keine  Gemeinsprache  gab,  sondern  verspottet  nur  in  grösserem  Umfange 
die  Idiomatismen,  wie  dies  jetzt  noch  manchmal  hie  und  da  verschiedene 
Komiker  in  Griechenland  tun.  Diese  Abweichungen  von  der  üblichen 
Norm  verspottet  das  Volk  ebenfalls,  entweder  allgemein  oder  speziell.  Das 
Volk,  das  seine  Schriftsprache  leicht  zu  verstehen  wünscht,  duldet  keine 
übertriebene  Archaisierung  derselben  noch  die  Anwendung  einer  solchen 
im  gewöhnlichen  Gespräch  und  verspottet  beides  als  "EkXiiviKovQEs  'tiefes 
und  unverständliches  Altgriechisch'.  Da  es  seine  Schriftsprache  zu  achten 
gelernt  und  in  dieser  seine  ganze  Bildung  gewonnen  hat,  kann  es  nicht 
verstehen,  was  die  Anhänger  der  Volkssprache  wollen  und  verspottet  sie 
mit  der  Benennung  uaXhaQol  'die  Haarigen'.  Diejenigen,  die  in  einem 
grossen  Zentrum  ihre  Ortsmundart  sprechen  und  sich  den  Regeln  der 
gemeiugriechischen  Sprache  nicht  anpassen,  werden  als  jiuooyhooooi  'Halb- 
spracliige"  verspottet.  Diejenigen,  welche  unverständlich  oder  gebrochen 
sprechen,  werden  verspottet  als  ZxaQnad^ubxixa  'die  Sprache  der  Insel 
Karpathos  (die  sehr  idiomatisch  ist)'  oder  als  "Eßgaiixa  'Hebräisch'  oder 
Kd'tCiy.a  'Chinesisch'  oder  'AQßavlvrixa  'Albanisch'  oder  'AkajujtovQveCixa 
'ganz  verwirrt'  sprechend.  Diejenigen,  welche  grob  und  unfein  sprechen, 
werden  mit  ßldxog  (s.  oben)  verspottet,  diejenigen  endlich,  welche  eine 
schreiende  Sprechweise  haben,  mit  'EßgaTog  oder  XaXdaiog  (vgl.  oben). 
Viel  ausgedehnter  sind  die  speziellen  Verulkungen  verschiedener  Orte. 
So  wurden  die  Athener  von  verschiedenen  Gelehrten  und  Reisenden 
wegen  ihrer  stark  idiomatischen  Sprechweise  getadelt.  Das  Idiom 
von  Kastellorizo  wird  von  den  Nachbarn,  den  Bewohnern  von  Division 
als  juio)]  judä  'halbe  Sprache'  verspottet  im  Gegensatz  zu  dem  ihrigen, 
das  fiJiovTouv  fjida  'ganze  Sprache'  ist.  Fast  in  jeder  Provinz  werden 
ein  oder  mehrere  Dörfer  Ziel  des  Spottes  wegen  ihrer  ungewöhnlichen 
Sprechweise.  Allgemein  wird  verspottet  die  Sprechweise  der  Lesbier, 
Kyprioten,  Kreter,  Tzakoner,  Pontier  und  Kappadokier.  Die  nördlichen 
Griechen,  welche  die  unbetonten  Vokale  u  und  i  ausfallen  lassen,  werden 


j^'j'4  Buturas:   Neugriechische  Spottnamen  und  Schimpfwörter. 

als  unverständlich  sprechend  verlacht  durch  den  Ausdruck  txXm  nlb 
=  7iovl(b  rn^lo  'ich  verkaufe  Lehm',  wo  beide  Wörter  nach  dem  Ausfall 
der  Vokale  gleich  lauten;  ebenso  die  Bewohner  von  Tenos,  deren  Mund- 
art im  Gegensatz  zu  denen  der  naheliegenden  Inseln  des  Ägäischen  Meeres 
den  nördlichen  Sprachgesetzen  folgt,  von  ihren  Nachbarn  durch  nanäq 
doi  1}  ji?Mo  'bist  du  ein  Geistlicher  oder  ein  Füllen',  was  als  von  einem 
Tenier  gesprochen  gemeint  ist.  Wegen  der  häufigen  Anwendung  des 
Suffixes  -ük  für  Hypokoristika  in  Lesbos  werden  die  Lesbier  spöttisch 
juojQÜXm  xal  jiaiöelha  genannt.  Die  Zakynthier  werden  verspottet  wegen 
des  Suffixes  -ta,  das  sie  ohne  Synizesis  ausspreclien,  ebenso  die  Mainoten, 
die  deswegen  scherzhaft  naiöia  xal  jroidia  genannt  werden.  Ebenso  wurden 
die  Athener,  die  das  Suffix  -ea  einst  ohne  Synizesis  aussprachen,  ver- 
spottet durch  ägm  xal  nlajea.  Die  Anwendung  des  alten  Suffixes  -ovoi 
und  -aoi  statt  des  modernen  -ovv  und  -av  wird  verspottet  besonders  bei 
den  Mainoten  durch  av  ig^ovoi  xal  (pegovoiv  änb  xeivo  jtov  xQcbyovoiv  oi 
Xiovgoi  xal  jTfjöovoi  /<>/  ocooovoi  xal  egd^ovoi'  jiid  av  qpeQovm  änb  xeTvo  jtov 
jQiooiv  Ol  d&QCOTioi  xal  Cotoi  raXcog  vä  Iq&ovoi.  Die  Epiroteu  und  West- 
makedonier  werden  verspottet  wegen  des  Suffixes  der  ersten  und  zweiten 
Person  Pluralis  -a/Auv,  -axav  statt  des  gemeinen  -a/iie,  -are.  Diejenigen, 
welche  tö  statt  x  aussprechen,  werden  spöttisch  roeroegijöeg  und  roojieXoi 
genannt. 

Ebenso  wird  die  häufige  Anwendung  mancher  Wörter  oder  Aus- 
drücke in  verschiedenen  Orten  Griechenlands  verspottet,  so  wegen  der 
häufigen  Anwendung  von  öge  (ovge)  'du,  höre'  in  Rumelien  und  Epiros 
diese  Provinzen  als  rÖTiog  xov  öge  'Ort  des  ore'.  Solche  häufigen  An- 
wendungen, über  die  man  sich  lustig  macht,  sind  für  Korfu  ym^^^^  'nun', 
für  Zakynthos  /tdT?a  iJ.ov  'meine  Augen',  für  Attika  xovfijcdge  'mein  Pate', 
für  Olympia  xaU  'mein  Guter',  für  Chios  ö/owobg  '0  weh'  und  evro  'dies 
ist',  für  die  ägäischen  Inseln  und  besonders  für  Kreta  elvta  'was",  für 
Pontes  'xl  'nein'.  Die  ausserordentlich  häufige  Anwendung  des  Eigen- 
namen Nioviog  in  Zakynthos  hat  dazu  beigetragen,  dass  spöttisch  jeder 
Zakynthier  Nm'iog  genannt  wird.  Das  häufige  Vorkommen  der  Eigen- 
namen navrelrig  in  Chios,  Nixifpag  in  Syme  und  Mavolrjg  in  Kreta  wird 
verspottet  durch  das  Sprichwort  ötiov  Zvjumxbg  Nix)']rag  xf  onov  XmTijg 
IlavreArjg  xf  ojiov  KgrjTixbg  Mava'ürjg  'wenn  du  jemanden  aus  Syme  triffst, 
der  wird  Nixijrag  heissen,  wie  der  aus  Chios  üavreXfjg  und  der  aus  Kreta 
Mavökr]g\ 

Hierher  gehören  auch  manche  Verspottungen,  die  durch  eine  Art 
von  Volksetymologie  zu  anderen  gleichlautenden  Wörtern  entstanden 
sind,  wie  auch  die  Altgriechen  den  Namen  'O^oXag  aus  öCm  'riechen' 
und  den  Namen  Ahw?^oi  aus  ahco  'verlangen'  herleiteten.  So  sind  spöttisch 
Äegog  mit  ?Jga  'Schmutz',  Nd^og  mit  ävd^iog  'unfähig',  AißgaTog  mit  big 
'EßgaXog  'zweimal  Jude',   Xaoicorrjg  mit  iaoo}.dgY]g  'Faulenzer',    Zy\xovvi  mit 


Hellwig:   Misshandlung  eines  Gespenstes.  175 

C)]T0J  'verlange',  IJägog  mit  TiaiQvw  'nehme',  Tijvog  mit  divco  'gebe'  in  Zu- 
sammenhang gebracht  worden,  weshalb  auch  folgender  Spottvers  auf  die 
Geizhälze  entstanden  ist:  Jh>  eljuai  äjtb  vip'  Tfjvo,  ynl  vä  divco,  eJjLiai  anb 
rijv  nÖLQo,  ym  vä  ^rdgcü  'ich  bin  nicht  aus  Tenos,  damit  ich  (etwas)  gebe^ 
ich  bin  aus  Faros,  damit  ich  (immer)  nehme'. 

Athen. 


Misshandlung  eines  Gespenstes. 

Von  Albert  Hellwig. 


Der  Gespensterglaube  gehört  zu  denjenigen  Formen  des  kriminellen 
Aberglaubens,  mit  welchen  sich  der  Kriminalist  verhältnismässig  selten  zu 
befassen  hat,  wenn  man  von  den  Frozesseu  gegen  betrügerische  Medien 
absieht,  da  es  sich  hierbei  um  eine  moderne  Form  des  Aberglaubens 
handelt,  die  zwar  mit  dem  alten  Volksglauben  an  Gespenster  gewisse  Be- 
rührungspunkte hat,  sich  aber  immerhin  wesentlich  von  ihr  unterscheidet. 

Ahnlich  wie  der  Hexenglaube  kann  auch  der  Gespensterglaube  in 
verschiedener  Form  vor  das  Forum  des  Kriminalisten  kommen.  Einmal 
ist  es  nämlich  möglich  und  kommt  auch  vor,  dass  der  Gespensterglaube 
von  Betrügern,  Dieben,  selbst  Falschmünzern  usw.  benutzt  wird,  um  ihrem 
unsauberen  Handwerk  ungefährdet  nachgehen  zu  können;  und  auf  der 
andern  Seite  begehen  die  Gespenstergläubigen  selbst  infolge  ihres  Aber- 
glaubens Handlungen,  die  sie  mit  dem  Strafgesetz  in  Konflikt  bringen. 
Ein  derartiger  Fall,  in  welchem  sich  drei  Gespenstergläubige  wegen  ge- 
fährlicher Körperverletzung  zu  verantworten  hatten,  beschäftigte  das 
Schöffengericht  zu  Wasungen  am  13.  Februar  1907.  Der  Angeklagte 
Wilhelm  Bach  wurde  durch  das  Schöffengericht  freigesprochen,  die 
beiden  andern  Angeklagten  dagegen  verurteilt,  und  zwar  Adolf  Bach 
wegen  gefährlicher  Körperverletzung  zu  sechs  Monaten  Gefängnis  und 
Schellenberger  wegen  Beihilfe  dazu  zu  einer  Woche  Gefängnis;  beide 
auch  zur  Zahlung  einer  Busse  von  445,25  Mark  an  den  Verletzten. 

Gegen  dieses  Urteil  legten  die  beiden  Verurteilten  Berufung  ein  und 
beantragten  ihre  Freisprechung.  Durch  Urteil  vom  11.  Juli  1907  sprach 
die  1.  Strafkammer  des  Landgerichts  Meiningen  —  Nr.  1  46/07  (37/07)  — 
Schellenberger  frei,  verwarf  aber  die  Berufung  des  Adolf  Bach. 

Über  diesen  sehr  interessanten  Fall  habe  ich  vor  Jahren  schon  auf 
Grund  von  Zeitungsberichten  über  die  Hauptverhandlung  berichtet^).    Ich 


1)    A.  Hellwig,    Ist  Misshandlung    eines    Gespenstes    strafbar?      Archiv    f.  Krirainal- 
anthropologie  und  Kriminalistik  ol,  lOöff. 


176  Hellwig: 

knüpfte  daran  einige  Bemerkungen  über  die  juristisclie  Seite  der  Frage, 
ob  und  unter  welchen  Voraussetzungen  ein  Abergläubischer,  der  ein  Ge- 
spenst, an  das  er  glaubt,  misshandelt,  wegen  vorsätzlicher  Körperverletzung 
bestraft  werden  kann.  Die  gleiche  Frage  hat  im  Anschluss  an  diesen 
Fall  auch  Professor  Reichel^)  erörtert. 

Leider  ist  es  mir  nicht  möglich  gewesen,  die  Akten  zur  Einsicht  zu 
erhalten,  dagegen  war  der  Herr  Oberstaatsanwalt  so  liebenswürdig,  mir 
eine  Abschrift  des  Urteils  der  Strafkammer  zugehen  zu  lassen^).  Ich  muss 
mich  deshalb  darauf  beschränken,  an  Stelle  einer  aktenmässigen  Dar- 
stellung in  folgendem  nur  den  Auszug  aus  dem  Urteil  der  Strafkammer 
zu  veröffentlichen;  ich  hoffe,  dass  dies  aber  auch  genügen  wird,  um  die 
volkskundlich  besonders  interessanten  Begleitumstände  zu  erkennen,  und 
um  es  uns  zu  ermöglichen,  die  juristische  Frage,  die  sich  an  diesen, 
meines  Wissens  bisher  einzigartigen  Fall  anknüpft,  auf  sicherer  Grund- 
lage zu  erörtern. 

„Auf  Grund  des  eidlichen  glaubwürdigen  Zeugnisses  des  Landwirts  Bern- 
hard Günkel  in  Wasungen,  der  glaubhaften  Angaben  und  des  Gutachtens  des 
praktischen  Arztes  Meyer  daselbst  und  des  Augenscheins  an  der  vom  Zeugen 
Günkel  vorgelegten  Laterne  und  an  der  von  demselben  vorgelegten  Mütze  in  Ver- 
bindung mit  einigen  Angaben  des  als  Zeugen  vernommenen  Wilhelm  Bock  und 
der  beiden  anderen  Angeklagten  ist  folgender  Sachverhalt  für  erwiesen  zu  er- 
achten. 

Am  Abend  des  31.  Dezember  1906  waren  die  drei  Angeklagten,  der  Ziegelei- 
arbeiter König  von  Wasungen  und  mehrere  Familienangehörige  der  Angeklagten 
Bach  in  der  Wohnung  des  Vaters  der  letzteren  beisammen.  Während  der  Unter- 
haltung kam  das  Gespräch  auf  Gespenster-  und  Geistergeschichten,  wobei  die  An- 
geklagten bemerkten,  dass  sie  nicht  an  Gespenster  und  Geister  glaubten.  Dies 
veranlasste  den  König,  eine  eigene  Wahrnehmung  mitzuteilen;  er  erzählte,  auch 
im  Wasunger  Friedhof  spuke  ein  Geist,  jedesmal  in  der  Neujahrsnacht  um  Mitter- 
nacht erscheine  dort  in  der  Nähe  ein  Licht  und  gehe  um;  das  habe  schon  der 
frühere  Turmwächter  vor  Jahren  gesehen,  und  er  habe  es  in  den  letzten  Neujahrs- 
nächten selbst  wahrgenommen.  Dies  bestritten  die  Angeklagten,  insbesondere 
Adolf  Bach,  so  dass  König  schliesslich  zur  Bekräftigung  seiner  Mitteilung  erklärte, 
er  wolle  ihm  —  Adolf  Bach  —  20  Liter  Bier  bezahlen,  wenn  das,  was  er  gesagt 
habe,  nicht  wahr  wäre.  Darauf  beschlossen  die  drei  Angeklagten  und  noch  ein 
Bruder  und  zwei  Schwestern  der  Bachs,  vor  Mitternacht  auf  den  Friedhof  zugehen, 
um  zu  sehen,  ob  sich  dort  in  der  Nähe  wirklich  ein  Licht  zeigen  würde.  Kurz 
vor  12  Uhr,  bei  klarem  Mondscheine,  dessen  Helligkeit  durch  die  Schneedecke  der 
Landschaft  noch  gesteigert  wurde,  begaben  sich  denn  auch  die  genannten  sechs 
Personen,  und  zwar  Adolf  Bach  mit  einem  Taschenrevolver,  Wilhelm  Bach  mit 
einem  Stocke  und  der  dritte  Bach  mit  einem  schweren  scharfen  Säbel  versehen, 
nach  dem  P'riedhof.  Als  sie  am  Zaun  angekommen,  bemerkten  sie  auf  dem  hinter 
dem  Friedhof  gelegenen  Gebäude  Licht.  Die  beiden  Schwestern  der  Bachs  gingen 
infolgedessen  wieder  auf  die  Landstrasse,    die    in    der  Nähe    des   Friedhofes    vor- 


1)  Arch.  f.  Kriminalanthropologie  u.  Kriminalstatistik  29,  344: f.  —  2)  Inzwischen 
sind  mir  die  Akten  doch  noch  zugänglich  gewesen;  über  ihren  weiteren  Inhalt  werde  ich 
im  Arch.  f.  Kriminalanthropologie  berichten. 


Misshandlung  eines  Gespenstes.  177 

überführt,  zurück,  die  drei  Gebrüder  Bach  und  Schellenberger  dagegen  über- 
schritten den  Friedhof,  stiegen  über  die  Mauer  ins  Feld  und  gingen  nach  dem 
Lichte  zu.  Als  sie  noch  ein  Stück  davon  entfernt  waren,  riefen  sie:  y|Hoh!  Hohl'" 
und  Adolf  Bach  gab  aus  dem  Taschenrevolver  zwei  Schüsse  in  die  Luft  ab.  Da 
sich  daraufhin  niemand  vernehmen  Hess,  gingen  sie  weiter  auf  das  Licht  zu. 
Dieses  befand  sich  in  dem  von  einer  Hecke  umschlossenen  Garten  des  Zeugen 
Günkel  und  kam  von  einer  mit  einem  farblosen,  die  Flamme  nach  allen  Seiten 
durchleuchten  lassenden,  bauchigen  Glaszylinder  versehenen  sogenannten  Sturm- 
laterne her.  Diese  trug  Günkel  in  der  an  der  Körperseite  herabhängenden  linken 
Hand.  Günkel  war  nämlich  infolge  eines  alten  Aberglaubens,  dass  Rreuzdorn- 
zweige,  schweigend  in  der  Neujahrsnacht  um  12  Uhr  herum  gebrochen  und  nach 
Hause  gebracht,  gut  gegen  Krankheiten  von  Menschen  und  Vieh  seien,  in  herge- 
brachter Weise  in  seinen  Garten  gegangen  und  hatte,  als  es  12  Uhr  geschlagen 
hatte,  Kreuzdornzweige  gebrochen,  um  sie  nach  Hause  zu  bringen;  die  Laterne 
hatte  er  trotz  des  hellen  Mondscheines  mitgenommen,  um  beim  Brechen  der 
Zweige  in  die  Kreuzdornhecken  zu  leuchten,  damit  er  sich  nicht  an  den  Dornen 
verletze.  Bekleidet  war  er  mit  einem  dunklen  Anzüge  und  einer  Arbeitsschürze, 
und  auf  dem  Kopfe  trug  er  eine  dunkelgrüne  Mütze,  vermummt  war  er  nicht.  Da 
infolge  des  Läutens  der  Glocken  in  den  umliegenden  Ortschaften  und  der  Neu- 
jahrsrufe, die  er  aus  der  Stadt  hörte,  eine  feierliche  Stimmung  über  ihn  ge- 
kommen war,  verweilte  er,  nachdem  er  die  Zweige  gebrochen  hatte,  noch  einige 
Zeit  in  seinem  Garten.  Plötzlich  hörte  er  zweimal  Schiessen  und  Leutestimmen, 
insbesondere  „höh  höh"  rufen,  und  bemerkte  aus  der  Richtung,  aus  der  die 
Stimmen  herkamen,  mehrere  Personen  über  das  vor  seinem  Garten  gelegene  Feld 
kommen.  Er  kümmerte  sich  nicht  weiter  darum,  sondern  hörte  weiter  auf  das 
Läuten  der  Glocken.  Plötzlich  sah  er  ganz  nahe  vor  sich  einige  männliche  Per- 
sonen auftauchen  und  erhielt  unmittelbar  darauf,  ohne  dass  jemand  etwas  zu  ihm 
gesagt  hatte  oder  er  etwas  hat  sagen  können,  zwei  bis  drei  starke  Hiebe  über  den 
Kopf.  Infolgedessen  stürzte  er  zusammen.  Daliegend  rief  er:  „Was  schlagt  ihr 
mich  denn!"  und  hielt  zum  Schutze  gegen  weitere  Hiebe  seinen  linken  Arm  mit 
der  Laterne  empor.  In  dieser  Lage  erhielt  er  weiter  noch  mehrere  Hiebe  auf  den 
linken  Arm,  die  linke  Hand  und  auf  den  Kopf.  Dann  wurde  von  ihm  abgelassen. 
Aber  als  er  nun  den  davonlaufenden  Personen  nachrief :  „Ich  kenne  euch!"  drehte 
sich  einer  von  ihnen  um,  kam  einige  Schritte  zurück  und  sagte:  „Wenn  du  nicht 
ruhig  bist,  so  steche  ich  dich  tot!^  —  Die  Personen,  die  an  Günkel  herange- 
kommen waren,  waren  die  drei  Angeklagten,  die  durch  eine  Lücke  in  der  Hecke 
neben  dem  Tor  in  den  Garten  eingedrungen  waren.  Der  dritte  der  Gebrüder 
Bach  war  nicht  mit  in  den  Garten  gegangen,  vielmehr  vor  der  Hecke  stehen- 
geblieben. Von  ihm  hatte  sich  vorher  Schellenberger  den  Säbel,  den  er  mitge- 
nommen hatte,  geben  lassen.  Kaum  waren  die  Angeklagten  in  den  Garten  ge- 
kommen, als  der  Angeklagte  Adolf  Bach,  der  einige  Schritte  voraus  war,  zu 
Schellenberger  zurückging  und  ihm  mit  den  Worten:  „Gib  doch  mal  das  Ding 
her,  ich  will  mal  sehen,  ob's  ein  Mensch  oder  ein  Geist  ist",  den  Säbel  aus  der 
Hand  nahm.  Mit  diesem  ging  nun  Adolf  Bach  auf  den  Träger  des  Lichtes  los 
und  schlug  auf  ihn  ein,  Hess  auch  auf  den  von  ihm  gehörten  Ruf  des,  wie  er 
sah,  hach  den  ersten  Schlägen  hingestürzten  Laternenträgers:  „Was  schlagt  ihr 
mich  denn?"  sich  nicht  abbringen,  noch  weiter  auf  ihn  loszuschlagen.  Er  war  es 
auch,  der  nach  dem  Rufe  Günkels:  „Ich  kenne  euch!"  sich  umwandte  und  die 
obengenannte  Drohung  ausstiess.    —    Durch  die   Schläge    mit    dem  Säbel    wurden 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskiinrlc.   19U.   Heft  2.  12 


178  Hellwig: 

nach  Durchtrennung    der    Mütze    und    des    linken    Rockärmels    an    verschiedenen 
Stellen  dem  Günkel  folgende  Verletzun^-en  beigebracht: 

a)  Durch  drei  Schläge  wurde  auf  dem  Hinterkopf  an  drei  Stellen  die  Kopf- 
haut oberflächlich  durchtrennt. 

b)  Durch  einen  über  die  rechte  Gesichtsseite  geführten  Hieb  wurden  Haut 
und  Muskeln  vom  Schläfenbein  zur  Mitte  der  Backe  bis  auf  den  Knochen  durch- 
schlagen. 

c)  Durch  drei  über  den  hinteren  Vorderarm  geführte  Schläge  wurden  die 
Muskeln  auf  der  Streckseite  gleichfalls  bis  auf  den  Knochen  durchtrennt,  durch 
einen  von  ihnen  wurde  das  Ellenbogengelenk  freigelegt  und  durch  einen  andern 
die  Ellenschlagader  durchschnitten. 

d)  Durch  einen  Hieb  über  die  linke  Hand  wurde  das  mittlere  Gelenk  des 
kleinen  B''ingers  durchtrennt  bis  auf  die  Kapsel. 

e)  Durch  einige  flache  Schläge  wurden  auf  dem  linken  Oberarm  einige  un- 
blutige, aber  blutunterlaufene  Muskelschwellungen  verursacht. 

Sämtliche  Wunden  sind  wieder  gut  geheilt  und  vernarbt,  nur  der  verletzte 
kleine  Finger  bleibt  dauernd  steif,  so  dass  er  zum  Arbeiten  nicht  mehr  ordentlich 
verwendet,  insbesondere  nicht  zum  umfassen  von  Gegenständen  gebraucht  werden 
kann.  —  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  der  Angeklagte  Adolf  Bach,  als  er 
auf  Günkel  in  der  geschilderten  Weise  losschlug,  gewusst  hat,  dass  er  in  dem 
Träger  des  Lichts  einen  Menschen  vor  sich  hatte.  Denn  es  war  sehr  hell,  wie 
der  Angeklagte  selbst  in  der  Hauptversammlung  erklärt  hat,  „beinahe  so  hell  wie 
jetzt,"  also  fast  tageshell,  so  dass  er  in  dem  Laternenträger,  der  gewöhnliche 
dunkle  Kleidung  trug,  sich  also  von  dem  schneebedeckten  Boden  scharf  abhob, 
einen  Menschen  hatte  erkennen  müssen.  Diese  Wahrnehmung  hat  er  um  so  mehr 
machen  müssen,  als  er  sah,  dass  infolge  der  ersten  zwei  bis  drei  Schläge  der 
Laternenträger  zu  Boden  fiel,  und  erhörte,  dass  dieser  rief:  „Was  schlagt  ihr  mich 
denn!"  Auch  aus  der  von  ihm  ausgestossenen  Drohung:  „Wenn  du  nicht  ruhig 
bist,  erschlage  ich  dich!"  geht  klar  hervor,  dass  er  gewusst  hatte,  einen  Menschen 
zu  schlagen.  Die  Angaben  des  Angeklagten  Adolf  Bach,  er  habe,  weil  die  Laterne, 
die  seiner  Meinung  nach  eine  Blendlaterne  gewesen  sei,  ihm  von  deren  Träger  in 
Gesichtshöhe  entgegengehalten  und  er  dadurch  geblendet  worden  sei,  nicht  er- 
kennen können,  wer  die  Laterne  gehalten  habe,  ob  ein  Mensch  oder  ein  Geist, 
und  er  habe  das  letztere  angenommen,  da  auf  seinen  Anruf:  „Bist  du  ein  Mensch 
oder  ein  Geist?  Bist  du  ein  Mensch,  so  antworte,"  keine  Antwort  erfolgt  sei; 
diese  Angaben  erscheinen  daher  ganz  unglaubwürdig. 

Hiernach  ist  festzustellen,  dass  der  Angeklagte  Adolf  Bach  zu  Wasungen  am 
1.  Januar  1907  den  Landwirt  Günkel  daselbst  vorsätzlich  mittels  einer  Waffe  körper- 
Jich  misshandelt  und  an  der  Gesundheit  geschädigt  hat. 

Nicht  dagegen  ist  festzustellen,  dass  der  Angeklagte  Schellenberger  dem  Adolf 
Bach  zur  Begehung  der  Körperverletzung  durch  die  Tat  wissentlich  Hilfe  geleistet 
hätte,  indem  er  diesem  zum  Zwecke  der  Misshandlung  den  Säbel  gegeben  hätte, 
wie  ihm  durch  Anklage  und  Eröffnungsbeschluss  zur  Last  gelegt  ist  und  wie  das 
Schöffengericht  für  erwiesen  erachtet  hat. 

Denn  nach  den  übereinstimmenden  Angaben  der  Angeklagten  Adolf  Bach  und 
Schellenberger  und  nach  den  von  ihnen  dem  Gericht  vorgeführten  Bewegungen, 
die  ersterer  gemacht  hat,  um  den  Säbel  in  seinen  Besitz  zu  bekommen,  hat 
Schellenberger  dem  Bach  den  Säbel  nicht  gegeben,  sondern  dieser  hat  nach  der 
Hand  des  ersteren  gegriffen,    den  Säbelgriff  erfasst  und  mit  der  oben  angeführten 


Misshandlunsf  eines  Gespenstes.  179 

Bemerkung  den  Säbel  mit  einem  Ruck  weggenommen,    ohne    dass  Schellenberger 
eine  hinreichende  Bewegung  gemacht  hat. 

Es  ist  daher  der  Angeklagte  Schellenberger  freizusprechen,  und  mithin  das 
angefochtene  Urteil,  soweit  es  ihn  betrifft,  aufzuheben.  Dagegen  ist  der  Ange- 
klagte Adolf  Bach  auf  Grund  des  §  223  a  StGB,  zu  verurteilen,  wie  dies  das 
Schöffengericht  getan  hat.  Die  von  diesem  ausgesprochene  Strafe  erscheint  mit 
Rücksicht  auf  die  Roheit  der  Tat,  die  erheblichen,  beinahe  lebensgefährlichen 
Verletzungen  und  auch  die  Vorstrafen  des  Angeklagten  wegen  gleicher  Vergehen 
keineswegs  zu  hoch,  vielmehr  gering.  Da  der  Verletzte  in  gesetzlicher  Weise  die 
Zuerkennung  einer  Busse  beantragt  hat,  hat  ihm  das  Schöffengericht  eine  solche 
auf  Grund  des  §  231  StGB,  mit  Recht  zugesprochen.  Gegen  den  zugesprochenen 
Betrag  von  444  Mark  25  Pfennig  hat  der  Angeklagte  für  den  Fall  seiner  Ver- 
urteilung zur  Strafe  keine  Einwendung  erhoben,  und  besteht  gegen  ihn  auch  aus 
den  im  angefochtenen  Urteil  angeführten  Gründen,  die  das  Berufungsgericht  auf 
Grund  derselben  Feststellungen  zu  den  seinen  macht,  kein  Bedenken.  Die  Be- 
rufung des  Adolf  Bach  ist  daher  zu  verwerfen." 

Mit  einigen  Bemerkungen  sei  es  gestattet,  auf  die  volkskundliche 
und  juristische  Seite  dieses  Prozesses  noch  ein  wenig  näher  einzu- 
gehen : 

Was  zunächst  das  volkskundlich  Interessante  anbetrifft,  so  können 
wir  vor  allem  darauf  hinweisen,  dass  der  Prozess  ein  neuer  Beleg  dafür 
ist,  dass  der  Gespensterglaube,  auch  wenn  man  von  seiner  modernen  Form, 
dem  Spiritismus,  absieht,  im  Volke  noch  lebendig  ist. 

Wenn  die  drei  Angeklagten  auch  erklärt  hatten,  sie  glaubten  nicht 
an  Gespenster  und  Geister,  und  wenn  auch  das  Gericht  offenbar  davon 
ausgegangen  ist,  dass  sie  den  Misshandelten  für  ein  Gespenst  nicht  ge- 
halten haben,  so  steht  doch  jedenfalls  fest,  dass  König  des  festen  Glaubens 
war,  es  gebe  Gespenster  und  Geister.  Es  will  mir  sogar  scheinen,  als 
seien  auch  die  Angeklagten  vom  Gespensterglauben  keineswegs  frei  ge- 
wesen. Es  wäre  sonst  kaum  verständlich  gewesen,  weshalb  sie  sich  sämt- 
lich bewaffnet  hätten,  als  sie  um  mitternächtliche  Stunde  zusammen  den 
Friedhof  aufsuchten.  Man  könnte  allerdings  gerade  die  Mitnahme  von 
Waffen  dafür  anführen,  dass  die  Angeklagten  an  Gespenster  nicht  ge- 
glaubt hätten;  doch  würde  dies  fehlgehen,  da  auch  sonst  uns  aus  dem 
Volksglauben  bekannt  ist,  dass  man  Gespenster,  trotzdem  sie  keine 
Menschen  von  Fleisch  und  Blut  sind,  doch  auf  recht  irdische  Weise  durch 
Waffengewalt  vertreiben  kann.  Für  die  Annahme,  dass  die.  Angeklagten 
den  Günkel  für  ein  Gespenst  gehalten  haben,  spricht  auch,  dass  sie  ihn 
vorher  angerufen  haben  und  angeblich  gerade  aus  seinem  Schweigen  den 
Schluss  gezogen  haben,  dass  es  ein  Gespenst  sei.  Man  glaubt  in  der  Tat, 
dass  Geister  auf  derartige  Anrufe  sich  schweigend  verhalten.  Dass 
Günkel  von  einem  derartigen  Anruf  nichts  gehört  haben  will  und  sicher- 
lich auch  nichts  gehört  hat,  kann  die  Angabe  der  Angeklagten  m.  E. 
nicht  entkräften,  da  Günkel  einmal  seine  Aufmerksamkeit  auf  ganz  etwas 

12* 


180  Hellwig: 

anderes  lenkte,  die  Äusserung  der  Augeklagten  also  auch  aus  diesem 
Grunde  leicht  überhört  haben  kann,  und  da  ausserdem  ja  gerade  die 
Glocken  läuteten. 

Wenn  Günkel  auch  nach  den  Feststellungen  des  Urteils  in  seiner 
Kleidung  nicht  dem  entsprach,  wie  man  sich  ein  Gespenst  vorzustellen 
pflegt,  so  ist  damit  doch  nicht  ausgeschlossen,  dass  er  von  den  Angeklagten 
für  ein  Gespenst  gehalten  worden  ist.  Denn  es  kommt  nach  dem  Volks- 
glauben auch  vor,  dass  der  Teufel,  Dämon  oder  Gespenster  Menschen- 
gestalt annehmen.  Endlich  spricht  gegen  die  Angeklagten  nicht  unbedingt 
die  Äusserung,  die  sie  auf  die  Bemerkung  Günkels  hin  taten,  er  kenne 
sie  und  werde  sie  anzeigen;  denn  diese  Äusserung  ist  erst  erfolgt,  nach- 
dem die  Misshandlungen  schon  beendet  waren.  Wenn  es  nun  auch  mög- 
lich, ja  sogar  wahrscheinlich  ist,  dass  sie  nach  erfolgter  Misshandlung  des 
Günkel  diesen  erkannten,  so  ist  damit  natürlich  noch  nicht  dargetan,  dass 
sie  auch  schon  im  Momente  der  Misshandlung  sich  bewusst  waren,  einen 
Menschen  vor  sich  zu  haben,  nicht  ein  Gespenst. 

Aus  diesen  Gründen  scheint  es  mir  —  soweit  man  auf  Grund  des 
mir  ja  allein  zur  Verfügung  stehenden  Urteils  sich  über  diese  Frage  ein 
Urteil  überhaupt  bilden  kann  —  keineswegs  als  ausgeschlossen,  dass 
Günkel  von  den  Angeklagten  im  Momente  der  Körperverletzung  für  ein 
Gespenst  gehalten  wurde. 

Interessant  ist  andererseits  vom  volkskundlichen  Standpunkt  aus,  dass 
Günkel  nach  altem  Volksglauben  alljährlich  in  der  Neujahrsnacht  still- 
schweigend sich  Kreuzdornzweige  holte,  in  dem  Glauben,  dass  diese  bei 
allerlei  Krankheiten  dienlich  seien. 

Was  nun  die  juristische  Betrachtung  anbelangt,  so  ist  es  für  sie 
von  ganz  wesentlicher  Bedeutung,  ob  wir  mit  dem  Urteil  davon  aus- 
gehen, dass  die  Angeklagten  zur  Zeit  der  Körperverletzung  gewusst 
haben,  dass  sie  auf  einen  Menschen  losschlugen  oder  ob  man  es  für 
wahrscheinlich  oder  doch  für  nicht  widerlegt  erachtet,  dass  sie  den  Günkel 
zur  Zeit  der  Misshandlung  für  ein  Gespenst  gehalten  haben. 

Geht  man  von  der  ersten  Voraussetzung  aus,  so  liegt  die  Sache 
einfach,  da  dann  daran  nicht  zu  zweifeln  ist,  dass  es  sich  um  eine  vor- 
sätzliche Körperverletzung  handelt.  Dies  ist  auch  der  Standpunkt  des 
Urteils. 

Schwieriger  ist  die  Frage,  wenn  man  davon  ausgeht,  dass  die  Ange- 
klagten des  Glaubens  waren,  ein  Gespenst  zu  misshandeln.  Wie  ich 
schon  früher  ausgeführt  habe,  kann  in  derartigen  Fällen  m.  E.  von  einer 
vorsätzlichen  Körperverletzung  gar  keine  Rede  sein,  da  diese  nur  dann 
vorliegen  kann,  wenn  sich  der  Täter  bewusst  ist,  dass  er  einen  Menschen 
misshandelt.  Glaubt  man  aber  an  Gespenster,  so  ist  man  der  Über- 
zeugung, dass  dies  Menschen  jedenfalls  nicht  seien.  Hieraus  ergibt  sich 
ohne  weiteres,    dass  Handlungen,    welche    der  Abergläubische    als  Angriti' 


Misshan dlung  eines  Gespenstes.  181 

auf  Gespenster  auffasst,  als  Körperverletzungen  in  seinem  Vorsatz  nicht 
aufgenommen  werden.  Es  handelt  sich  in  solchen  Fällen  zwar  objektiv 
um  Körperverletzungen,  doch  kann  dem  Abergläubischen  gemäss  §  59  StGB, 
diese  Körperverletzung  nicht  zugerechnet  werden,  da  er  sich  dessen  nicht 
bewusst  gewesen  ist,  dass  er  einen  Menschen  verletzte. 

Nach  dieser  Richtung  hin  unterscheiden  sich  die  Misshandlungen  an- 
geblicher Gespenster  wesentlich  von  den  Misshandluugen  angeblicher 
Hexen.  Während  bei  ersteren,  wie  bemerkt,  eine  vorsätzliche  Körper- 
verletzung nicht  in  Frage  kommen  kann,  ist  sie  bei  Misshaudlungen  von 
Hexen  stets  gegeben.  Im  Gegensatz  nämlich  zu  Gespenstern  werden  die 
Hexen  und  Zauberer  im  Volksglauben  auch  für  Menschen  gehalten,  aller- 
dings für  Menschen,  die  besonderer  Zauberkräfte  teilhaftig  sind;  dadurch 
scheiden  die  Hexen  und  Zauberer  aber  noch  nicht  aus  der  Kategorie  der 
Irdischen  aus  und  werden  noch  nicht  zu  überirdischen  Erscheinungen,  wie 
es  Gespenster  und  Geister  nach  dem  Volksglauben  und  dem  ihm  analogen 
Glauben  der  Spiritisten  sind. 

Wenn  wir  mithin,  von  jeuer  Voraussetzung  ausgehend,  eine  vorsätz- 
liche Körperverletzung  der  Angeklagten  nicht  für  gegeben  erachteten, 
so  würde  damit  doch  noch  nicht  gesagt  sein,  dass  die  Tat  der  Ange- 
klagten strafrechtlich  überhaupt  gleichgültig  wäre.  Es  kommt  nämlich 
in  Frage,  ob  in  der  Misshandlung  eines  Gespenstes  nicht  eine  fahr- 
lässige Körperverletzung  liegt.  Soviel  lässt  sich  jedenfalls  sagen,  dass 
unter  Umständen  ein  Abergläubischer,  der  ein  Gespenst  misshandelt  oder 
ein  Gespenst  tötet,  sich  wegen  fahrlässiger  Körperverletzung  oder  fahr- 
lässiger Tötung  wird  verantworten  müssen;  andererseits  kann  man  sagen, 
dass  nicht  in  allen  derartigen  Fällen  eine  dem  Abergläubischen  zuzu- 
rechnende Fahrlässigkeit  gegeben  sein  wird.  Wann  der  Abergläubische 
wegen  fahrlässiger  Körperverletzung  oder  fahrlässiger  Tötung  wird  be- 
straft werden  können  und  wann  dies  nicht  der  Fall  ist,  wird  auf  die  Um- 
stände des  einzelnen  Falles  ankommen.  Es  ist  dabei  zu  berücksichtigen, 
dass  der  Abergläubische  bei  Anwendung  der  gehörigen  Sorgfalt  hätte  er- 
kennen können,  dass  er  es  im  konkreten  Falle  mit  einem  Gespenst  nicht 
zu  tun  hatte. 

Ob  in  dem  vorliegenden  Falle  die  Augeklagten  fahrlässig  gehan- 
delt haben,  lässt  sich  auf  Grund  der  festgestellten  Tatsachen  schwer 
entscheiden.  Wenn  man  davon  ausgeht,  dass  sie  gespenstergläubisch 
waren,  wenn  man  berücksichtigt,  dass  sie  von  König  erfahren  hatten, 
schon  mehrere  Jahre  habe  sich  in  der  Xeujahrsnacht  das  Gespenst  mit 
einem  Lichte  gezeigt,  wenn  man  bedenkt,  dass  sie  auch  diesmal  wieder 
das  Licht  sahen,  wenn  man  beachtet,  dass  sie  W^arnungsschüsse  abgaben, 
und  dass  sie  ihrer  wohl  kaum  widerlegten  Angabe  nach  das  Gespenst  zu- 
nächst anriefen,  eine  Antwort  nicht  erhielten  und  daraus  gemäss  ihrem 
Aberglauben  entnehmen  mussten,  dass  es  sich  tatsächlich  um  ein  Gespenst 


182  Hellwig:    Misshandlung  eines  Gespenstes. 

handle,  so  wird  man  kaum  sagen  können,  dass  sie  bei  Anwendung  ge- 
höriger Sorgfalt  hätten  erkennen  müssen,  dass  Günkel  ein  Mensch 
und  nicht  ein  Gespenst  sei.  Wenn  man  allerdings  andererseits  bedenkt, 
dass  heller  Mondschein  war,  dass  Günkel  nichts  Gespensterhaftes  an 
sich  hatte  und  dass  auf  ihn  auch  dann  noch  losgeschlagen  wurde,  als 
er  zu  schreien  begann,  so  wird  es  wiederum  zweifelhaft,  ob  die  Ange- 
klagten nicht  hätten  erkennen  können,  dass  sie  einen  Menschen  miss- 
handelten und  nicht  ein  Gespenst;  das,  was  an  konkreten  Tatsachen  uns 
bekannt  ist,  lässt  m.  E.  also  eine  hinreichend  sichere  Beantwortung  dieser 
Frage  für  den  konkreten  Fall  nicht  zu.  Im  allgemeinen  aber  möchte  ich 
noch  bemerken,  dass  der  Gespeusterglaube  an  sich  m.  E.  niemals  als  ein 
fahrlässiges  Verhalten  des  Betreffenden  angesehen  werden  darf.  Denn 
wenn  es  auch  uns,  die  wir  nicht  abergläubisch  sind,  so  scheinen  will,  als 
müsse  doch  jeder  nicht  gerade  geistesschwache  Mensch  bei  Anwendung 
gehöriger  Sorgfalt  sich  davon  überzeugen  können,  dass  es  Gespenster 
nicht  gäbe,  so  ist  in  Wirklichkeit  die  Sache  doch  nicht  so  einfach,  was 
auch  derjenige,  der  mit  der  Macht  des  Aberglaubens  und  mit  seinen 
psychologischen  Vorbedingungen  nicht  hinreichend  vertraut  ist,  doch  dar- 
aus wird  ersehen  können,  dass  sich  der  Aberglaube,  insbesondere  auch 
der  Gespensterglaube,  keineswegs  auf  die  ungebildeten  Kreise  beschränkt; 
auch  zahlreiche  akademisch  Gebildete,  selbst  Gelehrte  von  Weltruf,  zählen 
oder  zählten  zu  den  Anhängern  des  Spiritismus  und  Okkultismus.  Wenn 
selbst  solche  Persönlichkeiten,  denen  man  im  allgemeinen  doch  eine  hin- 
hinreichende Urteilsfähigkeit  wird  zutrauen  müssen,  sich  aus  dem  Banne 
des  Aberglaubens  nicht  vermocht  haben  freizumachen,  so  wird  man  es 
ungebildeten  Leuten  sicherlich  nicht  zum  Vorwurf  machen  dürfen,  wenn 
es  ihnen  nicht  gelingt,  die  Unhaltbarkeit  ihrer  abergläubischen  Vor- 
stellungen zu  erkennen.  Dessen  muss  man  sich  immer  bewusst  bleiben, 
wenn  es  sich  darum  handelt,  die  Handlungsweise  eines  Abergläubischen 
strafrechtlich  zu  bewerten. 

Berlin -Friedenau. 


Müller;    Kleine  Mitteilungen.  Igg 


Kleine  Mitteilungen. 


Naclibarreime  aus  Obersachsen. 

(Vgl.  24,  90—94.) 

B.  Nachbarreime  gegen  mehrere  Personen. 

oG.    Bei  Richtern  homse  e  böses  Haus,  da  treibt  dr  Wind  de  Schoben 

(Strohdach)  naus. 
Renger  hat  ein  böses  Kind,  und  durch  die  Schoben  pfeift  der  Wind. 

(Haiuewalde  b.  Zittau.) 

37.  Dreimal  drei  is  nenne,  Schimch  (=  Schönbach)  ging  a  de  Scheune, 
Hohlfeld  trieb  die  Pferde  aus,  Schimch  dar  macht  an  Narren  draus. 

(Sohland  a.  d.  Spree.) 

38.  Kowarjowa  konja  kowa,  Smisowa  tarn  na  nju  wola. 

(Die  Schmiedin  beschlägt  die  Pferde,  die  Schmeißin  ruft  ihr  zu.)    (Radibor.) 

39.  Solta  jedze  z  haza,  do  kholow  so  Zmaza 
prindze  podla  Wrobelec,  Wrobl  praji:  Solta, 
twoja  ric  je  zoltal 

(Schulze  kommt  aus  Lohse,  versudelt  sich  die  Hose, 
kommt  bei  Sperlingsdamm  vorbei.     Sperling  sagt:  Schulze,  ei, 
dein  Hinterer  ist  gelbe.)     (Radibor.) 

40.  Grahl  wohnt  im  Winkel,  und  Liebsheim  sieht  kein  Finkel 

(=  kein  bisschen),     (Mühlbach.) 

41.  An  Kratschen   (Kretscham,    Wirtshaus)  schlachten  se  a  Kalb,  Olbert  dar 

uemmt's  holb, 
Rudolph  nemmt's  Gekriese,  der  Poster  spricht:   's  schmeckt  biese. 

(Jonsdorf,  Oberlausitz.) 

42.  Rätz's  Hanne  is  schneid'g,  Heng's  (=  Hennigs)  Honne  is  geiz'g, 
Kaisers  hon  a  engs  Schüppel  (Schuppen),  Woiners  Klenns  (Wagners  Kleines)  hon  ka 

Hühnertippel.     (Cunewalde,   Oberlaus.) 

43.  Der  Kaiser  leeft  am  Bachrand  rim,  der  König  der  fährt  Apun  rim, 
der  Herzog  der  is  abgebrannt,  und  seine  Frau  is  fortgerannt, 

(Großschönau,  Oberlaus.) 

44.  An  Hübel  schlachtens  a  Kolb,  Zimmer  nimmts  holb, 
Schramms  nahms  Geschlinke  und  hangs  'n  Bücken  an  de  Klinke. 
Schubert  Armt  nimmts  Gekriese,  Wondlers  Korle  spricht:    's  schmeckt  biese. 
Filvs  hon  a  enges  Gassei,  Ochsefriedeis  hon  ka  Ziegefassel.     (Cunewalde,) 


134  Müller: 

45.  N  Schlacht  a  Kolb,  0  dar  nimmts  holb, 
P  nimmts  Gekriese,  Q  spricht:  's  schmeckt  biese. 

K  nimmt  de  Plauze  und  heb's  'n  im  de  Schnauze.     (Oberlaus.) 

46.  Genau  so,  nur  4.  —  und  hebt  se  Gottin  im  de  Schnauze. 

(Oberkunnersdorf,  Oberlaus.) 

47.  Alberschlobel  Schlacht  an  Hund,  der  gab  dr  Frölch'n  o  a  Pfund. 
Müllerschuster  kriegts  Gegriese,  Schneiderschgottlieb  sagt:  "s  schmeckt  biese. 
Jahnlobl  kriegt  de  Plauze,  der  hieb  se  Siegfriedn  im  de  Schnauze. 

(Ebersdorf,  Oberlaus.) 

48.  Fahrig  schlacht  e  Kalb,  der  Pastor  der  kriegt's  halb, 

Ulbricht  kriegt's  Gekröse,  und  Schlegel  der  is  böse.     (Hermsdorf  b.  Rochlitz.) 

49.  Wauer  aus  dem  Grunde,  Beiger  mäst't  de  Hunde, 
Hase  hat  e  buch  Haus,  Grafs  Friedel  schaßt  zum  Fenster  naus. 
usw.  (Forts,  unbekannt).  (Bischdorf  b.  Löbau.) 

50.  Dokters  schlachten  e  Kalb,  Körners  kriegens  halb, 
Kartens  kriegens  Gekröse,  Hahns  sind  darum  böse, 

de  Kretschmarn  guckt  zum  Fenster  raus,   Stocks  denken,   's  is  ne  Fledermaus. 

(Kehren.) 

51.  Der  Goldschmied  schlacht  a  Kalb,  Eger  nimmt's  halb, 
Schneider  nimmt's  Geschlinke,  hängt's  ba  Micheln  a  de  Klinke, 
Köhler  guckt  zum  Fenster  raus.  Dreßler  treibt  de  Froe  ims  Haus. 

(Spitzkunnersdorf,  Oberlaus.) 

52.  Bei  Benndorfs  an  der  Ecke,  Dietels  flicken  Säcke, 

Grauls  ham  e  großes  Haus,  Kretschmar  macht  sich  garnichts  draus. 
Bühnau  hat  ein'n  großen  Garten,  Vogtländer  müssen  die  Kinder  warten, 
Staude  hat  e  schlechtes  Haus,  bei  Kretschmarn  guckt  der  Kobold  raus. 

(Brandis  b.  Leipzig,) 

53.  Der  Hartmann  is  e  grober  Maa,  der  alte  Tülle  Kerling  hat  e 

Buckeln  dra, 
und  der  Fritschaugust  der  führt  en  großen  Rang,   und  bei  der  Pollackmathilde 

da  stehts  an  Schrank. 
Der  Gräßler  der  bot  de  Habergritzenmühl  und  der  gibt  den  Bettlern  net  viel. 

(Rittersgrün  i.  Erzg.) 

Auf  Bewohner  von  Glauchauer  Strassen: 

54.  Mätersch  schlachten  e  Kalb,  Werncrsch  kriegens  halb, 
der  Hertsch  der  kriegt's  Gekriese,  der  Landgraf  wird  sehr  biese, 

der  Ebersbach  guckt  zum  Fenster  naus,  bei  Heinzes  is  großer  Kaffeeschmaus. 
Der  Erler  hat  ne  Metze,  der  Braune  hat  ue  Petze  (Hündin), 
der  Blei  verkauft  gute  backue  Birn,  der  Blechschmidt  aber  Helfenzwirn, 

(Glauchau,) 

55.  Bei  Salgern  schlachten  se  e  Kolb.  bei  Puschen  nahm  se's  holb, 
bei  Friedrichen  nahm  se's  Geschlinke,  se  hängs  bei  Bairigen  a  de  Klinke, 
der  Schuster  wuUts  ne  leiden,  do  müßt's  Korle  wegschneiden, 

Ben  Vurstande  hatten  se's  Gekriese,  dr  Bäcker  soite  's  schmeckt  biese. 

(Ebersbach  b.  Löbau.) 


Kleine  Mitteilungen.  185 

Auf  die  Häusler  des  Ortsteils  Schneidenbach  bei  Sohland  a.  d.  Spr. 

56.  Fischer  schlacht't  e  Kalb,  dr  Bäcker  nahm''s  halb, 
Hans  Aden  nahms  Gekröse,  Liebsch  sagt:    das  schmeckt  böse. 
Eckardt  der  bäckt  Haferbrot,  Christophe  hat  keene  Not, 
Schmarrn  weist  den  Weg,  Schulze  frißt  den  Dreck, 

Eisert  sitzt  auf  dem  Berge,  Thonig  niest  auf  die  Quärge, 
Wemmanns  Jahns  is  e  alter  Man,  Haarig  is  der  Kapphahn. 

(Sohland  a.  d.  Spr.     Pilks  Sammlung.) 

57.  Horsts  schlachten  e  Kalb,  Wingers  kriegen's  halb, 
Richters  kriegen's  Gekriese,  Secherminne  wird  biese, 

Vogts  Vater  hat  en  dicken  Bauch,  Obenaus  guckt  zum  Bornloch  raus, 
Obenaus  is  e  braver  Mann,  Baßchensbauer  mag  die  Frau  nich  hau, 
Hyns  ham  en  grüßen  Huf,  Wendchens  Vater  gieht  seegen  (=  pissen)  druff, 
Kaichens  backen  weißes  Brut,  Schmiederhasens  schlän  die  alten  Weiber  tut, 
mir  wohn'n  an  der  Ecke,  der  alte  Kunze  flickt  de  Säcke. 

(Priestewitz  b.  Meißen.) 

58.  Mibs  (Möbius)  wohnt  an  der  Ecke,  Gastschuster  der  tlickt  Säcke, 
Dietrich  guckt  zum  Fenster  raus,  der  Schmieder  macht  sich  garnischt  draus. 
Sammig  hat  an  lächr'gen  Hut,  Teich'n  schmeckt  der  Tabak  gut, 

Haub'l'd  hat  viel  Kinger,  Biehme  is  der  Läuseschlinger, 

Schuster  schlät  den  Uchsen  tut,  Glambrich  spricht:  Guttschwerenut. 

(Churschütz  b.  Lommatzsch,  um  1870  bek.V  « 

59.  Großenernst  wohnt  in  der  Ecke,  Schulzenmelcher  flickt  de  Säcke, 
Hanschrist  säuft  den  Kaffee  aus,  Quaaslob  guckt  zum  Fenster  raus. 
Moosdorf  hat  ne  schiene  Schäcke  (Kuh),  Großenlob  der  sitzt  im  Drecke, 
Soms  hom  e  schie  Gescherre,  Klugenfriedrich  wird  de  Fro  nich  herre. 
Jakobs  schlachten  e  Kalb,  Ebers  kriegens  halb, 

Ehrlichs  lob's  Gekriese,  Heimeremil  wird  drieber  biese.     (Terpitz  b.  Kohren.) 

60.  Vogtsgottlieb  schlacht  a  Kalb,  Schreiber  nimmt's  halb. 
Schenker  nimmt's  Gekriese,  Palmer  spricht:  's  schmeckt  biese. 
Schimbch  is  a  ormer  Mon,  Klix  dar  kreucht  zur  Froe  ro, 
Barth  das  is  dar  Baseubinder  .  ,  .  ? 

ba  Hinliche  treiben  se  'n  Teifel  ins  Haus,  ha  Grunerten  beißen  se  de  Tischecke  o, 
ba  Hantsche  schreit  der  Kikerikihohn,  Wahrgüttier  (Güttier  am  Wehre)  is  a 

aler  Mun, 
Wolf  dos  is  a  bieser  Hohn  .  .  .  ? 

ba  Wulfe  gihts  gor  feine  zu,  ba  Ritge  stuppen  se  de  Mäuselöcher  zu, 
Ritg  dos  is  a  Bohnorbeiter,  Weise  is  der  Eirichtemon, 
ba  Richtern  lussen  se'u  Zug  arbei,  a  dr  Ziegelei  lussen  se  de  Siffliche  (Süffel)  rei. 

(Neufriedersdorf  b.  Löbau.) 

61.  Sachsens  wohn'n  in  der  Ecke,  Schönfelds  flicken  Säcke, 
Schlegels  backen  Weißbrot,  Strobel  hat  die  Kindernot, 
Petzold  hat  en  großen  Hund,  Ae  verliert  den  Hosenbund, 
Scheibe  hat  ene  große  Scheune,  Wickert  guckt  zun  Fenster  raus, 
die  Krebsen  hat  e  großes  Haus,  de  Külni'  macht  sicli  nichts  daraus. 

62.  Dr  Montag  hot  no  viel  zu  Iiufen,  be  Kerns  do  is  de  Kotz  ersuff'n, 
be  Neugartners  hon  se  keene  Kinder,  Mälzer  is  a  Weibcrscliiuder, 

be  Eiselts  is  dr  weise  Rot,  be  Herrmanns  is  dr  Advukat, 
be  Karassürs  is  a  enges  Gassei,  Gokschtrauguk  ho  kee  Ziegenfassel. 

(Weigsdorf,  Bez.  Bautzen.) 


186  Müller: 

63.    Wolf  is  dr  Hundebauer,  und  Blaasche  is  dr  Grußbauer, 
und  Donath  is  dr  Hasenbauer,  und  Winkler  hat  a  Grußpferd, 
und  Liebscher  dar  is  ganz  aalt  .  .  .  ? 

Gitterschgirge  hot  zwee  weiße  Schimmel,  un  Baschehansgörge  fährt  an  Himmel, 
Grohe  hot  a  grüß  Haus,  bei  Richter  gucken  de  Meise  zun  Fenster  raus. 

(Niederfriedersdorf,  Oberlaus.) 

G4.   Köhler  is  der  Tagewähler,  Baukelts  Junge  wird  immer  schlechter, 
ba  Eisoltn  da  is  miserabel,  ba  Mühlu  assen  se  all  mit  dr  Gabel, 
ba  Exnern  assen  se  lauter  Quark,  Gulich  dar  is  gor  ne  stark, 
bau  Schuster  roochen  se  lauter  Schwartel,  Clemense  die  hau  a  schie  Gartel, 
der  Mitterbäcke  bäckt  schie  Brut  und  Tietze  dar  sieht  aus  wie  dr  Tud. 

(Spitzkunnersdorf,  Oberlaus.) 

65.  Streubel  schläft  bis  um  sieben,  Seidel  frißt  ne  Eübe, 
Sonntagens  kochen  Ebernbrei,  Pöge  schläft  bei'n  Pferden  ei, 
Wagner  hat  zwee  große  Ochsen  .  .  .  ? 

Hankens  fahrn  bis  nach  Mutschen,  Richter  muß  aufm  Arsche  rutschen, 
Zimmermann  hat  ein  großes  Haus,  die  Schön  guckt  zum  Fenster  raus, 
Niese  der  is  garnich  dumm.  Kern  der  mahlt  das  ganze  Korn, 
Brinschwitz  fährt  mit'n  Luftballon,  Lehmanns  hab'n  en  kleenen  Jung'n. 

(Kühren,  Bez.  Grimma.) 

66.  In   der  Uchsenmühle  gihts  klipp  klapp,    bein  Fleescher  gihts  schnipp 

schnapp, 
bei  Bernerts  werd  der  Quark  ni  sauer,  der  Zimmer  is  a  grußer  Bauer. 
Gritzners  sinn  de  Hihnerspitze,  bei  Bienertsherrmann  is  de  Frau  nischt  nitze, 
de  Guttermiene  hot  drackgc  Beene,  bei  Bars  do  is  der  Monn  alleene, 
der  Brachmann  is  e  Distlkupp,  der  Mendenhelf  is  recht  grub. 

(Dorfhain.     Bruchstück.) 

67.  Hampels  Christoph   dar  hot  dn  Hut  uf  dr  Seite,   dr  Erbrhampel  hot  de 

Frau  uf  dr  Weide, 
de  Katherin  macht  grüße  Bissen,  Wenchs  Guttlieb  will  vill  wissen, 
Rudolfs  Korle  gibt   mit  der  Flinte  aus,  dr  ale  Rudolf  fällt  mit  der  Fro  as 

Haus, 
ba  Tim  han  se  ock  ene  Könne,  ba  Fehlern  hon  se  ene  schine  Honne. 

(Eibau,  Oberlaus.) 

68.  A  wohnt  in  der  Ecke,  B's  flicken  Säcke, 
C's  backen  Weißbrot,  D  hat  keene  Not, 

E  hat  en  klen  Garten,  F  muß  de  Kinder  warten, 

G  hat  kee  Taubenhaus,  H  guckt  zum  Fenster  raus, 

I  hat  en  grauen  Bart,  J  .  .  .  ? 

K  hat  Ratten  in  der  Kammer,  L  scblät  sie  mit'n  Hammer. 

M  is  e  guter  Mann,  N  hat  graue  Hosen  an, 

O's  haben  viele  Kinner,  P  haben  bloß  drei  Hinner, 

Q  hat  ne  gelbe  Kuh,  R  hat  de  Fenster  zu, 

S  hat  bloß  enen  Burn,  T  geht  Kuchen  schnurrn, 

U  bläst  das  Nachtwächterhorn, 

V  hat  ene  klene  Scheune.  W  hat  nur  drei  Schweine, 

X  bringt  das  Bauchgurt  im.  (Kühren,  Bez.  Grimma.) 

60.    Kicßlings  in  der  Ecke,  Teichgräbers  ilicken  Säcke, 
Vetters  backen  Weißbrot,  de  Reimern  schlägt  den  Teifel  tot, 
Pretschmanns  schlachten  e  Kalb,  Günthers  kriegen's  halb. 


Kleine  Mitteilungen.  Igj 

Prosts  kriegen's  Gekröse,  Kießigs  sind  drüber  böse, 
Rothens  ham  en  großen  Garten,  Dögens  müssen  Kinder  warten, 
Fleckeis  is  e  braver  Mann,  Neider  will  de  Frau  nich  ham, 
Kärtchens  ham  e  Tuch  verlorn,  Antrags  ham  de  Ohrn  erfrorn. 
De  Gindeln  hat  e  großes  Haus,  de  Merkein  guckt  zum  Fenster  raus. 

(Stockhausen  b.  Döbeln.) 

70.  Der  Müller  is  der  Mehldieb,  Bruchelt  hat  seine  Fraa  lieb, 
Schoke  wohnt  ufm  Bärge,  Schöne  macht  spitze  Quarge, 

Funke  is  der  ale  Vater,  N  is  der  Bankhader, 

Uhlemann  wohnt  in  der  Gasse,  Grusche  hat  keene  reen  Fasse, 

de  Kretzschmarn  tut  gern  Schweine  schlachten,   Gruschen  Karl  tut  nach   Gelde 

trachten, 
Pietzsch  hat  ene  schwarze  Pfütze,  Rabe  is  uf  der  Walt  nischt  nütze, 
Lehnert  is  e  Lügenmaul,  Leuschner  Lieb  is  lang  und  faul, 
Fischer  der  hat  weite  Hosen,  Rilker  hot  s'n  aufgebloseu, 
Graf  hat  ene  scheene  Fraa,  der  Schmied  spielt  gerne  Kuntra, 
Weißig  hat  en  kahlen  Kupp,  Kühne  is  e  Hundsfutt, 
Löwe  is  der  Hengstreiter,  Hermann  is  der  Hackschschneider, 
Rückert  der  wohnt  ganz  alleene,  bei  Hilligs  is  de  Stube  nich  reene, 
Krausgen  Lieb  hat  keene  Kinder,  Beger  is  der  Pferdeschiuder, 
Beckert  hat  nur  eene  Kuh,  Pretzschens  machens  Falltor  zu, 
Rumpelts  ham  e  Wachtelhaus,  bei  Mendens  guckt  der  ?  raus, 
der  Schäfer  treibt  de  Schafe  aus,  der  Schulmeester  prügelt  de  Kinder  aus. 
(Sachsdorf  b.  Wilsdruff.    Mitt.  f.  Sachs.  Volksk.  1910  S.  195  f.) 

71.  Geisel  ime  der  Ecke,  Peschel  flickt  de  Säcke, 
Philipp  Schlacht  ne  schöne  Kuh,  Gläsche  gibt  neu  Taler  zu, 

de  Dämmigen  kriegt's  Gemüse,  dadrüber  werd  de  Schneidern  biese, 
Kost  guckt  zum  Fenster  raus,  Franke  macht  sich  garnischt  draus. 
Scheller  in  der  Zippelmütze,  Heibig  is  ooch  garnischt  nütze. 

(Riemsdorf  b.  Meißen.    Dähnhardt,  Volkstüml.  aus  Sachsen  2,  145.) 

72.  Grenkel  wohnt  in  der  Ecke,  Ohmich  flickt  Säcke, 
Kaiser  hat  en  schönes  Haus,  Höde  guckt  zum  Fenster  raus, 
Platz  scjilacht  en  Kalb,  Naumann  kriegt's  halb, 
Albrecht  kriegt's  Gekröse,  Lamprecht  ist  darüber  böse, 

Thomas  hat  zwei  schöne  Schimmel,  Kurth  der  denkt,  er  ist  im  Himmel, 
Berger  der  trinkt  Bier  und  Wein,  Richter  denkt,  das  muß  so  sein, 
die  Krausen  hat  en  schönen  Mann,  die  Schüttgen  möcht  en  gerne  han, 
bei  Otten  sin  de  Läden  krumm,  bei  Mains  is  's  Mädchen  dumm, 
bei  Kuhnerts  führt  ne  Straße  naus.  Metzlers  wohn'  im  Spittelhaus. 

(Luppa  bei  Dahlen.     Dähnhardt  a.  a.  0.  2,  147.) 

73.  Altemanns  wohn'  in  der  Ecke,  Straubens  flicken  Säcke, 
Hamann  hat  eene  schöne  Katze,  Klemm  leckt  de  Tatze, 

der  Schmidt  hat  e  hohes  Haus,  Ulbricht  guckt  zum  Fenster  raus, 

Kerbachs  backen  Weißbrot,  Lippmann  schlät  den  Teifel  tot, 

Höpner  trinkt  gern  e  Gläschen  Wein,  Hübler  spricht:  es  muß  so  sein. 

Bartheis  haben  hohe  Tor'n,  Gelljig  is  im  Backofen  erfrorn, 

Goldammer  denkt,  er  hat  'ne  schöne  Frau,  Schubert  spricht:  se  is  nich  ennen 

Teifel  wert. 
Scheunert  .  .  .  ?,  Jäbel  guckt  in  de  Kaffeekanne, 
Langes  haben  Wanzen,  Frankens  können  schön  tanzen. 

(Schraalbach  b.  Roßwein,    Dähnhardt  a.  a.  0.  2,  146.) 


188 


Müller,  Stratil: 


Parallelen  ausserhalb  Sachsens  i): 

74.    Lammert  Schlacht  e  Schwien,  Heckert  kriegt  Trichin, 
N  kriegt  en  Knocheu,  Winks  habens  gerochen, 
Graupener  kriegt  en  Schwanz,  Zimmermann  der  hält  Tanz, 
Leser  kriegt  de  Darm,  Petzold  schlägt  den  Lärm, 
Krüger  kriegt  en  Schinken,  Dutke  kriegt  de  Wurst, 
Fries  kriegt  en  großen  Durst.     (Sondersliausen.) 


Leipzig. 


Curt  Müller. 


Weihnachtslieder  aus  Mähren. 

[Über  die  Entstehung  des  dramatischen  Weihnachtsliedes  aus  lateinischen  Hymnen 
und  seine  verschiedenen  Gattungen  s.  K.  Weinhold,  Weihnacht-Spiele  und  Lieder  aus 
Süddeutschland  und  Schlesien,  Wien  1875:  F.  Vogt,  Die  schlesischen  Weihnachtspiele, 
Leipzig  1901;  vgl.  auch  Häuften  oben  4,  29.  Die  beiden  hier  mitgeteilten  Lieder  ent- 
sprechen zum  Teil  wörtlich  den  von  Weinhold  S.  34f.  und  S.  104f.  aus  Schlesien  auf- 
gezeichneten. Das  erste  wird,  wie  Herr  Stratil  angibt,  noch  jetzt  in  mehreren  Varianten 
von  verkleideten  Burschen  und  Mädchen  gesungen,  die  zur  Weihnachtszeit  von  Haus  zu 
Haus  ziehen  und  auch  in  den  Nachbardörfern  auftreten.] 


I.  Weihnachtslied  aus  Stachenwald  bei  Fulnek. 


Gabriel: 
Gelobt  sei  Jesus  Christus! 
Ein'  schön'  guten  Abend  geh  euch  Gott, 
ich  bin  ein  ausgesandter  Bot', 
bin  ausgesandt  aus  Engelland, 
der  Engel  Gabriel  werd'  ich  genannt, 
den  Zepter  trag'  ich  in  meiner  Hand, 
den  hat  mir  Gottes  Sohn  ernannt, 
die  Krön'  trag'  ich  auf  meinem  Haupt, 
die  hat  mir  Gottes  Sohn  erlaubt. 
Wer  reicht  dem  König  einen  Stuhl, 
darauf  soll  sitzen  Gottes  Sohn? 
Der  heiige  Christ  ist  auch  mit  mir, 
er  steht  schon  draußen  vor  der  Tür, 
er  steht  schon  draußen,  er  will  schon 

rein 
zu  diesen  kleinen  Kindelein. 

(Hinausrufend): 
0  heiiger  Christ,  geh'  doch  herein, 
laß  hören  deine  Stimme  fein. 

Christkind: 
Gelobt  sei  Jesus  Christus! 
Ein'  schön'  guten  Abend,  ihr  lieben  Leut', 
die  ihr  allhier  versammelt  seid, 


ich  komm'  herein  getreten, 
will  schauen,  ob  die  Kinder  fleißig  beten. 
Wenn  eure  Kinder  fleißig  beten  und  singen, 
werd'  ich  ihnen  Äpfel    und  Nüsse  bringen, 
wenn  sie  aber  nicht  fleißig  beten  und 

singen, 
wird  die  Ruf  um  sie  herumspringen. 
Der  heiige  Josef  ist  auch  mit  mir, 
er  steht  schon  draußen  vor  der  Tür. 
er  steht  schon  draußen,  er  will  schon  rein 
zu  diesen  kleinen  Kindelein. 

(Hiuausrufend): 
Ach  Josef,  liebster  Josef  mein, 
geh'  doch  herein  zum  Kindelein. 

Josef: 
„Gelobt  sei  Jesus  Christus! 
Ich  komm'  herein  geschritten 
mit  höflichen  Tritten, 
ich  bin  der  Pflegevater  übers  kleine  Kind, 
das  man  in  der  Krippe  findt!" 

Christkind: 
„Ach  Josef,  liebster  Josef  mein, 
erzähl'  mir  was  von'n  Kindelein!" 


1)  Beisp.  a.  d.  Grafschaft  Glatz  oben  9,  446;  Vierteljahrsschr.  f.  d.  Gesch.  d.  Grafsch. 
Glatz  9,  17.  Niederlausitz:  Niederlaus.  Mitt.  5,  i;579ff.  —  Böhmerwald:  Das  deutsche 
Volkslied  7,  62,  —  Gegend  von  Braunschweig:  oben  6,  367 f.;  Andree,  Braunschweiger 
Volkskunde  S,  459  ff. 


Kleine  Mitteilungen. 


189 


Josef: 
„Ich  möcht'  darüber  wohl  überzeugen  [!], 
kann  aber  nicht  mehr  stille  schweigen; 
wenn  die  Kinder  aus  der  Schule  gehn, 
bleiben  sie  auf  allen  Gassen  stehn, 
Blätter  aus  den  Büchern  reißen 
und  in  alle  Winkel  schmeißen: 
solche  Possen  treiben  sie. 

Christkind: 
, Blätter  aus  den  Büchern  reißen 
und  in  alle  Winkel  schmeißen. 
Solche  Possen  treiben  sie? 
Ei  hätt'  ich  dies  zuvor  gehört, 
80  war*  ich  hier  nicht  eingekehrt, 
so  will  ich  mich  bedenken 
und  will  den  Kindern  gar  nichts  schenken," 

Josef: 
„Ei,  lieber  Ohrist,  sei  nicht  so  hart, 
die  Kinder  sind  nicht  nach  deiner  Art, 
die  Kinder  werden  insgemein 
den  Eltern  wieder  gehorsam  sein." 

Christkind: 
„So  will  ich  mich  bedenken 
und  will  den  Kindern  etwas  schenken. 

(Zu  Gabriel): 
Ei  Engel,  liebster  Engel  mein, 
reich'  her  mir  doch  das  Körbelein, 


ich  will  ihn'  geben  diese  Gab', 

die  ich  vom  hohen  Himmel  hab'. 

Draußen  hab'  ich  Schlitten  und  Wagen, 

d'rauf  hab'  ich  köstliche  Gaben 

für  junge  Mädel  und  junge  Knaben." 

Alle: 
Laufet  ihr  Hirtlein,  laufet  alle  zugleich, 
nehmet  Schalmeien  und  Pfeifen  mit  euch, 
laufet  alle  zumal 
mit  freudenreichem  Schall 
zum  Kindelein, 
zum  Krippelein; 
zu  Betlehem  im  Stall, 
ein  Kindelein  gesehen  [!], 
wie  ein  Engel  so  schön, 
dabei  auch  ein  alter  Vater  tut  steh'n, 
eine  Jungfrau  so  zart, 
nach  englischer  Art, 
das  tut  mich  erbarmen 
gottsjämmerlich  hart; 
der  Weg  ist  uns  mit  Rosen  gebaut, 
wir  wollen  uns  wieder  gegen  Himmel 

umschaun. 
Der  Himmel  ist  ein  schönes  Haus, 
Gottes  Segen  wohnt  in  eurem  Haus, 
wir  danken  euch  für  diese  Gaben, 
die  wir  von  euch  ererbet  haben, 
und  lebet  alle  recht  froh  beisammen, 
wir  geh'n  jetzt  wieder  in  Gottes  Namen. 


2.   Christkindlsingen  aus  Waltersdorf  bei  Fulnek. 


Laufer: 
Ein"  schön"  guten  Abend  geh'  euch 
Gott, 
Ich  bin  ein  ausgesandter  Bot'. 
Von  Gott  bin  ich  daher  gesandt. 
Der  Laufer,  der  werd  ich  genannt. 
Die  heiligen  Engel  schicken  mich  herein, 
Sie  wer"n  wohl  auch  nicht  weit  mehr  sein. 
Ach,  ihr  heiligen  Engel,  tretet  doch  herein 
Und  laßt  eure  Stimme  hören  fein, 
(Er  läutet.) 

Zwei  Engel: 
Ein"  schön'  guten  Abend  geh'  euch  Gott, 
Wir  sind  zwei  ausgesandte  Bot', 
Von  Gott  sind  wir  daher  gesandt. 
Die  heiligen  Engeln  werden  wir  genannt. 
Das  Zepter  tragen  wir  in  unser'  Hand, 
Die  Krön'  tragen  wir  auf  unserem  Haupt, 
Die  hat  uns  Gottes  Sohn  erlaubt. 
Der  kleine  Christ  schickt  uns  herein, 
Er  wird  vielleicht  nicht  weit  mehr  sein, 
(Lauter  läutet,  das  Christkind  tritt  ein.) 


Christkind: 
Ich  komm'  herein  getreten, 
Komm'  sehn,  ob  die  Kinder  fleißig  beten 

und  singen, 
Und  wenn  dieKinderfleißig  beten  und  singen, 
So  will  ich  ihnen  eine  Gabe  bringen. 

(Zum  ersten  Engel): 
„Ach  Gabriel,  du  Engel  mein. 
Sag,  wie  verhalten  sich  die  Kindelein?" 

Gabriel: 
„Ach  Christ,  wenn  ich  dir  sagen  soll. 
Die  Welt  ist  böser  Kinder  voll. 
Die  Kinder  tun  nichts  als  schelten  und  lügen, 
Die  Eltern  bis  in  den  Tod  betrügen." 

Christkind: 
„Ach  hätt'  ich  diese  Eed  zuvor  gehört. 
So  wären  wir  nicht  eingekehrt." 

Die  zwei  Engel: 
„Ach  kleiner  Christ,  sei  nicht  so  hart, 
Die  Kinder  sind  wohl  nicht  nach  deiner  Art 


190 


Stratil,  Knoop: 


Und  auch  nicht  nach  deinen  Sitten, 
Drum  wollen  wir  um  eine  Gabe  bitten." 

Christkind: 
„Und  wenn  mich  die  Engelein  so  schön 
bitten, 
So  will  ich  ihn'  eine  Gabe  schicken. 
Draußen  hab  ich  Eoß'  und  Wagen, 
Drauf  hab  ich  gar  köstliche  Gaben. 
Wohl  für  die  kleinen  Mädelein 
Und  für  die  kleinen  Knäbelein." 
(Maria  und  Josef  tretea  auf.) 

Maria: 

„Ach  Josef,  liebster  Josef  mein. 

Komm  rein  und  wieg  das  Kindelein!" 

Josef: 
„Ach  soll  ich  denn  schon  wieder  wiege, 
Ich  konn  doch  ka(u)m  dau  Pockel  biege. 
Hulei,  Hulei,  Hulei." 

Maria: 
„Ach  Josef,  liebster  Josef  mein, 
Wie  soll  dem  Kind  der  Name  sein? 

Josef  (macht  eiue  Kniebeuge  und  sagt): 
„Jesus  soll  der  Name  sein," 

Maria: 
„Nun  so  sei  es,  Josef  mein, 
Jesus  soll  der  Name  sein. 
Ach  Josef,  liebster  Josef  mein. 
Wer  kocht  dem  Kind  das  Papelein?" 

Josef: 
„Josef  kocht  das  Papelein." 

Maria: 
„Ach  Josef,  liebster  Josef  mein, 
Was  hat  das  Kind  für  Windelein?" 

Josef: 
„Schneeweiße  Windelein,  schneeweiße 
Windelein." 


Maria: 

„Nun  so  sei  es,  Josef  mein, 
Schweeweiße  Windelein. 

Maria: 
„Ach  Josef,  liebster  Josef  mein. 
Was  hat  das  Kind  für  Schnürelein?" 

Josef: 
„Rosarote  Schnürelein." 

Maria: 
„Nun  so  sei  es,  Josef  mein, 
Rosenrote  Schnürelein. 
Ach  Josef,  liebster  Josef  mein. 
Was  hat  das  Kind  für  Dienerlein?" 

Josef: 
„Ochs  und  Esel  soUn  die  Diener  sein." 

Maria: 
„Ach  Josef,  liebster  Josef  mein. 
Was  hat  das  Kind  für  Wiegelein?" 

Josef: 
„Die  Krippe  soll  die  Wiege  sein." 

Maria: 
„Ach  Josef,  liebster  Josef  mein, 
Wo  werden  wir  denn  kehren  ein?" 

Josef: 
„Im  Stalle  werden  wir  kehren  ein!" 

Alle: 
Habt  Dank,  habt  Dank,  ihr  Eltern 
mein, 
Daß  ihr  uns  habt  gelassen  ein 
Zu  euren  Kindern  groß  und  klein. 
Gloria,  Gloria;  uns  ist  der  Weg  auf  fiosen 

gebaut, 
Wir  wollen  gegen  Himmel  naufschauen. 
Gelobt  sei  Jesus  Christus. 


Das  Ganze  im  singenden  Ton  nach  folgenden  Melodien: 

-- Nj = — -r-P- 


Ein'  schön'  gut'n  A-bend  geb  euch  Gott,  ich  bin    ein  aus  -  ge  -  sandter  Bo', 
Von  Gott  bin     ich    da- her    ge-sandt,  der  Lau-fer,  der   werd  ich  ge-nannt  usw. 


cB=3 


Ach    Jo  -    sef,    lieb-  ster    Jo  -  sef    mein, 
Komm  rein  und     wieg  das  Kin  -  de  -  lein  usw. 

Das   Christkind  singt  nicht,    es  spricht  nur.     Die  AntM'orten  Josefs    sind  mürrisch, 
brummig  und  im  Dialekt. 


Fulnek   (Mähren). 


Do  mit  ins   Stratil. 


Kleine  Mitteilungen.  191 

Die  kluge  Königstochter, 

ein  polnisches  Märchen. 

Es  war  einmal  eine  Königstochter,  die  war  sehr  gescheit.  Sie  war  des 
Königs  einziges  Kind.  Da  nun  ein  Königreich  einen  König  haben  muss,  so 
musste  sie  sich,  um  Königin  zu  worden,  verheiraten.  Doch  weil  sie  selbst  so 
klug  und  gescheit  war,  wollte  sie  auch  keinen  dummen  Mann  heiraten;  wenigstens 
sollte  er  eben  so  gescheit  sein  wie  sie  selbst.  Da  kamen  nun  jeden  Tag  viele 
Freier,  um  sich  der  Königstochter  vorzustellen;  aber  sobald  sie  gar  klug  zu  fragen 
anfing,  wussten  sie  nichts  zu  antworten  und  mussten  beschämt  von  dannen  ziehen. 

In  demselben  Königreich  lebten  auch  drei  Brüder.  Die  beiden  älteren  waren 
klug,  ja  man  sagte  sogar  von  ihnen,  sie  wüssten,  wo  der  Teufel  seine  Jungen 
habe.  Das  wussten  sie  zwar  nicht,  sondern  die  Leute  redeten  es  nur  so.  Der  jüngere 
war  dumm.  Wenigstens  sagten  es  dieselben  Leute,  und  man  glaubte  es  ihnen. 
In  AVirklichkeit  aber  war  er  nicht  so  dumm.  Diese  Brüder  hörten  auch  von  der 
klugen  Königstochter,  und  die  beiden  älteren  beschlossen,  ihr  Glück  zu  ver- 
suchen. Sie  zogen  sich  schöne  Kleider  an  und  machten  sich  auf  die  Reise  zum 
Schlosse. 

Als  der  Dumme  das  sah,  ging  er  mit.  Zwar  lachten  ihn  die  älteren  Brüder 
aus  und  trieben  ihn  fort,  aber  er  ging  doch  hinter  ihnen  her,  und  schliesslich 
mussten  sie  ihn  gehen  lassen.  So  von  ungefähr  lag  auf  dem  Wege  ein  toter 
Spatz.  Die  beiden  Älteren  zogen  vorbei,  ohne  ihn  anzusehen;  der  Jüngere  aber 
blieb  stehen,  rief  die  beiden  andern  zurück  und  zeigte  ihnen,  was  er  gefunden 
hatte.  Sie  sahen  sich  den  Spatz  an  und  gingen  dann  ärgerlich  weiter.  Der 
Dumme  aber  steckte  den  Spatz  in  seine  Tasche.  Nicht  weit  waren  sie  gegangen, 
da  sah  der  Jüngere  einen  Keil  liegen,  und  wieder  rief  er  die  Brüder  zurück  und 
zeigte  ihnen  seinen  Fund,  den  er  glückstrahlend  in  der  Hand  hielt.  Da  wurden 
sie  gar  böse  und  prügelten  ihn  durch.  Als  er  nun  noch  einen  Reifen  und  einen 
Dreckhaufen  fand,  da  rief  er  die  Brüder  nicht  erst  zurück,  sondern  steckte  diese 
Dinge  stillschweigend  in  seine  Tasche  und  folgte  den  Voranschreitenden. 

Sie  kamen  nun  vor  das  Schloss.  Die  beiden  älteren  Brüder,  die  zugleich 
angekommen  waren,  wurden  auch  zugleich  vorgelassen.  Die  Königstochter  bewill- 
kommnete sie  freundlich,  aber  sie  wussten  nicht  viel  zu  sagen,  obwohl  sie  sich 
auf  eine  schöne  Rede  vorbereitet  hatten;  und  als  sie  gar  anfingen,  vom  Wetter 
zu  reden,  da  mussten  sie  das  Gemach  verlassen. 

Jetzt  kam  der  Dumme  an  die  Reihe.  Als  er  in  das  erwärmte  Gemach  trat, 
rief  er:  „Holde  Königstochter,  wie  warm  habt  Ihr  es  hier!"  „Im  Hintern  ist's 
noch  wärmer,"  antwortete  darauf  die  Königstochter.  ,,Da  kann  ich  wohl  meinen 
Spatz  darin  braten?"  sagte  der  Dumme.  „Ja,  aber  es  wäre  schade  um  das  schöne 
Fett,  das  herauslaufen  würde,"  erwiderte  die  Königstochter.  „Dafür  habe  ich 
gesorgt,"  sagte  darauf  der  Dumme;  „hier  hab  ich  einen  Keil  zum  Zustopfen  mit- 
gebracht." „0,"  rief  da  die  Königstochter,  „davon"  könnte  aber  der  Hintere 
platzen!"  ,, Keine  Sorge,"  war  die  Antwort,  „ich  habe  einen  Reifen  mitgebracht, 
der  das  Platzen  verhindern  wird."  „Ja,  aber  wo  bleibt  denn  der  Dreck?"  fragte 
die  Königstochter.  Kaum  war  die  Frage  gestellt,  da  griff  der  Dumme  in  seine 
Tasche,  nahm  den  mitgebrachten  Dreckhaufen  heraus  und,  klatsch,  lag  dieser  auf 
dem  Fussboden.  Infolge  seiner  Schiagfertigkeit  gefiel  der  Dumme  der  Königs- 
tochter, und  sie  wollte  ihn  schon  am  nächsten  Tage  heiraten. 

Aber  damit  war  der  Minister,  der  auch  gern  König  werden  wollte,  nicht  ein- 
verstanden,   und    als    er    am  Abend  dem  Dummen    eine  Stube  zum  Nachtquartier 


192  Knoop,  Müller-Küdersdorf: 

anweisen  sollte,  führte  er  ihn  anstatt  in  ein  Zimmer  in  den  Zwinger,  in  dem  ein 
Löwe  gehalten  wurde,  und  machte  das  Tor  zu.  So,  glaubte  er,  werde  der  Löwe 
den  Dummen  auffressen.  Aber  dieser  hatte  sich  wohl  vorgesehen;  denn  er  hatte 
sich,  um  sich  während  der  Nacht  die  Zeit  zu  vertreiben,  mehrere  Nüsse,  einen 
Stein,  einen  Stubben,  ein  Beil,  eine  Geige,  eine  Peitsche  und  eine  Schere  mit- 
genommen. 

Als  er  den  Löwen  bemerkte,  der  sich  zum  Sprunge  duckte,  warf  er  ihm  eine 
Nuss  hin;  denn  er  glaubte,  der  Löwe  habe  Hunger.  Der  Löwe  frass  sie  auf  und 
verlangte  mehr  davon,  denn  die  Nuss  schmeckte  ihm.  Er  warf  ihm  eine  zweite 
hin,  und  wieder  wurde  sie  verzehrt.  Dann  warf  er  ihm  den  Stein  hin  und  sagte: 
,,Die  Nuss  kannst  du  dir  selbst  aufknacken!"  Der  Löwe  suchte  den  Stein  zu 
zerbeissen,  aber  er  konnte  es  nicht;  und  da  der  Dumme  vorhin  so  leicht  jede 
Nuss  aufgeknackt  hatte,  so  glaubte  der  Löwe  an  eine  grosse  Stärke  des  Menschen 
und  trat  näher  zu  ihm,  um  ihn  sich  ordentlich  anzusehen. 

Jetzt  nahm  der  Dumme  die  Geige  und  spielte  dem  Löwen  ein  lustiges  Stück 
vor.  Dem  Löwen  gefiel  das,  und  er  wollte  das  Spielen  auch  erlernen.  Der 
Dumme  gab  ihm  den  Bogen  in  die  Tatze,  und  der  Löwe  versuchte  zu  spielen; 
aber  es  gelang  ihm  nicht.  Da  sagte  der  Dumme:  „Mit  solchen  ungeschickten 
Krallen  kannst  du  es  zu  nichts  bringen."  Und  nun  spaltete  er  mit  dem  Beile  den 
Stubben  und  bedeutete  dem  Löwen,  seine  Tatze  in  den  Spalt  zu  legen.  Der 
Löwe  ahnte  nichts  Böses  und  legte  seine  Tatze  in  den  Spalt  hinein.  Darauf  hatte 
der  Dumme  nur  gewartet.  Schnell  zog  er  das  Beil  heraus,  und  nun  sass  der 
Löwe  fest  und  konnte  ihm  nichts  mehr  anhaben.  Jetzt  schnitt  er  ihm  auf  dem 
Rücken  die  Haare  ganz  kurz,  nahm  dann  die  Peitsche  und  gerbte  ihm  damit 
ordentlich  das  Pell,  so  dass  er  laut  brüllen  musste.  Darauf  legte  er  sich  hin 
und  schlief  bis  zum  Morgen. 

Als  es  Tag  wurde,  kam  der  Minister  an  das  Tor,  klopfte  an  und  rief  den 
Dummen,  um  sich  zu  überzeugen,  ob  der  Löwe  ihn  schon  gefressen  habe.  Da 
aber  brüllte  der  in  den  Stubben  eingeklemmte  Löwe  und  rief: 

„Cicho,  kpie! 
Ci  dupe  okrzojq, 
Kantorem  wykrzoja 
Jak  mnie."') 

Als  der  Minister  das  vernahm,  eilte  er  schnell  davon.  Der  Dumme  aber  ver- 
liess  unversehrt  den  Zwinger,  ging  in  das  Rönigsschloss  und  hielt  Hochzeit  mit 
der  Königstochter. 

Aufgezeichnet  von  Herrn  Lehrer  A.  Szulczewski  in  Brudzyn  bei  Janowitz.  Über 
<lie  Eedeweise:  „Er  weiss,  wo  der  Teufel  Junge  hat"  vgl.  meine  Posener  Dämonensagen 
(Rog.  Programm  191'J)  Nr.  5  und  Bog.  Familienblatt  10,  55.  —  [Das  Märchen  ist  eine 
Variante  des  Redekampfes  zwischen  der  Prinzessin  und  dem  Dummling,  über 
den  R.  Köhler,  Kleinere  Schriften  2,  465  und  Bolte-Polivka,  Anmerkungen  zu  Grimms 
Märchen  1,  201  (1913)  handeln;  vgl.  auch  Carstens  oben  ö,  458.  Zur  Überlistung  des 
Löwen  vgl.  Bolte-Polivka  1,  GS.] 

Rogasen.  Otto  Knoop. 


1)  Still,  Dummkopf!    Sie  werden  dir  den  Hintern  scheren,    Mit    der  Peitsche  durch- 
prügeln Wie  mich. 


Kleine  Mitteilungen.  193 


Acker  und  Garten  im  Aberglauben  des  Isergebirges. 

Zu  dem  in  dieser  Zeitschrift  bereits  erschienenen  Kapitel  'Die  Haustiere  im 
Aberglauben  des  Isergebirges'  (oben  23,  181)  bildet  die  Darstellung  der  im  gleichen 
Landschaftsgebiete  verbreiteten  Sitten  und  abergläubischen  Regeln  betreffs  Acker 
und  Garten  ein  nicht  minder  reichhaltiges  Seitenstück. 

Ehe  der  Ackerbau  treibende  Isergebirgler  mit  der  Aussaat  beginnt,  steckt  er 
einige  Samenkörner  in  einen  Blumentopf.  Von  ihrer  Entwicklung  schliesst  er  auf 
das  Keimen  im  Acker.  Soll  die  Saat  viel  Frucht  treiben,  so  darf  man  nach 
seiner  Meinung  nicht  im  Neumond  säen.  Blumensamen  streut  man  am  besten 
zur  Zeit  des  Vollmonds  aus,  weil  diese  eine  volle  Blüte  verheisst.  Damit  die 
Zimmerpflanzen  reich  und  voll  blühen,  beschneidet  man  sie  während  des  Christ- 
monats (Dezember).  Den  Acker  sucht  man  dadurch  besonders  ertragreich  zu 
machen,  dass  man  den  Dünger  am  ersten  Freitag  während  des  Neumonds  auf  das 
Feld  schafft.  Auch  die  jungen  Obstbäume  düngt  man  an  den  Tagen  des  zu- 
nehmenden Mondes.  Als  besonders  günstig  zum  Pflanzen  eines  Ablegers  oder 
jungen  Baumes  betrachtet  man  die  Zeit  des  Vollmonds.  Demjenigen,  der  die 
Weiden  während  des  Vollmonds  beschneidet,  verheisst  man  viel  neue  und  volle 
Stöcke.  Damit  Gras  und  Blumen  gut  gedeihen,  soll  man  bereits  beim  Umgraben 
des  Gartens  einige  Saatkörner  verstreuen.  Bemerkt  man  auf  seinem  Saatfelde 
oder  an  einer  anderen  verbotenen  Stelle  seines  Grundbesitzes  eine  Pussspur,  so 
misst  man  sie  zuweilen.  Man  glaubt,  dadurch  käme  über  den,  der  sie  getreten, 
die  Strafe  einer  Fasskrankheit.  —  Soll  ein  junger  Baum  glücklich  gedeihen,  darf 
man  beim  Pflanzen  nicht  fluchen.  Mit  seinen  Wurzeln  soll  man  ein  Stück  Eisen, 
eine  Kohle  und  einen  entsprechenden  Fruchtkern  eingraben.  Man  sagt:  das  Eisen 
kühlt  den  Baum  während  der  Sommerhitze,  die  Kohle  schützt  ihn  vor  nagenden 
Tieren,  und  der  Kern  ist  ihm  die  stärkende  Kraft.  Beim  Pflanzen  eines  Nuss- 
baumes  schnitt  man  früher  von  demselben  drei  Zweige  ab  und  sprach: 

'Du  lieber  Nussbaum,  sei  uu  mein, 
an  bring'  mir  viele  Früchte  ei'!' 

Den  Obstbäumen  glaubt  man  mit  dem  Wasser,  in  dem  man  ein  geschlachtetes 
Schwein  gebrüht  hat,  eine  recht  kräftige  Nahrung  zuzuführen.  Eisengehalt  sucht 
man  den  Bäumen  dadurch  zu  geben,  dass  man  ihnen  Nägel  einschlägt.  Damit 
ein  junger  Obstbaum  künftig  viel  schöne  Früchte  bringt,  gibt  man  sein  erstes 
Obst  einer  jungen  Frau  zu  essen.  [Vgl.  Sartori,  Sitte  und  Brauch  2  (1911),  121.] 
Kommen  im  Winter  Hasen  oder  Fasanen  in  den  Garten  und  nagen  die  Rinde  der 
jungen  Bäume  ab,  so  soll  man  sie  dadurch  unschädlich  machen,  dass  man  sagt: 
'Labst  ne  mih'  lang' !  Geht  ein  Baum,  der  äusserlich  keine  Beschädigung  zeigt, 
plötzlich  ein,  so  befürchtet  man  einen  baldigen  Todesfall  im  Hause.  Von  einem 
Apfel  oder  einer  Birne  soll  man  die  'Krutsch'  (das  Kernlager)  mitessen.  Man 
sagt,  'darin  sind  die  zehn  Gebote  enthalten'.  Damit  der  Obstbaum  nicht  eingeht, 
darf  man  nach  dem  Aberglauben  des  Isergebirglers  von  seinen  Früchten  keine 
'Krutsch'  verbrennen.  Überhaupt  soll  man  niemals  frische  Zweige  ins  Feuer 
werfen  oder  ihre  Blätter  dem  Vieh  zu  fressen  geben.  —  Dürre  Äste,  die  noch 
Früchte  tragen,  müssen  noch  ein  Jahr  lang  liegen  bleiben.  Myrtenzweige,  die  man 
beim  Begräbnis  eines  jungen  Toten  gebraucht  hat,  soll  man  wieder  einpflanzen; 
sie  treiben  weiter. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.   1914.   Heft  2.  13 


J9^  Müller- Rüdersdorf,  Witt: 

Bei  der  Ernte  darf  man  nicht  mit  dem  Rechenstiel  ins  Heu  stechen.  Man 
sagt,  sonst  regnet  es  hinein.  Liegt  ein  Rechen  mit  den  Zinken  nach  oben,  so 
erwartet  man  baldiges  Regenwetter.  Früher  war  es  im  Isergebirge  verschiedentlich 
Sitte,  beim  Umackern  des  Stoppelfeldes  zu  sprechen:  'Im  Namen  des  Vaters, 
des  Sohnes  und  des  Heiligen  Geistes.'  Dem,  der  Schnee  mit  umackert, 
prophezeit  man  eine  schlechte  Ernte  für  das  nächste  Jahr.  Manche  Leute  dreschen 
am  letzten  Jahrestage  in  der  Meinung,  dass  sie  dadurch  die  Ratten  und  Mäuse 
aus  Scheune  und  Haus  vertreiben.  Wer  beim  letzten  Dreschen  den  letzten  Schlag 
tut,  ist  der  'Scheunesel'.  Er  muss  Branntwein  zum  besten  geben  und  wird  tüchtig 
gehänselt.     [Vgl.  Sartori  2,  100  f.] 

Charlottenburg.  Wilhelm  Müller-Rüdersdorf. 


Doppeldeutige  Volksrätsel  aus  Schleswig-Holstein. 

Als  Ergänzung  zu  den  früheren  Mitteilungen  Jungwirths  (oben  20,  83)  und 
Andraes  (oben  22,  96)  kann  ich  eine  Reihe  doppeldeutiger  Rätsel,  die  noch  heute 
auf  der  Halbinsel  Schwansen  durchaus  bekannt  sind,  mitteilen.  Aus  meiner 
Schulzeit  erinnere  ich  mich,  dass  gerade  Rätsel  mit  recht  derben  Anspielungen 
auf  geschlechtliche  Vorgänge  u.  dgl.  sehr  beliebt  waren.  Unter  den  20  bis 
30  Rätseln  meiner  volkskundlichen  Sammlungen  aus  meinem  Heimatsdorf  haben 
die  meisten  eine  derartige  Doppeldeutigkeit.  Ich  lasse  einige  Rätsel  aus  Damp 
in  Schwansen  folgen,  wie  ich  sie  seinerzeit  aus  dem  Gedächtnisse  oder  dem  Volks- 
mund aufgezeichnet  habe. 

1.  Mit  een  Wuppdi 
Sitt  ik  up  di. 

Du  büst  ünner  mi, 
Ik  sitt  up  di, 
Ik  heff  een  Ding 
Dat  kettelt  di. 

(Reiter  und  Pferd;  Sporn.)  —  Vgl.  Wossidlo,  Mecklenburgische  Volksüberlieferungen 
1,  44  nr.  74. 

2.  Ruch  an  Ruch, 
Buk  an  Buk, 
Stick  twischen  dör, 
Rummel  achteran. 

(Pferde  und  Wagen.)  —  Wossidlo  1,  64  nr.  119. 

3.  Veer  runne  Runsein, 
Zwee  fette  Bunzeln, 
Brotschapp, 
Schniick-Schmack, 
Klisterbüdel  in'n  Bummelsack. 

(4  Räder,  2  Pferde,  Kutscher,  Peitsche,  Teerquaste  unter  dem  Wagen.)  —  Wossidlo  1, 
nr.  120. 

Neben  diesem  Pferd-  und  Wagenmotiv  ist  besonders  das  Alte-Frau-Motiv, 
wenn  ich  diesen  kühnen  Ausdruck  gebrauchen  darf,  beliebt.  Drei  Varianten  davon 
sind  mir  noch  bekannt: 


Kleine  Mitteilungen.  195 

4.  Een  ol  Fru  seet  up  een  Block 
Un  bekeek  pr  Jjock. 

Un  dacht  in  or  Sinn: 
Harr'k  dat  lang  Dert  man  pts  rin. 
Frau  fädelt  einen  Faden  ein.)  —  Wossidlo  1,  nr.  4o4b. 

5.  Dor  seet  mal  'n  Fru  achder  de  Tun 
Un  beseeg  pt  Brun. 

Se  dach  in  fr  Sinn, 

Harr'k  man  een  dicken  fetten  dorin. 

(Die  Frau  besah  im  Garten  den  Kohl  [in  Schwansen  meist  'Brunkohl'  genannt]  und 
wünschte  sich  Speck  zu  einer  Mahlzeit  Kohl.)  —  Wossidlo  1,  nr.  434  a. 

6.  Dor  sitt  een  Fru  up't  Is 
Un  schüert  er  Kapis 

Un  denkt  in  er  Sinn: 
Harr'k  man  een  rin. 
(Eine  Frau  will  bei  einem  Loch  im  Eise  Aal  fangen.)  —  Wossidlo  1,  nr.  434c. 

Zum  Schluss  noch  einige  andere  zweideutige  Rätsel: 

7.  Ik  stünn  un  pampluse  mi, 
Dor  keem  een  lütte  Liumlütt 
ün  stött'  mi  an  min  Pliumplütt. 
„Na,  du  Deuwel  Liumlütt, 

Wat  stöttst  mi  an  min  Pliumplütt?" 
(Eine  Ente  plustert  sich  und  wird  dabei  von  kleinen  Entlein  gestört.)  —  Wossidlo  1,  nr.l3. 

8.  Lange  Johann, 
Stieg  up  de  Stang! 
Weiht  de  Wind, 

So  bummelt  din  Ding. 

(Hopfen  an  der  Stange.)  —  Wossidlo  1,  nr.  189 d. 

9.  Rüche  räche  rip. 
Gel  is  de  Pip, 
Swart  is  de  Sack. 
Ra,  wat  is  dat! 

(Gelbe  Wurzel  in  der  Erde.)  —  Wossidlo  1,  nr.  121. 

Das  von  Andrae  unter  Nr.  6  angebene  Rätsel  ist  wohl  kaum  zu  der  Gruppe 
der  doppeldeutigen  zu  rechnen.     Mir  ist  folgende  Passung  bekannt: 

10.   Tweebeen  nehm  Dreebeen,  schmeet  Verbeen  dormit, 
Dat  Dreebeen  een  Been  verlor. 
(Das  Melkmädchen  wirft  nach  der  Kuh  mit  dem  Melkschemel.) 

Ausser  bei  Rätseln  sind  in  der  von  mir  durchforschten  Gegend  geschlechtliche 
Anspielungen  zum  Teil  der  allerdeutlichsten  Art  besonders  häufig  in  Umdichtungen 
hochdeutscher  Lieder  und  in  Begleitreimen  zu  beliebten  Tanzweisen  (z.  B.  Vater 
Michel,  Schlachtertanz).  Die  Tänze  sind  oftmals  längst  vergessen,  die  Reime 
aber  leben  fort. 

j^jgl  Arthur  Witt. 

13* 


2gg  Brandsch: 


Noch  ein  Torschlag  zur  lexikalischen  Anordnung  von  Volksnielodien. 

Wieviel  wäre  doch  der  vergleichenden  Melodienforschung  damit  gedient,  wenn 
jede  der  vielen  Volksliedersaramlungen  am  Schluss  neben  dem  Verzeichnis  der 
Textanfänge  auch  einen  Index  der  Melodien  enthielte,  so  dass  der  Forscher  mit 
einem  einzigen  Blick  eine  ganze  Seite  des  Verzeichnisses  überfliegend,  in  wenigen 
Sekunden  die  gesuchte  Melodie  herausfände,  statt  jedesmal  die  oft  recht  dick- 
leibigen Bände  von  Anfang  bis  zu  Ende  durchblättern  zu  müssen,  wenn  ihm  der 
Textanfang  zu  der  gesuchten  Melodie  zufällig  aus  dem  Gedächtnis  entschwunden 
ist!  Der  Mangel  der  mir  bisher  bekannt  gewordenen  Methoden  lexikalischer  An- 
ordnung von  Melodien  beruht  in  der  ungenauen  und  schwer  lesbaren  Form  der 
Wiedergabe  der  Melodien  durch  Ziffern.  Sowohl  0.  Koller  (Sammelbände  der 
Internationalen  Musikgesellschaft  4,  1)  als  auch  R.  Zoder  (oben  18,  307)  bedient 
sich  der  Ziffern,  wobei  ersterer  die  metrischen  Werte  der  einzelnen  Töne  gar 
nicht,  letzterer  in  gewissem  Grade  berücksichtigt.  Der  Auftakt  am  Beginn  der 
Melodien  wird*  wegen  seiner  in  der  Tat  grossen  Variabilität  von  beiden  Forschern 
fortgelassen.  Um  aber  ein  Gebilde  wie  dieses  VIP  2  V  im  |  VIP  2  vi  zu  lesen, 
dazu  bedarf  es,  mindestens  für  den  Ungeübten,  eines  anstrengenden  Denkprozesses, 
so  dass  sich  diese  Methode  schwerlich  allgemein  einbürgern  dürfte. 

Der  Vorschlag,  den  ich  hiermit  zur  Prüfung  und  versuchsweisen  Anwendung 
empfehlen  möchte,  ist  so  einfach  und  liegt  so  nahe,  dass  es  ein  Wunder  wäre, 
wenn  er  nicht  schon  irgendwo  wenigstens  in  ähnlicher  Form  aufgetaucht  wäre. 
In  der  Tat  hat  J.  Po  mm  er  in  seinen  mir  erst  nachträglich  bekannt  gewordenen 
'444  Jodlern  und  Juchezern'  (Wien  1906)  die  einzelnen  Melodien  nach  fast  genau 
denselben  Grundsätzen  innerhalb  seiner  Sammlung  angeordnet,  die  ich  bei  der 
Zusammenstellung  meines  Melodienlexikons  befolgte.  Freilich  ist  Pommer  sozu- 
sagen auf  halbem  Wege  stehen  geblieben  und  hat  auf  einen  Index  am  Schluss 
der  Sammlung,  der  erst  eine  rasche  Übersicht  ermöglicht  hätte,  verzichtet. 

Zu  meiner  über  800  Melodien  umfassenden  Volksliedersammlung  legte  ich 
den  Zettelkatalog  in  folgender  Weise  an: 

1.  Jeder  Zettel  enthält  die  1.  Zeile  einer  Melodie,  und  nur  im  Falle  der  Über- 
einstimmung mehrerer  Melodien  in  der  1.  Zeile  wird  über  den  Schluss  derselben 
hinausgegriffen. 

2.  Sämtliche  Melodien  sind  im  Katalog  (nicht  in  der  Sammlung)  nach 
C-dur,  beziehungsweise  nach  A-moU  transponiert.  Die  wenigen  äolischen  und 
dorischen  Melodien  wurden  dabei  als  Mollmelodien  behandelt. 

3.  Die  Melodien  sind  nach  dem  Anfangston  in  aufsteigender  Reihe  angeordnet. 


in  der  Weise,  dass  zuerst  die  mit    F/H — ^ und   zuletzt  die   mit   Ffa — ' 


beginnenden  Melodien  folgen.  Durch  Transposition  sämtlicher  Melodien  in  diese 
mittlere  Tonlage  erreichen  wir,  dass  die  Melodien  weder  nach  oben  noch  nach 
unten  allzuweit  über  das  System  der  gebräuchlichen  Notenlinien  hinausgehen, 
wenn  sie  im  G-Schlüssel  notiert  werden. 

4.  Innerhalb  einer  mit  demselben  Anfangston  beginnenden  Gruppe  sind  die 
Melodien  ebenfalls  genau  nach  der  Tonhöhe  in  aufsteigender  Reihenfolge  an- 
geordnet, wobei  natürlich  auch  Tonversetzungen  durch  ^  oder  j?  berücksichtigt 
werden. 


Kleine  Mitteilungen. 


197 


Zur  Veranschaulichung  möge  der  Anfang  und  Schluss  des  nach  diesen  Grund- 
sätzen zusammengestellten  Verzeichnisses  zu  meiner  Sammlung  hier  folgen,  wobei 
die  Seitenzahlen,  da  die  Sammlung  nicht  gedruckt,  sondern  nur  im  Manuskript 
vorliegt,  fingiert  sind. 


S.  45. 


-n. i_45 — 0—0 — L-0 — — _ 1 — 0-J 


=3^3       S.  250  ,251). 


-8— •- 


S.  23. 


--8— *— l-jy— ^*— f-g^— j^—  ä—f^ —  •— jl^-H— * — 


S.  251  (250). 


S.  5«,  98. 


i^mM 


--s — [^ — ^~^^^^~*~t  *~^~j — 


S.  15, 24, 113. 


m^^: 


S.  60. 


:äziiN=::i^zq=a: 
-4r—* — ä — j — *- 


S.  121. 


S.  14. 


-K \- 


-0-:\Z0—^ — ^-#-1^ — *— * — 


S.  304. 


--3- — fK — s- 


[-^ — k^ — >- 


S.  76. 


a=^- 


:i— 


S.  105. 


-N — ^- 


-^-0- 


5-1- - — j s 5 i 0—^^f^ ß- 


S.  217,  41. 


198 


Brandsch,  Fränkel: 


:£=g=:iv=i_li^=:ip=f=f=:rsilz^?=f: 


S.  12. 


Aus  dem  Schluss  des  Verzeichnisses: 


S.  52. 


S.  115. 


S.  73. 


S.  98. 


Wo  einer  Melodie  mehrere  Seitenzahlen  beigefügt  sind,  da  ist  ersichtlich,  dass 
dieselbe  Melodie  zu  verschiedenen  Texten  wiederkehrt;  Seitenzahlen  in  Klammern 
bezeichnen  eine  nahe  verwandte  Melodie  oder  ein  Melodiefragment  usw. 

Der  nächstliegende  Einwand,  der  gegen  diese  Art  der  Registrierung  der 
Melodienanfänge  am  Schluss  der  Liedersammlungen  erhoben  werden  wird,  ist  buch- 
händlerisch-praktischer Natur.  Eine  Notenzeile  in  dem  gebräuchlichen  Fünflinien- 
system ist  bei  engem  Druck  ungefähr  vier-  bis  fünfmal  so  breit  als  eine  klein- 
gedruckte Textzeile;  dementsprechend  würden  sich  auch  Umfang  und  Kosten  eines 
Melodienregisters  etwa  vier-  bis  fünfmal  so  hoch  stellen  als  die  des  Textregisters 
zu  derselben  Sammlung.  Darf  dieser  Gesichtspunkt  entscheidend  ins  Gewicht 
fallen  gegenüber  der  grossen  Ersparnis  von  Kraft  und  Zeit,  die  für  die  Melodien- 
forschung aus  der  Einführung  von  Melodienverzeichnissen  in  obiger  Art  erwachsen 
würde? 

Alle  anderen  Einwände,  die  sich  etwa  noch  geltend  machen  Hessen  und  die 
zum  Teil  schon  (von  Zoder  gegen  Pommer)  geltend  gemacht  worden  sind,  treffen 
meines  Erachtens  die  Textverzeichnisse  der  Lieder  genau  ebenso  wie  die  Melodien- 
verzeichnisse. Wird  auf  die  grosse  Variabilität  der  Melodienanfänge  hingewiesen, 
so  darf  ich  wohl  entgegnen,  dass  die  Textanfänge  nicht  minder  veränderlich  sind. 
Ein  und  dasselbe  Lied  (vom  Wettstreit  zwischen  Wasser  und  Wein)  wird  bei- 
spielsweise in  Siebenbürgen  allein  mit  folgenden  verschiedenen  Textanfängen  ge- 
sungen: 'Es  waren  zwei  Gesellen  fein',  'Merkt  auf,  ihr  Christen  und  Leute',  'Hört 
zu,  ihr  Christen  und  Leute',  'Ich  sing  ein  Liedchen  hübsch  und  fein'.  Dazu 
kommen  aus  Deutschland  folgende  Varianten:  'Wir  woU'n  eins  singen  so  hübsch 
und  so  fein'  (Ditfurth,  Fränkische  Volksl.  2,  nr.  352),  'Ich  weiss  mir  ein  Liedlein 
hübsch  und  fein'  (A.  Bender,  Oberschefflenzer  Volkslieder  nr.  142),  'Jetzt  lasst 
uns  mal  singen'  (Becker,  Rheinischer  Volksliederborn  nr.  27).  Zieht  man  noch 
in  Betracht,  dass  ein  und  dasselbe  Lied  hier  mit  der  ersten,  dort  aber  mit  der 
zweiten  oder  dritten  Strophe  begonnen  wird,  so  wird  man  nicht  sagen  können, 
dass  die  Mannigfaltigkeit  in  der  Variation  bei  den  Melodieanfängen  eine  grössere 
sei  als  bei  den  Textanfängen.  Ein  genaues  Melodienregister  wird  eben  nach 
Möglichkeit  ebenso  wie  ein  genaues  Textregister  alle  in  der  betreffenden  Sammlung 


Kleine  Mitteilungen.  199 

enthaltenen  Varianten,  auch  wenn  sie  nur  zum  Vergleich  herangezogen  werden, 
aufnehmen.  In  ähnlicher  Weise  erledigt  sich  ein  anderer  irgendwo  laut  ge- 
wordener Einwand  gegen  eine  Registrierung  der  Melodie  an  fange,  dass  nämlich 
zuweilen  nicht  der  Anfang,  sondern  eine  später  auftretende  Wendung  der  Melodie 
sich  durch  ihre  charakteristische  Form  dem  Gedächtnis  am  festesten  einpräge, 
einfach  durch  den  Hinweis  auf  dieselbe  Möglichkeit  auch  bezüglich  der  Liedertexte. 

Alles  in  allem  sollte  man  meinen,  dass  die  hier  in  Vorschlag  gebrachte 
Methode  der  Registrierung  schon  infolge  ihrer,  ich  möchte  sagen,  Selbstverständ- 
lichkeit nach  Analogie  der  Textregister  sich  in  kurzem  allenthalben  einbürgern 
müsste. 

Kleinscheuern  b.  Hermannstadt  (Siebenbürgen).     Gottlieb  Brandsch. 


Auffrischung  alter  Fastnachtsfeiern  in  der  Rheinpfalz. 

Zwei  alte  volkstümliche  Bräuche  wurden  heuer  bei  Fastnachtsschluss  hier 
zu  Lande  mit  Eifer  neu  belebt:  ein  christlicher  aus  dem  17.  Jahrhundert  und 
ein  wesentlich  älterer  wohl  aus  altgermanischer  Zeit.  Auf  den  lustigen  Paschings- 
dienstag,  den  24.  Februar,  fiel  diesmal  in  Wattenheim  der  Matthias-  oder 
Viehdienstag,  ein  örtlicher  Buss-  und  Bettag  der  zwei  christlichen  Konfessionen, 
der  mit  vormittägigem  Gottesdienst  in  beiden  Pfarrkirchen,  namentlich  aber  seitens 
der  Katholiken  gefeiert  wird,  wozu  sich  dann  eine  grössere  Anzahl  beicht- 
hörender Geistlichen  und  viele  Beichtkinder  aus  den  Nachbarorten  einfinden.  Die 
Einwohner  Wattenheims,  besonders  die  bäuerlichen,  halten  ernst  an  diesem  Buss- 
tage fest,  der  der  Überlieferung  zufolge  zur  Erinnerung  an  ein  ausgedehntes  Rind- 
viehsterben eingesetzt  wurde,  als  dieses  die  Altvordern  einst  in  arge  Not  ver- 
setzte. Wahrscheinlich  reicht  dieser  Feiertag  bis  zum  Ausgange  des  sogenannten 
orleanischen  (Pfälzer  Raub-)  Kriegs  oder  gar  des  30jährigen  zurück.  Eine  einzige 
milchende  Kuh  soll  damals  übriggeblieben  sein.  Darum  hat  das  Rindvieh  am 
Matthiastag  Ruhe.  Es  wird  nicht  eingespannt,  ja  kommt  überhaupt  nicht  vor  den 
Stall,  da  dies  Unheil  bringen  könnte.  Die  Viehbesitzer  fasten  da  oft  bis  nach 
dem  Frühgottesdienste,  und  oft  wird  auch  dann  erst  dem  Vieh  das  Morgenfutter, 
und  zwar  früher  zuerst  Brot  und  Salz,  gegeben.  Indem  die  Wattenheimer  an  diesem 
Feiertage  neuerdings  festhalten,  hatten  sie  das  deutliche  Bewusstsein,  einen  ehr- 
würdigen Akt  der  Pietät  gegen  ihre  frommen  Ahnen  zu  erfüllen.  —  Und  an  dem- 
selben Datum  abends  VgT  Uhr  flammte  auf  dem  Felsen  des  sagenurasponnenen 
Brunholdisstuhles  in  der  vorderen  Haardt  ein  mächtiges  Fastnachtsfeuer 
auf,  das  über  eine  Stunde  lang  weit  in  die  Rheinebene  hinausleuchtete.  Schon 
in  frühen  Zeiten  wurden  hier  Holzreiser  und  Zasseln  in  der  Fastnacht  auf- 
geschichtet und  angezündet.  Alt  und  jung  tanzte  vergnügt  im  Kreise  um  die 
Flammen,  und  Feuerräder  wurden  weit  in  die  Ebene  hinausgerollt.  Dieser  Brauch 
wurde  noch  um  1820  betätigt,  obwohl  eine  Visitationsordnung  des  Pfalzgrafen 
Johann  von  Zweibrücken  vom  12.  Dezember  1579  ausdrücklich  verbot  „Haifeuer 
am  Rhein,  Redder  schieben,  Braten  heischen,  verbutzen  und  dergleichen  Fast- 
nachtsspiel und  Gauckelwerk."  So  lebt  jetzt  nach  längerer  Zeit  dieser  Brauch, 
der  zweifellos  in  gar  altem  Herkommen  fusst,  wieder  auf.  Die  uralte  Thingstätte  an 
der  vorderpfälzischen  Heidenmauer  übt  augenscheinlich  noch  ihre  starke  Anziehungs- 
kraft aus. 

Ludwigshafen  a.  Rh.  Lutiwig   Fränkel. 


200 


Höfler,  Zachariae: 


Yernageln. 

(Mit  einer  Abbildung.) 

Die  beiden  hier  abgebildeten  alten,  eng  aneinanderstehenden  Föhrenbäume  be- 
finden sich  nahe  dem  Punkte,  an  dem  sich  die  Grenzen  der  Gemeinden  Tirschen- 
reuth, Gumpen  und  Hohenwald  treffen,  im  Gemeindewald  Tirschenreuth,  Kr.  Ober- 
pfalz, fern  von  Verkehrsstrassen.  Die  eine  Föhre  trägt  ein  aus  Bretterholz  aus- 
gesägtes,   vor  drei    bis  vier  Jahren  renoviertes  Kruzifix  mit  darunter  befindlichem 


Marien-  und  Fegefeuerbild  (in  einem  Stück).  Beide  Bäume  sind  nahe  am  Erd- 
boden, an  der  Stelle,  an  der  sie  ursprünglich  sich  berührten,  durch  Axthiebe  der 
Rinde  entblösst,  und  zwar  jeder  Baum  ziemlich  bis  zur  gleichen  Höhe  —  etwa 
IV2™  vom  Erdboden  —  auf  beiden  Seiten  (auf  der  Rückseite  also  ebenso  wie 
auf  der  Vorderseite).  Während  die  Behauung  auf  den  beiden  Vorderseiten  und 
auf  der  Rückseite  mit  Gesicht  gegen  den  Baum  auf  der  rechten  Seite  alt  und 
wettergrau  ist,  ist  auf  der  linken  Rückseite  eine  erst  einige  Wochen  alte,  frische 
Behauung  vorgenommen  worden.  Die  Axtspuren  sind  deutlich  zu  erkennen,  die 
Holzteile  sind  entfernt.  Soweit  der  Baum  von  Rinde  entblösst  ist,  sind  etwa 
120  Hufschmiedenägel  und  Nägel  mit  kleinerem  Kopf  (sog.  Zimmermannsnägel) 
eingeschlagen  (auf  dem  Bilde  als  schwarze  Punkte  sichtbar).     Auch  in  der  Rinde 


Kleine  Mitteilungen.  201 

sind,  soweit  sichtbar,  etwa  30  Nägel  eingeschlagen;  manche  werden  von  der 
Rinde  überwachsen  sein  (dies  zu  verhindern  wohl  die  Behauung).  An  der  frischen 
Hauptstelle  befindet  sich  kein  Nagel,  doch  sind  Nagelspuren  (Löcher)  älteren 
Ursprungs  sichtbar. 

Der  Baum  (und'jdas  Bild)  haben  keinen  Namen;  etwa  2  km  entfernt  befindet 
sich  ein  wundertätiges  Marienbild  'Maria -Weiher',  zu  dem  Einheimische  und  Aus- 
wärtige (Böhmen)  mit  Wachsopfern  wallfahrten. 

Über  den  Gebrauch  des  Nageleinschlagens  konnten  hiesige,  mit  der  Bevölkerung 
vertraute  Persönlichkeiten  keinen  Aufschluss  geben.  Die  Tatsache  ist  überhaupt 
sonst  hier  unbekannt. 

(Mitteilung  von  Herrn  Daxenberger  in  Tirschenreuth  vom  9.  Juni  1909.) 

Es  ist  ein  'Stock  im  Eisen',  wie  das  einstmals  so  hochgehaltene  Wahrzeichen 
Wiens  hiess;  die  Krankheiten  wurden  so  insgeheim  in  den  frischen  rindenlosen 
Holzstock  'vernagelt',  namentlich  in  der  Nähe  von  Kultquellen. 

Bad  Tölz.  Max  Höfler. 


Das  kaudinische  Joch. 

Am  Schluss  meines  Aufsatzes  über  Scheingeburt^)  oben  20,  141 — 181  habe 
ich  den  Durchzug  eines  kriegsgefangenen  Heeres  durch  das  sogenannte  iugum, 
gr.  ^v/6v  oder  :ivh]  'Torweg',  behandelt  und  dieses  Durchziehen  oder  'Durch- 
kriechen' im  Anschluss  an  eine  Bemerkung  Frazers  in  seinem  Golden  Bough  als 
eine  Reinigungszeremonie  bezeichnet.  Zum  Vergleich  mit  dem  iugum  habe 
ich  die  porta  triumphalis  und  das  tigillum  sororium  herangezogen  (S.  177 
A.  4  und  S.  lyO).  Der  Durchzug  eines  heimkehrenden  Heeres  durch  die  porta 
triumphalis  kann  ebenfalls  als  eine  Reinigungszeremonie  betrachtet  werden,  als 
eine  Zeremonie,  die  die  Reinigung  des  Heeres  von  der  Befleckung  des  Krieges 
und  zugleich  die  Zurückführung  des  Heeres  aus  dem  Kriegszustand  in  den  Friedens- 
zustand bezweckte.  Die  von  mir  a.  a.  0.  zitierten  Äusserungen^)  von  Alfred 
V.  Domaszewski  in  seinen  Abhandlungen  zur  römischen  Religion  S.  222 f.  waren 
es,  die  mich  zu  dieser  Auffassung  bestimmten,  und  ich  bedaure  nur,  dass  ich 
mich  früher  mit  einem  blossen  Hinweis  auf  die  porta  triumphalis  begnügt  und 
meine  Auffassung  des  Brauches  nicht  genauer  formuliert  habe.  Nachtragen  möchte 
ich  hier  einen  Verweis  auf  die  Bemerkungen  von  Arnold  van  Gennep  über  den 
römischen  Triumphbogen^)  in  seinem  Buche  Les  rites  de  passage,  Paris  1909  p.  28, 
und  auf  den  ausgezeichneten  Artikel  'Door'  in  der  Encyclopaedia  of  Religion  and 
Ethics  4,  846—852. 


1)  Zum  indischen  Hiranyagarbha-Ritus  (S.  159 ff.)  hätte  ich  auf  den  Aufsatz  von  Emil 
Schmidt:  Die  Wiedergeburt  der  Herrscher  von  Travaucore,  Globus  63,  21fif.,  verweisen 
sollen.     Man  sehe  jetzt  auch  Frazer,  Totemism  and  Exogamy  1,  32.  4,  208  ff. 

2)  Die  Ausführungen  Domaszewskis  (die  sich  in  erster  Linie  auf  den  Durchzug  des 
Heeres  durch  die  Porta  (Jarmentalis  beziehen  sind  kritisiert  worden  von  Wissowa,  Deutsche 
Literaturzeitung  1909  Sp.  SfloiJf.  und  von  Deubner,  Archiv  für  Religionswissenschaft  13,  502. 

3)  Cette  meme  ovolution,  du  portique  inagique  au  monument,  semble  avoir  ete 
Celle  de  l'arc  de  triomphe  romain,  le  triomphateur  ayant  d'abord,  par  une  serie  de 
rites,  ä  se  separer  du  monde  cnnemi,  pour  pouvoir  rentrer  par  son  passage  sous  l'arc 
dans  le  monde  romain,  le  rite  d'agrogation  etant  ici  le  sacrifice  ä  Jupiter  Capitolin  et 
aux  divinites  protectrices  de  la  citti.  —  Vgl.  S.  30  Anmerkung. 


202  Zachariae : 

Über  das  tigillum  sororium,  den  'Schwesterbalken',  habe  ich  auf  S.  180  meines 
Aufsatzes  gehandelt,  im  Anschluss  an  die  Ausführungen  von  W.  F.  Otto  im 
Rheinischen  Museum  für  Philologie  64,  466 ff.  Dabei  habe  ich  mich  leider  einer 
Unterlassungssünde  schuldig  gemacht.  Ich  hätte  auch  auf  Roschers  Lexikon 
der  griechischen  und  römischen  Mythologie  2,  21  verweiset  sollen^).  'Wie  alt 
dieses  bis  ins  5.  Jahrh.  nachweisbare  Heiligtum  (das  tigillum)  war',  schreibt 
Röscher  hier,  'ersieht  man  aus  der  Legende,  wonach  die  Errichtung  des  Tigillum 
und  der  beiden  Ahäre  auf  die  Sühne  des  von  dem  letzten  Horatier  begangenen 
Schwestermords  bezogen  wurde.  Zum  Verständnis  der  Legende  erinnere  ich  an 
die  von  Grimm  DM.  ^  1118  erörterte  Sitte,  einen  verderblichen  Zauber  (Fluch) 
dadurch  zu  lösen,  dass  man  durch  gespaltene  Bäume,  durch  Erd-  und  Felsen- 
höhlen hindurchging  oder  -kroch'.  Röscher  fasst  also  das  Durchgehen  unter 
dem  heiligen  Schwesterbalken  als  ein  'Durchkriechen'  auf,  das  zur  Entsühnung 
vorgenommen  wurde.  Und  so  schreibt  denn  auch  Wissowa  in  der  zweiten 
Auflage  seines  Buches  über  die  Religion  und  den  Kultus  der  Römer  1912  S.  104, 
dass  das  Durchgehen  unter  dem  Balken  'eine  Sühnzeremonie  gewesen  sein  mag'; 
zum  Durchgehen  durch  ein  enges  Tor  oder  einen  Spalt  als  Reinigungs- 
zeremonie verweist  er,  wie  W.  P.  Otto  a.  a.  ü.,  auf  Frazer,  The  golden  bough  2 
3,  399ff.  (in  der  3.  Auflage:  7,  2,  175ff.). 

Sonst  wüsste  ich  dem,  was  ich  in  meiner  Abhandlung  namentlich  über  die 
ursprüngliche  Bedeutung  des  Jochganges  gesagt  habe  —  wobei  mein  Bestreben 
war,  den  Weg  für  Prazers  Erklärung  zu  ebnen  — ,  nichts  hinzuzufügen.  Wenn 
ich  dennoch  hier  noch  einmal  auf  den  Gegenstand  zurückkomme,  so  geschieht  es, 
um  meine  Befriedigung  darüber  auszudrücken,  dass  Frazer  in  der  dritten  Auf- 
lage des  Golden  Bough  7,  2,  193ff.  (1913)  seine  Erklärung  des  Jochganges  wieder- 
holt und,  übrigens  ohne  meine  Abhandlung  zu  kennen,  nunmehr  auch  das 
Tigillum  sororium  und  die  Porta  triumphalis  zum  Vergleich  mit  dem  Jugum 
herangezogen  hat.  Da  ich  bei  den  Lesern  einer  Zeitschrift  für  Volkskunde  Interesse 
für  Frazers  Ansichten  voraussetzen  darf,  so  erlaube  ich  mir  ausführlich  mitzuteilen, 
was  Frazer  a.  a.  0.  über  den  Schwesterbalken  und  die  Triumphpforte  bemerkt  hat. 

Zunächst  weise  ich  darauf  hin,  dass  Frazer  seine  Vermutung,  der  Jochgang 
sei  ursprünglich  eine  Reinigungszeremonie  gewesen,  nicht,  wie  in  der  2.  Auf- 
lage des  Golden  Bough,  in  eine  Anmerkung  versteckt,  sondern  jetzt  in  den 
Text  gesetzt  hat-).  An  seine  Erklärung  des  Jochganges  schliesst  Frazer  S.  194 
die  folgenden,  in  der  2.  Auflage  noch  fehlenden  Bemerkungen: 

This  conjectural  explanation  of  the  ceremony  is  coufirmed  by  the  tradition  that  Ihe 
Roman  Horatius  was  similarly  obliged  by  bis  feliow-countrymen  to  pass  under  a  yoke  as 
a  form  of  purification  for  the  murder  of  Ms  sister.  The  yoke  by  passing  under  which  he 
cleansed  himself  from  his  sister's  blood  was  still  to  be  seen  in  Rome  when  Livy  was 
writing  his  history  under  the  emperor  Augustus.  It  was  an  ancient  wooden  beam 
spanning  a  narrow  lane  in  an  old  quarter  of  the  city,  the  two  ends  of  the  beam  being 
built  into  the  masonry  of  the  walls  on  either  side;  it  went  by  the  name  of  the  Sister's 
Beam,  and  whenever  the  wood  decayed  and  threatened  to  fall,    the  veuerable  monument, 

1)  Das  Zitat  ist  gegeben  worden  von  Fowler,  Classical  Review  27,  50  und  fast  gleich- 
zeitig von  Frazer,  Golden  Bough  ^  7,  2,  194. 

2)  Im  Wortlaut  besteht  zwischen  dem,  was  Frazer  ^  3,  40G  Anm.  und  neuerdings  in 
der  3.  Auflage  7,  2,  193  f.  sagt,  kaum  ein  Unterschied.  In  der  3.  Auflage  steht  am  Rande 
der  Seite  die  folgende  Inhaltsangabe:  The  ancient  Roman  custom  of  passing 
enemies  under  a  yoke  was  probably  in  origin  a  ceremony  of  purification 
rather  than  of  degradation. 


Kleine  Mitteilungen.  203 

which  carried  back  the  thoughts  of  passers-by  to  the  kingly  age  of  Rome,  was  repaired 
at  the  public  expense^).  If  our  Interpretation  of  these  customs  is  right,  it  was  the  ghost 
of  his  murdered  sister  whom  the  Roman  hero  gave  the  slip  to  by  passing  under  the 
yoke;  and  it  may  have  been  the  angry  ghosts  of  slaughtered  Romans  from  whom  the 
enemy's  soldiers  were  b'elieved  to  be  delivered  when  they  marched  under  the  yoke  before 
being  dismissed  by  their  merciful  conquerors  to  their  homes. 

In  a  former  part  of  this  work  we  saw  that  homicides  in  general  and  victorious 
warriors  in  particular  are  offen  obliged  to  perform  a  variety  of  ceremonies  for  the  pur- 
pose  of  ridding  them  of  the  dangerous  ghosts  of  their  victims^).  If  the  ceremony  of 
passing  under  the  yoke  was  primarily  designed,  as  I  have  suggested,  to  free  the  soldiers 
from  the  angry  ghosts  of  the  men  whom  they  had  slain,  we  should  expect  to  find  that 
the  victorious  Romans  themselves  observed  a  similar  ceremony  after  a  battle  for  a 
similar  purpose.  Was  this  the  original  meaning  of  passing  under  a  triumphal  arch? 
In  other  words,  may  not  the  triumphal  arch  have  been  for  the  Victors  what  the  yoke 
was  for  the  vanquished,  a  barrier  to  protect  them  against  the  pursuit  of  the  spirits  of 
the  slain?  That  the  Romans  feit  the  need  of  purification  from  the  taint  of  bloodshed 
after  a  battle  appears  from  the  opinion  of  Masurius,  mentioned  by  Pliny,  that  the  laurel 
woru  by  soldiers  in  a  triumphal  procession  was  intended  to  purge  them  from  the  slaughter 
of  the  enemy").  A  special  gate,  the  Porta  Triumphalis,  was  reserved  for  the  entrance  of 
a  victorious  army  into  Rome*);  and  it  would  be  in  accordance  with  ancient  religious 
views  if  this  distinction  was  originally  not  so  rauch  an  honour  conferred  as  a  precaution 
enforced  to  prevent  the  ordinary  gates  from  being  polluted  by  the  passage  of  thousands 
of  blood-guilty  men. 

Es  ist  wohl  kaum  zu  bezweifeln,  dass  Frazer  im  Rechte  ist,  wenn  er  das 
iugum  und  das  tigillum  auf  eine  Stufe  stellt.  Die  Entscheidung  darüber,  ob  er 
mit  seiner  Ansicht  über  die  ursprüngliche  Bedeutung  des  Durchzugs  durch  die 
porta  triumphalis  das  Richtige  getroffen  hat,  wird  wesentlich  von  der  Beant- 
wortung der  Frage  abhängen:  Fühlten  die  Römer  wirklich  'die  Notwendigkeit  der 
Reinigung  von  dem  Makel  des  Blutvergiessens  nach  einer  Schlacht',  hielten  sie 
eine  Entsühnung  der  heimkehrenden  Krieger  —  und  zugleich  ihrer  Streitrosse, 
Waffen  usf.  —  für  nötig?  Man  hat  diese  Frage  meist  im  bejahenden  Sinne  be- 
antwortet; und,  wie  ich  meine,  mit  vollem  Recht.  Ich  verweise  nur  auf  die  Er- 
örterungen von  W.  Warde  Fowler  in  seiner  Vorlesung  über  die  Lustration^) 
und  auf  die  von  Ludwig  Deubner  (der  die  Kriegsbräuche  der  neuseeländischen 
Maori  heranzieht)  in  seinem  Vortrag  Zur  Entwicklungsgeschichte  der  altrömischen 
Religion«^).      Soweit    meine    Kenntnis    der  einschlägigen  Literatur  reicht,    hat    nur 


1)  In  der  Anmerkung  zitiert  Frazer  die  klassischen  Stelleu,  wo  das  Tigillum  sororium 
erwähnt  wird,  und  ausserdem  beruft  er  sich  auf  Roschers  Lexikon  der  Mythologie  2,  -21 
und  auf  Wissowa,  Religion  und  Kultus  der  Römer  ^  S,  104. 

2)  Frazer  zitiert:  'Taboo  and  the  Periis  of  the  Soul',  pp.  165  sqq.  Gemeint  ist  der 
zweite,  mir  jetzt  nicht  zugängliche  Teil  der  3.  Auflage  des  Golden  Bough.  In  der 
2.  Auflage  entspricht:  1,  331—341,  eine  Stelle,  worauf  ich  in  meiner  Abhandlung  über 
Scheingeburt  oben  20,  IHO'^  bereits  verwiesen  habe. 

3}  Frazer  zitiert:  Plinius  u.  h.  15,  135  'Quia  suffimeutum  sit  caedis-hostium  et  pur- 
gatio.'  —  Vgl.  die  oben  20,  180^  von  mir  angeführte  Stelle  Festus  p.  117,  13  Laureati 
milites  sequebantur  currum  triiimphantis,  ut  quasi  purgati  a  caede  humana  mtrarent 
ürbem. 

4)  Frazer  zitiert:    Cicero,  in  Pisonem  23,  55;  Josephus,  Bellum  Judaicum  T,  5,  4. 

5)  Die  Anthropologie  und  die  Klassiker,  sechs  Vorlesungen  ....  übersetzt  von 
Johann  Hoops,  Heidelberg  1910  S.  205.  223. 

0)  Neue  Jahrbücher  für  das  klassische  Altertum,  Geschichte  und  deutsche  Literatur 
14,  324  ff. 


204  Zachariae: 

J.  S.  Reid  die  oben  gestellte  Frage  mit  Entschiedenheit  verneint.  'It  can  hardly 
be  supposed',  schreibt  er,  'that  the  Romans  ever  regarded  the  triumph  as  in  any 
way  a  lustral  ceremony.  The  lustratio  is  a  means  of  putting  away  guilt  and 
winning  favour  from  the  gods;  but  an  army  which  has  ji'st  been  vouchsafed  a 
victory  in  answer  to  vows  has  ample  proof  that  the  cour.tenance  of  heaven  has 
been  secured,  and  the  shedding  of  blood  in  a  iustum  bellum  did  not, 
to  the  Roman  mind,  call  for  purification'  (The  Journal  of  Roman  Studies 
2,  46).  Ich  sehe  aber  nicht  ein,  weshalb  wir  den  Römern  einen  Glauben  ab- 
sprechen sollen,  den  wir  bei  anderen  Völkern  reich  genug  vertreten  finden.  Wie 
weit  verbreitet  die  Anschauung  war  und  noch  ist,  dass  Krieger,  die  Blut  ver- 
gossen haben,  entsühnt  werden  müssen,  hat  ja  Frazer  im  Golden  Bough  ^  1,  331  ff. 
unter  der  Überschrift  'Manslayers  tabooed'  gezeigt  und  mit  vielen  Beispielen 
belegt.  Zu  der  von  Frazer  S.  335  und  auch  von  Fowler  (Die  Anthropologie  und 
die  Klassiker  S.  223)  zitierten  Stelle  Numeri  31,  19f.  (Lagert  euch  ausserhalb  des 
Lagers  sieben  Tage,  jeder,  der  Menschen  getötet  oder  Erschlagene  angerührt  hat, 
und  entsündigt  euch  am  dritten  und  siebenten  Tage,  ihr  samt  euren  Ge- 
fangenen. Alle  Kleider  sowie  alle  Geräte  von  Leder,  Ziegenhaar  und  Holz  müsst 
ihr  entsündigen)  vergleiche  man  auch  die  Kapitel  'Verunreinigung  durch  Leichen' 
und  'Rückkehr  in  den  profanen  Stand'  in  Friedrich  Schwallys  Semitischen 
Rriegsaltertümern  1,  66 f.  106 ff.  sowie  Robertson  Smiths  Lectures  on  the  Religion 
of  the  Semites^  491. 

Zum  Schluss  muss  ich  noch  auf  ein  merkwürdiges  Zusammentreffen  hinweisen. 
Die  von  mir  mitgeteilten  und  besprochenen  Ausführungen  Frazers  über  das  iugum, 
das  tigillum  und  die  porta  triuraphalis  waren  von  ihm  niedergeschrieben  aber  noch 
nicht  dem  Druck  übergeben,  da  erschien  ein  Artikel  von  W.  Warde  Fowler  mit 
der  Überschrift  Passing  under  the  yoke  in  der  Classical  Review  27  (1913), 
48 — 51.  Ähnlich  wie  ich  selbst  vor  vier  Jahren,  so  geht  dieser  Autor  von  Frazers 
Vermutung  über  den  Jochgang  (Golden  Bough  ^  3,  406)  aus  und  zeigt,  dass  das 
Durchgehen  unter  dem  Schwesterbalken  und  der  Durchzug  durch  die  Triumph- 
pforte mit  dem  Jochgang  auf  eine  Stufe  gestellt,  dass  alle  drei  Bräuche  auf  den- 
selben Grundgedanken  zurückgeführt  werden  können.  Merkwürdig  ist  dieses 
Zusammentreffen  von  Frazers  und  Fowlers  Ansichten  allerdings;  'the  closeness  of 
the  coincidence  between  our  views  is  a  welcome  confirmation  of  their  truth', 
bemerkt  Frazer  im  Golden  Bough  ^  7,  2,  195,  Anra.  4.  Im  übrigen  habe  ich  nicht 
die  Absicht,  alle  die  Gründe  hier  zu  wiederholen,  mit  denen  Fowler  seine  Auf- 
fassung gestützt  hat.  Doch  will  ich  besonders  hinweisen  auf  die  Bemerkungen 
Fowlers  über  die  älteste  Form  der  porta  triumphalis  und  das  herausheben,  was 
er  am  Schluss  seines  Artikels  über  die  Bedeutung  des  Jochganges  sagt.  Was  für 
einen  Zweck  hatte  man  wohl  im  Auge  —  so  fragt  er  — ,  wenn  man  die  Kriegs- 
gefangenen dieselbe  Zeremonie  durchmachen  liess,  wie  den  Mörder  (z.  B.,  der 
Sage  nach,  den  Horatier)  oder  das  siegreiche  Heer?  Nach  Frazer  wollte  man  die 
Gefangenen,  ehe  man  sie  nach  Hause  entliess,  von  ihren  'malignant  and  hostile^) 
powers'  befreien.  'I  do  not  see',  bemerkt  Fowler  hierzu,  'that  we  can  find  a 
better  explanation,  though  I  might  put  it  somewhat  differently.  They  had  to 
be  brought  out  of  one  status  into  another;  they  must  not  be  any  longer 
the  same  beings  they  were  before  the  deditio;  just  as  in  historical  times  the 
dediticius  passed  out  of  his  former  status  into  a  new  one,  and  became  absorbed 
in  the  body  politic  of  the  conqueror,  to  be  henceforward  harmless.'    Oben  20,  179 


1)    'Some    uncanny    powers'    sagt    Frazer    in    der    3.   Auflage    des    Golden    Bough 
7,  2,  194. 


Kleine  Mitteilungen.  205 

hatte  ich  die  Vermutung  ausgesprochen,  dass  das  Durchgehen  unterm  Joch  die 
Zurückführung  der  Kriegsgefangenen  in  ihre  frühere  Stellung  bezweckte. 
Aber  das  sollte  nur  eine  Vermutung  sein.  Denn  da  das  'Durchkriechen'  den 
verschiedensten  Zwecken  dient,  so  kann  man  allerdings  über  den  ursprüng- 
lichen Sinn  des  Jochganges  verschiedene  Ansichten  aufstellen.  Aber  damit  scheint 
mir  Frazer  durchaus  das  Richtige  getroffen  zu  haben,  dass  er  die  gewöhnliche 
Annahme,  der  Jochgang  sei  eine  Zeremonie  der  Erniedrigung  oder  Demütigung 
gewesen,  zurückgewiesen  hat.  Das  möchte  ich  besonders  betonen.  Wer  dem 
genialen  englischen  Forscher  nicht  beizupflichten  vermag,  dem  wird  nichts  anderes 
übrig  bleiben,  als  zur  'Symbolik'  seine  Zuflucht  zu  nehmen.  Schon  Livius  be- 
hauptet an  der  Stelle,  wo  er  das  iugum  zum  ersten  Male  erwähnt  (3,  "28:  Sieg 
der  Römer  über  die  Aequer),  dass  die  Kriegsgefangenen  unter  dem  Joch  davon- 
ziehen mussten,  'ut  exprimatur  confessio  subactam  domitamque  essegentem'; 
und  H.  Nissen  gibt  in  seiner  Beurteilung  des  Jochganges  der  Römer  bei  Caudium 
allerdings  zu,  es  sei  kein  besonderer  Schimpf  gewesen,  den  C.  Pontius  den  ge- 
fangenen Legionen  antat,  wenn  er  sie  das  Joch  passieren  liess;  aber  dann  fügt  er 
hinzu:  die  Symbolik  deutet  an,  dass  sich  die  Römer  als  kriegsgefangen  und  nur 
durch  Gnade  in  Freiheit  gesetzt  bekannten^).  Ähnlich  erklärt  Henri  Gaidoz  in 
seinem  Buche  über  das  Durchkriechen")  den  Jochgang  für  einen  Unterwerfungs- 
ritus (rite  de  soumission).  Er  geht  aus  von  dem  Rasen  gang,  der  als  ein  Heil- 
ritus und  auch  als  ein  Zeichen  der  Unterwerfung  vorkommt  (oben  20,  148f.; 
177),  erinnert  an  das  Werfen  auf  die  Erde,  an  Ausdrücke  wie  Mordre  la  poussiere 
ou  la  terre,  Ins  Gras  beissen  usf.,  und  unter  den  Belegen  teilt  er  mit,  was 
Baber  in  seinen  Denkwürdigkeiten  von  den  Afghanen  erzählt^).  Als  Kaber 
Afghanistan  erobert  hatte,  und  als  die  Afghanen  einsahen,  dass  weiterer  Wieder- 
stand vergeblich  sein  würde,  da  erschienen  ihre  Gesandten  vor  Baber,  Gras  im 
Munde  haltend.  Das  sollte  bedeuten:  Wir  gehören  dir,  wir  sind  dein  Vieh*). 
'C'est  ainsi',  bemerkt  Gaidoz  dazu,  'que  ce  rite  de  soumission  etait  compris:  c'est 
un  rite  representatif  d'asservissement,  oü  l'homme  asservi  est  ravale  au  rang  de 
betail,  rite  identique,  par  l'intention,  a  celui  des  Romains  quand  ils 
faisaient  passer  l'ennemi  vaincu  sous  le  joug,  c'est-a-dire  l'assi- 
milaient   a    une    bete    de    labour'.     Aber  jenes  torartige  Gerüst  oder  Gestell, 


1)  Gegen  diese  Erklärung  habe  ich  mich  bereits  oben  20,  179  ausgesprochen.  So 
wendet  sich  auch  Schwally  bei  der  Besprechung  von  gewissen  Bundschliessungsriten 
(vgl.  oben  '20,  150 ff.)  mit  Entschiedenheit  gegen  die  symbolische  Theorie.  'Wenn  auch 
bereits  sehr  früh  aus  diesen  Riten  ein  symbolischer  Sinn  lierausgefühlt  wurde,  so  niuss 
derselbe  doch  schon  um  deswillen  sekundär  sein,  weil  religiöse  Motive  immer  älter 
sind  als  symbolische'  (Semitische  Kriegsaltertümer  1,  54f.).  Ich  verweise  noch  auf 
die  treffenden  Bemerkungen  von  W.  Kroll  in  den  Göttingischen  Gelehrten  Anzeigen  1905, 
243  f.  und  von  P.  Sartori,  Sitte  und  Brauch  1,  15  f. 

2)  Un  vieux  rite  medical  1S92  p.  83.  Ich  habe  mich  zwar  schon  früher  über  die 
von  Gaidoz  hier  vorgetragene  Ansicht  geäussert,  halte  es  aber  für  erspriesslich,  hier  noch 
einmal  darauf  zurückzukommen;  ist  doch  Un  vieux  rite  mödical  ein  seltenes,  durchaus 
nicht  allgemein  zugängliches  Buch.  Übrigens  vergleiche  man  auch  den  Artikel  'La 
soumission  par  le  symbole  de  l'herbe',  den  Gaidoz  in  seiner  Melusine  9,  33—34  ver- 
öffentlicht hat  (mir  jetzt  nicht  zugänglich). 

3)  Ich  benutze  hier  auch  eine  Mitteilung  von  G.  A.  Grierson,  Indian  Antiquary  20 
(1891),  338  f. 

4)  Zu  diesem  Ausdruck  vergleiche  man  R.  Pischel  (der  übrigens  den  von  Gaidoz 
aus  Babers  Denkwürdigkeiten  beigebrachten  Beleg  nicht  kennt)  in  seiner  Abhandlung 
über  die  Redensart  'Ins  Gras  beissen',  Sitzungsberichte  der  Berliner  Akademie  1908,  S.  448. 


206  Zachariae,  Boehm: 

unter  dem  besiegte  Feinde  hindurchgeben  mussten,  ebe  sie  nacb  Hause  entlassen 
wurden,  ist  wohl  einem  Joch  ähnlich  und  wird  geradezu  Joch  genannt,  aber  es 
ist  darum  kein  Joch  im  eigentlichen,  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes;  es  ist 
nichts  weiter  als  ein  'extemporised  arch',  um  Powlers  sehr  glücklichen  Ausdruck 
zu  gebrauchen  (Classical  Review  27,  48).  Einen  solchen  Bogen  mit  drei  Speeren 
zu  bilden,  von  denen  zwei  in  die  Erde  gesteckt  und  einer  quer  darüber  gebunden 
wurde,  lag  draussen  im  Felde  nahe  genug.  Sehr  wenig  unterscheidet  sich  das 
Gestell,  das  die  Römer  iugum  nannten,  von  dem,  das  die  Tartaren  errichteten 
(duas  hastas  ponunt  iuxta  ignes,  et  unam  cordam  in  summitate  hastarum)  und 
unter  dem  sie  nach  einem  Todesfalle  hindurchschritten,  um  sich  zu  reinigen;  und 
dieses  Gestell  wiederum  ist  sehr  nahe  verwandt  dem  Bogen  —  oder  dem  'Joch', 
wie  es  Oldenberg  nennt  — ,  unter  dem  in  Indien  die  Angehörigen  eines  Ver- 
storbenen, wenn  sie  von  der  Verbrennungsstätte  zurückkehrten,  hindurchgehen 
mussten:  zwei  Äste  eines  heiligen  Baumes  werden  in  den  Boden  geschlagen  und 
oben  mit  einer  dünnen  Schnur  zusammengebunden  (oben  17,  470;  20,  180 f.). 

Halle  a.  S.  Theodor  Zachariae. 


Zur  Pflege  der  Tolkskunde  in  Italien. 

Unter  den  mannigfaltigen  Veranstaltungen,  mit  denen  im  Jahre  1911  das 
50jährige  Jubiläum  des  Königreichs  Italien  gefeiert  wurde,  stand  die  auf  der 
Piazza  d'Armi  in  Rom  errichtete  'Mostra  Etnografica'  an  einer  der  ersten 
Stellen.  Sie  war  der  'Etnografia  Italiana',  der  italienischen  Volkskunde,  gewidmet 
und  zerfiel,  wenn  man  von  dem  üblichen  Vergnügungspark  u.  dgl.  absieht,  in 
zwei  Hauptteile:  Einmal  waren  die  historischen  Provinzen  des  Königreichs  durch 
besondere  Gebäude  vertreten,  die  jedesmal  in  der  für  ihre  Gegend  charakteristischen 
Bauart  errichtet  waren  und  in  ihrem  Inneren  in  ebenfalls  charakteristischem 
Rahmen  Sonderausstellungen  der  bezeichnenden  Industrie-,  Handwerks-  und  Heim- 
arbeitserzeugnisse enthielten,  zum  Teil  diese  sogar  (Flechtereien,  Gewebe  u.  dgl.) 
vor  den  Augen  der  Besucher  entstehen  Hessen.  Neben  vielem  Interessanten  und 
Hübschen  gab  es  hier  auch  manche  Geschmacklosigkeiten,  so  Wiedergaben  von 
Teilen  des  Dogenpalastes  in  Venedig,  des  Palazzo  Vecchio  in  Florenz,  die  bei 
der  selbstverständlichen  Verkleinerung  der  Masse  und  der  ünechtheit  des  Materials 
unschön  wirkten.  —  Den  zweiten  Teil  der  Ausstellung  bildete  eine  in  einem 
besonderen,  würdigen  Gebäude  untergebrachte  Sammlung  von  Volkstrachten, 
Handarbeiten,  Geräten  und  anderen  volkskundlichen  Gegenständen,  die  wegen  der 
Fülle  des  aus  ganz  Italien  zusammengebrachten  Materials  und  dessen  wissen- 
schaftlicher Anordnung  einen  vorzüglichen  Eindruck  machte  und  sehr  interessant 
und  lehrreich  war.  Besonders  reichlich  waren  die  Gruppen  der  volkstümlichen 
Drucke,  Flugblätter  usw.  sowie  der  Amulette  beschickt. 

Den  Kern  dieser  Sammlungen  bildete  das  von  Dr.  Lamberta  Loria  am 
20.  September  1906  in  Florenz  begründete  Museo  di  Etnografia  Italiana. 
Dieser  Gelehrte,  der  mit  unermüdlichem  Fleisse  und  selbstloser,  unerschütterlicher 
Begeisterung  für  die  Belebung  der  volkskundlichen  Studien  in  Italien  tätig  ge- 
wesen ist,  wurde  im  Jahre  1855  zu  Alexandria  in  Ägypten  geboren,  von  wo  sich 
sein  Vater  bald  nach  Pisa  begab.  Hier  genoss  L.  seine  Ausbildung,  die  1881  mit 
der  Erwerbung  der  Doktorwürde  ihren  Abschluss  fand.    Ursprünglich  Mathematiker, 


Kleine  Mitteilungen.  207 

wandte  er  sich  allmählich  der  Völkerkunde  zu  und  machte  mehrere  grosse  wissen- 
schaftliche Reisen,  1883  nach  Lappland,  Russland,  dem  Kaukasus  und  Turkestan, 
1886  nach  Indien,  1889  und  1891—1898  nach  Neu-Guinea,  von  wo  er  bemerkens- 
werte zoologische,  ethnographische  und  kraniologische  Sammlungen  heimbrachte, 
1905  nach  Erythrea.  Auf  dieser  letzten  Auslandsreise  reifte  in  ihm  der  Entschluss, 
sich  für  den  Rest  seines  Lebens  der  Ethnographie  seines  Heimatlandes  zu  widmen, 
wofür  er  in  einem  seiner  Reisebegleiter,  Aldobrandino  Mocchi,  einen  von  gleichen 
Plänen  erfüllten  Mitarbeiter  fand.  Mocchi  hatte  sich  bereits  im  Laufe  der  Zeit 
eine  kleine  Sammlung  volkskundlicher  Gegenstände  angelegt,  die  den  Grundstock 
des  bald  darauf  von  Loria  begründeten  Museums  bildete.  Dieser  befand  sich 
selbst  in  einer  finanziell  günstigen  Lage,  so  dass  er  seine  ganze  Zeit  und  einen 
grossen  Teil  seiner  Mittel  dem  neuen  Unternehmen  widmen  konnte,  ausserdem 
gewann  er  in  dem  Grafen  Bastogi  einen  hochherzigen  Förderer  seiner  Sache,  der 
ihm  die  pekuniäre  Sicherung  des  neuen  Museums  gewährleistete.  Dieses  wurde 
in  Florenz  in  Privaträumen  untergebracht  und  umfasste  schon  ein  Jahr  nach 
seiner  Begründung  etwa  2000  Gegenstände,  die  von  Loria  und  Mocchi  gründlich 
katalogisiert  waren. 

Im  Jahre  1908  Hessen  unverschuldete  finanzielle  Verluste  des  Grafen  Bastogi 
den  Fortbestand  des  Museums  ernstlich  gefährdet  erscheinen.  Da  eröffnete  sich 
eine  neue,  glänzende  Aussicht  für  Lorias  Pläne,  indem  er  von  dem  offiziellen 
Komitee  zur  Vorbereitung  der  Jubiläumsveranstaltungen  in  Rom  den  Auftrag 
erhielt,  seine  Museum ssammlungen  1911  auf  der  Mostra  Etnografica  auszustellen, 
und  zu  deren  Vervollständigung  mit  reichlichen  Geldmitteln  versehen  wurde.  Er 
begann  nun  eine  rastlose  Tätigkeit,  reiste  in  ganz  Italien  umher,  um  zu  sammeln, 
und  vor  allem,  um  sammelnde  Mitarbeiter  in  allen  Volksschichten  zu  gewinnen. 
Ein  besonders  tätiger  Helfer  bei  diesen  Vorbereitungen  war  ihm  sein  Freund 
Prof.  Francesco  Baldasse roni.  Um  das  durch  ihn  neu  erweckte  Interesse  an 
volkskundlicher  Sammel-  und  Porschungstätigkeit  dauernd  wachzuhalten  und  ihm 
einen  literarischen  Mittelpunkt  zu  geben,  gründete  Loria  am  I.Juli  1910  die 
Gesellschaft  für  italienische  Volkskunde,  Societä  d.i  Etnografia  Italiana 
deren  Vorsitz  er  übernahm  und  deren  Organ,  die  Zeitschrift  'Lares',  von  der 
später  noch  ausführlicher  berichtet  werden  soll,  er  herausgab. 

Lorias  vorbereitende  Tätigkeit  war  von  bestem  Erfolge  gewesen.  Der  Katalog 
der  Volkskunde-Ausstellung  (Bergamo,  Istituto  Italiano  di  Arti  Grafiche  1911), 
verfasst  zum  grössten  Teil  von  Baldasseroni  und  erschienen  leider  erst  eine  Woche 
vor  Schluss  der  Ausstellung  (s.  Lares  1,  1  S.  103  f.).  umfasst  gegen  40000  Gegenstände. 
Vom  19.  bis  U.  Oktober  1911  tagte  in  Rom  der  erste  Kongress  für 
italienische  Volkskunde  unter  Lorias  Leitung.  Die  Verhandlungen  sind  unter 
dem  Titel  'Atti  del  primo  Congresso  di  Etnografia  Italiana'  als  stattlicher  Band 
erschienen  (Perugia,  Unione  Tipogr.  Coop.  1912).  Da  es  unmöglich  ist,  an  dieser 
Stelle  über  jeden  Vortrag  ausführlicher  zu  berichten,  so  seien  nur  die  Haupt- 
themata und  -vortragenden  genannt:  Es  berichteten  H.  Schuchardt  über  'Sachen 
und  Wörter'  (der  Vortrag  wurde  in  Abwesenheit  des  Verfassers  von  Baldasseroni 
verlesen),  A.  de  Gubernatis  über  die  Geschichte  in  der  Ethnologie,  C  Puini  über 
Trauerbräuche,  R.  Corso  über  Hochzeitsbräuche,  A.  Baragiola  über  das  Bauern- 
haus, G.  Bellucci  über  Amulette,  F.  Novati  über  volkstümliche  Drucke,  A.  Niceforo 
über  Sondersprachen  und  ähnliches,  A.  Andriulli  über  die  albanesischen  Siedlungen 
in  Italien  u.  a.  m. 

Loria  hegte  die  nicht  unbegründete  Hoffnung,    dass  die  mit  so  grosser  Mühe 
zusammenaiebrachte  Sammlung    auch    nach    dem  Schluss  der  Ausstellung  erhalten 


208  Boehm: 

bleiben,  vomStaate  übernommen  und  zu  einem  Nationalmuseum  für  italienische 
Volkskunde  ausgestaltet  werden  würde;  in  der  Schlusssitzung  des  Kongresses  am 
24,  Oktober  wurde  eine  dahingehende  Entschliessung  einstimmig  angenommen  und 
der  Vorstand  beauftragt,  dem  Unterrichtsministerium  davon  Mitteilung  zu  machen. 
Dieselbe  Sitzung  brachte  eine  auch  für  weitere  Kreise  interessante  Besprechung 
der  Frage,  nach  welchen  Grundsätzen  das  zukünftige  Nationalmuseum  gestaltet 
werden  solle,  ob  die  Gegenstände  nach  stofflichen  oder  nach  geographischen 
Gruppen  angeordnet  werden  sollten.  Beide  Standpunkte  wurden  von  ihren  Ver- 
tretern lebhaft  verteidigt,  Baldasseroni  trat  sehr  energisch  für  die  Aufstellung  nach 
Materien  ein,  während  das  geographische  Prinzip  besonders  von  Prof.  Pigorini 
empfohlen  wurde,  in  dessen  Sinne  auch  schliesslich  eine  Tagesordnung  beschlossen 
wurde. 

Die  Bemühungen  Lorias  schienen  dem  Ziele  nahe,  und  schon  teilte  er  seinen 
Freunden  mit,  dass  bald,  mit  finanzieller  Unterstützung  der  Stadtverwaltung  von 
Rom,  das  neue  Museum  in  der  Hauptstadt,  voraussichtlich  in  der  Valle  Giulia, 
erstehen  werde.  Da  riss  ihn  am  4.  April  1912  der  Tod  mitten  aus  seiner  Tätigkeit 
heraus,  zur  tiefsten  Betrübnis  der  ihm  nahestehenden  Forscher  und  aller  für  die 
Volkskunde  Italiens  Interessierten.  Die  Societä,  deren  Vorsitz  nach  Lorias  Tod 
an  Prof.  Francesco  Novati  überging,  sieht  jetzt  ihre  vornehmste  Aufgabe  darin, 
den  Plan  ihres  Begründers  zu  verwirklichen.  Wie  mir  Herr  Dr.  Giovanni  Ferri, 
der  Schriftführer  der  Gesellschaft,  mitzuteilen  die  Freundlichkeit  hatte  (am 
2,  März  d.  J.),  sind  die  Aussichten  auf  Erfolg  zurzeit  nicht  ungünstig,  indem  der 
Staat  zunächst  die  provisorische  Aufbewahrung  der  Sammlungen  Lorias,  die  im 
Palazzo  delle  Belle  Arti  in  Valle  Giulia  untergebracht  worden  sind,  übernommen 
hat.  Herrn  Dr.  Ferri  danke  ich  an  dieser  Stelle  für  diese  und  andere  freundliche 
Auskünfte  aufs  verbindlichste. 

Hoffen  wir,  dass  die  Bemühungen  der  Societä,  die  auch  unserem  Vereine 
alsbald  nach  ihrer  Begründung  als  dauerndes  Mitglied  beigetreten  ist.  bald  zum 
Erfolge  führen.  Italien  bietet  bei  der  Mannigfaltigkeit  seiner  Bewohner  in  Mund- 
art, Sitte,  Tracht  usw.  ein  so  unendliches  reiches  Gebiet  für  die  Forschung,  dass 
die  Errichtung  eines  grossen  Museums  in  Rom  als  eines  Zentralpunktes  der  ge- 
samten volkskundlichen  Forscher-  und  Sammeltätigkeit,  nicht  nur  in  Italien  sondern 
allenthalben  nur  mit  der  grössten  Sympathie  begrüsst  werden  kann. 

Unter  den  Namen  der  Männer,  die  hier  als  die  Hauptträger  der  neuen  volks- 
kundlichen Bewegung  in  Italien  genannt  wurden,  wird  man  vielleicht  den  des 
Altmeisters  der  italienischen  Volkskunde,  Giuseppe  Pitres,  mit  Verwunderung 
vermisst  haben.  Sind  doch  die  Verdienste  dieses  Gelehrten  um  die  italienische 
Volkskunde  so  hoch,  dass  es  in  jeder  Beziehung  zu  bedauern  wäre,  wenn  er  dem 
von  Loria  begonnenen  Werke  gleichgültig  oder  gar  ablehnend  gegenüberstände. 
Zum  Glücke  ist  dies  keineswegs  der  Fall,  wenn  auch  traurige  Umstände  eine 
aktive  Beteiligung  Pitres  unmöglich  machen.  Loria,  der  mit  Pitre  nahe  befreundet 
war,  bat  ihn,  für  das  erste  Heft  der  Lares  um  eine  Besprechung  des  Buches  von 
R.  Pettazzoni  über  die  primitive  Religion  in  Sardinien,  da  er  der  Ansicht  war, 
dass  'die  Erstlingsnuramer  einer  Zeitschrift,  die  die  Volkskunde  unseres  Volkes 
behandelt,  irgend  einen  Beitrag  von  Giuseppe  Pitre  enthalten  müsse'  (Lares  1,  1 
S.  8).  Leider  erklärte  sich  Pitre  in  einem  wehmütigen  Brief  an  Loria  für  ausser- 
stande,  diese  Bitte  zu  erfüllen.  Er  stehe,  so  schreibt  er,  noch  immer  unter  dem 
niederdrückenden  Eindruck  des  unsäglichen  Unglücksschlages,  der  ihn  getroffen 
[der  Tod  seines  Sohnes],  und  lebe  nur  noch,  um  den  Wunsch  seines  angebeteten 
Sohnes,    die    Vollendung    der    'Biblioteca    delle    tradizioni    popolari    siciliane',    zu 


Kleine  Mitteilungen.  209 

erfüllen.  Für  Zeitschriften  zu  schreiben  fühle  er  sich  geistig  und  physisch  unfähig. 
An  dem  Kongresse  nahm  er  aus  denselben  Gründen  nicht  teil,  wenn  sich  auch 
sein  Name  auf  dem  'Elenco  degli  inscritti  al  Congresso'  befindet.  Auf  ein  herz- 
liches und  seine  Verdienste  hervorhebendes  Begrüssungstelegramm  von  der  Er- 
öffnungssitzung antwortete  Pitre  ebenso  herzlich  und  wünschte  dem  'weisen  und 
patriotischen  Werk'  Lorias  besten  Erfolg.  Dass  diese  Wünsche  des  verehrungs- 
würdigen Meisters  die  neue  Bewegung  begleiten,  darf  man  gewiss  als  ein  glück- 
liches Omen  betrachten. 

Eines  der  Hauptverdienste  Pitres  um  die  italienische  A^olkskunde  war  die 
Herausgabe  des  'Archivio  per  lo  studio  delle  tradizioni  popolari'.  Leider  hat 
diese  Zeitschrift,  wohl  aus  den  oben  von  Pitre  selbst  bezeichneten  Gründen,  mit 
dem  2.  Hefte  des  24.  Bandes,  das  im  Frühjahr  1910  ausgegeben  wurde,  ihr  Er- 
scheinen eingestellt,  was  jeder,  der  sich  mit  der  italienischen  Volkskunde  be- 
schäftigt, tief  bedauern  wird.  Die  Aufgabe,  ein  ganz  Italien  umfassendes  Organ 
volkskundlicher  Wissenschaft  zu  bieten,  hat  nun  die  Societä  di  Etnografia  Italiana 
mit  der  Zeitschrift  'Lares'  übernommen,  deren  erster  stattlicher  und  schön 
ausgestatteter  Band  im  Jahre  1912  erschien  (267  S.,  bei  E.  Loescher  &  Co. 
[W.  Regenberg]  in  Rom).  Vom  2.  Bande  liegt  mir  das  erste,  nach  Lorias  Tod 
von  Prof.  Francesco  Novati  herausgegebene  Heft  vor,  das  zweite  dürfte  nach 
einer  Nachricht  von  Herrn  Dr.  Ferri  auch  schon  erschienen  sein,  ist  mir  aber 
noch  nicht  zugegangen.  —  Den  Namen  der  Laren,  der  altitalischen  Haus-  und 
Flurgottheiten,  wählte  man,  einer  Anregung  Novatis  folgend,  im  Hinblick  auf  das 
Ziel  der  neuen  Zeitschrift,  die  Ursprünge  und  Entwicklungen  der  Überlieferungen 
und  Bräuche  und  des  äusseren  Lebens  des  italienischen  Volkes  zu  erforschen. 
Sie,  die  das  Leben  der  Vorfahren  von  der  Wiege  bis  zum  Grabe  begleiteten  und 
verehrt  wurden,  wo  nur  eine  menschliche  Ansiedlung  sich  erhob,  sollen  auch  auf 
dem  Wege  der  heutigen  Erforschung  des  Volkslebens  in  allen  seinen  Äusserungen 
schützend  und  segnend  voranschweben. 

Auch  in  bezug  auf  die  Lares  verbietet  es  sich,  im  Rahmen  dieser  kurzen 
Mitteilungen  auf  die  einzelnen  Aufsätze  näher  einzugehen.  Der  1.  Band  wird 
durch  einen  programmatischen  Artikel  von  Loria  eingeleitet,  in  dem  er  zunächst 
von  der  Entstehung  der  Societa  und  der  Ausstellung  spricht  und  der  Hoffnung 
Ausdruck  gibt,  dass  das  Nationalmuseum  bald  errichtet  werde.  Dann  erläutert  er 
den  Begriff  der  Etnografia  Italiana  als  einer  Wissenschaft,  die  sowohl  die  geistige 
wie  die  materielle  Kultur  des  italienischen  Volkes  umfasse;  das  letztgenannte 
Gebiet  sei  bis  jetzt  ziemlich  vernachlässigt,  jedenfalls  nicht  genügend  in 
organischem  Zusammenhang  mit  dem  ersten,  dem  der  'Polkloristen',  betrachtet 
worden.  Die  Behauptung,  dass  es  die  hier  definierte  Wissenschaft  bis  jetzt  in 
Italien  überhaupt  nicht  gegeben  habe,  klingt  zwar  kühn,  ist  aber  ohne  Zweifel 
schwer  zu  bestreiten,  da  es  eben  an  einer  Zentralorganisation  gefehlt  hat,  die  die 
Ergebnisse  der  verschiedenen  Wissensgebiete,  die  ein  einzelner  kaum  noch  zu 
umfassen  vermag,  sammelte  und  durch  eine  Zeitschrift  wie  durch  Kongresse  u.  dgl. 
einen  Austausch  der  Meinungen  und  Resultate  ermöglichte.  Pitres  Archivio  war 
fast  ausschliesslich  der  Folklore  im  engeren  Sinne  gewidmet;  Pitre  selbst  be- 
zeichnet bekanntlich  seine  Wissenschaft  als  Demopsicoiogia  und  versteht  darunter 
das  Studium  des  moralischen  und  materiellen  Lebens  der  zivilisierten,  nicht- 
zivilisierten  und  wilden  Völker,  zieht  also  die  Grenzen  ausserordentlich  weit.  — 
Es  folgt  eine  Übersicht  über  die  Verhandlungen  des  Kongresses  von  Mocchi,  eine 
Abhandlung  von  Baldasseroni  über  die  Frage  der  Anordnung  in  dem  zukünftigen 
Museum,  in  der  er  seinen  oben  gekennzeichneten  Standpunkt  —  Aufstellung  nach 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.   1914.    Heft  2.  14 


210 


Michel,  Hahn: 


Materien  —  verteidigt.  Dann  eine  Reihe  von  Aufsätzen,  deren  Titel  hier  folgen: 
A.  Baragiola,  Una  leggenda  di  Pormazza;  R.  Pettazzoni,  Sopravvivenze  del  rombo 
in  Italia;  L.  Salvalorelli,  Andrew  Lang;  G.  Nicasi,  Le  credenze  religiöse  delle 
popolazioni  dell' Alta  Valle  del  Tevere;  G.  A.  di  Cesarö,  II  valore  occulto  di 
superstizioni  ecc.;  A.  Solmi,  Sulla  interpretazione  dei  riti  nuziali;  A.  Baragiola, 
A  proposito  di  una  pubblicazione  di  Ewald  Paul;  A.  Balladoro,  Una  leggenda 
della  morte;  L.  Loria,  L' Etnografia  strumento  di  politica  interna  e  coloniale.  Den 
Schluss  machen  Bücherbesprechungen,  bibliographische  Notizen,  Anfragen  und 
Antworten.  —  Das  erste  Heft  des  zweiten  Bandes  bringt  zunächst  einen  Nachruf 
aufljoria  von  Baldasseroni  mit  zwei  Porträts  des  Verstorbenen,  dann  Abhandlungen 
von  F.  Novati,  La  raccolta  di  stampe  popolari  italiane  della  biblioteca  di  Fr.  Reina; 
A.  Levi.  Contributi  della  Societa  di  Etnografia  Italiana  allo  studio  del  diritto  e 
della  coscienza  giuridica  popolare;  G.  B.  de  Gasperi,  Appunti  sulle  abitazioni 
temporanee  della  Majella.  Es  folgen  einige  kurze  Mitteilungen,  Besprechungen  usw., 
wie  im  ersten  Bande. 

Der  Bezugspreis  der  Zeitschrift  (jährlich  16  Bogen  mit  16  Tafeln)  beträgt  für 
das  Ausland  17  Lire;  einzelne  Hefte  werden  für  7  Lire  abgegeben. 

Der  erste  Band  ist  mit  einer  schönen  Wiedergabe  der  Larenstatuette  aus  der 
Ambrosiana  geschmückt  und  trägt  als  Motto  das  uralte  'Enos  Lares  iuvate!',  die 
Bitte  um  Segen  und  Gedeihen.  Dass  diese  Bitte  in  Erfüllung  gehe  und  die  von 
Loria  mit  soviel  Liebe  ins  Leben  gerufene  und  geförderte  Bewegung  weitere 
Portschritte  mache  und  schöne  Früchte  trage,  ist  gewiss  der  Wunsch  aller  volks- 
kundlich Interessierten  und  Tätigen. 

Berlin-Pankow.  Fritz  Boehm. 


Bticheranzeigen. 


Friedrich  Seiler,  Die  Entwicklung  der  deutschen  Kultur  im  Spiegel  des 
deutschen  Lehnworts.  I.  Teil.  Die  Zeit  bis  zur  Einführung  des  Christen- 
tums. Dritte  gänzlich  umgearbeitete  und  stark  vermehrte  Auflage. 
Halle,  Waisenhaus  1913.   XL,  268  S.   8".   4,60  Mk. 

Dass  dies  vortreffliche  Werk,  auf  das  ich  in  dieser  Zeitschrift  schon  mehrfach 
empfehlend  hingewiesen  habe  (oben  21,  431  f.  23,  208 f.),  nach  verhältnismässig 
kurzer  Zeit  in  3.  Auflage  erscheinen  kann,  dazu  darf  man  den  Verfasser,  die 
Verlagsbuchhandlung,  aber  auch  das  Publikum  aufrichtig  beglückwünschen.  Der 
vorliegende  1.  Band  ist  gegen  die  2.  Auflage,  die  1905  erschien,  um  ungefähr  das 
Doppelte  gewachsen.  Seiler  hat  sich  die  Arbeit  nicht  leicht  gemacht  und  ist  den 
Forschungen  des  letzten  Jahrzehnts  mit  grosser  Gewissenhaftigkeit  gefolgt: 
namentlich  die  Arbeiten  von  Schrader,  Hoops,  Hirt,  Meringer,  Gramer,  Feist  und 
zuletzt  noch  Kauffnianns  'Deutsche  Altertumskunde'  haben  ihm  zahlreiche  An- 
regungen geboten  und  wichtiges  Material  vermittelt.  Vermisst  habe  ich  die 
Heranziehung  des  lehrreichen  und  scharfsinnigen  Buches  von  Gradmann:  'Der 
Getreidebau  im  deutschen    und    römischen  Altertum'  (Jena  1909).     Sehr  erweitert, 


Bücheranzeigen.  211 

zum  Teil  neu  geschrieben  wurden  die  Kapitel  über  Obstzucht  und  Gartenbau, 
Jagd  und  Fischfang,  Handwerk,  Hauswirtschaft  und  Körperpflege.  Überall  geht 
Wortforschung  mit  Sachforschung  Hand  in  Hand;  das  Urteil  ist  vorsichtig  und 
unbefangen,  die  Darstellung  schlicht  und  prunklos.  Seinen  Standpunkt  den  Fremd- 
wörtern gegenüber  hat  der  Vf.  mit  Recht  festgehalten;  es  fällt  ihm  nicht  schwer, 
die  stumpfen  Argumente  seiner  Gegner  zu  widerlegen.  Der  blinde  Chauvinismus, 
der  sich  zur  Zeit  bei  dem  gesteigerten  Nationalgefühl  auch  in  die  Wissenschaft 
eindrängt,  wird  von  Seiler  kühl  zurückgewiesen.  ^Die  Aneignung  der  römischen 
Zivilisation  ist  es,  die  unserem  Volke  Bestand  und  Dauer  verliehen  hat"  (S.  255). 
„Wir  müssen  zugestehen,  mag  es  uns  auch  leid  sein,  dass  es  eine  originelle 
deutsche  Kultur  nicht  gegeben  hat  und  nicht  geben  konnte,  dass  wir,  was  wir  ge- 
worden sind,  andern,  früher  als  wir  entwickelten  Völkern  verdanken"  (S.  256). 

Leipzig.  Hermann  Michel. 


Konrad  Hörmann,  Herdengeläute  und  seine  Bestandteile.    Hessische  Blätter 
für  Volkskunde  Bd.  XII  Heft  1—2.    Leipzig,  B.  G.  Teubner  1913.    99  S. 

Der  Verfasser  hatte  schon  früher  über  ein  eigenartiges  Gerät,  den  Schellen- 
bogen, an  dem  die  Kuhglocke  hängt,  gearbeitet,  das,  seit  wir  anfangen,  auch 
das  deutsche  Volk  und  seine  Geräte,  Trachten,  Wohnung,  Gebräuche  usw.  als 
einen  Gegenstand  der  wissenschaftlichen  Forschung  zu  betrachten,  die  Aufmerksam- 
keit der  Forscher  erregt  hatte.  Nun  hat  ihn  der  Erfolg  seiner  damaligen  Arbeiten 
veranlasst,  der  Musik  unserer  Herden,  ihrer  Verbreitung  und  Bedeutung  diese 
schöne  eingehende  und  mit  einer  Anzahl  interessanter  Bilder  auf  13  Tafeln  ge- 
schmückte Arbeit  zu  widmen,  zu  der  wir  uns  und  den  Verfasser  beglückwünschen 
können.  Als  ein  eigenartiges  aber  doch  nicht  unwichtiges  Ergebnis  ist  dabei 
festzustellen,  dass  eigentlich  nur  die  germanische  AVeit  Anspruch  auf  das  richtig 
abgestimmte  Herdengeläute  hat.  Wir  begegnen  freilich  schon  auf  altägyptischen 
Darstellungen  Rindern,  besonders  auch  Ochsen,  zu  deren  reichem  Schmuck  Gebilde 
gehören,  die  unseren  Glocken  verzweifelt  ähnlich  sehen,  aber  auch  wenn  wir  in 
Afrika  heute  noch  oft  Glocken,  und  zwar  ganz  kunstgerechte,  vom  afrikanischen 
Eisenschmied  mit  seiner  altbewährten  Kunst  hergestellte,  lautklingende  Glocken 
vorfinden,  so  haben  wir  hier  doch  das,  was  wir  unter  dem  deutschen  Ausdruck 
Geläut  verstehen,  keineswegs  anzunehmen.  Es  handelt  sich  hier  vielmehr  einmal 
um  einen  Schmuck,  und  das  ist  wohl  auch  die  Hauptabsicht  bei  dem  ägyptischen 
Behang,  andererseits  handelt  es  sich  um  ein  klingendes  Instrument,  das  ja  auch 
dem  Schmuck  dienen  kann,  ähnlich  wie  die  afrikanischen  Glockenspeere  oder  die 
zahlreichen  Glocken  und  Schellen,  die  der  Afrikaner  in  seinen  Schmuck,  be- 
sonders in  seinen  Tanzschmuck  einzieht,  endlich  ist  auch  noch  an  die  Glocke 
als  Amulett  zu  denken. 

Natürlich  ist  aber  die  Glocke  nicht  nur  ein  Schmuckgerät  mit  musikalischer 
Nebenbedeutung,  sondern  es  kommt  auch  in  P>age,  dass  der  Klang  der  Schelle 
oder  Glocke  das  Auffinden  des  Tiers  in  unübersichtlichem  Gelände  bedeutend 
erleichtern  kann,  und  in  dieser  Bedeutung  kommt  es  wirklich  auch  an  der  ersten 
beglaubigten  Stelle  vor.  Hier  handelt  es  sich  um  ein  Leittier,  das  durch  seine 
Schelle  das  Auffinden  der  ganzen  Herde  erleichtern  soll.  Solche  für  den  Menschen 
wie  für  die  übrigen  Tiere  der  Herde  nützlichen  und  wichtigen  Leitschellen  finden 
wir  ausserordentlich  weit  verbreitet,  bei  den  Kamelkarawanen  Asiens,  wie  bei  den 
Maultierzügen  des  romanischen  Amerikas.     Das  ist  aber   natürlich  etwas  ziemlich 

14* 


910  Hahn,  Feist: 

anderes  als  das  in  sich  melodisch  abgestimmte  Geläut  unserer  Rinderherden,  das 
in  den  Harzer  Sommerfrischen  vielfach  der  Kuhherde  den  Scherznamen  der  Orts- 
kapelle eingetragen  hat.  Hier  handelt  es  sich  um  ein  echtes  Erzeugnis  des  ger- 
manischen Volksgeistes,  das,  wenn  es,  wie  es  sein  sollte,  mit  richtigem  Musiksinn 
zusammengestellt  ist,  entschieden  ein  reizvolles,  den  Genuss  erhöhendes  Stück  der 
Landschaft  bildet. 

H.  ist  auch  auf  die  schwierige  und  auch  technisch  wichtige  Einteilung  der 
Rollen,  Schellen  und  ihre  sonstige  Ausgestaltung  eingegangen  und  kommt  dabei 
zu  interessanten  Schlüssen.  Für  die  Volkskunde  wäre  es  vielleicht  zu  empfehlen, 
dass  irgend  ein  musikalischer  Sachverständiger,  der  Naturgefühl  und  Liebe  zu 
den  Tieren  verbindet,  sich  einmal  der  Stimmung  der  Glocken  annimmt  und  für 
die  Harmonie  unseres  Herdengeläutes  sorgt,  soweit  es  noch  vorhanden  ist  oder 
mit  der  neuen  Richtung  gegen  zuviel  Stallfütterung  wieder  auftritt.  Volkskundlich, 
besonders  aber  im  Interesse  der  Wohlfahrtspflege  ist  mir  ein  sehr  bezeichnender 
Umstand  aufgefallen,  der  uns  zugleich  als  Muster  dafür  gelten  kann,  mit  welch 
naiver  und  doch  sachlich  zweckentsprechender  Klugheit  unser  Volk  mitunter  seine 
Gebräuche  ausgestaltet:  Die  erste  literarische  Erwähnung  der  Schelle  ist,  wie 
gesagt,  eine  Stelle,  in  der  eine  empfindliche  Schädigung  des  Nachbarn  zugleich 
mit  der  Entwendung  eines  vielleicht  beneideten  Geräts  beim  Diebstahl  der  Schelle 
des  Leittiers  zusammengeht.    Hirten  sind  vielfach  Jungvolk,  und  Jugend  hat  keine 

Tugend. 

Gleichwohl  war  das  gegenseitige  Entwenden  der  Viehglocken,  wenn  es  zum 
Sport  wurde,  doch  sicher  oft  mit  ärgerlichen  Störungen  des  Viehtriebs  verknüpft. 
Da  war  es  denn  eine  nützliche  und  einfache  Einrichtung,  wenn  mit  dem  Amt  des 
Hirten  auch  die  Beschaffung  des  Geläuts  verbunden  wurde  und  so  eine  feste 
Kaste,  die  ein  grosses  Gebiet  in  einem  engeren  Verbände  unter  ihrer  Obhut  hatte, 
das  Eigentum  an  diesem  gefährdeten  Besitz  in  wenigen  festen  Händen  vereinigte. 

Für  die  Volkskunde  sehr  wesentlich  ist  dann  noch  die  Rolle,  welche  die 
Viehglocken  in  dem  Gebiet  des  schwäbischen  und  bayerischen  Stammes  in  weiterem 
Sinne  in  jenen  jetzt  überall  nur  in  Überlebseln  und  in  zersprengten  und  dem  Volke 
trotz  aller  Wichtigkeit,  ja  Heiligkeit  selbst  unverständlichen  Resten  erhaltenen 
Bräuchen  spielen,  die  in  dem  Berchtenlaufen,  in  den  Fastnachts- und  Frühlings- 
bräuchen, dem  Glöcklerlaufen  usw.  erhalten  sind  und  bei  denen  die  Herden- 
glocken als  Teile  der  herkömmlichen  Kostüme  Schmuck  und  musikalische  Begleitung 
hergeben  müssen. 

Weil  die  romanische  Welt  das  Herdengeläute  in  unserem  Sinne  nicht  gekannt 
hat,  ist  es  natürlich  ganz  ausgeschlossen,  dass,  wie  kurze  Zeit  eine  jetzt  wohl 
schon  überwundene  Richtung  behaupten  wollte,  hier  Reste  vorliegen  sollten,  die 
auf  ursprünglich  römische  Gebräuche  zurückgingen,  es  wird  sich  vielmehr  wirklich, 
wie  die  ältere  Zeit  das  angenommen  hatte,  um  Reste  einer  echt  germanischen 
Acker-  und  Fruchtbarkeits-Religion  gehandelt  haben.  Es  ist  jedenfalls  sehr  zu 
hoffen,  dass  Th.  von  der  Goltz  in  seiner  'Geschichte  der  Deutschen  Landwirt- 
schaft' (Berlin  1902—03)  als  der  letzte  behauptet  hat,  vor  den  Römern  könne 
von  deutscher  Landwirtschaft  nicht  die  Rede  sein.  Die  vorgeschichtlichen  Funde 
widerlegen  eine  solche  Behauptung  auf  das  allerschärfste.  und  diese  Arbeit 
beweist  ja  auch,  wie  in  der  Herdenwirtschaft  das  germanische  Volk  schon  in 
ältester  Zeit  weit  von  Rom  abführende  Wege  gewandert  war.  Dem  Verfasser  der 
gründlichen,  fleissigen  und  vielfach  so  anregenden  Arbeit  ist  jedenfalls  eine  baldige 
Vollendung  des  noch  ausstehenden  Teils  von  Herzen  zu  wünschen. 

Berlin.  Eduard   Hahn. 


Bücheranzeigen.  213 

Richard  Thurnwald,  Forschungen  auf  den  Salomoinseln  und  dem  Bismarck- 
Archipel.  I.  Lieder  und  Sagen  aus  Buin.  III.  Volk,  Staat  und  Wirt- 
schaft. Mit  Unterstützung  der  Baessler-Stiftung  herausgegeben  im  Auf- 
trage der  Generalverwaltung  der  kgl.  Museen  zu  Berlin.  Anhang  zu 
Band  I:  Die  Musik  auf  den  Salomo- Inseln  von  E.  M.  Hornbostel. 
Band  I  mit  14  Tafeln,  3  Karten  uud  42  Notenbeispielen;  Band  III  mit 
1  Lichtdrucktafel  und  70  Stammtafeln.  Berlin,  Dietrich  Reimer  (Ernst 
Vohsen)  1913.    XX,  538  S.,  YIII,  92  S.     32  und  18  Mk. 

Nach  der  Veröffentlichung  von  verschiedenen  Einzelaufsätzen  in  ethnologischen, 
rechtswissenschaftlichen  und  kolonialen  Zeitschriften  über  die  Ergebnisse  seiner 
Forschungsreisen  in  der  Südsee  während  der  Jahre  1906 — 1909  gibt  uns  Vf.  in  dem 

I.  Bande  des  vorUegenden,  musterhaft  ausgestatteten  Werkes  nunmehr  eine  grosse 
Sammlung  von  Liedern  und  Sagen  aus  Buin,  dem  südöstlichen  Ende  der  Insel 
Bugainville.  Sie  ist  eingeteilt  in  L  Männerlieder,  a)  Politische  Lieder  (in  weitestem 
Sinne),      b)    Preundschaftslieder,     c)    das    Verhältnis    zum    anderen    Geschlecht. 

II.  Frauenlieder,  a)  zur  Jünglingsweihe,  b)  gelegentlich  der  Heirat,  c)  Liebes- 
lieder, d)  Schmählieder.  III.  Sagen,  a)  Tod  und  Krankheit,  b)  kosmische  und 
atmosphärische  Erscheinungen,  c)  die  Erscheinungen  des  Erdbildes,  d)  Pflanzen 
und  Tiere,  e)  Kultur-  und  Heilbringersagen,  f)  Vorbedeutungen,  Verbote,  Zauber. 
Im  ganzen  werden  139  Stücke  mitgeteilt.  Der  Anhang  über  die  Musik  ist  auf 
dem  Material  des  Phonogramm-Archivs  des  psychologischen  Instituts  der  Universität 
Berlin  aufgebaut  und  umfasst  ausser  einer  Beschreibung  der  Musikinstrumente 
und  Melodien  nebst  42  Notenbeispielen  auch  eine  kurze  musikwissenschaftliche  und 
ethnologische  Betrachtung. 

Die  Lieder  werden  im  Originaltext  mit  Interlinearversion  und  einer  freien 
Übersetzung  mitgeteilt,  und  zu  jedem  wird  eine  Erläuterung  über  Herkunft,  Ver- 
anlassung, Inhalt  usw.  des  Liedes  gegeben.  Die  Entstehung  und  Abfassung  der 
Lieder  kann  manchen  Wink  für  den  Literaturforscher  abgeben,  der  dem  Ursprung 
unseres  Volksgesangs  in  älterer  und  neuerer  Zeit  nachgehen  will.  Ich  weise  auf 
das  Abfassen  eines  Liedes  im  Auftrage  eines  Bestellers,  auf  das  Zusammenwirken 
mehrerer  Autoren,  auf  die  Anspielungen  mannigfacher  Art  u.  dgl.  mehr  hin. 

Wenn  die  Lieder  die  Beziehungen  von  Mensch  zu  Mensch  darstellen,  so 
geben  die  Sagen  diejenigen  zur  Natur  wieder.  Hier  werden  nur  in  vier  Fällen 
die  Urtexte  geboten,  für  die  übrigen  Sagen  schien  dem  Vf.  die  Übersetzung  zu 
genügen.     Doch  fügt  er  den  einzelnen  Sagen  seine  Bemerkungen  bei. 

Auf  die  Mitteilung  einzelner  Stücke  oder  auch  nur  den  Hinweis  auf  ihren 
Inhalt  muss  ich  hier  verzichten;  die  Auswahl  könnte  nur  rein  willkürlich  sein. 
Nur  auf  einen  Punkt  möchte  ich  aufmerksam  machen:  die  Belehrung,  die  Sprach- 
forscher aus  den  Beobachtungen  und  Mitteilungen  des  Vfs.  über  die  abweichenden 
Sprachformen  der  älteren  und  jüngeren  Generation  in  den  Liedern  und  Sagen 
ziehen  können.  Die  Mühe,  die  ihre  Aufzeichnung  den  Vf.  kostete,  kann  jemand 
nachfühlen,  der  nur  einmal  versucht  hat,  primitive  Menschen  (selbst  Europäer) 
auch  nur  zur  Mitteilung  einzelner  Wörter  ihrer  Sprache  zu  veranlassen. 

Der  3.  Band  bringt  das  soziologische  Material,  für  dessen  Verarbeitung  Vf. 
durch  vorhergehende  vergleichende  Studien  geschult  war.  Den  Hauptinhalt  bilden 
70  Stammtafeln,  denen  die  Erläuterungen  aus  buchtechnischen  Gründen  voran- 
gestellt  sind.      Sie  gliedern  sich    in   I.  Lebensabschnitte,    a)  Pubertät,    b)  Heirat, 


214 


Feist: 


c)  Tod;  IL  Wirtschaft  und  Staat;  III.  Begebenheiten;  IV.  Statistik  zu  den  Stamm- 
tafeln. —  Auch  bei  diesem  Band  muss  ich  es  mir  leider  versagen,  auf  die  hoch- 
interessanten Einzelheiten  einzugehen  (Heiratsformen,  Totenverbrennung  und  Be- 
stattung, Kampfesweise  im  Krieg,  Strafen  usw.),  die  eine  Fundgrube  für  den 
Folkloristen  bilden. 

Ausführliche  Register  erleichtern    bei  beiden  Bänden    die  Auffindung  der  be- 
handelten Materien. 

Berlin.  Sigmund  Feist. 


William  Thalbitzer,  The  Ammassalik  Eskimo.  Contribiitions  to  the 
Ethnology  of  the  East  Greenland  Natives.  Part  I.  (Meddelelser  cm  Grön- 
land, vol.  XXXIX.)  Published  at  the  Expense  of  the  Carlsberg  Fund. 
Copenhagen,  Bianco  Lund  1914.  XIX,  755  S.  Lex.  398  Abbildungen. 
1  Karte. 

Alle  Kolonien  besitzenden  Völker  betrachten  es  als  dringende  Aufgabe,  von 
dem  schwindenden  kulturellen  Eigenbesitz  der  primitiven  Völker  durch  Sammlungen 
und  Publikationen  der  Nachwelt  wenigstens  das  noch  jetzt  Vorhandene  zu  retten. 
Denn  es  gibt  keine  Gegend,  wohin  die  europäische  Kultur  nicht  unheilbringend 
einzieht,  und  die  Folge  ihres  Vordringens  ist  die  Vernichtung  der  Eigenart  der 
mit  ihr  in  Berührung  kommenden  Völker  und  leider  auch  nicht  selten  der  Unter- 
gang ganzer  Rassen.  Wenn  die  in  vorliegendem  Werk  behandelten  Eskimos  auch 
eine  Sonderstellung  einnehmen,  was  ihren  kulturellen  Besitz  angeht,  so  sind  doch 
durch  die  Tätigkeit  der  Missionen  ihre  religiösen  Vorstellungen  und  überlieferten 
Gebräuche  im  Schwinden  begriffen,  und  deren  Sammlung  ist  daher  ein  höchst  ver- 
dienstliches Unternehmen.  Die  Eskimokultur  nämlich  ist  durch  ihre  unübertreff- 
liche Anpassung  an  die  klimatischen  Verhältnisse  gegen  den  europäischen  Einfluss 
geschützt;  ja,  es  müssen  sich  sogar  die  Europäer  ihr  unterwerfen  (in  Kleidung, 
Wohnung,  Bootsbau  usw.). 

Thalbitzer  hat  in  seinem  Werk  die  Ergebnisse  dreier  dänischer  Expeditionen 
verarbeitet:  1.  die  des  Kapitäns  Holm,  des  Entdeckers  der  Ammassalik-Eskimo 
(1883—1885),  2.  die  des  Kapitäns  Amdrup  (1898—1900)  und  3.  seine  eigene 
(1905 — 1906).  Holm  hatte  über  seine  ethnographischen  Ergebnisse  bereits  in  dem 
Werke:  'Den  Ostgrwnlandiske  Expedition  (1888—1889)'  berichtet,  und  der  Inhalt 
dieses  Buches  ist  in  Thalbitzers  Publikation  ebenso  wie  Amdrups  ethnographische 
Sammlung  verarbeitet  und  ergänzt  worden.  Ausserdem  hat  Holm  seine  Mithilfe 
bei  der  Abfassung  und  Fertigstellung  des  vorliegenden  Buches  geboten.  Die 
englische  Übersetzung  wurde  von  den  Herren  G.  Grove  und  zum  kleineren  Teil 
von  H.  M.  Kyle  angefertigt. 

Das  Buch  zerfällt  in  7  Hauptteile:  1.  Ethnologische  Skizze  der  Ammassalik- 
Eskimos  von  G.  Holm,  2.  Beiträge  zur  Anthropologie  der  Ostgrönländer  von  Sören 
Hansen,  3.  Listen  der  Einwohner  der  Ostküste  von  Grönland  aus  dem  Jahre  1884 
von  Joh.  Hansen,  4.  der  ostgrönländische  Dialekt,  5.  Legenden  und  Erzählungen 
von  Ammassalik  von  G.  Holm,  6.  Anmerkungen  dazu  von  H.  Rink,  7.  ethno- 
graphische Sammlungen  aus  Ostgrönland,  beschrieben  von  W.  Thalbitzer. 

Über  den  Inhalt  des  Werkes  eingehend  zu  berichten  ist  bei  seinem  Umfang 
und    dem    für    die  Anzeige  zur  Verfügung  stehenden  Raum    nicht   möglich.      Ich 


Bücheranzeigen.  215 

kann  nur  einige  besonders  bemerkenswerte  Punkte  hervorheben.  Die  anthropo- 
logischen Messungen  waren  nur  an  den  Lebenden  möglich,  da  die  Ammassalik 
die  Gewohnheit  haben,  ihre  Toten  in  das  Meer  zu  werfen!  Der  kälteste  Monat 
ist  Februar  mit  einer  Durchschnittstemperatur  von  - 10,8°  C,  der  wärmste  der 
Juli  mit  +  6,2  °  C.  Einmal  während  eines  Föhnsturms  wurden  25,2  °  C  im  Juli 
notiert;  andererseits  als  niedrigste  Temperatur  —30,7  °  C  im  Februar.  Abrupte 
Temperaturschwankungen  sind  nichts  Seltenes.  61  mal  im  Jahre  wurde  Nordlicht 
beobachtet.  Das  Treibeis  verschwindet  Anfang  bis  Ende  August  von  der  Küste, 
die  bis  in  den  November  eisfrei  bleibt.  Ausser  Weidengestrüpp  und  Zwergbirken 
gibt  es  keine  Bäume  auf  der  Insel;  dagegen  gibt  es  im  Frühjahr  ziemlich  viel 
Heidekraut  und  Moosarten,  auch  sonstige  Pflanzen  (Beerenarten),  wenn  der  Schnee 
geschmolzen  ist. 

Der  Name  Ammassalik  (Angmagsalik)  wird  von  den  Eingeborenen  aus 
einem  abergläubischen  Grunde  nicht  mehr  gebraucht.  Der  Fjord  heisst  jetzt 
Kulusuk.  Sie  selbst  nennen  sich  inik  oder  tcäk  'Mensch'.  Sie  sind  mittelgross, 
schlank,  schwarzhaarig.  Die  Männer  schneiden  ihr  Haar  so  wenig  wie  die  Frauen; 
das  der  ersteren  ist  indes  länger,  auch  haben  sie  gut  entwickelte  Barte.  Bei 
Neugeborenen  findet  sich  der  sog.  Mongolenfleck.  Die  Frauen  sind  nahezu  alle 
tatuiert,   die  Männer  seltener. 

Die  Winterwohnung  wird  aus  Rasen  und  Steinen  auf  abschüssigem  Boden 
nahe  dem  Meere  erbaut;  Fenster  und  Eingangsweg  liegen  nach  dem  Meer,  die 
Wände  liegen  zum  Teil  unter  der  Erde.  Das  Haus  ist  einräumig,  24  bis  25  Fuss 
lang  und  12  bis  16  Fuss  breit,  je  nach  der  Zahl  der  zusammenwohnenden  Familien. 
Die  grösste  Höhe  ist  6V2  Fuss.  Das  Firstdach  ruht  auf  Pfosten.  Zum  Schlafen 
erhält  jede  Familie  einen  entsprechenden  Raum  auf  der  im  hinteren  Teil  des 
Hauses  befindlichen  erhöhten  Plattform.  Feuer  wird  durch  Drehen  von  Hölzern 
erzeugt. 

Da  oft  mehrere  Familien  und  Generationen  ein  Haus  teilen,  so  ist  es  nötig, 
dass  das  soziale  Leben  durch  eine  autoritative  Persönlichkeit  und  bestimmte 
Satzungen  geregelt  wird.  Wenn  man  die  Sommerzelte  bezieht,  lebt  nur  die 
Grossfamilie  zusammen.  Familienbande  sind  bedingt  durch  Blutsverwandtschaft; 
die  Heirat  ist  infolgedessen  kein  sehr  festes  Band,  zumal  solange  noch  keine 
Kinder  da  sind.  Wenn  eine  Frau  schwanger  ist,  muss  sie  ihre  Speisen  selbst 
kochen  und  so  noch  zwei  Monate  nach  der  Geburt.  Männer  mit  zwei  Ehefrauen 
kommen  vor,  was  erklärlich  ist,  wenn  man  den  Prozentsatz  der  Frauen  (114)  zu 
den  Männern  (100)  im  Auge  behält.  Diebstahl  und  Mord  sind  nicht  ungewöhnlich 
und  werden  oft  zugegeben;  sie  bleiben  häufig  straflos. 

Aus  dem  Glauben  der  Ammassaliks  ist  hervorzuheben,  dass  der  Mensch  ihrer 
Ansicht  nach  aus  drei  Teilen  besteht:  Körper,  Seele  und  Name.  Dass  man  dem 
Namen  eine  Sonderexistenz  beilegt,  ist  für  die  vergleichende  ethnologische  Forschung 
von  Bedeutung.  Die  Seele  wird  körperlich  gedacht,  von  der  Grösse  eines  Fingor- 
glieds, einer  Hand,  eines  Sperlings.  Ein  Mensch  kann  auch  verschiedene  Seelen 
haben,  die  in  den  Körperteilen  ihren  Sitz  haben.  Auch  den  Namen  stellt  man 
sich  körperlich  vor,  er  ist  so  gross  wie  der  Mensch.  Ein  Ammassalik  scheut  sich, 
seinen  eigenen  Namen  auszusprechen.  In  ihrem  Geisterglauben,  ihrem  Amulett- 
und  Zauberwesen  usw.  stehen  sie  auf  der  Stufe  sehr  primitiver  Völker. 

Die  vorangehenden  Bemerkungen  sind  einzelne  aus  dem  ersten  Teil  des  Werkes 
entnommene  Züge.  Es  würde  den  Rahmen  einer  Anzeige  weit  überschreiten, 
wenn  ich  die  übrigen  Teile  in  der  gleichen  Weise  berücksichtigen  wollte.  Ich 
erwähne    daher   aus    ihrem  reichen  Inhalt  nur  noch    einzelne  Punkte:    Das  Wort- 


216  Feist,  Gebliardt: 

Verzeichnis  des  Ammassalik-Dialekts  auf  zelin  Seiten  (213—223)  gibt  den  Vor- 
stellungsinhalt  des  Eskimostammes  übersichtlich  wieder.  Charakteristisch  darin 
ist  z.  B.,  dass  drei  verschiedene  Wörter  für  Eis  vorhanden  sind,  die  'Landeis', 
'junges  Eis'  und  'kalbendes  Eis'  bedeuten.  Eine  ganze  Menge  Ausdrücke  sind 
auch  für  die  "Winde  vorhanden.  Die  im  VI.  Teil  enthaltenen  Sagen  der  Ammassalik- 
Eskimos  sind  von  G.  Holm  mit  Hilfe  eines  Dolmetschers  (Johann  Petersen)  aus 
dem  Munde  der  Erzähler  aufgezeichnet  worden.  Die  Stoffe  spiegeln  naturgemäss  die 
Lebensbedingungen  der  Eskimos  wieder;  sie  drehen  sich  hauptsächlich  um  Jagd- 
erlebnisse; aber  auch  Mondsagen  und  schaurige  Erzählungen,  wie  das  irrtümliche 
Verspeisen  eigener  Verwandten,  fehlen  nicht. 

Den  Hauptinhalt  des  Werkes  bildet  die  eingehende  Schilderung  der  ethno- 
graphischen Sammlungen  durch  W.  Thalbitzer  (S.  31)9 — 753).  Ein  auch  nur 
einigermassen  vollständiger  Bericht  über  diesen  Teil  des  Werkes  würde  ein  kleines 
Buch  werden.  Ich  kann  also  nur  auf  das  Original  verweisen.  Ausser  der  Be- 
schreibung der  Objekte  enthält  Thalbitzers  Beitrag  auch  geschichtliche  Reminiszenzen 
der  Eskimos  über  ihre  eigene  Vergangenheit  und  ihr  erstes  Zusammentreffen  mit 
Europäern.  Eine  genaue  Karte  des  Ammassalik-Gebietes  ist  dem  Werke  bei- 
gegeben, das  als  eine  Musterleistung  bezeichnet  werden  darf  und  eine  reiche 
Quelle  der  Belehrung  für  den  Ethnographen  bilden  wird. 

Berlin.  Sigmund  Feist. 


Conrad  Müller,  Altgermauische  Meeresherrschaft.  Gotha,  F.  A.  Perthes 
1914.  XII,  487  S.  8".  Mit  13  Bildtafeln  und  2  Karten  [sowie  einer 
Umschlagszeichnung].     Geh.  10,  geb.  11,50  Mk. 

Angeregt  durch  die  Erfolge,  die  das  neugeeinte  Deutsche  Reich  zur  See  er- 
rungen hat,  unternimmt  es  der  Verfasser,  alles  quellenmässig  zusammenzustellen, 
was  wir  von  den  Seefahrten  germanischer  Völker  bis  ums  Jahr  1200  und  von  der 
Gründung  von  Staaten  an  den  von  ihnen  befahrenen  Küsten  wissen,  mit  Einschluss 
der  Geschichte  des  altrussischen  Warägerstaates  und  derjenigen  des  erst  auf  dem 
Umweg  über  die  französische  Normandie  gegründeten  Normannenstaats  in  Unter- 
italien und  der  Vorentdeckung  Amerikas  durch  die  von  Grönland  aus  hinüber- 
gekommenen Isländer.  Bildet  den  Beschluss  des  Buches  ein  Abschnitt  über  See- 
heldentum in  der  altdeutschen,  angelsächsischen,  kirchlichen  und  altnordischen 
Dichtung,  so  wird  es  eingeleitet  durch  drei  sozusagen  vorgeschichtliche  Ab- 
schnitte, von  denen  der  1.  die  Urzeit,  vorgeschichtliche  Funde,  Einüuss  des  Nord- 
meeres  auf  die  Germanen  in  anthropogeographischer  Hinsicht,  der  111.  die  ge- 
schichtlichen Anfänge,  wie  z.  B.  die  Reisen  des  Pytheas,  den  altgermanischen 
Bootsbau  und  den  alten  Bernsteinhandel,  der  für  uns  wichtigste  zweite  'See- 
mythische Niederschläge'  behandelt.  Hier  bespricht  Müller  nicht  nur  die  nieder- 
rheinischen Inschriften  mit  dem  Namen  der  Nehalennia,  nicht  nur  die  Zeugnisse 
dos  altisländischen  Schrifttums  für  Verehrung  Odins,  Thors,  der  Frigg  und  Freyja 
durch  Seefahrende  und  den  Bericht  des  Tacitus  über  das  Nerthus-Eiland  der 
Ingwäonen,  sondern  auch  alles,  was  ältere  und  spätere  Überlieferung  und  junger 
Seemannsglaube  uns  über  Schiffsbestattungen,  Tierdämonie ^),  Meerriesen,  See-Eiben 

1)  Die  auf  Tafel  V  abgebildeten  gespenstischen  Wale  sind  übrigens  nicht,  wie  man 
nach  den  unvollständigen  Ursprungsbezeichnungen  glauben  könnte,  zum  ersten  Male  bei 
K.  v.  Gesner  zu  sehen,  sondern  schon  bei  Claus  Magnus,  Historia  de  gentibus  Septen- 
trionalibus,  Rom  1555, 


Bücheranzeigen.  —  Notizen.  217 

und  Klabautermann,  über  Wunderschiffe  und  Schiffsbeseelungen  wissen  und  ahnen 
lassen.  Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  der  Verfasser  eines  so  reichhaltigen 
Werkes  nicht  bei  allen  Punkten  auf  die  Quellen  zurückgehen  kann,  wo  er  ent- 
gegenstehende Ansichten  anderer  bekämpft,  sondern  sich  vielfach  auf  eigene  und 
fremde  Vorarbeiten  stützen  muss,  die  vollständig  in  der  Bibliographie  am  Schlüsse 
nachgewiesen  sind.  Aus  dieser  ersieht  man,  dass  ihm  leider  einige,  wenn  auch 
im  ganzen  wenig  wichtige  Arbeiten  entgangen  sind,  und  sie  gibt  auch  die  Er- 
klärung dafür,  dass  seine  Quellenzitate,  teilweise  aus  recht  veralteten  Ausgaben 
entnommen,  oft  recht  wenig  gleichmässig  gestaltet  sind,  z.  B.  was  die  Wiedergabe 
der  Namen  oder  die  Schreibung  des  fremdsprachlichen  Textes  anlangt.  Auch  die 
Gestaltung  des  deutschen  Textes  ist  nicht  immer  so  glatt  wie  zu  wünschen  wäre 
(Satzungetürae,  regelmässig  wie  statt  als  beim  Komparativ). 

Doch  wir  wollen  darüber  und  über  gelegentliche  kleine  Missverständnisse 
der  Quellen  nicht  mit  dem  Verfasser  rechten,  der  uns  ein  so  lehrreiches  und 
für  alle  Kreise  der  Gebildeten  verständliches  und  belehrendes  Buch  beschert  hat, 
dessen  Lesbarkeit  dadurch  besonders  erhöht  ist,  dass  die  gelehrten  Hinweise  ohne 
Unterbrechung  des  Textes  am  Schlüsse  vereinigt  sind. 

Mit  gerechtem  Stolze  sehen  wir  an  uns  vorüberziehen,  was  unsere  und  unserer 
nächsten  Stammesverwandten  Vorfahren  zur  See  geleistet  und  errungen  haben,  und 
mit  Wehmut  stellen  wir  uns  vor,  was  sie  hätten  erringen  und  vor  allem  erhalten 
können,  wenn  die  vielen  planlos  verzettelten  Einzelunternehmungen  nach  einheit- 
lichen Zielen  und  unter  einheitlicher  Führung  wären  unternommen  worden. 

Erlangen.  August  Gebhardt. 


Notizen. 


A.  Abt,  Die  volkskundliche  Literatur  des  Jahres  1911.  Ein  Wegweiser,  im  Auf- 
trage der  Hessischen  Vereinigung  für  Volkskunde  und  mit  Unterstützung  der  dem  Ver- 
band deutscher  Vereine  für  Volkskunde  angehörenden  Vereine  herausgegeben.  Leipzig 
und  Berlin,  B.  G.  Teubner  1913.  VI,  134  S.  8°.  Geh.  5  Mk.  —  üas  Wiedererscheinen 
der  Zeitschriftenschau  der  Hessischen  Blätter  für  Volkskunde  in  veränderter  Gestalt  nach 
sechsjähriger  Pause  ist  sicher  von  allen  Freunden  der  Volkskunde  mit  grosser  Be- 
friedigung begrüsst  worden.  Ist  es  doch  heute  kaum  noch  möglich,  ohne  einen  solchen 
Wegweiser  durch  das  unübersehbare  Gebiet  der  Veröffentlichungen  an  das  erwünschte 
Ziel  zu  gelangen.  Daher  danken  wir  dem  Herausgeber  und  seineu  Mitarbeitern  für  die 
geleistete  Arbeit,  die  bei  2259  Nummern  gewiss  nicht  klein  war.  Verschiedene  Mängel 
dieses  ersten  Bandes,  den  der  Verf.  selbst  mehr  als  Muster  und  Probe  denu  als  ab- 
gerundetes Werk  bezeichnet,  werden  hoffentlich  in  den  folgenden  Jahrgängen  abgestellt 
Averden.  Dass  auf  der  Marburger  Verbandstagung  beschlossen  wurde,  künftig  die  Ab- 
teilungen 'Mundarten'  und  'Indogermanisch'  auf  das  volkskundlich  Wertvolle  zu  be- 
schränken s.  oben  23,  441),  ist  sehr  erfreulich.  Vielleicht  lässt  sich  auch  in  den  Notizen 
über  nichtdeutsche  Volkskunde  grössere  Beschränkung  üben;  hier  Vollständigkeit  erzielen 
wollen,  hiesse  ja  doch  den  gegebenen  Kahmen  sprengen.  Die  auf  diese  Weise  gemachten 
Ersparnisse  an  Arbeit  und  Raum  müssten  der  Anlegung  eines  Sachregisters  zugute 
kommen,  dessen  Fehlen  der  grösste  Mangel  des  Buches  ist.  Auch  die  Liste  der  exzerpierten 
Zeitschriften  ist  noch  ergänzungsbedürftig,  so  fehlen  'Unser  Egerland'  und  'Schweizer 
Archiv  für  Volkskunde'.  Bei  nr.  1426  (Storck,  Totenspruch)  fehlt  die  Ergänzung  von 
Roediger,  oben  21,  281.     [F.  B.] 

P.  Bahlmann,  Ruhrtal-Sagen  von  der  rheinisch -westfälischen  Grenze.  Münster, 
F.  Coppenrath  1913.    62  S.   8".  0,60  Mk.    —   Da   die  mündliche  Überlieferung    an   Sagen 


218 


Notizen. 


nichts  'mehr  hergab,  musste  B.  sich  darauf  beschränken,  die  Literatur  von  Cäsarius  von 
Heisterbach  bis  auf  Müller  von  Königswinter  und  H.  Kämpchen  auszuziehen  und  den 
Ertrag  zu  buchen.     [J.  B.] 

0.  Bö  ekel,  Psychologie  der  Volksdichtung.  Zweite  verbesserte  Auflage.  Leipzig 
und  Berlin,  B.  G.Teubner  1913.  VI,  419  S.  8°.  Geh.  7  Mk.,  gebd.  8  Mk.  —  "Wir  freuen  uns, 
das  stoffreiche  und  anregende  Buch  in  Neuauflage  vorliegen  zu  sehen.  Der  Grundcharakter 
ist  der  gleiche  geblieben,  so  dass  die  Ausführungen  Beuschels  zur  ersten  Auflage  (oben  17, 
116  ff.)  grösstenteils  auch  für  die  zweite  gelten,  z.  B.  geht  der  Verf.  auch  hier  nicht  auf  die 
Umgestaltungen  von  Kunstliedern  im  Volksmunde  um,  aus  denen  man  für  die  Psychologie 
des  Volksliedes  soviel  lernen  kann.  Auch  B.s  Anschauung  vom  Optimismus  des  Volks- 
liedes ist  die  gleiche  geblieben.  Mehrere  Einzelbemerkungen  Pteuschels  sind  berück- 
sichtigt worden,  so  der  Hinweis  auf  0.  Weisers  Aufsatz  über  die  Umschreibung  des  Be- 
griffes 'niemals'  (S.  198).  Bei  der  Behandlung  der  Spottlieder  vermisst  man  die  Zitierung 
von  A.  Kellers  Buch  über  die  Handwerker  im  Volkshumor  (Leipzig  1912).  Zum  Kutschke- 
lied  (S.  318 f.)  ist  die  Mitteilung  oben  22,  288  nachzutragen.  Über  die  Zukunft  des  Volks- 
gesanges kann  man  vielleicht  heute  bei  dem  nicht  gering  anzuschlagenden  Einfluss  der 
Wandervogel- und  ähnlicher  Bewegungen,  dem  Wiederaufkommen  des  Lauten-  und  Gitarren- 
spieles noch  hoffnungsvoller  denken,  als  der  Vf.  (S.  403  ff.;  406).  Wir  wünschendem 
Bache,  aus  dem  soviel  ehrliche  Liebe  zum  Volke  und  zur  Natur  spricht,  auch  künftig 
eine  recht  weite  Verbreitung.     [F.  B.] 

P.  Borchardt,  Bibliographie  de  l'Angola.  Brüssel  und  Leipzig,  Misch  &  Thron 
[1913].  IV,  61  S.  8'^.  3  Fr.  —  Diese  äusserst  reichhaltige  Bibliographie  der  portugiesischen 
Kolonie  in  Südwestafrika  bildet  das  zweite  Heft  der  unten  näher  beschriebenen  biblio- 
graphischen Monographieen  des  Solvay-Institutes  s.  die  Notiz  Steinmetz).  Die  Abteilung 
'Anthrophologie  et  ethnographie'  (S.  42—44)  wird  auch  für  die  vergleichende  Volkskunde 
als  wertvolles  Hilfsmittel  begrüsst  werden.     [F.  B.] 

R.  Braun,  Handwerk  hat  goldenen  Boden  (Jungdeutsche  Bücherei  Bd.  7).  Langen- 
salza, J.  Beltz  1914.  VIII,  150  S.  gr.  8".  Gebd.  3  Mk.  —  Im  Auftrage  des  Arbeits- 
ausschusses für  Jugendpflege  im  Regierungsbezirk  Merseburg  gibt  E.  H.  Bethge  diese 
Sammlung  volkstümlicher  Jugendbücher  heraus,  deren  jüngste  Erscheinung  hier  vorliegt. 
Die  Bände  sind  sehr  hübsch  ausgestattet,  enthalten  viele  Bilder  auf  Kunstdruckpapier  und 
erscheinen  zu  dem  Einheitspreise  von  3  Mk.  Bd.  1—4  und  6  sind  geschichtlichen  Inhalts, 
während  der  vorliegende  und  der  unten  angezeigte  fünfte  von  MüUer-Rüdersdorf  einzelne 
Stände  und  Lebensformen  unseres  Volkes  zum  Gegenstande  haben.  Aus  der  deutschen 
Literatur  von  Hans  Sachs  bis  Dehmel  sind  hier  Stücke  ausgewählt,  die  die  Entwicklung 
des  Handwerks  behandeln,  sein  Lob  singen  und  allerlei  Ernstes  und  Heiteres  aus  dem 
Handwerkerleben  schildern.  Dass  hierzu  viel  volkskundliches  Material  verwendet  wird,  ist 
selbstverständlich;  neben  hierher  gehörigen  Auszügen  aus  der  Literatur  finden  wir  auch 
Volkslieder,  Sprüche  u.  dgl.  Das  geschickt  zusammengestellte  Buch  ist  wohl  geeignet, 
die  Freude  am  Handwerk  und  die  Achtung  vor  dem  Handwerk  zu  erhöhen  und  zu  ver- 
breiten. Sehr  brauchbar  ist  es  auch  für  die  Zwecke  des  Schul-  und  Fortbildungsunter- 
richtes sowie  für  volkstümliche  Vorträge  und  Unterhaltungsabende;  dasselbe  gilt  für  den 
von  Müller-Rüdersdorf  herausgegebenen  Band.     [F.  B.] 

E.  Pehrle,  Segen  und  Zauber  aus  Baden  (Sonderabdruck  aus  'Badische  Heimat, 
Zeitschrift  für  Volkskunde,  ländliche  Wohlfahrtspflege,  Heimat-  und  Denkmalschutz". 
Karlsruhe,  G.  Braun.  [1914]  1.  Jahrg.  I.Heft).  Felirle  bespricht  nach  einer  kurzen  Einleitung 
über  das  Wesen  des  Aberglaubens  drei  handschriftliche  Rezepte  aus  badischen  Orten.  Das 
erste  enthält  ein  aus  mehreren  pilanzlichen  und  anderen  Stoffen  bestehendes  Mittel  gegen 
die  'bösen  Leute,  dan)it  sie  dem  Vieh  keinen  Schaden  thun  können",  das  zweite  einen 
Segen  gegen  Augenkrankheit,  das  dritte  einen  solchen  gegen  das  'Nachtwesen".  Die 
einzelnen  Bestandteile  und  Anweisungen  werden  erläutert  und  mit  Parallelen  aus  der 
Antike  und  älterer  deutscher  Zeit  belegt.  Den  Schluss  bildet  eine  Aufforderung  an  die 
Leser  dieser  neuen  Zeitschrift,  sich  an  der  vom  Verbände  deutscher  Vereine  für  Volks- 
kunde veranstalteten  Sammlung  der  deutschen  Segen-  und  Beschwörungsformeln  zu  be- 
teiligen.    [F.  B.] 


Notizen.  219 

P.  Graffunder,  Nachtrag  zu  den  Sagen  der  Mark  Brandenburg  (Programm  des 
Kgl.  Prinz -Heinrich -Gymnasiums  zu  Berlin- Schöneberg  1912).  4".  30  S.  —  Die  kleine 
Arbeit  bringt  zehn  aus  dem  Yolksmunde  aufgezeichnete  brandenburgische  Sagen,  teils  be- 
kannte in  nener  Form,  teils  ungedi'uckte.  Es  sind:  1.  Der  Förster  Bürens  (Spuren  dieser 
Sage  aus  dem  Blumental  bei  Strausberg);  2.  Die  schwarze  Dame  aus  den  Müggelbergen: 
3.  Die  Prinzessin  von  den  Rauener  Steinen;  4.  Die  weisse  Frau  vom  Trebuser  Fliess 
(Flammen  umtanzen  hier  den  Hügel,  den  die  weisse  Frau  bewohnt);  ö.  Der  Schneider  von 
Petersdorf  (schwankhaft):  6.  Die  untergegangene  Stadt  im  Scharmützelsee;  7.  Der  Krebs 
an  der  Kette  im  Waschbanksee;  8.  Das  Hufeisen  an  der  Marienkirche  zu  Frankfurt  a.  0.; 
9.  Der  Rabe  mit  dem  Ring  (Fürstenwalde  ;  10.  Die  Wettfahrt  mit  dem  Teufel  (Rauener 
Berge).  Allen  Sagen  folgen  ausführliche  sagenvergleichende  Anmerkungen,  voll  weiter 
Umschau  und  waghalsigem  Kombinationsdrang,  beherrscht  von  dem  Streben,  in  möglichst 
ferne  Vorzeit  hinabzudringeu.     [H.  Lehre.] 

G.  Hegi,  Aus  den  Schweizerlanden.  Naturhistorisch -geographische  Plaudereien. 
Zürich,  Orell  Füssli  [1914].  128  S.  8«.  Mit  32  Abbildungen.  Geh.  2  Mk.,  gebd.  3  Mk.  — 
Der  sechste  von  den  neun  Aufsätzen,  die  das  hübsch  ausgestattete  Büchlein  enthält, 
schildert  Züge  aus  dem  Volksleben  des  obersten  Tösstales  (Kt.  Zürich)  nach  persönlichen 
Erinnerungen  des  Verfassers,  u.  a.  das  'Bächteln'  am  2.  Januar,  bei  welcher  Gelegenheit 
wieder  einmal  von  einer  'deutsch-heidnischen  Göttin  Berchta'  die  Rede  ist,  der  sogar  ein 
männliches  'Götterwesen'  Berchthold  beigegeben  wird,  das  'mit  Wuotau  identisch'  sein 
soll.  Ferner  Knabenumzüge  und  allerlei  andere  Festbräuche,  Hochzeits-  und  Totensitten, 
Brand-  und  Blutsegen  u.  a.  Manche  Angaben  ergänzen  Hoffmann-Krayers  Darstellung 
der  Schweizer  Feste  und  Bräuche  (s.  oben  23,  213).  Den  Schluss  bilden  Nachrichten 
über  Volksdichter  und  hervorragende  Männer  des  Tösstales.  Hingewiesen  sei  auch  auf 
den  ersten  Artikel  'Der  Schweizerische  Nationalpark'  (im  Ofenpassgebiet).     [F.  B.] 

B.  Kubier,  Antinoupolis,  aus  dem  alten  Städteleben.  Leipzig,  A.  Deichert  (W.  Scholli 
1914.  Mit  Titelbild.  46  S.  8 -.  1  Mk.  —  Das  auf  einen  Vortrag  zurückgehende,  geschmackvoll 
ausgestattete  Büchlein  des  Erlanger  Rechtslehrers  schildert  in  gemeinverständlicher  Fassung 
die  Gründung,  Lage,  Verfassung,  Entwicklung,  Bauart  usw.  der  Stadt  Antinoupolis,  die 
Kaiser  Hadrian  zur  Erinnerung  an  den  Tod  seines  Lieblings  Antinous  am  Nil  errichtete. 
Grundlage  der  Darstellung  sind  vorwiegend  die  an  Ort  und  Stelle  gefundenen  Papyri, 
die  zwar  hier  weniger  zahlreich  vorliegen  als  für  Hermupolis,  Oxyrhyuchos  und  Arsinoe, 
aber  doch  die  Zeichnung  eines  recht  lebendigen  Bildes  ermöglichen.  Auch  für  den  volks- 
kundlich Interessierten,  der  meist  allmählich  gewordenen,  uralten  Sitten  und  Einrichtungen 
gegenübersteht,  wird  die  hier  gebotene  flotte  Schilderung  einer  künstlichen,  mit  Para- 
graphen vom  Tage  des  ersten  Spatenstichs  an  überreich  gesegneten  Stadtkultur  eine  au- 
genehme und  lehrreiche  Lektüre  bilden.     [F.  B.] 

H.  Marzell,  Volksbotanik  1905— 1908  (Sonderabdruck  aus 'Just,  Botanischer  Jahres- 
bericht' 39  [für  das  Jahr  1911]  1.  Abteilung).  Berlin  1913.  —  Eine  umfassende  Übersicht 
der  in  dem  oben  genannten  Zeitraum  erschienenen  Werke  und  Zeitschriftenartikel  über 
die  Pflanzen  im  Aberglauben,  in  Sage,  im  Volksbrauch  und  Volkssitte,  volkstümliche 
Pflanzennamen:  berücksichtigt  sind  in  erster  Linie  die  Länder  deutscher  Zunge.  Das 
106  Nummern  aufweisende  Verzeichnis  macht  nach  des  Verfassers  Angabe  keinen  Anspruch 
auf  Vollständigkeit,  dürfte  aber  wohl  nur  wenige  Lücken  haben;  so  möchten  wir  hinzu- 
fügen: J.  Bolte,  Der  Nussbaum  zu  Benevent,  oben  19,  312—314,  und  0.  Schell,  Der 
Donnerbesen  in  Natur,  Kunst  und  Volksglauben,  oben  19,  429-432.  Sehr  dankenswert 
sind  die  den  wichtigeren  Erscheinungen  beigegebenen  kurzen  Inhaltsangaben  und  Hin- 
weise auf  Rezensionen.  —  Derselbe,  Der  Nussbaum  im  deutschen  Volksglauben  (Sonder- 
abdruck aus  'Naturwissenschaftliche  Wochenschrift'  N.  F.  12  Nr.  45  S.  713f.).  —  Der  Verf. 
weist  nach,  dass  der  Nussbaum  trotz  seiner  fremden  Herkunft  (vielleicht  gerade  des- 
wegen?) in  unserem  Volksglauben  eine  ziemlich  bedeutende  Stellung  einnimmt.  Vielfach 
werden  ihm  allerlei  schädliche  Wirkungen  zugeschrieben,  doch  schützt  sein  Holz  auch  vor 
Blitzschlag,  seine  Blätter,  Früchte  usw.  werden  in  der  Volksmedizin  verwendet,  in  Rede- 
wendungen und  Rätseln  kommt  er  häufig  vor.  —  Derselbe,  Zur  Volksbotanik  des 
Fichtelgebirges    in    alter    und    neuer    Zeit    (Sonderabdruck    aus    'Heimatbilder    aus  Ober- 


220  Notizen. 

franken'  2,  2).  —  Aus  einem  1716  anonym  in  Leipzig  erschienenen  Buch  'Ausführliche 
Beschreibung  des  Fichtel-Berges',  als  dessen  Verfasser  Marzell  den  Wunsiedeler  Bürger- 
meister Joh.  Chr.  Pachelbl  (1642— 172G)  festgestellt  hat,  werden  zahlreiche  Angaben  über 
die  Verwendung  von  allerlei  Pflanzen  in  Volksmedizin  und  Aberglauben  mitgeteilt  und 
Entsprechungen  aus  anderen  Quellen  beigebracht.  Pachelbls  Buch  ist,  wie  der  Vf. 
bemerkt,  auch  sonst  eine  reichhaltige  und  bisher  fast  unbenutzte  Quelle  füi-  Volksbräuche 
u.  dgl.  Den  Schluss  machen  Mitteilungen  über  Pflanzenaberglauben  heutiger  Zeit,  die 
Frl.  D.  Zernott  auf  Anregung  des  Verf.  in  der  Gegend  um  Gefrees  (Bez. -Amt  Berneck) 
gesammelt  hat.     [F.  B.] 

W.  Müller-Rüdersdorf,  Der  Erde  golduer  Segeu.  Ein  Preis  deutscher  Landwelt 
und  deutschen  Bauerntums  (Juugdeutsche  Bücherei  Bd.  5).  Langensalza,  J.  Beltz  1914. 
VIII,  171  S.  gr.  8".  Gebd.  3  Mk.  —  Wie  in  dem  oben  angezeigten  Buch  von  R.  Braun 
der  Handwerker,  so  ist  hier  der  Bauer  und  seine  Tätigkeit  der  Gegenstand  der  aus 
deutscher  Prosa  und  Poesie  zusammengestellten  Darstellung.  Auch  hier  finden  wir  viele 
Beiträge  aus  volkskundlichem  Gebiete,  Wetterregeln,  Hausinschriften,  Dorfneckereien, 
ländliche  Feste  usw.  Für  schnelleres  Zurechtfinden  müssten  bei  etwaiger  Neuauflage  im 
Inhaltsverzeichnis  neben  die  einzelnen  Stücke  die  Namen  der  Verfasser  gesetzt  werden, 
wie  das  in  der  Braunschen  Sammlung  der  Fall  ist.  Im  übrigen  gilt  auch  für  diesen 
Band  des  verdienstvollen  Unternehmens  das  dort  Gesagte.     [F.  B.] 

W.  Pessler,  Hausgeographie  der  Wilster  Marsch,  Forschungen  zur  deutschen  Landes- 
und Volkskunde  20,  401  ff.  —  In  der  Wilstermarsch  gehen  zwei  Bauernhaustjpen  neben- 
einander her.  Der  eine,  'Barghus',  ist  friesisch,  der  andere,  'Husmannshus",  ist  sächsisch. 
Trotzdem  kommen  keine  Übergangsformen  vor.  Äusserlich  haben  beide  Typen  sich  an- 
geglichen durch  Betonung  der  Querrichtung  des  Wohnendes  vermittels  Seitenflügel  mit 
niedrigerem  eigenen  First.  Das  Sachsenhaus  ist  ferner  durch  die  Abart  mit  Durchgangs- 
diele vertreten,  wobei  eine  Angleichung  auch  an  den  Grundriss  des  Friesenhauses  entsteht. 
Bei  vorwiegendem  Ackerbau  ist  Neigung  zum  altsächsischen  Haustypus,  bei  vorwiegender 
Weidewirtschaft  Bevorzugung  des  friesischen  festgestellt!     [K.  Brunner.] 

S.  R.  Steinmetz,  Essai  d'une  Bibliographie  systematique  de  TEthnologie  jusqu'ä 
l'annee  1911  (Monographies  bibliographiques  publiees  par  l'Intermediaire  Sociologique, 
Nr.  I).  Brüssel  und  Leipzig,  Misch  &  Thron  [1913]  IV,  196  S.  8 «.  7  Fr.  —  Das  Institut 
de  Sociologie  Solvay  in  Brüssel  beabsichtigt  eine  Reihe  von  bibliographischen  Einzelschriften 
herauszugeben,  denen  von  Spezialforschern  im  Bereich  der  Soziologie  zu  privatem  Gebrauch 
angelegte  Literatursammlungen  zugrunde  gelegt  werden  sollen.  Dem  Grundsatze  folgend, 
dass  die  Ethnologie  im  vergleichenden  theoretischen  Studium  der  Naturvölker  ihre  Aufgabe  hat 
im  Gegensatz  zu  der  reinen  Beschreibung  der  Ethnographie,  hat  der  Verf.  'systematische  Dar- 
stellungen bestimmter  Gegenstände,  die  ein  ganzes  Volk  oder  sogar  eine  Völkergruppe  betreffen, 
ausgeschlossen,  wenn  die  reine  Darstellung  die  Absicht  schien  und  nicht  die  theoretische 
Verwertung'.  Selbstverständlich  sind  diese  Grenzen  fliessend,  und  so  wird  man  in  dem 
Buche  manches  vergebens  suchen  und  manches  wider  Erwarten  finden,  je  nach  der  per- 
sönlichen Auffassung.  So  ist  mir  z.  B.  unklar,  weshalb  Seligmann,  Der  böse  Blick,  auf- 
geführt wh-d,  dagegen  Elworthy,  The  Evil  Eye  (1895),  und  Valletta,  La  Jettatura  (1882), 
fehlen.  Auch  konnte  wohl,  um  nur  noch  eiuige  Beispiele  hinzuzufügen,  de  Gubernatis, 
Zoological  Mythology  undJMythologie  des  Plantes  aufgenommen  werden,  ebenso  Dieterichs 
Mutter  Erde,  Böttichers  Baumkult,  Mannhardts  Korndämonen  und  Roggenwolf;  Hehn, 
Kulturpflanzen  und  Haustiere,  beschränkt  sich  doch  ebenfalls  nicht  auf  reine  Beschreibung. 
Der  Begriff  der  'Naturvölker'  wird  auch  nicht  immer  strenge  innegehalten,  wie  z.  B.  die 
Aufnahme  von  Hopf,  Orakeltiere,  oder  Giraud-Teulon,  La  mere  chez  certains  peuples  de 
Tantiquite,  zeigt.  Zu  Sartoris  Aufsatze  über  die  Totenmünze  (Archiv  f.  Relw.  1899)  ist 
desselben  Verfassers  Artikel  über  Ersatzmitgaben  an  Tote  hinzuzufügen  (ebda.  1900).  Sehr 
vermisst  man  ein  Sachregister;  zwar  stehen  zwischen  den  Verfassernamen  des  Registers 
einige  sachliche  Stichworte;  diese  genügen  jedoch  keineswegs,  ebensowenig  wie  das  ziemlich 
ausfülirliche  Inhaltsverzeichnis.  Immerhin  ist  diese  umfangreiche  Bibliographie  sicher 
dazu  angetan,  ein  dankenswertes  Hilfsmittel  auch  für  die  volkskundlichc  Forschung  zu 
werden.     [F.  B.] 


Notizen.  —  Brunner:    Protokolle.  221 

C.  H.  Stratz,  Die  Darstellung  des  menschlichen  Körpers  in  der  Kunst.  3.  und 
4.  Tausend.  Berlin,  J.  Springer  1913.  Mit  252  Textfiguren.  X,  322  S.  8 ".  Gebd.  12  Mk.  — 
Das  überaus  interessante  und  prachtvoll  ausgestattete  Buch  ist  zum  überwiegenden  Teile 
der  naturwissenschaftlichen  Kunstbetrachtung  gewidmet,  doch  ist  ein  kurzer  Hinweis 
darauf  auch  an  dieser  Stelle  gerechfertigt,  da  die  Ausführungen  des  Verf.  über  primitive 
und  vorgeschichtliche  Kunst  mit  den  beigegebenen  Abbildungen  auch  den  Volkskundler 
interessieren  dürften.  Auch  das  sehr  eingehende  2.  Kapitel  'Der  natürliche  und  künst- 
lerische Kanon  des  Menschen'  bietet  für  typologische  Untersuchungen  auf  volkskundlichem 
Gebiete  ein  zuverlässiges  Hilfsmittel.     [F.  B.] 

Die  Historie  van  Christoffel  Wageuaer,  Discipel  van  D.  Johannes  Faustus,  naar 
den  Utrechtschen  Druck  van  Eejnder  Wylicx  uit  het  Jaar  1597  uitgegeven  door  Josef 
Fritz.  Leiden,  E.  J.  Brill  1913.  24(>  S.  S"  (Nederlandsche  Volksboeken  opnieuw  uit- 
gegeveu  vanwege  de  Maatschappij  der  nederlandsche  Letterkunde  te  Leiden  12).  —  1593, 
sechs  Jahre  nachdem  das  Volksbuch  vom  Doktor  Faust  zu  Frankfurt  herausgekommen 
war,  erschien  ein  als  zweiter  Teil  dieser  Historie  bezeichnetes  Büchlein,  das  die  wunder- 
baren Schicksale  seines  Famulus  Christoph  Wagner  behandelt.  Wagner  greift,  nachdem 
er  Fausts  hinterlassenes  Vermögen  verzehrt  hat,  zur  Zauberei,  schliesst  mit  dem  Teufel 
Auerhan  einen  Pakt  und  durchlebt  eine  Eeihe  ähnlicher  Abenteuer  wie  Faust,  lässt  sich 
auch  nach  Lappland  imd  Amerika  führen  und  nimmt  endlich  das  gleiche  klägliche  Ende 
wie  sein  Meister.  Von  dieser  in  Abdrücken,  Bearbeitungen  und  Dramatisierungen  bis  ins 
19.  Jahrhundert  fortlebenden  Nachahmung  der  Fausthistorie  hat  Fritz,  ein  Schüler  Minors, 
1910  eine  kritische  Ausgabe  veranstaltet.  Jetzt  legt  er  uns  auch  die  niederländische 
Übersetzung,  die  1597  bei  Eeynder  Wylicx  zu  Utrech+.'''erschien,  in  einem  sorgfältigen 
Neudrucke  vor,  dem  er  Worterklärungen  unter  dem  Töxte  und  Untersuchungen  über  die 
späteren  Ausgaben  und  das  Verhältnis  zur  deutschen  Vorlage  beigefügt  hat.  Der  Über- 
setzer meidet  alle  gelehrten  oder  für  seine  niederländischen  Leser  schwerer  verständlichen 
Anspielungen  und  kürzt  so  seine  Vorlage  fast  um  Vu-  Sein  sich  von  aller  konfessionellen 
Polemik  ängstlich  fernhaltendes  Volksbuch  ward  wiederholt  gedruckt  und  um  1730  durch 
einen  eifrigen  Katholiken,  wohl  einen  Antwerpener  Franziskaner,  umgearbeitet,  der  die 
Eeisekapitel  durch  Einführung  bekannterer  Lokalitäten  ersetzt  imd  seinem  Hass  gegen 
die  Hugenotten  in  La  Eochelle  Ausdruck  verleiht.  Auch  für  diese  Bearbeitung  hat  Fritz 
umsichtig  die  benutzten  Quellen  nachgewiesen  und  eine  Anzahl  von  Proben  abgedruckt. 
[J.  B.] 

A.  Wirth,  Tod  und  Grab  in  der  schottisch-englichen  Volksballade,  eine  Studie  zum 
Volkslied.  Progr.  Bernburg  1914  (ur.  982).  48  S.  4 ".  —  Eine  sorgsame  Durchmusterung 
von  Childs  grosser  Sammlung  englischer  Balladen  auf  folgende  Motive  hin:  Todes- 
ursachen, Vorzeichen,  Scheintod,  Tod  und  Trauer,  Geisterleben,  Grab,  Eache.     [J.  B.] 


Aus  den 

Sitzunas-ProtokoUen  des  Vereins  für  Volkskunde. 


Freitag,  den  27.  Februar  1914.  Der  Vorsitzende,  Hr.  Geh.  Reg.-Rat  Prof. 
Dr.  Roediger,  widmete  den  verstorbenen  langjährigen  Vereinsniitgliedern,  Prof. 
Dr.  Joh.  Franke.  Bonn,  und  Prof.  Dr.  Paul  Bartels,  Königsberg  i.  Pr.,  Worte 
ehrenden  Gedächtnisses.  Hr.  Prediger  und  Schuldirigent  A.  Levy  sprach  über 
altisraelitische  Volks-  und  Familienfeste.  Zum  Verständnis  einer  Dichtung  ist 
Kenntnis  ihrer  Umwelt  notwendig.  Das  gilt  auch  für  die  zahlreichen  poetischen 
Teile  der  Bibel.     In  den  Schriften  des  Alten  Testamentes  lernt  man  die  Israeliten 


222  Bnmner: 

nur  sozusagen  im  Staatskleide  kennen.  Die  Art,  wie  Volksfeste  gefeiert  wurden, 
gibt  ein  besseres  Bild  von  der  Volksseele.  Die  uralten  israelitischen  Volksfeste 
wurden  später  durch  die  'Halacha'  religionsgesetzlich  festgelegt.  Die  religiösen 
Feste  nahmen  auch  oft  den  Namen  der  Volksfeste  an.  Bei  dem  zum  späteren 
Versöhnungsfeste  gewordenen  echten  alten  Volksfeste  trug  man  nur  geliehene 
Kleider,  damit  Arm  und  Reich  sich  durcheinander  mischen  sollten  und  Standes- 
unterschiede das  allgemeine  Pest  nicht  störten.  Schon  zur  Zeit  der  Richter  fand 
in  Siloh  zur  Erinnerung  an  Jephtas  Tochter  ein  Jungfrauen  fest  statt.  In  die  Nähe 
der  vorgeschriebenen  Kultusfeste  traten  andere  Volksfeste  und  wurden  deshalb 
mit  ihnen  verschmolzen.  Im  Herbst  fand  ein  Wasseropfer  mit  nächtlichem  Lichter- 
glanz zur  Verehrung  der  Quelle  Siloah  statt.  Aber  auch  im  Frühling  wurde  ein 
nächtliches  Fest  gefeiert.  Reife  Gerste  wurde  feierlich  geschnitten  und  so  die 
Ernte  eingeleitet.  Beide  F'este  waren  echte  Volksfeste  ohne  Standesunterschiede, 
welche  sich  an  religiöse  Pestgebote  nur  anlehnten.  Da  bei  der  fortschreitenden 
Güterzerschlagung  das  Korn  um  die  Ernte-  und  Saatzeit  knapp  wurde,  so  sparte 
man  und  säete  mit  Tränen,  wie  es  in  der  Bibel  heisst.  Die  Erstlingsopfer  der 
Ernte  wurden  auf  Wallfahrten  nach  Jerusalem  gebracht,  und  am  Ende  der  Ernte 
feierte  man  ein  ausgelassenes  allgemeines  Volksfest  am  letzten  Tage  des  Hütten- 
festes, bei  dem  der  Ruf  'Hosianna  =  Hilf  doch'  erklang.  Das  Purimfest,  das 
Fest  der  Zweige,  ist  der  jüdische  Fasching,  ein  Frühlingsfest,  verbunden  mit  Hin- 
richtung einer  Hamanfigur,  ^ihnlich  unserm  Winter-  oder  Tod-Austreiben.  Auch 
Familienfeste  wurden  durch  Teilnahme  aller  ohne  Standesunterschiede  zu  Volks- 
festen, wie  bei  dem  Festzuge  mit  dem  acht  Tage  alten  Knaben  zum  Tempel. 
Ebenso  nahm  jedermann  an  den  Hochzeitsfeiern  teil,  da  es  für  allgemein  mensch- 
liche Pflicht  galt,  Brautleute  zu  erfreuen.  Der  Bräutigam  wurde  als  König,  kurz 
als  Salomo,  bezeichnet.  Als  Symbol  friedlichen  Beisammenseins  wurde  ein  Hahn 
und  eine  Henne  vor  dem  Brautpaare  in  das  Ehegemach  eingelassen.  Während 
sieben  Tagen  wurde  in  Tanz  und  Spiel  die  Hochzeit  gefeiert.  Ausschreitungen 
waren  selten.  Die  Tänze  wurden  von  Männern  ausgeführt,  wozu  die  Frauen 
musizierten.  Diese  Schilderungen  jüdischer  Volksfeste  stammen  aus  einer  Zeit, 
in  der  das  Volk  bereits  ein  politisches  Scheinleben  zu  führen  gezwungen  worden 
war.  Im  Anschlüsse  an  diesen  Vortrag  legte  der  Unterzeichnete  eine  Anzahl 
jüdischer  Kultusgeräte  aus  der  Sammlung  des  Hrn.  Schlachthofsdirektor  Werner 
in  Stolp  vor.  Hr.  Direktor  Dr.  Minden  wies  auf  seine  Besprechung  über  die 
Thorah- Wimpel  (oben  3,  205)  hin.  Hr.  Levy  bemerkte  noch,  dass  die  bei  der 
Sabbatfeier  gewöhnlich  gebrauchten  Psom-  oder  Gewürzbüchsen  aus  Silberfiligran 
gearbeitet  zu  sein  pflegen.  Die  Tinte,  mit  welcher  die  Thorahrollen  und  die 
Gebetsriemen  nur  mit  Gänsefedern  beschrieben  werden,  ist  von  bestimmter  und 
vorgeschriebener  Zusammensetzung.  Auf  eine  Anfrage  über  die  Herkunft  der  als 
Schild  Davids  bezeichneten  Figur  des  Hexagramms  erwiderte  er,  dass  sie  aus  dem 
13.  Jahrhundert  zuerst  bekannt  sei. 

Freitag-,  den  27.  März  1914.  Der  Vorsitzende,  Geh.  Rat  Prof.  Dr.  Roediger, 
wies  auf  den  vom  Verbände  deutscher  Vereine  für  Volkskunde  versandten  'Aufruf 
zur  Sammlung'  der  deutschen  Segen-  und  Beschwörungsformeln'  hin  und  forderte 
die  Mitglieder  des  Vereins  zur  Mitarbeit  auf.  Abdrücke  des  Aufrufes  sind  noch 
vorhanden.  Er  legte  ferner  ein  neu  erschienenes  Buch  von  Prof.  Dr.  E.  Samter: 
Die  Religion  der  Griechen  vor  (aus  Teubners  Sammlung  'Aus  Natur  und 
Geisteswelt').  Hr.  Prof.  Rob.  Mielke  sprach  mit  Vorführung  zahlreicher  Licht- 
bilder über  die  Entstehung  unserer  Dorfformen.  Die  Gründe  für  die  Gestaltung 
der  Dorfformen  liegen    in    den  Wirtschaftsweisen.     Die  Einzelhöfe    an  der  Weser 


Protokolle.  223 

und  in  Priesland  z.  B.  deuten  auf  alte  Viehwirtschaft  hin.  Mit  dem  Überwiegen 
des  Ackerbaues  stellte  sich  die  Notwendigkeit  einer  bestimmten  Grösse  des  Areals 
heraus.  Schon  zu  Caesars  Zeit  war  bei  den  Germanen  Hufenverteilung  vorhanden. 
Die  nordische  Grosshufe  ist  wahrscheinlich  auch  in  Deutschland,  z.  ß.  in  den 
"Wesermarschen,  in  Braunschweig,  Thüringen  usw.  in  Geltung  gewesen.  Die 
Königs-  oder  Marschenhufe  taucht  in  der  östlichen  Kolonisation  auf.  Dagegen 
haben  die  Weiler  im  Westen  römische  Plureinteilung  in  rechteckiger  Form.  In 
Schonen  und  Seeland  sind  zwei  alte  Dorfformen,  By  oder  Haufendorf  und  Torp 
oder  Rundlingsdorf,  zu  unterscheiden.  Eine  weitere  Dorfform  des  Nordens  war 
das  Fortadorf  mit  8  bis  12  Haupthöfen,  in  Kreuzform  angelegt.  Eine  spätere,  im 
13.  Jahrhundert  in  Schweden  und  Norwegen  beendete  Regulierung  der  bereits 
unter  König  Erich  planmässig  angelegten  Dörfer  geht  auf  die  Sonnenlage  zurück, 
wodurch  das  Strassendorf  entstand.  In  Deutschland  sind  die  alten  Verhältnisse 
unklarer.  Das  Strassendorf  ist  bei  uns  das  Normaldorf.  Die  ehemals  als  slawisch 
angesehenen  Runddörfer  sind  oft  nur  Angerdörfer  und  können  nicht  als  völkisch 
bedingt  angesehen  werden.  Ihnen  ist  die  8 -Zahl  der  Gehöfte  eigentümlich.  Der 
nordische  Rundling  hat  sich  in  Holstein,  Lübeck  und  Mecklenburg-Strelitz  erhalten. 
Jünger  als  die  Rundlinge  sind  die  Kietze,  welche  man  immer  den  Slawen 
zuschreibt.  Es  sind  Strassendörfer  ohne  Ackerflur,  und  sie  treten  nur  in  ehemals 
slawischem  Kolonialgebiete  auf.  In  der  an  den  Vortrag  sich  anschliessenden  Be- 
sprechung erörterte  Hr.  F.  Treichel  seine  Auffassung  des  Achterzug-Pfluges,  der 
nach  Mielke  einer  bezeugten  Bespannung  mit  8  Ochsen  bedurfte,  als  eines  Pfluges 
mit  hintereinander  gehenden  Zugtieren.  Ferner  erklärte  er  die  vom  Redner 
erwähnte,  Swinslag  genannte,  bestimmte  Art  der  Hufenverteilung  als  Weide  auf 
der  Stoppel.  Derselbe  sprach  dann  über  die  Bedeutung  und  den  Ursprung  seines 
Familiennamens.  Er  führte  aus,  dass  im  Alemannischen  'treichlen'  soviel  bedeute 
wie  eine  Glocke  anschlagen.  Die  Glocke  heisst  Treichle.  Daher  trägt  eine 
Familie  dieses  Namens  in  dem  durch  Viehzucht  hervorragenden  Allgäu  eine 
Glocke  im  Wappen.  Bei  dem  schweizerischen  volkstümlichen  Umzüge  des  sog. 
Klausens  am  St.  Nikolaustage,  einem  alten  Fruchtbarkeitsritus,  werden  von  den 
Burschen  Glocken,  Treichlen,  benutzt. 

Freitag,  den  24.  April  1914.  Der  Vorsitzende,  Hr.  Geh.  Rat  Roediger, 
legte  ein  eben  erschienenes  Buch  von  Elisabeth  Lemke:  Asphodelos  und  anderes 
aus  Natur  und  Volkskunde,  I.  (Allenstein  11)14)  vor.  Der  Unterzeichnete 
sprach  über  das  schlesische  Bauernhaus  unter  Vorführung  von  21  Lichtbildern. 
Der  Vortrag  ist  oben  23,  337 ff.  abgedruckt.  Dann  hielt  Hr.  Professor  Guth- 
knecht  einen  Vortrag  über  die  Tracht  der  Germanen,  unter  Vorlegung  zahlreicher 
eigenhändiger  Skizzen  nach  antiken  Vorlagen.  Er  wies  darauf  hin,  dass  die 
Zeugnisse  der  alten  Schriftsteller,  besonders  des  Caesar  und  Tacitus,  die  einzigen 
und  im  grossen  und  ganzen  auch  zuverlässigen  Quellen  für  die  Kenntnis  der 
primitiven  Volkstracht  der  Germanen  seien.  Zwischen  Galliern  und  Germanen 
habe  kein  bedeutenderer  Unterschied  in  der  Tracht  bestanden.  In  dem  von 
Caesar  erwähnten  'reno'  erblickte  er  einen  Pelzumhang  von  Skapulierform  und 
verwarf  die  Ableitung  des  Namens  vom  Rentier.  In  den  prähistorischen  Funden 
sehen  wir  Gürtel,  Fibeln  und  Haken  bereits  eine  grosse  Rolle  spielen,  so  dass 
Schlüsse  auf  einen  grossen  Reichtum  in  der  Tracht  berechtigt  erscheinen.  Auch 
zeigt  der  Schnitt  der  Frauentracht  des  Nordens  in  der  älteren  Bronzezeit  bereits 
eine  hohe  Entwicklung,  nicht  minder  die  spätere  Männerhose,  wie  wir  sie  z.  B. 
aus  dem  Thorsberger  Moorfunde  (3.  bis  4.  Jahrh.  n.  Chr.)  kennen  lernen.  Wenn 
trotzdem    zur   römischen  Kaiserzeit  am  Rhein    noch    nackte  Germanen  lebten,    so 


224  Brunner:    Protokolle.  —  Berichtigung. 

muss  man  annehmen,  dass  die  nördlichen  Germanen  schon  früher  eine  höhere 
Kulturstufe  erreichten  als  die  westlichen.  Immerhin  ist  bei  Tacitus  bereits  gegen- 
über Caesars  Angaben  ein  gewisser  Kulturfortschritt  in  der  germanischen  Tracht 
zu  erkennen.  In  der  Prauentracht  ist  das  kurze  Kleid  urwüchsiger  als  das  lange. 
Die  Marc  Aureissäule  zeigt  bereits  einen  gewissen  Kleiderluxus  der  Markomannen, 
Freitag,  den  22.  Mai  1914.  Der  Vorsitzende,  Hr.  Geheimrat  Roediger, 
legte  die  ersten  Nummern  einer  von  Wolfgang  Schultz  unter  Mitwirkung  anderer 
namhafter  Gelehrten  neu  herausgegebenen  Monatsschrift  für  vergleichende  Mythen- 
forschung'Mitra' vor.  Hr.  Rittergutsbesitzer  Fr.  Treichel  machte  unter  Vorlegung 
von  Abbildungen  Mitteilung  von  eigentümlich  in  Menschenform  gestalteten  Bienen- 
stöcken aus  Höfel  in  Schlesien,  die  unter  dem  Namen  'Apostel bienenstöcke'  bekannt 
sind  und  einem  in  slawischen  Gebieten  öfter  auftretenden  Typus  angehören. 
Näheres  darüber  wird  eins  der  nächsten  Hefte  dieser  Zeitschrift  bringen.  Hr. 
Direktor  Dr.  Minden  zeigte  eine  volkstümliche  Stickerei,  Darstellung  der  männ- 
lichen und  weiblichen  Hochzeitstracht  aus  Nuoro  in  Sardinien,  welche  er  der 
Kgl.  Sammlung  für  deutsche  Volkskunde  überwies.  Dann  hielt  Hr.  Dr.  Robert 
Peli ssier  einen  durch  Lichtbilder  und  phonographische  Darbietungen  erläuterten 
Vortrag  über  seine  Reisen  zu  den  finnisch-ugrischen  Völkerschaften  Russlands, 
insbesondere  den  Wotjaken,  Permjaken,  Syrjänen  und  Mordwinen.  Unter  ihnen 
lebt  zerstreut  der  mohammedanische  Stamm  der  Tataren,  welcher  sich  auch  in 
kultureller  Beziehung  von  den  finnisch-ugrischen  Bevölkerungen  unterscheidet  und 
von  der  russischen  Regierung  privilegiert  wird.  Der  Vortrag  soll  ausführlich 
später  in  dieser  Zeitschrift  veröffentlicht  werden. 

Berlin.  Karl   Brunner. 


Berichtigung. 

Von  befreundeter  Seite  werde  ich  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  mir  bei 
der  Besprechung  der  so  verdienstlichen  Arbeit  über  den  'Mönch  Felix'  von 
Dr.  Erich  Mai  (im  vorigen  Heft  dieser  Zeitschrift  S.  102)  ein  Versehen  mit  unter- 
gelaufen ist.  Erich  *  Mai  hat  auch  die  Anregung  zu  seinen  ergebnisreichen 
Forschungen  durch  Herrn  Geheimrat  Dr.  Max  Roediger  erhalten.  Ich  bedaure 
meine  unrichtige  Angabe  und  gebe  die  Worte  wieder,  die  Mai  seinerzeit  seiner 
Dissertation  vorausschickte:  „Bevor  ich  die  folgende  Einleitung  eröffne,  kann  ich 
nicht  umhin,  der  reichen  und  nie  verdrossenen  Förderung  zu  gedenken,  die  mir 
dabei  durch  Herrn  Professor  Dr.  Max  Roediger  hierselbst  zuteil  geworden.  Nicht 
nur,  dass  er  die  erste  Anregung  zu  einer  kritischen  Ausgabe  des  Pelixgedichtes 
gegeben,  er  hat  mir  im  Verein  mit  dem  inzwischen  verstorbenen  Herrn  Geheimen 
Regierungsrat  Professor  Dr.  Weinhold  auch  die  Handschriften  zugänglich  gemacht, 
mich  mit  Nachweisen  unterstützt,  mich  mehr  als  drei  Jahre  hindurch  kritisch  be- 
raten. Ich  sage  ihm,  Otfrieds  Wort  vom  zuhtäri  guato  billig  erneuernd,  meinen 
herzlichen  Dank." 

Gross-Lichterfelde.  Fritz   Behrend. 


.>^' 


GescMclite  der  Tanzkrankheit  in  Dentschland. 

Von  Alfred  Blartin. 

(Vgl.  S.  113-134.) 


Die  Tanzkrankheit  vor  1518. 

Betrachten  wir  die  Tanzkrankheit  vor  der  Strassburger  Epidemie 
zeitlich  rückwärtsschreitend,  so  stossen  wir  zunächst  in  Zürich  auf  Tänzer 
in  der  Kirche  und  in  der  Yorhalle  der  Kirche. 

Nach  den  Rats-  und  Richtbüchern  sagt  1452  ein  Hans  Schiltknecht 
vor  Gericht  aus:  „Es  habe  sich  gefügt,  daß  ein  armer  Mensch  au  St.  Yits 
Tag  uf  dem  Helmhaus  [in  der  Vorhalle  der  Wasserkirche]  habe  getanzet; 
also  sei  er  auch  da  gestanden,  und  habe  zugesehen,  da  habe  der  arme 
Mann  ihn  angerufen,  daß  er  ihm  in  seinen  Nöthen  zu  Hülfe  käme,  also 
habe  er  ihm  durch  Gottes  und  seiner  lieben  Mutter  Willen  in  seinen 
Nöthen  geholfen,  und  da  er  also  mit  ihm  getanzet,  haben  vier  Gesellen 
seiner  gespottet"  ^). 

In  den  Rats-  und  Richtbüchern  findet  sich  beim  Jahr  1418  [oder  1428, 
siehe  später]  die  Stelle:  Heini  Murer  sagt  vor  Gericht,  'daß  es  sich  gefügt, 
daß  er  in  der  Wasserkilchen  stund  und  den  armen  Frowen  zulugte,  die 
da  tanzeten;  da  käme  Heini  Harnischmacher  und  wollte  den  Frowen  eine 
Wite  [Weite,  Raum]  machen,  daß  der  Luft  zu  ihnen  ginge,  und  stieß 
die  Leute  hinter  sich' "). 

Salomon  Vögelin,  der  die  Stellen  mitteilt,  setzt  den  Vorgang  ins  Jahr  1418, 
später  bezieht  er  sich  auf  die  Rats-  und  Richtbücher  von  1418  und  1419.  In 
den  Usterischen  Manuskripten  der  Stadtbibliothek  Zürich  (Msc.  U  55)  fand  ich 
die  Angabe  1428.  Auf  meine  Anfrage  teilte  mir  das  Züricher  Staatsarchiv  mit, 
dass  sich  in  ßd.  VI,  204  (wo  die  Stelle  S.  137  steht)  Jahre  und  Jahresbruchstücke 
der  Rats-  und  Richtbücher  von  1418,  1419,  1428  I  und  II  finden,  der  Passus 
zwischen  1428  und  141'S  steht  und  eher  zu   1428  in  die  I.Jahreshälfte  zu  gehören 


*         li  Salomon  Vögelin,  Gesch.  der  Wasserkirche  in  Zürich.    Zürich  1848  (Neujahrsblatt 
hsg.  v.  d.  Stadtbibliothek  in  Zürich  auf  das  Jahr  1.S47  — 48). 
2)  Ebenda. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1914.    lieft  3.  15 


996  Martin: 

scheint.  Vögelin  hatte,  wie  oben  S.  114  erwähnt,  in  der  Annahme,  die  Strass- 
burger  Epidemie  habe  1418  stattgefunden,  gemeint,  die  Tänzer  seien  von  Strass- 
burg  über  Zabern  nach  Zürich  gelangt. 

Die  Wasserkirche  galt  vor  der  Reformation  —  die  sie  gerade  des- 
wegen schloss  —  als  heiligste  Kirche  der  Stadt.  Sie  war  die  älteste 
Kapelle  und  galt  als  Reichsboden.  Dort  hatten  die  heiligen  Märtyrer 
Felix  und  Regula  an  der  später  vielbenutzten  heiligen  Heilquelle  ihr 
Leben  gefristet  und  waren  gefangen  worden.  Die  alte  Kirche  hatte  fünf 
Altäre^),  vielleicht  war  einer  dem  hl.  Veit  geweiht,  denn  ohne  Grund 
wurde  am  Veitstage  dort  nicht  getanzt. 

Im  vorhergehenden  Jahrhundert  finden  wir  eine  grosse  Epidemie  in 
Köln,  Aachen,  Utrecht,  Mastricht,  Lüttich,  Tongern  und  Metz,  die  sich  in 
benachbarte  Gebiete  ausbreitete.  Die  Tänzer  zogen  von  einem  Ort  zum 
andern. 

Eine  Kölner  Chronik  sagt  vom  Jahre  1374:  „In  dem  seluen  iair  stonde  eyn 
groisse  kranckheit  vp  vnder  den  mynschen,  ind  was  doch  niet  vill  me  gesyen  dese 
selue  kranckheit  vur  off  nae  ind  quam  van  natuerlichen  Ursachen  as  die  meyster 
schrijuen,  ind  noemen  Sij  maniam,  dat  is  raserie  off'  unsynnicheit.  Ind  vill  lüde 
beyde  man  ind  frauwen  junck  ind  alt  hadden  die  kranckheit.  Ind  gyngen  vyss 
[aus]  huyss  ind  hoff,  dat  deden  ouch  junge  meyde,  die  verliessen  yr  alderen, 
vrunde  ind  maege  ind  lantschaff.  Disse  vurß  mynschen  zo  etzlichen  tzijden  as 
Sij  die  kranckheit  anstiesse,  so  hadden  Sij  eyn  wonderlich  bewegung  yrre  lychamen. 
Sij  gauen  vyss  kryschende  vnd  grusame  stymme,  ind  mit  den  wurpen  Sij  sich 
haestlich  up  die  erden,  vnd  gyngen  liggen  up  yren  rugge,  ind  beyde  man  ind 
vrauwen  moist  men  vmb  yren  buych  ind  vmp  lenden  gurdelen  vnd  kneuelen  mit 
twelen  [Tüchern]  vnd  mit  starcken  breyden  benden,  asso  stijff  vnd  harte  als  men 
mochte. 

Item  asso  gegurt  mit  den  twelen  dantzten  Sij  in  kyrchen  ind  in  clusen  ind  vp 
allen  gewijeden  steden.  As  Sij  dantzten,  so  sprungen  Sij  allit  vp  ind  rieffen:  Here 
sent  Johan,  so  so,  vrisch  ind  vro,  here  sent  Johan. 

Item  die  ghene  die  die  kranckheit  hadden  wurden  gemeynlichen  gesunt  bynnen 
V  V.  dagen.  Zom  lesten  geschiede  vill  bouerie  vnd  droch  dae  mit.  Eyn  deyll 
naemen  sich  an,  dat  Sij  kranck  weren,  vp  dat  Sij  mochten  gelt  dae  durch  bedelen. 
Die  anderen  vinsden  sich  kranck,  vp  dat  Sij  mochten  vnkuyschheit  bedrijuen  mit 
den  vrauwen.  jnd  gyngen  durch  alle  lant  ind  dreuen  vill  bouerie.  Doch  zo  lesten 
brach  idt  vyss  ind  wurden  verdreuen  vyss  den  landen.  Die  selue  dentzer  quamen 
ouch  zo  Coellen  tusschen  [zwischen]  tzwen  vnser  lieuven  frauwen  missen  Assumptio- 
nis  ind  Natiuitatis." 

(Die  Chronica  van  der  hilliger  Stat  van  Coellen,  Coellen  1499,  Bl.  277  =  Die 
Chroniken  der  deutschen  Städte  14,  715.  1S77.  Abdruck  bei  Hecker-Hirsch  S.  189, 
Anhang  IV)  2). 

Es  trat  in  Köln,  wie  in  Strassburg,  der  Tanz  als  Krankheit  auf. 
Auffallend  war  die  kreischende    und  grausame  Stimme  der  Kranken  und, 


1)  Salomon  Vögelin  a.  a.  0. 

2)  J.  F.  C.  Hecker,  Die  grossen  Volkskrankheiten  des  Mittelalters,  hsg.  v.  A.  Hirsch. 
Berlin  1S65. 


Geschichte  der  Tanzkrankheit  in  Deutschland.  227 

•was  dem  Berichterstatter  am  meisten  in  die  Augen  fiel,  die  Bewegung  ihrer 
Körper,  Schreiend  warfen  sie  sich  auf  die  Erde  und  'gingen  liegend  auf 
•dem  Rücken'.  Der  Arzt  weiss,  dass  die  Verrenkungen  auf  dem  Breughelschen 
Bilde  (oben  S.  13'2)  und  das  Hin-  und  Herwerfen  der  auf  dem  Rücken 
Liegenden  mit  plötzlichen  sprenkelartigen  Krümmungen  der  Wirbelsäule, 
auch  des  ganzen  Körpers,  nur  verschiedene  Ausdrücke  desselben  hysterischen 
Krankseins  sind.  Wenn  sie  tanzten,  hatten  sie  den  Bauch  mit  breiten 
■Ourten  oder  Tüchern  umwunden,  die  durch  Knebel  straff  angezogen  waren. 
So  tanzten  sie  in  Kirchen,  Klausen  und  auf  allen  geweihten  Stätten,  wie 
wir  aus  dem  Vorhergehenden  wissen,  sicherlich  zu  Heilzwecken,  und 
beim  Aufspringen  feuerten  sie  sich  in  einem  Tanzliede  (das  in  früheren 
Zeiten  die  Instrumentalmusik  vertrat)  unter  Anrufung  ihres  Krankheits- 
patrons an:  Here  sent  Johan,  so  so,  vrisch  ind  vro,  here  sent  Johan.  Wie 
in  Strassburg,  gab's  zuletzt  Betrüger  unter  ihnen,  und  das  enge  Zusammen- 
leben wurde  auch  von  Lüstlingen  ausgenutzt.  Da  vertrieb  man  sie,  die 
wahrhaft  Kranken  waren  gewöhnlich  in  V  V  [?]    Tagen  gesund  geworden. 

Dieser  einfache  Bericht  weicht  in  der  Schilderung  der  Krankheit  und 
Krankheitsheilung  von  solchen  der  späteren  Zeit  nicht  wesentlich  ab. 
Dass  die  Leute  den  Heiltanz  vollführten,  ist  nicht  zu  bezweifeln,  ja  es 
scheint  der  Tanz  selbst  anfänglich  nur  zu  Heilzwecken  vorgenommen  zu 
sein  und  die  Krankheit,  die  man  damit  heilen  wollte,  in  der  abnormen 
Stimme,  dem  Zubodenwerfen  und  den  konvulsivischen  Bewegungen  be- 
standen zu  haben;  denn  das  vollführten  sie,  'als  sie  die  Krankheit 
-anstieß',  dann  erst  Hessen  sie  sich  gürten^)  und  tanzten  an  geweihten 
Stätten,  wo  sie  meist  geheilt  wurden.  Diese  bis  dahin  unbekannte 
Krankheit  nannten  die  Meister  (der  Arznei)  Manie,  das  ist  Raserei  und 
Unsinnigkeit.  Erst  später  kamen,  wie  der  Chronikenschreiber  meint, 
Betrüger  und  anderes  Gesindel  hinzu,  sicherlich  aber  auch  geistig- 
Minderwertige,  die  mit  dem  Tanz  angesteckt  wurden  und  nun  als  Tanz- 
kranke tanzten. 

Ein  zweiter  zeitgenössischer  deutscher  Bericht  steht  in  der  Limburger 
■Chronik  (angefangen  1347): 

„An.  13472)  2u  mittem  Sommer  da  erhub  sich  ein  wunderlich  ding  auf  Erd- 
reich, vnd  sonderlich  in  Teutschen  landen,  auf  dem  Rein  vnd  auf  der  Mosel,  also 
daß  leut  anhüben  zu  dantzen  vnd  zu  rasen,  vnd  stunden  je  zwey  gen  ein,  vnd 
dantzeten  auf  einer  stett  einen  halben  tag,  vnd  in  dem  Dantz  da  fielen   Sie  etwan 


1)  Trithcmius  schreibt,  allerdings  erst  im  IG.  Jahrhundert:  Zuerst  auf  die  Erde 
fallend  schäumten  sie,  danach  aufstehend  tanzten  sie  bis  zur  Entkräftung,  wenn  sie 
nicht  durch  ein  sehr  starkes  Band  von  anderen  zusammengeschnürt  wurden  (nisi  fortissima 
ligatura  per  alios  stringerentur).  (Chronicon  Spanheimense.  Frankf.  KiOl.)  Dabei  möchte 
ich  daran  erinnern,  dass  meines  Wissens  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  eine 
Heilmethode  der  Epilepsie  im  Zusammenschnüren  einzelner  Glieder  bestand,  vielleicht 
geht  sie  auf  einen  alten  Volksbrauch  zurück. 

2)  Druck-  oder  Schreibfehler  für  1;m4.    Die  Stelle  steht  nach  1373  und  vor  1375. 

15* 


228  Martin : 

dick  [oft]  nider,  vnd  liesen  sich  mit  füssen  tretten  auf  jhren  leib.  Davon  namen 
sie  sich  an,  daß  sie  genesen  weren,  vnd  liefen  von  einer  Statt  zu  der  anderen, 
vnd  von  einer  Kirchen  zu  der  anderen,  vnd  hüben  gelt  auf  von  den  leuten,  wo  es 
jhnen  mocht  gewerden.  Vnd  wurd  des  dings  also  viel,  daß  man  zu  Cöln  in  der 
Statt  mehr  dann  fünffhundert  Dentzer  fand.  Vnd  fand  man,  daß  es  ein  Ketzerey 
was,  vnd  geschach  umb  gelts  willen,  daß  jhr  ein  theil  Prauw  vnd  Man  in  vn- 
keuschheit  mochten  kommen  vnd  die  volnbringen.  Vnd  fand  man  da  zu  Cöln 
mehr  dann  hundert  Prauwen  vnd  Dienstmägd,  die  nit  ehrliche  menner  hatten.  Die 
wurden  alle  in  der  Dentzerey  kindertragend,  vnd  wann  daß  Sie  Dantzeten,  so 
bunden  vnd  knebelten  sie  sich  hart  vmb  den  leib,  daß  Sie  desto  geringer  weren. 
Hierauf  sprachen  ein  theils  Meister,  sonderlich  der  Guten  Artzt,  daß  ein  theil  wurden 
dantzend,  die  von  heiser  Natur  weren,  vnd  von  andern  gebrechlichen  natürlichen 
Sachen.  Dann  deren  was  wenig,  denen  das  geschach.  Die  Meister  von  der 
heiligen  Schrift  die  beschworen  der  Dentzer  ein  theils,  die  meinten  daß  Sie  be- 
sessen weren  von  dem  bösen  Geist.  Also  nam  es  ein  betrogen  end,  vnd  werete 
wol  Sechzehen  wochen  in  dissen  Landen  oder  in  der  maaß.  Auch  nahmen  die 
vorgenante  Dentzer  Man  vnd  Prauwen  sich  an,  daß  Sie  kein  rot  sehen  möchten. 
Vnd  war  ein  eitel  teuscherey  vnd  ist  verbotschaft  gewest  an  Xystum  [Christum] 
nach  meinem  beduncken"^). 

(Auch  bei  Hecker-Hirsch  a.  a.  0.  abgedruckt,  aber  nach  der  Ausgabe  von 
C.  D.  Vogel.   Marburg  1828). 

Hier  treten  die  Krauken  von  vornherein  als  Tänzer  auf  —  es  wird 
auch  ihre  Tanzart  angegeben,  sie  'stunden  je  zwey  gen  ein'  —  und  tanzten 
oft  bis  zum  Umsinken,  Hessen  sich  dann  mit  Füssen  treten  und  glaubten 
sich  nun  geheilt.  Es  war  also  in  der  Hauptsache  die  Heilart,  die  wir 
vornehmlich  von  Strassburg  und  Basel  her  kennen.  Auch  vom  Tanz  in 
den  Kirchen  spricht  der  Bericht.  Das  Umgürten  des  Bauches  geschah 
nach  ihm  nur,  um  in  der  Schwangerschaft  dünner  zu  erscheinen  und  sie 
zu  verdecken  (vgl.  oben  S.  125  f.  den  Bericht  Schenks  von  Grafenberg). 
Der  Chronist  hält  die  meisten  Tänzer  für  Betrüger,  wenige  für  wirklich 
Kranke,  von  denen  die  guten  Ärzte  sagten,  dass  sie  heisser  Natur  wären 
(siehe  oben  S.  118  diese  Angabe  auch  bei  der  Strassburger  Epidemie) 
und  andere  Gebrechen  hätten.  Im  Gegensatz  zu  den  Ärzten  —  und  an- 
scheinend auch  zum  Chronisten  —  nahmen  die  Geistlichen  Besessenheit 
an  und  beschworen  sie. 

Ganz  anders  lauten  die  Berichte  niederländischer  Geistlicher.  Sie 
schildern  die  Kranken,  durch  ihre  Brille  gesehen,  nur  als  Besessene,  und 
als  solche  wurden  diese  von  ihnen  dort  auch  behandelt,  besonders  wo  das 
durch  die  Plage  verbitterte  Volk  der  Geistlichkeit  gefährlich  zu  werden 
anfing.  Die  Berichte  sind  kulturgeschichtlich  besonders  interessant,  weil 
sie  zeigen,  welche  ]\Iacht  die  Suggestion  hat.  Die  Krauken  glaubten 
schliesslich  selbst,  dass  sie  von  Teufeln  besessen  seien,  und  die  Geist- 
lichen holten  Aussagen  aus  ihnen  heraus,  die  sie  wünschten  und  die  ihnen 

1)  Die  Limburger  Chronik  des  Johannes,  nach  J.  Fr.  Fausts  Fasti  Limpurgenses  hs<?. 
von  K.  Rössel  (Wiesbaden  18G0)  S.  5G.  (Neue  Ausgabe  in  den  Monumenta  Germaniae, 
Deutsche  Chroniken  4,  1.) 


Geschichte  der  Tanzkrankheit  in  Deutschland.  229 

angenehm  waren.  Selbst  die  in  religiöse  Schwärmerei  Verfallenen  wurden 
als  Besessene  betrachtet  und  mitbeschworen.  Jedenfalls  trat  die  seelische 
Erkrankung  hier  weit  mehr  als  sonst  hervor  und  war  in  ihren  Äusserungen 
zumeist  durch  die  Geistlichkeit  beeinflusst. 

Ausführlich  erzählt  ein  gleichzeitiger  Niederländer:  „Am  16.  Julius 
(1374)  kam  eine  sonderbare  Art  besessener  Menschen  aus  den  obern  deutschen 
Ländern  nach  Aachen,  von  da  nach  Utrecht  und  endlich  gegen  den  September 
nach  Lüttich.  Halb  nackend,  mit  Kränzen  um  die  Köpfe,  führten  diese  Besessenen 
beiderlei  Geschlechts  auf  den  Strassen,  selbst  in  den  Kirchen  und  Häusern  ohne 
alle  Scham  ihre  Tänze  auf,  indem  sie  in  ihrem  Gesänge  nie  gehörte  Namen  der 
Teufel  ausriefen.  Nach  dem  vollendeten  Tanze  quälten  die  Teufel  sie  mit  den 
heftigsten  Brustschmerzen,  so  dass  sie  mit  schrecklicher  Stimme  schrieen,  sie 
stürben,  wenn  man  sie  nicht  mit  Binden  um  den  Leib  zusammenschnürte.  Vom 
September  bis  zum  Oktober  wuchs  ihre  Sekte  zu  vielen  Tausenden  an.  Aus 
Deutschland  strömten  täglich  neue  Tänzer  herbei,  und  zu  Lüttich  wurden  viele, 
die  noch  an  Leib  und  Seele  gesund  waren,  plötzlich  von  den  Teufeln  ergriffen 
und  verbanden  sich  mit  den  Tänzern.  Kluge  Leute  wussten  keinen  anderen  Grund 
der  Entstehung  dieser  teuflischen  Sekte  anzugeben,  als  die  herrschende  Unwissen- 
heit in  Glaubenssachen  und  in  den  Geboten  Gottes.  Viele  aus  dem  Volke  warfen 
aber  die  Schuld  auf  die  Priester,  die  im  Konkubinat  lebten,  durch  welche  also 
jene  Leute  nicht  recht  getauft  worden  wären.  —  In  der  Kreuzkirche  zu  Lüttich 
fing  an  der  Kirchweihe  der  Träger  des  Rauchfasses  an,  sein  Fass  wunderlich  zu 
schwenken,  zu  springen  und  unverständlich  zu  singen.  Als  darauf  ein  Priester 
verlangte,  er  solle  das  Vaterunser  beten,  wollte  er  nicht,  und  als  er  den  Glauben 
beten  sollte,  sagte  er:  Ich  glaube  an  den  Teufel.  Da  legte  der  Priester  ihm  die 
Stola  um  und  las  den  Exorzismus  der  Kirche;  alsbald  verliess  ihn  der  Teufel, 
und  er  betete  das  Vaterunser  und  den  Glauben  mit  grosser  Andacht.  —  Um  das 
Pest  aller  Heiligen  versammelte  sich  in  dem  Flecken  Herstal  bei  Lüttich  eine 
Menge  Tänzer,  Männer  und  Weiber,  und  beschlossen  nach  Lüttich  zu  gehen  und 
daselbst  die  Prälaten  und  die  ganze  Geistlichkeit  umzubringen.  Aber  als  sie  nach 
Lüttich  kamen  und  durch  fromme  Leute  vor  die  Geistlichen  geführt  wurden,  taten 
sie  diesen  nichts,  ja  sie  liessen  sogar  von  ihnen  sich  heilen  und  ihre  Teufel  aus- 
treiben. —  Einige  wurden  in  eine  Kapelle  des  St.  Lambertsklosters  vor  den 
Priester  Doct.  Ludwig  Loves  gebracht,  welcher  ihnen  eine  geweihte  Stola  umhing 
und  das  Evangelium  in  principio  erat  verbum  vorlas.  Dasselbe  Experiment 
machte  dieser  Priester  mit  zehn  Tänzern  nacheinander,  immer  mit  dem  glücklichen 
Erfolge  der  Heilung.  Dadurch  kam  er  in  solchen  Ruf,  dass  man  ihm  von  allen 
Seiten  dergleichen  Kranke  brachte,  damit  er  sie  den  Teufeln  entrisse.  Auch  in 
andern  Kirchen  trieben  andere  Geistliche  die  Tanzteufel  aus.  Zur  Beschwörungs- 
formel bediente  man  sich  gewöhnlich  des  Anfangs  des  Johanneischen  Evangeliums, 
doch  auch  anderer  Evangelien,  vorzüglich  solcher,  in  welchen  die  Heilung  Besessener 
durch  Christus  erzählt  wird.  —  Eine  andere  Art  der  Heilung  geschah  durch  Auf- 
legung oder  Vorzeigung  der  Hostie,  durch  Eingiessen  von  Weihwasser,  durch  Be- 
rühren des  Mundes  mit  einem  priesterlichen  Finger,  durch  Anblasen  usw.  unter 
Hersagung  von  mancherlei  Formeln.  —  Viele  Geistliche  erzählten,  ein  Teufel  habe 
vor  seiner  Austreibung  gestanden,  dass  sie  jetzt  freilich  nur  gemeine  Leute  be- 
sässen,  sie  würden  aber  auch  in  den  Körper  der  Reichen  und  Mächtigen  ein- 
gekehrt sein  und  durch  diese  den  ganzen  Klerus  aus  Lüttich  vertrieben  haben, 
w^enn  derselbe  nicht  jetzt  sie  zwänge,   sich  hinwegzuheben.  —  Zu  Aachen  tauchte 


230  Martin: 

der  Priester  Simon  ein  Mädchen,  dessen  Teufel  keiner  Beschwörung  anderer 
weichen  wollte,  bis  an  den  Mund  in  Weihwasser.  Der  Dämon  wohnte  nach  seiner 
eigenen  Aussage  seit  zwei  Jahren  in  dem  Mädchen  und  hatte  sich,  wenn  dieses 
kommunizierte,  in  die  Spitze  der  Zehen  verkrochen.  Er  wurde  genötigt  aus- 
zufahren und  von  dannen  zu  weichen,  obgleich  er  sich  erbot,  das  Amt  eines  ßurg- 
wärters  zu  übernehmen  und  zur  Probe  wie  auf  einer  Trompete  blies.  Da  einige 
Tage  nach  seiner  Austreibung  in  dem  Carlsbade  (wo  er  ebenfalls  nicht  hausen 
sollte)  mehrere  Menschen  ertranken,  glaubte  man,  das  habe  er  bewirkt,  und  schloss 
das  Bad  für  immer.  —  Einen  andern  Teufel  vertrieb  derselbe  Priester  durch  Gebet 
und  Pasten.  —  Nachdem  durch  diese  und  andere  geistliche  Mittel  die  Sekte  der 
Tänzer,  welche  in  Jahres  Frist  sehr  überhand  genommen  hatte,  allmählich  ver- 
mindert war,  wurden  zwar  noch  drei  bis  vier  Jahr  lang  manche  Leute  von  solchen 
Tanzteufeln  heimgesucht,  aber  diese  wichen  sehr  leicht  den  Beschwörungen  der 
Geistlichen.  Der  Klerus  von  Lüttich  kam  zu  jener  Zeit  in  einen  guten  Geruch. 
(Radulphi  de  Rivo,  Decani  Tongrensis  (f  1403)  Gesta  Pontificum  Leodiensium, 
in  Jo.  de  Arckel  Cap.  IX.;  Chapeavilli  Auctorcs  qui  gesta  Pontificum  Leod. 
scripserunt,  III,  19  ss.     Übersetzung  von  Pörstemann)^). 

In  vielem  stimmt  der  nachfolgende  Bericht  mit  obigem  überein: 

„Im  Jahr  1374  unter  bischöflicher  Regierung  des  ehrwürdigen  Herrn  Johannseii 
von  Arckel,  Bischofs  zu  Lüttich,  im  Monat  Julio,  am  Morgen  des  Fests  der 
Apostelteilung  sind  gesehen  worden  Tänzer  am  Reihen,  die  hernach  auf  Mastricht, 
Lüttich,  Tongern  und  andere  Orte  dieser  Lande  im  Herb -Monat  (September) 
kommen  sein.  Diese  teufelische  Pest  hat  an  gemelten  und  benachbarten  Orten 
Mann-  und  Weibspersonen,  vornehmlich  aber  die  Armen  und  Leute  von  schlechtem 
Ruf  zu  aller  grossen  Schrecken  anfahen  zu  plagen,  wenig  aber  von  Geistlichen 
und  Reichen.  Sie  trugen  Kränze  auf  den  Köpfen,  um  den  Leib  und  Nabel  bunden 
sie  sich  mit  einem  Tischtuch  und  eim  Bakel,  da  sie  dann  nach  dem  Tanzen  hinfielen 
und  heftig  gemartert,  und  damit  sie  nicht  zerborsten,  wurden  sie  mit  den  Füssen 
getreten,  und  bunden  sich  mit  dem  Bakel  in  das  Tischtuch  ganz  harte,  und 
Hessen  sich  mit  der  Faust  stossen.  Etliche  schrien,  sie  scheuten  sich  vor  Schnäbeln 
an  den  Schuhen,  dahero  dieselben  zu  Lüttich  verboten  wurden.  Sie  nahmen  mit 
ihren  Tanzen  die  Kirchen  ein  und  nahmen  an  der  Zahl  vom  Herbst-Monat  bis  in 
Oktober  sehr  zu.  Es  wurden  überall  Umgänge,  Litaneien  und  besondere  Messen 
gehalten.  Zu  Lüttich  fing  ein  Schuljunge  zum  heiligen  Kreuz  am  Abend  der 
Kirchweih  mit  dem  Rauchfass  an  zu  spielen  und  nach  der  Vesperzeit  heftig  zu 
tanzen.  Als  er  von  vielen  ermahnt  wurde,  ein  Vaterunser  zu  beten,  wollt  er  nicht, 
desgleichen  den  Glauben,  hat  er  gesagt:  Ich  glaube  an  den  Teufel.  Als  der 
Kaplan  solches  gesehen,  hat  er  sich  seinen  Habit  langen  lassen  und  beschworen 
mit  der  Taufsformel,  da  hat  er  alsbald  gesagt:  Siehe,  der  Schüler  weicht  mit  dem 
kurzen  Rocke  und  den  Schnabelschuhen.  Da  sagt  jener:  Sprich  das  Vaterunser 
und  den  Glauben!  Da  hat  er  beides  gesprochen  und  ist  voUkömmlich  zu  recht 
wieder  worden.  Bei  dem  Harstalle  sind  des  Morgens  vor  Allerheiligen  ihrer  viel 
zusammen  kommen  und  beratschlagten,  dass  sie  zugleich  kommen  und  alle  Dom- 
herrn, Priester  und  Geistliche  zu  Lüttich  niedermachen  wollten.  Ein  Domherr 
Simon  im  Kloster  zu  Lüttich  in  der  Kapeil  zur  seligen  Jungfrauen  hat  sich  in 
Gott  gestärket  und  einem  eine  Leiter  auf  den  Hals  geworfen  und  das  Evangelium: 


1)  E.  ü.  Pörstemann,  Versuch  einer  Gesch.  der  christl.  Geisslergesellschaften.  Stäudlin 
und  Tzschirners  Archiv  für  alte  und  neue  Kirchengcschichte,  3.  Bd.    Leipzig  1817. 


Geschichte  der  Tanzkrankheit  in  Deutschland.  231 

'Im  Anfang  war  das  Wort'  über  ihn  gesprochen,  und  ist  davon  wieder  befreiet,  und 
wegen  solchen  Wunderwerks  die  Glocke  alsbald  geleutet  worden.  Zu  St.  Bar- 
tholomei  zu  Lüttich  hat  in  Beisein  vieler  Leute  der  Satan  einem  Beschwörer  ge- 
antwortet: Ich  will  gern  ausfahren.  Warte,  sagt  der  Geistliche,  ich  will  mit  dir 
reden.  Und  nachdem  er  etliche  andere  kurieret  gehabt,  hat  er  zu  ihm  gesagt: 
Nun  rede  leibhaftig  und  antworte  mir!  Da  hat  der  Satan  allein  geantwortet: 
Unser  waren  zwo,  allein  mein  Gesell,  der  schlimmer  ist  als  ich,  ist  vor  mir  aus- 
gefahren; ich  habe  soviel  erleiden  müssen  in  diesem  Leibe,  wenn  ich  drauss  wäre, 
wollte  ich  nimmermehr  in  einen  Christenleib  fahren.  Da  hat  ihn  der  Geistliche 
gefragt:  Warum  bist  du  in  die  Leiber  dieser  Menschen  gefahren?  Er  geantwortet: 
Die  Geistlichen  und  die  Priester  sprechen  so  schöne  Wort  und  soviel  Gebete,  dass 
wir  in  ihre  Leiber  nicht  fahren  können.  Wenn  man  noch  fünf  oder  vier  Wochen 
gewartet  hätte,  so  wären  wir  in  der  Reichen  Leiber  gefahren  und  darnach  in  der 
Fürsten,  und  über  die  hätten  wir  die  Geistlichen  niedergeworfen.  Dieses  haben 
daselbst  ihrer  viel  gehört  und  hernach  erzählt.  Diese  Pest  hat  in  einem  Jahre 
ziemlich  überhandgenommen,  hernach  aber  in  drei  oder  vier  Jahren  gänzlich  auf- 
gehört." 

(Jo.  Pistorii  Rerum  familiarumque  Belgicarum  Chronicon  magnum.  Prancof. 
1654.  fol.  p.  319.  De  chorisantibus.  Abdruck  bei  Hecker-Hirsch  1865  S.  187  und 
bei  Schilter  S.  1085;  die  obige  deutsche  Übersetzung  bei  Schilter  S.  1086 f.)'). 

Petrus  de  Herentals  bringt  ein  Gedicht,  das  man  von  jenem  Tanz  hatte. 
Darin  heisst  es  unter  anderem,  dass  das  Volk  tanzte  und  beiderlei  Geschlecht 
mit  Freuden  rief  'Frisch,  Friskes',  dass  es  den  Sohn  der  Maria  und  den  geöffneten 
Himmel  sah,  kein  Rot  und  niemanden  weinen  sehen  mochte.  Peter  von  Herental 
selbst  sagt:  „In  der  Zeit,  nämlich  im  Jahre  1375,  kam  von  Aachen  aus  Teilen 
Deutschlands  (Alamanniae)  eine  wunderbare  Sekte  von  Männern  und  Frauen  und 
zog  hinauf  bis  nach  Hennegau  (Hanonia)  oder  Frankreich;  ihre  Lebensart  war 
folgende:  Die  Menschen  beiderlei  Geschlechts  wurden  von  einem  bösen  Geist 
geplagt,  so  dass  sie  in  Häusern,  auf  den  Strassen  und  in  den  Kirchen,  einander 
an  den  Händen  haltend,  tanzten  und  in  die  Höhe  sprangen  und  gewisse  Geister- 
namen ausriefen,  nämlich  Friskes  und  ähnliche;  sie  hatten  bei  dieser  Art  Tanz 
weder  volles  Bewusstsein  noch  Schamgefühl  angesichts  des  dabei  stehenden  Volkes. 
Und  am  Ende  dieses  Tanzes  wurden  sie  in  der  Brustgegend  so  sehr  gequält,  dass 
sie,  wenn  sie  nicht  durch  leinene  Tücher  von  ihren  Freunden  mitten  um  den 
Leib  zusammengeschnürt  wurden,  gleichsam  rasend  riefen,  dass  sie  stürben.  Diese 
aber  in  Lüttich  wurden  durch  Beschwörungen,  die  man  aus  der  Zahl  derjenigen 
nahm,  die  im  Katechismus  vor  der  Taufe  geschehen,  von  dem  Dämonen  befreit, 
und  die  Geheilten  sagten,  dass  es  ihnen  geschienen  hätte,  als  ob  sie  sich  zur  Zeit 
des  Tanzes  in  einem  Fluss  von  Blut  befänden,  und  deswegen  wären  sie  in  die 
Höhe  gesprungen.  Das  Volk  aber  in  Lüttich  sagte,  diese  Plage  sei  dem  Volke 
deshalb  zugestossen,  weil  es  schlecht  getauft  sei,  besonders  von  Priestern,  welche 
sich  Konkubinen  hielten.  Und  deswegen  hatte  das  gemeine  Volk  sich  vor- 
genommen, gegen  die  Priester  aufzustehen,  sie  zu  töten  und  ihnen  ihre  Güter  zu 
nehmen,  wenn  nicht  Gott  in  den  vorhingenannten  Beschwörungen  für  ein  Mittel 
gesorgt  hätte.  Nachdem  dies  geschehen  war,  hörte  die  Volkswut  auf,  so  dass 
die  Geistlichkeit  noch  viel  mehr  vom  Volke  geehrt  wurde." 


1)  Älteste  teutsche  Chronicke  von  Jacob  v.  Königshoven,  hsg.  v.  D.  Johann  Schiltern. 
Strassburg  1698  (vgl.  oben  S.  114  Anm.  1). 


232  Martin: 

(Petri  de  Herentals,  Prioris  Floreffiensis  Vita  Gregorii  XL,  in  Stephan. 
Baluzzii  Vitae  Paparum  Avenionensium.  T.  I.  Paris  1693.  4°.  p.  483.  Abdruck  bei 
Hecker-Hirsch  1865  S.  186  f.     Übersetzung  aus  dem  Lateinischen.) 

Förstemann  führt  noch  an,  dass  in  der  Kirche  zu  Aachen  manche  bis  zur 
Höhe  des  Altars  sprangen,  dass  zuweilen  ein  Tänzer  oder  eine  Tänzerin  auf  die 
Schultern  eines  andern  trat  und  vorgab,  Wunderdinge  in  dem  offenen  Himmel  zu 
sehen,  dass  durch  die  Beschwörungen  der  Geistlichen  an  verschiedenen  Orten 
gegen  3000  Tänzer  geheilt  worden  sein  sollen.  (Die  Literatur  ist  summarisch 
angegeben)').   Nach  einer  Quelle  bei  Hecker  a.  a.  0.  tanzten  in  Metz  1100  Personen. 

Die  Tänzer  werden  einfach  Tänzer  genannt,  eine  alte  belgische  Chronik 
nennt  sie  die  dansers:  'Anno  MCCCLXXIV  gingen  die  dansers'^).  Zum 
ersten  Male  finde  ich  bei  Trithemius^)  (geb.  1642  zu  Trittenheim  a.  d.  Mosel, 
gest.  1516  in  Würzburg)*)  den  Namen  Johannistanz.  In  seinem  Bericht 
sagt  er  'chorea  S.  Johannis',  in  der  Überschrift  'Chorisatio  S.  Joannis 
dicta  S.  Veits  Tantz'.  Spaugenberg'*)  schreibt  1591:  'man  nante  es  S.Veits 
Tantz'. 

Dass  die  Zeitgenossen  dem  Tanz  keinen  Namen  gaben,  fällt  auf. 
Dass  es  sich  um  den  Johannistanz  handelt,  darüber  ist  kein  Zweifel.  Auch 
beim  Strassburger  Veitstanz  kommt  in  keinem  der  zeitgenössischen 
Berichte  der  Name  Veitstanz  vor,  und  ich  vermute,  dass  man  sich  scheute, 
den  Namen  auszusprechen  oder  niederzuschreiben.  In  der  Epidemie  von 
l49y  wird  allerdings  die  Krankheit  als  etwas  bis  dahin  vollkommen  Un- 
bekanntes geschildert.  Den  Chronikenschreibern  mag  sie  und  ihre  Heil- 
weise unbekannt  gewesen  sein  (man  beachte,  dass  man  die  Worte  'frisch 
und  froh'  des  Tanzliedes  als  Geisternamen  deutete),  das  Volk  hat  sicher 
im  hl.  Johannes  seinen  Krankheitspatron  gesehen,  wie  später  an  einzelnen 
Orten  noch,  und  es  ist  falsch,  wenn  Förstemann®)  sagt,  die  Krankheit 
sei  Johannistanz  genannt  worden,  weil  man  die  Kranken  mit  dem  Anfang 
des  Johannisevangeliums  beschv^or. 

Ich  kann  mich  auch  Wicke ^)  nicht  anschliessen,  nach  dem  in  der 
Epidemie  von  1.374  die  Urheber  des  Tanzes  nur  eine  religiöse  Zeremonie 
zur  Abhilfe  von  allerlei  Nöten  beabsichtigten  und  dann  weiter  mit  den 
später  Ergriffenen  an  einer  wahnsinnigen  Tanzwut  ohne  Plan  und  Zweck 
litten.  Dass  ein  Plan  und  Zweck  da  war,  nämlich  durch  den  Tanz, 
namentlich  in  Kirchen,  unter  Anrufung  des  hl.  Johannes  geheilt  zu  werden, 


1)  Stäudlin  und  Tzschirners  Archiv  3. 

2)  Antonius  Matthaeus,  Veteris  aevi  Analecta  seu  vetera  monumenta  hactenus  nondum 
Visa.     Editio  secunda,  Tom.  I.     Hagae-Comitum  1738. 

3)  Trithemii  Chronicon  Spanheimense.     Frankfurt  1601. 

4)  Allg    Deutsche  Biographie  38.     Leipzig  1894. 

5)  C.  Spangenberg,  Adels-Spiegel.     Schmalkalden  1591. 

6)  Stäudlin  und  Tzschirners  Archiv  3. 

7)  E.  C.  Wicke,    Versuch    einer  Monographie    des  grossen  Veitstanzes    und    der    un- 
willkürlichen Muskelbewegnng.     Leipzig  1844. 


Geschichte  der  Tanzkrankheit  in  Deutschland.  233 

wissen  wir  (Wicke  will  dies  erst  für  Tänzer  nach  der  Strassburger 
Epidemie  gelten  lassen),  und  die  Urheber  beabsichtigten  nicht  Abhilfe 
von  allerlei  Nöten,  sondern  von  ihrer  Krankheit,  mag  sie  im  Tanz 
selbst  bestanden  haben  oder  (nach  der  Kölner  Chronik)  in  hysterischen 
Konvulsionen.  Ein  Unterschied  zwischen  der  Epidemie  von  1394  und  den 
späteren  Tänzen  besteht  also  hierin  nicht. 

Wicke  versteht  unter  dem  Tauz,  mit  dem  Abhilfe  von  allerlei  Nöten 
beabsichtigt  wurde,  den  Sprung  durchs  Johannisfeuer,  durch  den  man  dem 
Volksglauben  nach  Krankheiten  auf  ein  Jahr  abhielt,  und  mit  ihm  nehmen 
Hecker-Hirsch  a.  a.  0.  und  Häser^)  (der  übrigens  die  falsche  Jahreszahl 
1395  angibt)  an,  dass  die  wilde  Feier  des  Johannistages  (ein  bis  dahin 
unschädlicher  Brauch,  der,  wie  viele  andere,  nur  den  Aberglauben  unter- 
halten hatte)  im  Jahre  1374  die  Krankheit  zum  Ausbruch  gebracht  habe 
(Hecker),  die  Tänzer  also  von  dieser  Feier  weg  als  Tanzkranke  ins  Land 
zogen.  Die  Gemüter  der  Menschen  sollen  infolge  von  allerlei  Ereignissen 
jeuer  Zeit  besonders  empfänglich  gewesen  sein:  grosse  Überschwemmungen 
des  Rheins  und  Mains,  trostlose  wirtschaftliche  Yerhältnisse  im  westlichen 
und  südlichen  Deutschland  durch  unablässige  Fehden  der  Burgherren, 
Willkürherrschaft,  bei  vielen  das  Bewusstsein  begangener  Greuel  während 
der  Pest  (Hecker),  das  über  den  Kaiser  verhängte  Interdikt,  durch  das 
die  Kirchen  geschlossen  [!],  das  geistliche  Amt  aufgehoben  waren,  nicht 
Absolution  noch  Sakrament  und  Segensspruch  den  Sterbenden  zuteil 
wurde  (Häser). 

Nur  wird  nirgends  das  Johannisfeuer  erwähnt,  und  schwere  Schicksals- 
schläge zeitigten  andere  Gesellschaften  als  die  Tänzer. 

Die  Gel  ssler,  die  Büssersekten  waren,  zogen  im  Pestjahr  1349  als  reuige 
Sünder  von  Ort  zu  Ort,  hielten  mit  Kreuzfahnen  und  Kerzen  Prozessionen,  geisselten 
sich  in  den  Kirchen  und  sangen  unter  anderm:  „Nun  recket  auf  euwere  hend. 
Daß  Gott  das  grosse  sterben  wend."  So  berichtet  die  Limburger  Chronik^).  Das 
klingt  doch  anders  als  das  Tanzlied  der  Kölner  Johannistänzer,  die  aus  Egoismus 
zur  Abwendung  ihrer  Krankheit  und  durchaus  nicht  als  zerknirschte  Sünder  die 
Kirchen  betraten  und  dort  tanzten.  Deswegen  kann  ich  die  besonderen  Be- 
ziehungen der  Tanzwut  zu  den  Geisslerfahrten,  die  Häser  a.  a.  0.  annimmt, 
nicht  einsehen.  Sie  haben  nur  äussere  Berührungspunkte,  das  Umherziehen,  den 
Besuch  der  Kirchen,  die  Verfolgung  durch  die  Geistlichkeit  (die  Geissler  nahmen 
nach  der  Limburger  Chronik  den  Papst  und  die  Kirche  nicht  zu  Hülf  und  zu 
Rat;  weil  sie  auf  eigene  Faust  Buße  thaten,  verfolgte  man  sie).  Die  Geissler 
waren  Büsser,  keine  Kranken.  Man  henkte  auch  manche  von  ihnen ^),  die  Tanz- 
kranken  nicht.  Wenn  Börsch  ohne  Quelle  (und  nach  ihm  Häser)  angibt,  hie  und 
da  seien  die  Tänzer  als  Ketzer  zum  Feuertode  verurteilt  worden*),  so  hat  er  wohl 
an  die  Geissler  gedacht. 


1)  H.  Häser,  Lehrbuch  der  Gesch.  der  .Medizin  ^  o.  Bd.    Jena  1882. 

2)  Limburger  Chronik  des  Johannes,  hsg.  v.  K.  Rössel  1860  S.  19. 

3)  Ebenda  S.  18. 

4)  Häser  a.  a.  0. 


'234  Martin: 

Mit  den  Nöten  des  14.  Jahrhunderts  bringt  man  gern  die  Entstehung  der 
Echternacher  Springprozession  (vgl.  oben  S.  r29f.)  in  Verbindung. 
Hirsch  führt  neuere  Berichterstatter  an;  nach  dem  einen  soll  die  Prozession 
zum  Andenken  an  die  Tanzwut  des  Jahres  1374  gefeiert  werden,  ein  anderer 
will  den  Ursprung  auf  eine  Luxemburg  1376  verheerende  Pest  zurück- 
führen. „Jedenfalls  also",  sagt  Hirsch  selbst,  „datiert  dieses  Fest  aus 
jener  Zeit,  in  welcher  der  Veitstanz  eben  dort  seine  erste  allgemeinere 
Verbreiterung  erlangt  hatte."  Häser  legt  die  Entstehung  ins  Luxemburger 
Pestjahr  1376.     Das  sind  alles  nicht  stichhaltige  Vermutungen. 

Ich  möchte  zunächst  auf  die  Springprozession  zu  Prüm,  einem 
Echternach  benachbarten  Abteistädtchen,  eingehen.  Reiners^)  macht  auf 
den  'Veitstanz'  aufmerksam,  der  nach  der  Chronik  des  Chapelain  von 
Metz  am  Johannistag  1374  stattfand,  und  dass  gerade  um  diese  Zeit  die 
Prümer  Springprozession  entstanden  sein  soll.  Der  Prümer  Chronist 
Heinrich  Brandt,  der  1628  schrieb,  sage  ausdrücklich,  dass  unter  dem 
dortigen  Abte  Heinrich  von  Schöenecken  (gest.  1342  [!])  die  Prümer 
Prozession,  die  mit  der  Echternacher  denselben  Charakter  und  Verlauf 
hatte,  aufgekommen  sei.  Er  sage  ferner,  es  sei  ausgemachte  Sache,  dass 
die  Andachtsübung  von  einer  öffentlichen  Drangsal  ihren  Ursprung  ge- 
nommen und  dass  die  Bewohner  sie  angestellt,  um  diese  Zuchtrute  Gottes 
abzuwenden. 

Ist  die  Prozession  unter  einem  1342  gestorbenen  Abt  aufgekommen, 
so  kann  sie  nicht  um  die  Zeit  des  Johannistanzes  von  1374  entstanden 
sein.  Wir  haben  es  also  mit  einem  schon  vor  1342  bestehenden  Heil- 
und  Vorbeugungstanz  zu  tun.  W^as  Brandt,  der  ja  im  17.  Jahrhundert 
schrieb,  „ferner"  sagt,  ist  trotz  der  Bestimmtheit,  mit  der  ers  tut,  reine 
Vermutung. 

Die  Echternacher  Springprozession  ist  nach  meiner  Meinung  noch 
älter.  Der  Abt  Thiofried  (gest.  1110)  berichtet  im  Leben  des  heiligen 
Willibrord:  „Es  kommt  in  der  Pfingstwoche  nicht  nur  aus  der  benach- 
barten Gegend,  sondern  aus  der  ganzen  französischen  und  deutschen 
Provinz,  nach  ewigem  Ritus  und  gleichsam  unauflöslichem,  unverletzlichem 
und  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  überliefertem  Gesetze  ein  unzähliger 
Priester-  und  Volkszusammenfiuss  mit  Opfergaben  und  Litaneien  unter 
grösster  Andacht  zu  den  Schwellen  des  Heiligen  wegen  der  von  den 
Vätern  den  Söhnen  erzählten  Wunder,  welche  bei  der  Freude  dieser 
Feierlichkeit  alljährlich  sich  ereigneten  vor  dem  zur  Ehre  und  zum 
Ruhme  des  heiligen  Geistes  geweihten  Altar."  Er  bezeugt,  dass  vor  dem 
grossen  Brande  der  Basilika  im  Jahre  1017  die  Grabstätte  des  Heiligen 
dermassen  mit  ex  voto  geopfertem  Wachs  und  Metall    behangen  gewesen, 


1)  A.  Eeiners,  Die  Springprozession  zu  Echternach,  Haffners  Zeitgemässe  Broschüren. 
N.  F.  5.    Frankfurt  1884. 


Geschichte  der  Tanzkrankheit  in  Deutschland.  235 

dass  zwei  Ochsen    auf    einem  Wagen   dieselben    nicht    hätten  fortbringen 
können. 

Reiners  a.  a.  0.  bringt  hierzu  eine  wichtige  Bemerkung:  „Aus  dem 
öfters  von  Thiofried  angewandten  Worte  tripudium  (terrae -podium)  als 
heidnischen  Dreisprung  den  Bestand  des  Spriugens  nachweisen  zu  wollen, 
ist  etwas  gewagt,  wenngleich  bei  Du  Gange  das  Wort  die  Bedeutung  des 
Tanzes  hat." 

Im  Lateinischen  ist  tripudium  der  dreischrittige  Tanz  und  tripudiare  im  Drei- 
schritt tanzen,  den  Dreischritt  stampfen^).  Mir  sind  die  Worte  nur  in  der  all- 
gemeinen Bedeutung  des  Tanzes  begegnet.  Schenk  von  Grafenberg  redet  von 
musica  et  tripudiis^),  Musik  und  Tänzen,  und  das  bei  Petrus  de  Herentals  An- 
geführte über  die  Tanzepidemie  von  1374  sagt:  'Populus  tripudiat  nimium  sal- 
tando'  (bei  Hecker-Hirsch  a.  a.  0.),  das  Volk  tanzte  durch  über  die  Massen  hohes 
Springen.  Hier  kann  für  tripudium  gar  nichts  anderes  als  Tanz  gesetzt  werden, 
und  wenn  trotz  der  Autorität  eines  Du  Gange  Reiners  nicht  Tanz,  sondern  podium, 
erhöhter  Tritt,  Schwelle  setzt,  so  beweist  das,  dass  ihm  das  Wort  Tanz  (das  noch 
öfter  bei  Thiofried  in  dem  Berichte,  anscheinend  an  nicht  wiedergegebenen  Stellen 
vorkommt)  unbequem  ist. 

Setzten  wir  in  den  Bericht  Thiofrieds  statt  Schwellen  Tänze  ein, 
so  würde  es  heissen,  dass  in  der  Pfingstwoche  (also  wie  heute  noch)  nach 
ewigem  Ritus  und  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  überliefertem  Gesetze 
eine  Menge  zu  den  Tänzen  des  Heiligen  (also  zu  den  Willibrordstänzen) 
zusammenkommt  wegen  der  Wunder,  welche  bei  der  Freude  dieser  Feier- 
lichkeit alljährlich  sich  ereigneten. 

Ich  halte  deshalb  Reiners  Schluss  für  falsch,  dass  die  'völlige  historische 
Gewissheit'  besteht,  die  Echternacher  Springprozession  sei  anfänglich  eine  ge- 
wöhnliche Dank-  oder  Bittprozession  gewesen,  dass  zur  Zeit  von  schweren 
Kalamitäten,  etwa  Pest  oder  Veitstanz,  zu  gleicher  Zeit  mit  der  von  Prüm,  das 
geängstigte  Volk  als  Bussübung  das  mühevolle  Hüpfen  und  Springen  nachgeahmt 
und  so  die  Veitstänze,  das  heilige  Feuer  [gemeint  ist  wohl  Antoniusfeuer  =  Kribbel- 
krankheit] und  der  schwarze  Tod  [Pest]  aufgehört  habe. 

Die  Echternacher  Springprozession  ist  nicht  nur  eine  Nachahmung  des 
Veitstanzes  zur  Abwehr  desselben  und  anderer  Krankheiten  gewesen,  sie  war 
schon  vor  der  Epidemie  von  1374  der  Veitstanz  selbst  (hier  Willibrordstanz 
genannt)  im  Sinne  des  Bewegungskrankheiten  vorbeugenden  und  heilenden  Tanzes, 
was  er  der  Hauptsache  nach  heute  noch  ist. 

Hätten  die  Tanzkranken  von  1374  ihre  Heiltänze  in  den  Kirchen 
unter  Führung  der  Geistlichen  unternommen,  so  wären  sie  nicht  als  vom 
Teufel  Besessene  behandelt  worden.  Die  Echternacher  Springprozession 
beweist,  dass  damals  die  Kirche  wenigstens  dem  Heil-  und  vorbeugenden 
Tanze  am  Tage  eines  der  Krankheitspatrone  nicht  feindlich  gegenüber- 
stand,   im  Gegenteil    ihn  pflegte.     Erst  viel  später    trat    sie 'gegen  diesen 


1)  K.  E.  Georges,  Ausführl.  lat.-dt.  Wb. ",  2.  Bd.     Leipzig  1880. 

2)  Joannis    Schenkii    a    Grafenberg  Observationiuri    niedicarum    variarum    libri   VII. 
Frankfurt  16G5. 


236  Martin: 

auf  —  die  Echternacher  Springprozession  war  ja  auch  zeitweise  verboten  — ; 
in  der  'Cynosura  ecclesiastica'  vom  Jahre  1638  heisst  es:  „St.  Veitstanz 
soll  propter  concurrentem  superstitionem  [wegen  des  sich  dabei  an- 
häufenden Aberglaubens]  nicht  geduldet  werden"  ^). 

Böhme  a.  a.  0.  sieht  in  dieser  Stelle  eine  Warnung  von  strengen  Sitten- 
wächtern gegen  Unsittlichkeit,  wie  sie,  unter  Bezug  auf  die  Limburger  Chronik, 
bei  Veitstänzern  vorkam.  Da  Superstitio  Aberglaube  heisst  und  Kranksein  auf 
obrigkeitlichen  Befehl  nicht  zu  beseitigen  ist,  so  kann  nur  der  öffentliche  Heil- 
oder Vorbeugungstanz  gemeint  sein. 

Wie  tanzten  die  Tanzkranken  und  wie  tanzte  man  beim  Heiltanz? 
Viele  Tanzkranke  werden  planlos  herumgespruugen  sein,  andere  tanzten 
die  zur  Zeit  gerade  üblichen  Tänze,  und  heute  würden  wir  vielleicht 
Walzer  oder  Tango  sehen,  aber  es  wurde  leidenschaftlicher  und  wilder 
als  sonst  getanzt.  Cyriacus  Spangenberg  schreibt  1561  über  'Vnge- 
pürliche  Tänze'  und  sagt  dazu:  „Dann  was  ist  da  anders,  dann  ein 
wildes,  vngeheuwer,  viehisch  rennen,  lauffen,  vnnd  durch  ein  ander  zwirbeln, 
da  sihet  man  ein  sollich  vnzüchtig  auffwerffen  vnd  entblössen  der  Mägdliu, 
das  einer  schwüre,  es  hätten  die  vnfläter,  so  solchen  Reyen  füren,  aller 
zucht  vnd  ehre  vergessen,  weren  taub  vnd  vnsinnig,  vnd  tanzten  S.  Veits 
tantz,  vnd  ist  in  w^arheyt  auch  nicht  vil  anders"^).  In  Köln  tanzten  und 
rasten  nach  der  Limburger  Chronik  1374  die  Leute  'vnd  stunden  je  zwey 
gen  ein'^).  Der  Chronist  hebt  das  als  etwas  Besonderes  hervor.  Als  1352 
der  Naumburger  Bischof  Johann  von  Miltitz  beim  Tanze  starb,  wurde 
ihm  nachgesagt,  dass  er  mehr  Leichtfertigkeit  geübt,  als  einer  solchen 
Person  wohl  ansteht,  'ist  der  halben  am  Reyen  zwischen  zweyen  Weibern, 
mit  denen  er  zugleich  getanzt,  vmbgefallea,  vnd  plötzlich  gestorben'*). 
Man  tanzte  sonst  wohl  nur  einer  gegen  eine,  wie  man  das  auf  den  Bildern 
holländischer  Bauernmaler  sieht. 

Beim  Heil- und  Vorbeugungstanz  in  und  bei  den  Kapellen  scheint 
mehr  Ordnung  gehalten  worden  zu  sein,  wenigstens  an  einzelnen  Orten. 
Schenk  von  Grafenberg  schreibt,  dass  man  sich  zu  deutscliem Reigen  ordnete®). 
Die  heutige  Echternacher  Springprozession  ist  ein  alter  Tanz,  uns  so 
fremd,  dass  wir  den  Tanz  nicht  mehr  heraussehen.  In  der  heutigen 
straffen  Ordnung  ist  sie  wohl  nicht  immer  ausgeführt  worden,  dafür 
spricht,  dass  auch  mehrere  Schritte  vor-  und  rückwärts  gesprungen  wurden. 
Ob  man  aber,  wie  Bodinus  im  16.  Jahrhundert  schreibt,  das  Saitenspiel 
dem  zügellosen  und  ungeordneten  Springen  der  Veitstänzer  anfangs  an- 
passte    und    dann    durch  schwereren  Takt    und  schwerere  Art    der  Musik 


1)  F.  M.  Böhme,  Gesch.  des  Tanzes  in  Deutschland  (Leipzig  1886)  1,  6G4. 

2)  C.  Spangenberg,  Ehespiegel.     Strassburg  156L 

3)  Limburger  Chronik,  hsg.  v.  Rössel  18G0  S.  5G. 

4)  Spangenberg,  Ehespiegel  156L 

5)  Observ.  med.  l(jG5. 


Geschichte  der  Tanzkrankheit  in  Deutschland.  237 

die  Täuzer  zu  langsamerem  Tanzen  bis  zur  völligen  Beruhigung  ver- 
anlasstei),  scheint  mir  nicht  festzustehen.  An  anderer  Stelle  spricht  er  von 
einer  Raserei  mit  beständigem  Lachen  und  Springen,  die  man  vom  Süden 
bis  zum  Norden  antrifft  und  die  die  Deutschen  Veitstanz  nennen.  „Kr 
wird  aber  geheilt  durch  Saitenspiel  und  im  Anfang  erregten,  dann  be- 
sänftigten Gesang,  sei  es,  dass  er  die  abwesenden  Sinne  durch  Musik 
zurückruft,  sei  es,  dass  Saitenspiel  die  Kranken  nach  Beruhigung  des 
Geistes  heilt,  sei  es,  dass  die  bösen  Geister,  welche  die  Rasenden  sehr 
oft  peinigen,  durch  die  göttliche  Harmonie  in  die  Flucht  getrieben  werden." 
Und  dann  fährt  er  fort,  wie  der  böse  Geist  den  rasenden  Saul  nach  dem 
Lyraspiel  verlassen  ^).  Möglich  war  diese  Heilweise,  doch  scheint  mir  eher 
der  Erklärungsversuch  eines  Gelehrten  für  das  Wie  der  Musikwirkung 
beim  Heiltanz  vorzuliegen,  als  eine  selbst  beobachtete  Tatsache.  Jeden- 
falls wurde  da,  wo  man  durch  Tanzen  bis  zum  Umsinken  den  Veitstanz 
heilen  wollte,  allmählich  nicht  langsamer,  sondern  immer  wilder  getanzt, 
wie  in  Italien  bei  der  Tarantella. 

"Wie  die  Heiligen  Veit,  Johannes  der  Täufer  und  Willibrord  Patrone 
der  Tanzkranken  wurden,  darauf  will  ich  nur  kurz  eingehen,  jedenfalls 
finden  sich  in  ihren  Legenden  Anhaltspunkte  dafür. 

Die  meisten  Forscher  sind  geneigt  anzunehmen,  dass  der  hl.  Veit  mit 
dem  Veitstanz  gar  nichts  zu  tun  habe,  die  Ähnlichkeit  seines  Namens 
mit  dem  des  slawischen  Hauptgottes  Swantewit  (=-  Sankt  Vit)  soll  dazu 
geführt  haben,  dass  aus  einem  Swantewits-Tanz,  dem  grossen  und  wilden 
Kulttanze  am  Sonnwendtage  auf  Rügen  dem  slawischen  Sonnengott  zu 
Ehren,  ein  Sankt -Vitstanz  wurde. 

Demgegenüber  steht  fest,  dass  mit  Ausnahme  einer  Tanz  sage  alle 
unsere  Nachrichten  über  Tanzkrankheiten  Gebiete  betreffen,  die  nie  von 
Slawen  bewohnt  wurden. 

Wie  weit  man  den  Einfluss  des  Slawengottes  auf  das  deutsche  Volkstum 
überschätzen  konnte,  zeigt  eine  Stelle  bei  Böhme^'),  nach  dem  alle  Johannis- 
gebräuche  vormals  dem  Swantewit  galten,  was  ein  alter  Schriftsteller,  erstmals 
1718  gedruckt,  belegen  soll.  Die  Stelle  steht  [Ludewig,]  Scriptores  rerum  Germani- 
carum,  Frankfurt  1718,  2,  508,  und  es  heisst  da  'De  chorea  S.  Viti',  dass  jährlich 
am  Feste  Johannes  des  Täufers  Leute  von  der  Furcht  befreit  werden,  die  sie  im 
ganzen  dem  Johannistage  vorhergehenden  Monat  gehabt  haben.  Es  wird  dann 
auf  weitere  Nachrichten  über  Swante  Wiet  bei  Bodinus"')  verwiesen,  der  Schreiber 
kann  also  frühestens  im  16.  Jahrhundert  gelebt  haben.  Der  Inhalt  ist  uns  schon 
von    Schenk    von  Grafenberg^)    und  Horstius^)    her  bekannt,    die  Einsetzung   von 


1)  J.  Bodini  Methodus  ad  facilem  historiarum  cognitionem.    Amsterdam  1650   (Vor- 
rede von  1566). 

2)  J.    Bodini    de    re    publica  libri    VI.      Editio    altera.      Frankfurt    151)1      Vorrede 

von  1584). 

3)  Gesch.  d.  Tanzes  1886  1,  162.  —  4)  De  re  publ.  1591.  —  5)  Observ.  med.  166o. 
6)  Gregor  Horstii  Observationum  medicinalium  singularium  libri  IV.     Ulm  1625. 


238  Martin: 

Swante-Wite-Tanz  für  Veitstanz  ist  weiter  nichts  als  Spielerei  eines  Gelehrten. 
Wer  es  ist,  konnte  ich  nicht  nachprüfen,  da  mir  das  Werk  nicht  zur  Ver- 
fügung stand. 

Höfler  nimmt  an,  dass  man  durch  den  St.-Johannistanz  am  Johannis- 
tage das  Yergicht  (Gichter,  Epilepsie,  Huudswut,  Staupe,  Konvulsionen) 
heilen  wollte.  Unter  St. -Johannesübel  versteht  er  Epilepsie.  Die  Sonnen- 
kultzeit (Johannistag)  war  von  jeher  eine  Zeit  der  von  Dämonen  Be- 
sessenen, die  man  durch  Eeigentänze  im  Anblick  der  Morgensonne  ver- 
treiben wollte.  Das  universelle  Allheilmittel,  die  Wärme  des  Himmel- 
Elementes,  der  die  nächtlichen  Alp -Wesen  (Dunkel-Eiben)  vertreibenden 
Sonne,  und  das  Tageslicht,  dessen  höchsten  Stand  man  in  der  Sommer- 
sonnenwende feierte  (St.  Johannis)  und  das  als  Einauge  Wodans  vor- 
gestellt wurde,  die  Sonne  war  es,  der  man  die  von  Dämonen  besessenen 
Unsinnigen  im  Reigentanze  entgegenführte i). 

Derartige  Kranke  finden  sich  hochgerechnet  10  unter  1000  Menschen. 
Soll  dieser  wenigen  Leute  wegen  eine  Hauptfeier  des  germanischen  Heiden- 
tums stattgefunden  haben?  Die  Kranken  selbst,  ihre  Angehörigen,  tanzten 
an  jenem  Tage,  ich  glaube,  für  ihre  Zwecke,  nicht  mit  den  andern  im 
feierlich  religiösen  Tanz  des  grossen  Johannisfestes,  sondern  gesondert 
und  in  anderer  Weise,  wie  andere  durchs  Johannisfeuer  sprangen,  wieder 
andere  sich  24  Stunden  ins  Johannisbad  setzten,  um  Krankheiten,  namentlich 
im  kommenden  Jahr,  zu  verhüten.  Ihretwegen  fand  jedenfalls  der  grosse 
Kulttanz  nicht  statt. 

Der  Johannis-  oder  Veitstanz  am  Tage  der  Heiligen,  mit  dem  wir  es 
zu  tun  haben,  entsprang  dem  Aberglauben,  dass  Tanzkrankheiten  im 
weiteren  Sinne  (also  Bewegungskrankheiten,  bei  Höfler  das  Vergicht) 
durch  Tanzen  an  jenen  Tagen  zu  heilen  seien.  Ein  Kreis  abergläubischer 
Leute  meinte  ihn  jedes  Jahr  tanzen  zu  müssen,  sonst  würde  die  Tanz- 
krankheit ausbrechen,  und  geistig  Minderwertige  spürten  schon  Wochen 
vorher  die  Anfänge  derselben  in  ihren  Gliedern,  die  dann  nicht  zum 
Ausbruch  kam,  wenn  sie  an  dem  bestimmten  Tage  tanzten.  Manche  Tänzer 
wollten  sich  wohl  auch  gegen  das  Anfluchen  des  Veitstauzes  wappnen. 

All  dieses  betrifft  nur  den  Heil-  und  Vorbeugungstanz  an  den  Tagen 
der  Heiligen:  wie  der  eigentliche  grosse  Veitstanz  entstand,  wird  hierdurch 
nicht  erklärt,  weil  er  eben  eine  Krankheit  war,  die  unabhängig  von  Ort 
und  Zeit  entstand. 

In  mehreren  Tanzsagen  hat  man  Tanzkrankheiten  finden  wollen, 
selbst  in  der  vom  Auszug  der  Kinder  aus  Hameln  (Wicke)'').  Es  sind 
nur  zwei,  die  ernstlich  in  Betracht  kommen. 

1021  tanzten  singend  zu  Kölbigk  an  der  Wipper  bei  Bernburg  in 
der  Christuacht  auf  dem  Kirchhofe  (d.  h.  bei  der  Kirche)  Bauern,  Männer 

1)  M.  Höfler,  Das  Hirnweh.     Am  Urquell  1897. 

2)  E.  C.  Wicke,  Versuch  einer  Monographie  des  grossen  Veitstanzes.    1844. 


Geschichte  der  Tanzkrankheit  in  Deutschland.  239 

und  Frauen,  und  störten  den  Gottesdienst.  An  die  Ermahnungen  des 
Priesters,  davon  abzustehen,  kehrten  sie  sich  nicht,  und  dieser  wünschte 
ihnen  an,  ein  ganzes  Jahr  so  weiter  zu  tanzen  und  zu  singen,  und  das 
geschah.  Später  zogen  die  Leute  bettelnd  als  Sieche  durchs  Laud^). 
Alles  Beiwerk,  das  in  den  Berichten  den  Vorfall  zum  Wunder  stempeln 
sollte,  habe  ich  weggelassen.  Schon  im  12.  Jahrhundert  kommt  also  das 
Anwünschen  der  Tanzkrankheit  vor,  und  zwar  mit  Erfolg. 

1277  oder  1278,  so  melden  verschiedene  Historiker,  deren  Zeit-  und 
Ortsangaben  variieren,  soll  auf  der  Brücke  zu  Maestricht,  nach  andern 
auf  einer  Moselbrücke  oder  der  Brücke  zu  Utrecht  ein  Tanz  stattgefunden 
haben.  Die  älteste  Nachricht  gibt  Martinus  Minorita^).  Nach  ihm 
erzählte  man  von  200  Tänzern  auf  der  Moselbrücke  in  Utrecht  im 
Jahre  1278  (am  17.  Juni),  die  nicht  eher  aufhören  wollten  zu  tanzen,  als 
bis  ein  Priester  den  Leib  Christi  zu  einem  Kranken  vorbeitrüge,  und  zur 
Strafe  ihres  Frevels,  als  die  Brücke  brach,  alle  ertranken^).  Schröder 
a.  a.  0,  S.  159  meint:  'cessare  nolebant,  donec  plebanus  trausiret'  wird  kaum 
richtig  sein'  und  will  dafür  setzen,  dass  die  Tänzer  selbst  beim  Herannahen 
des  Priesters  mit  dem  Sakrament  nicht  aufhören  wollten.  Ich  glaube 
doch,  dass  es  richtig  ist.  Brüssel,  Echternach  und  Lüttich  liegen  nicht  weit 
voneinander.  Im  Test  zu  dem  Brueghelschen  Bilde  (oben  S.  132)  wird  die 
Befreiung  von  St.-Johannessiechtum  auf  ein  Jahr  durch  Tanzen  über  die 
Brücke  bei  Molenbeck  erreicht.  Es  ist  vielleicht  nicht  Zufall,  dass  die 
Echternacher  Springprozession  auf  einer  Brücke  beginnt.  So  werden  die 
200  Tänzer  auf  der  Utrechter  Moselbrücke  zu  ähnlichem  Zwecke  getanzt 
haben,  vielleicht  seit  dem  Veitstage  und  erfolglos,  weshalb  sie  glaubten 
weiter  tanzen  zu  müssen,  bis  ein  Priester  (zufällig)  das  Sakrament  zu 
einem  Kranken  trüge.  Da  brach  unter  der  Last  der  Tänzer  zwei  Tage 
nach  dem  Veitstag  die  Brücke  ein. 

Heute  ist  der  grosse  Veitstanz  selten.  Der  Glaube  an  ihn  und  an 
das  Anwünschen  ist  im  Volk  verloren  gegangen.  Damit  fiel  die  Unter- 
lage für  eine  auf  Sugo-estion  beruhende  Krankheit.  Der  Heil-  und  vor- 
beugende  Veitstanz  hat  sich  in  der  Echternacher  Springprozession  er- 
halten und  dies  nur,  weil  er  uns  hier  nicht  mehr  als  Tanz  erscheint  und 
die  Kirche  ihn  als  eine  Buss-  und  Sühneandacht  betrachtet. 

Bad-Nauheim. 


1)  Eine  ausführliche  Bearbeitung  des  Tanzwunders  von  Kölbigk  hat  Edward  Schröder 
in  Brieger  und  Bess'  Zs.  f.  Kirchengesch.  17.  Gotha  1897,  gegeben,  nach  der  die  Be- 
gebenheit tatsächlich  stattgefunden  hat.  Seinen  Quellen  kann  ich  noch  eine  bei  Böhme 
(Gesch.  d.  Tanzes  1,  20  angeführte  hinzufügen:  Chronica  inedita  cujusdam  Fratris  praedi- 
catorum.    Cod.  Einsidl.  saec.  XIII,  cit.  apud  Schubiger,  Musikalische  Spicilegien  1876  S.  152 

2)  Schröder  a.  a.  0.  —  3)  Hecker-Hirscli  a.  a.  0. 


240  Lehmann-Nitsche: 


Zur  Volkskunde  Argentiniens. 

Von  Robert  Lehmann-Mtsche. 


I.  Volksrätsel  aus  dem  La  Plata-Gebiete. 

Ein  nun  bald  ITjähriger  Aufenthalt  am  südamerikanischen  Silber- 
strome in  wissenschaftlicher  Stellung  bot  dem  Schreiber  dieser  Zeilen 
Gelegenheit,  sich  auch  mit  der  Volkskunde  dieser  für  Europa  so  gänzlich 
unbekannten  Länder  zu  beschäftigen.  Aber  entgegen  der  Wut  mancher 
Sammler  auf  diesem  Gebiete,  jede  Kleinigkeit  sofort  zu  veröffentlichen^), 
erschien  es  rätlicher,  mit  der  Drucklegung  zu  warten,  bis  das  Material 
eine  gewisse  Vollständigkeit  und  Abgeschlossenheit  erreicht  hatte.  So 
erschienen  denn  zunächst  die  Volksrätsel  der  La  Plata-Staaten^),  und  zwar 
als  sechster  Band  der  sog.  „Biblioteca  Centenaria",  einer  Sammlung  sehr 
verschiedenartiger  Werke,  welche  die  Universität  zu  La  Plata  anlässlich 
der  hundertjährigen  Unabhängigkeitsfeier  Argentiniens  herausgegeben  und 
an  alle  grösseren  Bibliotheken  der  Welt  verteilt  hat.  Aus  der  Einleitung 
sei  folgendes  entnommen. 

Über  die  Volksrätsel  Südamerikas  und  speziell  der  La  Plata-Gebiete 
lässt  sich  historisch  kaum  etwas  Wichtiges  vorbringen.  Ende  des 
18.  Jahrhunderts  lebte  zu  Lima  in  Peru  ein  gewisser  Esteban  Terralla 
y  Landa,  bekannt  als  „der  Rätseldichter";  vielleicht  haben  seine  poetischen 
Ergüsse  dieser  Art  auch  das  dortige  Volksrätsel  beeinflusst  (wie  ähnliches 
in  Spanien  der  Fall    war)    und    sind  bis  zum  La  Plata  gedrungen;    nicht 


1)  Ich  habe  hier  speziell  die  'Zeitschrift  für  argentinische  Volkskunde'  im  Auge,  die 
zahlreiche  auf  mangelnder  Sprach-  und  Bücherkenntnis  beruhende  Fehler  enthält  Einige 
Beispiele:  Band  1,  27:  Das  Kinderliedchen  besteht  aus  zwei  vollkommen  unabhängigen 
Liedern,  die  irrtümlicherweise  zusammengemengt  werden.  —  S.  8.  Der  Mate  in  feinen 
Gesellschaftskreisen  ist  unmöglich;  er  gilt  als  Volksgetränk,  als  nicht  vornehm.  —  S.  144 
ist  das  Verschen  'Ni  papä  me  quiere,  ni  mama  me  adora'  ganz  sinnlos;  das  dort  ab- 
gedruckte Spanisch  (und  dementsprechend  die  Übersetzung)  ist  ganz  unmöglich.  —  S.  145 
muss  es  heissen:  la  cartilla  se  me  fue,  die  Fibel  ging  mir  verloren;  es  wird  angegeben 
caretilla;  erstens  müsste  es  heissen  carretilla,  zweitens  ist  eine  derartige  Verkleinerungs- 
form in  Argentinien  ungebräuchlich.  —  Band  2,  181  ist  die  Sache  von  den  historischen 
Uniformen  falsch;  dieselben  wurden  wieder  neu  eingeführt;  aber  etwas  weiterhin  findet 
sich  so  ungefähr  der  Colmo:  Der  11.  November,  der  bekannte  St.  Martinstag,  soll 
Namenstag  des  Generals  San  Martio  (der  am  25.  Februar  geboren  wurde)  und  deswegen 
ein  nationaler  (!)  Feiertag  sein! 

2)  Lehmann-Nitsche,  Folklore  Argentino.  1.  Adivinanzas  Rioplatenses.  Buenos 
Aires  1911.    495  S. 


Zur  Volkskunde  Argentiniens.  241 

unmöglich,  wenn  man  daran  denkt,  dass  zur  Kolonialzeit  die  Beziehungen 
zwischen  den  einzelnen  Teilen  des  lateinischen  Amerika  viel  enger  waren 
als  heute.  Eine  kleine  Beeinflussung  lässt  sich  wenigstens  bezüglich  des 
uruguayischen  Dichters  Francisco  Acuna  de  Figueroa  (erste  Hälfte  des 
19.  Jahrhunderts)  nachweisen. 

Sammlungen  von  Volksrätseln  aus  Südamerika  lagen  bisher  nicht 
vor,  erst  während  und  nach  dem  Drucke  meiner  Arbeit  sind  Beiträge  aus 
Chile,  Mexico  und  Brasilien  veröffentlicht  worden^).  Um  so  mehr  reizte 
dieser  Umstand,  den  lustigen  Schwärm  -  aus  dem  Bereiche  des  Silber- 
stromes möglichst  vollständig  einzufangen,  und  ich  glaube,  9596  zusammen- 
gebracht zu  haben.  Das  gedruckte  Werk  enthält  1030  verschiedene 
Nummern,  dazu  909  Varianten  und  166  Dubletten,  die  aus  anderen  Pro- 
vinzen stammen,  also  im  ganzen  2105  Aufzeichnungen;  ferner  sind  131 
verschiedene  Kunsträtsel  mit  12  volkstümlichen  Varianten  des  eben  ge- 
nannten Acuna  abgedruckt  worden.  Rechnet  man  dazu  die  120  ver- 
schiedenen erotischen  Rätsel,  mit  135  Varianten  und  15  Dubletten,  welche 
an  Dr.  F.  S.  Krauss  für  seine  Anthropophyteia  eingesandt  wurden,  so  gibt 
das  alles  zusammen  über  zweitausend  und  fünfhundert  einzelne  Auf- 
zeichnungen. Was  die  1150  verschiedenen  anbelangt,  so  erscheint  das 
wenig  für  so  gewaltige  Länderstrecken;  aber  man  darf  nicht  vergessen, 
dass  sie  dünn  bevölkert  sind  und  dass  es  sich  um  ursprünglichen  Kolonial- 
besitz handelt,  der  vom  spanischen  Mutterlande  durch  drei  Jahrhunderte 
vernachlässigt  wurde,  wo  die  Landessprache  selber  degenerierte  und  ver- 
armte. Ausserdem  ist  Argentinien  seit  etwa  fünfzig  Jahren  durch  Ein- 
wanderung ethnisch  stark  verändert  worden;  z.  Z.  sind  ja  mehr  als  die 
Hälfte  seiner  Bewohner  Fremde  und  Kinder  von  solchen;  diese  lernen 
zwar  in  den  Schulen  die  spanische  Landessprache,  man  möchte  sagen: 
äusserlich;  innerlich  bleiben  sie  verarmt. 

Als  Herkunft  der  Rätsel  ist  nur  die  argentinische  Provinz,  in  der 
sie  aufgezeichnet  oder  gehört  wurden,  angegeben;  sonst  würde  eine  Ge- 
nauigkeit vorgetäuscht,  die  in  Wirklichkeit  gar  nicht  vorhanden  ist. 
Rätsel  mit  verschiedenen  Lösungen  stehen  unter  der  gleichen  Nummer; 
natürlich  ist  die  Auflösung  jedesmal  angegeben.  Auch  Rätsel  aus  Pa- 
raguay und  die  paar  aus  Uruguay  sind  miteinbezogen  in  den  Begriff 
La  Plata- Länder.  Ebensowenig  sind  von  den  spanischen  diejenigen  ab- 
getrennt, welche  in  den  Indianersprachen  Kitshua  (argentinische  Provinz 
Santiago  del  Estero)  und  Guarani  (Provinz  Corrientes  und  Republik 
Paraguay)    auftreten,    denn    es  handelt    sich  entweder  um  einfache  Uber- 


1)  Flores,  Adivinanzas  corrientes  en  Chile.  Revista  del  Folklore  Chileno  2,  135  bis 
3o4:  Boas,  Notes  on  Mexican  Folk-Lore.  Journal  of  American  Folk-Lore  25,  227  —  231; 
Carneiro  Monteiro,  Advinharöes.  Revista  do  Instituto  Historico  o  Geograpliico  Parahjbano 
2,  285-290. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.  1914.    Hefts.  16 


242  Lehmann-Nitsche : 

Setzungen  oder  um  Erzeugnisse  zwar  indianischen  Geistes,  die  aber  durch 
alteuropäisches  psychisches  Ferment  zustande  gekommen  sind^). 

Mit  der  Untersuchung  über  das  sonstige  Vorkommen  eines  Rätsels 
war  es  übel  bestellt;  es  gibt  in  Argentinien  keine  einschlägigen  Biblio- 
theken. Schon  in  Europa  ist  es  schwierig,  hierfür  die  Literatur,  versteckt 
und  zersplittert,  zusammenzubringen;  um  wieviel  mehr  in  geistigem 
Ödland!  Ich  beschränkte  mich  daher  zum  Vergleich  auf  diejenigen 
Länder,  von  denen  verhältnismässig  ausgedehnte  Materialsammlungen  vor- 
liegen. Leider  sind  da  nur  Mecklenburg,  Sizilien,  Rumänien  und  wohl 
Kurland  zu  nennen;  Frankreichs  Rätselschätze  sind  seit  Rolland  nicht 
wieder  in  Buchform  gesammelt  worden;  Spanien,  das  für  hispano-araerika- 
nische  Vergleiche  in  erster  Linie  heranzuziehen  ist,  besitzt,  abgesehen 
von  kleineren  Arbeiten,  die  ältere  Sammlung  von  Machado  y  Alvarez, 
unter  dem  Pseudonym  Demöfilo  erschienen;  die  neuere  von  A.  Rodriguez 
Marin  war  mir  seinerzeit  unzugänglich,  da  längst  vergriffen  und  in  keiner 
argentinischen  Bibliothek  vorhanden.  Aber  der  Schwerpunkt  der  Rätsel- 
forschung liegt  m.  E.  gar  nicht  auf  der  vergleichenden  Seite;  diese  ist 
Sache  einer  späteren  Zukunft,  wenn  erst  einmal  möglichst  viel  Material 
beisammen  ist;  dann  werden  Akademien  oder  internationale  wissen- 
schaftliche Verbände  in  einem  einzigen  Thesaurus  sämtliches  veröffent- 
lichtes Material  neu  herausgeben,  entweder  nach  Länder-  resp.  Sprach- 
gruppen oder  nach  Rätselgruppen  geordnet.  Letzteres  dürfte  das  Wahr- 
scheinlichere sein,  und  vielleicht  bietet  die  Einteilung  der  Adivinauzas 
Rioplatenses  einen  Wegweiser  dazu.  Von  diesen  konnten  trotz  allem 
ein  Drittel  als  europäischen  Ursprungs  nachgewiesen  werden,  und  gewiss 
trifft  das  für  die  Hälfte  und  mehr  zu,  wenn  sämtliche  zurzeit  vorhandenen 
bibliographischen  Quellen  hätten  benutzt  werden  können  und  Spanien,  in 
neuerer  Zeit  auc^h  Italien,  besser  durchforscht  sein  werden. 

In  den  nachfolgenden  Zeilen  will  ich  versuchen,  eine  Übersicht  über 
die  Systematik  der  argentinischen  Volksrätsel  zu  geben.  Es  hat  sich  aber 
herausgestellt,  dass  jene  Einteilung  für  das  Volksrätsel  überhaupt  gültig 
zu  sein  scheint,  und  dieser  Gedanke  soll  in  folgendem  untersucht  werden; 
nur  sind  manche  Gruppen  im  spanischen  Rätsel  viel  üppiger  entwickelt 
als  im  deutschen  usw.,  und  umgekehrt. 

Anstoss  zur  Analyse  des  aufgespeicherten  Materials  gab  die  Studie 
von  Robert  Petsch'),  aus  der  u.  a.  die  Zerlegung  in  eigentliche  und 
uneigentliche  Rätsel  hervorging;  in  den  üblichen  Sammlungen  war  der 
Stoff   entweder    überhaupt    nicht    oder    höchstens  nach  dem  Anfangsbuch- 

1)  Vgl.  über  diese  Frage:  Lehmann-Nitsche,  Rätsel  aus  der  Guarani-  und  Kitshua- 
sprache,  Berichte  über  den  19.  Internationalen  Amerikanisten- Kongress.  Washington  1914 
(.zurzeit  noch  nicht  erschienen). 

2^  R.  Petsch,  Neue  Beiträge  zur  Kenntnis  des  Volksrätsels.    Berlin  1^99. 


Zur  Volkskunde  Argentiniens.  243 

Stäben  der  Auflösmigsworte  geordnet  worden;  erst  Wossidlo*)  versuchte 
eine  Zusammenfassung.  Auch  für  mich  ergab  sich  nun  jene  von  Petsch 
erkannte  Zerlegung,  allerdings  nicht  so  scharf  ausgeprägt,  insofern  als 
die  sog.  beschreibende  Gruppe  meiner  Einteilung  den  uneigentlichen 
Rätseln  nahekommt.  Aber  alles  in  allem:  die  Sprossen  unserer  Ein- 
teilung aufsteigend  gelangen  wir  von  den  eigentlichen  zu  den  uneigent- 
lichen Rätseln. 

Um  dem  Leser  Gelegenheit  zu  geben,  das  für  die  argentinischen 
Rätsel  angewandte  System  nachzuprüfen,  soll  es  mit  Proben  der  mecklen- 
burgischen Sammlung  Wossidlos  und  der  lettischen  Bielensteins^)  belegt 
werden,  soweit  das  möglich  ist.  Es  ist  durchaus  nicht  die  Aufgabe  vor- 
liegenden Aufsatzes,  andere  Materialien  heranzuziehen;  aus  dem  Gebotenen 
geht  hervor,  dass  unsere  Systematik  für  das  Volksrätsel  überhaupt  gültig 
zu  sein  scheint  und  je  nach  den  Ländern  bald  der  Einschränkung,  bald 
der  Erweiterung  bedarf;  bei  letzterer  handelt  es  sich  aber  nur  um  ein- 
fachen weiteren  Ausbau  der  schon  vorgezeichneten  grossen  Hauptgruppen. 

Die  Hauptsache  dürfte  die  sein,  dass  es  bei  den  eigentlichen  Rätseln 
gar  nicht  auf  die  Lösung  ankommt^);  charakteristisch  ist  für  sie  vielmehr 
der  Bau.  Erst  bei  der  zehnten  Gruppe  macht  sich  die  Lösung  hin  und 
wieder  bemerkbar  und  'ist  direkt  bestimmend  für  die  elfte  (kryptomorphe) 
Gruppe.  Auch  bei  den  uueigentlichen  Rätseln  spielt  die  Lösung  eine 
grosse  Rolle.  Skizzieren  wir  nun  die  verschiedenen  Gruppen  im 
einzelnen. 

Bei  einer  grossen  Anzahl  Rätsel  wird  uns  etwas  Wirkliches, 
Reelles,  vorgeführt,  das  entweder  (I)  lebt,  oder  (H)  ein  Tier,  oder  (HI) 
ein  Mensch,  oder  (IV)  eine  Pflanze  resp.  Pflanzenteil  oder  überhaupt  irgend 
ein  Ding  ist,  das  zu  keiner  der  eben  bezeichneten  Formen  gehört;  diese 
Realien  können  auch  in  mehreren  Exemplaren  auftreten.  Man  kann  also 
alle  diese  Rätsel  zu  einer  einzigen  realistischen  Gruppe  zusammen- 
fassen. Beim  Niederschreiben  des  spanischen  Textes  der  Adivinanzas 
Rioplatenses  war  aber  diese  Idee  dem  Schreiber  dieses  Aufsatzes  noch 
nicht  so  klar  geworden;  dort  sind  deshalb  die  eben  detaillierten  Gruppen  I 
bis  IV  als  einzelne  hingestellt,  und  als  solche  sollen  sie  auch  weiterhin 
besprochen  werden. 

Das  Ding,  um  welches  es  sich  in  solchen  Rätseln  also  handelt, 
bildet  das  grundlegende,  typische  Element  des  Rätsels;  es  lenkt  den 
Hörer  von  der  Lösung  ab.  Es  ist  deshalb  noch  ein  ergänzendes 
Element  nötig,  welches  den  Hörer  zur  Lösung  hinlenkt,  und  dieses 
dient  dann  zur  weiteren  Unterteilung. 


1)  Wossidlo  (W.\  Mecklenburgische  Volksüberlieferuugen  1.    Wismar  1897. 

2)  Bielenstein  >  B.  ,  1000  lettische  Rätsel.     Mitau  1881. 

3    Um    den  Leser   ticht  zu  verwirren,   sind  die  Lösungen  der  angeführten  Beispiele 
fortgelassen,  falls  das  Gegenteil  nicht  unbedingt  nötig  war. 

16'= 


244  Lehmann-Nitsche: 

I.  In  der  biomorphen  Gruppe  wird  uns  von  einem  Wesen  berichtet, 
das  allen  seinen  Eigentümlichkeiten  nach  ein  lebendes  ist,  ohne  dass  wir 
jedoch  wüssten,  ob  es  Tier  oder  Mensch  (oder  Pflanze)  ist;  z.  B.:  'Wenn 
es  nach  dem  Walde  geht,  schaut  es  rückwärts  nach  Hause;  wenn  es  nach 
Hause  kommt,  schaut  es  rückwärts  zum  Walde'  (B.  832).  Wir  hören  also 
von  einem  Wesen,  das  geht,  also  leben  muss.  In  B.  508:  'Ein  Arm  von 
Holz,  Krallen  von  Eisen'  charakterisieren  Arm  und  Krallen  das  Ding 
(nicht  etwa  die  Lösung,  die  bei  der  Klassifizierung  ja  gar  nicht  in  Frage 
kommt!)  als  einen  Organismus,  der  nur  eben  nicht  genauer  bezeichnet 
ist  (was  in  den  folgenden  Gruppen  der  Fall  ist).  Das  gleiche  gilt  von 
B.  328:  'Vorne  hat  es  den  Rücken,  hinten  den  Bauch'.  In  W.  308  sind 
die  Gelenke,  in  W.  337  a  das  Gehen,  in  W.  230  Kopf  und  Bauch,  in 
W.  307  die  Rippen,  in  W.  360  die  Beine  und  das  Gehen  die  typischen 
ablenkenden  Elemente,  wonach  das  Rätsel  in  die  biomorphe  Gruppe  gehört. 

Die  hinlenkenden  Elemente  derselben  sind  nicht  immer  klar  aus- 
geprägt, und  die  volkstümlich  gewordenen  Kunsträtsel  erschweren,  wenig- 
stens für  das  spanische  Sprachgebiet,  die  Systematik.  Immerhin  kann 
man  folgende  Abteilungen  des  hinlenkenden  Elementes  unterscheiden,  die 
manchmal  kombiniert  sind: 

1.  Allgemeine  Angaben  über  die  Lebensweise  usw.  —  Ad. 
Riopl.  6:     'In  der  Höhe  lebt  es,  in  der  Höhe  hält  es  sich  auf  usw.' 

2.  Die  verschiedenen  Lebensalter.  (Sehr  zahlreich  im  spani- 
schen Rätsel.)  —  B.  419:  'Was  wird  zweimal  geboren?'  In  den  A.  R. 
finden  sich  Beispiele  von  Kombination  mit  Geschlechts-  und  Farben- 
wechsel während  des  Wachstums,  in  den  beiden  hier  angezogenen  Samm- 
lungen hin  und  wieder  auch  Beispiele  für  solchen  Wechsel,  aber  in 
anderer  Verbindung,  z.  B.  B.  785:  'Schwarz  geht's  in  die  Badstube,  rot 
kommt  es  heraus'  (mit  der  vierten  Abteilung  kombiniert). 

3.  Normale  morphologische  Elemente.  —  B.  412:  'Ein  kurzer 
Körper,  ein  langer  Schwanz'.  W.  307,  auch  W.  230  gehören  ebenfalls 
hierher. 

4.  Normale  physiologische  Elemente.  Von  diesen  ist  nament- 
lich die  Bewegung,  sei  es  einfache,  sei  es  fortwährende,  sei  es  Hin-  und 
Herbewegung,  beliebt;  aber  wir  fi^nden  auch  Hören  usw.  —  Beispiele  für 
Bewegung.  B.  41:  'Sich  wickelnd  und  windend  geht's  hinauf  und  ver- 
knotet sich'.  W.  315 — 316  und  283  behandeln  das  Gehen  und  Sehen. 
B.  296  ist  typisch  für  hin  und  her  usw.:  'Es  steigt  den  Berg  hinauf 
und  schleppt  sich  wieder  herab'.  B.  832  wurde  schon  zitiert.  In  B.  148 
geht  etwas  Tag  und  Nacht,  ohne  bis  an  das  Ende  gelangen  zu  können.  — 
Singen  und  Weinen  finden  sich  bei  W.  300a,  301a  und  306;  Essen 
bei  B.  93. 

5.  Normale  morphologische  und  physiologische  Elemente  in 
Kombination.     Diese  Abteilung  ist  kompliziert  und  unscharf;  ich  zitiere 


Zur  Volkskunde  Argentiniens.  245 

aus    den  A.  E..    das  Rätsel  von    der  Geige:     'Man    kratzt  mir  den  Nabel, 
und  ich  sterbe  vor  Lust'. 

6.  Abnorme  morphologische  Elemente.  Äusserst  interessante 
Formen  von  ganz  besonderem  Reiz. 

Die  Abnormität  ist  von  dreierlei  Art:  a)  Der  betr.  Körperteil  ist 
aus  einem  StofPe  gebildet,  der  ilim  nicht  zukommt;  ich  wählte  für  diese 
Unterabteilung  die  Bezeichnung  Terato plasie.  Die  Beispiele  sind  sehr 
zahlreich:  B.  508  ('Ein  Arm  von  Holz,  Krallen  von  Eisen"),  B.  657  ('Die 
Zähne  von  Eisen,  der  Leib  von  Holz,  der  Rücken  von  Strick').  —  Bei 
Unterabteilung  b)  (Heterotopie)  sitzt  der  fragliche  Körperteil  an  einer 
Stelle,  die  einem  anderen  zukommt:  B.  784  ('Es  hat  die  Knochen  aus- 
wendig, das  Fleisch  inwendig'),  B.  328  ('Yorue  hat  es  den  Rücken,  hinten 
den  Bauch');  ebenso  W.  UOO,  das  Rätsel  vom  Kohl,  der  das  Herz  im 
Kopfe  hat.  —  Unterabteilung  c)  schliesslich  (Teratomorphie)  umfasst 
die  Fülle  richtiger  Monstra,  Missbildungen  durch  fehlende  oder  durch 
exzessive  Entwicklung  des  betr.  Körperteils;  B.  559  z.  B.  hat  zwar  Kopf, 
Milch,  Schwanz,  aber  keine  Haare,  Brüste,  Füsse;  B.  497  hat  zwar  zwei 
Fusssohleu,  aber  sechs  Schienbeine.  W.  424b  — e  ist  das  bekannte  Rätsel 
vom  Reiter  mit  seinem  Pferd:  2  Köpfe,  6  Füsse  (Beine),  4  Augen;  im 
übrigen  ist  das  Wesen  normal  mit  2  Armen  und  10  Zehen.  Ganz  ähnlich 
W.  360,  eine  Variante  des  vorigen,  und  W.  327  (ein  Wesen  ohne  Kopf 
und  Darm  usw.),.  ferner  W.  295  (ein  Wesen  ohne  Kopf  und  Rücken), 
W.  175b  (ohne  Blut,  Leber,  Lunge).  —  Gelegentlich  finden  sich  Kombi- 
nationen zwischen  a,  b  und  c. 

7.  Abnorme  physiologische  Elemente.  Ebenfalls  sehr  bunte 
Rätselbilder.  Der  betr.  Körperteil  hat  entweder  eine  Funktion,  die  einem 
anderen  zukommt  (Unterabteilung  a)  Heterophysiologie)  oder  die 
Funktion,  von  der  die  Rede,  ist  ganz  unmöglich,  da  ja  die  dazu  nötigen 
Organe  fehlen  (b)  Teratophysiologie,  beides  Ausdrücke,  die  nicht 
schön  klingen,  aber  jedenfalls  zutreffend  sind.  —  Beispiele  für  Unter- 
abteilung a):  W.  243a  ist  typisch:  'Hinnen  frett't,  vor  schitt't'.  Zahl- 
reichere Fälle  ergaben  sich  für  Unterabteilung  b),  z.  B.  B.  265  ('Was 
springt  und  geht  ohne  Füsse?'),  B.  321  ('Was  läuft  ohne  Füsse?');  W.  362 
(Laufen  ohne  Beine),  W.  363  (Fressen  ohne  Maul),  W.  90  (Lasten  tragen 
ohne  Rücken),  W.  280  (Auf  dem  Kopfe  gehen). 

8.  Abnorme  morphologische  und  physiologische  Elemente 
n  Kombination.  In  den  Ad.  Riopl.  nicht  vertreten,  wohl  aber  bei 
W.  387  (Drei  Beine,  Fett  fressen,  ohne  fett  zu  werden). 

Während  die  bisher  betrachteten  Fälle  der  biomorphen  Gruppe 
Wesen  einer  einzigen  Art,  sei  es  in  Einzahl,  sei  es  in  Mehrzahl,  auf- 
führen, man  also  von  Mono-  resp.  Poly-Biomorphie  sprechen  kann,  machte 
ein  einziges  Rätsel  der  Ad.  Riopl.  (Nr.  199)  die  Aufstellung  einer  zweiten, 
dieser  entgegengesetzten  Untergruppe  nötig;    in  diesem  vereinzelten  Falle 


246  Lehmann-Nitsche: 

treten  zwei  verschiedenartige  Wesen  auf,  die  mit  einander  kämpfen  und 
dadurch  als  lebende  charakterisiert  werden;  ich  nannte  diese  Untergruppe 
alloio-biomorph.     Weder  bei  B.  noch  bei  W.  fanden  sich  Beispiele  dafür. 

II.  Die  zoomorphe  Gruppe  ist  ohne  weiteres  dadurch  gekennzeichnet, 
dass  das  ablenkende  Element  ein  Tier  ist ;  in  den  Ad.  Riopl.  treten  Tiere 
ohne  weitere  Benennung,  Haus-  und  wilde  Tiere  auf.  Die  hinlenkenden 
Elemente  lassen  sich  in  genau  der  gleichen  Weise  klassifizieren,  wie  bei 
der  biomorphen  Gruppe,  aber  nicht  für  alle  Abteilungen  finden  sich  in 
den  zwei  hier  benutzten  Sammlungen  Beispiele. 

1.  Allgemeine  Angaben  über  die  Lebensweise  usw.  —  B.  565 
ist  typisch:  'Ein  Bär  hockt  am  Feldende' ;  ebenso  B.  245:  'Ein  Huhn,  das 
auf  einem  Bein  hockt',  und  B.  304:  'Ein  Hund  im  Schneehaufen';  auch 
B.  518  gehört  hierher:  'Voriges  Jahr  ist  das  Ochslein  geschlachtet,  noch 
ist  das  Maul  offen';  sowie  B.  243  —  246,  wo  eine  graublaue  Kuh  (Ziege) 
die  Niederung  (Boden,  Hümpel)  leckt  (nagt).  —  In  B.  266  erfährt  man 
nur,  dass  es  sich  um  ein  Tier  handeln  muss,  da  das  Fell  verkauft  (der 
Kopf  gegessen)  wird;  das  Fleisch,  heisst  es  weiter,  frisst  kein  Hund,  kein 
Wolf.  Das  letzte  Rätsel  kann  als  'unvollständiger  Zoomorphismus'  an- 
gesprochen werden,  im  (iegensatz  zu  den  übrigen,  wo  die  Tiere  wirklich 
genannt  werden  ('vollständiger  Zoomorphismus').  Fälle  von  unvollständigem 
Zoomorphismus  kamen  in  den  Ad.  Riopl.  nicht  vor. 

2.  Die  verschiedenen  Lebensalter.  Kein  typisches  Beispiel, 
höchstens  B.  253:   'Eine  Sau  gebiert  ihre  Ferkel'. 

3.  Normale  morphologische  Elemente.  —  Kein  Beispiel. 

4.  Normale  physiologische  Elemente.  Für  die  Bewegung  lässt 
sich  anführen  B.  68,  wo  ein  Marder,  B.  69,  wo  ein  Reh  springt;  für  Hin- 
und  Herbewegung  B.  25  und  67,  wo  eine  Wachtel  hin  und  her  fliegt; 
B  66,  wo  der  Hecht  hin  und  her  schiesst;  allerdings  sind  diese  Rätsel 
gemischt,  denn  der  zweite  Bestandteil  gehört  in  die  poikilomorphe  Gruppe: 
in  B.  66  und  69  gefriert  die  Düna,  in  B.  25  und  67  der  See.  Nur  B.  68 
('Ein  Marder  springt,  die  Spuren  gefrieren')  wäre  typisch,  falls  dieses 
Rätsel  nicht  eine  korrumpierte  Variante  der  vorigen  ist. 

5.  Normale  morphologische  und  physiologische  Elemente  in 
Kombination.     Es  war  kein  typisches  Beispiel  bei  B.  und  W.  aufzufinden. 

6.  Abnorme  morphologische  Elemente.  a)  Beispiele  für 
Teratoplasie.  B.  13:  'Eine  eiserne  Stute,  ein  flächserner  Schweif;  ganz 
ebenso  B.  14  und  15  und  W.  266a:  'Isern  Pierd  mit'n  höltern  Swanz', 
und  W.  268:  'Höltern  Pierd  mit'n  isern  Stiert'.  B.  856-858:  Hunde 
(Hasen,  Füchse)  mit  weissem  Blut.  —  b)  Beispiele  für  Heterotopie. 
W.  174,  ein  Tier  (Vogel)  mit  den  Knochen  über  dem  Fleisch;  eine 
biomorphe  Variante  dieses  Rätsels  (B.  784)  wurde  bereits  mitgeteilt.  — 
c)  Beispiele  für  Teratomorphismus.     B.  561    (Öchslein  mit  neun  Häuten), 


Zur  Volkskunde  Argentiniens.  247 

B.  596  (Gans  mit  vier  Schnäbeln),  B.  828  (Lämmchen  mit  fünf  Füssen), 
B.  999  (Bock  mit  einem  Auge).  —  B.  504  ('Ein  Pferd  von  Hede  mit 
drei  Füssen')  ist  ein  Beispiel  von  der  Kombination  a  -f-  c.  v 

7.  Abnorme  physiologische  Elemente.  Nur  Beispiele  für  b), 
Teratophysiologie.  B.  .374:  Ein  Hund,  dem  beim  Bellen  die  Zähne 
ausfallen. 

8.  Abnorme  morphologische  und  physiologische  Elemente 
in  Kombination.  B.  959:  Ein  Vogel,  ohne  Füsse,  Schnabel,  Flügel, 
verzehrt  den  Baum,  auf  dem  er  sitzt.  W.  104  behandelt  einen  Vogel, 
dessen  Flügel  im  Feuer  gewachsen  sind  und  der  gleich  sieben  Ochsen 
frisst. 

Die  eben  betrachteten  Abteilungen  sind  mono-  oder  polyzoomorph ; 
es  gibt  in  den  Ad.  Riopl.  aber  auch  zwei  alloiozoomorphe  Fälle,  wo  im 
gleichen  Rätsel  verschiedene  Tiere  auftreten;  ähnlich  ist  B.  663:  'Ein 
weisses  Schäflein  im  Leibe  eines  schwarzen  Ochsen',  oder  einfacher 
B.  662:  'Ein  Schafbock  im  Leibe  eines  Ochsen';  ferner  B.  279:  'Ein  Floh 
geht  hinein,  ein  Schwan  kommt  heraus.' 

III.  Die  anthropomorphe  Gruppe  braucht  keine  Erklärung;  höchstens, 
dass  zunächst  unvollständiger  Anthropomorphismus  auftritt,  indem  das 
Rätsel  nicht  direkt  von  Menschen  spricht,  sondern  Sachen  aufführt,  die 
nur  einem  solchen  zukommen  können.  Beispiele  dafür  sehr  zahlreich 
bei  B.,  z.  B.  B.  155  ('Die  Füsse  von  Stein,  der  Rumpf  von  Holz,  die 
Mütze  auf  dem  Haupte  von  Stroh';  also  unvollständiger  A.  [Mütze !j  mit 
teratoplastischen  hinlenkenden  Elementen).  B.  228  ('Wer  sagt  alles  aus 
ohne  Zunge?')  und  B.  56  ('Es  spricht  alle  Sprachen');  nur  der  Mensch 
spricht.  B.  605:  'Er  tanzte,  er  tanzte  —  bis  er  sich  erhängte';  nur  der 
Mensch  kann  eigentlich  tanzen.  In  W.  477  ist  von  einem  Gesichte  die 
Rede;  nur  der  Mensch  hat  ein  solches  im  eigentlichen  Sinne. 

Die  Fälle  von  vollständigem  Anthropomorphismus  liessen  sich, 
in  Mono-  und  Polyanthropomorphismus  gesondert,  bequem  abmachen. 

Für  den  Monoanthropomorphismus  wurden  wieder  genau  jene 
acht  Unterabteilungen  nachgewiesen,  nämlich: 

1.  Allgemeine  Angaben  über  die  Lebensweise,  usw.  Die 
Rätsel  sind  recht  zahlreich,  und  zunächst  finden  sich  keine  besonders  auf- 
fallenden Merkmale  der  Lebensweise  (Unterabteilung  a.).  W.  320a,  der 
"Mann,  der  auf  dem  Dache  sitzt  und  eine  helle  Tabakpfeife  raucht,  ist  ein 
typisches  Beispiel  dafür.  Auch  W.  293a  und  216  a  können  angezogen 
werden,  sowie  B.  34  ('Ein  grosser,  langer  Mann  hockt  in  der  Hütte')  und 
B.  98  ('Ein  klein  klein  Männchen,  der  ganzen  Welt  Richter').  —  Einzel- 
heiten der  Kleidung  sind  in  Unterabteilung  b)  zusammengefasst;  die  Bei- 
spiele sind  massenhaft,  man  vgl.  B.  696  ('Ein  Bettler  geht  des  Weges, 
Flick    auf  Flick    und    kein    Nadelstich');    B.  273     ('Ein    kleines    kleines 


248  Lehmann-Nitsche: 

Weibchen,  hundert  Tücher  um  den  Kopf);  B.  642  ('Ein  Fräulein  sitzt  in 
der  Ecke,  eine  goldene  Mütze  auf  dem  Kopfe');  B.  509  (Männchen  mit 
knöcherneui  Pelz);  B.  128  (Männchen  mit  grünem  Kleid  und  schwarzem 
Gürtelchen);  B.  96  (grosse,  lange  Jungfer  mit  grüner  Schürze).  Die 
beiden  letzten  Rätsel  sind  typische  Formen.  W.  184,  204a,  204c,  177, 
178,  195,  198,  24  mag  nachlesen,  wer  noch  mehr  schöne  Beispiele  haben 
will.  —  Für  die  Unterabteilung  c).  Schwarze,  Hess  sich  nur  ein  Fall  aus 
B.  nachweisen,  B.  113:  'Ein  Schwarzer  tanzt,  ein  Schwarzer  springt,  des 
Schwarzen  Spur  ist  nicht  zu  sehen'.  —  Unterabteilung  d),  Tote,  fehlt  bei 
B.  und  W.,  dagegen  kommt  e),  der  Teufel,  vor,  und  zwar  B.  47:  'Der 
Teufel  steht  auf  dem  Acker,  eiserne  Schuh  an  den  Füssen'.  Wossidlos 
Sammlung  liefert  noch  eine  Unterabteilung  e),  Riesen,  ich  meine  W.  512: 
'Am  Markt  steht  ein  grosser  Riese,  er  schaut  weit  in  die  Welt  hinaus'. 

2.  Die  verschiedenen  Lebensalter.  W.  78:  'Als  ich  klein 
war  usw.;  als  ich  gross  war  usw.;  als  ich  tot  war  usw.' 

3.  Normale  morphologische  Elemente.  B.  368  (=  763):  'Ein 
klein  klein  Männchen,  Bart  in  die  Höhe'  ist  kein  g-utes  Beispiel.  In 
W.  232  ist  der  Bauch  das  hinlenkende  Element. 

4.  Normale  physiologische  Elemente.  Bewegung,  und  zwar 
recht  ausreichend,  macht  sich  die  Frau  Bohne  bei  W.  30,  und  reden,  viel 
reden  tut  der  Mann  bei  W,  318  a. 

5.  Normale  morphologische  und  physiologische  Elemente 
in  Kombination.     Keine  guten  Beispiele  nachzuweisen. 

6.  Abnorme  morphologische  Elemente.  Beispiele  für  Tera- 
toplasie  sind  B.  201  (Gesicht  von  Knochen,  Bart  von  Fleisch);  für  Hete- 
rotopie  B.  763  (Mann  mit  dem  Bauch  nach  hinten),  solche  für  Terato- 
morphismus  B.  873  (weisses  Herz)  und  W.  110  (zahllose  Beine);  vgl. 
auch  W.  109. 

7.  Abnorme  physiologische  Elemente.  Beispiele  für  wunder- 
same Funktionen  bietet  W.  388;  da  wacht  ein  Mann  alle  Nacht,  ohne 
müde  zu  werden;  oder  W.  87a,  wo  ein  Weib  ohne  Füsse  und  Hände 
laufen  und  schlagen  muss. 

8.  Abnorme  morphologische  und  physiologische  Elemente 
in  Kombination.     Keine  Beispiele. 

B.  Die  Fälle  von  Polyanthropomorphismus  konnten  in  folgende 
Unterabteilungen  zerlegt  werden. 

1.  Die  betr.  Individuen  sind  nicht  miteinander  verwandt." 
Die  Weiterteilung  ist  nun  sehr  einfach,  insofern  es  sich  um  2,  3  usw. 
Personen  handelt.  Zwei  Personen  erscheinen  bei  B.  187:  'Der  Herr  trägt 
seinen  Knecht';  Wossidlos  Gesprächsrätsel  zwischen  Bach  und  Wiese  u.  ä. 
gehören  auch  hierher,  siehe  W.  1  —  6.  —  Drei  Personen  werden  auf- 
gezählt bei  B.  204:  'Der  Eine  sagt:  Gott  wird  den  Tag  senden,  man 
wird  zu  essen  bekommen;  der  Zweite  sagt:    (lott  wird  die  Nacht  senden, 


Zur  Volkskunde  Argentiniens:  249 

man  wird  zu  schlafen  bekommen;  der  Dritte:  mir  gilt  der  Tag  und  die 
Nacht  gleich'.  —  Vier  Personen  sind  die  'vier  Prediger  unter  einer 
Mütze'  Bielensteins  (Nr.  203).  —  'Fünf  Nackte  bauen  ein  Haus'  (B.  17) 
und  die  fünf  Flohjäger  Wossidlos  (Nr.  28)  sind  ein  auch  sonst  beliebtes 
Rätselbild.  —  Yiele  Personen  sind  die  32  Gesellchen  in  einem  Ställchen 
(W.  42f.),  die  dreihundert  Männer  bei  B.  680;  ohne  genauere  Angabe  der 
Zahl:  der  Herr  mit  seinen  Dienern  bei  B.  524  und  das  Regiment  Soldaten 
bei  W.  52. 

2.  Die  betr.  Individuen  sind  miteinander  verwandt.  Die 
Einteilung  bezieht  sich  auf  die  verschiedenen  Verwandtschaftsgrade  und 
auf  die  Generationen.  Nicht  in  den  Ad.  Riopl.,  wohl  aber  bei  W.  498 
bis  499  erscheint  ein  Ehepaar;  bei  B.  727—729  und  W.  148c  Vater  und 
Sohn,  bei  B.  190  Mutter  und  Kinder,  bei  W.  136  und  B.  6  Vater,  Mutter 
und  Kinder,  also  zwei  Generationen;  drei  Generationen  bei  W.  411;  vier 
Generationen  in  einem  Falle  der  Ad.  Riopl.  Geschwister  erscheinen  bei 
W.  150c  (zwei  Brüder),  bei  B.  242  (fünf  Brüder),  bei  B.  64,  137  und  261 
(zwei  Schwestern),  bei  B.  391  (sieben  Schwestern),  bei  B.  537  (Bruder 
und  Schwester). 

IV.  Die  phytomorphe  Gruppe  ist  verhältnismässig  spärlich.  Zu  un- 
vollständigem Phytomorphismus  gehören  die  Fälle,  wo  das  Rätselbild  von 
Blumen,  Früchten,  Zweigen  u.  dgl.  spricht,  z.  B.  W.  340  (eine  Blume), 
W.  31  (eine  gelbe  Blume),  B.  353  (ein  Blatt),  B.  74  (zwei  Bohnen). 
Vollständiger  Phytomorphismus  erscheint  bei  B.  334  und  644  (Eichbaum), 
931  (Espe). 

V.  In  der  poikilomorphen  Gruppe  wurde  alles  das  untergebracht, 
was  nun  noch  übrig  blieb,  also  alle  die  mannigfaltigen  Realien,  die  in 
so  vielen  Rätseln  uns  beim  Lösen  in  Verzweiflung  bringen. 

Auch  hier  liess  sich  als  Untergruppe  VA  Mono-  und  Polypoikilo- 
morphismus  aufstellen,  wenn  nämlich  ein  Ding  derselben  Art,  sei  es 
in  einem  oder  mehreren  Exemplaren,  auftritt.  Die  spezielle  Einteilung 
ist  folgende: 

1.  Allgemeine  Angaben  usw.  über  den  Gegenstand,  den  uns 
das  Rätsel  vorsetzt.  W.  210,  B.  441,  442  schildern  ein  Haus;  B.  354  ein 
Brett;  B.  465  ein  Beil. 

2.  Das  Rätselbild  wechselt  je  nach  den  Umständen, 
Zeiten  usw.  Die  bei  W.  und  B.  vorhandenen  Fälle  sind  nicht  rein  wie 
in  den  Ad.  Riopl.,  wo  es  z.  B.  heisst  (Nr.  542):  'Am  Tage  Wurst,  nachts 
Fahne',  denn  bei  B.  252  (Am  Tage  Fassband,  nachts  Schlange)  ist  die 
eine  Hälfte  des  Rätsels  zoomorph,  bei  B.  268  (Im  Sommer  Tanne,  im 
Winter  Milch)  phytomorph. 


250  Lehmann-Nitsche: 

3.  Ein  Gegenstand  in  Wiederholung;  die  Stellung  ist 
charakteristisch  ('übereinander').  —  B.  977:  'Tönnchen  auf  Tönnchen, 
oben  Mäuseschmutz'. 

Als  Untergruppe  VB  erscheint  der  Alloiopoikilomorphismus, 
d.  h.  Dinge  verschiedener  Art,  sei  es  in  Einzahl,  sei  es  in  Mehrzahl, 
spielen  ihre  Rolle  im  Rätselbilde.  Folgende  Abteilungen  konnten  unter- 
schieden werden: 

1.  Verschiedene  Dinge  in  Aufzählung;  die  Lösung  ist  ein 
Gegenstand.  B.  70:  'Eine  rote  Flasche,  ein  weisser  Kork'  (Himbeere); 
B.  212 — 214  ist  das  bekannte  weitverbreitete  Rätsel  von  der  Kuh,  das 
ich  nach  der  Variante  B.  214  zitiere:  'Zwei  Stösser,  zwei  Schüttler,  vier, 
die  auf  der  Erde  humpeln,  ein  Neunter,  der  im  Kriege  Schutz  gibt';  die 
zahllosen  mecklenburgischen  Fassungen  sehe  man  bei  W.  165  nach. 

2.  Verschiedene  Dinge  in  Aufzählung;  die  Lösung  ist  ein 
Komplex  zusammengehörender  Gegenstände.  Es  werden  da  zwei, 
drei  oder  vier  verschiedene  Dinge  aufgezählt,  z.  B.  B.  288:  'Ein  Katzen- 
schwanz, der  über  ein  Meer  sich  streckt';  B.  20:  'Mit  fünf  Balken  wird 
ein  Wohnhaus  gebaut".  Drei  verschiedene  Gegenstände  figurieren  bei 
W.  122  (Wanderstab,  Erde,  Kraut);  B.  131  mk  Wiese,  Schafen  und 
Hirten  passt  nicht  recht  hierher,  da  zoo-  und  anthropomorphe  Elemente 
miteinbezogen  sind.  Vier  verschiedene  Gegenstände  erscheinen  öfters  in 
den  Ad.  Riopl.,  z.  B.  Nr.  560  (Feld,  Samen,  Stier,  Kalb). 

Man  kann  mit  Recht  den  Vorwurf  erheben,  auf  einmal  sei  die  Lösung 
berücksichtigt  worden;  dann  vereinige  man  einfach  Abteilung  1  und  2  zu 
einer  einzigen;  es  ist  sowieso  manchmal  schwer,  sie  auseinander  zu 
halten. 

3.  Verschiedene  Dinge  in  Aufzählung,  deren  Stellung 
charakteristisch  ist.  Übereinander,  aufeinander  sind  Tönnchen,  Fässer 
(B.  392),  tote  Heringe  (B.  77  und  553);  ineinander  die  Dinge  bei  B.  38 
('Ein  Nussgesträuch,  in  dem  Nussgesträuch  ein  Tannenwald,  in  dem 
Tannenwald  ein  See  .  .  .'),  womit  der  Übergang  zu  fortgesetzter  Teilung 
gegeben  ist,  wie  sie  charakteristisch  ist  für  das  internationale  Rätsel 
vom  Jahr  (W.  35)  und  das  ebenfalls  häufige  vom  Menschen,  das  bei 
B.  825  sogar  zehn  Stufen  aufweist:  Zwei  Pfosten,  auf  den  P.  ein  Sack, 
auf  dem  S.  ein  Block,  auf  dem  B.  zwei  Stangen,  auf  den  St.  eine  Mühle 
von  Knochen,  auf  der  M.  zwei  fliessende  Bäche,  usf. 

4.  Verschiedene  Dinge  in  Tätigkeit.  Zwei  erscheinen  in  der 
Rätselgruppe  von  der  Katze  und  dem  Fleisch,  vom  Wildschwein  und  der 
Eichel  u.  ä.,  siehe  W.  16  und  17,  sowie  B.  258  —  259;  hier  sind  die  beiden 
Figuren  des  Rätsels:  Griese  und  Pummel,  Himmelhoch  und  Ruuchdiert, 
Hocker  und  Gehängtes  usw.  —  Drei  und  vier  Figuren,  je  nach  den 
Varianten,  erscheinen  in  dem  bekannten  Rätsel  vom  Einbein,  Zweibein, 
Dreibein,  Vierbein,  W.  15. 


Zur  Volkskunde  Argentiniens.  251 

VI.  Die  vergleichende  Gruppe  ist  im  spanischen  Rätsel  sehr  ent- 
wickelt. Wir  erkennen  ohne  weiteres  die  vier  Bestandteile,  aus  denen 
sich  ein  typisches  Rätsel  zusammensetzt:  das  oder  die  charakterisierenden 
Elemente;  das  oder  die  vergleichenden  Elemente;  die  Versicherung,  dass 
es  sich  doch  nicht  darum  handelt,  was  der  Vergleich  soeben  aussagte; 
und  schliesslich  ein  oder  mehrere  beschreibende  Elemente.  Diese  vier 
Bestandteile  sind  durchaus  nicht  immer  gleichmässig  ausgebildet,  und  je 
nach  dem  ergeben  sich  zahlreiche  Abteilungen;  z.  B.  fehlt  ein  Beispiel 
für  die  einfachste  Kombination:  ein  charakterisierendes  Element,  ein  ver- 
gleichendes Element,  die  entsprechende  Versicherung,  ein  beschreibendes 
Element.  W.  370a  ist  nicht  ganz  typisch,  da  das  beschreibende  Element 
an  erster  Stelle  steht  und  das  charakterisierende  Element  ('sieht  was') 
ohne  den  Vergleich  nicht  bestehen  kann.  Die  für  die  Ad.  Riopl.  geltende 
Einteilung  ist  folgende: 

1.  Ein  charakterisierendes  Element,  ein  vergleichendes 
Element,  die  Versicherung.     Bei  B.  und  MV.  kein  Beispiel. 

2.  Ein  charakterisierendes  Element,  ein  vergleichendes 
Element,  ein  beschreibendes  Element.  —  W.  225:  'Lütt  as  'ne 
Muus,  bewacht  't  ganz  Huus'.     Ebenso  W.  226. 

3.  Ein  charakterisierendes  Element,  ein  vergleichendes 
Element,  zwei  beschreibende  Elemente. 

4.  Ein  charakterisierendes  Element,  ein  vergleichendes 
Element,   drei  beschreibende  Elemente. 

5.  Zwei  charakterisierende  Elemente,  ein  vergleichendes 
Element. 

6.  Zwei  charakterisierende  Elemente,  eine  Versicherung. 
Für  3  bis  6  finden  sich  bei  B.  und  W.  keine  Beispiele. 

7a.  Zwei  charakterisierende  Elemente,  zwei  vergleichende 
Elemente,  zwei  Versicherungen.  —  B.  385:  'Es  wiehert  wie  ein 
Hengst,  ist  aber  kein  Hengst;  es  tanzt  wie  eine  Jungfer,  ist  aber  keine 
Jungfer'.     Ebenso  B.  751  —  752,  758. 

7b.  Zwei  vergleichende  Elemente,  zwei  Versicherungen. 
Kein  Beispiel. 

7c.  Zwei  charakterisierende  Elemente,  zwei  Versiehe. 
rungen.  —  W.  369:  'Witt  is't  [wie  ein  Ei]  An  keen  Ei  is't,  Bläder  hetft 
[wie  ein  Baum]  un  keen  Boom  is't'.  Die  fehlenden  vergleichenden  Ele- 
mente sind  in  eckigen  Klammern  zugefügt. 

7d.  Zwei  charakterisierende  Elemente,  zwei  vergleichende 
Elemente.  B.  706:  'Es  wiehert  wie  eine  Stute  und  tanzt  wie  eine  Jungfer' 
(Lösung:  die  Elster;  die  Lösung  des  unter  7a  mitgeteilten  Rätsels  ist  das 
auf  den  Tisch  geworfene  Silbergeld!).     Ebenso  B.  595  und  843. 

8a.  Zwei  charakterisierende  Elemente,  zwei  Versiche- 
rungen, zwei  beschreibende  Elemente.    Kein  Beispiel  bei  B.  und  \^  . 


252  Lehmann -Kitsche : 

8b.  Zwei  charakterisierende  Elemente,  zwei  vergleichende 
Elemente,  zwei  beschreibende  Elemente.  Kein  Beispiel  bei  B. 
und  W. 

9.  Drei  charakterisierende  Elemente,  drei  Versicherungen. 
Kein  Beispiel  bei  B.  und  W.  Dagegen  finden  sich  hier  Typen,  welche 
in  den  Ad.  Riopl.  nicht  vertreten  sind  und  die  am  besten  jetzt  ohne  be- 
sondere Numerierung  aufgeführt  werden: 

Das  vollständige  Modell  (drei  charakterisierende  Elemente,  drei  ver- 
gleichende Elemente,  drei  Versicherungen)  ist  öfters  vertreten,  z.  B.  B.  606, 
B.  753,  B.  755  und  W.  218e;  das  letztere  lautet:  'Grün  wie  Gras  und 
doch  kein  Gras,  weiss  wie  Schnee  und  doch  kein  Schnee,  töppel  a'sn 
Höhning  und  doch  keen  Höhning'.  Bei  W.  370b  ist  die  stets  gleich- 
lautende Versicherung  nur  einmal  abgegeben. 

Drei  charakterisierende  Elemente  nebst  den  entsprechenden  drei  Ver- 
gleichen finden  sich  auch  öfters,  z.  B.  B.  754,  B.  827,  B.  964;  B.  299 
lautet:  'Grün  wie  Gras,  weiss  wie  Schnee,  rot  wie  Blut'.  Bei  B.  55  ist 
noch  ein  beschreibendes  Element  zugefügt:  'Es  bellt  wie  ein  Hund,  brüllt 
wie  ein  Ochse,  singt  wie  eine  Nachtigall;  so  lange  es  ruft,  hat  es  keinen 
Mund'. 

Fahren  wir  nun  mit  der  Einteilung  der  Ad.  Riopl.  weiter  fort: 

10.  Vier  charakterisierende  Elemente,  vier  Versicherungen. 
Bei  B.  und  W.  nicht  vertreten. 

11.  Vier  charakterisierende  Elemente,  vier  vergleichende 
Elemente.  W.  217b  (grün  wie  Gras,  weiss  wie  Schnee,  rot  wie  Blut, 
schwarz  wie  Teer)  gehört  hierher,  obwohl  es  mit  reimergänzendem  Bei- 
werk und  einem  Schlussrahmen  verziert  ist. 

Fünf  charakterisierende  Elemente  mit  den  dazu  gehörenden  fünf  Ver- 
gleichen finden  sich  nicht  in  den  Ad.  Riopl.,  wohl  aber  bei  B.  707: 
'Gefleckt  wie  ein  Specht,  weiss  wie  ein  Schwan,  schwarz  wie  ein  Rabe, 
wiehert  wie  ein  Pferd,  tanzt  wie  eine  Jungfer'. 

VII.  Die  beschreibende  Gruppe  liefert  zahlreiche  Beispiele,  aus 
denen  sich  ohne  weiteres  ihre  Form  ergibt.  Unterschieden  wurden 
Rätsel  mit: 

1.  Zwei  Eigenschaften,  z.  B.  B.  544:  'Oben  glatt,  unten  durch- 
furcht'.    Ebenso  B.  247,  B.  475—476  (=  W.  392),  W.  206a. 

2.  Drei  Eigenschaften,  z.  B.  W.  2r2a:  'Hoch  erhoben,  krumm 
gebogen,  wunderlich  erschaffen'  (ausserdem  Schlussformel);  bei  B.  164 
sind  drei  negative  Eigenschaften  als  charakteristisch  aufgeführt:  'Ein 
Mensch  ist's  nicht,  ein  Gespenst  ist's  nicht,  mit  der  Hand  fassen  kann 
man  es  nicht'. 

3.  Viele  Eigenschaften;  man  suche  W.  440,  W.  414,  W.  205, 
W.  171  a,    W.  393  selber    auf;    in    B.  710   erscheinen  vier  Eigenschaften: 


Zur  Volkskunde  Argentiniens.  253 

'Es  tauzt  polnisch,  spricht  französisch  und  ist  halb  weiss,  halb  schwarz'; 
in  B.  333  eine  ganze  Menge:  'Dünn  ist's  und  lang,  mit  rundem  Kopfe, 
dem  Menschen  zur  Qual,  dem  Diebe  zum  Schrecken'. 

4.  Eigenschaften,  je  nach  den  Umständen  wechselnd,  zeigen 
eine  ganze  Anzahl  Rätsel,  z.  B.  B.  310:  'Nachts  reich,  Tages  arm';  Tag 
und  Nacht  bestimmen  auch  die  Eigenschaften  bei  B.  165  und  816,  ebenso 
bei  W.  95;  die  vier  Jahreszeiten  bei  W.  343;  auf  dem  Dache  und  unten 
bei  W.  334  und  335;  auf  dem  Tische  und  unten  bei  B.  421.  In  den 
Ad.  Riopl.  fanden  sich  als  bestimmende  Umstände  Feld  —  Haus  bzw.  Oben  — 
Unten  besonders  häufig. 

Till.  Die  erzählende  Gruppe  gehört  nicht  mehr  zu  den  eigent- 
lichen Rätseln  Charakteristisch  für  sie  ist  die  vorhergehende  Geschichte, 
in  welche  das  Rätsel  eingehüllt  wird;  hierher  gehören  die  sog.  Hals- 
lösungsrätsel, z.  B.  W.  980. 

XI.    Die  arithmetische  Gruppe    leitet  weiter  zu  den  uneigentlichen 

Rätseln. 

1.  Wirkliche  Rechenaufgaben  finden  sich  gelegentlich,  z.  B.  bei 
^\  898  —  900;  der  Text  ist  zu  lang  zum  Wiederabdruck. 

2.  Scherzhafte  Rechnerei  entspricht  eher  dem  Charakter  des 
Rätsels,  z.B.  W.  879,  W.  465;  W.  878  lautet:  'Wat  is  swerer,  'n  pund 
Feddern  oder  'n  pund  Bli?' 

X.  Die  Verwaudtschaftsgruppe    steht   der  vorhergehenden  innerlich 

nahe. 

1.  Verwandtschaft  im  allgemeinen  wird  öfters  behandelt,  z.B. 
bei  W.  982:  'Seine  Mutter  ist  meine  Mutter  ihr  einziges  Kind';  s.  a. 
W.  983. 

2.  Seinesgleichen  ist  im  spanischen  Rätsel  behandelt  (Der  Bauer 
sieht's  fortwährend,  der  liebe  Gott  (Papst)  nie,  der  König  selten,  u.  dgl.); 
man  erkennt  gleichzeitig,  wie  für  die  uneigentlichen  Rätsel  die  Lösung 
immer  mehr  und  mehr  von  Wichtigkeit  wird. 

3.  Verwandtschaft  mit  Verteilung  von  Gegenständen  streift 
schon  stark  an  die  eigentliche  Scherzfrage;  W.  901  und  W.  902  sind 
einschlägige  Beispiele;  das  letzte  der  beiden  Rätsel  handelt  von  den  zwei 
Vätern  und  zwei  Söhnen,  die  drei  Hasen  schössen,  und  jede  der  ge- 
nannten Personen  trug  einen  ganzen  nach  Hause. 

XI.  Die  kryptomorphe  Gruppe  wurde  so  bezeichnet,  weil  das 
Lösungswort  teilweise  oder  ganz  im  Rätsel  versteckt  ist;  der  Reichtum 
an  Formen  im  spanischen  Rätsel  ist  sehr  gross  und  veranlasste  eine 
detaillierte  Klassifizierung,  während  in  Mecklenburg  und  Kurland  die 
Beispiele  äusserst  spärlich  sind. 


254  Lehmann-Nitsche: 

Im  unvollständigen  Kryptomorphismus  ist  ein  Teil  des  Lösungs- 
wortes im  Kätsel  enthalten,  sei  es  als  ein,  sei  es  als  zwei  Worte  des- 
selben. 

Im  vollständigen  Kryptomorphismus  ist  das  ganze  Lösungswort 
versteckt,  und  zwar: 

1.  Als  Teil  eines  Buchstabens  (Punkt  auf  dem  i). 

2.  Als  ganzer  Buchstabe:  W.  470—474  und  W.  838:  'Wat 'steit 
in  de  Midd  von  Woren?'  (Lösung:   De  r). 

8.    Als  Teil  eines  Wortes,  das  im  Rätsel  vorkommt. 

4.  Als  ein  ganzes  Wort,  das  im  Rätsel  vorkommt.  Dieses  Wort 
hat  doppelte  Bedeutung  oder  nicht;  in  letztem  Falle  wird  direkt  die 
Lösung  mitgenannt,  um  den  Hörer  zu  verblüffen,  was  auch  gelingt,  z.  B. 
Ad.  Riopl.  757:  'Spitzen  vorne,  Augen  hinten;  die  Schere  ist's,  dumm  du 
bist,  wenn  du  die  Lösung  nicht  kannst  finden';  die  Lösung  ist  tatsächlich 
die  Schere.  Bei  W.  fanden  sich  nur  Beispiele  für  jene  erste  Art,  wo  das 
versteckte  Wort  zweierlei  bedeutet,  z.  B.  W.  951—961;  W.  907a  lautet: 
'Is  wech,  blifft  wech,  un  ward  alldag  bruukt'  (Der  Weg). 

5.  Als  ein  ganzes  Wort,  das  im  Rätsel  vorkommt,  und  Teil  eines 
anderen,  mag  dieser  Teil  nun  unmittelbar  vorhergehen,  unmittelbar  folgen 
oder  getrennt  sein. 

6.  Als  zwei  ganze  Worte,  die  im  Rätsel  vorkommen;  sie  folgen 
entweder  aufeinander  oder  sind  voneinander  getrennt. 

7.  Als  drei  ganze  Worte,  die  im  Rätsel  vorkommen. 

Für  keine  dieser  Unterabteilungen  fanden  sich  bei  B.  oder  W.  Bei- 
spiele. 

XII.  Die  homouyme  Gruppe  ist  von  der  Lösung  ebenfalls  be- 
einflusst.     Zwei  Typen  Hessen  sich  unterscheiden: 

1.  Die  Lösung  ist  ein  homonymes  Wort,  das  Rätsel  be- 
schäftigt sich  mit  beiden  Bedeutungen  desselben.  W.  905—906 
sind  wenige  Beispiele  aus  Mecklenburg  für  diese  im  Spanischen  zahlreiche 
Form,  ebenso  W.  522,  das  bekannte  Rätsel  vom  Wacholder:  'Der  Ge- 
liebte lag  und  schlief,  die  Geliebte  kam  uud  rief,  und  das  Wort  womit 
sie  rief,  so  hiess  der  Busch,  an  dem  er  schlief. 

2.  Eine  oder  mehrere  Eigentümlichkeiten  des  Lösungs- 
wortes sind  durch  homonyme  Yerben  charakterisiert.  Als 
Beispiel  finde  ich  höchstens  W.  922:  'Vier  Mann  spälen  de  ganze  Nacht 
un  keener  verliert  wat'  ('Dat  sünd  Muskanten'). 

XIII.  Die  Scherzgruppe  wurde  in  den  Ad.  Riopl.  nicht  weiter 
analysiert  und  das  nicht  übermässig  zahlreiche  Material  nach  äusserlichen 
Gesichtspunkten  angeordnet.     Für    eine  Einteilung  nach  inneren  Motiven, 


Zur  Volkskunde  Argentiniens.  255 

wie  sie  Petsch  skizzierend  versuchte,  erschien  der  Stoff  nicht  ausreichend; 
vielleicht  entschliesst  sich  einmal  Petsch  zu  einer  übersichtlichen  Dar- 
stellung der  Scherzrätsel.  Ich  sehe  daher  ab,  auch  nur  eins  der  häufigen 
Beispiele,  namentlich  aus  der  Mecklenburgischen  Sammlung,  hier  anzugeben. 

XIV.  Die  doktrinäre  Gruppe  gehört  kaum  noch  zum  Rätsel;  es 
handelt  sich  um  vielfach  schulmeisterliche  Examensfragen,  die  der  Hörer 
entweder  beantworten  kann  oder  nicht.  Sie  lassen  sich  als  zoologische, 
botanische,  geschichtliche  Fragen  leicht  gruppieren;  zu  den  ersteren  gehört 
z.  B.  Nr.  976  der  Ad.  RiopL:  'Welcher  Vogel  legt  das  grösste  Ei?'  Jedes 
Schulkind  wird  dabei  den  Strauss  nennen.  Eine  vierte  Abteilung,  all- 
gemeine Sentenzen,  sind  durch  B.  142  vertreten:  'Was  läuft  schneller  als 
der  Wind?'    Es  sind  des  Menschen  Gedanken. 

XV.  Als  künstliche  Gruppe  wurden  Charaden,  Logogriphe  und 
Akrosticha  zusammengefasst,  die  im  spanischen  Sprachgebiet  gewiss  zum 
Teil  volkstümlich  geworden  sind,  offenbar  nicht  in  Mecklenburg  und 
Kurland. 

XVI.  Die  erotische  Gruppe  wurde,  wie  gesagt,  nicht  in  den  Ad. 
Riopl.  publiziert,  obwohl  sie  beim  Volke,  wie  bekannt,  gar  nicht  etwa 
eine  besondere  Stellung  einnimmt. 

Eingeleitet  wird  sie  durch  Rätsel,  die  harmlos  sind,  während  die 
Lösuno-  ins  sexuelle  Gebiet  gehört.  Nur  aus  diesem  rein  formalen  Grunde 
wurden  die  betreffenden  Rätsel  aus  den  vorhergehenden  Gruppen,  in  die 
sie  gehören,  weggelassen.  Die  zweite  Abteilung  sind  die  mehr  oder 
weniger  obszönen  Rätsel  mit  harmloser  Lösung.  Drittens  kommen  dazu 
noch  Scherzfragen.  Mit  Petsch  bin  ich  der  Meinung,  dass  Abteilung  zwei 
und  drei  eine  besondere  Gruppe  bilden,  obwohl  auch  sie  in  den  vorher 
skizzierten  Gruppen  untergebracht  werden  können.  AVossidlos  Sammlung 
wimmelt  von  Beispielen  aus  Mecklenburg.  Man  kann  die  einzelnen  Rätsel 
leicht  nach  dem  Gegenstand  der   Anspielung  im  speziellen  klassifizieren. 

'Se  acabö  el  cuento'  heisst  es  hier  zu  Lande,  wenn  jemand  seine 
Geschichte  zu  Ende  erzählt  hat. 

La  Plata. 


256  Haas: 


Eine  alte  Greifswalder  Lokalsage. 

Von  Alfred  Haas. 


Vor  dem  ehemaligen  Mühlentor  zu  Greifswald,  zwischen  der  Wolgaster 
und  Anklamer  Landstrasse,  erhob  sich  im  Mittelalter  eine  der  heiligen 
Gertrud  geweihte  Kapelle,  die  in  den  Stadtbüchern  zum  ersten  Male  im 
Jahre  1363  erwähnt  wird;  sie  lag  hier,  wie  wir  weiter  hören,  hinter  einem 
alten  Wirtshause  an  der  Kreuzung  des  Weges  nach  Eldena  und  nach 
Koitenhagen,  das  im  Volksmunde  den  Namen  'Scharfe  Schere'  führte  — 
angeblich,  weil  der  Wirt  seine  Gäste  vormals  sehr  'übersetzte'  (d.  i.  über- 
vorteilte). Die  Kapelle,  welche  70  Fuss  lang  und  35  Fuss  breit  war, 
hatte  an  der  Westseite  einen  viereckigen  Turm,  der  auf  dem  Lubinschen 
Stadtbilde  von  Greifswald  aus  den  Jahren  1610 — 1618  westlich  von  dem 
St.  Georgshospital  sichtbar  ist.  Auf  dem  Hochaltar  der  Kapelle  stand 
das  Bild  der  heiligen  Gertrud,  „in  farbiger,  vergoldeter  Plastik  in  Holz 
ausgeführt,  in  der  einen  Hand  einen  Palmenzweig,  eine  Lilie  oder  einen 
Krummstab,  in  der  anderen  das  Modell  eines  Spitales  tragend";  dem  Bild 
gegenüber  war  auf  einer  Empore  ein  Orgelwerk  aufgestellt.  Neben  der 
Kapelle  lag  im  Süden  eine  Herberge  und  in  der  Nähe  noch  ein  Küster- 
haus und  ein  Katen,  und  alle  diese  Gebäude  waren  umgeben  von  einem 
zu  der  Kapelle  gehörigen  Friedhofe,  der  sich  bis  in  die  Nähe  der  An- 
klamer Landstrasse  erstreckte.  Der  Friedhof  war  wieder  von  einer 
massiven,  durch  Strebepfeiler  gestützten  Steinmauer  umschlossen. 

In  unmittelbarer  Nähe  der  St.  Gertrudkapelle  stand  ferner  eine  Wind- 
mühle, welche  in  den  Stadtbüchern  seit  1385  als  molendinum  venti  extra 
valvam  Molendinorum  proximum  ecclesie  beate  Gertrudis  erwähnt  wird. 
Ob  sie  ursprünglich  zum  Besitztum  der  Kapelle  gehört  hat  oder  freies 
Eigentum  der  Müller  gewesen  ist,  ist  nicht  überliefert.  Im  Jahre  1447 
ging  die  Mühle  in  den  Besitz  des  Grauen  Klosters  über.  Nichtsdesto- 
weniger hiess  sie  nach  wie  vor  wegen  ihrer  Lage  in  der  Nähe  der  Kapelle 
die  St.-Gertrudsmühle. 

Im  Verlaufe  des  Dreissigjährigen  Krieges,  und  zwar  im  Jahre  1631, 
wurde  die  Kapelle  mit  ihren  Nebengebäuden  und  die  steinerne  Ring- 
mauer und  ebenso  die  Windmühle  gänzlich  zerstört.  Doch  wurde  später 
das  Küsterhaus  und  der  Katen  auf  dem  Friedhofe  wieder  aufgebaut.  Die 
Mühle  aber  ward  nicht  wiederhergestellt;  ihre  Trümmerstätte  wird  aber 
noch  1739  als  'Mühlenberg  mit  Lehmgruben'  in  den  städtischen  Akten 
angeführt.  (Nach  Pyl,  Greifswalder  Kirchen  3,  1301flF.  und  A.  v.  Balthasar, 
Jus  eccles.  past.  2,  1.) 


Eine  alte  Greifswalder  Lokalsage.  257 

So  etwa  sind  die  Örtliehkeiten  beschaffen,  an  die  eine  über  400  Jahre 
alte  Greifswalder  Lokalsage,  nämlich  die  Sage  von  dem  Wettlauf  um 
das  Opfergeld  und  von  der  gegen  den  Wind  laufenden  Mühle, 
anknüpft.  Dass  die  Sage  tatsächlich  so  alt  ist  und  nicht  erst,  wie  Pyl 
a.  a.  0.  S.  1305 f.  vermutet,  zur  Zeit  des  Dreissigjährigen  Krieges  ent- 
standen ist,  ergibt  sich  aus  der  einfachen  Tatsache,  dass  die  älteste 
Fassung,  in  welcher  die  Sage  überliefert  ist,  aus  dem  Reformationszeitalter 
stammt.  Die  Sage  liegt  uns  aber  auch  noch  in  zahlreichen  anderen 
Quellenschriften  des  16.,  17.  und  18.  Jahrhunderts  vor;  denn  sie  gehörte 
zu  den  Stadtmerkwürdigkeiten  von  Greifswald;  jeder  Fremde,  der  dorthin 
kam,  musste  die  Geschichte  gehört  und  ihre  Örtlichkeit  besichtigt  haben. 
Daher  findet  sich  die  Sage  auch  in  zahlreichen  älteren  Reisewerken,  die 
die  Stadt  Greifswald  beschreiben,  erwähnt.  Bin  Dutzend  dieser  älteren 
Schriftwerke  ist  bereits  bei  A.  von  Balthasar  a.  a.  O.  S.  12  zusammen- 
gestellt; ihre  Zahl  ist  aber  noch  weit  grösser;  mir  sind  aus  der  älteren 
Zeit  noch  sieben  weitere  Werke  und  aus  der  Zeit  nach  Balthasar  noch 
sechs  neuere  Werke  bekannt  geworden,  welche  die  Sage  enthalten, 

I.  Die  früheste  Aufzeichnung  der  Sage^)  findet  sich  bei  Thomas 
Kantzow  in  dessen  erster  hochdeutscher  Bearbeitung  der  Chronik  von 
Pommern  (ed.  Gaebel  2,  260f.  =  ed.  Böhmer  S.  289 f.)  und  lautet: 

Es  ist  auch  ein  seltzam  Dinck  zum  Gripswalde,  das  ich  umb  des  willen  mus 
anzeio-en:  Es  ist  eine  Capelle  vor  der  Stat,  St  Gerdruden  geheissen;  dazu  ist, 
wie  es  pflegt,  von  den  Burgern  ein  Furstender  (Vorsteher)  gewest,  welcher  ein 
mal,  do  es  da  Kirchwey  gewest,  das  Opffer  auffgenhomen  hat.  Und  do  das  Polck 
alle  wegk  wahr  und  des  Opffers  ein  gutter  Hauffe  wahr,  solle  er  es  auff  das  Altar 
gelegt  haben  und  St.  Gerdruden  Bilde  haben  genhomen  und  es  hinten  in  die 
Capelle  gesetzt  und  zu  ime  gesagt,  er  wolte  mit  ime  wettlawffen,  wer  ersten  zum 
Altar  kheme,  das  derselbig  solte  das  Opffer  haben;  und  hat  angehaben  zu  lauffen. 
So  ist  ime  das  Bilde  zuuor  gekhomen  und  auff  dem  Altar  gestanden,  ehe  ehr  hin- 
gekhomen.  So  hab  er  sich  aus  Geitze  desselbigen  nichts  entsatzt  und  hat  auch 
den  ersten  Bescheid  nicht  halten  wollen  und  das  Bilde  noch  einmal  hingepracht 
und  mit  ime  gelauffen,  da  es  ime  abermal  zuuorgekhomen.  Das  hab  er  nicht 
than  wollen  und  das  Bild  zum  dritten  Mal  hingepracht.  Do  sey  das  Bild  still 
gestanden  und  hat  nicht  wollen  lauffen,  und  ist  der  Furstender  ersten  zum  Altar 
gekhomen  und  hab  das  Opffer  hingenhomen,  als  hette  ers  mit  guttem  Fug  ge- 
wunnen;  und  in  kurtzcn  Tagen  sol  er  darnach  gestorben  sein  und  auff  St.  Ger- 
druden Kirchhoff  begraben  sein  worden. 

So  solle  ine  der  böse  Geist  in  der  Nacht  aus  dem  Grabe  geholet  und  von 
dem  Kirchhofe  weggefhuret  haben,  welchs  ein  Moller  von  der  nehisten  Wintmulen 
gesehen  und  des  Morgens  angezeigt  hat.  So  hat  man  noch  gesehen,  wie  der 
Totte  an  die  Capellenthur  gegriffen,  das  er  sich  vor  dem  bösen  Geiste  aufhalten 
wolte,    und    wie    der    böse  Geist    darnach    mit    ime    den   Kirchhoff   entlanges    ge- 

1)  [Doch  vgl.  J.  Agricöla,  750  Sprüchwörtter  1558  (zuerst  1529)  nr.  oäG  'Er  hat  mit 
S.  Gereimt  ein  Wettlauü"  gethan'  (in  Sachsen);  dazu  Wesselski,  Bebeis  Schwanke  1907  1,142 
und  Wauder,  Deutsches  Sprichwörterlexikon  1,  1576.] 

Zeitsehr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1914.    lieft  3.  1"7 


258  Haas: 

Sprüngen  und  das  Gras  versengt  und  tieffe  Fusstapffen  in  die  Erde  getretten. 
Das  sey  nhu  so  geschehen  oder  nicht,  pleib  in  seinen  Weerden.  Aber  das  ist 
noch  diessen  hewtigen  Tag,  das  man  solliche  Fusstapffen  sieht  und  das  auch  kein 
Gras  darinne  wechst,  und  seint  in  so  vielen  Jaren  die  Loecher  nicht  zu- 
gewachssen. 

Wir  finden  hier  bereits  fast  alle  wesentlichen  Züge  der  Sage  vor: 
den  dreimaligen  Wettlauf  um  das  Opfergeld,  die  Nichtbeteiligung  des 
Bildes  beim  dritten  Laufen,  die  Entführung  des  verstorbenen  Vorstehers 
durch  den  Teufel,  die  Spuren  an  der  Kapellentür  und  die  von  keiner 
Grasnarbe  bedeckten  Fusstapfen  auf  dem  Friedhofe;  auch  zu  der  Mühle 
ist  eine,  wenn  auch  rein  äusserliche  Beziehung  vorhanden,  indem  der 
Müller  der  Entführung  zuschaut  und  am  anderen  Morgen  Anzeige  darüber 
erstattet.  Dagegen  findet  sich  noch  nicht  der  Zug,  dass  der  Vorsteher 
vom  Teufel  auf  die  Windmühlenflügel  gebunden  und  vermittelst  derselben 
linksum  herumgeschwungen  wird,  worauf  die  Mühle  die  Eigentümlichkeit 
behielt,  gegen  den  Wind  zu  laufen. 

11.  Aus  dem  Ende  des  16.  Jahrhunderts  liegen  mir  zwei  Berichte 
vor.  Der  erste  von  beiden  stammt  von  dem  fahrenden  Schüler  Michael 
Franck,  der  in  den  Jahren  1585 — 1592  von  Frankfurt  a.  0.  aus  nach 
Wien,  Dänemark,  durch  die  sächsischen  Länder  und  nach  Italien  reiste, 
und  auf  dieser  Reise  im  Mai  1590  auch  nach  Greifswald  kam.  Über 
seineu  dortigen  Aufenthalt  berichtet  er  u.  a.  (Balt.  Stud.  30,  77)  wie  folgt: 

Wie  man  von  Ancolam  in  die  Stadt  (Grippeswalde)  ziehet,  da  stehet  ein 
kleines  Kirchlein  auf  einem  Berge  für  der  Stadt,  darinnen  sich  diese  denkwürdige 
Historien  zugetragen  hat:  in  dieser  Kirchen  siehet  man  im  Dache  ein  Loch  hin- 
durch, welches,  weil  man  es  schon  vielmahl  versucht,  nicht  zudecken  kan,  durch 
welches  Loch  der  Teufel  einen  gottlosen  Menschen  soll  hindurch  und  hinaus  ge- 
führet haben  und  seinen  Braten  geholet  haben.  Waß  dieß  für  ein  gottloser 
Mensch  ist  gewesen,  daran  Gott  ein  solch  schreckliches  Exempel  statuiret,  kan 
man  wohl  erachten,  daß  er  ein  vermessener,  gottloser  Mensch,  der  Gott  und  sein 
Wort  verachtet  und  dem  bösen  Feinde  sich  gäntzlich  ergeben  haben  muß.  An 
den  Mauern  neben  dem  Dache  werden  auch  noch  die  Krallen  gesehen,  die  er 
zum  Gedächtniß  hinter  ihnen  verlassen,  die  er  gerizzet  haben  soll,  als  er  ihn 
hinweggeführet.     Behüte  Gott  für  solcher  Auffarth! 

In  diesem  Bericht  fehlt  der  Wettlauf;  es  ist  vielmehr  nur  von  einem 
gottlosen  Menschen  die  Rede,  den  der  Teufel  holt.  Beachtenswert  ist 
dabei,  dass  der  Gottlose  durch  das  Kirchendach  entführt  wird  und  dass 
das  dadurch  entstandene  Loch  sich  seitdem  nicht  mehr  zudecken  lässt. 
Dieses  unverdeckbare  Loch  im  Kirchendach  ist  dem  Berichterstatter 
offenbar  die  Hauptsache  gewesen,  und  es  ist  wohl  nicht  zu  bezweifeln, 
dass  er  das  Loch  mit  eigenen  Augen  gesehen  hat.  Das  Loch  war  aber 
offenbar  ein  aus  katholischer  Zeit  stammender  Abzugskanal  für  Kerzen- 
qualm und  Weihrauchduft,  wie  solche  Dachöffnungen  auch  an  anderen 
Kirchen    ehemals    nicht    nur    vorhanden    gewesen    sind,    sondern    auch  zu 


Eine  alte  Greifswaldcr  Lokalsage.  259 

ähnlichen  Sagenbildungen  Aulass  gegeben  haben.  So  findet  sich  im 
Deckengewölbe  der  St.  Stephanskirche  zu  Gartz  a.  0.  ein  runder  Deckel, 
angeblich  ein  Scheffel,  der  dort  eingemauert  sein  soll  zur  Erinnerung 
daran,  dass  einmal  ein  Bauer  mit  einem  falschen  Getreidemass  betroffen 
wurde  (Pom.  A^kde.  3,  163).  In  der  Sakristei  der  St.  Marienkirche  zu 
Stargard  i.  Pom.  befindet  sich  an  dem  Deckengewölbe  ein  Loch,  welches 
der  Sage  nach  nicht  zugemauert  werden  kann,  nachdem  der  Teufel  einst 
einen  gottlosen  Pastor  durch  dieses  Loch  entführt  und  zur  Hölle  hinab- 
geholt hat  (Pom.  Ykde.  5,  99).  Vgl.  auch  noch  Liebrecht,  Zur  Volks- 
kunde S.  42H.    . 

III.  Im  Jahre  1593  verfasste  der  Greif swalder  Rektor  Lukas 
Takke  eine  allerdings  erst  im  Jahre  1607  gehaltene  Rede  De  Urbe 
Pomeranorum  Gryphiswaldensi,  die  uns  im  Auszug  erhalten  ist  (Dähnert, 
Pom.  Bibl.  2,  219  und  7.  Jahresber.  der  Geogr.  Ges.  zu  Greifswald 
S.  142ff.).     Darin  heisst  es  u.  a. : 

Gertrudis  fanum  nunc  pene  collapsum  antiquo  ablati  quondam  a  Diabolo 
cuiusdam  illius  fani  Provisoris  seu  Diaconi,  fraudulenter  cum  Divae  Gertrudis 
imagine  sive  statua  propter  certam  aliquam  pecuniae  summam  cursu  certantis, 
miraculo  apud  exteras  etiam  gentes  huc  usque  claret. 

Also  auch  hier  ist  das  antiquum  miraculum  des  betrügerischen  Wett- 
laufes und  der  Entführung  durch  den  Teufel.  ISTeu  ist,  dass  der  Entführte 
möglicherweise  ein  Geistlicher  (Diaconus)  gewesen  sein  soll.  Auch  ist 
bemerkenswert,  dass  Takke  die  Bekanntschaft  der  Sage  apud  exteras 
etiam  gentes  ausdrücklich  hervorhebt,  wobei  man  nicht  sowohl  an  das 
Ausland,  als  vielmehr  an  nichtpommersche  deutsche  Volksstämme  zu 
denken  hat. 

IV.  Wesentliche  Abweichungen  von  den  bisherigen  Fassungen  der 
Sage  bringt  die  folgende  Quelle,  Zacharias  Rivander  (Bachmann),  der 
in  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  gelebt  und  die  zu  Magde- 
burg 1602  veröffentlichte  'Pestchronika'  verfasst  hat.  Da  mir  die  Original- 
quelle nicht  zugänglich  ist,  zitiere  ich  nach  dem  Abdruck  bei  Jahn,  Volks- 
sagen Nr.  334.     Dort  heisst  es: 

Zu  Gribßwalde,  im  Lande  zu  Pommern,  saget  man  bestendig  vnd  fürwar, 
stieg  ein  Dieb  in  die  Kirche,  darinnen  stand  ein  Bild  Nikolai,  vnd  im  Gottes- 
kasten solt  viel  Geld  verschlossen  liegen.  Der  Dieb  sprach:  „Herr  Nikolae,  ist 
das  Geld  mein  oder  dein?  Wir  wollen  darumb  in  die  Wette  lauffcn;  kompstu 
ehe  und  schneller  zum  Geldstock  denn  ich,  so  sey  das  Geld  dein,  sonst  sol  es 
mein  sein!"  Nikolae  das  Bild  liell'  vnd  kam  zum  ersten  an  die  Geldstat.  Sie 
lieffen  beyde  noch  einmal  vnd  zum  dritten  mal;  Sankt  Nikiaus  vberwand  vnd 
vberlieir  den  Dieb.  Der  Dieb  sprach:  „Mein  Nickel,  du  hast  das  Geld  ge- 
wonnen, du  kanst  es  aber  nicht  vorzehren,  denn  du  bist  Holtz;  ich  wil  dauon 
einen  guten  Muth  haben  vnnd  es  mit  guten  Gesellen  vorschlcmraen."  Dieser 
Mensch    ist   nach    wenig   tagen    gestorben;    seinen  todten  Leib  führet  der  Teuffei 

IT* 


260  Haas: 

wider  aus  dem  Grabe  in  die  Kirche,  warff  jn  des  Nachts  aufP  eine  Windmüle  vor 
der  Stadt;  von  derselben  sagt  man,  sie  solle  vnrecht  vmbgehen  vnd  linck  mahlen. 
Diss  Teuffelisch  Gespenst  sei  war  oder  anders,  so  hab  ichs  doch  warlich  gelesen. 

Hier  haben  wir  an  Stelle  des  Kirchenvorstehers  einen  Dieb,  an  Stelle 
der  St.  Gertrud  den  St.  Nikolaus  und  an  Stelle  des  Opfergeldes  das  im 
Gotteskasten  verschlossene  Geld.  Beim  Wettlauf  läuft  das  Bild  auch  das 
dritte  Mal  mit.  Neu  ist  die  Absicht  des  Diebes,  das  Geld  mit  guten 
Gesellen  zu  verbringen,  und  neu  ist  vor  allem  die  Einführung  der  linksum 
gehenden  Windmühle  bei  der  Bestrafung  des  Diebes.  Von  den  Fuss- 
tapfen  und  den  Spuren  am  Gebäude  findet  sich  nichts.  Auf  die  Wendung 
am  Schluss:  „Es  sei  wahr  oder  falsch,  so  habe  ich  es  doch  wahrlich 
gelesen",  lege  ich  kein  besonderes  Gewicht;  sie  macht  den  Eindruck,  als 
ob  sie  formelhaft  ist;  auch  oben  bei  Kantzow  findet  sich  eine  ähnliche 
Wendung,  und  weiter  unten  kehrt  sie  bei  Mikrälius  nochmals  wieder. 

Ob  Kivander  der  erste  gewesen  ist,  der  an  Stelle  der  St.  Gertrud 
den  St.  Nikolaus  eingesetzt  hat,  kann  ich  nicht  sagen;  jedenfalls  findet 
sich  der  St.  Nikolaus  nach  A.  von  Balthasar  auch  noch  in  der  Fassung 
der  Sage  bei  dem  gleichaltrigen  Michel  Sachse,  Alphab.  bist,  oder  Christi. 
Zeitvertreib  er,  4.  Theil  S.  383.  Die  Bestrafung  auf  der  linksum  gehenden 
Mühle  findet  sich  auch  bei  Mich.  Heberer,  Aegyptiaca  servitus,  Heidel- 
berg 0.  J.  (1610)  und  darnach  bei  Matth.  Merian,  Topogr.  Electoratus 
Brandenburgici  et  Ducatus  Pomeraniae  (Franckfurt  1652)  S.  65.  [Bei 
H.  Sachs,  Fabeln  5,  165  nr.  707  würfelt  ein  Landsknecht  mit   S.  Niclas.] 

y.  Eine  kurz  zusammengedrängte  Darstellung  der  Sage  gibt  Joh. 
Mikrälius,  Altes  Pommerland  (Stettin  1640)  6,  573. 

Was  sich  bey  der  Capelle  S.  Gerdrut  vor  der  Stadt  /  so  jetzund  mit  Wällen 
zur  Vestung  verschüttet  ist/ vnd  vorhin  grosse  Wallfahrten  gehabt  hat /mit  einem 
Provisorn  zugetragen  /  den  wegen  böser  Verwaltung  des  Opffer  Geldes  /  darumb 
er  mit  dem  Marienbilde  in  die  Wette  gelauffen  /  der  böse  Feind  aus  dem  Grabe 
geholet  /  vnd  daß  Graß  versenget  /  vnd  tieffe  Pußstapffen  in  die  Erde  getreten  /  die 
noch  da  gestanden  /  vnd  mit  Grase  nieraaln  bewachsen  sind  /  biß  die  gantze 
Kirche  vnnd  Kirchhoff  verschüttet  ist /davon  ist  zu  jederzeit  von  den  Bürgern 
viele  sagens  gewesen  /  vnd  ein  alt  geschriebenes  Chronicon  gedencket  dessen  auch: 
Drumb  habe  Ich  es  nicht  wollen  verbey  gehen:  Ein  jeder  halte  davon  /  was  er  wolle. 

Das  von  Mikrälius  angezogene  handschriftliche  Chronicon  ist  ver- 
mutlich Th.  Kantzows  Chronik  von  Pommern,  doch  mag  Mikrälius  auch 
aus  der  mündlichen  Überlieferung  geschöpft  haben;  jedenfalls  berichtet 
er  zuerst  (und  nach  ihm  nur  noch  Merian)  von  den  Wallfahrten,  die  in 
katholischer  Zeit  zur  St.  Gertrudkapelle  unternommen  worden  sind.  Das 
von  ihm  angeführte  'Marienbild'  .findet  sich  in  keiner  anderen  Quelle 
wieder  (ausser  bei  dem  fast  wörtlich  mit  ihm  übereinstimmenden  Merian) 
und  beruht  vermutlich  auf  einer  Flüchtigkeit  oder  einem  Versehen  (etwa 
statt  'Heiligenbild'  oder  ähnlich). 


Eine  alte  Greifswalder  Lokalsage.  261 

Tl.  Um  die  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  finden  wir  die  Sage  in  zwei 
topographischen  Werken,  nämlich  bei  Martin  Zeiller,  Descriptio 
Regnorum  Sv.  Imp.  (mir  nur  aus  A.  von  Balthasar  bekannt)  und  bei 
Merlan.  Der  letztere  schöpft  die  Sage  nach  seiner  eigenen  Angabe  aus 
Joh.  Mikrälius  und  Mich.  Heberer. 

Es  folgt  Johannes  Prätorius,  der  die  Sage  in  seinen  Anthro- 
podemus  Plutonicus  d.  i.  eine  Neue  Weltbeschreibung  etc.,  1  (Magdeburg 
1666)  S.  200  f.  aufgenommen  hat.  Es  ist  die  Fassung  mit  dem  St.  Nikolaus 
und  der  links  umlaufenden  Mühle,  wie  sie  sich  bei  Rivander  und  Heberer 
findet.  Aus  Prätorius  haben  die  Brüder  Grimm  (Deutsche  Sagen  Nr.  133) 
den  ersten  Teil  der  Sage  geschöpft,  während  der  zweite  Teil  von  Jakob 
Grimm  aus  Mikrälius  nachgetragen  ist. 

In  den  Schluss  des  17.  und  den  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  gehören 
vier  Fassungen  der  Sage,  die  ich  nur  aus  A.  von  Balthasars  Zitat  kenne: 
Melchior  Eppen,  Gerechte  Strafe  und  Rache  Gottes  wider  die  Prediger- 
und Schul-Peinde,  S.  185  (der  Verfasser  war  ein  geborener  Greifswalder 
und  starb  gegen  Ende  des  17.  Jahrhunderts  als  Pastor  in  Wolgast); 
Caspar  Schneider,  Gründlicher  und  genau  durchsuchter  Oder-Strohm, 
S.  360  (der  Verfasser  starb  1720  als  Bürgermeister  in  Dommitsch);  Joh. 
Heinrich  Hävecker,  Christerbauliche  Abend  -  Gespräche,  S.  83  (der 
Verfasser  war  Pastor  und  hat  1640  —  1722  gelebt);  Georg  Michael 
Pfefferkorn,  Pleißnische  Ehrenkränze  oder  Leichenreden,  (1701)  S.  308 
(der  Verfasser  hat  von  1646  —  1732  gelebt). 

Vn.  Aus  dem  Jahre  1736  erhalten  wir  sodann  eine  mannigfach  ab- 
weichende Fassung  der  Sage  durch  den  Bürgermeister  von  Plathe 
Amandus  Carl  Vanselow  in  seinem  wenig  bekannten  'Versuch  zu 
einem  Promptuario    exemplorum  Pomeraniae    oder  Vorrath  von  allerhand 

merckwürdigen    Geschichten,    so    sich    in    Pommern zugetragen', 

Iste  Sammlung,  Franckfurt  a.  O.  1736,  S.  205 ff.  Als  Quelle  gibt  der 
Verfasser  den  „gewesenen  Fürstl.  Eisenachischen  Cantzler  Georg.  Mundus 
von  Rodach  in  Tract.  de  Muuer.  Honor.  et  Oner.,  L.  9  cap.  30  S.  404" 
an.  Die  Sage  geht  hier  unter  der  Überschrift  'Die  bestrafften  Kirchen- 
Räuber'  und  lautet  so: 

Es  ist  ausserhalb  der  Stadt  Greiffswalde,  auf  einem  Kirchhoffe  mit  Mauren 
umgeben,  eine  feine  Kirche,  darinn  noch  jederzeit  geprediget  wird,  und  werden 
zu  Zeiten,  wie  es  auch  an  andern  Orthen  gebräuchlich,  vornehme  Leuthe  darinn 
begraben.  Nun  hat  sichs  zugetragen,  dass  in  dieser  Stadt  ein  vornehmer  Mann 
redlichen  Ansehens,  deme  man  wegen  seiner  vermeinten  Redlichkeit  das  Ein- 
kommen des  Allmosen  und  der  Spitale  vertrauet  und  anbefohlen,  A.  1438  ver- 
storben, den  man  auch  in  dieser  Kirche  begraben.  Dieweil  er  sich  aber  wieder- 
rechtlich mit  den  Allmosen  bereichert,  dasselbe  bestohlen  und  also  nicht  die 
Menschen,  sondern  Gott  betrogen,  hat  der  allmächtige  Gott  aus  gerechtem  Urtheil 
dem  Teuffei  verhänget  und  zugelassen,  daß  er  diesen  heyligen  Dieb  aus  dem 
Grabe  genommen,  zu  der  Kirchen  hinaus  über  den  Kirchhoff  —  darauff  er  etliche 


262  Haas:     - 

Fusst-apffen  hinterlassen  —  auff  eine  Wind-Mühle,  negst  dabey,  getragen  und  auff 
den  Flügeln  durch  sein  Gespenst  wieder  "Wind  herum  geführet,  der  nachmals  mit 
dem  todten  Leichnam  verschwunden  ist,  daß  niemand  wissen  kan,  wo  einig  Haar 
von  ihm  hinkommen  sey. 

Damit  aber  dieser  schrecklichen  Historie  nicht  vergessen  werden  könne,  so 
läufft  durch  den  Willen  Gottes,  allen  Menschen  zur  Warnung,  die  gedachte  Wind- 
Mühle  noch  heutiges  Tages  wieder  Wind,  da  doch  andre  Wind-Mühlen,  so  aller- 
negst  auf  20  Schritt  darbey  stehen,  mit  dem  ordentlichen  Winde  ihren  rechten 
Lauff  haben  und  behalten. 

Auff  solche  augenscheinliche  Straffe  und  erschrecklich  Urtheii  Gottes  ist  die 
gantze  Stadt  bestürtzet  worden,  und  hat  E.  E.  Rath  zum  Gedächtniß  dieser  un- 
erhörten Geschichte  an  der  Kirchen  nebst  der  Kirchen-Thüren,  daraus  die  Wunder 
geschehen,  einen  Stein  an  der  Wand  ausserhalb,  darauff  die  gantze  Geschichte  in 
alter  Sächsischer  oder  Pommerscher  Sprache  eingehauen,  auffrichten  lassen,  allen 
Christen-Menschen  zur  Warnung  und  Exempel.  Welches  Gedächtniß  ich  mit 
Schrecken  und  Verwunderung  angesehen,  denn  die  Wind-Mühle  noch  auff  diesen 
Tag  wieder  Wind  läufft.  So  sind  die  Fuß-Tapffen  auff  dem  Kirch-Hoffe  gemacht, 
nicht  eben  zu  machen  oder  auszufüllen,  sondern  fallen  stetigs  ohngefehr  eines 
Werck-Schuhes  tieff  wieder  ein,  damit  sie  immerzu  mögen  gesehen  w^erden.  Über 
diesen  Augen-Schein  gibt  ferner  die  bey  der  Kirch-Thür  zuvor  gemeldete  steinerne 
Platten  schrifftlichen  und  ausführlichen  Bericht  jedermänniglich  in-  und  aus- 
ländischen zu  sehen  und  zu  lesen. 

In  diesem  Bericht  ist  die  Kirche  nicht  näher  bezeichnet,  was  auf- 
fallen muss,  da  der  Berichterstatter  an  Ort  und  Stelle  gewiesen  sein  will. 
Es  fehlt  ferner  der  Wettlauf.  Neu  ist  dagegen  die  Nachricht  von  dem 
neben  der  Kirchentür  aufgerichteten  Stein  und  von  dem  im  Jahre  1438 
erfolgten  Tode  des  unredlichen  Vorstehers.  Nach  Pyl  (a.  a.  0.  S.  1309) 
hatten  immer  je  zwei  Provisoren  das  Vermögen  der  St.  Gertrudkapelle 
zu  verwalten;  als  solche  fungierten  von  1382—1432  Dietrich  Schlutow 
und  Nikolaus  Witte  L,  1472  Bernhard  Wildeshusen  und  Nikolaus  Witte  IL, 
1486  Hans  Buweman  und  Augustin  Kronort  usw.  Die  Namen  der  Provi- 
soren von  1438  sind  nicht  überliefert.  Was  die  Bestattung  auf  dem 
St.  Gertrudenkirchhof  betrifft,  so  wurden  hier  ursprünglich  nur  die  in  der 
Herberge  verstorbenen  heimatlosen  Wanderer,  zugleich  aber  auch  die  an 
gefährlichen  Epidemien  Gestorbenen  begraben;  in  der  Folge  jedoch,  als 
die  Reformation  den  Kultus  und  die  Bestimmung  der  Kapelle  wesentlich 
veränderte,  ging  der  Friedhof  als  Eigentum  an  das  Graue  Kloster  über 
und  diente  seitdem  zur  Bestattung  der  im  Armenhause  oder  auch  sonst 
mittellos  verstorbenen  Personen;  daher  hiess  er  auch  der  Armen-Kirchhof. 
Nach  dem  Dreissigjährigen  Kriege  verzichtete  das  Kloster  auf  den  Kirchhof 
zugunsten  der  Stadt,  und  diese  überliess  den  Platz  sodann  der  Garnison 
unter  dem  Namen  'Soldatenkirchhof  (Pyl  a.  a.  0.  S.  1304 f.). 

VIII.  Die  nächste  Quelle  ist  'Herrn  Georg  von  Fürst,  eines  be- 
rühmten Cavaliers  aus  Schlesien,  curieuse  Reisen  durch  Europa,  in  welcher 
allerhand  Merkwürdigkeiten  zu  finden',  Sorau  1739,  abgedruckt  in  Monats- 


Eine  alte  Greifswalcler  Lokalsage.  263 

blatt  1909  S.  65 ff.  Die  Reise  selb'st  muss  der  berühmte  Kavalier  mehr 
als  hundert  Jahre  vor  ihrer  Drucklegung  unternommen  haben;  denn  wenn 
er  schreibt:  „Vor  dem  Tore  fanden  wir  einen  Kirchhof,  wobei  eine  kleine 
Kirche  steht,"  und  „die  Mühle  muss  noch  bis  auf  diesen  Tag  wider  den 
Wind  herumgehen,"  so  passt  das  nur  auf  die  Zeit  vor  1631.  Der  Wett- 
lauf fehlt  bei  Georg  von  Fürst;  das  einzig  Neue  ist,  dass  die  Fusstapfen, 
welche  tief  in  die  Erde  getreten  waren,  „ziemlich  weit  voneinander  ge- 
sehen wurden." 

IX.  Als  letzte  Quelle  ist  der  schon  mehrfach  zitierte  A.  von  Bal- 
thasar, Jus  eccl.  past.  II  S.  11  zu  nennen.  Er  weist  zunächst  auf  „die 
alte  Leo-ende  hin,  welche  allhier  zu  Greifswald  umbs  Jahr  1438  mit  einem 
Vorsteher,  der  in  der  St.  Gertrudts  Kirche  den  Kirchen-Kasten  bestehlen 
wollen,  soll  paßiret  seyn",  berichtet  sodann  den  Wettlauf  nach  Mikrälius 
und  fährt  dann  fort: 

Die  Tradition  ist  noch  dabey,  daß  der  Teufel  sich  mit  dem  Leichnam  auf 
einer  nahe  dabey  befindlichen  Mühle  gesetzt  und  daselbst  ein  groß  Geschrey  er- 
reget habe.  Von  der  Zeit  an  die  Mühle  allemahl  verkehrt  und  wider  den  Wind 
gegangen;  daß  sie  auch  daher  den  Nahmen  der  'verkehrten  Mühle'  bekommen. 
Es  ist  diese  Geschichte  in  einem  alten  deutschen  Gedichte  vom  gedachten  Jahre 
beschrieben  ...  Es  hat  einer,  Nahmens  Matthias  Lajus,  von  welchem  aber  nicht 
bekannt,  wer  er  gewesen,  diese  Geschichte  sogar  in  Kupfer  stechen  lassen  und 
dieses  Kupferstich  denen  Herzogen  in  Pommern  und  dem  Magistrat  zu  Greifswald 
dediciret. 

X.  Das  von  Balthasar  erwähnte  deutsche  Gedicht  vom  Jahre  1438 
scheint  verschollen  zu  sein.  Dagegen  ist  die  Sage  in  neuerer  Zeit  wieder 
in  Verse  gebracht  worden  von  Ed.  Hellm.  Freyberg,  Pomm.  Sagen  in 
Balladen  und  Romanzen  (Pasewalk  1836)  S.  32-35.  Der  Dichter  hat 
dabei  die  von  Kantzow  überlieferte  Fassung  der  Sage  benutzt.  Aus 
Freyberg  und  Mikrälius  hat  J.  D.  H.  Temme,  Die  Volkssagen  von 
Pommern  und  Rügen  (Berlin  1840)  Nr.  118  die  Greifswalder  Sage 
geschöpft.  Jahn  wirft  Temme  vor,  dieser  habe  die  Sage  'ausgeschmückt'; 
dieser  Vorwurf  scheint  mir  aber  doch  nicht  berechtigt  zu  sein;  einige 
geringe  Ausschmückungen  des  Sagenstoffes  finden  sich  bei  Freyberg,  wie 
z.  B.,  dass  das  Bild  Tränen  geweint  habe,  und  das  ist  von  Temme  mit 
übernommen  worden;  dem  Dichter  aber  wird  man  solche  Ausschmückung 
wohl  kaum  verargen  dürfen. 


Überschauen  wir  zum  Schluss  noch  einmal  die  Quellenschriften,  in 
denen  die  Greifswalder  Sage  überliefert  ist,  so  ergeben  sich  zwei  bzw. 
drei  Gruppen  der  Überlieferung.  Zur  ersten  Gruppe  rechne  ich  alle  die- 
jenigen, die  den  Wettlauf  mit  dem  Gertrudenbilde,  die  Entführung  des 
Verstorbenen    durch    den  Teufel,    die  Hinterlassung    der  Fusstapfen    und 


264 


Haas:   Eine  alte  Greifswalder  Lokalsage. 


der  Spuren  an  der  Kirche  berichten,  aber  der  linksum  gehenden  Mühle 
noch  nicht  gedenken.  Diese  Quellen  stehen  zueinander  in  folgendem  Ab- 
hängigkeitsverhältnis: 

Erste  Gruppe 


Merlan       v.  Balthasar 
(1.  Teil)         (1.  Teil) 


Grimm 
(2.  Teil) 


Freyberg 


Temme 


Zur  zweiten  Gruppe  zähle  ich  diejenigen  Quellen,  welche  von  dem 
Wettlauf  mit  dem  St.  Nikolausbilde  und  von  der  Bestrafung  auf  der 
linksum  gehenden  Mühle  berichten: 

Zweite  Gruppe 


Heberer 


Gs-  von  Fürst 


Prätorius  (?) 


Jahn     Merlan 
(2.  Teil) 


Grimm 
(1.  Teil) 

Zur  dritten  Gruppe  rechne  ich  alle  übrigen  Quellenwerke,  welche 
weitere  Einzelheiten  berichten,  ohne  dass  wir  deren  Quelle  kennen: 
Pranck  mit  der  Entführung  durch  das  unverd  eckbare  Loch  im  Kirchen- 
dach, von  Rodach-Vanselow  und  v.  Balthasar  mit  der  Angabe  des  Jahres  1438, 
von  Rodach-Vanselow  mit  der  Nachricht  von  der  Aufrichtung  des  Steines  und 
endlich  v.  Balthasar  mit  der  Erwähnung  des  deutschen  Gedichtes. 

Stettin. 


Kohlbach:    Das  Zopfgebäck  im  jüdischen  Eitus.  265 


Das  Zopfgebäck  im  jüdischen  Ritus. 

Von  Berthold  Kohlbach. 


I.   Ritus  des  Brotpaares  (Lechern  mischne). 

„Und  es  war  am  sechsten  Tage,  da  wurden  zwei  Portionen  gesammelt, 

zwei    Ömer    für   je    eine  Person Sechs  Tage    dürfet    ihr    es    (das 

Manna)  sammeln,  am  siebenten  Tage  jedoch  ist  Sabbat;  da  ist  es  nicht 
vorhanden."  (Exodus  16,  22  u.  26.)  Diese  Verordnung  ist  die  Quelle 
des  zumal  in  den  jüdischen  Häusern  des  Abendlandes  so  charakteristischen 
Brotpaares  in  Zopfform  bei  Sabbat-  und  Festmählern. 

Das  Brotpaar  in  Laib  form  (Kikkar)  und  als  Zopf  gebäck  (Barches) 
sind  Symbole  gesonderter  Kulturkreise  im  Judentum e.  Während  ersteres 
auch  heute  noch  bei  den  sogenannten  sepharedischen  (=  fränkischen)^) 
Juden  im  Orient  das  'lechem  mischne'  der  Schrift  vertritt,  gehört  das 
Zopfgebäck  bei  den  sog.  aschkenasischen  (deutschen)  Juden  zum  Weihe- 
ritus (Kiddusch)  von  Sabbat  und  Festtagen;  es  ist  auch  hier  keine  religiöse 
Vorschrift,  denn  es  darf  die  Benediktion  auch  über  zwei  Brödchen  (Wasser- 
semmeln) gesprochen  werden;  es  ist  ein  durch  Jahrhunderte  geweihter 
Brauch,  an  dem  zumal  die  jüdische  Frau  liebevoll  hängt  und  festhält. 

Am  Freitagabende  oder  am  Vorabende  des  Festtages  werden  auf  dem 
feierlich  gedeckten  Tisch  auf  den  Ehrenplatz  des  Wirtes  zwei  Gebildbrote 
in  Zopfform  gelegt;  eine  Serviette  oder  ein  zu  diesem  Zwecke  dienendes 
Deckchen  verhüllt  die  'Barches'  bis  nach  Beendigung  des  Segensspruches, 
welcher  den  Weiheritus  beschliesst;  das  eine  Brot  wird  angeschnitten, 
das  zweite  bleibt  für  die  Mittagstafel  des  Sabbat-  oder  Feiertages,  am 
Versöhnuugsfest  für  das  Abendmahl  nach  dem  Fasttage.  Die  Zeremonie 
ist  eine  höchst  dürftige;  der  Wirt  spricht  beim  Anschneiden:  „Gepriesen 
seist  du  Ewiger,  unser  Gott,  Herr  der  Welt,  der  du  Brot  hervorbringst 
aus  dem  Erdreiche,"  bricht  jedem  der  Tischgenossen  —  Männern  und 
Frauen  —  einen  Bissen  ab,  den  jeder  einzelne  mit  demselben  Segens- 
spruche begleitet.  Ist  ein  würdiger  Gast  zugegen,  wird  auch  vor  ihn  ein 
besonderes  Brotpaar  gelegt.  Am  Pesachfeste  vertritt  die  Stelle  der 
'Barches'  die  ungesäuerte  Brotscheibe  (Mazzäh);    bei  dem  Abendmahle  an 


1)  Franken  werden  die  in  den  Balkanländern  lebenden  Juden  genannt,  weil  im  Orient 
die  aus  Europa  stammenden  Juden 'Europäer'  i^frengi)  genannt  wurden;  in  Ungarn  heissen 
sie  auch  'Spagniolen', 


266  Kohlbach: 

den  zwei  ersten  Abenden  (Szeder)  sind  wohl  drei  solche  Brote  vorhanden, 
doch  vertreten  sie  nicht  das  'Lechem  mischne',  sondern  jedes  einzelne  hat 
eine  besondere  Verwendung;  Symbol  des  Festes  ist  bloss  eines,  über  das 
ausser  dem  oben  angeführten  noch  der  folgende  Segensspruch  gesagt  wird: 
„Gepriesen  seist  du  Ewiger,  unser  Gott,  Herr  der  Welt,  der  uns  geheiligt 
hat  durch  seine  Gebote  und  uns  den  Genuss  der  Mazzäh  verordnet  hat"  ^). 
Soweit  über  die  Zeremonie. 

Was  die  Form  des  Lechem  mischne  betrifft,  finden  wir  in  den  Quellen 
keine  besonderen  Angaben.  Der  Talmud  erwähnt  keine  besondere  Form 
für  diese  Kultbrote.  Rabbi  Abba  tradiert:  Am  Sabbat  ist  jeder  ver- 
pflichtet, zwei  Brotlaibe  (kikroth)  anzuschneiden,  weil  es  in  der  Schrift 
heisst:  lechem  mischne  (Brotpaar)  Sabbat  117  b.  Auch  der  Schulchan 
arüch,  der  allgemein  gültige  Ritualkodex  des  rabbinischen  Judentums,  gibt 
uns  keine  nähere  Aufklärung.  Ein  kurzes,  aus  bloss  vier  Punkten  be- 
stehendes Kapitel  in  der  Abteilung  I  (Orach  chajjim  =  Pfad  des  Lebens), 
§  274,  behandelt  das  Anschneiden  des  Sabbatbrotes  und  §  271,  9  wird  ge- 
fordert, dass  das  Brot  (pasz)  auf  einem  Tischtuche,  mit  einem  Deckchen 
(mappa)  verhüllt,  liege.  Man  könnte  glauben,  der  Söhar,  das  Hauptwerk 
aller  Mystik  im  Judentume,  werde  sich  dieses  Ritus  bemächtigt  haben 
und  ihn  verherrlichen.  Mit  nichten!  Der  Sohar  gefällt  sich  in  der  Aus- 
schmückung der  drei  Sabbatmahlzeiten,  d.  i.  am  Freitagabend,  am  Sabbat- 
mittag und  Sabbatnachmittag  (schalesch-szüdesz  im  Jargon),  welch  letztere 
in  polnisch-orthodoxen  Kreisen  mit  der  grössten  Observanz  gefeiert  wird, 
da  sie  als  Abschiedsfest  des  Sabbatkönigs  (melavve  d'  malkö)  aufgefasst 
wird  und  gewöhnlich  im  Lehrhause  in  Gegenwart  des  Rabbis  abgehalten 
wird^).  Ferner  spricht  er  von  den  im  Stiftszelte  und  später  im  Heilig- 
tume  zu  Jerusalem  aufliegenden  'Schaubroten'  (Lechem  happonim), 
wünscht,  dass  jedes  einzelne  Schaubrot  viergestaltig  sei,  um  das  Traum- 
gesicht des  Propheten  Ezechiel  (1,6)  zu  symbolisieren.  Sonst  aber  klingt 
es  ganz  nüchtern:  „Es  ist  Pflicht,  zwölf  Brote  auf  den  Sabbattisch  zu 
geben,  je  vier  für  eine  Mahlzeit"^). 

Trotz  dieser  Nüchternheit  in  den  Quellenschriften  bildet  die  Be- 
reitung der  Barches  den  besonderen  Stolz  der  gesetzestreuen  Jüdin 
Mittel-    und  Nordeuropas;    im  Orient    gilt    bei    den  sepharedischen  Juden 


1)  Auf  den  Darstellungen  des  heiligen  Abendmahls  sehen  wir  auch  bloss  ein  Brot: 
die  Form  befremde  uns  nicht;  die  sepharedischen  Juden,  so  z.  B.  in  Temesvar,  backen 
die  ungesäuerten  Brote  in  Laibform  und  nennen  sie:  'bojüsz';  die  Bedeutung  des  Wortes 
konnte  ich  nicht  ermitteln. 

2"  Vor  Jahren  sah  ich  polnisch-orthodoxe  Juden  in  Budapest  (Simonyi'sches  Haus, 
VII.  Königsgasse)  in  der  Synagoge  nach  dem  Nachmittagsgottesdienst  (Mincha)  die  dritte 
Mahlzeit:  Fische  und  Barches  essen.     Es  wird  auch  heute  dies  der  Fall  sein. 

3)  Suhar  ed.  Lublin  1894,  3,  489.  —  Ob  diese  Zahl  eingehalten  wird,  ist  mir  hier 
in  Ungarn  nicht  bekannt. 


Das  Zopfgebäck  im  jüdischen  Ritus.  267 

gewöhnliches  Brot  als  Lechem  mischne  (mündliche  Angabe  des  Faelascha- 
forschers  Faitlovich),  Der  Grossrabbiner  in  Saloniki  Jakob  Meir  schreibt 
mir,  dass  bei  den  türkischen  Juden  das  Sabbatbrot  keinen  besonderen 
Namen  führe.  „Bloss  in  den  Häusern  der  Vornehmen  wird  es  aus  feinem 
Mehle  bereitet,  mit  Ei  bestrichen  und  mit  Mohn  bestreut;  weil  der  Teig- 
ein besserer  ist,  gärt  er  mehr,  so  dass  das  Backwerk  hohl  ist  ...  ."  Bei 
den  Juden  in  Persien  heisst  es  'challah'  (=  Fladen,  vgl.  E.  N.  Adler, 
Jews  in  many  lands,  pag.  179).  Interessant  ist,  dass  auch  in  slawischen 
oder  einst  slawischen  Gegenden  das  Brotpaar  'challah'  heisst,  so  in 
manchen  Gegenden  Oberungarns  (Zemplener  Komitat,  wo  sehr  viel 
polnische  Juden  eingewandert  sind),  in  Königsberg  und  Graudenz,  wie 
Höfler  im  Archiv  für  Anthropologie  (Neue  Folge  4,  130)  mitteilt^). 

Was  nun  d^ie  Form  der  Challah  und  der  Barches  betrifft,  so  ist  die 
Challah  oblong,  fladenförmig,  wie  das  Opferbrot  auf  dem  Altar  in 
Jerusalem,  das  schlechthin  als  'Schaubrot'  übersetzte  lechem  happönim^) 
(Exodus  25,30;  35,13;  39,36;  in  Leviticus  24,5  heissen  sie  ja  challöth) 
gewesen  sein  mochte.  Weder  challöth,  noch  uggöth,  lechem  usw.  deuten  auf 
die  Form,  bloss  kikkar  bedeutet:  Laib.  Das  Zopfgebäck  (Barches)  hingegen 
hat  gewöhnlich  die  längliche  Zopfform;  bloss  an  den  Sabbat-  und  Feier- 
tagen von  Neujahr  (Rösch  haschänah)  bis  zum  Feste  der  Weidenruten 
(Hoschana  rabba)  hat  das  Backwerk  die  Form  einer  runden  Frisur,  und 
zwar  nach  der  landläufigen  Auslegung  in  jüdischen  Kreisen  deshalb,  damit 
die  Rundung  des  Zopfes  dem  Wunsche  die  symbolische  Fassung  gebe: 
Möge  das  neue  Jahr  so  ohne  alle  Scharten  und  Ecken  sein,  wie  die 
Kreisform.  Ich  vermute,  es  ist  eher  das  Symbol  des  sich  erneuernden 
Jahreszyklus,  des  sich  schliessenden  Kreises^). 

Das  Zopfgebäck  wird  mit  Eidotter  bestrichen  und  mit  Mohn  bestreut; 
das  erstere  geschieht  wohl  darum,  dass  das  Flechtwerk  glänzend,  nicht 
matt  sei;  das  letztere  ist  wahrscheinlich  nicht  jüdischen  Ursprungs,  da  ja 
—  wie  allgemein  bekannt  ist  —  der  Mohn  im  griechisch  -  römischen 
Rituale    eine    grosse  Rolle    spielt.     (Höfler,    Das  Haaropfer    in  Teigform, 

1)  Er  liest  irrtümlich  Kalle  =  Braut)  und  hält  es  für  ein  ßrautopfer:  Kaf  ohne 
dägesch  wird  von  den  nichtsepharedischen  Juden  'ch'  gelesen. 

2)  Eine  merkwürdige  Darstellung  des  lechem  happonim  sah  ich  in  der  Justina- 
Kirche  zu  Padua;  auf  einem  der  Chorstülile  ist  es  in  Ziegelform  geschnitzt;  die  obere 
Fläche  zieren  drei  Augen,  die  Vorderflächc  vier  Augen,  eine  Anlehnung  an  die  pänim 
=  Gesicht.  —  Ich  vermute  darin  ein  Teigopfer  für  jeden  Stamm  und  wäre  geneigt,  es 
mit  'Gebildbrot'  zu  übersetzen.  Von  Woche  zu  Woche,  am  Sabbate  musste  es  Gott  vor- 
gelegt werden  als  'Feueropfer',  doch  wurde  es  nicht  verbrannt,  sondern  von  den 
Priestern  genossen.    i^Vgl.  als  Hauptstelle  Leviticus  24,5—9. 

3)  In  diesen  Festwochen  wird  das  Zopfbrot  in  Honig  getunkt  und  so  genossen;  als 
Ursache  wird  angegeben:  das  neue  Jahr  werde  ein  'glückliches  und  süsses'.  Ich  glaube, 
der  Genuss  des  Honigs  zu  Neujahr  hängt  mit  dem  chthonischen  Kult  zusammen,  der  im 
späteren  Judentume   verschwunden   ist.    Auffallend   ist   bloss    der  Genuss  von  Lebkuchen 

lekach)  bei  den  polnischen  Juden. 


268  Kohlbach : 

Archiv  für  Anthropologie  a.  a.  0.).  Besonders  reich  verziert  sind  die 
Barches  zu  Ehren  des  Torafestes,  des  jüdischen  Faschings  (Pürim),-  bei 
Hochzeits-,  Circuracisions-  und  Erstgeburtlöse  (Pidjön  habben)-Mahlzeiten; 
das  Zopfgebäck  ziert  eine  schmale  Teigflechte,  auf  ihr  sind  Rosetten 
und  Schneckengewinde  aus  Teig  angebracht;  unter  der  Flechte  stilisierte 
Hände  aus  Teig  und  andere  Zieraten. 

Bei  diesen  Gelegenheiten  gilt's  nicht  mehr,  das  Brotpaar  der  Bibel  zu 
vertreten;  es  wird  bloss  ein  Zopfbrot  gebacken. 

n.    Namen  und  Ursprung  des  Zopfgebäckes  (Barches). 

Barches!  Ein  sonderbares  Wort;  es  klingt  hebräisch,  und  zwar  als 
im  Jargon  verderbter  Plural  des  Wortes:  berächa  (=  Segen).  Es  ficht 
uns  dabei  gar  nicht  an,  dass  es  in  manchen  Gegenden  berches  heisst;  dem 
Jargon  können  wir  ja  soviel  Sprachverderbnis  zuschreiben.  Und  wir  sind 
gar  bald  mit  der  Etymologie  fertig:  Barches  ist  ein  Backwerk,  bei  dessen 
Genuss  viele  Segenssprüche  rezitiert  werden.  Das  klingt  recht  plausibel, 
ist  aber,  wie  wir  wissen,  grundfalsch,  da  wir  beim  Anschneiden  bloss 
einen  einzigen  Segensspruch  hersagen.  Ferner  spricht  auch  gegen  die 
Abstammung  des  Namens  aus  dem  Hebräischen,  dass  er  bei  den  Juden 
nicht  allgemein  ist,  in  den  gemeingültigen  Codices,  wie  in  der  Mischna, 
im  Talmud,  Schulchan  ärüch  usw.  nicht  vorkommt. 

Nun  gilt  allgemein,  dass  barches,  berchis  mit  dem  deutschen  Perchten- 
brot  identisch  ist^).  Ich  verhalte  mich  dieser  Erklärung  gegenüber 
skeptisch,  weil  ich  weder  um  den  Königssee,  also  um  Berchtesgaden 
herum,  noch  im  Salzburgischen  den  Namen  berchis  für  Gebildbrote  gehört 
habe;  meinen  Zweifel  bestärkt  Prof.  Dr.  Schermann,  Direktor  des  königl. 
ethnographischen  Museums  in  München,  der  mir  u.  a.  schreibt:  „Obwohl 
ich  von  vornherein  an  keinen  Zusammenhang  mit  dem  Perchtakult  glaube, 
habe  ich  eigens  noch  Frau  Prof.  Marie  Andree  befragt  und  mir  von  ihr 
bestätigen  lassen,  dass  dieser  Kult  keinerlei  Zopfbackwerke  kenne.'' 

Wir  haben  es  hier  mit  einem  Survival,  einem  Überrest  altjüdischen 
Brauches  zu  tun,  der,  von  griechisch-römischen  Juden  in  germanische 
Länder  verpflanzt,  seinen  alten  Namen  challah  verloren  hat  und  für  das 
Gebildbrot  den  germanisch-heidnischen,  der  Göttin  Berchta  entlehnten 
Namen  riD"12  (statt  'bercht'  volksetymologisch:  berchesz  gelesen)  ange- 
nommen hat. 

Die  sog.  Sephardim  lebten  jahrhundertelang  auf  der  pyrenäischen 
Halbinsel  und    im  Maghreb  inmitten  von  Muhammedanern,    seit  der  Yer- 


1)  Vgl.  Grünbaum  in  Zisch,  d.  deutschen  morgenländ.  Gesellschaft  31,  348  und  be- 
sonders Max  Höfler  oben  9,  444;  11,  193-'J01;  12,  88-89;  198-203;  430-432;  13,  391 
bis  398;  14,  257-278;  434;  15,  312-321;  IG,  G5,  76;  ferner  im  Archiv  für  Anthropologie 
a.  a.  0.  und  im  Globus  80,  6. 


Das  Zopfgebäck  im  jüdischen  Ritus.  269 

treibung  aus  Spanien  und  Portugal  (Ende  des  15.  Jahrhunderts)  wieder 
zumeist  unter  Moslimeu  in  der  Türkei,  Vorderasien  und  Ägypten.  Selbst 
die  in  der  Provence  und  Nordspanieu  unter  Christen  lebenden  Juden 
mussten  die  einstige  Challah  als  Opfer  vergessen  haben  und  sie  bloss  als 
Vertretung  des  lechem  mischne  auffassen,  weil  ja  weder  das  romanische 
Christentum,  noch  der  Islam  das  Haaropfer  als  Ersatz  für  das  Frauen- 
opfer der  Heidenzeit  kannten.  Anders  verhält  es  sich  mit  den  mittel- 
europäischen Juden,  den  sog.  Aschkenäsim;  diese  lebten  schon  damals  in 
den  römischen  Kolonien,  als  die  meisten  germanischen  Stämme  noch 
Heiden  waren  und  die  germanischen  Frauen  der  Friichtbarkeitsgöttin 
ihre  Zöpfe  zum  Opfer  brachten;  dieses  Haaropfer  ersetzte  nach  An- 
nahme des  Christentums  das  Zopfbrot.  Die  Jüdin  fürchtete  auch  — 
trotz  des  offiziellen  Monotheismus  —  den  Geburtsdämou  und  brachte 
ihm  vor  der  Trauung  ihre  Zöpfe  zum  Opfer,  was  das  spätere  Judentum 
nach  Analogie  des  Kultes  der  Dea  Syriaca  als  Keuschheitssymbol  (zeniüth) 
auffasst. 

Das  Abschneiden  des  Haares  blieb  im  orthodoxen  Judentum  bis  heute 
eine  condicio  sine  qua  non  der  Ehefrau;  als  Opfer  jedoch  verlor  die 
challah  ihre  Bedeutung,  und  der  Begriff  des  Haaropfers  verband  sich  mit 
dem  Brotpaare,  das  im  sog.  deutschen  Judentume  (deutsch-böhmisch- 
polnisch-ungarisch) Zopfform  hat. 

Höchst  wahrscheinlich  haben  wir  es  bei  dieser  Übernahme  auch  mit 
Gefühlskundgebungen  zu  tun,  wenn  die  jüdische  Frau  mit  solcher  Liebe 
und  Geduld  ihre  'lieben  Barches'  geflochten  und  verziert  hat.  Was  sie 
zu  Ehren  des  Sabbat-  und  Festtages  nicht  mit  ihrer  eigenen  Frisur  tun 
konnte,  denn  sie  war  ja  kurzgeschnitten  unter  dem  'Haarband'^),  das  tat 
sie  mit  den  Teigzöpfen.  Sie  machte  die  schönsten  Frisuren;  „die  aus- 
gezeichnetsten Zopfformen  stellen  die  jüdischen  Backformen  auf.  Diese 
haben  die  eigentliche  Zopfform  —  Haar-Zopftypus  —  am  meisten  zum 
Ausdruck  gebracht."    (Höfler.) 

Als  altjüdisches,  das  Haaropfer  ersetzendes  Teiggebilde  erwähnte  ich 
die  challah,  die  aber  in  diesem  Sinne  bei  den  unter  nicht-germanischen 
Völkern  lebenden  Juden  in  Vergessenheit  geraten  ist,  doch  in  der  Tradition, 
in  der  Mi  seh  na  noch  fortlebt. 

Weo-en  dreier  Verg-ehuno-en  —  so  heisst  es  in  der  Mischna  Sabbat 
(H,  6  und  Sabbat  22  a)  —  sterben  die  Frauen  im  Kindbette,  weil  sie  nicht 
genau  auf  die  Menstruation,  die  Challah  und  das  Lichterzünden  (am 
Freitagabend)  achten.  Menstruation  (nidda)  und  damit  verbundene  Vor- 
sichtsmassreyeln    gehören    in    den    Kreis    der  Heilkunde    und    der  Volks- 


1)  Das  Haarband  ist  eine  den  Schädel  bedeckende,  eng  anliegende  Haube  aus  Seide; 
gewöhnlich  war  vorne  ein  breites  braunes  Atlas-  oder  Seidenband  mit  einer  Naht  in  der 
Mitte,  einer  Nachahmung  des  in  der  Mitte  gescheitelten  Haares. 


270  Kohlbach: 

medizin.  Vom  Lichteranzünden  sprach  ich  in  Anlehnung  an  diese  Mischna 
in  meinem  Aufsatz  'Feuer  und  Licht  im  Judentume'  (oben  23,  247 ff.). 

Challah  bedeutet  heute  im  Ritus  —  abgesehen  von  der  Benennung 
für  das  Brotpaar  —  eine  Abgabe  vom  Teige  auf  Grund  von  Numeri 
15,  19  —  211).  Die  jüdische  Wirtin  wirft  den  Zipfel  der  Barches  oder  vor 
der  Formung  des  Teiges  ein  Stück  davon  ins  Feuer,  weil  jetzt  der 
Opferkult  aufgehoben  ist  und  keine  Priesterkaste  da  ist,  um  die  vor- 
schriftsmässige  Abgabe  vor  Jahve  zu  verbrennen  oder  dem  kohen  (Priester) 
zum  Genüsse  zu  übermitteln.  Alle  diese  Abgaben  sind  nämlich  dem 
Laien  verboten. 

Nun  soll  die  Frau  für  die  Nichtbeachtung  dieser  Challah -Verordnung 
verantwortlich  sein,  wo  doch  dieses  Gebot  eigentlich  den  Mann  betrifft? 
Mit  nichten!  Die  Barches,  im  Hebräischen  Challah,  nunmehr  mit  dem 
lechem  mischne  verschmolzen,  sind  ein  der  Göttin  der  Fruchtbarkeit  dar- 
gebrachtes Frauenopfer  auf  Grund  des  Grundsatzes:  in  sacris  simulata  pro 
veris  accipi  und  mögen  mit  dem  althebräischen  Teräfim-Kult  verbunden 
sein^). 

Die  Frau  war  dem  Geburtsdämon  etwas  schuldig;  sie  schnitt  sich 
vor  der  Trauung  die  Zöpfe  ab,  um  sich  in  der  schweren  Stunde  seine 
Gnade  zu  sichern.  Wir  finden  diese  Sitte  besonders  im  Kulte  der  Dea 
Syriaca  und  des  Adonis,  wie  Höfler  (Archiv  für  Anthropologie  a.  a.  0.) 
ausführt:  „Beim  syrischen  Adonisfeste  mussten  die  Weiber  entweder 
ihre  Haare  abschneiden,  oder  den  Fremden  sich  preisgeben";  —  das 
unbezopfte  „unter  die  Haube  gebrachte  Haupt"  war  ein  Zeichen  der 
Keuschheit.  Auch  die  Bibel  kennt  ein  Opfer  der  Kindbetterin,  aber  erst 
nach  der  Entbindung  (Leviticus  12).  Dass  es  ein  Sühneopfer  gewesen 
ist,  erhärtet  der  Ausdruck:  vechipper  olehü  ha-köhen  („und  es  entsühne 
sie  der  Priester"  oder  wie  Nachmani  die  Stelle  erläutert:  er  bringe  das 
Sühnegeld  ihrer  Seele  .  .  .  denn  Gott  heilt  den  Körper  und  bewirkt 
Wunder). 

Der  beleidigte  Dämon  konnte  nicht  bloss  das  Leben  der  Wöchnerin, 
sondern  auch  das  der  Kinder  gefährden.  Die  Jüdin  war  gewohnt,  seit 
Jahrhunderten  sich  das  Haar  abschneiden  zu  lassen;  sie  folgte  jedoch 
nicht    dem  Beispiele,    welches    die  Griechin    ihr    gegeben    hatte,    die  sich 


1)  Das  Wort  „challah"  betrachte  ich  als  Apposition  vou  „ariszothechem" :  „und  es  sei, 
so  ihr  esset  von  der  Frucht  des  Bodens,  hebet  ab  eine  Abgabe  für  Jahve.  Das  erste 
Stück  von  eurem  Challahteige  hebet  ab  .  .  .  (Numeri  15,  19).  Ich  verstehe  unter  challah 
Kuchen,  wie  z.  B.  Lev.  24,  5  usw.  denn  1.  war  diese  Abgabe  Pflicht  des  Mannes;  die 
Frau  konnte  sie  nur  mit  seiner  Einwilligung  bringen.  (Schulchan  ärüch,  Jöre  dea 
§  328  1  u.  2.)  —  2.  Ist  dieser  Ritus  heute  nicht  wichtig;  selbst  Bedienstete  können  ihn 
besorgen  (Mose  Isseries  zweite  Note  zu  §  328,  3),  und  3.  gilt  das  Gebot  der  Challah-Abgabe 
nur  für  Palästina.     (Schulchan  ärüch,  Jöre  dea  §  322,  2.  und  3.) 

2)  S.  Rubin,  Kabbala  und  Agada  in  mythologischer,  symbolischer  und  mystischer 
Personifikation  in  der  Natur  (Wien  1895)  S.  32f. 


Das  Zopfgebäck  im  jüdischen  Eitus.  271 

die  Zöpfe  vor  jeder  Entbindung  hat  neuerdings  abschneiden  lassen 
(Höfler  a.  a.  0.  S.  141).  Sie  übernahm  freudig  den  Opferkult  ihrer 
germanischen  Leidensgefährtin;  die  Challah  verlor  ihre  einfache  Brot- 
form, und  es  wurde  aus  ihr  das  Zopfgebäck  sowohl  für  Sabbat-  und 
Festtage,  als  auch  —  was  weit  wichtiger  ist  —  bei  Hochzeiten,  Circunicisions- 
Feiern  und  bei  dem  Lösefest  der  Erstgeborenen. 

Die  Mutter  bringt  jeden  Freitagabend  —  der  Freitag  ist  Venus  ge- 
weiht —  und  an  den  mit  dem  Familienleben  verbundenen,  zumal  das 
Kind  betrejffenden  Festmählern  ihr  Opfer  dar,  bäckt  das  Zopfgebäck,  von 
dem  sie  eine  Abgabe  ins  Feuer  geworfen  hat.  Die  Opferfreudigkeit  der 
Mutter  soll  Anerkennung  finden:  Von  den  sonst  so  verschlossenen  Re- 
dakteuren und  Glossatoren  der  jüdischen  Ritualcodices  wird  ein  ganz  un- 
gewohnter Ton  angeschlagen.  Dort,  wo  wir  es  am  wenigsten  erwarteten, 
zu  den  Paragraphen  über  das  Anschneiden  des  Brotpaares  (Schulchan- 
arüch:  Orach-chajim  §  274)  bemerkt  Abraham  Gumbinner:  „Es  schickt 
sich,  der  Mutter  am  Freitagabend  die  Hand  zu  küssen". 

Die  Jüdin  von  heute  ahnt  kaum,  warum  sie  'Barches'  bäckt  und 
weshalb  sie  diese  bis  nach  der  Einsegnung  des  Sabbats  (Kiddusch)  ver- 
hüllt. Eben  derselbe  Abraham  Gumbinner  bemerkt  zu  Orach-chajim 
§  180:  „Das  Brot  muss  während  des  Kiddusch  verhüllt  werden,  damit 
es  sich  nicht  schäme".  Was  ist  dies  anderes,  als  die  Personifizierung 
des  Gebildbrotes?  Wie  man  das  kurzgeschnittene  Haar  der  keusch- 
frommen Grossmutter  nicht  sehen  durfte,  so  verhüllten  auch  ihre 
'lichtigen  barchesl'  ihre  Zöpfe. 

Im  Alltagsleben  verliert  ja  selbst  das  Heiligste  die  Weihe;  was  die 
Opfernde  selbst,  weil's  ihr  zur  Gewohnheit  wurde,  unbewusst  verrichtet, 
das  fühlte  noch  der  Poet,  der  lange  in  der  Provinz  unter  dem  Volke 
gelebt  hat: 

Frau  Judiths  Rabenhaare  sind  Gold  und  Güter  wert, 

Still  weinend  mit  den  Händen  sie  durch  die  Flechten  fährt, 

Dann  greift  sie  nach  der  Scheere,  ein  rascher,  scharfer  Schnitt  — 

„Sie  priesen  meine  Locken  —  sieh  hier,  ich  schnitt  sie  ab,  . ,  ,  . 
0  künde  mir,  du  Frommer,  du  Mann  mit  Seherblick: 
Wächst  nie  heran  ein  Kind  mir  als  höchstes  Mutterglück?'' 

Josef  Kiss,  Judith  Simon^). 
Budapest. 


1)  Josef  Kiss    (^sprich:    Kisch),  —  Aus    dem   Ungarischen    übersetzt    von    Ladislaus 
Neugebauer  in  Maximilian  Berns  Deklamatorium  (Reclam,  Leipzig)  S.  219, 


272  Schoof: 


Beiträge  zur  volkstümliclien  Namenkunde. 

Von  Wilhelm  Schoof. 


1.   Hungerberg,  Houigberg  und  ähnliches. 

In  der  Gemarkung  Schweinheim  (Unterfranken)  sprudelt  an  einem 
Hügel  unterhalb  eines  Heiligenbildes  ein  Brünnlein  hervor,  dessen  Quelle 
sich  lange  Jahre  nicht  mehr  gezeigt  hat  und  daher  im  Yolksmunde  das 
Hungerbrünnchen  genannt  wird.  Eine  halbe  Stunde  mainaufwärts, 
oberhalb  Obernau,  befindet  sich  ein  trockener  Graben,  welcher  der 
Hungergraben  genannt  wird.  Wenn  aus  dem  Gebüsch  des  Grabens  eine 
Quelle  hervorbricht,  so  deutet  das  nach  einem  alten  Volksglauben  auf  ein 
Hungerjahr.'  Im  Jahre  1816  ist  die  Quelle  zum  letztenmal  geflossen.  Da 
kostete  das  Laib  Brot  einen  Gulden^). 

Ähnliches  berichtet  Birlinger,  Volkstümliches  aus  Schwaben  (Frei- 
burg 1861)  1,  141  ff.,  249  u.  ö.  über  etwa  20  Hungerbrunnen  in  Schwaben^). 
So  bricht  der  Hungerbrunnen  zwischen  Altheim  und  Heldenfingen  nur  bei 
anhaltendem  Regenwetter  oder  nach  nassen,  milden  Wintern  hervor.  Sein 
Erscheinen  gilt  als  ein  günstiges  Zeichen  für  die  Fruchtbarkeit  des  Landes. 
Der  Huugerbrunnen  bei  Friediugen  befindet  sich  auf  der  Gemarkungs- 
grenze gegen  Upflamör  am  Fusse  eines  Berges  unter  einer  Eiche  und 
steht  als  Verkündiger  von  Teuerung  und  Hungersnot  bei  den  Anwohnern 
in  grossem  Ansehen.  Solche  Sagen  finden  sich  in  allen  Gegenden 
Deutschlands  verbreitet.  Als  Beispiel  für  Hessen  mag  das  Hungertal  im 
Burgwald  dienen,  eine  nordöstlich  vom  Christenberg  gelegene,  sich  nach 
Münchhausen  zu  erstreckende  Bergschlucht.  Dieses  Tal  bringt  die  Volks- 
sage mit  der  Eroberung  der  alten  heidnischen  Kesterburg  (dem  heutigen 
Christenberg)  in  Verbindung,  weil  hier  während  der  Belagerung  eine  be- 
drängte Christenschar  verhungert  sei.  In  der  Neuzeit  wird  das  Hungertal 
mit  den  Notzuständen  im  Dreissigjährigen  oder  im  Siebenjährigen  Krieg 
in  Beziehung  gebracht,  als  die  Bewohner  der  umliegenden  Ortschaften  in 
dieses  Tal  geflüchtet  und  dort  verhungert  seien'). 


1)  Der  Sagenschatz  des  Bayerulandes,  1.  Unterfranken  (Würzburg  1877)  S.  55.  — 
2)  Vgl.  auch  Grimm,  Myth.»  1,  557;  Sagen  nr.  105;  Runge,  Quellkult  S.  10;  Schambach- 
MüUer,  Niedersächs.  Sagen  S.  59  u.  a.  m.  —  3)  Kolbe,  Der  Christenberg  im  Burgwald 
(Marburg  1895)  S.  23. 


Beiträge  zur  volkstümlichen  Namenkunde.  273 

Da,  wie  man  sieht,  die  letzten  Bedrängnisse  und  geschichtlichen 
Ereignisse  die  früheren  im  Gedächtnis  zurückdrängen,  so  wurde  der 
Name  einem  neueren  Ereignis  zuliebe  oft  abermals  umgedeutet,  auf 
das  der  lautliche  Gleichklang  hindeutete.  So  wird  der  Hungerberg  bei 
Münsingen  auch  Hunnenberg  genannt,  weil  auf  ihm  einst  Attila  gelagert 
haben  solP).  Vgl.  hierzu  Schade,  Altdeutsches  Wörterbuch  1,  429: 
^Heune,  Hunne,  auch  Unger;  Hunnenlant,  auch  Ungerlant'. 

Es  ist  nun  interessant  zu  sehen,  wie  die  zugrunde  liegenden  laut- 
lichen Bestandteile  dieser  sehr  zahlreichen  Flurnamen  von  der  sagenhaften 
ümdeutung  des  Volkes  so  überwuchert  worden  sind,  dass  vielfach  selbst  die 
Sprachgelehrten  sich  mit  der  nächstliegenden  volksetymologischen  Deutung 
zufrieden  gaben,  ohne  irgendwie  auf  den  Ursprung  des  Wortes  ein- 
zugehen. 

So  sagt  Müller^)  bei  der  Erklärung  des  Namens  Hungerborn: 
^,Hungerborne  sind  Quellen,  die  vermöge  einer  Eigentümlichkeit  ihres 
Grundwasserstandes  in  sehr  trocknen  (Hunger-)Jahren  stärker  als  ge- 
wöhnlich fliessen*^.  Eine  ähnliche  Erklärung  geben  Miedel^):  „Hunger 
von  Orten,  die  bei  der  Dürre  austrocknen:  Hungerau,  Hungerbach, 
Hungerberg,  Hungerbrunnen",  Wieris*):  „Hungerborn,  Bezeichnung  für 
eine  Quelle,  die  im  Sommer  versiegt"  und  Beck*):  „der  Hungerberg, 
jedenfalls  wegen  des  unfruchtbaren  Bodens;  schliesslich  mag  auch  an 
Hungen,  d.  i.  abgestandene  Bäume  gedacht  werden".  Bück")  kommt 
des  Rätsels  Lösung  näher,  wenn  er  die  „zahllosen  Hungerbrunnen  und 
Hungerbäche"  als  solche  deutet,  die  nur  in  Hungerjahren  (nassen  Jahr- 
gängen) fliessen,  und  wenn  er  vermutet,  dass  manche  wohl  auch  umge- 
deutet sind  und  früher  anders  lauteten.  Noch  näher  rückt  er  der  Wahr- 
iheit,  wenn  er  weiter  sagt:  „Hunger  —  in  vielen  Flurnamen;  von  einer 
alten  Gepflogenheit  der  Hirten,  das  Vieh  zu  gewissen  Zeiten  in  einen 
umzäunten  Ort  zusammenzutreiben,  den  man  Stelli  oder  Hungerplatz 
hiess.  Angeblich  so,  weil  das  Vieh  hier  nichts  zu  fressen  bekam. 
So  müssen  die  vielen  Hungerbühle,  Hungerbäume  usw.  verstanden  werden. 
So  verstehen  es  die  Hirten  in  Oberschwaben  jetzt  noch.  Dazu  stimmt 
auch,    dass  die  Hungerberge  häufig    bei  den  alten  Weidegründen  liegen". 

Diese  Darstellung  Bucks  ist  zweifellos  richtig  bis  auf  die  sprachliche 
Deutung.  Er  übersieht,  dass  bei  dem  Wort  Hunger  eine  Volksetymologie 
mit  hineinspielt,  nachdem  die  ursprüngliche  Bedeutung  des  Wortes  dem 
Volksbewusstsein  frühzeitig  verloren  gegangen    war.      Erschwert  wird  die 


1)  Birlinger  a.  a.  0.  1,  249.  —  2)  Die  Ortsnamen  im  Regierungsbezirk  Trier.  Jahres- 
bericht der  Gesellsch.  für  nützl.  Forsch.  2,  50.  —  3)  Oberschwcäbische  Orts-  und  Flur- 
namen (Memmingen,  190G)  S.  14.  —  4)  Die  Flurnamen  des  Herzogtums  Braunschweig 
(Braunschweig  1910)  1,  38.  —  5)  Die  Ortsnamen  des  Pegnitztales  und  des  Gräfenberg- 
Erlanger  Landes  (Nürnberg  1909)  S.99.  —  6)  Oberdeutsches  Flurnamenbuch  i  Stuttgart 
1880)  S.  119. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1014.   Heft  3.  18 


274  Schoof: 

Aufdeckung  des  alten  Sinnes  durch  die  Tatsache,  dass  der  lautliche 
Gleichklang  des  angedeuteten  Wortes  zufällig  demselben  Vorstellungs- 
kreis   angehört,    aus    welchem  das  alte  Wort  hervorgegangen  ist. 

Dieses  Wort  ist  ahd.  untarön^),  mhd.  undern,  altsächs.  undorn,  das 
in  Bayern,  Franken,  am  Rhein,  im  Westerwald,  in  Friesland  und  den 
Niederlanden,  ferner  in  Oberhessen,  im  nördlichen  Teil  der  Grafschaft 
Ziegenhain,  in  der  Gegend  der  untern  Schwalm  und  Eder  bis  über 
Gudensberg  hinaus  an  die  Grenze  der  niederdeutschen  Bezirke  noch  vor- 
kommt. Es  wird  meistens  von  dem  Ruhen  und  der  Ruhestätte  des 
Schäfers  und  der  Schafe,  seltener  noch  von  dem  Ruhen  des  Kuh-  und 
Schweinehirten  gebraucht^).  Im  übertragenen  Sinn  bezeichnet  es  dann 
auch  die  Zeit^),  vornehmlich  von  11—4  Uhr,  d.  h.  die  Zeit  zwischen 
Mittag-  und  Vesperbrot,  während  welcher  Hirte  und  Herdenvieh  der 
Mittagsruhe  pflegt,  auf  der  sogenannten  Unnerstatt*),  Ungerstatt  oder 
Hungerstatt  oder  dem  Hungerplatz,  der  meist  im  Freien  unter  uralten, 
schattigen  Bäumen  (den  Hungerbäumen  oder  Honigbäumen)  sich  befindet, 
aber  auch  eingezäunt  sein  kann.  Endlich  bezeichnet  der  substantivische 
Infinitiv  auch  den  Dünger  oder  den  Mist,  den  das  Vieh  (vornehmlich 
Schafe)  zur  Zeit  seiner  Mittagsruhe  auf  dem  Hungerplatz  zurücklässt 
(im  Gegensatz  zum  Perrich,  dem  bei  der  Nachtruhe  zurückbleibenden 
Mist).  Da  in  der  rheinfränkischen  Mundart  nd  vielfach  in  ng,  aber  auch 
infolge  von  Assimilation  in  nn  übergeht,  so  finden  sich  in  der  hessischen 
Mundart  Bildungen  wie  unnern,  ünnern,  onnern  neben  ungern  und  ongern, 
in  der  Hersfelder  bis  zur  Fuldaer  Gegend  unter  abermaliger  Angleichung 
des  r  an  das  n  auch  Bildungen  wie  onnen  (vgl.  hersfeldisch:  da  onnen 
=  um  4  Uhr)  und  unnen.  Als  dann  bei  zunehmendem  Ackerbau  und 
der  festen  Besiedelung  der  Gegend  die  Erinnerung  an  die  alte  ger- 
manische Weidewirtschaft  in  ihren  Einzelheiten  dem  Volksbewusstsein 
mehr  und  mehr  entschwand,  versuchte  man,  dem  alten  unverstandenen 
Namen  einen  neuen  Inhalt  zu  geben,  ihn  sinnvoll  wieder  zu  beleben, 
und  so  wurde  unter  Mithilfe  der  Volksetymologie  aus  einer  Ungerstatt 
eine  Hungerstatt,  aus  einem  Unner-  oder  Unnergrund  ein  Hinnergrund, 
hochdeutsch  Hühnergrund,   ja  vielfach    sogar    durch  Missverständnis   oder 


1)  Schade,  Altd.  Wb.  2,  1052.  Die  Behauptung  Schades,  dass  das  Wort  im  eigent- 
lichen Hessen  nicht  vorkommt,  ist  nicht  richtig.  Vgl.  ferner  Hess.  Bl.  f.  Volksk.  11,  112; 
Vilmar,  Idiot.  S.  423;  Pfister,  Nachtr.  S.  307f.;  Crecelius,  Oberhess.  Wb.  S.  842;  Kehrein, 
Volksspr,  u.  Volkssitte  in  Nassau  S.  417;  Schmidt,  Westerw.  Idiot.  S.  128;  Schmeller, 
Bajr.  Wb.  1,  87  u.  a.  m.  —  2)  So  findet  sich  1574  aus  der  Wetterau  bezeugt;  'dass  sie 
daselbst  auf  dem  Rein  undt  Anwendt  geundert  und  ir  Kesebrot  gessen'  (Landau, 
Einige  sprachliche  Beiträge,  Ztschr.  f.  hess.  Gesch.  6,  215).  —  3)  Daher  noch  vielfach 
Idiotismen  wie  Unnerskirch  (Nachmittagsgottesdienst),  Unnernbrod  (Vieruhrbrod),  Unnem- 
trunk  (Bier,  welches  dem  Personal  nachmittags  zum  Vesperbrot  gereicht  wird)  u.  ä.  Vgl. 
Vilmar  a.  a.  0.  S.  423.  —  4)  So  findet  sich  im  Kellerwald  eine  Oberurfer  und  eine  Dens- 
berger  Unnerstatt  (Vilmar  a.  a.  0.  S.  423),  bei  Langenschwalbach  eine  Gemarkung  öwwe 
der  unner  (Crecelius  a.  a.  0.  S.  842),  bei  Obergrenzebach  eine  Ungerstatt  usw. 


Beiträge  zur  volkstümlichen  Namenkunde.  275 

bewusste  Verdrehung  von  Katasterlandmessern  Hintergrund,  wobei  die 
Komposition  Hinner    als    mundartliche  Form  für  hinter,  aufgefasst  wurde. 

Wie  weit  hier  die  volkstümliche  und  amtliche  Umdeutung  manchmal 
geht,  dafür  einige  Beispiele.  Ganz  einsam  an  der  alten  Heeresstrasse 
von  Mainz  nach  Limburg  an  der  Lahn  steht  an  der  Nordseite  der 
Libbacher  Haide  die  Hüner-  oder  Hünenkirche,  in  deren  Nähe  der 
Hüner-  oder  Hunenberg  ist.  1525  wird  sie  die  Kirche  unserer  lieben 
Frauen  zum  Honerberg,  später  die  Hühnerkirche  am  Hühnerberg  genannt^), 
während  das  Volk  dafür  richtig  Hoinjerberg,  Hoinjerkirche  spricht.  Da 
die  westerwäldische  Volkssprache  statt  hühner  hoiner  gebraucht,  glaubten  die 
Landmesser  eine  hochdeutsche  Übersetzung  zu  geben,  indem  sie  die 
Namen  als  Hühnerberg  oder  Hühnerkirche  auf  die  Karten  übertrugen. 
In  der  Gemarkung  Sandlofs,  Grafschaft  Schlitz,  befindet  sich  ein  Flur- 
name, der  im  Volksmund  Hengerspitz,  in  den  Katastern  Hühnerspitz 
lautet^).  Obwohl  mir  urkundliche  Belege  nicht  zur  Hand  sind,  steckt 
darin,  wie  es  den  Anschein  hat,  eine  ältere  Form  Unner-  bzw.  Hunger- 
spitz'), d.  h.  Äcker  in  einer  Landspitze  oder  auf  einem  spitz  zulaufenden 
Berge,  auf  welchem  sich  ehemals  die  Gemeindehute  befand,  wo  das 
Herdenvieh  seine  Unnerstatt  hatte.  Es  liegt  hier  volkstümliche  und 
amtliche  Umdeutung  vor,  indem  das  Volk  mit  Hungerspitz  nichts  an- 
fangen konnte  und  daraus  Hengerspitz,  d.  i.  Hinterspitze  machte,  weil 
die  Acker  zufällig  hinter  dem  Kirchhof  lagen,  und  indem  der  Land- 
messer wiederum  Henger  als  mundartliche  Wiedergabe  für  neuhochd. 
'Hühner'  auffasste.  So  wurde  hier  eine  Zufälligkeit,  nämlich  die  ört- 
liche Lage  der  Flur,  als  Einschlag  benutzt  und  damit  der  Name  in  einen 
ganz  anderen  Vorstellungskreis  hineingebracht,  auf  den  vielleicht  der 
lautliche  Gleichklang  (huuger  und  henger)  nicht  ohne  Einfluss  war. 

Der  lautliche  Gleichklang  gewisser  Worte  spielt  bei  der  Umdeutung 
überhaupt  eine  nicht  geringe  Rolle.  Hungk  bedeutet  in  der  hessischen 
Mundart  so"*iel  wie  Honig.  Ein  Acker,  auf  dem  früher  vor  der  Urbar- 
machung das  Gemeindevieh  'unnerte'  oder  'ungerte',  d.  h.  Mittagsrast 
hielt,  heisst  in  der  Gemarkung  Bernshausen,  Grafschaft  Schlitz*),  im 
Volksmund  Hunkaker,  im  Messbuch  von  1584  aber  Honigacker.  Hunk- 
acker  aber  lautet,  wo  nd  nicht  zu  ng  wird,  Hundacker®),  Hunenacker, 
Hünenacker,  Hüneracker  u.  ä.  m.  Wie  aus  dem  Schindberg  der  Ur- 
kunden, dem  Schengbärk  der  Mundart  ein  'Schönberg',  so  wurde  hieraus 
ein  'Honigacker'.  So  erklären  sich  zahlreiche  Flurnamen  in  Hessen 
sowohl  wie  in  Nassau,  z.  B.  Honigberg,  Honigfeld,  Honigbaum  (d.  h.  der 


1)  Kehrein  a.  a.  0.  S.  217  u.  300.  —  2)  Hotz,  Die  Flurnamen  der  Grafschaft  Schlitz 
S.  38.  —  3^  Zu  'spitz'  vgl.  Bück  a.  a.  0.  S.264.  Es  findet  sich  u.  a.  in  dem  Namen  der 
Kirchspitze  bei  Marburg,  1625  zu  der  spitzen  kirchen.  —  4)  Hotz  a.  a.  0.  S.  18.  —  5)  Vgl. 
dazu  meine  Abhandlung  über  den  Namen  'Himdsrück'  in  'Hessenland'  1912  S.  347 ff. ; 
Hess.  Bl.  f.  Volksk.  9,  225 ff.;  Zs.  f.  rhein.-westf.  Volksk.  11,  93 ff. 

18* 


276 


Schoof: 


alte  schattige  Baum,  unter  welchem  das  Gemeindevieh  'unterte'),  Honig- 
born, Honigrück,  Honigstück,  Honigwies,  Honigheck,  Honiggewann  usw., 
welche  nach  dem  Glauben  des  Volkes  (nomen  est  omen!)  sich  durch  be- 
sondere Fruchtbarkeit  auszeichnen.  Es  ist  jedoch  noch  eine  zweite  Er- 
klärung möglich.  Neben  Hungerberg,  Hunenberg  u.  ä.  findet  sich  eine 
volkstümliche  Bildung  Hungerich  1),  Hunich,  Hünich  ^),  aus  älterem  Hunger- 
(ber)ich,  Hun(enber)ich,  Hün(enber)ich  entstanden,  so  dass  Honigwiese  aus 
Hünichwiese  umgedeutet  und  die  Wiese  am  Hungerberg  bedeuten  würde. 

Wie  aus  dem  Undern-  bzw.  Unnernberg  ein  Undersberg  (z.  B.  der 
Undersberg  bei  Salzburg,  der  im  16.  Jahrhundert  noch  Underberg,  auch 
Wunderberg^)  heisst),  Hungerberg,  Hühnerberg  und  Honigberg  werden 
konnte,  so  wurde  aus  älterem  Hungersteinau  (Kr.  Schlüchtern)  Hinter- 
steiuau,  aus  Hungerwiesen,  Hungerberg,  Hungerbach  offiziell  Hinter- 
wiesen, Hinterberg,  Hinterbach  (zwischen  Hainzeil  und  Schletzenhausen), 
aus  Hungerliede  (bei  Niedei'schmalkalden)*)  offiziell  Hinterliede,  aus 
Hungerbuche  (zwischen  Sickels  und  Johannesberg,  Kr.  Fulda)  offiziell 
Hinterbuche  usw.  Ähnlich  auch  Hintergrund  (östlich  von  Licherode) 
und  Hinterberg  im  Lohner  Holz  (südöstlich  davon  jetzt  entsprechend  ein 
Vorderberg). 

Weiter  geht  die  Umgestaltung  von  Hungerberg  zu  Hummelberg,  wie 
Bück  a.  a.  O.  S.  118  bestätigt,  indem  er  sagt:  „Doch  kenne  ich  mehrere 
Hummelberge,  die  früher  anders  hiessen,  einer  z.  B.  1490  Hungerberg". 
So  dürften  vielleicht  auch  die  ebenda  angeführten  Namen  Hummelweide 
aus  Hungerweide,  [in  der]  Hummelsklingen  (klinge  =  Graben,  Schlucht) 
aus  Jlungersklingen  umgedeutet  sein.  Ob  bei  der  Umdeutung  das 
schwäbische  Wort  Hummel,  das  soviel  wie  'Zuchtstier'  bedeutet,  und  die 
Erinnerung  an  ehemalige  Rinderweiden  mitgewirkt  hat,  oder  ob  das  Wort 
Hummel  =  Biene  mit  hiueinspielt  und  damit  nur  ein  weiteres  Glied  in 
der  Kette  der  Entwicklung  von  Hungerberg  und  Honigberg ^)  zu  Hummel- 
berg gegeben  ist,  wie  dies  bei  den  nassauischen  Flurnamen*)  in  der 
Hummel,  Hummelweg,  Hummelwies,  Hummelkeller,  Hommelstruth  der 
Fall  zu  sein  scheint'),  lässt  sich  ohne  urkundliche  Belege  nicht  ohne 
weiteres  entscheiden.  Nur  soviel  steht  fest,  dass  auch  hier  die  Entwick- 
lung noch  nicht  halt  gemacht  hat.  sondern  dass  diese  Namen  zuweilen  eine 
nochmalige  Umdeutung  amtlicherseits  erfahren  haben.  So  findet  sich 
neben  dem  volkstümlichen  Flurnamen  uffr  Hummelslieden  in  der  Ge- 
markung   Schlitz**)    1521    urkundlich    uffr    Homanslieden,    ebenso    neben 

1)  Z.  B.  HuDgrigwolf,  Hunnigstock,  Hunnigwies  (Kehrein  a.  a.  0.  S.  464).  —  2)  Z.  B. 
das  Hiinich  bei  Treischfeld.  -  3)  Vgl.  Grimm,  Myth. »  1,536;  Schmeller,  Bayr.  Wtb.  1,  116. 
—  4)  Dsgl.  am  Nordabhang  des  Hunsrücks  bei  Eschwege.  —  5)  Vgl.  der  Honig  1366, 
Flurname  in  Ulm  (Bück  a.  a.  0.  S.  114)  u.  ä.  —  6)  Kehrein  a.  a.  0.  S.  461/62.  — 
7)  Ähnlich  in  Hessen  in  der  Hummeln  1.551,  Gemarkung  Veckerhagen  (Gieselwerdersches 
Saalbuch  von  1551),  die  Hummelskuppe  bei  Rückers,  Kr.  Hünfeld,  der  Hummelskopf  bei 
Diethershan,  Kr.  Hünfeld  usw.  —  8)  Hot«  a.  a.  O.  S.  5. 


Beiträge  zur  volkstümlichen  Namenkunde.  277 

Humelsgrond  1521  Homansgrundt,  während  ein  Kataster  von  1584  in  der 
Homels  Heyde  aufführt,  dem  die  volkstümliche  Form  in  der  Hummels- 
heide entsprechen  dürfte. 

Zu  den  bewussten  oder  willkürlichen  Umgestaltungen  von  altem 
Sprachgut  zählt  auch  die  vermeintliche  Übertragung  ins  Hoch- 
deutsche. Sie  gehört  in  das  Kapitel  der  offiziellen  oder,  wie 
Wundt*)  sagt,  der  gelehrten  Umdeutuug.  Hierher  gehören  Namen 
wie  Unterfeld,  Unterndorf  (bei  Betziesdorf),  Unternstadt  (bei  Bracht), 
das  Unterfeld  (bei  Niederwalgern),  der  Unterkopf  (bei  Oberwalgern), 
Unternberg  (bei  Winnen),  der  Untergrund  (bei  Gehau),  der 
Unterteich  (bei  Wasenberg),  die  Unterau  (bei  Gungelshausen)  usw. 
Ygl.  Kehrein  a.  a.  0.  3,  586.  So  wird  die  urkundlich  bezeugte  Form  in 
der  Underaw  (1584)  im  Schlitzer  Volksmund  an  den  Begriff  'unter'  an- 
gelehnt und  dementsprechend  zu  Engerau,  in  der  Katastersprache  zu 
'Vorderau'.  Ähnlich  wird  ein  altes  Unterfeld,  d.  h.  ein  Feld,  wo  das 
Gemeindevieh  in  alter  Zeit  zu  'untern'  pflegte,  zu  einem  'Unterfeld'  (im 
Gegensatz  zu  einem  'Oberfeld'),  ja  sogar  zu  einem  'Niederfeld'  (z.  B.  bei 
Hümme).  Vielleicht  dürften  auch  Flurnamen  wie  Ruhborn  (z.  B.  im 
Lohner  Holz),  Ruhbach  (bei  Ebsdorf),  Ruhlaub 2)  (z.  B.  bei  Oberbeisheim), 
Ruhleib  (z.  B.  im  Forst  Elberberg-Ziegenhagen)  und  Ruhstatt  (öfter)  sowie 
Ruhstattsgehege  sich  als  'hochdeutsche'  Verballhornisierungen  entpuppen. 
Ursprünglich  hat  sich  die  Bezeichnung  noch  erhalten  in  'das  alte  Under', 
Wald  bei  Schönbach,  und  im  Untern,  Gemarkung  bei  Ebsdorf,  während 
sie  in  Namen  wie  das  Unterstefeld  (bei  Steina,  Caldern,  Cölbe),  auf  der 
Unterstebach  (bei  Lohra),  das  Unterstebruch  (bei  WoUmar)  superlativische 
und  in  Namen  wie  der  Ungernzeif  (bei  Sachsenhausen,  Kr.  Ziegenhain) 
und  die  Ungerbornswiesen  (bei  Wiera)  dialektische  Färbung  ange- 
nommen hat. 

In  allen  diesen  Fällen  ist  die  ursprüngliche  Bedeutung  dem  Volks- 
bewusstsein  verloren  gegangen.  Altes,  nicht  mehr  verstandenes  Sprachgut 
ist  infolge  von  Lautvermengung  oder  äusserer,  oft  rein  zufälliger  Ein- 
wirkung an  neue  Begriffe,  die  entweder  demselben  oder  einem  ganz 
anderen  Vorstellungskreis  entspringen,  angelehnt  und  umgedeutet  worden, 
teils  unbewusst  (volkstümliche  Auffassung),  teils  bewusst  (gelehrte  Auf- 
fassung). Auf  die  volkstümliche  Umgestaltung  hat  bei  der  schier  uner- 
schöpflichen Phantasie  des  Volkes  auch  die  Sage  einen  nicht  geringen 
Einfluss.  Denn  diese  ist  nach  Regell ^)  nichts  anderes  als  ein  poetischer 
Versuch,    den  abgestorbenen  Namen  sinnvoll  wieder  zu  beleben  und    'nur 


1)  Völkerpsychologie  V,  573  ff.  —  2)  Nach  Vesper,  Der  Kreis  Homberg  (Marburg 
1908)  S.  117,  ein  kronenreicher  Baum,  unter  dem  die  Herden  ausruhten,  oder  eine  baum- 
schattige Trift.  —  3)  Paul  Regell,  Etymologische  Sagen  aus  dem  Riesengebirge 
(Germanist.  Abhandl.  Heft  XII.  Beiträge  zur  Volkskunde,  Festschrift  für  Karl  Weinhold. 
Breslau  1896). 


278  Schoof: 

selten  ist  dabei  die  Dichtung  rein  aus  dem  Namen  herausgesponnen,  viel- 
mehr sind  meist  geschichtliche  Erinnerungen,  die  um  die  Örtlichkeit 
schweben,  als  Einschlag  benutzt'.  So  erklären  sich  sowohl  die  am  Ein- 
gang mitgeteilten  Sagen  über  die  zahllosen  Hungerbrunnen  und 
Hungerbäche,  die  sich  überall  in  ähnlicher  Weise  wiederfinden,  als 
auch  die  sogenannten  Hünen-  oder  Riesensagen  (Hünenburg,  Hünenring, 
Hünstein,  Hünengräber),  zuweilen  mit  Anlehnung  an  geschichtliche  Er- 
innerungen (Hunnenberg,  Hunnenburg  neben  Hungerberg  und  Hunger- 
burg). Vgl.  dazu  oben  S.  273  das  über  den  Hungerberg  bei  Münsingen 
Gesagte.  Die  Entwicklung  von  Hungerberg  zu  Hunnenberg  wurde,  wie 
auch  schon  oben  angedeutet,  durch  die  Auffassung  von  der  Identität  der 
Hunnen  und  Ungarn,  des  Hunnenlands  und  Ungarnlands  begünstigt, 
während  die  Entwicklung  von  Hühnerkirche  zu  Hünenkirche'),  Hühner- 
graben zu  Hünengrab(en),  Hühnerberg  zu  Hünenberg  und  Hunnenberg 
sich  leicht  ergab.  Vgl.  J.  Hoops,  'Hunnen  und  Hünen'  (Germanist.  Ab- 
handlungen, Hermann  Paul  dargebracht,  Strassb.  1902  S.  178  ff.)-  Vielfach 
berühren  sich  auch  die  mit  Hünen  —  Hunnen  —  zusammengesetzten 
Namen  mit  solchen  wie  Hundsbach,  Hundswinkel,  Hundsrück, Hundsburg  u.a. 
So  ist  nach  Kolbe'')  der  Name  der  Hundsburg  im  Burgwald  aus  Hünen- 
burg entstanden,  und  am  Abhang  des  Berges,  auf  dem  die  Burg  stand, 
befinden  sich  noch  heute  Hünengräber.  Nach  einer  Volkssage  hätten 
dort  einst  Riesen  gewohnt,  welche  in  die  Täler  herabgekommen  wären  und 
den  Ackerleuten  die  Pflugscharen  zerbrochen  hätten.  Die  Hünen  oder  Riesen 
aber  sind  nach  der  Volksauffassung  identisch  mit  den  Heiden,  und  so 
spielt  hierein  zugleich  der  Kampf  zwischen  Christentum  und  Heidentum. 
Der  Name  hat  aber  ebensowenig  wie  der  der  Hünenburg  bei  Spangeu- 
berg  (1540  Hueueburg),  Felsberg  und  Melsuugen^)  und  der  Hunnenburg 
bei  Niederbeisheim  und  bei  Rossberg  mit  den  Hünen  oder  Huunen,  wie 
Arnold  und  Kehrein*)  annehmen  möchten,  etwas  zu  tun,  wie  überhaupt 
das  Heranziehen  von  germanischer  Sage  und  Mythologie'*)  zur  Erklärung 
von  Orts-  und  Flurnamen  nach  dem  heutigen  Stand  der  Namenforschung 
als  ein  methodischer  Fehlgriff  angesehen  werden  muss,  der  nur  irreführt 
und  niemals  zu  dem  innersten  Kern  der  ursprünglichen  Namensform  hin- 
zuleiten imstande  ist.  Ich  habe  mich  dazu  an  anderer  Stelle  bereits 
geäussert')  und  hoffe  darauf  in  anderm  Zusammenhang  noch  näher  ein- 
zugehen. 

Wenn  wir  das  Gesagte  noch  einmal  zusammenfassen,  so  ergeben  sieh 
an  der  Hand  der  gesammelten  Belege^)  folgende  Schichten: 


1)  Kehrein  a.  a.  0.  S.  300.  —  2)  Der  Christenberg  im  Burgwald  ^Marburg  1895)  S.  17. 

—  3)  Arnold,  Ansiedlungen  und  Wanderungen  S.  477.  —  4)  A.  a.  0.  S.  297,  300,  464  u.  ö. 

—  5)  Vgl.  dazu  Kehrein  a.  a.  0.  S.  298.  —  6;  Ztsch.  für  den  deutschen  Unterricht  1912, 
S.  904  ff.  —  7)  Nach  der  kurhessischen  Generalstabskarte  in  40  Blättern  1 :  50000  (hrsg. 
vom  Bureau  des  kurf.  hess.  Generalstabes  1840-1855)    und    nach    einer  handschriftlichen 


Beiträge  zur  volkstümlichen  Namenkunde.  279 

1.  Die  ursprüngliche  Namensform  ist,  zuweilen  in  dialektischer 
Färbung,  erhalten  geblieben.  Beispiele:  Unerhecke  (nö.  von  Welkers, 
Kr.  Fulda),    Undernstatt  (bei  Oberurf   und  bei  Densberg  im  Kellerwald). 

2.  Die  ursprüngliche  Namensform  ist  lautlich  und  begrifflich  an  neu- 
hochdeutsch 'unter'  angelehnt:  Understätte  (bei  Dagobertshausen,  Kr.  Mel- 
sungen,  nahe  an  der  Beise),  Unterfeld,  in  der  Nähe  ein  Mittelfeld  (zwischen 
Dagobertshausen  und  Malsfeld),  desgl.  zwischen  Friedlos  und  Reilos, 
Kr.  Hersfeld,  südlich  von  Fritzlar,  nördlich  von  Wanfried,  bei  Gittersdorf, 
Kr.  Hersfeld  (dicht  dabei  ein  Weinberg,  d.  h.  Weideberg),  bei  Holzhausen 
(Reinhardswald),  das  untere  Feld  bei  Edelzell  (in  der  Nähe  ein  Mittel- 
feld), Unterau  bei  Heinebach  (Kr.  Rotenburg)  und  Dankmarshausen  (dicht 
dabei  ein  Weinberg)^),  nördlicher  Teil  der  Au,  während  der  südliche  jetzt 
Oberau  heisst,  Unterberg  und  Uuterbeerberg,  nördlich  von  Brotterode. 
Beweis  für  die  Augleichung  an  'unter'  bilden  Dialektübertragungen  wie 
Engerau  u.  a. 

3.  Es  findet  willkürliche  Übertragung  in  den  synonymen  Wortschatz 
von  nhd.  'unter'  statt:  Niederfeld  (bei  Hümme),  Vorderau  (Grafschaft 
Schlitz). 

4.  Es  findet  sinngemässe  Übersetzung  des  ursprünglichen  Ausdrucks 
in  den  entsprechenden  neuhochdeutschen  Ausdruck  statt:  Ruhestatt,  Ruhe- 
born, Ruhlaub,  Ruhleib. 

5.  Es  findet  Neu  Schöpfung  statt  infolge  von  Wortvermengung  und 
Ideenassoziation: 

a)  Underberg  :>  Wunderberg  ^)  (bei  Salzburg), 

b)  mundartlich  Ungerberg  >  Hungerberg  ("z.  B.  bei  Niederaula,  bei 
Wabern  und  öfters  im  Kreis  Hünfeld),  vgl.  auch  die  Hungerburg  über 
Innsbruck,  analog  Hungertal  (z.  B.  bei  Todenhausen  und  bei  Müuchhausen, 
Kr.  Marburg),  Hungergraben  (z.  B.  bei  Halsdorf,  Kr.  Kirchhain),  Hunger- 
born und  Hungersborn  (bei  Sieleu,  Kr.  Hofgeismar,  bei  Ehlen,  Kr.  Wolf- 
hagen ^),  bei  Frankershausen  am  Meissner),  Hungerbach  (bei  Sielen, 
Kr.  Hofgeismar),  Hungerstück  (bei  Unterstoppel,  Kr.  Hünfeld),  Hunger- 
rain und  Hungerhecke  (bei  Grossentaft,  Kr.  Hünfeld),  vielleicht  auch 
Hungershausen  <:  Hungershusen  1275  (Wüstung  bei  Kleinalmerode,  vgl. 
am  Hungershäuser  Berg)  und  mhd.  hungebluome,  das  Kehrein  a.  a.  O. 
S.  464  nicht  erklären  kann. 

c)  mundartlich  Ungerburg  >  Ungarburg  und,  infolge  der  vermeint- 
lichen Identität  von  Unsjarland  und  Hunnenland,  >  Hunnenburg,   Hunen- 


Sammlung:  Flur-  und  Waldnamen  der  Kreise  Frankenberg-,  Kirchhain,  lAIarburg,  Ziegen- 
hain, gesammelt  durch  die  Ortsvorsteher  auf  Veranlassung  von  Edgar  Mühlhause  etwa 
1861/62  (Marburger  Staatsarchiv).  —  1)  Vgl.  hierzu  die  Bemerkung  Bucks  a.  a.  0.  S.  119, 
wonach  die  Hungerberge  häufig  bei  den  alten  Weidegründen  liegen.  —  2)  Vgl.  dazu  die 
analogen  Umbildungen  Venusberg  <  Weinberg  d.  h.  Weidenberg,  z.  B.  am  Altvater,  der 
mehrere  'Weinberge'  hat,  Simonsberg  <  Senneberg,  hohe  Sonne  <  hohe  Senne  usw.; 
unten  S,  281  f.  —  3)  Gegenüber  auf  der  Südseite  des  Sommerbergs  ein  Silberborn. 


280  Schoof: 

bürg,  Hünenburg,  z.  B.  Hunnenburg  und  Hunnenburgsfeld  mit  altem 
römischen  Kastell  bei  Butzbach,  Hunnenburg,  Wiesen  bei  Mardorf  (Kreis 
Kirchhain),  Huneburg  bei  Wasungen,  Hunnentriesch  (zwischen  Körnbach 
und  Leimbach,  Kr.  Hünfeld),  Hünenburg  (zwischen  Eiterhagen  und  Röhren- 
furth,  Kr,  Melsungen),  Hünenstein  mit  Honiggraben  (bei  Obermelsungen), 
Hünstein  mit  Hünhof  und  Hüntränke  bei  Gladenbach^),  ferner  zwischen 
Frankenau  und  Löhlbach,  Hünberg  mit  Hünborn,  Hünstrasse  und  Hünich 
zwischen  Grossen taft  und  Soisdorf,  Kr.  Hünfeld  usw. 

d)  Hunnenbach  >  Hundebach,  indem  'Hunde'  als  vermeintliche  hoch- 
deutsche Übersetzung  von  Hunne  angesehen  wurde,  z.  B.  Hundebach  in 
der  Bunstruth,  Hundekoppe,  "Wiese  bei  Löhlbach,  Kr.  Frankenberg, 
Hundewiesen,  am  rechten  Ufer  der  Fulda,  Connefeld  gegenüber,  Hunde- 
berg bei  Oberrosphe,  Kr.  Marburg,  Hundsbrunnen  nw.  von  Kissingen, 
auf  dem  Hundsbusch  bei  Grossseelheim,  Kr.  Kirchhain,  Hundsbrücke, 
Waldort  am  Heiligenberg,  Hundsberg  bei  Burghasungen,  Hundsfeld  bei 
Hammelburg  usw.  Es  findet  hier  Berührung  mit  den  aus  hunt  'Hundschaft, 
Unterabteilung  eines  Gaues'  gebildeten  Namen  statt. 

e)  Hünenberg,  Hünenburg  >  Hühnerberg  und  Hühnerburg,  wahr- 
scheinlich infolge  willkürlicher  Umdeutung,  vielleicht  auch  mit  begriff- 
licher Nebenassoziation  infolge  volkstümlicher  und  amtlicher  Umdeutung 
zugleich,  wofür  die  grosse  Zahl  von  Belegen  spricht.  Beispiele:  Hühner- 
berg (südlich  von  Mecklar,  im  Habichtswald,  bei  Sontra,  bei  Hergers- 
hausen, zwischen  Rothenkirchen  und  Burghaun,  zwischen  Laudefeld  und 
Metzebach,  bei  Melnau),  Hühnerkopf^)  (zwischen  Hausen  und  Ersrode, 
Kr.  Rotenburg,  im  Forst  Wildeck,  zwischen  Langenbieber  und  Dipperz, 
zwischen  Ronshausen  und  Machtlos,  Kr.  Rotenburg),  Hünerburg  (westlich 
von  Beuern,  Kr.  Melsungen),  Hühnerküppel  (östlich  von  Fulda),  Hühner- 
feld (östlich  von  Lutterberg,  Kr.  Kassel),  Hühnerbalz ^)  (westlich  von 
Zusehen,  Kr.  Fritzlar,  bei  Frankenau,  Kr.  Frankeuberg  [aufm  Hühnerbalz], 
nördlich  von  Holzheim,  Kr.  Hersfeld),  Hühnerdreck  (bei  Amöneburg), 
die  Hühnerecker  (bei  Röllshausen,  Kr.  Ziegenhain),  Hühnerbachstal  (bei 
Josbach,  Kr.  Kirchhain),  Hühnerhecke  (bei  Frankenau),  Hühner  Hütte*) 
(zwischen  Bottendorf  und  Bringhausen,  Kr.  Frankenberg),  Hühnergrund 
(zwischen  AUmershausen  und  Hof  Hälgans,  Kr.  Hersfeld),  Hühnerkirche  usw. 

f)  Hünberg  >  Huhnberg,  wohl  infolge  willkürlicher  Umbildung. 
Beispiele:  das  Huhnloch  (bei  Sindersfeld),  wobei  loch  im  Sinne  von  lucus 
'Wald'    steht,    der  Huhnscheid    (bei  Ellershausen,    Kr.  Frankenberg),    die 

1)  Vgl.  Bork,  Streifzüge  durch  den  Kreis  Biedenkopf  (Marb.  1884)  S.  49.  —  2)  Auch 
Hühnerkropf  (z.  B.  bei  Thalau).  —  3)  Vgl.  dazu  meine  Abhandlung  über  den  Namen 
Hundsrück  (Hessenland,  1912,  S.  383  u.  384).  Als  Grundbedeutung  des  Flurnamens  Pfalz 
ist  'Pfahlburg,  Pfahlbezirk',  mlat.  palantium  anzunehmen,  nicht,  wie  die  herrschende  An- 
nahme vielfach  ist,  lat.  palatium.  Vgl.  auch  Kluge,  Etjmol.  Wtb.  (Strassb.  1883)  S.  251.  — 
4)  Hütte  hier  wahrscheinlich  umgedeutet  aus  Hute  wie  in  Hüttenbach,  Hüttental,  Hütten- 
grund  u.  a. 


Beiträge  zur  volkstümlichen  Namenkunde,  281 

Huhnsmühle    (ebenda),    der    Huhnspfad    (bei  Frankenau)  usw.     Es   findet 
sich  hier  vielfach  Lautvermengung  mit  germanisch  hün  'hoch'. 

6.  Es  findet  falsche  Dialektübertragung  infolge  von  missverstandener 
Auffassung  des  mundartlichen  Ausdrucks  statt: 

a)  Hühner,  mundartlich  Hiner,  wird  zu  hochdeutsch  Hinter,  wahr- 
scheinlich durch  offizielle  Umgestaltung,  vielfach  auch  infolge  begrifflicher 
Nebenwirkung:  Auch  Hunger,  mundartlich  honger,  hat  durch  Anklang  an 
mundartliches  henger  (=  hinter)  Anteil  an  dieser  Umdeutung,  wie  Hunger- 
steinau  >  Hintersteinau  beweist.  Beispiele:  Hintergrund  (öfter),  Hinter- 
berg ^)  (im  Lohner  Holz  bei  Fritzlar),  Hinterfeld  (bei  Wolf  hagen),  Hinter- 
bach, auch  Hinternbach  (bei  Bauerbach,  Kr.  Marburg,  bei  Lohra), 
Hinderhain  (bei  Bellnhausen,  Kr.  Marburg),  Hinterloh  (bei  Heskem,  Kreis 
Marburg),  Hinterwiese  (bei  Itzenhain,  Kr.  Ziegenhain),  Hinterbergswiese 
(bei  Zella,  Kr.  Ziegenhain),  der  Hintersprung  (bei  Todenhausen,  Kreis 
Marburg),  Hinterliede  (am  Nordabhang  vom  Hunsrück  bei  Eschwege), 
Hinternest  (südlich  von  Steckeishausen),  das  Hiuterscheid  (bei  Roda, 
Kr.  Frankenberg)  usw. 

b)  Mundartliches  Hungk  =  Honig  gibt  Anlass  zu  der  Umdeutung 
von  Hungkacker  in  Honigacker.  Der  Volksglaube  von  der  Fruchtbarkeit 
des  Bodens  im  Gegensatz  zu  dem  höher  gelegenen  Hungeracker  mit  un- 
fruchtbarem Boden  erleichtert  solche  Umbildungen.  Beispiele:  Houigberg 
(bei  Eschwege,  Connefeld,  bei  Wipperode ^),  Kr.  Eschwege),  Honigbreite') 
(im  Solling),  Honigbach  bei  Rosental,  Honigacker  (bei  Burgholz,  Kreis 
Kirchhain,  und  bei  Bürgel,  Kr.  Marburg),  Honigweg*)  (östlich  von  Peters- 
berg, Kr.  Fulda),  Honigholz  (zwischen  Balhorn  und  Sand,  Kr.  Wolfhagen), 
der  Honigbeerengarten  (bei  Alleudorf,  Kr.  Kirchhain),  Honiggrund  (bei 
Rosental),  Honigwiesengrund')  (bei  Einhausen,  Kr.  Marburg)  usw. 

Vgl.  unten  den  Nachtrag  S.  319. 

2.   Weinberg,  Winterberg,  Yenusberg. 

Wie  Arnold  in  seinem  Werke  'Ansiedlungen  und  Wanderungen 
Deutscher  Stämme'  (Marburg  1881)  ausführt,  waren  die  Germauen  beim 
Eintritt  in  die  Geschichte  noch  viel  mehr  ein  Jäger-  und  Hirtenvolk  als 
ein  ackerbautreibender  Stamm.  Bis  der  Ackerbau  vorwiegend  ihre  Lebens- 
beschäftigung wurde,  hat  es  noch  Jahrhunderte  gedauert,  wahrscheinlich 
bis  zu  den  Klöster-  und  Städtegründungen,  die  einen  gesteigerten  Acker- 
bau nicht  bloss  verlangten,  sondern  zugleich  auch  lohnender  und  leichter 


1)  Südlich  davon  ein  Vorderberp,  ähnlich  wie  dem  Hungeracker  ein  Honigacker, 
dem  Winterberg  ein  Sommerberg,  dem  Hungerborn  ein  Silber-  oder  Goldborn,  dem  Höllen- 
grund ein  Himmelreich  gegenüber  zu  liegen  pflegt.  —  2)  Dicht  dabei  eine  Feldflur  der 
Weinberg.  —  3)  Vgl.  dazu  Hungerbreite.  —  4)  Dicht  dabei  Gemarkung  die  Hutvveide.  — 
5)  uff  dem  Honigbaum  (Rachelshäuser  Saalbuch  von  1551). 


282  Schoof: 

gestalteten.  Arnold  nimmt  an,  dass  die  alte  Weidewirtschaft  bis  zum 
Ende  des  5.  Jahrhunderts  fortgedauert  hat:  eine  überwiegend  nomadische 
Viehzucht  mit  ausgedehnten  Weidegründen,  eine  Weidewirtschaft,  bei 
welcher  an  erster  Stelle  die  Schweine,  an  zweiter  die  Pferde,  an  dritter 
die  Rinder  und  Schafe  kamen. 

Dass  die  Weideplätze  —  Bergeshänge  wie  Talgründe  —  in  grosser 
Zahl  und  über  weite  Gebiete  verbreitet  gewesen  sein  müssen,  darauf  lässt 
die  reiche  Synonymik  für  den  Begriff'  'Weide'  und  für  die  damit  in  engem 
Zusammenhang  stehenden  Bezeichnungen  schliessen,  die  uns  ein  Stück 
Kulturgeschichte  erschliesst  und,  teilweise  bis  zur  Unkenntlichkeit  ent- 
stellt, noch  heute  in  den  Flurnamen  fortlebt. 

Als  die  Weidegründe  mit  der  veränderten  Kultur  und  der  fort- 
schreitenden Besiedelung  immer  mehr  beschränkt  wurden  und  dem  Acker- 
bau Platz  machen  mussten,  begannen  damit  auch  die  Namen,  welche  altes 
Weidegut  bezeichneten,  mehr  und  mehr  zu  schwinden  und  den  folgenden, 
in  neuen  Kulturverhältnissen  aufgewachsenen  Generationen  unverständlich 
zu  werden.  Die  Folge  davon  war,  dass  die  Erinnerung  an  die  frühere 
Verwertung  des  Bodens  im  Volke  erlosch,  und  dass  die  N^amen,  welche 
noch  daran  hafteten  als  Zeugen  einer  früheren  Kulturperiode,  dem  Volke 
unverständlich  wurden,  weil  sie  keinen  Sinn  ergaben,  der  zu  der  Nutzung 
des  Bodens  passte.  Daher  fielen  diese  Namen  meist  volksetymologischen 
ümdeutungen  zum  Opfer,  indem  das  unverständlich  gewordene  Wort  infolge 
von  Laut-  und  BegrifPsassoziation  an  ähnliche  Begriffe  und  Worte  ange- 
lehnt wurde,  die  nach  der  volkstümlichen  Auffassung  in  einen  äusseren, 
oft  rein  zufälligen  Zusammenhang  mit  der  Örtlichkeit  gebracht  werden 
konnten.  So  finden  sich  Anlehnungen  des  alten,  der  lebendigen  Volks- 
sprache entfremdeten  Namens  an  die  Tierwelt,  an  mythologische  Gestalten, 
Sagen,  geschichtliche  Legenden,  neuere  Kulturverhältnisse,  Rechtsleben  usw. 
Nicht  selten  ist  ein  Name  mehrfach  umgedeutet  worden  (ältere  und 
neuere  Schicht),  und  zwar  besonders  dann,  wenn  Ereignisse  eintraten, 
welche  die  Volksphantasie  so  stark  beschäftigten,  dass  sie  ihren  Nieder- 
schlag in  Namen  fanden,  die  bisher  ähnlich  klangen  wie  die  aus  dem 
Vorstellungskreis  des  Volkes. 

Es  darf  daher  als  eine  grundlegende  Regel  der  Flurnamenforschung 
angesehen  werden,  dass  Örtlichkeiten,  welche  nach  rein  äusseren,  zu- 
fälligen Merkmalen  benannt  sind,  in  der  Regel  aus  einer  älteren  Namens- 
schicht umgedeutet  worden  sind  und  dass  der  Namenforscher  nicht  ohne 
weiteres  den  Sinn,  den  das  naive  Sprachempfinden  des  Laien  mit  einem 
Namen  verbindet,  als  massgebend  für  die  Deutung  eines  Namens  ansehen 
darf. 

Ein  interessantes  Beispiel  hierfür  bietet  uns  das  ahd.  win,  winne,  got. 
vinja,  pascuum,  Weide,  Weideplatz.  Wir  können  hier  folgende  Schichten 
der  Umdeutung;  wahrnehmen: 


Beiträge  zur  volkstümlichen  Namenkunde.  283 

1.  Die  ursprüngliche  Form  blieb  erhalten, 

2.  Es  trat  Lautvermengunor  mit  ahd.  win  'Wein'  und  ahd.  weida 
'Weideplatz,  Futterplatz'  ein. 

3.  Es  trat  Vermengung  (lautlich  und  begrifflich)  mit  ahd.  wint  'Wind' 
und  ahd.  wintar  'Winter'  ein. 

4.  Es  fand  dialektische  Angleichung  statt  (Wenge,  Wiuge). 

5.  Es  fand  Dialektübertragung  ins  Hochdeutsche  statt  (Wenigen). 

6.  Es  fand  Angleichung  (begrifflich  und  lautlich)  an  ahd.  wentan 
'umwenden,  roden'  statt. 

7.  Es  fand  Angleichung  an  ahd.  swendan  bzw.  firswenden  'ver- 
schwinden machen,  vertilgen,  ausrotten'  (exstirpare)  statt. 

8.  Es  fand  Umdeutung  aus  einem  ganz  andern  Vorstellungskreis  statt: 

a)  unter  dem  Einfluss  von  örtlichen  Nebenumstäuden, 

b)  unter  dem  Einfluss  von  geschichtlichen  Legenden, 

c)  unter  dem  Einfluss  von  Sage  und  Mythologie. 

Die  ursprüngliche  Form  winne  mit  der  sinnverwandten  Form  wunna 
findet  sich  in  Hessen^)  erhalten  in  Namen  wie  die  Winne,  Heide  am 
Wald  bei  Viesebeck  im  Amt  Wolfhagen,  ebenso  Hof  bei  Schmalkalden, 
Winneu,  Dorf  bei  Marburg,  ebenda  die  Winnerhöh,  Winnerod,  Dorf  bei 
Grünberg,  die  Winnewiese  beim  Winnenhof  im  Fuldischen,  fast  ganz  im 
Wald,  die  Winneliete,  abhängiges  Feld  beim  Hof  Winnen  nächst  Herren- 
breitungen,  Winneberg,  Winnebach  usw.;  in  Nassau^):  Winnhöll,  Winn- 
auerberg,  Winning;  in  Thüringen'):  die  Wonne,  Wiesenland  nach  Ohrdruf 
hin,  das  von  der  Wonne,  einem  Zufluss  der  Ohra,  durchflössen  wird,  die 
Wunn,  Wiesen  in  der  Flur  Wechmar  (Amtsgerichtsbezirk  Ohrdruf),  1641 
uf  der  Wonne,  der  Winneweg;  in  Oberdeutschland,  wo  nach  Bück,  Obd. 
Flurnamenbuch  (Stuttg.  1880)  S.  305  wunn  unzähligemal  in  Urkunden 
vorkommt,  ist  Himmelwune  (1250)  Name  eines  Klosters.  Zu  Winne  neben 
Wonne  vgl.  Senne  ('Rinderweide',  mhd.  senidi)  neben  Sonne,  z.  B.  Hohe 
Sonne  (in  Thüringen),  Sonneberg,  Sonneborn,  Sonnenthal  usw.  Auch  das 
Winnefeld  im  Teutoburger  Walde  gehört  hierher. 

Während  die  unveränderte  Form  sich  noch  verhältnismässig  selten 
findet  —  denn  nur  da  erhielt  sich  in  der  Regel  der  Name,  wo  die  Lage  den 
Anbau  entweder  gar  nicht  oder  erst  spät  vorteilhaft  erscheinen  Hess  —  sind 
die  ümdeutungen  äusserst  zahlreich,  besonders,  wenn  wir  noch  die  Fälle 
hinzunehmen,  deren  Aufhellung  zunächst  zweifelhaft  bleiben  muss.  Hierher 
gehören  die  ümdeutungen  von  ahd.  win  zu  win  'Wein',  während  der  kurze 
ahd.  Selbstlauter  sich  als  kurzes  i  hätte  erhalten  müssen  (wie  in  Winne- 
berg). Hier  ist  es,  zumal  in  Gegenden,  die  von  alters  her  durch  den  Wein- 
bau berühmt  gewesen  sind,  nicht  immer  mehr  sicher  zu  ergründen,  welche 


1)  Arnold  a.  a.  0.   S.  539.   —   2)   Kehrein,   Volkssprache   und    Volkssitte  3,  624. 
3)  Gerbing,  Die  Flurnamen  des  Herzogtums  Gotha,  S.  218  u.  250. 


284  Schoof: 

Bedeutung  früher  der  Boden,  der  heute  mit  Weinberg  bezeichnet  wird, 
gehabt  haben  wird.  Denn  auch  in  rauhem  Klima,  das  sich  wenig  zum 
Weinbau  eignete,  ist,  wie  geschichtlich  nachgewiesen  werden  kann,  zu- 
weilen Weinbau  getrieben  worden,  u.  a.  z.  B.  im  Fuldatal  (vgl.  die 
Strassenbezeichnung  am  Weinberg  in  Kassel  und  Hersfeld)  und  im  oberen 
Lahntal  (z.  B.  der  Weinberg  bei  Marburg).  Solche  Namen,  die  ziemlich 
sicher  auf  die  Weidezucht  zurückgehen,  sind  in  Hessen:  der  Weinbusch, 
Heide  auf  der  Höhe  des  Meissner,  nahe  dabei  der  Weinkeller,  das  Wein- 
feld am  Wald  bei  Zimmersrode,  der  Weingraben  am  sog.  Hanrödchen  bei 
Eltmannshausen,  ehedem,  wie  Arnold  annimmt,  sicherlich  Wald  und  Weide, 
ferner  bei  Frohnhausen,  der  Weingarten  bei  Treisbach,  Anzefahr,  die 
Weinäcker  (d.  h.  die  Flächen,  die  früher  als  Weidetrift,  später  als  Äcker 
dienten)  bei  Kirchheim,  Lohra,  Ropperhausen,  die  Weinwiesen  bei  Rosen- 
tal, die  Weineiche  bei  Wollmar,  am  Weinberg,  Feld  bei  Frankenau,  bei 
Niederweimar,  der  Weinsberg  bei  Wollmar,  im  Weinberger  Grund  bei 
Speckswinkel,  der  Weimarberg ^)  bei  Schmalkalden,  der  Weimarkopf  ^)  bei 
Cölbe  im  Lahnwald,  die  Weinerswiesen^)  und  die  Weinergarten ^)  bei 
Rüdigheim,  das  Weinbergsfeld  bei  Haigenhausen,  ferner  bei  Schorbach 
und  bei  Bockendorf,  der  Weingrund  bei  Haarhausen,  ferner  bei  Hof 
Wüstefeld,  die  Weindelle,  Wiesen  im  Wald  unter  dem  Knüll,  gegen 
1400  Fuss  hoch  im  Efzetal,  der  Weingärtner  bei  Wetter  (vielleicht  ent- 
stellt aus  Weingartenberg),  der  Weidemersbodenkopf  bei  Wollmar  (wohl 
aus  Weidenbergsbodenkopf),  der  Weinersgrund,  Feld  und  Wiese  bei  Hof 
Ellingerode  (wohl  aus  Weinbergsgrund  infolge  von  Dissimilation),  ebenso 
das  Weineroth,  Feld  bei  Schwarzenborn  am  Knüll,  die  Weinstrasse  (öfters 
in  Hessen  und  Thüringen),  die  Triebgasse  zur  Weide,  ähnlich  wie  Yieh- 
weg,  Kuhweg,  Rennweg  oder  Rennstieg,  Königsweg^)  u.  a.  m. 

Von  hier  aus  geht  die  Umdeutung  von  win  zu  win  und  Weinberg 
weiter  zu  Weiberberg,  Weberberg  u.  ä.  durch  Assimilation  des  n  an  b 
und  des  g  an  b  und  meist  durch  tautologische  Bildung,  z.  B.  in  Hessen: 
die  Weiberwand,  Wald  bei  Dodenhausen  (Kr.  Frankenberg),  das  Weibers- 
grundfeld  bei  Moischeid,  am  Webersberg  bei  Oberjpssa,  der  Weibern- 
acker bei  Cappel  (Kr.  Marburg);  in  Nassau^):  Weiber,  ma.  Weiwer,  aufm 
Weibern,  Weibrich,  ma.  Weiwerch,  Weiberbirken,  Weibergärten,  Weiber- 
rain, Weiberwies,  Weibersberg,  Weibertswies,  Weibelwies  usw.,  doch  scheint 
bei  den  beiden  letzten  Namen  noch  ein  drittes  Wort  vorausgesetzt  zu 
werden.  Vgl.  den  Flurnamen  Waibel  bei  Caldern  (Kr.  Marburg).  Weiter 
findet    sich    in   Nassau:     Weberseich,    Weberskopf,    Weberswies,  Weber- 


1)  Über  Weimar,  Cyriaxweimar,  Weimartal,  Weimarswiesen  usw.  habe  ich  in  dem 
Ueitrag  zur  Deutung  des  Namens  Marburg  (Hessenland  1914,  S.  102£f.)  gehandelt.  Vgl. 
auch  Arnold  a.  a.  0.  S.  537/38,  dessen  Deutung  jedoch  nicht  mehr  haltbar  ist.  —  2)  Vgl. 
meine  Abhandlung  über  den  Namen  Altkönig  in  Ztsch.  f.  d.  dtsch.  Unterricht  1914,  S.  499ff. 
—  3)  Kehrein  a.  a.  0.  3,  600;  594. 


Beiträge  zur  volkstümlichen  Namenkunde.  285 

heck,  Weberrain.  Es  ist  möglich,  dass  sich  an  solche  Weiberberge  allerlei 
Sagen  von  wilden  Weibern  und  Hexen  anknüpfen,  wie  ja  auch  die  zahl- 
reichen Hexenberge  und  Hexentanzplätze  auf  Umdeutungen  alter,  miss- 
verstandener Flur-  und  Waldnamen  zurückgehen,  wie  ich  demnächst  nach- 
weisen werde. 

Aber  die  Umdeutung  alter  Namen  wie  Weinberg  ist,  scheint  es,  damit 
noch  nicht  erschöpft.  Es  kommen  noch  Dialektübertragungen  hinzu.  Da 
die  Mundart  den  intervokalischen  Guttural  von  schd.  Waagen  meist  elidiert, 
also  Waan,  Wään  u.  ä.  spricht,  entstand  bei  ortsfremden  Leuten  Yer- 
wechsluDg  mit  dem  mundartlichen  Ausdruck  für  Wein.  So  erklären 
sich  vermutlich  in  Hessen  Namen  wie  der  Wagenberg,  Wald  bei  Neu- 
stadt, das  Wagenackersfeld  bei  Yiermünden,  die  Wagnershöh  (<  Weinershöh, 
Weinbergshöh)  bei  Somplar;  in  Nassau:  Wagenberg,  Wagenkehr,  W^agen- 
lück.  Wagnerwies,  Wagnershahn  (=  Weinbergshagen),  Goldwagen  usw.  Ygl. 
auch  Bück  a.a.O.  S.  291:  Wagenbreche,  Wagenlucke,  Wagenhard.  So  er- 
klärt sich  auch  die  wiederholt  aufgestellte  Hypothese  Weinstrasse  =  Wagen- 
strasse, d.  h.  die  Strasse,  auf  welcher  die  (Wein)fuhrwerke  ihren  Weg 
hatten.  Das  schliesst  nicht  aus,  dass  Weinstrassen,  welche  später  beliebte 
Verkehrsstrassen  wurden,  ursprünglich  als  Triebwege  für  das  Weidevieh 
angelegt  worden  sind.  Ähnliche  Bedeutungsübertragungen  finden  sich 
in  der  Flurnamengebung  öfters  (vgl.  Richplatz  zu  Richtplatz,  Gerichts- 
platz u.  a.  m.). 

Die  Umdeutung  von  altem  win  zu  Wein  wurde  sehr  begünstigt  durch 
das  sinnverwandte  ahd.  weida  'Bodenfläche  zum  Beweiden  mit  Yieh',  das 
später  an  die  Stelle  des  immer  seltener  werdenden  Wortes  Winne  trat 
und  es  heute  ganz  ersetzt  hat.  In  Flurnamen  findet  es  sich  verhältnis- 
mässig selten,  in  Hessen:  auf  dem  Weidenstrauch,  Wald  bei  Lohra, 
die  Weidenschiesser  bei  Ebsdorf,  zum  Weiden  vor  dem  Weidenküppel 
bei  Frankenau,  der  Weideacker  bei  Dilschhausen,  der  Weidenberg  bei 
Rotenburg  usw.  Aus  Weidenberg  konnte  durch  Elision  im  Yolks- 
mund  auch  Weinberg  werden,  und  so  mag  bei  der  Umdeutung  Win- 
berg— Weinberg  auch  der  Anklang  an  Weidenberg  mitgewirkt  haben, 
d.  h.  begriffliche  und  lautliche  Assoziation  zugleich.  Es  konnte  zudem 
auch  der  Fall  eintreten,  dass  als  Weideberge  alte  Weinberge  benutzt 
wurden,  auf  denen  sich  der  Weinbau  nicht  lohnte,  und  umgekehrt  konnten 
ehemalige  Weideberge  später  als  Weinberge  urbar  gemacht  werden.  Es 
wirkten  also  hier  eine  Reihe  von  Faktoren  mit,  die  uns  die  grosse  Zahl 
von  'Weinbergen'  begreiflich  machen. 

Da  bei  dem  allmählichen  Übergang  von  der  germanischen  Weidewirt- 
schaft zum  Ackerbau  und  zur  Rodung  der  Feldmark  zuerst  das  frucht- 
bare, an  den  Flussläufen  gelegene  Flachland,  erst  später  das  abhängig  ge- 
legene Feld  und  zuletzt  erst,  als  die  Besiedelung  immer  dichter  wurde, 
das  nach  dem  "VValde  zu  gelegene,  weniger  ergiebige  Land  auf  den  Höhen 


286  Schoof: 

in  Anspruch  genommen  wurde,  so  dienten  die  auf  den  Berghalden  nahe 
dem  Walde  gelegenen,  meist  rauhem  Winde  ausgesetzten  Triescher  und 
Bergwiesen  zahlreichen  Viehherden  als  Weideplatz.  Als  dann  auch  diese 
Weidehänge  gerodet  und  in  Äcker  verwandelt  werden  mussten,  ging  den 
nachfolgenden  Generationen  die  Erinnerung  an  die  frühere  Verwertung 
des  Bodens  verloren,  und  die  Folge  davon  war,  dass  die  Bezeichnungen, 
die  noch  am  Boden  hafteten,  unverständlich  und  den  neueren  Kultur- 
verhältnissen entsprechend  umgestaltet  wurden.  So  wurde  aus  einem  Win- 
berg,  der  keinen  Sinn  mehr  ergab,  ein  Windberg  gedeutet,  weil  der  Acker 
infolge  seiner  den  Winden  ausgesetzten  Lage  dürftigen  Boden  hatte. 
Diese  ümdeutung  zu  wind,  ventus,  wurde  noch  dadurch  unterstützt,  dass 
eine  Weiterbildung  winithi,  winidi  neben  win,  winne  bestand  (vgl.  unten 
Windenberg,  Windeberg),  und  von  hier  aus  ging  die  ümdeutung  noch 
weiter  zu  Winter,  ohne  Zweifel,  um  damit  anzudeuten,  dass  solche  Ge- 
markungsteile in  rauher,  unfruchtbarer  Gegend  lagen,  wo  der  Ertrag  kaum 
die  aufgewandte  Mühe  lohnte  und  die  Abgaben  nur  schwer  oder  gar  nicht 
aufzubringen  waren,  wie  denn  auch  die  meisten  auf  solchen  Plätzen  ent- 
standenen Siedlungen  später  wieder  eingegangen  sind.  Wir  haben  es  hier 
zweifellos  mit  einer  volkstümlichen,  nicht  mit  einer  gelehrten  ümdeutung 
zu  tun.  Die  Erinnerung  an  die  eigentliche  begriffliche  Beziehung  war  dem 
Volksbewusstsein  entschwunden,  an  deren  Stelle  trat  eine  neue  Hauptvor- 
stellung, die  sich  auch  auf  die  Erwerbstätigkeit  des  Volkes  bezog,  aber 
sich  aus  dem  Anbau  des  Landes,  als  der  späteren  Erwerbsquelle  des  Volkes, 
ergab.  Es  wurde  also  hier,  um  mit  Wundt  (Völkerpsychologie,  Bd.  1  'Die 
Sprache')  zu  reden,  eine  dem  Gegenstand  adäquate  Vorstellung  geweckt. 
Auf  diese  Weise  erklären  sich  hessische  Flurnamen  wie  die  Windbetten, 
Windfell  ^)  bei  Bernsdorf  (Kr.  Marburg),  WindfalP)  bei  Bracht,  die  lange 
Winde  bei  Gruben,  die  Windmühle  bei  Anzefahr  (in  der  Nähe  der  Wein- 
garten), das  Wündefeld  bei  Kansbach,  das  Winterfeld  (öfters),  Winter- 
berg, öfters,  u.  a.  Dorf  im  Sauerland,  ein  Berg  (616  Meter)  im  Kellerwald 
und  im  Vogelsberg,  Wintertal,  Wintersgrund  bei  Löhlbach  und  Viermünden, 
der  Wintersbach  bei  Rörshain,  das  Winterstück  bei  Bürgein  (in  derselben 
Gemarkung  das  Winzefeld),  die  Winterwiese  bei  Schönstadt,  die  Wiuter- 
seite^),  öfters,  meist  gegenüber  einer  Sommerseite,  die  von  der  Morgen- 
sonne bestrahlt  wird,  der  Winterstrauch,  Wald  bei  Rauschenberg,  die 
Winterecke,  das  Winterrück  bei  Rotenburg,  die  Winterliete  bei  Alten- 
hasungen,  der  Winterscheid,  Wald  bei  dem  gleichnamigen  Dorfe,  Winter- 
liede,  Winteracker,  Grafschaft  Schlitz 3),  Winterbaum*)  ebendort  (vgl.  dazu 
die  ähnliche  Bedeutungsentwicklung  von  Hungerbaum),  Winterkasten,  Berg 
(322  Meter)    bei  Hoheneiche    und  Rücken  des  Habichtswaldes,    jetzt  ver- 

1)  Wahrscheinlich  entstellt  aus  Wiiulfeld.  —  2)  seite  -  Lage,  Erstreckung.  Nach 
Kehrein  3,  553  gibt  es  im  Nassauischen  auch  eine  Windseite.  —  3)  Hotz,  Die  Flurnamen 
der  Grafschaft  Schlitz,  S.  60  u.  ö.    —    4)  In  einem  Schlitzer  Messbuch  von  1584. 


Beiträge  zur  volkstümlichen  Namenkunde.  287 

drängt  durch  den  Namen  Karlsberg.  Ähnlich  in  Nassau i):  Windbach,  "Wind- 
busch, Windeck,  Windfeld,  Windhahn,  Windlück,  Windmauer,  Windmühl, 
Windrain,  Windscheid,  Windseit,  Winterort,  Winterbach,  Winterbaum, 
Winterbirnbaum  (wahrscheinlich  entstellt  aus  Winterbergbaum),  Winterhof, 
Winterloch  usw.;  in  Thüringen^):  Winterbach,  Winterstein  usw.  Nach 
Bück  a.  a.  O.  S.  203  ist  Winterhalde  =  Nordhalde,  kalte,  von  der  Sonne 
abgewendete  Lage.  (Schon  im  9.  Jahrhundert  beliebte  Differenzierung.) 
Ausserdem  findet  sich  die  Umdeutung  in  einigen  hessischen  Ortsnamen: 
Windecken  aus  älterem  Wunnecken  (1277),  Winterscheid')  (1265  Winter- 
sceith)  bei  Treysa  und  Wüstung  daselbst,  auf  der  Nordseite  der  Wasser- 
scheide zwischen  Lahn  und  Fulda,  Winterbüren,  Hof  bei  Immenhausen 
(1143  Winthereburen,  1160  Wintirburen,  1163  Winterburen)  nach  Arnold 
S.  365  von  der  Lage  an  der  Nordseite  des  Berges,  Windefeld,  Wüstung 
bei  Gieselwerder.  Vgl.  auch  den  rheinischen  Ortsnamen  Königswinter 
und  dazu  meine  Abhandlung  über  Altkönig  a.  a.  0.  S.  499,  ferner  Ober- 
winter, Wintrich  an  der  Mosel  usw. 

Nach  einer  im  Kheinfränkischen  weitverbreiteten  Kegel  wird  nd  in 
der  Mitte  und  am  Ende  eines  Wortes  zu  ng  (Linde  zu  Leng,  Linden- 
bach zu  Lingelbach).  So  findet  sich  statt  Hundruck  in  Urkunden  auch 
Hungruck  und  ebenso  statt  Winnebach,  Windebach,  Wendebach  (zu 
winidi)  dialektisch  Wingebach,  Wengebach.  Die  mundartliche  Form 
geht  zuweilen  in  die  Schrift-  oder  Kanzleisprache  über,  und  so  er- 
klären sich  die  hessischen  Flurnamen  das  Wengefeld  bei  Hüttenrode  (in 
der  gleichen  Gemarkung  der  Winterberg)  und  bei  Sarnau,  die  Wengels- 
eiche  bei  Loshausen  (in  der  gleichen  Gemarkung  das  Wendelsfeld),  der 
Wengebach  bei  Unterhaun  (mit  dem  Hof  Wendebach),  der  Wengeberg 
oder  Wendeberg,  heute  Wehneberg*)  bei  Hersfeld,  der  Wengeberg 
bei  Melsungen  usw.  Vgl.  auch  nassauisch^)  Wenge,  Wenche,  Wenggarten, 
Wengewis,  Wenk  usw.;  thüringisch*):  Wingethal,  ma.  Wingeddal,  am 
Wengenbach,  am  Wendenberg,  ma.  offn  Wengenbärge,  im  Windebach, 
ma.  Wingbach,  Wingenbach,  über  den  Wingenberg  (1641)  usw. 

Da  neben  Windeberg,  Wendeberg  auch  Windelsberg,  Wendelberg'). 
Wendelsfeld  vorkommt,  wahrscheinlich  aus  älterem  Windenberg  infolge 
von  Dissimilation  und  mit  personalem  Genetiv-s  aus  falscher  Analogie, 
so  bildeten  sich  unter  dialektischem  Einfluss  auch  Formen  wie  die  Winkel-* 
wiesen,  z.  B.  Gemarkung  Kosental,  zum  Winkeln;  Gemarkung  Mardorf  (in 


1)  Kehreiu  a.  a.  0.  S.  624.  —  2)  Gerbing  a.  a.  0.  S.  326;  344  u.  ö.  —  3)  Winter- 
scheid bedeutet  also  eine  Grenzscheide,  einer  Höhe  entlanglaufend,  die  früher  als  Weide- 
platz gedient  hatte  und  erst  spät,  infolge  der  hohen  Lage,  zum  Anbau  bestimmt  wurde.  — 

4)  In  einer  Hersf.  Urk.  v.  1422  auch  Silberberg  genannt,   mit    dem  Zusatz  'sonst  Wende- 
berg genannt',  etwa  1200  der  Windiberch,  1182  Windeberg,  1317,  1428, 1435  Wendeberg.  — 

5)  Kehrein  S.  604.    —    6)  Gerbing  S.  25;  35;  46;  323  u.  ö.  —  7)  Auch  Wenelsberg  findet, 
sich,  z.  B.  in  der  Gemarkung  Althattendorf. 


288  Schoof: 

der  gleichen  Gemarkung  der  Windelsberg),  de.r  Winkelsgrund  Gemarkung 
Schiffelbach,  der  Winkel  Gemarkung  Cyriaxweimar  (vgl.  dazu  den  Orts- 
namen Weimar  aus  älterem*  Win -mark)  und  Gemarkung  Ockershausen 
(in  derselben  Gemarkung  die  Weinstrasse  und  die  Weimersche  Koppe); 
ebenso  nassauisch^):  auf  den  Winkeln,  Winkelchen,  Dachswinkel,  Kräh- 
winkel, Schäferswinkel,  Scheisswinkel  (vgl.  Winterscheid),  Todtenwinkel, 
Winkelau,  Winkelbäume  (vgl.  Winterbaum),  Winkelberg,  Winkelgarten, 
Winkelheck,  Winkelstrut,  Winkelweg,  Winkelwies,  Winkelsberg,  Winkels- 
graben, Winkelsrain,  Winkfeld,  Winkerfeld  usw.;  thüringisch''):  der  End- 
winkel, 1400  in  dem  Entenwynkel,  Flur  Sonneborn,  im  Windebach  oder 
Winkelbach,  Flur  Sundhausen,  ma.  der  Wingebach,  1372  in  dem  Winden- 
bach, 1641  uf  den  Wingenbach,  in  der  Winkelbache,  ja  sogar  ein  Wing- 
ferborn,  1477  der  Windeborn;  oberdeutsch^):  Hungerwinkel*)  (760),  Farnu- 
winkel  (804),  Rosswinkel,  Haseuwinkel  (auch  in  Hessen  öfters  als  Flur- 
namen vorkommend),  Hirschwinkel,  Krähwinkel')  (vgl.  hessisch  Specks- 
winkel) u.  a.  m.  Nach  Bück  a.  a.  O.  ist  Winkel  ein  uraltes  Grundwort. 
In  den  Bestimmungswörtern  stecken  gleichfalls  uralte  Volksetymologien. 
Da  nun  dialektisch  wing,  weng  s.  v.  a.  Schriftdeutsch  'wenig'  be- 
deutet, fassten  die  Kartographen  oder  Katasterbeamten  die  Form 
Wingerode  als  Wenigenrode  d.  h.  kleine,  dürftige  Rodung^)  (vgl. 
ahd.  wenag  'bejammernswert,  elend,  dürftig',  Weigand,  Dtsch.  Wb.  ^ 
S.  1241)  auf  und  übersetzten  so  nach  ihrem  Gutdünken  die  Namen 
vielfach  ins  Hochdeutsche.  So  wurde  aus  Winnebruch,  Gemarkung 
Rauschenberg,  durch  Vermittlung  der  dialektischen  Form  Wingebruch,  ein 
Wenigenbruch,  aus  Winderode  Wincherode  (wie  Windenbach  zu  Winchen- 
bach),  und  dieses  wird  heute  hartnäckig  als  Wenigenrode  erklärt,  trotzdem,  die 
dicht  dabei  liegende  Flur  der  Wintergrund  deutlich  auf  winne,  'Weide', 
hinweist.  Ebenso  wird  Wenigenrode  bei  Romrod  (14.  und  15.  Jahrhun- 
dert Wenigenrode,  Wenigerode,  Wingerode)  und  Wüstung  bei  Lichtenau 
(1457  Wenyngenrade)  von  Arnold  S.  450  als  Kleinrode  gedeutet,  und  die 
Wüstung  Wenigenrode,  Vorburg  von  Amöneburg,  bereits  im  V6.  Jahrhun- 
dert mit  parvum  castrum  übersetzt.  Vgl.  auch  Wenigenhain  (1254  Win- 
jenhain),  Wüstung  bei  Bernhausen.  Es  soll  nicht  geleugnet  werden 
dass  einige  mit  Wenig-  zusammengesetzte  Ortsnamen  tatsächlich  ihre 
Namen  dem  Begriff  parvus  'klein,  unbedeutend'  verdanken,  wie  es  z.  B. 
bei  dem  Namen  der  Wenigenburg  bei  Amöneburg  der  Fall  sein  kann. 
Da  aber  andererseits  Wenig  auch  den  Begriff  'dürftig,  elend,  unbedeutend' 
in  sich  schliesst  und  die  hierher  gehörigen  Ortsnamen  erst  spät  bezeugt 
und    fast  sämtlich    wieder    eingegangen    sind,    ist    die  Wahrscheinlichkeit 


1)  Kehrein  S.  624.  —  2)  Gerbing  S.  25;  163.  —  3)  Bück  S.  302.  —  4)  Vgl.  dazu  den 
ersten  Teil  dieses  Aufsatzes.  —  5)  Nach  Bück  1060  als  Chrauwinchil  bezeugt.  —  6)  So 
z.B.  1361:  das  wenge  grindel  neben  das  grosse  grindel  (Wcnck,  Hess.  Urkundenbuch  3). 


Beiträge  zur  volkstümlichen  Namenkunde.  289 

noch  grösser,  dass  wir  es  mit  ähnlichen  Umdeutungen  wie  bei  Winneberg, 
Windeberg  zu  Winterberg  zu  tun  haben,  weil  sie  in  rauher,  unwirtlicher 
Oegend  au  Stellen,  die  früher  als  Weidegut  gedient  hatten,  gegründet 
waren,  wo  der  Ertrag  des  Bodens  kaum  die  Mühe  des  Anbaues  verlohnte. 
Es  wurde  also  hier  wie  bei  Winterberg  und  ähnlichen  Umbildungen 
(vgl.  z.  B.  Hundsacker,  Hungeracker)  durch  die  Umdeutuns:  Wingbero-, 
Wingerode  eine  dem  Gegenstand  adäquate  Vorstellung  mit  Beziehung  auf 
die  Ertragsfähigkeit  des  Bodens  geweckt,  nur  mit  dem  Unterschied,  dass 
Wenigenberg  (das  dann  vielleicht  noch  weiter  zu  Wenigenburg  umgebildet 
wurde  unter  dem  Einfluss  der  nahegelegenen  Amöneburg)  eine  gelehrte 
oder  amtliche  Umdeutung  (Dialektübertragung),  keine  volkstümliche  ist, 
wahrscheinlich  durch  gelehrte  Schreiber  aus  den  Klöstern  veranlasst. 

Eine  ebenfalls  dem  Gegenstand  adäquate  Vorstellung  wird  durch  die 
Anlehnung  an  ahd.  wentan,  mhd.  wenden  'umwenden,  umkehren'  im 
Sinne  von  'roden'  erzeugt.  Dazu  kam  noch  Vermengung  mit  ahd.  wenti  f., 
mhd.  wende  f.  'Grenze,  Himmelsgegend'  und  ahd.  giwant  'Flur,  Feld- 
fläche', mhd.  wende  'Ackerstreifen,  schmales  Feld'*).  Auch  hier  finden 
sich  dialektische  Bildungen  wie  Wengeberg,  Wengebach,  Wengefeld,  die 
sich  nahe  mit  den  oben  erwähnten  an  'wenig'  angeglichenen  Benennuno-en 
berühren,  neben  Wendebach,  Wendeberg,  Wenderoth,  Wendefeld  auch 
Wendelberg,  Wendelbach  u.  dgl. 

Schwieriger  sind  die  Fälle  nachzuweisen,  in  welchen  Angleichung  an 
ahd.  swendan  bzw.  spätahd.  firswenden  'schwinden  machen'  und  'ver- 
schwinden machen,  vertilgen,  vernichten'  stattgefunden  hat.  Es  wird  durch 
diese  Anlehnung  eine  ganz  ähnliche  Vorstellung  hervorgerufen  wie  durch 
die  Anlehnung  an  ahd.  wentan  mit  der  gemeinsamen  Grundbedeutung  'aus- 
tilgen, roden,  urbar  machen'.  Die  Umdeutung  findet  sich  sowohl  in  Namen,  in 
welchen  das  alte  winid  Grundwort,  wie  auch  in  Namen,  in  welchen  winid 
Bestimmungswort  ist:  Brauerschwend  bei  Alsfeld  (1273  Brunwartis- 
geschwende),  Ertzschwinden,  Wüstung  bei  Schmalkalden  (16.  Jahrhundert), 
Rüdenschwinden  bei  Fladungen,  Hauptschweuda,  ma.  Heedschweng, 
am  Knüll:  1317  Eizingeswinden,  1371  Eytzichiswende,  Eizichiswinden, 
Heintz  Schwende  1419,  Heidtschwenge  1530,  Hietz  Schwenda,  Hirtz 
Schwenda  etwa  1600,  Heiweswenge  1647,  Heischwedt  1747,  Hauptschweuda 
etwa  1780.  Arnold  S.  572  befindet  sich  daher  im  Irrtum,  wenn  er  diese 
Namen  direkt  von  swandjan,  swendan  ableitet  und  vermutet,  dass  die 
Orte  von  Hersfelder  Mönchen,  die  aus  Schwaben  stammten,  angelegt 
worden  seien,  weil  das  Wort  swendan  besonders  in  Schwaben  und  der 
Schweiz    häufig     vorkomme.      Während     die     lautliche    Augleichuiiff     an 


1)  Müller,  Die  Ortsnamen  im  Reg.-Bez.  Trier  Jahresb.  der  Gesellsch.  f.  nützl. 
Forsch.  1909)  S.  45  und  Bück  S.  292;  vgl.  auch  Anwand,  Anwander  =  Ackerstreifen,  der 
auf  den  Nachbar  oder  einen  Feldweg  stösst,  öde  bleibt  oder  nach  dem  Ackern  um- 
gegraben wird  (ebd.). 


Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1914.    Heft  3. 


19 


290 


Schoof: 


'schwenden'  sich  ungezwungen  aus  dem  Genetiv- s  des  Bestimmungswortes- 
durch  Silbenvertauschung  ergibt  (vgl.  Gotz-wende  zu  Got-swende,  Eiziches- 
winden  zu  Eiziche-swinden,  Brunwartis-wende  zu  Brunwarti-swende  und 
von  da  zu  Brunwartisgeschwende)i),  ist  die  lautliche  Angleichuug  bei  den 
Namen,  in  welchen  'schwenden'  das  Bestimmungswort  ist,  durch  falsche 
Analogiewirkung  unter  dem  Einfluss  begrifflicher  Nebenwirkung  (schwen- 
den im  Sinne  von  'roden')  zu  erklären:  Schwengeberg  in  der  Nähe 
von  Nidenstein,  Schwengenberg,  am  Wald  zwischen  Dankerode  un4 
Stolzhausen,  Schwengelberg  im  Wald  oberhalb  Asbach  bei  Schmalkalden, 
Schwingelfeld  am  Wald  bei  Rückers  unweit  Hünfeld  und  Schwingelhecke 
ebendort  oberhalb  des  Schwingelfelds,  Schwantfeld  bei  Harmutsachsen,  die 
Schwant,  Waldort  bei  Hasselbach  im  Amt  Lichtenau  usw. 

Die  letzte  Gruppe  von  Umdeutungen  entstammt  einem  ganz  anderen 
Torstellungskreise.  Es  werden  nicht  dem  Gegenstand  adäquate,  sondern 
zufällige  Nebenbegriffe  erzeugt,  die  mit  der  Hauptvorstellung  nur  zufällig 
oder  vorübergehend  in  irgendeine  Beziehung  gebracht  werden  können. 
Solche  Nebenvorstellungen  können  geweckt  werden  durch  örtliche  Ver- 
hältnisse: ahd.  giwant  'Flur,  Feldfläche  bestimmter  Richtung,  Acker- 
komplex, der  dieselbe  Länge  oder  Richtung  hat',  das  bei  der  Umdeutung 
von  Winne(berg)  zu  Wende(berg)  mitwirkte,  war  nicht  ohne  Einfluss  bei 
der  Anlehnung  von  Winne,  Winde,  Wende  ^)  zu  Wand,  Gewand,  Wange-, 
Wanne-,  Wandel-,  Wander-  u.  ä.,  wobei  ausserdem  noch  ahd.  wanc,  campus, 
'Feld,  Ebene',  wanne  'sanft  gewölbte  Anhöhe'  und  wand  'Grenze,  Flur' 
lautlich  und  begrifflich  ineinander  gingen.  Solche  Umdeutungen,  durch 
Vermengung  mit  einem  oder  mehreren  dieser  Wörter  entstanden,  sind 
z.  B.  die  Wand,  Wald  bei  Sarnau  (in  der  Nähe  die  Gemarkungsteile  das 
Wengel  und  das  Wengefeld),  die  Weiberwand  (aus  Weinberg-,  Winberg 
—  wand,  also  tautologisch),  Wald  bei  Dodenhausen,  Kr.  Frankenberg,  die 
Zimerswand,  Ziemerswand  (vielleicht  aus  Ziegenbergswand),  Kührasenwand, 
das  Wändchen,  die  Walmeröder  Wand,  die  Steinwaud,  die  Schäferwand,  die 
Herfaerwand  usw.  Bei  allen  diesen  ist  die  Erinnerung  an  ehemalige 
Huteplätze  oder  spätere  Rodungen  längst  erloschen,  es  ist  nur  der  zufällige 
Nebenbegrift  'Abhang,  steil  wie  eine  Wand  abfallende  Berglehne'  erhalten 
geblieben  und  an  die  Stelle  der  einstigen  Hauptvorstellung  getreten.  Ganz 
ähnlich  vollzieht  sich  der  Vorgang  bei  den  Flurnamen  in  der  Wann(e), 
auf  der  Wanne,  z.  B.  bei  Niederwetter,  Ockershausen,  Speckswinkel,  Wehrda 
(Kr.  Marburg),  Wannenfeld,  Wannkopf  (z.  B.  bei  Marburg)  usw.  Auch 
hier  keine  Spur  mehr  von  der  einstigen  Grundbedeutung,  die  Umdeutung 


1)  Vgl.  dazu  die  ähnlichen  Bildungen  Angespann  (neben  Anspann),  Ungedanken, 
Gedankeuspiel,  Ungewitter  (neben  Wetterhöh,  Wetterau)  usw.  —  2}  Meist  in  der  Kollektiv- 
form: das  Gewende  (z.B.  bei  Willershausen,  Roda),  die  Gewendswiesen  (z.B.  bei  Betzies- 
dorf),  das  Gewengsfeld  (z.  B.  bei  Heimbach),  aber  auch  das  Wengefeld,  das  Wengel  (z.  B. 
bei  Sarnau)  u.  ä.  m. 


Beiträge  zur  volkstümlichen  Namenkunde.  291 

schreitet  über  den  Begriff  'sanft  gewölbte  Anhöhe'  weiter  zu  dem  Be- 
griff 'wannenartige  Yertiefung,  Schlucht'  (ganz  ähnlich  wie  bei  Kessels- 
graben, Kesselsgrund).  Weitere  Umdeutungen,  durch  zufällige  örtliche 
oder  persönliche  Nebenumstände  hervorgerufen,  finden  sich  wahrscheinlich 
in  den  Flurnamen  Wangenroth  bei  Immichenhain  (in  der  gleichen  Ge- 
markung die  Wann  und  die  Wannäcker),  auf  fetten  Boden  schliessen 
lassend,  Wanderhecke  bei  Ebsdorf,  Wandelwiese  (öfters),  Wandeläcker, 
Wandelbach,  Wandelgut,  Wandelberg  usw.  Bei  Wauderhecke  hat  dial. 
waanern  'gespenstisch  drohen,  geisterhaft  umhergehen'^),  also  irgendeine 
zufällige  Gespenstersage,  bestimmend  mitgewirkt,  bei  Wandelwiese  die 
gelegentliche  Tatsache,  dass  zwei  Besitzer  abwechselnd,  etwa  ein  um  das 
andere  Jahr,  die  Nutzniessung  hatten. 

Ganz  ähnlich  verhält  es  sich  mit  der  Umdeutung  von  altem  winid 
zu  Winde,  Windel  (berg),  Winkel  (wiese),  über  die  bereits  oben  das  Nähere 
gesagt  worden  ist.  Auch  hier  wirkten  örtliche  Nebenumstände,  Lage  in 
einer  winkelförmigen  Gegend,  die  z.  B.  durch  zwei  in  einem  Winkel  auf- 
einanderstossende  Berge  gebildet  werden  konnte,  bestimmend  auf  die  Um- 
deutung ein.     Vgl.  Winkelacker,  Reh-,  Hasen-,  Speckswinkel  usw. 

Ausser  örtlichen  und  persönlichen  Nebenumständen  wirken  auch  ge- 
schichtliche oder  mythologische  Legenden  auf  die  Namensumdeutung  ein, 
und  zwar  oft  so  bestimmt,  dass  selbst  die  wissenschaftliche  Namenforschung 
sich  bis  zum  heutigen  Tage  noch  oft  genug  durch  solche  Märchen  täuschen 
lässt  und  über  der  schimmernden  Hülle  den  eigentlichen  Kern  viel- 
fach übersieht.  So  muss  die  Persönlichkeit  Karls  des  Grossen  immer 
wieder  dazu  herhalten,  um  die  Sachsen  oder  Wenden  massenhaft  in  Be- 
ziehung zu  Ortsnamen  zu  bringen,  die  man  bisher  nicht  hat  deuten  können, 
obwohl  diese  Yolksstämme  in  den  seltensten  Fällen  etwas  mit  der  Ent- 
stehung solcher  Orte  zu  tun  haben.  Mit  Recht  betont  schon  Arnold  S.  538, 
dass  angesiedelte  Wenden  unmöglich  den  zahlreichen  Berg-,  Bach-,  Feld- 
und  Waldnamen,  die  an  den  Namen  dieses  Volksstammes  anklingen,  noch 
in  so  später  Zeit  und  so  oft  den  Namen  gegeben  haben  können.  Selbst 
seine  Annahme,  dass  dies  nur  in  einzelnen  Fällen  geschehen  sein  mag, 
muss  mit  Vorsicht  und  gelindem  Zweifel  hingenommen  werden,  solange 
nicht  geschichtliche  Beweise  in  jedem  einzelnen  Fall  vorhanden  sind.  So  soll 
angeblich  auch  der  Wendeberg  bei  Hersfeld,  heute  meist  Wehneberg  ge- 
nannt, einer  Kolonie  von  Wenden  seinen  Namen  verdanken,  während  er  1182 
als  Windeberg,  etwa  1200  als  Windiberch  in  fine  civitatis  Hersfeldensis 
und  erst  im  14.  und  15.  Jahrhundert  als  Wendeberg  urkundlich  bezeugt 
wird  und  nach  seiner  Lage  und  seinen  Bodenverhältnissen  deutlich  auf 
seine  ehemalige  Bestimmung  als  Weideberg  hinweist,  ganz  abgesehen 
davon,    dass    die  Namen  der    in  der  Nähe  liegenden  Gemarkungen  allein 


1)  Vgl.  Viliiiar,  Idiotikon  von  Kurhessen  S.  72 f. 


292  Schoof:    Beiträge  zur  volkstümlichen  Namenkunde. 

schon  die  Vermutung  bestätigen.  So  heisst  die  entgegengesetzte  Seite 
des  Bergrückens  nach  Rohrbach  hin  noch  heute  gleichfalls  Wenneberg, 
was  auf  gemeinsame  Hute  der  um  den  Wehneberg  gelegenen  Ortschaften 
schliessen  lässt. 

Nicht  besser  steht  es  mit  den  Umdeutungen,  die  durch  mythologische 
oder,  in  der  Zeit  des  Christentums,  durch  kirchliche  Gestalten  (Heilige) 
hervorgerufen  wurden.  Auch  hier  ist  die  Wissenschaft  bei  der  Namens- 
erklärung vielfach  noch  im  Rückstand  und  zu  wenig  geneigt,  der 
Sache  auf  den  Grund  zu  gehen.  So  stand  bis  1881  in  der  Flur  Loshausen 
eine  Eiche,  die  die  Wendelseiche,  ma.  Wengelseech,  hiess,  weil  an  ihrer 
Stelle  früher  eine  Kapelle  des  St.  Wendel  stand,  welche  zur  Zeit  der 
Reformation  noch  benutzt  worden  sein  soll.  Die  1572  urkundlich  bezeugten 
Namen  derselben  Gemarkung  Wendelsberg,  das  Wendelsberger  Feld,  lassen 
es  jedoch  im  Zusammenhang  mit  den  obigen  Ausführungen  als  wahrschein- 
lich gelten,  dass  die  Kapelle  erst  in  Anlehnung  an  den  Wendelsberg,  der 
irrtümlich  als  ein  Berg  des  St.  Wendel  aufgefasst  wurde,  dem  Schutzheiligen 
Wendel  geweiht  wurde.  Ähnlich  verhält  es  sich  mit  den  zahlreichen 
Marien-  und  Johannisbergen,  die  ähnlichen  Umdeutungen  ihre  Namen 
verdanken. 

So  wenig  wie  das  Hollental  (Höllental)  am  Meissner  ursprüng- 
lich etwas  mit  der  mythologischen  Frau  Holle  oder  die  Donareiche 
bei  Geismar  mit  Donar  zu  tun  hat,  ebensowenig  hat  der  Venusberg  am 
Altvater ^)  mit  der  Göttin  der  Liebe  etwas  zu  schaffen,  sondern  ist  ein 
uralter  Weidenberg,  genau  so  wie  der  Underberg  bei  Salzburg,  der  im 
16.  Jahrhundert  zu  einem  Wunderberg  gestempelt  wurde,  an  welchen  sich 
dann  ähnliche  mythische  Legenden  knüpften  wie  an  den  Hörselberg  in 
Thüringen,  den  Brocken  im  Harz,  den  Meissner  in  Hessen,  den  Altkönig 
im  Taunus  usw.  Näheres  in  meinen  Ausführungen  über  Volksetymologie 
und  Sageubildung. 

So  haben  wir  an  der  Hand  des  altdeutschen  Wortes  winne  ein 
reiches  Stück  Kulturgeschichte  kennen  gelernt,  einen  interessanten  Blick 
in  die  germanische  Volksseele  tun  können.  Hier  offenbart  sich  uns  Volks- 
kunde wie  ein  reichlich  sprudelnder,  nie  versiegender  Quell. 

Hersfeld. 

(Fortsetzung  folgt.) 

1)  Vgl.  auch  Bück  S.  287:  Venusmühle,  beim  Volk  Veuismühle,  Venusberg  bei 
Essendorf,  früher  Venersberg,  desgl.  bei  Eyb  (Ansbach),  früher  Veniberg  und  Venibuck. 
Keine  einzige  Urkunde  deutet  nach  Bück  auf  Venus,  sondern  diese  Formen  sind  sämtlich 
Kanzleistubenerfindungen.     Vgl.  Grimm,  Myth. »  1,524;   536;   548. 


Müller:    Kleine  Mitteilungen.  293 


Kleine  Mitteilungen. 


Zur  Geschichte  des  Aberglaubens  in  der  Obergrafschaft 
Katzenelnbogeu. 

Im  achten  Band  der  Zeitschrift  für  Kulturgeschichte  S.  287 — 324  hat  Prof. 
D.  Dr.  Wilhelm  D^iehl  einen  Aufsatz  reröffentlicht,  in  dem  er  an  der  Hand  der 
hessischen  Kirchenvisitationsakten  von  1628  schildert,  in  welchem  Umfang  der 
Aberglaube  in  dem  damaligen  hessischen  Gebiet,  der  Ober-  und  Niedergrafschaft 
Katzenelnbogeu  geherrscht  hat.  Auf  Grund  eines  hochinteressanten  authentischen 
Materials  zeigte  sich,  dass  die  abergläubischen  Bräuche  und  Sitten  in  den  süd- 
lichen und  nördlichen  Teilen  des  landgräflich  hessischen  Territoriums  in  ganz 
verschiedenem  Grad  verbreitet  waren.  Während  die  südlichen  Teile  nur  ver- 
einzelte Fälle  darboten,  so  in  den  Orten  Rossdorf,  Gundernhausen,  Pfungstadt, 
Hahn  u.  a.,  hatten  verschiedene  Orte  der  Niedergrafschaft  eine  geradezu  unheim- 
liche Zahl  von  Zauberern  und  Segensprechern  aufzuweisen.  Diehl  sagt  am  Schlüsse 
seiner  Abhandlung:  „Fassen  wir  alles  zusammen,  so  werden  wir  behaupten 
dürfen,  dass  die  Visitationsakten  von  1628  für  ein  Gebiet,  dessen  Aberglaube  noch 
verhältnismässig  wenig  erforscht  ist,  wertvolle  Beiträge  darbieten  und  dass  es 
dringend  zu  wünschen  ist,  dass  die  noch  vorhandenen  Reste  zum  Zweck  einer 
Vergleichung  von  sonst  und  jetzt  gesammelt  werden  möchten." 

Die  nachstehenden  Zeilen  wollen  eine  Ergänzung  der  von  Diehl  angedeuteten 
Lücke  beibringen,  indem  sie  über  die  Tätigkeit  einer  Kräuterfrau  und  Segen- 
sprecherin aus  dem  kleinen  Dorfe  Malchen  an  der  Bergstrasse  berichten,  die 
wegen  ihres  'teuffelischen  segens  und  warsagens,  auch  artzens'  1612,  also  16  Jahre 
vor  Entstehung  der  von  Diehl  bearbeiteten  Kirchenvisitationsakten,  mit  den  Be- 
hörden in  Konflikt  geraten  ist. 

Die  Persönlichkeit,  um  die  es  sich  bei  den  hier  zu  schildernden  Vorkomm- 
nissen handelt,  Margareta,  Witwe  von  Wennig  Bergsträßer  zu  Malchen, 
ist  eine  'alte  fast  abgelebte  fraue',  wie  die  Akten  von  ihr  sagen,  deren  gesamte, 
viele  Jahre  lang  geübte  Zauberei,  so  sehr  sie  auch  zu  missbilligen  war,  wohl 
kaum  jemandem  etwas  geschadet  oder  genützt  haben  dürfte.  Gleichwohl  war  es 
auf  die  Dauer  nicht  angängig,  dass  man  dem  Treiben  der  Alten  stillschweigend 
zusah.  Nachdem  schon  ein  Jahr  früher  einmal  in  einer  Diebstahlssache  straf- 
gerichtlich gegen  sie  vorgegangen  worden  war,  sollte  es  1612  zu  einer  neuen 
Untersuchung  gegen  sie  kommen.  Kaum  aber  hatte  der  landgräflich  hessische 
Keller  Anthonius  Saarbrück  zu  Zwingenberg  a.  d.  B.  das  letzte  Wort  gegen  die 
weise  Frau  von  Malchen  ausgesprochen  und  ihr  das  ärgerliche  Treiben  ernstlich 
verboten,  da  kam  es  nur  wenige  Tage  später  zu  einem  erneuten  Zwischenfall. 
An  dieser  Stelle  nun  setzen  die  im  Gr.  Haus-  und  Staatsarchiv  zu  Darmstadt  ver- 
wahrten Untersuchungsakten,  denen  wir  uns  möglichst  eng  anschliessen  werden, 
ein.     Den  Beginn    macht    ein  Bericht,    den  der  Keller  Ant.  Saarbrück  am  24.  Juli 


294  Müller: 

1612  an  seine  vorgesetzte  Behörde,  die  Regierung  zu  Darrastadt  erstattete.  Dieses 
Schreiben,  das  sich  auf  eine  Reihe  von  Zeugenaussagen  über  die  jüngste  Tätigkeit 
der  Margareta  Bergsträßer  stützt,  hat  folgenden  Wortlaut: 

„Auf  fürstlicher  hessischer  cantzley  zu  Darmbstatt  bevelch  habe  ich  anheut 
von  dem  hessischen  Schultheißen  zue  Malchen  Ewald  Geyern  entgegen  Margrethen, 
Wennig  Bergstroßers  vpittiben  daselbsten,  ihres  ietzigen  thuns  und  wandels  halben 
bericht  eingenommen:  Derselbige  zeigt  an,  nachdem  am  nehern  montag  den  20. 
dießes  ich  gedachte  Margrethen  ihrer  bißhero  viel  jar  lang  verübten  teuffelischen 
Segens  und  warsagens,  auch  artzens  halben  zu  rede  gesetzt  und  sich  deßen 
gentzlichen  zu  enthalten  verbotten,  so  habe  sie  deßen  ungeachtet  am  nehern  mitt- 
wochen  den  22.  dießes  sich  deßelbeo  wieder  undernommen  und  einem  mann  vom 
Hain  bey  Pfungstatt  mit  einem  pferde  bey  sich  gehabt,  Wennig  Weicker 
genant,  deme  sie  rath  seiner  schwachen  mutter  halben  mitgetheilet.  Wie  aber 
solches  fürgangen,  wieße  er  nicht.  Doch  habe  der  pfarrherr  zu  Nider  Berbach 
sie  uff  solchen  tag,  als  er  geprediget  in  beysein  des  Schultheißen  und  Hans 
Franckens  des  senicrs  fürgefordert  und  examinirt,  was  gedachter  mann  vom 
Hain  mit  dem  pferd  bey  ihr  zu  thun  gehabt,  ob  sie  ihme  rath  ertheilet.  Habe 
sie  daruff  geandworttet,  es  were  wol  solcher  mann  bey  ihr  geweßen,  sie  hette 
ihnen  aber  zum  pfarrherr  nacher  Bickenbach  gewießen.  Als  aber  der  pfarr- 
herr zu  Niederberbach  sie  des  verbotts,  so  der  Keller  zu  Zwingenbergk  ihr  sich 
solcher  sachen  gentzlich  zu  müßigen,  angelegt,  erinnert  und  ernstlichen  zu  wißen 
begert,  ob  sie  ermeltem  mann  vom  Hain  ichtwas  gerathen  und  was  er  ihr  in  einem 
Körblein,  so  er  gebracht,  gegeben,  habe  sie  gesagt,  sie  hette  ihme  etzliche 
kreuter,  als  rosamarin,  isop  und  maioran  zu  nehmen  und  einen  tranck 
daraus  zu  sieden  und  denselben  trincken  zu  laßen  geheißen,  darfür  er  ihr 
ein  virtheil  eyer  auß  dem  Körblein  gegeben  hette.  Ob  nun  aber  auch  segen 
und  andere  ungebührliche  mittel  sie  hierzu  gebraucht,  darvon  habe  sie  nichts  ge- 
stehen wollen.  Welches  alles  auch  Hans  Pranck  zu  Malchen  berichtet  und  darbey 
auch  dießes  angezeiget,  wie  sie  dabevor  sich  des  urin  besichtigens  gebraucht 
und  vorm  jähr  ungefehr,  als  er  bey  Hanß  Reißman  zu  Malchen  eine  neue  egen 
zur  körn  saat  entlehnet,  seye  ihme  dieselbig  gestolen  worden  und  endlichen  an 
tag  kommen,  das  ermelte  Margretha  dieselb  in  ihrem  stubenofen  zu  esche 
verbrendt  habe,  derowegen  sie  auch  vorm  jar  uf  der  centh  zu  Zwingenbergk  ge- 
strafft worden,  warzu  und  welchem  ende  sie  solch  eschen  gebraucht  habe,  wird 
sie  am  besten  wißen.  Sonsten  könten  sie  nicht  wißen,  ob  sie  auch  mit  andern 
verbottenen  dingen  als  zaubereyen  und  dergleichen  unthaten  umbgehe,  sintemaln 
solche  thaten  in  geheim  verübt  werden. 

Doch  habe  er  Hans  Pranck  und  Erbaldt  Luckhaupt,  welcher  ob  specificirten 
bericht  auch  durchaus  erholet,  dabevor  von  ihrem  eygenen  mann  Wennigen 
Bergstroßer  gehöret,  daß  er  selbsten  gesagt,  sein  fraw  könte  zaubern  etc.  Ob 
nun  solchem  also,  das  könten  sie  für  ihre  person  nicht  wissen. 

Ferner  sagten  sie,  es  hette  auch  newlicher  zeit  Peter  Lehn  rathsperson 
alihier  zu  Zwingenbergk  bey  gedachter  Margreth  seiner  lamigkeit  halben 
raths  gefragt,  was  sie  aber  ihme  gerathen,  das  wissen  sie  nicht.  Hierauff  hab 
ich  ermelten  Peter  Lehn  so  baldt  vor  mich  erfordert  und  deßwegen  zu  rede 
gesetzt.  Zeigt  an,  er  were  in  ein  lamigkeit  gerathen  und  ihme  von  Michel  Spießen 
zu  Wallersteden,  welcher  gleicher  weis  einer  lamigkeit  halben  gedachte  Margreth 
umb  hulff  und  rath  ersucht  gehabt  und  ihme  geholffen,  gerathen,  das  er  ihr  ein 
stück  von  seinem  leib  schicken  solte,  würde  sie  ihme  beholffen  sein.  Darauff 
habe  er  ihr  sein  hempt,  so  er  acht  tag  lang  an  seinem  leib  gehabt  durch  seinen 


Kleine  Mitteilungen.  295 

•söhn  geschickt,  welches  sie  genommen  und  damit  uf  beseits  gangen.  Was  aber 
«ie  damit  gethan,  habe  sein  sehn  nicht  vermercken  können.  Seye  aber  bald 
-wieder  zu  seinem  söhn  kommen  und  gesagt,  es  komme  solche  lamigkeit  ron 
einem  trunck,  den  er  gethan  hero  und  hette  ihme  etzliche  kreuter,  als  isop, 
«alvei,  hirtzzungen  und  roßmarin  gegeben,  die  er  gesotten  und  ge- 
■truncken,  auch  damit  seine  lame  beine  gewaschen.  Habe  ihr  ein  gülden  ge- 
geben, aber  ihnen  nichts  geholffen. 

Deßgleichen  sagt  er,  were  hiebevor  Jacob  Reußen  allhier  dienstbub,  Jörg 
genandt,  welcher  an  seinem  gantzen  leib  krafftloß  geweßen,  bey  obgedachter 
Margreth  geweßen  und  ihme  verhelffen  laßen,  welchen  ich  gleicher  gestalt  er- 
fordert und  derentwegen  befragt,  sagt,  er  were  ungefehr  vorm  vierthel  jar  an 
seinem  leib,  an  armen  und  fußen  gantz  krafftloß  geweßen.  Sey  er  zu  gemelter 
frawen  gehn  Malchen  gangen  und  ihme  helffen  laßen.  Hette  sie  ihnen  an  seinem 
leib  Yon  dem  kopff  an  biß  zun  fußen  mit  ihren  henden  angetastet  und 
■etzliche  wortt  heimlichen  über  ihn  gemurmelt,  auch  drey  eyer  und 
pulver  in  dreyen  kleinen  döttergen  zugestelt,  die  er  des  morgens 
-geßen  und  daruff  die  krafft  seines  leibs  wieder  bekommen,  also  daß  er 
innerhalb  acht  tagen  wieder  arbeiten  können.  Habe  ihr  hierfür  einen  halben 
^uldten  gegeben. 

So  ist  auch  Wennig  Weicker  vom  Hain  bey  Pfungstatt  fürgefordert 
und  deshalben,  das  er  am  mittwochen  den  22.  julij  zu  Malchen  bey  des  Berg- 
strößers  wittiben  geweßen  und  rath  gesucht,  zu  rede  gesetzt  worden.  Zeigt  an, 
es  betten  die  leuth,  welche  er  nicht  nahmhaftig  machen  können,  seiner  mutter, 
welche  umb  die  brüst  großen  schmertzen  gehabt,  gerathen,  sie  sollte  ihr 
hembd  von  ihrem  leib  gedachter  wittiben  schicken,  würde  sie  die  Schwachheit 
erkennen  und  ihr  wieder  verhelffen.  Da  habe  seine  mutter  ihnen  dahin  gehn 
Malchen  geschickt  und  er  der  frawen  seiner  mutter  gelegenheit  angedeutet  und 
das  hembd  zugestelt.  Sie  hette  aber  daruff  gesagt,  er  sollte  gehn  Bickenbach 
zum  pfarrherrn  gehen  und  ihme  verhelffen  laßen,  doch  endlichen  das  hembd  ge- 
nohmmen,  in  ihr  stuben  allein  gangen  und  über  ein  kleine  weyl  wieder- 
kommen und  die  schwacheit  angezeigt,  auch  ihme  in  dreyen  döttergen 
pulver  gegeben  und  gesagt,  sein  mutter  soltte  es  in  dreyen  eyern  in- 
nehme n,  so  werde  es  beßer  mit  ihr  werden.  Habe  ihr  darfur  weitter  nichts,  dann 
ein  vierthel  eyer  verehrt  und  seiner  mutter  das  pulver  bracht,  so  sie  ein- 
genommen und  mit  ihr  beßer  worden. 

Hans  Krichbaum  von  Oberberbach  ist  der  trohewortt  halben,  welche  Leonhard 
Franck  außgegoßen  haben  solle,  verhöret  worden.  Zeigt  an,  er  habe  Madern 
Roßens  fraw,  so  mit  seiner  hausfrawen  geschwistern  kinder  seyen,  zu  mehrmalen 
gewarnet,  von  ihrem  bößen  wandel  abzustehen  und  des  Leonhard  Pranckens 
müßig  zu  gehen,  denn  er  offtmals  gesehen,  das  sie  beide,  wann  ettwan  eines  oder 
das  ander  im  feld  geweßen,  einander  nachgegangen  und  zusammen  kommen.  Sie 
hette  aber  ihme  gantz  betrohenlichen  ins  gesiebt  gesagt,  wenn  er  sein  maul  nicht 
halten  würde,  solte  Leonhard  Franck  ihme  seinen  kopff  zerschlagen  und  ein  wehr 
in  leib  stoßen,  wie  denn  zween  schäfers  buben  gehört  haben,  das  sie  solches  dem 
Leonharden  befohlen  hette.  Daruff  er  es  dem  Leonharden  fürgerückt,  habe  er 
gestanden,  das  es  die  Schmidtin  ihme  befohlen  habe,  aber  von  ihme  seyen 
sonderlichen  keine  drohewortt,  so  viel  ihme  wissend,  gehört  worden." 

Das  Antwortschreiben  der  Darmstädter  Regierung,  das  auf  diesen  Bericht 
hin  erging,  war  auf  das  entschiedenste  bestrebt,  dem  Treiben  der  Margareta 
Bergsträßer  ein  Ende  zu  machen.      Die  Verfügung,    in  welcher  die  sofortige  per- 


296  Müller: 

sönliche  Vernehmung   der  Missetäterin,    ihre   gleichzeitige  Verhaftung   und  Haus- 
suchung angeordnet  wird,  lautet  folgenderniassen : 

„Ehrbar  guter  freundt,  wir  haben  ewer  schreiben  neben  dem  uberschickten 
Walbronnischen  register  entpfangen,  verlesen,  dieweilen  den  darob  vernommen 
das,  obwohl  uf  unsern  euch  zugeschickten  befelch  ihr  Wennig  Bergstroßer  wittiben 
zu  Malchen  sich  des  segensprechens,  wahrsagens  und  verbottenen  übernatürlichen 
artzneyens  sich  gentzlich  zu  enthalten  ernstlich  undersagt,  sie  dem  auch  also 
nach  zu  kommen  versprochen,  das  sie  sich  doch  solcher  verbottener  eure 
gleichsamb  den  andern  tag  nach  entpfangenem  verbott  wieder  unter- 
fangen. Wan  den  solchs  Gottes  gebott  und  der  darin  wohlbegründten  Kirchen- 
ordtnung  zue  wieder  und  pillich  gestrafft  wirdt,  so  befehlen  in  namen  u.  g.  f.  und 
hern  L.  Ludwigs  zu  Hessen  etc.  wir  euch  vor  uns  g.  gesinnende,  das  ihr  ge- 
dachte wittib  demnehisten  vor  euch  kommen  lasset  und  von  ihr,  wie  lang 
sie  solche  verbottene  euren  gebraucht  und  wehme  sie  darmit  geholffen,  wehr  auch 
recht  und  hiilffe  bey  ihr  gesucht,  erkundiget  und  sie  daruff  drey  tag  lang  in 
die  betzencammer  hinsetzet.  Inmittelst  in  ihrer  behausung  vleissige 
nachsuchung  thut,  ob  ihr  etwas  von  verdechtigen  materien  oder  ander  anzeige 
finden  moget  und  uns  darvon  berichtet.  Soll  daruff  fernere  gepuerliche  verordtnung 
vorgenommen  werden  und  wir  seindt  euch  mit  günstigem  willen  wohl  gewogen. 
Datum  Darmbstadt  den  26.  julij  anno  1612. 

Canzler  und  rhäte  doselbst." 

Sofort  nach  dem  Empfang  dieser  Verfügung  ging  der  Keller  an  ihre  Aus- 
führung. Bei  der  am  1.  August  1612  vorgenommenen  Haussuchung  fanden  sich 
in  einem  Schränklein  und  einer  Truhe  in  der  Stube  der  inzwischen  verhafteten 
Angeschuldigten  folgende  Stücke  vor: 

„1.  Ein  stein  gleich  wie  ein  donneraxt,  so  in  der  mitt  ein  rund  loch  hat,  ist 
grawlicht,  vorn  gleich  wie  ein  schneidig  axt  und  binden  stumpf. 

2.  In  dreyen  lädelein  viel  pulver  aus  gekreudig  gestoßen  und  darbey  etzliche 
kleine  düttergen  voll  pulver. 

3.  Etzlich  gekreudig  in  einem  glaß  und  in  einem  ducb. 

4.  Ein  gestreiffte  ohl  haut. 

5.  Viel  kleine  kotturffen  und  gläßer,  darinnen  etzliche  verdechtige  getränck 
und  urin,  darfur  man  es  angesehen,  geweßen. 

6.  Zwen  häfen,  darin  auch  verdechtig  geschmir  geweßen,  etzlich  weiß  hunds- 
treck salva  reverentia  zu  meldten." 

Ausserdem  enthielt  das  Schränklein  und  die  Truhe  noch  eine  grosse  Anzahl 
von  Geldstücken  aller  Sorten,  vom  Goldgulden  bis  zum  halben  Batzen  herab,  die, 
nachdem  man  sie  gezählt  hatte,  den  ansehnlichen  Betrag  von  129  Gulden 
18  Albus  ergaben.  Das  Geld  wurde  von  den  amtierenden  Personen  „in  zwen 
seckeln  und  einer  sewblaßen  verpitschirt,  auch  weil  es  abwesend  der  verhafften 
wittiben  in  ihrem  haus  nicht  wol  verwarth  geweßen,  zur  kellnerey  Zwingenberg 
gebracht  und  biß  uf  fernem  bevelch  reponirt." 

Am  gleichen  Tage  fand  auch  die  verantwortliche  Vernehmung  der 
Margareta  Bergsträßer  statt.     Hierbei  wurde  folgendes  zu  Protokoll  genommen: 

„Erstüchen  sagt  sie,  sie  hette  ihre  artzneykunst  von  ihrem  mann  selig  erlernet 
und  gehe  sonsten  mit  nichts  anders  umb,  als  mit  kreutern.  Wolte  auch  hierbey 
anfangs  nicht  gestehen,  das  sie  mit  segen  umbgehe,  biß  zuletzt,  daß  sie  deßen 
ernstlichen  erinnert,  das  sie  auch  segnerey  gebrauchet,  eingestanden  und 
bißweylen  dießen  segen  gebrauchet: 


Kleine  Mitteilungen.  297 

'Du  liegest  allhier 

Und  weißest  nicht  was  du  bist, 

Drum  helffe  dir 

Gott  und  der  heilige  Christ. 

Im  nahmen  Gottes,  des  vatters,  des  sohnes  und  des  heiligen  geistes.' 

Das  andre  ist  sie  befragt  worden,  ob  sie  auch  auf  ersuch ung  der  leuth  in 
erkennung  der  Schwachheiten,  ettwan  christallen,  glaß,  stein  oder  ettwas  anders 
gebrauchet.  Hat  sie  hiervon  nichts  gestehen  wollen.  Dargegen  sie  befragt 
worden,  warzu  dann  sie  den  stein,  so  einer  donneraxt  gleich  seye  und  ihr 
fürgetzeigt  worden,  gebrauchet  hette.  Antwortet  sie,  solcher  stein  were  ein  dpnner- 
axt,  wiße  nicht  wer  das  loch  darin  gemacht.  Ihr  mann  hette  denselben  zu  den 
pferdten,  so  böße  schleuch  gehabt,  gebrauchet  und  die  böße  schleuche  damit 
bt3strichen.  Wie  denn  auch  sie  zu  den  weibern,  so  böße  brüst  gehabt,  solchen 
stein,  damit  sie  die  brüst  creutzweis  mit  sprechung: 

'Im  nahmen  Gottes  des  vatters,  des  sohns  und  des  h.  geistes' 

in  gleichem  zu  den  pferdten  an  bößen  schleuchen  gebrauchet  habe. 

Das  dritte,  das  pulver  in  dreyen  underschiedlichen  lädelein  seye  aus  barb- 
winckelkraut,  peterwurtz  und  dann  einem  schmalen  kraut,  so  sie  jetztmal  nicht 
benennen  wollen.  Und  sagt,  dasselbe  habe  ein  roth  blümlein  und  trage  schottergen, 
stehe  und  wachße  im  newen  wege  zu  Malchen  hinder  ihrem  hauß,  und  gebe  sie 
solch  pulver,  denen  sie  ihr  urin,  salva  reverentia  zu  schreyben,  besehe  und 
unden  ufm  boden  trübe,  als  wie  hefen  befinde,  in  dreyen  kleinen  düttergen 
in   dreyen  eyern   ein. 

So  sagt  sie  vors  dritte,  das  die  wurtzel,  so  sie  in  einem  ledlin  gehabt  und 
ihrem  bericht  nach  peterwurtz  sein  solle,  den  leuthen  so  das  fieber  hetten, 
ohne  segensprechen  (quod  non  creditur)  anhenge  und  dieselbe  jars  im  maio 
grabe. 

Bremer  und  zum  vierten  sagt  sie,  daß  das  kreutig,  so  in  einem  glaß  geweßen^ 
wildtblumen  wehren,  und  brauche  sie  dieselbe  den  leuthen,  denen  ein  hande 
oder  fuß  verstaucht  were,  lege  sie  in  warmer  maybutter  auf. 

So  mache  sie  zum  fünften  ein  schmaltz  aus  den  rothen  Schnecken,  nehme 
dieselben  und  henge  sie  in  ein  tuch  an  die  sonn,  so  dreuffe  das  schmaltz  herab 
in  ein  undergesetztes  gefeß,  welches  schmaltz  sie  zur  lämigkeit  gebrauche. 

Das  geschmier  das  sechste  in  zweyen  häfen,  sey  oly  drauß  von  dem  nußoly, 
darmit  schmier  sie  die  wunden  an  menschen  und  viehe,  wann  die  fliegen 
solche  wunden,  sonderlich  an  vieh  beschmeißen,  damit  keine  maden  darauß  er- 
wachßen  mögen. 

Das  obgemelte  pulver,  sagt  sie,  gebe  sie  auch  den  jungen  schwachen 
kindern  in  einem  dottgen  zu  dreyen  malen  in  dem  breylein  ein  und  werden 
darvon  gesundt. 

Ist  vors  siebende  eingestendig,  das  zu  vielen  mahlen  die  leuth  ihr  die  urin 
zu  besichten  und  daraus  die  Schwachheit  zu  erkennen  gebracht  hetten,  wie  denn 
in  ihrem  hauß  viel  kutturfen  und  andere  gläßer  befunden  und  in  fünff  under- 
schiedlichen gläßern  noch  urin  vorhanden  geweßen,  welche  ihr  fürgestellt  und  zu 
wißen  begert  worden,  wer  ihr  solch  wasser  zugebracht  hette.  Hat  sie  anfangs 
niemanden  kennen  wollen,  biß  zuletzt,  da  sie  ernstlichen  hierzu  ermahnet  worden, 
nach  benennthe  angetzeigt:  Als  erstlichen  berichtet  sie  das  in  einem  glaß  das 
wasser   ist   gar    schwartz,     des    spitalnieisters    zu    Hoffheim,     Wilhelmen 


298 


Müller : 


Buchen  geweßen  und  ihr  ungefehr  vor  2  oder  3  monaten  durch  ein  frawe  seinet- 
wegen gebracht  worden  sey.  Habe  ihme  daruff  gemeltes  pulver  in  dreyen 
dottergen,  dieselbe  in  dreyen  eyern  einzunehmen  geschickt  und  darbey  einen 
tranck  von  3  roßmarein,  3  majoran  und  drey  ysopen  stücken  in  einer  echtmas 
wein  zu  sieden  und  zu  trincken  zugerichtet,  welcher  dranck  durch  alle  glieder 
des  menschen  gehe  und  helffe. 

So  were  der  urin  in  einem  andern  glaß  von  dem  Wülckern  zu  Diepurgk 
ihr  zugeschickt,  deme  sie  gleicherweiß  wie  negst  gesagt  verholffen.  Von  uberigen 
urinien  in  den  andern  gläßern  hat  sie  nicht  berichten  wollen,  von  weme  sie  ihr 
gebracht  seyen,  mit  furwendung,  es  sey  ihr  vergeßen. 

Zum  achten  hat  sie  auch  under  andern  salva  reverentia  zu  melden  in  ihren 
artzneyen  weißen  hundstreck  gebrauchet,  darmit  sie  die  schwache  kinder 
uf  fewer  kolen  bereuche. 

Wie  wol  nun  fürs  neunde  sie  in  abreden  sein  wollen,  das  ihr  die  leuth,  so  in 
ihren  Schwachheiten  bey  ihr  rath  gesucht,  einige  stück  oder  hempt  von 
ihrem  leib,  daran  die  Schwachheit  zu  erkennen  gebracht  hetten,  so  ist  doch 
sie  deßen  so  baldt  durch  Peter  Lehn,  Bürgern  und  des  Raths  zu  Zwingenbergk, 
welcher  sie  auch  seiner  läraigkeit  halber,  darmit  er  noch  behafft  ist,  raths  befragt 
hat,  ubertzeuget,  sagt  es  ihr  in  faciem,  das  er  von  Michel  Spießen  zu  Wallersteden, 
so  gleicherweis  lahm  geweßen,  berichtet  worden,  er  habe  ihr  sein  hempt  von 
seinem  leib  geschickt,  welches  sie  angenommen  und  darob  die  Schwachheit 
erkandt,  auch  ihme  daruff  geholfen.  Als  hette  er,  Peter,  ihr  gleichfalls  sein  hembd 
durch  seinen  söhn  geschickt  und  damit  allein  uf  beseits  gangen.  Was  sie  aber 
darmit  gethan,  hette  sein  söhn  nicht  vermercken  können.  Sie  denn  daruff  zu 
seinem  söhn  gesagt,  er  hette  einen  trunck  in  wein  gethan,  dahero  die  lämigkeit 
kommen  und  es  were  ihm  besser  geweßen,  er  hette  darfür  wasser  getruncken 
gehabt.  Hette  aber  sonsten  nicht  berichten  wollen,  von  weme  oder  woher  ihme 
solcher  trunck  were  beygehalten  worden.  Auff  solchen  ihren  bericht  were  er 
Selbsten  zum  zweyten  mal  bey  ihr  zu  Malchen  geweßen  und  ihres  raths  gepflogen. 
Habe  ihme  darauff  selbst  gesagt,  es  seye  ihme  solche  lämigkeit  durch  einen  trunck 
herkommen  und  ihme  drey  dottergen  obberurtes  pulvers,  solche  in  dreyen  eyern 
des  morgens  früe  inzunehmen  gegeben  und  darbey  einen  tranck  von  ysopen, 
salbey,  hirtzzungen  und  roßmarein  in  wein  zu  sieden  und  zu  trincken  bevohlen. 
Aber  es  habe  ihnen  nichts  geholffen.  Welches  alles  sie  auff  solche  antzeige 
nicht  verneinen  können,  sondern  eingestehen  müßen. 

Ebenmeßig  hat  Jacob  Reußen  dienstbub  am  24  julij  jüngsthin,  so  sie 
raths  befragt,  berichtet,  daß  sie  ihnen  an  seinem  gantzen  leib  betastet  und 
heimlichen  darbey  etzliche  worth,  so  er  nicht  verstehen  können  über  ihnen 
hero  gemurmelt  habe. 

Deßgleichen  berichtet  auch  Balthasar  Werckli  ein  meurer  zu  Zwingenbergk, 
das  er  uniengsten  von  wegen  seines  bruders  Christian  Wercklies  haus- 
frawen,  welche  im  haupt  jrr  und  fast  sinnloß  geweßen,  sie  raths  gesucht 
hette.  Habe  ihme  daruff  vielbemeltes  pulvers  drey  dottergen  voll  inzunehmen  ge- 
geben und  ihme  darfur  ein  halben  fl.  zu  lohn  abgeheischen.  Habe  ihr  seines 
behalts  umb  3  batzen  verehret. 

So  hat  auch  ihr  Peter  Krapp  der  bawbecker  zu  Zwingenbergk  ins  angesicht 
gesagt,  daß  sie  vor  IV2  jare  uf  sein  erfordern  zu  ihme  naher  Zwingenbergk 
kommen  und  ihme  seine  schwacheiten,  so  er  im  leib  gehabt  mit  Zurichtung 
eines  drancks  von  dreyen  roßmarin,    dreyen  jsopen,    dreyen    quendlin  und  dreyen 


Kleine  Mitteilungen.  299 

majoranstücken  und  denen  Zustellungen  des  pulvers  obberürts  in  dreyen  dottergen 
und  einem  dötgen  voll  geweihets  saltz  geholffen. 

Und  obgleich  sie  zuvorhin,  ob  sie  andern  mehr  zu  Zwingenbergk  verholfen 
habe,  befragt  geweßen  und  nichts  bekennen  noch  berichten  wollen,  jedoch  ist  sie 
auff  solch  beschehene  confrontation  dießes  alles  eingestendig  geweßen. 

Die  ohlhaut,  so  in  ihrem  hauß  befunden,  belangend,  sagt  sie  ihr  mann  hette 
darauß  hoßenbendell  machen  wollen.  Ob  nun  aber  dießes  also  war  sey,  wird 
dißmals  au  seinen  orth  gestellet. 

Als  sie  auch  zum  uberfluß  befragt  worden,  zu  was  ende  sie  die  hembder 
der  schwachen  leuth  gebrauche,  hat  sie  daruff  nichts  sagen  wollen,  allein 
daß  sie  gestanden,  die  leuthe  hettens  ihr  gebracht,  w^elche  aber  sie  nicht  wie  der 
Schmied  zu  Obern  Berbach,  deme  die  leuthe  auch  kleider  in  ihren  kranckheiten 
brächten  und  von  ihme  nicht  wiedergegeben  würden,  behielte,  sondern  den  leuthen 
wieder  zustellete.  Darob  denn  unschwer  und  leichtlich  abzunehmen,  daß  sie  über 
solche  hembder  auch  ihr  unchristliche  segen  oder  andere  verbottene  mittel  ge- 
brauchen thut,  nicht  zweivelnde,  da  sie  deßwegen  mit  mehrerem  ernst  befragt 
werden  solte,  sie  endtlichen  die  beschaffenheit  werde  antzeigen  müßen. 

Wie  sie  dann  auch  anderer  mehr  sachen  halben,  so  nicht  weniger  verdacht 
zaubereyen  uf  sich  haben,  in  specie  befragt  worden  und  nemblichen,  ob  nicht  war, 
daß  sie  vorm  jar  ein  newe  egen  ufm  feld,  so  Hans  Reißman  zu  Malchen  zu- 
gehörig geweßen,  diebisch  entfrembdet  und  in  ihrem  ofen  zu  eschen 
verbrandt  hette.  Hat  sie  es,  ohngeachtet  deßwegen  uf  der  centh  ihr  5  Pfund 
heller  ihrem  selbst  berichten  nach  zur  straff  erkanndt,  nicht,  daß  sie  es  gethan, 
gestendig  sein  wollen,  sondern  wendet  vor.  es  seye  ihr  mit  solcher  straff  unrecht 
geschehen,  da  doch  deßen  sie  niehmals  könn  überwießen  werden. 

So  ist  sie  auch  vermöge  des  gemeinen  geschreyes  der  zaubereyen 
offendtlichen  im  verdacht,  wie  sie  dann  sich  solte  haben  hören  laßen, 
da  man  mit  ihr  also  werde  fortfahren,  so  weren  auch  andere  mehr  zu  Malchen 
und  zu  Zwingenbergk,  die  auch  vort  müsten. 

Entzlichen  ist  sie  auch  befragt  worden,  ob  sie  nicht  einen  guthen  vor  rat  h 
an  geldt  hette  und  daßelbe,  wo  nicht  alles,  jedoch  das  mehrer  theil  von  denen 
leuthen,  so  sie  in  ihren  Schwachheiten  raths  ersucht,  verehrt  worden  were.  Hat 
sie  geandtwortet,  sie  wüste  nicht,  wie  viel  sie  daheim  in  ihrer  arcken  hette.  eins 
theyls  betten  ihr  die  leuthe  verehrt  und  sie  wol  gehalten,  auch  ihr  vetter  der 
marckmeister  zu  Darmbstatt  ihr  newlich  12  fl.  in  sechs  dutten  gegeben,  sowie  ge- 
dachter ihr  vetter  ihr  auch  umb  100  fl.,  so  sie  ihme  geliehen  und  dabevor  nach 
ihres  mans  todt  ihr  zu  theyl  worden  weren,  schuldig. 

Fernere  verdechtige  umbstende  hat  dißfals  von  ihr  nicht  erkundiget  werden 
mögen.'' 

Folgenden  Tags,  am  2.  August  1612,  sandte  der  Keller  Anthonius  Saarbrück 
die  Protokolle  an  die  fürstliche  Regierung  nach  Darmstadt.  In  seinem  Begleit- 
schreiben gibt  er  seiner  persönlichen  Ansicht  über  die  Angelegenheit  ausführ- 
lichen Ausdruck,  und  diesen  Bemerkungen  entnehmen  wir  noch  folgendes: 

„Was  nun  gegen  ihr  ferner  für  zu  nehmen  sein  mochte,  daß  stehe  bey  Ewern 
•Gestrengen,  Ernvesten  und  Großgünstigen,  hochvernünftigem  bedencken  und  ist 
zwar  meines  erachtens  dieser  frawen  verbrech  nicht  allein  nicht  gering,  sondern 
auch  sehr  verdächtig  anderer  mehr  hoch  straffbarlicher  sachen,  wie  uß  ihrem 
bekentnis  unschwer  abzunehmen  und  in  der  verheer  ab  ihrer  persohn  geberden, 
reden  und  antwort,  besonderlich  deren  verbrendten  egen  halben  beschehener 
Verneinung  vermerckt  worden  ist.      Und    dieweil    sie    eine    alte    und    fast    ab- 


300  MüUer: 

gelebte  fraue  ist,  so  wehre  nötig,  waß  gegen  sie  ferner  in  einem  oder  ander 
wege  furzunehmen,  daß  es  fürderlich  beschehen  möchte.  Es  ist  gestern  ihr 
vetter  der  marckmeister  zu  Darmbstad  allhier  bej  mir  gewesen  und  begeret, 
ihnen  zu  ihr  zu  laßen,  zu  hören,  was  ihr  gelegenheit  sein  möge.  Ich  habs  aber 
noch  zur  zeit  bedenckens  gehabt,  den  aditum  zu  willigen,  sondern  zuvorderst  die 
eingenohmene  gelegenheit  E.  G.  H.  und  G.  zu  schreiben  wollen.  Ohne  ist  auch 
nicht,  so  viel  ich  bißhero  gehöret,  daß  sie  fast  von  jederman  deren 
zeubereien  verdächtig  gehalten  würdt  und  da  derhalben  wider  sie  eine  In- 
quisition angestellet  und  etzliche  uß  der  gemeinde  zu  Malchen,  auch  hiesgen  ort 
derwegen  verhöret  werden  sollen,  mochte  vielleicht  der  verdacht  verificirt 
werden  und  andere  mehr  ins  spiel  gerathen.  Wie  sie  dann  sich  solte  haben  ver- 
nehmen laßen,  da  man  mit  ihr  also  procediren  werde,  so  müsten  auch  andere 
mehr  vort.  Alß  aber  ich  dieses  ihr  furgehalten,  hatte  sie  es  nicht  gestehen  wollen. 
Gedachter  marckmeister  hat  sich  erbotten  vor  sie  burgeschaft  zu 
leisten  und  sie  zu  sich  in  sein  hauß  zu  nehmen  und  aufsieht  zu  haben,  damit 
sie  sich  inskünftig  fernem  artzens,  segens  und  dergleichen  gentzlich  enthalten 
solte.  Stehet  also  dießes  wohl  zu  bedencken.  Und  da  sie  dies  mals  der  haften  uf  be- 
melte  bürgschaft  wider  erlaßen  werden  solte,  so  konde  man  ihr  ihres  Verbrechens 
halben  von  dem  inventirten  gelt,  welches  sie  durch  solch  ihr  unzimbliches  artzen 
und  segen  erobert,  wohl  eine  zimbliche  summe  abnehmen  und  dem  fisco 
heimweyßen,  doch  E.  G.  E.  H.  und  G.  hiermit  nichts  vorgeschrieben. 

So  bin  ich  auch  vor  dem  pfarhern  zu  Niderbernbach  vor  geweßen,  berichtet, 
daß  Madern  Roß  zu  Oberbernbach  derae  gleichfals  sein  lange  zeit  ver- 
übtes artzen  und  segen  bey  Vermeidung  hoher  straffe  verbotten  worden,  seither 
sich  deß  artzens  und  segens  widerumb  undemohramen  und  also  solchen  gesellen 
fast  unmeglichen  ist,  sich  deßen  gentzlich  zu  enthalten.  Stehet  also  zu  bedencken, 
ob  nicht  auch  solcher  gestalt  gegen  ihme  mit  gefenglicher  Verhaftung  und  nach- 
suchung in  seinem  hauß  verfharen  werden  selten.  Erwarten  hierauf  E.  G.  H. 
und  G.  großgünstigen  bevelchs. 

Sonsten  werde  ich  auch  berichtet,  daß  gedachtes  Maderns  fraue  und  Leonhard 
Franck  zu  Oberbernbach,  so  itzo  flüchtig  seind,  mit  einander  zu  Eychen  bey 
Gernßheim  sich  verhalten  soln  und  da  deme  also,  konden  sie  der  ends  wohl  nider- 
geworffen  und  auf  begeren  gegen  einen  reverß  versehentlich  in  unseres  gnädigen 
fürsten  und  herru  haft  gebracht  werden." 

Was  die  Darmstädter  Regierung  auf  diese  Vorschläge  geantwortet  hat,  ist 
dem  Wortlaut  nach  nicht  bekannt.  Soviel  steht  aber  fest,  daß  Margareta  Berg- 
sträßer  spätestens  am  10.  August  1612  nach  ordnungsmässig  geleisteter  Bürgschaft 
aus  dem  Gefängnis  entlassen  und  nach  ihrem  Heimatsort  Malchen  zurückgebracht 
worden  ist. 

Hiermit  sind  wir  am  Schluss  der  Akten  angekommen,  soweit  sich  deren 
Inhalt  auf  Margareta  Bergsträßer  bezieht.  Wir  stehen  nun  vor  der  Frage,  welches 
das  Ergebnis  der  Untersuchung  war,  die  ja  für  die  Angeschuldigte  glimpflich 
genug  verlaufen  ist.  Wenn  wir  die  Zeugenaussagen,  das  teilweise  Geständnis  und 
das  Ergebnis  der  Haussuchung  noch  einmal  an  uns  vorüberziehen  lassen,  so  läßt 
sich  ein  ziemlich  sicheres  Bild  gewinnen,  wieweit  der  Vorwurf  von  dem  „teuffelischen 
segen  und  warsagen,  auch  artzen"  gegen  Margareta  Bergsträßer  begründet  war. 
Zunächst  ist  gleichsam  als  Milderungsgrund  hervorzuheben,  dass  das  Treiben  der 
Malchener  Kräuterfrau  durchaus  nicht  als  isolierte  Erscheinung  dasteht,  sondern 
dass  die  Untersuchung  zum  mindesten  den  Verdacht  ähnlicher  Handlungen  noch 
auf  verschiedene  andere  Personen   geworfen  hat.     Von   ihrem  eigenen  Manne  hat 


Kleine  Mitteilungen.  301 

Margaretu  Bergsträßer  die  Arzneikunst  und  den  Gebrauch  der  Donneraxt  erlernt. 
Möglich  also,  dass  das  Ehepaar  dereinst  gemeinsam  praktiziert  hatte.  Auf  ganz 
ähnliche  Art  wie  sie,  kurierte  auch  Madern  Roß,  der  Schmied  aus  Ober-Beerbach. 
Freilich  hat  sich  jener  bei  seiner  lichtscheuen  Tätigkeit  mit  dem  Besehen  der 
Leibwäsche  und  der  Kleidungsstücke  seiner  Patienten  allein  nicht  begnügen  können, 
sondern  die  vertrauensvoll  übergebenen  Stücke  einfach  für  seine  Zwecke  zurück- 
behalten, wodurch  er  seine  Anhänger  nicht  nur  auf  feine  Art  betrogen,  sondern 
auch  noch  fremdes  Eigentum  in  grober  Weise  unterschlagen  hat.  Als  Wennig 
Weicker  vom  Hain,  dem  heutigen  Hahn  bei  Pfungstadt,  wegen  seiner  kranken 
Mutter  zu  Margareta  Bergsträßer  kam,  will  sie  ihn  zum  Pfarrer  nach  Bickenbach 
geschickt  haben.  Dass  der  dortige  Pfarrer  der  abergläubisch  gesinnten  Patientin  als 
Jünger  Christi  helfen  sollte,  ist  nur  schwer  zu  glauben.  Er  stand  offenbar  ebenfalls 
im  Geruch  der  Zauberei. 

Die  Tätigkeit  der  Margareta  Bergsträßer  setzt  sich  aus  einer  grösseren  Reihe 
einzelner  Gepflogenheiten  zusammen.  Sieht  man  von  dem  ihr  wohl  nur  fälschlich 
zur  Last  gelegten  Kristallensehen  und  dem  nicht  bewiesenen  Gebrauch  der  Aalhaut 
ab,  so  bleibt  im  wesentlichen  noch  folgendes  Bild  ihres  abergläubischen  Treibens 
übrig.  Neben  dem  Segensprechen  („Du  liegest  allhier"  usw.)  erscheint  sie  des 
Gebrauchs  der  Donneraxt  bei  Pferdekrankheiten  und  brustleidenden  Frauen  über- 
führt. Kräuter  hat  sie  nicht  nur  als  Pulver,  sondern  auch  zu  Tränken  und  bei 
Abwaschungen  verwenden  lassen.  Erwiesen  ist  das  Besehen  von  Wäschestücken, 
ferner  von  Urin,  so  bei  dem  Spitalmeister  Wilhelm  Buchen  zu  Hofheim  (heute 
Philippshospital  bei  Goddelau)  und  einem  Patienten  von  Dieburg.  Was  den 
Gebrauch  der  Peterwurz  bei  Fieber  betrifft,  so  gestand  sie,  dass  sie  dieses  Gewächs 
den  Leuten  „ohne  segensprechen  anhenge  und  dieselbe  jars  im  majo  grabe." 
Wildblumen  hat  sie  verordnet,  wenn  jemand  die  Hand  oder  den  Fuss  verstaucht 
hatte,  und  zwar  legte  sie  dieselben  „in  warmer  maibutter"  auf.  „Schmaltz  aus 
den  rothen  Schnecken"  sollte  bei  Lahmheit  helfen  und  Öl  bei  Fliegenstichen  be- 
wirken, dass  weder  bei  Mensch  noch  Vieh  Maden  entstünden.  Endlich  hat  sie 
„weißen  hundstreck  gebrauchet,  darmit  sie  die  schwache  kinder  uf  fewer  kolen 
bereuche."  Wichtig  ist,  dass  Margareta  Bergsträßer  ihr  Tun  möglichst  geheim 
hielt  und  den  Segen  niemals  in  Gegenwart  eines  Zeugen  hersagte,  es  sei  denn 
so,  dass  die  Worte  nicht  verstanden  werden  konnten. 

Es  sind  im  ganzen  acht  Einzelfälle,  deren  Margareta  Bergsträßer  als  überführt 
anzusehen  ist: 

1.  Die  Mutter  Wennig  Weickers  aus  Hain  (Hahn)  bei  Pfungstadt,  an  Brust- 
schmerzen und  Schwäche  leidend,  hatte  ihr  Hemd  geschickt.  Margareta  Berg- 
sträßer gebrauchte  daraufhin  den  Segen,  verordnete  Pulver  und  empfing  für  ihre 
Tätigkeit  ein  Viertel  Eier.     Der  Zustand  der  Kranken  hat  sich  angeblich  gebessert. 

2.  Michel  Spieß  zu  Wallerstädten  (Kreis  Gross-Gerau)  hat  Margareta  Berg- 
sträßer wegen  Lahmheit  um  Rat  befragt.  Sie  hat  ihm  geholfen,  nachdem  er  ihr 
sein  Hemd  geschickt.  Befriedigt  von  diesem  Erfolg  hat  Michel  Spieß  den  Peter 
Lehn  aus  Zwingenberg,  der  mit  demselben  Leiden  behaftet  war,  zu  der  Malchener 
weisen  Frau  gesandt. 

3.  Peter  Lehn,  Bürger  und  Ratsperson  aus  Zwingenberg,  liess  Margareta 
Bergsträßer  erst  durch  seinen  Sohn  konsultieren  und  kam  dann  persönlich.  Nachdem 
der  Segen  über  das  Hemd  gesprochen  war,  musste  der  Patient  den  Kräutertrank 
und  das  Pulver  einnehmen  und  seine  lahmen  Beine  abwaschen.  Die  Kur  hat 
nichts  geholfen.  Peter  Lehn  hat  seine  Lahmheit  behalten,  und  der  dafür  ent- 
richtete Gulden  war  zum  Fenster  hinausgeworfen. 


302  Müller,  Hellwig: 

4.  Dienstbub  Jörg  bei  Jacob  Reußen  in  Zwingenberg  war  am  ganzen  Leib, 
an  Armen  und  Füssen  kraftlos.  Diesen  Kranken  hat  Margareta  Bergsträßer  an 
seinem  Leib  von  Kopf  bis  zu  Füssen  betastet,  etliche  Worte  heimlich  über  ihn 
gemurmelt,  die  der  Patient  nicht  verstehen  konnte  und  ihm  Pulver  verordnet.  Die 
Kur  kostete  V2  A-  und  hat  dem  Kranken  geholfen. 

5.  Bei  Wilhelm  Buchen,  Spitalmeister  zu  Hofheim,  der  an  Schwachheit  litt, 
hat  Margareta  Bergsträßer  den  Urin  besichtigt,  der  ihr  durch  eine  Frau  überbracht 
worden  war.  Ob  das  verordnete  Pulver  und  der  Trank  Erfolg  hatten,  wird  nicht 
berichtet. 

6.  Bei  Wülcker  von  Dieburg,  an  Schwachheit  leidend,  hat  Margareta  Bergsträßer 
den  Urin  besichtigt.     Resultat  unbekannt. 

7.  Die  Frau  Christian  Wercklis  zu  Zwingenberg  war  ^im  haupt  irr  und  fast 
sinnlos".  In  diesem  Fall  wurde  Pulver  verordnet  und  dafür  Y2  A-  gefordert. 
Ergebnis  der  Kur  unbekannt. 

8.  Endlich  ist  Peter  Krapp,  dem  Baubecker  zu  Zwingenberg,  wegen  seiner 
Schwachheit  im  Leib  der  übliche  Trank  verordnet  worden.  Auch  hier  fehlen 
Einzelheiten  und  Angaben  über  die  Wirkung. 

Die  eben  hervorgehobenen  acht  Einzelfälle  zeigen  deutlich,  dass  Margareta 
Bergsträßer  bei  leichteren  Krankheiten  entweder  nur  den  Trank,  'welcher  durch 
alle  Glieder  des  Menschen  gehe  und  helfe',  oder  nur  ihr  Pulver,  bei  schwereren 
Leiden  dagegen  beide  Mittel  zugleich  anzuwenden  pflegte.  Es  ist  nicht  un- 
interessant, etwas  näher  auf  die  Zusammensetzung  dieser  Medikamente  einzugehen. 
Bezüglich  des  Pulvers  erklärte  Margareta  Bergsträßer  selbst,  dass  sie  Patienten, 
deren  Urin  trüb  sei,  ein  Gemisch  'in  dreyen  kleinen  düttergen  in  dreyen  eyern' 
eingebe,  das  aus  'barbwinckelkraut,  peterwurtz  und  dann  einem  schmalen  kraut' 
bestehe,  das  sie  aber  nicht  nannte,  sondern  nur  nach  einigen  Merkmalen  beschrieb. 
Dem  Dienstbub  Jörg  hat  sie  'drey  eyer  und  puIver  in  dreyen  kleinen  döttergen 
zugestelt,  die  er  des  morgens  geßen'  und  ähnlich  lauten  die  Verordnungen  bei 
andern  Kranken.  Was  den  Trank  anbetrifft,  so  wurde  Wennig  Weicker  empfohlen 
etliche  Kräuter,  nämlich  Rosmarin,  Ysop  und  Majoran  zu  nehmen,  einen  Trank  daraus 
zu  sieden  und  ihn  seiner  Mutter  zum  Trinken  zu  geben.  Ähnlich  sollte  Peter  Lehn  ver- 
fahren, der  auf  ihren  Rat  Ysop,  Salbei,  Hirtszungen  [=  Hirschzungen,  Scolopendrium 
off.,  s.  H.  Marzell,  Die  Tiere  in  dt.  Pflanzennamen  1913,  S.  39]  und  Rosmarin 
gesotten  und  getrunken,  auch  seine  lahmen  Beine  damit  gewaschen,  ja  selbst  noch 
das  Pulver,  aber  alles  ohne  Erfolg,  eingenommen  hat.  Die  gleichzeitige  Anwendung 
des  Pulvers  und  des  Trankes  wurde  endlich  auch  bei  Peter  Krapp  zu  Zwingen- 
berg und  dem  Hofheimer  Spitalmeister  verschrieben.  Dem  ersteren  hat  sie  durch 
'Zurichtung  eines  drancks  von  dreyen  roßmarin,  dreyen  jsopen,  dreyen  quendlin 
und  dreyen  majoranstücken'  sowie  durch  Pulver  'in  dreyen  döttergen  und  einem 
dötgen  voll  geweihets  saltz'  geholfen.  Letzterer  aber  bekam  'ein  pulver  in  dreyen 
döttergen,  dieselbe  in  dreyen  eyern  einzunehmen'  geschickt,  dazu  'einen  tranck 
von  3  roßmarein,  3  majoran  und  3  ysopen  stücken  in  einer  echtmas  wein  zu 
sieden  und  zu  trincken  zugerichtet'. 

Als  Ergebnis  des  gesamten  Untersuchungsmaterials  darf  man  sagen,  dass 
Margareta  Bergsträßer,  wie  dies  auch  sonst  regelmässig  der  Fall  war,  Spezialistin 
für  nur  wenige,  ganz  besonders  geartete  Krankheiten  gewesen  ist.  Nur  ein  ein- 
ziges Vorkommnis,  der  angebliche  Diebstahl  der  Egge,  fällt  ausserhalb  des  ge- 
wonnenen Rahmens.  Hans  Frank  zu  Malchen  hatte  von  Hans  Reißen  (Reißman) 
daselbst  eine  neue  Egge  zur  Kornsaat  entlehnt.  Nachdem  diese  aber  dem  Ent- 
leiher abhanden  gekommen  war,  kam  Margareta  Bergsträßer  in  den  Verdacht,  das 


Kleine  Mitteilungen.  30S 

Gerät  gestohlen  und  in  ihrem  Stubenofen  zu  Asche  verbrannt  zu  haben.  Schon 
1611  ist  die  Beschuldigte  deswegen  auf  der  Zent  zu  Zwingenberg  mit  5  Pfund 
Heller  bestraft  worden.  Nach  wie  vor  hat  sie  diese  Tat  in  Abrede  gestellt,  mit 
der  festen  Behauptung,  dass  sie  zu  Unrecht  bestraft  worden  sei  und  niemals  eines 
solchen  Delikts  überführt  werden  könne.  Möglich  also,  dass  in  diesem  Punkt 
eine  ungerechtfertigte  Verurteilung  untergelaufen  war.  "Wie  dem  aber  auch  sein 
mag,  so  erscheint  das  sonstige  Beweismaterial  schwer  belastend  für  Margareta 
Bergsträßer.  Wenn  sie  gleichwohl  wegen  ihres  Tun  und  Treibens  gelind  davon 
gekommen  ist,  so  hatte  sie  diese  Behandlung  wohl  in  erster  Linie  dem  ver- 
ständigen Verhalten  der  landgräflich  hessischen  Regierung  zu  danken.  Denn 
wenngleich  nicht  immer,  so  hat  man  sich  dort  zur  Zeit  der  Hexenverbrennungen 
doch  im  ganzen  weiser  Zurückhaltung  beflissen  und  nach  Möglichkeit  verhindert, 
dass  —  um  ein  naheliegendes  Bild  zu  gebrauchen  —  die  Flammen  der  Scheiter- 
haufen benachbarter  Territorien  auf  das  landgräfliche  Gebiet  überschlugen.  Auch 
der  vorstehende  Fall  bestätigt  diese  weise  Politik,  die  solche  abergläubische  Ver- 
irrungen  des  menschlichen  Denkens  lieber  mit  Nachsicht  ertrug,  als  sie  mittels 
gewaltsamer  Schreckensmassregeln,  die  für  alle  Zeiten  einen  unauslöschlichen 
Makel  zurückgelassen  hätten,  auszutilgen. 

Darmstadt.  Wilhelm    Müller. 


Misshandlung  eines  Hexenmeisters. 

Der  Hexenglaube  war  Anlass  einer  Misshandlung,  welche  am  6.  April  1909 
ihre  Sühne  vor  dem  Schöffengericht  Saarburg  fand.  Es  handelt  sich  um  das 
Strafverfahren  gegen  Susanna  und  Katharina  Peters.  Für  die  liebenswürdige 
Übersendung  der  Akten  D.  25/09  bin  ich  dem  Herrn  Vorsitzenden  des  Schöffen- 
gerichts zu  besonderem  Danke  verpflichtet. 

Das  Schöffengericht  verurteilte  die  Angeklagten  wegen  Beleidigung  zu  je 
10  Mk.  Geldstrafe  und  wegen  gefährlicher  Körperverletzung  zu  je  14  Tagen  Ge- 
fängnis, sprach  sie  dagegen  von  der  Anklage  der  Bedrohung  frei. 

Der  Sachverhalt  ergibt  sich  aus  den  folgenden  Urteilsgründen: 

Am  21.  Februar  d.  J.  kam  die  Angeklagte  Katharina  Peters  in  die  Wohnung 
des  Zeugen  Meyer  und  forderte  ihn  auf,  am  nächsten  Tage  zu  ihnen  nach  Serrig 
zu  kommen,  um  ihnen  ein  Stück  Vieh  abzukaufen.  Als  Meyer  am  nächsten  Tage 
in  die  Wohnung  des  Vaters  der  Angeklagten  kam,  traf  er  nur  diese  beiden  An- 
geklagten an;  ihr  Vater  war  nach  ihrer  Angabe  im  Weinberg  beschäftigt.  Da  sie 
erklärten,  das  Handelsgeschäft  könne  auch  ohne  den  Vater  geschlossen  werden, 
folgte  Meyer  den  Angeklagten  auf  deren  Aufforderung  in  den  Viehstall.  Er  fragte, 
was  mit  dem  dort  befindlichen,  sehr  schlecht  aussehenden  Vieh  geschehen  sei, 
worauf  die  Katharina  Peters  mit  einer  Heugabel,  die  mitangeklagte  Susanna  Peters 
mit  einer  Mistgabel  auf  ihn  losgingen,  indem  beide  schrien,  er  und  sein  Sohn 
habe  das  Vieh  behext.  Sie  schlugen  und  stachen  auf  den  Zeugen  los,  der  sich 
nur  mit  Mühe  durch  Vorhalten  des  Armes  vor  dem  Angriff"  schützen  konnte. 
Beide  Angeklagte  hieben  und  stachen  mehrmals  in  den  Arm.  Der  Arm  schwoll 
kurz  darauf  so  an,  dass  Meyer,  der  sich  nach  der  Tat  in  ein  Wirtshaus  begeben 
hatte,  den  Arm  nicht  in  die  Tasche  stecken  konnte,  um  seine  Geldbörse  heraus- 
zuholen. Die  Stiche  waren  ungefährlich,  jedoch  dauerte  es  14  Tage,  bis  sie  ge- 
heilt waren.  Meyer  erhielt  auch  noch  Schläge  auf  den  Kopf,  die  jedoch  durch 
die    Kopfbedeckung    abgeschwächt    wurden.      Die    Katharina    Peters     rief    ihrer 


304  Hellwig,  Höfler: 

Schwester  Susanna  zu:  „Stech'  ihn  tot!"  Letztere  rief:  „Wenn  der  Vater  da 
wäre,  würde  er  ihn  totschiessen."  Erst  als  der  Zeuge  Meyer  in  die  Tasche 
griff  und  drohte,  mit  einem  Revolver  zu  schiessen,  liessen  die  Angeklagten  von  ihm  ab. 

Dieser  Sachverhalt  ist  durch  das  glaubwürdige,  eidliche  Zeugnis  der  Zeugen 
Meyer  und  Wagner  sowie  das  Attest  des  praktischen  Arztes  Dr.  Getto  als  er- 
wiesen erachtet  worden. 

Die  Behauptung,  Meyer  habe  das  Vieh  verhext,  d.  h.  einen  nach  Ansicht  der 
Angeklagten  möglichen,  absichtlichen,  übernatürlichen  Einfluss  auf  dasselbe  zum 
Nachteil  seiner  Gesundheit  ausgeübt,  enthält  eine  Beleidigung.  Der  erforderliche 
Strafantrag  ist  gestellt.  Die  bei  der  Körperverletzung  benutzten  Werkzeuge  sind 
in  der  Art  ihrer  Anwendung  gefährlich  im  Sinne  des  §  223  a  St.  G.  B. 

Von  der  Anklage  der  Bedrohung  waren  beide  Angeklagte  freizusprechen, 
da  hierfür  Belastendes  sich  aus  der  Hauptverhandlung  nicht  ergeben  hat. 

Die  Unbescholtenheit  der  Angeklagten,  ihre  offenbare  geistige  Minderwertig- 
keit, sowie  der  Umstand,  dass  sie  wohl  tatsächlich  an  die  Möglichkeit  des  Hexens 
glaubten,  hatten  es  angemessen  erscheinen  lassen,  ihnen  bei  der  gefährlichen 
Körperverletzung  mildernde  Umstände  zuzubilligen.  Jedoch  habe  sich  das  Gericht 
im  Hinblick  auf  die  Verschlagenheit,  mit  der  sie  den  Verletzten  zwecks  Aus- 
führung der  Tat  in  den  Stall  zu  locken  verstanden  hatten,  und  unter  Berücksichti- 
gung der  Erheblichkeit  der  Verletzungen  nicht  in  der  Lage  gesehen,  auf  eine 
Geldstrafe  zu  erkennen.  Aus  denselben  Erwägungen,  welche  für  die  Zubilligung 
mildernder  Umstände  massgebend  gewesen  seien,  wäre  auch  bezüglich  der  Be- 
leidigung eine  geringe  Geldstrafe  angemessen  gewesen. 

Gegen  dieses  Urteil  legte  der  Amtsanwalt  Berufung  ein,  weil  ihm  das  Straf- 
mass zu  niedrig  war.  Die  zweite  Strafkammer  zu  Trier  wies  durch  Urteil  vom 
18.  Juni  1909  (2  N  5(3/09)  die  Berufung  des  Amtsanwaltes  zurück.  In  den  sehr 
knappen  Urteilsgründen  wurde  lediglich  ausgeführt,  dass  die  tatsächlichen  Fest- 
stellungen und  die  rechtliche  Würdigung  durch  das  Schöffengericht  vollkommen 
zutreffend  seien  und  dass  auch  das  Strafmass  aus  den  von  dem  Schöffengericht 
angeführten  Gründen  angemessen  erscheint. 

Hervorgehoben  mag  werden,  dass  auch  vor  der  Strafkammer  Susanna  Peters 
immer  noch  in  Abrede  stellte,  den  Meyer  geschlagen  zu  haben,  während  Katharina 
Peters  jetzt  wenigstens  zugab,  ihn  einmal  mit  dem  Stock  der  Heugabel  auf  den 
Arm  geschlagen  zu  haben. 

Das  Urteil  der  Strafkammer  wurde  rechtskräftig.  Beide  Verurteilten  reichten 
'nunmehr  ein  Gnadengesuch  ein,  in  welchem  sie  um  Erlass  der  Strafe  baten. 
Dieses  von  dem  Gemeindevorsteher  und  dem  Pfarrer  befürwortete  Gnadengesuch 
führte  schliesslich  dazu,  dass  durch  Allerhöchsten  Erlass  dem  Antrage  des  Justiz- 
ministers entsprechend  die  erkannte  14tägige  Gefängnisstrafe  in  eine  Geldstrafe 
von  30  Mk.  umgewandelt  wurde. 

Mit  dem  Vorsitzenden  des  Schöffengerichtes,  welcher  seinerzeit  es  ausdrück- 
lich abgelehnt  hatte,  die  bedingte  Begnadigung  der  Angeklagten  zu  empfehlen, 
bin  auch  ich  der  Meinung,  dass  es  besser  gewesen  wäre,  wenn  dem  Gnadengesuch 
nicht  entsprochen  worden  wäre. 

Es  ist  allerdings  richtig  und  auch  von  mir  wiederholt  betont  worden,  dass 
der  Hexenglaube  bei  der  Beurteilung  von  Straftaten,  welche  von  Abergläubischen 
gegen  angebliche  Hexen  und  Hexenmeister  begangen  werden,  in  hohem  Grade  als 
strafmildernd  in  Betracht  gezogen  werden  muss.  In  vorliegendem  Falle  war  aber 
nicht  nur  zu  berücksichtigen,  dass  sich  die  Angeklagten  einer  objektiv  recht 
•erheblichen   gefährlichen    Körperverletzung  schuldig  gemacht    hatten,    auf   welche 


Kleine  Mitteilungen.  305 

das  Gesetz,  wenn  nicht  gerade  infolge  des  Hexenglaubens  der  Angeklagten 
ihnen  mildernde  Umstände  zugebilligt  worden  wären,  eine  zweimonatliche 
Gefängnisstrafe  als  Mindeststrafe  androht,  sondern  dass  auch  nach  der  sub- 
jektiven Seite  hin  das  Verhalten  der  Angeklagten  keineswegs  als  besonders 
milde  zu  beurteilen  erscheint:  sie  haben  nicht  nur  in  hinterlistiger  Weise  den 
Meyer  in  den  Stall  gelockt  und  ihn  dort  hinterrücks  überfallen,  sie  haben  nicht 
nur  dabei  Äusserungen  getan,  aus  welchen  man  annehmen  kann,  dass  sie  ihn 
am  liebsten  totgeschlagen  hätten,  sondern  sie  haben  auch  von  Anfang  an  die 
Tat  in  frecher  Weise  vollkommen  in  Abrede  gestellt  und  sich  sogar  nicht  ge- 
scheut, den  von  ihnen  hinterlistig  Überfallenen  in  niederträchtiger  Weise  zu  be- 
schuldigen, er  habe  sich  die  —  in  Wirklichkeit  von  ihnen  beigebrachten  —  er- 
heblichen Verletzungen  selbst  beigebracht,  um  sie  zu  Unrecht  zu  beschuldigen  und 
hineinzulegen.  Auch  in  ihrem  Gnadengesuch  suchen  sie  das  Verhalten  des  Meyer, 
welcher  nach  der  Angabe  des  Schöffenrichters  ein  durchaus  anständiger,  an- 
gesehener Mann  ist,  als  betrügerisch  und  verwerflich  hinzustellen  und  behaupten 
im  direkten  Gegensatz  zu  den  klaren  Ergebnissen  der  Beweisaufnahme  in  I.  und 
II.  Instanz,  Meyer  habe  sich  des  Hausfriedensbruches  schuldig  gemacht,  indem  er 
auf  ihre  Aufforderung  hin  den  Stall  nicht  verlassen  habe,  während  er  in  Wirk- 
lichkeit doch  von  ihnen  in  den  Stall  hineingelockt  war  und  sich  mit  Mühe  nur 
durch  die  Flucht  ihren  Misshandlungen  hatte  entziehen  können.  Bei  dieser  Sach- 
lage wäre  es  meines  Erachtens  viel  eher  angebracht  gewesen,  gegen  die  beiden 
Angeklagten  noch  nachträglich  weitere  Anklage  wegen  Verleumdung  und  wissent- 
lich falscher  Anschuldigung  zu  erheben,  als  ihnen  die  selbst  bei  Berücksichtigung 
aller  mildernden  Umstände  noch  eher  zu  geringe  als  zu  hohe  Strafe  von  zwei 
Wochen  Gefängnis  in  eine  Geldstrafe  von  30  Mk.  umzuwandeln. 

Berlin-Friedenau.  Alfred  Hellwig. 


Gebäcke  und  Gebildbrote. 

(Pollweck  und  Osterwolf.) 

(Mit  18  Abbildungen.' 

In  jüngster  Zeit  werden  verschiedene  Versuche  gemacht,  die  Gebäckformen 
auch  auf  romanischem  Sprachgebiete  in  den  Kreis  volkskundlicher  Forschung  zu 
ziehen;  zwei  solche  Arbeiten  liegen  gegenwärtig  vor^).  Über  eine  derselben  wollen 
wir  uns  hier  äussern,  die  andere  einer  späteren  Besprechung  vorbehaltend. 

Die  Pemmatologie,  die  Lehre  von  den  Gebildbroten,  greift  Celos  auf,  um  an 
der  Hand  von  einigen  Hotel-  oder  Bäckerladenbroten  aus  Venedig,  bzw.  aus  deren 
Formen  deren  symbolischen  Hintergrund  zu  erforschen,  wobei  der  Wunsch  leicht 
Vater  des  Gedankens  werden  kann. 


1)  Georges  Celos  (Paris),  Le  paiu  brie  en  Venetie.  Ouvrage  contenant  26  figures 
dessinees  par  l'auteur  d'apres  les  documents  originaux.  Paris,  Jouve  et  Cie.  1912. 
119  S.  2  Fr.  —  Karl  Bauer  (Elberfeld),  Gobäckbezeichnungen  im  Gallo-Romanischen. 
Dissertation  zur  Erlangung  der  Doktorwürde  bei  der  pliilos.  Fakultät  der  Grossherzogl. 
Hess.  Ludwigs-Universität  zu  Giessen  i'Darinstadt  1913). 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1914.    Heft  3.  20 


•606 


Höfler: 


Wir  haben  schon  in  unserer  Abhandlung  1905  'Volkstümliche  Gebäckformen' 
(Archiv  f.  Anthropologie,  Neue  Folge  3,  310)  uns  über  die  Grundlagen  zur  Pemmato- 
logie  ausgesprochen    und  darin  folgende  Prämissen  aufgestellt:    a)  eine  möglichst 


6a 


Gb 


Abb.  1.    Paiii  pliallique  aus  Caen   im  Profil.    —   Abb.  2.    Ausgerolltft  Form   aus  Caen.    — 

Abb.  3.    Pain  phallique  aus  Caen.  —  Abb.  4.    Pain  pballique  mit  vier  Phallen.  —  Abb.  5. 

Pain  phallique  mit  zwei  Phallen.  —  Abb.  Ga  und  6b.    Pain  phallique  aus  Caen. 

grosse  Materialsammlung;  b)  Darstellung  des  volkskundlichen  Bodens,  auf  dem 
das  Gcbildbrot  volksüblich  ist,  d.  h.  Rücksicht  auf  Ort,  Zeit,  Volksbrauch,  Volks- 
namen, Kulturzustand,  Geschichte.  Solange  man  z.  B.  bei  der  Deutung  der  volks- 
üblichen   'Brctzel'    nur  die    (Ring-  oder  Rad-)  Form  berücksichtigte,  waren  Fehl- 


Kleine  Mitteilungen. 


307 


Schlüsse  sehr  naheliegend;  so  geht  es  auch  C.  mit  den  von  ihm  als  satyrischer 
oder  tierischer  Penis  aufgefassten  'Volutes',  die  wir  unter  'Schneckengebäck' 
(oben  13,  391)    als  Teile  des  Hakenkreuzes  deuteten,    und  zwar  auf  Grund  obiger 


if. 


\s. 


Abb.  7—8.   Italienisches  Brot.   —   Abb.  9—11.   Brot  aus  Caen.  —    Abb.  12—13.   Brot  aus 

Paris.  —  Abb.  14.     Osterwolf  oder  Pollweck.    —    Abb.  15.    Längsseite   von  Abb.  14.    — 

Abb.  16—18.   Maisbrot  aus  Malcesine  am  Gardasee  (nach  Prof.  R.  Andree). 


Voraussetzungen.  Wie  ein  Bücker  (auch  in  der  Antike)  dazu  kommen  sollte,  den 
ganz  aussergewöhnlichen,  volutenartigen,  fast  pathologischen  Satyren-Phallus,  den 
wir  nur  aus  ganz  wenigen  Vasen-  und  Obeliskenbildern  kennen,  zum  Vorwurf 
•eines  Volute-Gebäckes  zu  machen,  ist  unfassbar.  Bei  solchen  Gebäcksymbolen 
liält  sich  doch    das  Volk  sehr,    fast    zu    sehr   an    das   Reale,    Normale   und  Her- 

20* 


308  Höfler: 

gebrachte,  durch  die  Tradition  Geheiligte.  Das  Schneckengebäck  (Volute)  knüpft 
sich  vor  allem  an  die  Neujahrszeit  an  und  hat  seine  formelle  Parallele  in  dem 
Hakenkreuz  (Schmuck  und  Apotropaion,  Glückwunschzeichen,  auch  Schicksals- 
zeichen), das  mit  der  sexuellen  Fruchtbarkeit  keinen  direkten,  formellen  Zusammen- 
hang hatte,  noch  hat. 

Leider  kümmern  sich  die  Franzosen  zu  wenig  um  deutsche  Arbeiten,  die  schon 
längst  ihnen  vorauseilen.  In  der  Zeitschrift 'Pro  Alesia'  (2,  210,  oben  19,  243))  steht 
z.  B.  eine  Abhandlung  'Le  pain  d'Alesia';  in  dieser  gelingt  es  dem  Verfasser,  ohne  die 
eigentliche  reale  Form  dieses  Brotes  überhaupt  sichergestellt  zu  haben,  das  er  nur 
aus  der  Literatur  kennt,  dasselbe  in  formelle  Verbindung  zu  bringen:  a)  mit  dem 
englischen  Hot-Cross-Bun,  b)  dem  Agapebrote  der  ersten  Christen,  c)  dem  kel- 
tischen Sonnenrade,  d)  dem  Mondhorn,  e)  der  Krone,  f)  dem  Hakenkreuze,  g)  den 
sizilianischen  niylloi  (Spaltgebäcke)  —  diese  Vielseitigkeit  eines  einzigen  Lokal- 
gebäckes in  Alesia  übertrifft  alles  Dagewesene;  überhaupt  besteht  für  den  An- 
fänger in  der  Pemmatologie  die  Neigung,  aus  wenigen  und  ganz  lokalen  Varietäten 
zu  weitgehende  Folgerungen  zu  ziehen.  Man  weiss,  wie  launenhaft  die  Gebild- 
brote der  Italiener  sind,  die  in  ihre,  der  Knusprigkeit  zuliebe  gemachten  viel- 
fachen Einkerbungen  auch  lustige  und  luftige  Schnörkelbildungen  der  ver- 
schiedensten Art  bringen;  eine  Volute  (Schneckenwindung)  auf  einem  italienischen 
Gebildbrote  gibt  aber  doch  nicht  gleich  die  Berechtigung,  an  einen  'gäteau. 
phallique  en  volute'  oder  an  eine  'forme  de  galette  phallique'  zu  denken,  bloss 
weil  ein  Venetianer  Hotelbäcker  eine  solche  Form  kombinierte  und  ohne  allen 
Zusammenhang  mit  irgendeinem  lokalen,  die  sexuale  Fruchtbarkeit  betonenden 
Hintergrund,  der  an  gewissen  Kultorten,  wo  solche  Gebäcke  nachweisbar,  seit 
langer  Zeit  schon  üblich  waren,  leicht  gegeben  wäre,  z.  B.  an  Wallfahrtsorten, 
Badeorten  mit  römisch-heidnischer  Tradition  usw.  Unser  Schlangenbrot,  das  aus 
altrömischen  Heiltempelorten  (Bäder)  stammen  dürfte,  kann  verschiedene  Formen, 
annehmen;  aber  hierbei  ein  'pain  phallique'  (wie  Celos  p.  73  fig.  22)  anzunehmen, 
kann  nur  derjenige  versuchen,  der  wenig  oder  keine  Schlangenbrote  gesehen  hat 
oder  der  jedes  Gebäck  nur  durch  die  Phallusbrille  anschaut;  ja  sogar  die  mexi- 
kanische Phallusform  wird  als  ein  Beweis  herbeigeholt. 

Der  Güte  des  Herrn  C.,  mit  dem  Ref.  sich  auch  schon  brieflich  ausgesprochen 
hatte,  verdanken  wir  vorstehende  Photographien  von  'pains  phalliques'  aus  Caen 
(Normandie)  und  Paris.  Dass  hier  in  diesen  Formen  (Abb.  1 — 6b)  eine  Phallusform 
den  Urtypus  gebildet  haben  kann,  erscheint  als  möglich,  wenn  wir  die  Formen 
scheraatisch  aneinanderreihen  (Abb.  7 — 15).  Ist  dieser  zwei-  bis  vierfach  phallische 
T3-PUS  richtig,  dann  haben  wir  auch  eine  Erklärung  für  ein  bisher  nicht  genügend 
gedeutetes  deutsches  Gebildbrot  (Abb.  14,  15),  welches  im  Schwarzwald  'Pollweck' 
heisst  und  in  Stralsund  'Osterwolf.  Die  Parallelen  13  und  14  sprechen  für  Ge- 
meinsamkeit des  Urtypus.  Die  Priorität  der  Deutung  solcher  Gebildbrote  als 
phallischer  Gebilde  gehört  übrigens  dann  dem  mir  freundschaftlich  so  nahe  ver- 
trauten Professor  Andree,  welcher  mir  unterm  3.  Juli  1909  schrieb: 

„Nach  Gebildbroten  haben  wir  uns  in  Gedanken  an  Sie  fleissig  umgesehen. 
Nur  in  Malcesine  am  Garda-See  glaube  ich  phallisch  geformtes  Maisbrot  gesehen 
zu  haben.  Es  war  regelmässig  so  gestaltet  (Fig.  16,  17,  18).  Näheres  konnte 
ich  nicht  erfahren.  Dieses  Brot  findet  sich  auch  weiter  in  Oberitalien  (schmeckt 
gut),  aber  die  Formen  wechseln  da  etwas." 

Demnach  hätten  wir  also  ein  aus  Italien  ursprünglich  stammendes  (die  vielen 
Variationen  sprechen  für  längere  Tradition  daselbst)  phallisches  Gebildbrot,  das 
nach  Paris    und    in    die  Normandia  (Caen)  gelangte.      Wenn    es  im  Schwarzwald 


"  Kleine  Mitteilungen.  309 

^Pollweck'  heisst,  so  will  dieser  Name  nur  sagen,  dass  es  aus  Pollmehl  hergestellt 
wurde  und  im  Volksbrauche  den  einheimischen  (ebenfalls  phallischen)  'Wecken' 
ersetzte;  wie  es  aber  in  den  Schwarzwald  kam,  das  ist  wohl  kaum  mehr  fest- 
zustellen, vermutlich  durch  den  Fremdenverkehr  in  Baden-Baden. 

In  unserer  Abhandlung  'Der  Wecken'  in  K.  Vollmöllers  Festschrift  (Erlangen, 
F.  Junge  1908)  haben  wir  diesen  Pollweck  unter  Abb.  73  abgebildet  (die  anderen 
'Pollweck'-Abbildungen  63  usw.  stellen  auch  Wecken  und  Spaltgebäcke  dar,  weil 
sie  aus  gröberem  Pollenmehl  [=  erster  Mehllauf]  hergestellt  werden;  also  ähn- 
lich wie  'pain  brie'  und  'brioche'^)  nur  vom  gebrechlichen  Mürbteige). 

Der  Name  'Osterwolf  in  Stralsund  verlangt  eine  Wiederholung  unserer 
Deutung,  die  wir  schon  in  unserem  Aufsatz  'Ostergebäcke'  (Zeitschrift  für  österr. 
Volkskunde,  Supplement-Heft  4  zu  Band  12  S.  58  Abb.  40,  43,  45,  47)  aufgestellt 
hatten. 

Wir  hielten  damals  dafür,  dass  Osterwolf  nur  der  Name  sei  für  verschieden- 
artig geformte  Osterbrote,  die  dem  Osterwolf,  d.  h.  dem  Korn-  oder  Vegetations- 
Geiste  (Saatwolf)  gehörten;  auch  wenn  die  Deutung  von  C.  nun  sich  bestätigt,  was 
höchst  wahrscheinlich  ist,  dann  widerspräche  auch  die  phallische  Brotform  dieser 
Deutung  nicht,  weil  Fruchtbarkeitssymbole  auch  als  Opfergaben  an  den  Korngeist 
figurieren  können;  damals  allerdings  (1906)  waren  die  zweifachen  bzw.  vier- 
fachen Brotreihen  noch  nicht  als  phallisch  gedeutet;  C.  verdient  hier  die 
Priorität. 

Da  nun  die  launenhaft  variierenden  italienischen  Formen  heute  nur  ein  Alltags- 
brot ohne  weiteren  gegenwärtigen  volkskundlichen  Hintergrund  sind,  so  könnte 
vielleicht  gerade  der  deutsche  Osterwolf  einen  solchen  bieten. 

1451  ist  der  'vvultf  van  den  bekkern'  eine  österliche  Spende  oder  Deputat  an 
den  Zollkontrolleur  des  Greifswalder  Rates  (s.  Ostergebäcke  S.  58).  1558  ist  'ein 
grot  wolff  tom  nien  Jare'  eine  Neujahrsabgabe  in  Stralsund;  damit  ist  der  Oster- 
wolf oder  Wolf  ein  Neujahrsgebäck  oder  eine  Spende,  die  dem  Roggenwolf  früher 
vielleicht  unter  anderer  Form  gegeben  wurde  und  dann  unter  diesem  Namen 
'Wolf  auf  Neujahr  (Ostern  ist  ein  kirchliches  Neujahr)  in  besserer  importierter 
Form  und  Art  zum  Deputatgeschenk  (Präbende)  sich  umwandelte.  Das  Volk 
blieb  bei  dieser  pflichtgemässen  Abgabe  unter  dem  hergebrachten  Namen,  auch 
wenn  die  Form  sich  geändert  hatte. 

Diese  Erklärung  ist  gewiss  richtiger  als  die  absurde  Deutung  Fenrirs  oder  Höllen- 
wolf (!)  u.  a. 

Da  nun  auch  in  der  Normandie  (Caen)  dieses  Gebildbrot  sich  findet  und 
gerade  wieder  in  der  Normandie  der  'Loup  vert',  'un  enorme  pain  benit  ä  plusieurs 
etages'  (Mannhardt,  Wald-  u.  Feldk.  '2,  315)  allerdings  in  der  Sommer-Sonnen- 
wendzeit sich  erhielt,  so  haben  wir  wohl  das  Recht  Loup  vert  und  Osterwolf  als 
volkskundlich  gleichwertig  zu  betrachten,  d.  h.  als  ein  Korngeist-Opfer  oder 
Deputat  an  den  Empfängersubstitut. 

Erst  durch  den  volkskundlichen  Hintergrund  erhalten  die  Gebildbrote  die 
richtige  Wertschätzung.  Herrn  Dr.  Celos  sei  hier  bester  Dank  für  Überlassung 
der  Photographien  ausgesprochen. 


1)  Körting,  Latein-roman.  Wörterbuch »  (1907)  S.  187  Nr.  1573  stellt  franz.  brier  und 
brioche  zum  Stamm  brik  und  erklärt  brioche  als  einen  Kuchen,  dessen  zäher  Teig  tüchtig 
geschlagen  wurde,  Schlagkuchen;  also  die  Teigart,  nicht  die  Form  wird  damit  benannt. 

Bad  Tölz.  Max  Höfler. 


310  Philipp,  Fränkel: 


Beigaben  unter  Bainsteinen. 

Bei  meinen  Forschungen  über  die  Flurnamen  des  Erzgebirges  fand  ich  vor 
etlichen  Jahren  in  einem  das  Amt  Schiettau  betreffenden  Schriftstück  des  Kgl. 
Hauptstaatsarchivs  Dresden  (Loc.  34208,  Grünhain  Nr.  4)  über  eine  Berainung 
vom  Jahre  1764  die  Angabe,  man  habe  unter  jeden  Rainstein  'Kohlen,  Glaß 
und  Eyer  Schaalen  geleget',  sie  'auch  sonst  mit  denen  gewöhnlichen  Zeichen 
verwahret'.  Kürzlich  stiess  ich  in  Akten  des  Amtsgerichts  Crimmitschau  auf  ein 
paar  weitere  Belege  für  den  alten  Brauch,  Rainsteine  durch  solche  'Zeugen'  zu 
sichern.  Bei  einer  'Versteinung'  in  der  Döbitz^)  im  Jahre  1673  wurden  die 
Steine  'mit  Zeugen  3  Kieselsteinen,  Kohlen  vnd  Glas'  gesetzt.  Fast  genau 
so  lauten  zwei  Einträge  vom  gleichen  Jahre  über  zwei  Berainungen  im  Dorfe 
Wahlen^);  der  eine  besagt:  'Notandum.  Alle  vorher  beschriebene  Steine  haben 
zu  Zeugen,  drey  Kieselsteinel,  Kohlen  und  Glaß'  der  andere  '3  Kiesel 
Steine,  Kohlen  vnd  Glaß'.  Dagegen  hat  man  1701  bei  einer  Berainung  auf 
Crimmitschauer  Flur  'den  Ersten  Lagstein  mit  zweyen  Kleinen  Küselsteinen  zu 
deßen  Zeugen  sezen  laßen  .  .  .  "Welche  Steine  alle  [neun]  zusammen  gleich  wie  der 
erste,  mit  zweyen  Beygelegten  Küsel  Steinen  Bemerckt  zu  befinden'.  Als  Beigaben 
erscheinen  also  in  der  Crimmitschauer  Gegend  1673  drei  Kieselsteine,  Kohlen 
und  Glas,  1701  nur  noch  zwei  Kieselsteine,  bei  Schiettau  im  Erzgebirge  1764 
wieder  drei  'Zeugen',  nur  sind  hier  die  Kieselsteine  durch  Eierschalen  ersetzt. 
Was  ist  das  Ursprüngliche? 

Jakob  Grimms  Deutsche  Rechtsaltertümer*  2,  72  bieten  nur  zwei  Belege, 
überdies  den  einen  ohne  Ortsangabe,  den  anderen  ohne  Jahreszahl.  Ich  bin 
daher  auf  die  Quellen  zurückgegangen.  Die  erste  Stelle  betrifft  eine  Grenzirrung 
V.  J.  1535  zwischen  Allendorf ^)  einerseits  und  Holzhausen*)  und  Leidenhoven 
andererseits  und  lautet:  „Und  soll  ein  jeder  stein  Ehien  hoch  hoben  erden 
gesatzt  und  mit  Kreutzer  beben  auch  unden  in  der  Erd  gehauen  seyn,  auch  bei 
einem  jeglichen  drei  kleine  Stein  und  Kohlen  gethan  und  gelegt,  auch  wie 
Margsteins  Recht  und  Gewohnheit  ist,  gesetzt  ....  werden" 5).  Der  zweite 
Beleg  stammt  aus  der  1.  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts^)  und  betrifft  Rügen: 
„Thut  ein  Part  vp  Steine,  Böhme,  Graven,  dat  idt  Scheiden  sin  schölen,  .  .  .  men 
moth  Kahlen,  Glaß  edder  samraelde  Steine  vnder  dem  Scheidelsteine,  an 
dem  Böhme  Tekenn,  vnd  vnder  dem  Graven  settede  Steine  befinden".  In  Hessen 
wie  auf  Rügen  genügten  also  damals  zwei  'Zeugen',  in  jedem  Falle  werden 
Kohlen  (natürlich  Holzkohlen)  unter  den  Stein  gelegt.  Ich  frage  wieder:  Was  ist 
das  Ursprüngliche,  ein  Zeuge,  zwei  oder  drei?  Hatten  die  Beigaben  irgendwelche 
symbolische  Bedeutung?  Wozu  dreierlei,  wo  doch  e  i  n  Zeuge,  meinetwegen 
Glasscherben,  genügt,  eine  Grenzveränderung  nachzuweisen,  nämlich  dann  nach- 
zuweisen, wenn  der  Frevler  den  alten  Brauch  nicht  kennt,  den  Rainstein  also 
ohne    die  Beigaben   aushebt  und  versetzt.     Dass  man  sich  gelegentlich,    wie  1701 


1)  Ehemals  Vorwerk  zam  Rittergut  Schweinsburg,    südlich  der  Stadt  Crimmitschau,^ 
links  der  Pleisse;  der  Name  'Deebsgut'  erinnert  noch  daran. 

2)  Unmittelbar  südlich  Gr.,  rechts  der  Pleisse,  seit  1891  in  die  Stadt  einverleibt. 

3)  An  der  Lumda,  nordöstlich  Giessen. 

4)  Beide  südöstlich  Marburg  (Messen-Nassau). 

5)  Carl  Georg  von  Zangen,  Beiträge  zum  Deutschen  Recht  1  (1788),  215. 

6)  M.  von    Normanns,    Wendisch -rügianischer  Landgebrauch    (nach    dem    Vorwort 
etwa  1529/46  verfasst),  1777  S.  193. 


Kleine  Mitteilungen.  311 

in  Crimmitschau,  auf  eine  Art  Beigaben  beschränkt  hat,  das  bestätigt  mir  ein 
Jurist  meiner  Bekanntschaft,  der  um  1880  bei  einem  Grenzstreit  zweier  Nachbarn 
in  Connewitz  südl.  Leipzig  als  Referendar  der  Aushebung  eines  Rainsteins  bei- 
wohnte: damals  wurde  unter  dem  Steine  nur  ein  Häufchen  Glasscherben  gefunden. 
Ehe  sich  auf  die  oben  hingeworfenen  Fragen  eine  befriedigende  Antwort 
ergibt,  wird  es  noch  mancher  Beobachtungen  im  einzelnen  bedürfen.  Wenn  diese 
Zeilen  dazu  anregen,  so  ist  ihr  Zweck  erfüllt. 

Dresden.  Oskar  Philipp. 


Jungfraueiiversteigerung  im  oberen  Nahetal. 

Seltsam  berührt  auf  deutschem  Boden,  überhaupt  bei  einem  Kulturvolk,  heut- 
zutage das  Portleben  (oder  Neuauftreten)  einer  Sitte,  wie  man  sie  sonst  nur  bei 
un-  oder  halbzivilisierten  Stämmen  antreffen  mag,  in  Europa  wohl  höchstens  in 
entlegenen  slawischen  oder  romanischen  Landschaften.  Wenigstens  finde  ich  für 
diese  Sitte,  die  Versteigerung  junger  Mädchen,  bei  ihrem  äusserst  ge- 
diegenen neuesten  Darsteller  und  Erklärer,  Albert  Becker^),  innerhalb  seines 
reichhaltigen  Parallelenvorrats  (auf  den  hier  einfach  verwiesen  sei)  keinen  Beleg, 
der  einen  allgemeinen,  internationalen  Grundsatz  unterlegte.  Zu  den  von  Becker  ge- 
sammelten und  gruppierten  Beispielen  aus  der  Pfalz,  dem  Rheinland  usw.,  die  er 
literarisch  -  poetisch  treffend  durch  Herodot,  Logau,  Schumann -Hörn  ('Der  Rose 
Pilgerfahrt')  stützt,  füge  ich  ein  neues  aus  der  südlichen  Rheinprovinz,  also 
gerade  aus  dem  bei  Becker  besonders  ins  Auge  gefassten  Grenzgebiete  jener 
Sitte.  In  dem  dicht  bei  dem  berühmten  Badeort  Kreuznach  gelegenen  Dörf- 
chen Rüdesheim  werden  in  der  Woche  vor  dem  Kirchweihtag  die  jugendlichen 
Tänzerinnen  regelrecht  öffentlich  versteigert.  Am  festgesetzten  Tage  versammeln 
sich  die  Üorfschönen  in  dem  Tanzlokal,  wo  die  Kirmesbursohen  ihrer  harren. 
Ist  die  ganze  tanzlustige  Jugend  des  Dorfes  beisammon,  so  tritt  ein  Ausrufer  vor 
und  verliest  die  Namen  aller  anwesenden  Mädchen.  Jeder  Bursche  bietet  nun 
in  heissem  Wettbewerb  auf  diejenige  Maid,  die  er  sich  für  die  Kirmestage  als 
Tänzerin  wünscht.  Die  Angebote  sind  gar  verschieden,  Schönheit,  Jugend  und 
Fertigkeit  in  der  edlen  Tanzkunst  fallen  vornehmlich  ins  Gewicht.  Bei  manchem 
schlauen  Burschen  ist  indes  auch  das  Vermögen  der  Jungfrau  für  sein  Gebot  in 
erster  Linie  ausschlaggebend.  Denn  nicht  selten  entwickelt  sich,  wie  ja  auch 
sonst  öfters,  aus  den  gemeinsam  verlebten  Kirmesstunden  ein  Bund  fürs  Leben. 
Über  die  Versteigerung  vom  Mai  1914  entnehme  ich  einem  verlässlichen  Zeitungs- 
bericht folgende  Angaben:  „Diesmal  wurden  einzelne  Tänzerinnen  schon  für 
den  gewiss  billigen  Preis  von  20  Pfg.  erstanden.  Einzelne  besonders  zugkräftige 
'Nummern'  kamen  aber  auch  auf  4 — 6  Mk.  zu  stehen,  da  sich  jetzt  auch  in 
wachsender  Zahl  die  Kurgäste  des  durch  seine  Radiumfunde  bekannten  Badeortes 
Kreuznach  des  Scherzes  halber  zu  den  seltsamen  Veranstaltungen  einfinden  und 
wohl  auch  mitbieten." 

Ludwigshafen  a.  Rh.  Ludwig  PränkeL 


V)  Frauenreclitliches  in  Brauch  und  Sitte.  Ein  Beitrag  zur  vergleichenden  Volks- 
kunde (Kaiserslautern,  H.  Kayser  1914)  S.  9—13  und  Anm.  4—7.  —  [Vgl.  oben  17,  97. 
233.     18,  101  'Mailehen'.] 


312  Anderson: 

Tschuwaschische  Sagen  vom  Igel  als  Ratgeber. 

Vor  kurzem  hat  Geza  Röheim  in  dieser  Zeitschrift  (23,  407 — 409)  im  Anschluss 
an  Dähnhardt  (Natursagen  1,42 f.;  127—132;  338;  3,  8f.;  488f.;  4,269)  sechs 
Fassungen  der  Sage  vom  Igel  als  Ratgeber  veröffentlicht,  darunter  auch  zwei 
tschuwaschische. 

In  der  überaus  reichhaltigen  Sammlung  handschriftlicher  Materialien  zur 
tschuwaschischen  Volkskunde,  welche  sich  im  Besitze  des  Herrn  Mag.  theol. 
N.  V.  Nikölskij  in  Kasan  befindet^),  kommt  die  betreffende  Sage  nicht  weniger 
als  fünfmal  vor.  Mit  gütiger  Erlaubnis  des  Sammlers  veröffentliche  ich  hier  sämt- 
liche Passungen  in  vollständiger  Übersetzung. 

In  zwei  Fassungen  bezieht  sich  der  Ratschlag  des  Igels  aufs  Pflügen. 

1.  Bd.  65,  420.  Gouv.  Kasan,  Kreis  Civilsk,  "Wolost  ,Sibylga,  Dorf  Jus- 
kasy.  Zeit  der  Aufzeichnung:  1911.  Gewährsmann:  der  Bauer  Ivan  Grigörjev 
Razumov.     Originaltext  in  tschuwaschischer  Sprache. 

„Darüber,  wie  der  Igel  (die  Menschen)  pflügen  gelehrt  hat,  habe  ich  folgendes 
gehört.  Gott  verfertigte  den  Pflug  und  stellte  ihn  auf;  der  Pflug  war  ganz  von 
Eisen.  Alle  Tiere  versammelten  sich.  Der  Igel  kam  erst  nach  den  anderen. 
Als  er  durch  die  Tür  trat,  fiel  er  hin,  und  die  übrigen  Tiere  lachten.  Der  Igel 
ärgerte  sich,  ging  hinaus  und  entfernte  sich,  indem  er  mäkär-mäkär  machte^). 
Gott  sagte:  „Geht  hin  und  hört,  was  er  spricht."  Der  Igel  sprach:  „Sie  lachen, 
haben  aber  den  Pflug  ganz  aus  Eisen  gemacht:  wer  kann  damit  arbeiten?  Man 
muss  ihn  aus  Holz  machen,  nur  die  Pflugschar  muss  man  aus  Eisen  machen"." 

Die  zweite  Fassung  besteht  leider  nur  aus  wenigen  Worten: 

2.  Bd.  1,  231.  Gouv.  Kasan,  Kreis  Jadrin,  Wolost  ,Sumatovo,  Dorf  Jur- 
mikekina.  Zeit  der  Aufzeichnung:  Sommer  1904.  Gewährsmann:  der  Zögling  des 
Kasaner  geistlichen  Seminars  Ivan  Dmitrijevic  Niki'tin.  Originaltext  in  tschu- 
waschischer Sprache. 

„.  .  .  .  Ich  habe  gehört,    dass    der  Igel  den  Menschen    pflügen  gelehrt  hat." 
In  der  dritten  und  vierten  Fassung  ist  vom  Pflügen  nicht  die  Rede,    dagegen 
hat  sich  die  Igelsage  hier  mit  einer  in  Russland  auch  sonst  sehr  verbreiteten  Er- 
zählung verbunden  —  mit  dem  legendenartigen  Schwank  vom  Soldaten,    der    den 
Tod  überlistete  und  einsperrte^). 

3.  Bd.  100,  47 — 50.  Gouv.  Samara,  Kreis  Bugulma,  Wolost  Timäsevo, 
Kirchdorf  Jemetkino.  Zeit  der  Aufzeichnung:  August  1913.  Gewährsmann:  der 
Volksschullehrer  Nikifor  Solencöv.     Originaltext  in  russischer  Sprache. 

1)  Antti  Aarne,  Übersicht  der  Märchenliteratur,  Hamina  1914  i^=  FF  Communi- 
cations Nr.  14),  S.62f.  —  Vgl.  auch  W,  Anderson,  Die  Meleagrossage  bei  den  Tschu- 
waschen, Philologus  78,  159  f. 

2)  Tonmalerei. 

3)  Vgl.  z.B.  A.  N.  Afanäsjev,  Narödnyja  rüsskija  legendy,  Moskau  1859,  S.  53— 71 
Nr.  16  'Der  Soldat  und  der  Tod'  und  dazu  Anni.  S.  154-162.  Tschuwaschisch:  Nikölskij 
Bd.  3,  475-477;  Bd.  7,  511;  Bd.  73,  525  (die  Sonne  findet  den  Esrel);  Bd.  90,  246 f.  (die 
Sonne  weiss  es  nicht,  der  Mond  findet  ihn);  Bd.  96,  141-149  ^ein  Frosch  sagt,  wo  Esrel 
begraben  liegt);  Bd.  102,  136-138.  -  Vgl.  auch  Bd.  3,  649-651:  der  Tod  wird  vom  Sol- 
daten nur  betrogen  (muss  neun  Jahre  lang  statt  Menschen  Eichen  nagen),  aber  nicht  ein- 
gesperrt. Auch  in  meiner  eigenen  handschriftlichen  tschuwaschischen  Märchensammlung 
(43  Erzählungen,  in  meinem  Auftrage  von  dem  Seminaristen  Vasilij  Petrov  im  öonv.  Ka- 
san, Kreis  Jadrin  au  Igezeicbnet)  findet  sich  der  betreffende  Schwank:  S.  86— 89  Nr.  24 
(verbunden  mit  den  Märchentypen  Aarne  Nr.  ;530  und  332). 


Kleine  Mitteilungen.  313 

„Warum  jetzt  auch  junge  Menschen  sterben,  ohne  das  Greisen- 
alter erreicht  zu  haben.  Die  Tschuwaschen  erzählen,  dass  früher  alle 
Menschen  erst  in  hohem  Alter  zu  sterben  pflegten.  Der  Todesengel  EsreP)  (der 
nach  ihrer  Vorstellung  die  Gestalt  eines  menschlichen  Gerippes  mit  einer  Sense^) 
hat)  Hess  alle  jungen  Menschen  in  Ruhe,  bis  sie  ein  bestimmtes  Alter  erreicht 
hatten.  Dann,  wenn  die  Greise  sich  der  Zeit  ihres  Todes  näherten,  teilte  Esrel 
ihnen  mit,  wann  ihre  Stunde  schlagen  werde,  damit  sie  sich  dazu  vorbereiteten.  Es 
war  einmal  ein  alter  Tschuwasche.  Die  Zeit  seines  Todes  kam  heran.  Esrel 
teilte  ihm  -mit,  wann  er  sterben  werde.  Der  Greis  war  noch  rüstig  und  hatte 
keine  Lust  zu  sterben.  Er  war  klug  und  schlau.  Er  machte  sich  einen  Sarg  mit 
einem  Schloss  daran.  Als  Esrel  zu  ihm  kam,  um  seine  Seele  zu  holen,  da  sagte 
er  zu  ihm:  „Esrel,  sieh  dir  den  Sarg  ordentlich  an,  ob  er  für  mich  passt."  Hier- 
auf sagte  er:  „Lege  dich  in  den  Sarg,  zeige  mir,  wie  ich  mich  hineinlegen  soll." 
Als  Esrel  in  den  Sarg  gekrochen  war,  schlug  der  Greis  den  Deckel  zu  und  schloss 
den  Sarg  ab,  dann  legte  er  eiserne  Reifen  herum  und  trug  ihn  auf  den  Kirchhof. 
Dort  vergrub  er  den  Sarg,  kehrte  nach  Hause  zurück  und  begann  ruhig  weiter- 
zuleben. Seit  jener  Zeit  hörten  die  Greise  auf  zu  sterben.  Sie  lebten  bis  ins 
höchste  Alter  hinein,  verloren  ihre  letzten  Kräfte,  starben  aber  nicht.  Und  es  kam 
eine  Zeit,  wo  es  mehr  sabbelnde  Greise  gab,  als  junge  Menschen.  Man  musste 
die  Greise  pflegen,  und  man  musste  arbeiten,  um  Nahrung  herbeizuschaffen.  Es 
wurde  unmöglich  zu  leben.  Da  versammelten  sich  alle  Menschen  und  fingen  an 
zu  beratschlagen,  was  man  tun  solle.  Sie  beschlossen,  den  Esrel  irgendwo 
wieder  aufzufinden  und  zu  befreien,  damit  er  wieder  die  Menschen  töte.  Aber 
niemand  konnte  sagen,  wo  sich  Esrel  befand.  Man  rief  alle  Tiere  und  Vögel  zu- 
sammen und  begann  sie  auszufragen,  aber  auch  von  ihnen  sagte  niemand  etwas 
Bestimmtes.  Alle  waren  in  Verlegenheit.  Man  untersuchte,  ob  alle  Tiere  und 
Vögel  da  seien.  Es  erwies  sich,  dass  der  Igel  in  der  Versammlung  fehlte.  Man 
schickte  nach  ihm.  Die  Abgesandten  brachten  den  Jgel.  In  der  Versammlung 
begannen  einige  Tiere  und  Vögel  über  ihn  zu  lachen,  indem  sie  sprachen:  „Kann 
denn  der  Igel  irgendwas  wissen?"  Als  man  ihn  jedoch  über  den  Esrel  fragte, 
da  sagte  er,  er  selbst  habe  ihn  nicht  gesehen,  wohl  aber  wahrscheinlich  der  Mond. 
Man  fragte  den  Mond.  Der  sprach:  „Ja,  ich  habe  den  Esrel  gesehen.  Ein  Greis 
hat  ihn  um  Mitternacht  auf  dem  Kirchhof  begraben."  Die  Menschen  gruben  den 
Esrel  aus  und  sagten:  „Esrel,  komm  hervor  und  töte  jetzt  sowohl  die  Alten  als 
auch  die  Jungen,  denn  der  Menschen  sind  sehr  viele  geworden."  Deshalb  sterben 
jetzt  nicht  nur  die  Alten,  sondern  auch  die  Jungen." 

4.  Bd.  101,  82—85.  Gouv.  Kasan,  Kreis  Svijazsk,  Wolost  Ivanovskoje, 
Dorf  Mälyja  Memi.  Zeit  der  Aufzeichnung:  1913.  Gewährsmann:  der  Bauer  Po- 
likärp   Eokejev.     Originaltext  in  tschuwaschischer  Sprache. 

„Warum  die  Schwalbe  einen  gegabelten  Schwanz  hat.  Vorzeiten 
hatten  alle  Lebewesen  der  Welt  von  Esrel  zu  leiden.  Was  ihm  einfiel,  das  tat 
er;  er  achtete  nicht,  ob  jemand  jung  oder  alt  war:  er  tötete  alle.  Da  versammelten 
sich  einmal  die  Menschen  und  hielten  Rat,  wie  sie  diesen  Esrel  verderben  sollten. 
Sie  beschlossen  den  Esrel  zu  fangen,  in  ein  Pass  zu  stecken,  Reifen  herumzulegen 
und  das  Pass  ins  Meer  zu  werfen.  Bei  einer  günstigen  Gelegenheit  fingen  sie 
wirklich  diesen  Esrel,  steckten  ihn,  wie  beschlossen  war,  in  ein  Pass  und  warfen 


1)  D.  h.  Asraiil:    die  Tschuwaschen    sowohl  Christen  als  Heiden)  haben  den  Namen 
von  den  muhammedanischen  Tataren  entlehnt. 

2)  Russischer  Einfluss. 


314  Anderson,  Stückrath: 

es  ins  Meer.  Das  Fass  wurde  von  den  Wellen  fortgetrieben.  Als  Esrel  einge- 
sperrt war,  waren  alle  Menschen  und  übrigen  Lebewesen  zufrieden  [?]  *).  Niemand 
fürchtete  sich  vor  dem  Tode,  denn  es  gab  keinen  Tod  ausser  Esrel.  So  verging 
viel  Zeit.  Die  Greise  alterten,  wurden  hinfällig  und  lagen  da,  ohne  herumgehen 
zu  können.  So  litten  alle  Lebewesen  auf  Erden.  Niemanden  erreichte  der  Tod. 
Da  sprachen  die  Menschen:  „Es  wäre  besser,  zu  sterben,  als  in  diesem  Elend  und 
in  dieser  Hinfälligkeit  zu  leben."  Man  versammelte  alle  Lebewesen  der  Erde  und 
fragte  jeden,  der  da  kam:  „Hast  du  nicht  Esrels  Fass  gesehen?"  Niemand  wusste, 
wo  es  sich  befand.  Da  fing  man  an  nachzuzählen,  wer  gekommen  war  und  wer 
nicht.  Alle  hatten  sich  versammelt,  nur  der  Igel  fehlte.  Da  schickte  man  den 
Raben  aus,  um  den  Igel  zu  rufen.  Der  Rabe  holte  ihn.  Der  Igel  kam,  indem 
er  läkär-läkär  machte^).  Darüber  brachen  alle  in  Gelächter  aus.  Als  sie  so 
lachten,  verwies  es  ihnen  der  Igel,  indem  er  umkehrte  und  sagte:  „Ihr  wisst  es 
nicht,  und  doch  lacht  ihr  mich  aus!"  Die  Schlange  ging  hinter  ihm  drein.  Sie 
wollte  ihn  fragen  und  die  Sache  irgendwie  erfahren.  In  ihrer  Schlauheit  stellte 
sie  sich,  als  ob  sie  die  Partei  des  Igels  ergrifTe,  und  erfuhr  es  von  ihm  durch 
List.  (Sie  wollte  sich  unter  den  übrigen  Lebewesen  einen  berühmten  Namen 
machen.)  Als  nun  der  Igel  der  Schlange  mitteilte,  wo  Esrel  lag,  da  belauschte 
die  Schwalbe  ihr  Gespräch.  Der  Igel  sagte  der  Schlange  zum  Schluss:  „Merke 
dir,  Freund,  sag  es  niemand;  man  hat  mich  ausgelacht,  deshalb  habe  ich  es  ver- 
heimlicht." Da  schrie  die  Schwalbe:  „Ich  weiss,  wo  Esrel  liegt,  hört  mich  an!" 
Als  die  Schlange  das  vernahm,  sagte  sie:  „Ich  will  die  Schwalbe  verschlingen" 
und  kroch  eilends  an  sie  heran.  Obwohl  sie  eilte,  konnte  sie  sie  nicht  ganz  ver- 
schlucken, sondern  verschlang  nur  ihre  Schwanzspitze.  Die  Schwalbe  flog  fort, 
indem  sie  das  Mittelstück  ihres  Schwanzes  zurückliess;  dann  sagte  sie:  „Esrel  liegt 
auf  einer  Insel  im  Meer.  Geht  und  holt  ihn!"  Alle  Lebewesen  lobten  die  Schwalbe 
und  schickten  nach  Esrel.  Man  zog  Esrel  aus  dem  Fasse  hervor;  seine  Seele 
hatte  ihn  beinahe  verlassen.  Einstimmig  sprachen  alle  zu  ihm:  „Wie  du  früher 
Alte  und  Junge  schonungslos  getötet  hast,  so  soll  es  auch  in  Zukunft  geschehen." 
Mit  diesen  Worten'  gaben  sie  Esrel  die  Freiheit  wieder.  Seit  jener  Zeit  schont 
Esrel  niemand,  sondern  tötet  alle  der  Reihe  nach.  Von  jener  Schwalbe  mit  dem 
gegabelten  Schwanz  haben  auch  die  übrigen  Schwalben  eine  solche  Gestalt  be- 
kommen." 

Der  Schluss  der  vierten  Fassung  ist  aus  der  Sage  von  Noah,  der  Schlange, 
der  Mücke  und  der  Schwalbe  entlehnt:  Dähnhardt,  Natursagen  1,  281  f.;  332 — 334; 
356 f. 3)  (vgl.  1,  143—145;  2,  126 f.;  250—252;  3,  54,  95;  457 f.). 

In  der  fünften  Fassung  fehlt  zufälligerweise  gerade  das  Motiv  des  Ratgebens, 
doch  hat  das  in  Anbetracht  der  Ähnlichkeit  mit  der  ersten  Röheiraschen  Fassung 
(oben  23,  407)  nichts  zu  bedeuten. 

5.  Bd.  105,  368 — 370.  Gouv.  Samara,  Kreis  ßuguruslän,  Wolost  und  Kirch- 
dorf Staro-Gai'ikino.  Zeit  der  Aufzeichnung:  1913.  Gewährsmann:  der  Volks- 
schullehrer Nikolaj  Bogdanov.     Originaltext  in  tschuwaschischer  Sprache. 

„Woher  der  böse  Wind  im  Menschen  stammt.  Als  Gott  den  Menschen 
erschaffen  hatte,    brachte    er  alle  Lebewesen  zu  Adam,    damit  dieser  sie  benenne. 


1)  Im  Originaltext  ein  nicht  ganz  verständliches  Wort:  tänä^a. 

2)  Tonmalerei. 

3)  Tschuwaschisch:  Nikoiskij  Bd.  100,  50—52;  verbunden  mit  der  Erzählung,  wie 
der  Teufel  den  Körper  des  ersten  Menschen  beschmutzt  (Dähnhardt,  Natursagen  1,  95  - 110) 
Bd.  62,  255. 


Kleine  Mitteiluno:en. 


315 


Da  gab  Adam  allen  Vierfüsslern  Namen;  hierauf  benannte  er  die  fliegenden  Vögel; 
nur  der  Igel  war  nicht  erschienen,  um  einen  Namen  zu  erhalten.  Alle  warteten 
auf  ihn  und  sprachen:  „Wie  wird  wohl  der  Name  dieses  Igels  lauten?"  Nachdem 
man  lange  gewartet  hatte,  kam  jener  Igel  herbei.  Er  musste  nun  zu  Adam  in 
die  Stube  kommen,  um  benannt  zu  werden.  Als  der  Igel  durch  die  Tür  trat, 
stolperte  er  und  Hess  einen  Wind  fahren:  „satart!"  Als  Adam  und  die  Tiere  das 
hörten,  brachen  sie  über  den  Igel  in  Lachen  aus.  Der  Igel  ärgerte  sich  darüber, 
dass  er  ausgelacht  wurde,  und  sagte:  „Weil  ihr  so  über  mich  gelacht  habt,  sollt 
ihr  auch  selbst  hinfort  Wind  fahren  lassen!"  So  verwünschte  er  sie.  Darum 
müssen  seitdem  der  Mensch  und  die  Tiere  bösen  Wind  von  sich  geben." 


Kasan. 


Walter  Anderson. 


Drei  Kunstlieder  im  Yolksmundei). 
I. 

V.   Döring,   Der  Abendbesuch. 

1.  Der  Sternleia  Heer  am  Himmel  blinkt,         4.   Lösch  aus  des  Lämpchens  hellen  Schein 
Mein  Liebchen  mir  am  Fenster  winkt;  Mir  glänzen  deine  Äugelein, 

Ach!    Liebchen,  sieh!   ich  komme!  Herzliebchen,  über  alles. 

2.  Der  Mond  mir  leuchtet  auf  den  Weg,         5.   Nicht  feuerrot  die  Wange  sei; 
Durch  Stock  und  Stein  und  hohen  Steg,         Der  Liebe  heiiger  Schwur  ist  treu. 
Zu  deiner  kleinen  Hütte.  Ist  deiner  Unschuld  Bürge. 

3.  Die  Arme  weiß  breit'  aus  nach  mir,  G.    Nach  einem  kurzen  halben  Jahr 
Es  schleich'  der  Riegel  an  der  Thür               Sind  wir,  wills  Gott!  ein  liebes  Paar: 
Mir  aufzumachen,  leise.                                     0  Himmel!  welche  Freude! 

7.    Dann  dürfen  wir  bei  Sonnenglanz, 
Bei  Spiel  und  Fest  und  Weihetanz 
Uns  lieben,  sehn  und  küssen. 

Musen-Almanach  für  1781,  herausgegeben  von  Voss  und  Goekingk  (Hamburg 
bey  Carl  Ernst  Bohn)  S.  82  „Der  Abendbesuch". 


Dieselbe  Dichtung  im   Volksmunde. 

L   Der  Sterne  Heer  am  Himmel  blinkt,  4.    Nun  lösche  aus  dein  Lämpelein, 

Mein  Liebchen  mir  am  Fenster  winkt,  Denn  deiner  Äuglein  heller  Schein 

:,:  Feinsliebchen,  sieh,  ich  komme!  :,:  :,:  Ist  heller  als  die  Sonne.  :,: 


2.  Der  Mond  erleuchtet  meinen  Weg 
Und  Stock  und  Stein  und  Berg  und  Steg 
:,:  Zu  deiner  kleinen  Hütte.  :,: 

3.  Die  Arme  breit'  ich  aus  nach  dir 
Und  schleich'  mich  leise  an  die  Tür, 

:,:  Mach'  auf,  mach'  auf,  Feinsliebchen!  :, 


5.  Die  Wange  braucht  nicht  rot  zu  sein. 
Der  Liebe  Schwur  ist  immer  neu, 

:,:  Sie  ist  der  Unschuld  Bürde.  (!)  :,: 

6.  Ach,  warte  nur  ein  halbes  Jahr, 
Dann  sind  wir  schon  ein  Liebespaar, 
:,:  0  Himmel,  welche  Freude!  :,: 


1)  Vgl.  oben  23,  391. 


316 


Stückrath : 


7.   Dann  dürfen  wir  im  Sonnenschein 
Uns  unsrer  treuen  Liebe  freun 
•        :,:  Und  immerdar  uns  küssen!  :,: 

Mündlich  aus  Bretthausen  im  Oberwesterwald  1905. 

(Ein  ganz  ähnlicher  Text  aus  der  Liederhandschrift  des  Studenten  Friedrich 
Rolle  1846/47  ward  von  mir  in  den  Hess.  Bl.  für  Volksk.  9,  93  nr.  115  ver- 
öffentlicht). 

n. 


Gottlie^    Leon,   An    Lottchen. 

1.   Holde  Sittsamkeit, 
Lieb'  und  Freundlichkeit 
Schmükt  mein  Lottchen  nur; 
Ein  so  hold  Gesicht 


Hat  kein  Mädchen  nicht 
Auf  der  ganzen  Flur. 

2.   Bey  den  Erlen  hier 
Hat  der  Engel  mir 
Sanft  die  Hand  gedrükt. 
Und  so  schön  und  klar. 
Als  ihr  Aug  da  war, 
Hab'  ich's  nie  erblikt. 


3.    Gott!  und  wie  mir  da 
Wie  mir  da  geschah, 
Könnt'  ich  sagen  das! 
Ach,  ein  süßer  Schmerz, 


Schlich  sich  in  mein  Herz, 
Und  mein  Aug  war  naß. 

4.    Nun  geh'  ich  so  gern 
Bey  dem  Abendstern 
Durch  den  Erlenhayn, 
Und  mir  ist's  so  weh. 
Wenn  ich  sie  nicht  seh': 
Soll  das  Liebe  seyn? 


Wienerischer  Musenalmanach  auf  das  Jahr  1785,  herausgegeben  von 
J.  F.  Ratschky  und  A.  Blumauer  (Wien,  bey  Rudolph  Gräffer)  S.  105  „An 
Lottchen.  1778."  —  Über  den  Yf.  (geb.  1757,  gest.  1832)  vgl.  Goedeke,  Grundriss  ^ 
6,  533. 

Dieselbe  Dichtung  im  Volksmunde. 


1.    An  der  Gartentür 
Hat  mein  Mädchen  mir 
Sanft  die  Hand  gedrückt. 
Ei  wie  ward  mir  da, 
Als  mir  das  geschah, 
Als  mein  Mädchen  mir 
Sanft  die  Hand  gedrückt! 


2.    Mädchen,  komm  mal  raus. 
Sieh  den  Blumenstrauss, 
Komm  und  riech'  mal  dran! 
Ach,  so  schön  und  klar. 
Wie  dein  Auge  war. 
Als  du  Mädchen  mir 
Sanft  die  Hand  gedrückt. 
Aus  Elz,  Westerwald,  vom  alten  Bürgermeister  Schmidt. 


Literatur:  Baselland,  Niederlausitz,  Altmark,  Thüringen,  Aargau 
(Volkslieder  aus  dem  Kanton  Aargau,  gesammelt  von  Sigmund  Grolimund,  Basel 
1911  nr.  79),    Wiedensahl  (Busch,  Ut  61er  Welt;    München  1910  S.  131   nr.  10). 


m. 

Die  Zufriedenheit  mit  dem,  was  man  hat. 

1.  Seyd  fröhlich,  genießet  die  Freuden  im  Leben, 
Genießet  sie  heiter,  Gott  hat  sie  gegeben; 

Nicht  alle  sind  Fürsten,  nicht  alle  sind  reich. 
Wir  alle  sind  Menschen,  wir  alle  sind  gleich. 

2.  Gesund  und  zufrieden  ist  Reichthum  genug, 
Wer  immer  so  denket,  der  handelt  recht  klug. 

Nicht  Reichthum  macht  glücklich,  zufrieden  macht  reich. 
Wir  alle  sind  Menschen,  wir  alle  sind  gleich. 


Kleine  Mitteilungen.  317 

3.    Laßt  Große,  laßt  Reiche  mit  Gütern  sich  sehn, 
Sie  sind  doch  nur  Menschen,  und  müssen  vergehn. 
Was  nützt  so  viel  Reichthum,  was  nützt  so  viel  Geld, 
Wenn's  Leben  sich  endet,  hört's  auf  in  der  Welt. 

Fünfte  Sammlung  zweckmäßiger  Lieder  zum  Singen  für  Mädchen  auf  Spazier- 
gängen, in  Gesellschaften  und  bei  andern  frohen  Veranlassungen  (Mühlhausen  1824) 
S.  75  nr.  50.     Ohne  Angabe  des  Verfassers. 

Dieselbe  Dichtung  im  Volksmunde. 

1.  Seid  munter  und  fröhlich,  ihr  Zimmermannsgesellen, 
Geniesset  das  Leben  und  lasst  euch  nicht  prellen! 

Denn  nicht  Reichtum  machet  glücklich,  die  Zufriedenheit  und  die  macht  reich, 
Und  wir  alle  sein  wir  Brüder,  und  wir  alle  sein  gleich. 

2.  Wir  haben  den  Kaiser,  den  König  gesehen, 
Sie  tragen  goldne  Kronen  und  müssen  vergehen; 

Denn  nicht  Reichtum  machet  glücklich,    die  Zufriedenheit  und  die  macht  reich. 
Und  wir  alle  sein  wir  Brüder,  und  wir  alle  sein  gleich. 

3.  Zufrieden-,  Gesundheit,  so  muss  es  uns  gehen, 
Dann  kann  uns  kein  Unglück,  kein  Leiden  geschehen, 

Denn  nicht  Reichtum  machet  glücklich,    die  Zufriedenheit  und  die  macht  reich. 
Und  wir  alle  sein  wir  Brüder,  und  wir  alle  sein  gleich. 

4.  Der  Reiche  lebt  glücklich  in  seinem  Palaste, 
Der  Arme  verschmachtet  in  seinem  Moraste, 

Doch  nicht  Reichtum  machet  glücklich,  die  Zufriedenheit  und  die  macht  reich, 
Und  wir  alle  sein  wir  Brüder,  und  wir  alle  sein  gleich. 

5.  An  einem  schönen  Abend  sass  ich  einsam  im  Garten 
Und  ich  wollte  meinen  Herzallerliebsten  erwarten, 

Und  ich  spielt  auf  meiner  Harfe,  und  ich  sang  auch  dazu: 
Ei  wo  bleibst  du,  mein  geliebter  Tiroleresbu' ? 

Mündlich  aus  Rod  a.  d.  Weil  im  Taunus  1910. 

Literatur:  Erk-Böhme,  Liederhort  3,  433  nr,  1614,  Schlesien  (Hoffmann- 
Richter,  Schlesische  Volkslieder,  Leipzig  1842  nr.  303;  Deutsches  Volksgesangbuch 
von  Hoffmann  von  Pallersieben,  Leipzig  1848  S.  1 1  nr.  11),  Mosel  und  Saar 
(Köhler-Meier,  Volkslieder  von  der  Mosel  und  Saar  nr.  327),  Nassau  (Wolfram, 
Nassauische  Volkslieder,  Berlin  1894  S.  328  nr.  378),  Vogelsberg  (Hess.  Bl.  f. 
Volksk.  9,  105  nr.  151;  kontaminiert  mit  E.Elmars  „Tief  unter  der  Erd'").  —  John 
Meier,  Kunstlieder  im  Volksmunde  1906  S.  81  nr.  524  nennt  noch  Sauter,  Volks- 
lieder 1811  S.  13. 

Biebrich  a.  Rh.  Otto  Stückrath. 


Zum  Schwank  vom  Zeich endisput. 

(Vgl.  oben  S.  SSff.) 

An  der  angeführten  Stelle  hatW.  Caland  eine  litauische  und  eine  holländische 
Fassung  des  weitverbreiteten  Schwankes  gegeben,  und  Bolte  hat  die  zugehörigen 
Literaturangaben  beigefügt.  Soweit  der  Unterzeichnete  die  Quellen  übersehen  kann, 
scheint  aus  der  indischen  Literatur  noch  kein  Beleg  für  den  Schwank  beige- 
bracht zu  sein,  obwohl  Reinhold  Köhler  auf  Grund  des  gerade  in  Indien  häufigen 
Motivs  von  der  Zeichensprache  indischen  Ursprung  vermutete.     Wie  so  oft,  liefert 


318  Flertel,  Schoof,  Bolte^: 

uns  die  Literatur  der  Jaina  (und  zwar  die  der  Svetämbara  von  Gujarät)')  eine 
gute  Fassung.  Hemavijaya  nämlich  berichtet  in  der  43.  Geschichte  seines  Kathära- 
tnäkara,  einer  wichtigen  Erzählungssammlung,  die  ich  bald  in  deutscher  Übersetzung 
herauszugeben  hoffe,  von  einem  berühmten  Gelehrten,  der  an  den  Hof  des  Königs 
Bhöja  von  Dhärä  kommt.   Von  diesem  Gelehrten  heisst  es  im  Verlauf  der  Geschichte: 

„Eines  Tages  hatte  derselbe  Lust,  mit  des  Königs  Gelehrten  zu  disputieren, 
und  bat  den  König  um  die  Erlaubnis,  es  zu  tun.  Der  König  sah  unter  seinen 
Gelehrten  keinen,  der  einen  Wortstreit  mit  jenem  hätte  wagen  dürfen,  und  darum 
sagte  er  heimlich  zu  seinem  Minister:  „Spüre  irgendeinen  Menschen  auf,  Minister, 
dem  das  Glück  hold  ist,  damit  er  im  Streite  mit  jenem  den  Sieg  erringe!" 
Der  Minister  Hess  sichs  gesagt  sein,  und  als  er  in  der  Stadt  umherschlenderte,  sah 
er  einen  einäugigen  Ölmüller  namens  Ränika,  dem  das  Öl  aus  der  Ferne  zu- 
geflogen kam,  so  dass  er  es  nur  in  sein  Ölfass  zu  schöpfen  brauchte.  Da  dachte 
der  Minister:  „Dem  Mann  ist  das  Glück  ganz  sicher  hold",  führte  ihn  vor  den 
König  und  erzählte  diesem,  welche  Bewandtnis  es  mit  dem  Müller  hatte. 

Da  sich  der  Müller  die  Fähigkeit  zutraute,  die  Disputation  zu  bestehen,  ward 
ihm  durch  himmlische  Seidengewänder,  Goldschmuck  u.  dgl.  das  Aussehen  eines 
Brahmanen  gegeben,  und  als  er  in  der  Hofversammlung  stand,  trat  auch  jener 
Gelehrte  ein  mit  dem  Wunsche,  zu  disputieren.  Er  trat  Ränika  gegenüber  und 
zeigte  ihm  einen  seiner  Finger.  Ränika  hielt  ihm  zwei  Finger  entgegen,  worauf 
ihm  der  Gelehrte  alle  fünf  Pinger  zeigte,  die  er  ausgestreckt  aneinander  legte. 
Darauf  zeigte  ihm  der  andere  eine  Faust,  worauf  der  Gelehrte  sagte:  „Er  hat  ge- 
wonnen, und  ich  habe  verloren.  Er  ist  ein  grosser  Gelehrter!"  Dann  verneigte 
er  sich  vor  ihm  und  ging  nach  Hause. 

Da  den  König  nun  die  Neugier  plagte,  was  die  beiden  wohl  miteinander  ge- 
sprochen hätten,  fragte  er  den  Gelehrten:  „Wonach  hast  du  ihn  denn  gefragt,  und 
was  hat  er  dir  geantwortet?"  Der  Gelehrte  erwiderte:  „Vernimm!  Indem  ich  ihm 
einen  Finger  zeigte,  fragte  ich  ihn:  „Es  gibt  doch  nur  eine  Seele?"  Da  zeigte  er 
mir  zwei  Finger,  um  mir  zu  sagen,  dass  es  zwei  Seelen  gibt,  eine  erlöste  und 
eine  noch  in  der  Seelenwanderung  begriffene.  Nun  zeigte  ich  ihm  fünf  Finger, 
um  anzudeuten,  dass  es  in  der  Welt  fünf  Elemente  gibt.  Darauf  wies  er  mir 
seine  Faust,  womit  er  sagen  wollte,  dass  sie  nur  vereinigt  wirksam  sind.  Da 
nun  des  Königs  Gelehrter  jedesmal  berichtigte,  was  ich  gesagt  hatte,  so  hat  er 
mich  besiegt.  Und  weil  er  meine  Gedanken  erraten  hat,  so  ist  er  ein  grosser 
Gelehrter,  dem  man  Ehre  erweisen  muss."  —  Als  der  Gelehrte  so  gesprochen  hatte, 
kehrte  er,  vom  König  ehrenvoll  entlassen,  nach  seiner  Heimatstadt  zurück. 

Darauf  fragte  der  König  auch  Ränika:  „Wonach  hat  dich  jener  gefragt,  und 
was  hast  du  ihm  geantwortet?"  Der  Ölmüller  sagte:  „Majestät!  Er  zeigte  mir 
einen  Finger,  um  mir  zu  sagen:  „Das  eine  Auge,  das  du  noch  hast,  drücke 
ich  dir  aus."  Da  zeigte  ich  ihm  zwei  Finger,  um  ihm  anzudeuten,  dass  ich 
ihm  beide  Augen  ausdrücken  wolle.  Darauf  zeigte  er  mir  seine  flache  Hand, 
was  heissen  sollte:  „Ich  geb'  dir  eine  Schelle,  dass  du  umfällst!"  Darauf  zeigte 
ich  ihm  meine  Faust,  um  ihm  zu  sagen:  „Ich  schlag'  dich  mit  der  Faust  zu  Boden!" 

Als  der  König  das  gehört  hatte,  dachte  er:  „Das  Glück  muss  einem  hold  sein; 
dann  hat  er  überall  Erfolg",  und  überhäufte  Ränika  mit  Ehren." 

Döbeln.  Johannes  Hertel. 


1)  Auf  die  grosse  Wichtigkeit  dieser  bisher  fast  ganz  vernachlässigten  Literatur  hat 
Vf.  in  seinem  Aufsatz  'Die  Erzählungsliteratur  der  Jaina'  hingewiesen  in  der  Münchener 
Zeitschrift  'Geist  des  Ostens'  1913,  S.  178.  247.  313ff. 


Kleine  Mitteilungen.  319 

Nachtrag  zu  S.  281. 

In  der  Zeitschrift 'Heimatbilder  aus  Oberfranken'  1.  Jahrg.  (1913),  Heft  2,  S.  68f., 
versucht  Frhr.  von  Guttenberg  unter  der  Überschrift  'Die  Hühner-  und  Hunger- 
fluren' eine  Erklärung  des  Bestimmungswortes  hunger  aus  hunter.  Hunter  sei  aus 
huntern,  hontern,  ze  den  hohon  teren  'zu  den  hohen  Bäumen',  'zum  Hochwald' 
entstanden.  Abgesehen  davon,  dass  sich  in  Hessen  eine  Reihe  von  Hungerfluren 
nachweisen  lässt,  die  nicht  hochgelegen  und  nicht  mit  Hochwald  bewachsen  sind 
oder  gewesen  sind,  weist  die  von  Guttenberg  S.  73  angezogene  Stelle  aus  einer 
Urkunde  vom  Jahre  1418  'an  der  hunterleiten  gen  dem  windischen  Hawg' 
wegen  des  folgenden  'windischen'  deutlich  auf  die  Weidezucht  und  auf  Ableitung 
von  ahd.  untaron,  das  auch  in  Oberfranken  üblich  gewesen  sein  rauss  (vgl. 
Schmeller,  Bayr.  Wörterb.  1,  116)  und  vielleicht  noch  heute  dort  volksüblich  ist. 
Die  Schreibung  hunterleiten,  welche  die  Mittelstufe  in  der  Umdeutung  zu  Hunger- 
leiten .oder  Hühnerleiten  bildet,  beweist,  dass  die  Kanzleien  im  15.  Jh.  das  Wort 
nicht  mehr  verstanden. 

Hersfeld.  Wilhelm  Schoof. 


Nochmals  das  Soldatenlied:  Hurra,  die  Schanze  vier. 

Da  das  oben  22,  286  mitgeteilte  treffliche  Lied  auf  die  Erstürmung  der  Düppeler 
Schanze  nr.  4  vielfach  Interesse  erregt  hat  und  auch  jüngst  von  P.  Lorentzen  in 
der  Kieler  Monatsschrift  'Die  Heimat'  24, 101  nebst  einigen  andern  Stücken  aus 
Hüdigs  Liederbuche ^)  abgedruckt  worden  ist,  hat  Herr  Otto  Schell  in  Elberfeld 
weitere  Nachfrage  gehalten,  um  womöglich  den  Verfasser  zu  ermitteln.  Dass  die 
Angabe,  der  im  Liede  selber  genannte  Leutnant  Loebbecke  habe  es  gedichtet, 
keinen  Glauben  verdiene,  ward  schon  oben  23,171  ausgesprochen.  Unsicher  klingt 
auch  die  Meldung  der  Witwe  Jachert,  ihr  Mann,  der  Betriebssekretür  Gerhard 
Jachert  (geb.  zu  Immigrath  bei  Düsseldorf,  gest.  21.  Februar  1913  in  Elberfeld) 
sei  der  Verfasser;  von  ihm  habe  der  Leutnant  v.  Rappard  (gefallen  1870  bei 
Spichern)  sich  das  Lied  aufschreiben  lassen  und  ihm  dafür  seine  Photographie 
geschenkt.  Tatsache  ist  allerdings,  dass  Jachert  ab  und  zu  Gedichte  für  eine 
Zeitung  lieferte.     Ein  von  ihm  öfter  rezitiertes  Lied  begann: 

Was  steh  ich  hier  auf  blankem  [?]  Wehr, 
Was  fällt  der  Schnee  so  dichte! 
Vor  mir  das  grosse,  weite  Meer, 
Vor  mir  die  Schanze  von  Düppel. 

Ein  andres:  Hier,  Kamerad,  will  ich  dir  meine  Pfeife  schenken.  —  Für  glaub- 
würdig aber  hält  Herr  Schell  die  bestimmte  Versicherung  des  Kaufmanns  Herrn 
Eduard  Fudickar  in  Elberfeld,  der  Landwehrleutnant  Bernau  habe  unser  Lied 
1864  gedichtet.  Dieser  stand  in  der  11.  Kompagnie  des  53.  Regiments  und  wurde, 
wie  die  von  Hauptmann  Richter  verfasste  Regimentsgeschichte  berichtet,  für  sein 
tapferes  Verhalten  vor  dem  Feinde  durch  den  Roten  Adlerorden  mit  Schwertern 
ausgezeichnet. 


1)  Es  sind  die  Lieder:    'Heute   war    der   grosse    Tag',    'Horch,   der   Kanonendonner 
brüllt'  und  'Auf  Düppels  fernen  Höhen'. 

Berlin.  Johannes   Bolte. 


320  -  Hüsing: 

Zum  Rübenzagel. 
I.    Die  Schnitzfigur. 

Jedermann,  der  einmal  im  schlesischen  Riesengebirge  gewesen  ist,  kennt  die 
zum  Verkaufe  überall  ausgebotenen  kleinen  Figuren  vom  Berggeiste  des  Riesen- 
gebirges. Man  kauft  sie  als  Andenken,  nimmt  sie  mit,  verschenkt  sie  oder  stellt 
sie  selbst  auf  ein  Wandbrett  der  eigenen  Wohnung,  wo  sie  als  unangenehme 
Staubfänger  bald  sehr  lästig  werden,  und  wenn  sie  dann  durch  Abbrechen  einer 
Hand,  des  Stabes  oder  Hutes  mit  ihrer  Staubkruste  recht  unansehnlich  geworden 
sind,  wandern  sie  eines  Tages  in  den  Ofen.  Man  könnte  jeden  Augenblick  einen 
Ersatz  dafür  haben,  denn  jährlich  wandern  ja  Hunderte  und  Tausende  neu  in  die 
Schaufenster  der  Läden  ein;  also  ist  das  Ding  wertlos,  und  Ersatz  —  will  man 
gar  nicht;  man  hat  an  dem  Arger  über  das  staubige,  oft  noch  stark  riechende 
kleine  Ungeheuer  genug.  Das  ist  der  Grund,  weshalb  man,  wenigstens  im 
Pamilienbesitze,  kaum  ein  solches  Stück  antreffen  kann,  das  auch  nur  zehn  Jahre 
alt  wäre. 

Und  doch  besteht  die  Gefahr,  dass  die  kleine  Figur,  die  doch  immerhin  in 
eine  Reise  ins  Riesengebirge  so  viel  Farbe  hineintrug,  von  der  Bildüäche  ver- 
schwinde, und  mit  ihr  zweifellos  wieder  ein  Stückchen  volkstümlicher  Eigenart  der 
schlesischen  Berge. 

Ein  heftiger  Angriff  ist  vor  etwa  acht  Jahren  von  der  staatlichen  Holzschnitz- 
schule in  Warmbrunn  ausgegangen,  und  zwar  von  deren  Leiter  Prof.  Walde,  der 
wenige  Jahre  darauf  starb.  Dieser  Mann  hatte  nichts  Eiligeres  zu  tun,  als  der 
schlesischen  Holzschnitzerei,  die  zu  heben  er  berufen  worden  war,  so  wirkungsvoll 
an  den  Leib  zu  gehen,  dass  sie  von  nun  an  wohl  sachte  hinsterben  wird,  wenn 
überhaupt  noch  schlesische  Schnitzer  an  der  Arbeit  sind.  Walde  verschrieb  als 
Lehrer  an  seiner  Anstalt  Holzbildhauer  aus  Tirol,  der  Schweiz  und  Gott  weiss 
woher,  lauter  tüchtige  Menschen  in  ihrem  Fache,  und  eröffnete  nun  seinen  Kriegs- 
zug gegen  die  bodenständige  Schnitzerei  damit,  das  er  'neue  Rübezahl-Typen'  er- 
fand, d.  h.  er  setzte  das  Phantasiebild  des  Meisters  Schwind,  der  offenbar  nie 
einen  echten  Rübenzagel  gesehen  hatte,  in  Plastik  um.  Und  nun  war  es  ein 
Gnom  in  braunem  Mantel,  mit  brauner  Kapuze,  blossen  Füssen  in  Nachtpantoffeln. 
Der  Gedanke,  dass  es  hier  zuerst  einmal  zu  lernen  gab,  dass  er  von  den  'Wald- 
sachenarbeitern' erst" hätte  lernen  müssen,  worauf  es  bei  der  Figur  ankam,  die 
doch  ein  völlig  fester  Typus  war,  dieser  Gedanke  kam  Walde  gar  nicht.  Die 
Schnitzer  und  die  Verkäufer  stellten  ihm  immer  wieder  vor,  dass  ja  doch  niemand 
seine  Figuren  werde  kaufen  wollen,  weil  sie  eben  falsch  waren,  denn  das  sehe 
doch  jeder,  dass  das  gar  kein  Rübenzagel  sei,  aber  das  half  nichts.  .41s  wirklich 
niemand  die  neue  Puppe  kaufen  mochte,  träumte  Walde  noch  immer  von  einem 
'Massenartikel',  und  da  die  Schnitzschule  keine  genügenden  Einnahmen  erzielte, 
so  versuchte  er  sie  in  eine  förmliche  Fabrik  umzugestalten.  Die  alten  Schnitzer 
hatten  bei  ihm  neues  Handwerkszeug  und  allerhand  neue  Verfahren  kennen  gelernt, 
hatten  als  förmliche  Fabrikarbeiter  nach  seinen  Mustern  gearbeitet,  Sie  waren 
dazu  durch  Versprechungen  bewogen  worden,  die  ihnen  nun  nicht  gehalten  wurden, 
z.  T.  ohne  Schuld  Waldes.  Sie  wollten,  nachdem  ihre  'Lehrzeit'  um  war,  nun 
wieder  als  freie  Menschen  ihr  Gewerbe  ausüben,  aber  —  da  verbot  ihnen  Walde, 
das  auszuüben,  was  sie  bei  ihm  gelernt  hatten,  denn  er  hatte  sich  so  verwirt- 
schaftet, dass  er  seiner  'Fabrik'  die  Konkurrenz  vom  Leibe  halten  musste.  Die 
Schnitzer  aber  waren  dadurch  in  übelste  Lage  geraten,  dass  sie  ihren  früheren 
Auftraggebern  nichts  mehr  hatten    liefern    können    und    nun    auch    keine  Aufträge 


Kleine  Mitteilungen.  321 

tnehr  bekamen  und  in  ihrem  Trotze  auch  nicht  die  Hand  zum  Vergleiche  bieten 
"wollten. 

So  traf  ich  die  Verhältnisse  an,  als  ich  einen  längeren  Sommeraufenthalt  im 
Jahre  1906  dazu  benutzte,  der  Geschichte  dieser  Schnitzfigur  einmal  nachzugehen. 
Meine  Nachfragen  in  Hirschberger  und  Warmbrunner  Geschäften  führten  mich 
schliesslich  übereinstimmend  auf  eine  erste  Spur,  die  sich  freilich  nicht  weit  ver- 
folgen liess.  Man  wies  mich  nach  dem  Hause  Nr.  244  zu  Herischdorf,  wo  der 
'Waldsachenarbeiter'  Friedrich  Wendrich  wohnte,  der  Sohn  des  1902  im  Alter  von 
77  Jahren  verstorbenen  Ehrenfried  Wendrich,  der  mir  einheitlich  als  der  erste 
Schnitzer  bezeichnet  wurde,  der  solche  Figuren  für  den  Verkauf  angefertigt  hatte. 
Er  war,  wie  ich  von  seinem  Sohne  erfuhr,  1824  (oder  1825?)  zu  Reibnitz  geboren 
und  hatte  beim  Knochenarbeiter  Bergmann  'gelernt'.  Im  übrigen  berichtete  Fried- 
rich Wendrich,  um  1848  herum  habe  der  Buchbinder  Liedel  aus  Warrabrunn  eine 
solche  Figur  von  der  Leipziger  Messe  heimgebracht.  Der  Verfertiger  war  ein 
Student,  der  die  Figur  verkauft  hatte,  aus  begreiflichen  Gründen.  Und  das  brachte 
den  Buchbinder  auf  den  Gedanken,  solche  'Manndl'  anfertigen  zu  lassen,  gleichfalls 
zum  Verkaufe.  Die  lieferte  ihm  also  Ehrenfried  Wendrich,  dem  bald  auch  sein 
Sohn  Friedrich  dabei  half.  Der  Hauptkunde  war  oder  wurde  das  Geschäft  von 
Zelder  in  Hirschberg,  und  für  Herrn  Zelder  hatte  auch  Friedrich  Wendrich  die 
Figuren  weiter  gefertigt,  bis  —  die  Schnitzschule  eröffnet  wurde  und  er  sich  mit 
Zelder  überwarf. 

Unter  diesen  Umständen  war  meine  erste  Aufgabe,  das  vorige  Einvernehmen 
wiederherzustellen,  und  Herr  Zelder  jun.  ging  auch  darauf  ein,  dass  ich  den 
^kranken  Schnitzer  veranlasste,  wieder  einige  20  Figuren,  und  zwar  diesmal  ganz 
im  alten  Stile  anzufertigen  und  dem  Geschäfte  anzubieten,  und  daraufhin  er- 
klärte sich  auch  Herr  Wendrich  einverstanden  es  zu  tun,  da  das  ja  doch  eigent- 
lich eine  Bestellung  bei  ihm  sei.  Wirklich  hatte  ich  dann  die  Freude,  später  die 
neue  Mannschaft  bei  Zelder  vorzufinden;  sie  haben  also  beide  Wort  gehalten,  und 
so  kann  ich  denn  verbürgen,  dass  damals  etwa  iO  Exemplare  bei  Zelder  zu  kaufen 
waren,  die  wohl  auch  ihre  Räufer  und  Nachfolger  gefunden  haben. 

Das  waren  also  Figuren  im  alten  Stile.  Auch  vor  Waldes  Zeit  hatte  sich 
nämlich  die  Figur  allmählich  etwas  verändert,  verfeinert  vor  allem,  und  die  vielen 
'Nachahmer'  waren  ebenfalls  an  ihrem  Stile  erkennbar;  es  gab  drei  Hauptstiltypen, 
deren  einer  aus  Agnetendorf  kam.  Auch  in  Heüschdorf  selbst  wurde  mir  ein 
Schnitzer  Brucks  genannt  ~  ob  ich  den  Namen  richtig  schreibe,  weiss  ich  nicht. 
Man  stritt  damals  allgemein,  ob  der  Holzschnitzer,  der  die  kleinen  Tierfigürchen 
gefertigt  hatte,  von  denen  man  heute  in  den  Museen  zu  Hirschberg,  Breslau  und 
Liegnitz  Proben  finden  kann,  Hempel  oder  Harapel  geheissen  habe;  der  Vorname 
war  Benjamin,  er  lebte  in  Warrabrunn. 

Auch  ich  habe  mir  von  Friedrich  Wendrich  eine  Anzahl  solcher  Figuren  an- 
ifertigen  lassen,  und  unter  anderem  findet  man  im  Liegnitzer  Museum  einen  solchen 
Rübenzagel  nebst  mehreren  von  anderer  Herkunft,  darunter  einen  böhmischen,  der 
etwa  an  einen  'Wallensteiner'  erinnert. 

Alte  'Originale'  besass  auch  Fr.  Wendrich  nicht  mehr,  doch  versicherte  er 
mir,  die  neu  gefertigten  seien  genau  wie  die  alten,  nur  seien  diese  mit  Farben 
angemalt  gewesen,  die  er  nicht  mehr  bekomme,  weil  sie  giftig  seien.  Auf  meine 
Frage,  ob  es  wohl  auch  vor  1848  solche  Figuren  gegeben  habe,  gab  mir  Herr 
Wendrich  die  Auskunft,  soviel  er  wisse,  habe  es  in  den  Bauden  immer  welche 
gegeben,  kleine  und  grosse,  nur  habe  man  sie  vorher  nicht  verkauft.  Herr 
.Zelder  sen.  gab  mir  die  gleiche  Auskunft,    halte    auch  die  Liebenswürdigkeit,    zu 


Zeitachr.  d.  Veroias  f.  Volkskuude.    19U.    Heft  3. 


21 


322 


Hüsing- 


veranlassen,  dass  Herr  Prof.  Dr.  Rosenberg  in  Hirschberg  während  meiner  Ab- 
wesenheit eine  ausserordentliche  Zusammenkunft  der  Vorstandsmitglieder  des 
Riesengebirgsvereines  ansetzte,  bei  der  ich  den  Herren  berichten  konnte,  was  ich 
bisher  erfahren  hatte,  was  ich  erfahren  wollte  und  welcher  Gedanke  mich  dabei 
leitete.  Es  waren  überwiegend  ältere  Herren;  man  war  einstimmig  der  Meinung, 
die  Figur  sei  schon  lange  vor  184S  bekannt  gewesen,  sei  aber  viel  einfacher  ge- 
wesen und  habe  keinen  Tirolerhut  ^)  gehabt,  ja  überhaupt  keinen  Hut,  und  sei  noch 
roher  und  unförmiger  gewesen  als  die  Wendrichsche.  Aber  niemand  konnte  an- 
geben, wo  man  ein  überhaupt  älteres  Original  finden  könnte.  Auch  wurde  ange- 
geben, in  der  Schwarzschlagbaude  und  in  der  Zennickerbaude  seien  früher  solche 
Figuren  gewesen,  ich  hatte  aber  den  Eindruck,  als  ob  diese  Erinnerungen  nicht 
allzu  sicher  seien. 

Seitdem  bin  ich.  nicht  mehr  ins  Riesengebirge  gekommen  und  habe  auch 
keinerlei  Nachrichten  mehr  erhalten.  Es  scheint  mir  geboten,  diese  Zeilen  zu  ver- 
öffentlichen, damit  jemand,  der  Gelegenheit  dazu  hat,  die  Sache  weiter  verfolgen 
kann,  ehe  sich  zu  viele  Augen  schliessen.  Ich  fürchte  sehr,  dass  schon  heute  nur 
schwer  mehr  das  erkundet  werden  könnte,  was  ich  damals  erfuhr.  Für  heute  will 
ich  mich  damit  begnügen,  durch  das  Vorstehende  womöglich  eine  Anregung  zu 
geben  für  solche,  die  etwa  längere  Zeit  im  Riesengebirge  verweilen  können,  und 
ich  füge  nur  hinzu,  in  welcher  Richtung  mir  die  Frage  von  Bedeutung  scheint, 
ohne  diesmal  näher  darauf  einzugehen. 

Da  möchte  ich  denn  zunächst  darauf  aufmerksam  machen,  dass,  soweit  mir 
bekannt,  die  Rübenzagel-Figur  etwas  einzig  Dastehendes  ist.  Durch  Zufall  erfuhr 
ich  später,  dass  der  Reisende  (und  Sohn  vom  Hause)  einer  Fabrik  für  'Andenken', 
der  auch  den  Rübenzagel  vertrieb,  mit  dieser  Figur  auch  im  Harze  Geschäfte 
machen  wollte.  Aber  man  lehnte  das  dort  ab,  da  man  den  Rübenzagel  nicht 
kenne.  Endlich  erklärte  ein  findiger  Kopf,  für  den  Harz  müsse  der  Herr  den 
'wilden  Mann'  machen.  Und  so  erkundigte  sich  der  Herr,  wie  der  aussehe,  und 
machte  nun  den  wilden  Mann  für  den  Harz,  —  er  hat  es  mir  selber  erzählt.  Ist 
dieser  wilde  Mann  dort  noch  am  Leben,  dann  dürfte  er  in  den  ersten  Jahren  dieses- 
Jahrhunderts  entstanden  sein.  Mit  dem  Rübenzagel  aber  scheint  es  doch  eine 
andere  Bewandtnis  zu  haben. 

Ich  vermute,  die  Figur  ist  ursprünglich  nichts  als  ein  Alraun-Männchen, 
worauf  mir  die  ganze  eigentümlich  proportionierte  steife  Gestalt  zu  deuten  scheint 
wie  nicht  minder  der  Name  Rübenzagel.  Ist  die  Figur  heute  ihrem  Kerne  nach 
aus  Holz,  so  scheint  mir  doch  ihre  Besetzung  mit  Augen^)  und  Haaren  usw.  dar- 
auf hinzuweisen,  dass  ihr  Kern  früher  aus  weicherem  Stoffe  war,  in  den  man  die 
Zutaten  hineinstopfen  konnte.  Der  Glaube  an  den  Rübenzagel  scheint  ferner 
eigentlich  nur  auf  Kräuterklauber  —  man  denke  an  die  späteren  Laboranten!  — 
und  Erzsucher  beschränkt  gewesen    zu  sein,    was  wieder    für  den  Alraun  spräche. 

Trotz  der  Sage  vom  Entstehen  des  Alraunes  glaube  ich  aber  nicht,  dass  das 
Wort  'Zagel'  hier  'penis'  bedeute.  Zur  Begründung  schliesse  ich  noch  die  folgen- 
den Ausführungen  an. 


1)  Eine  Art  der  Figuren  trägt  den  Zillertaler  spitzen,  grünen  Filzhut. 

2)  So  gerade  bei  der  Form,  die  den  Zillertaler  Hut  trägt  und  einen  vom  Wendrichschen 
stark  abweichenden  Typus  aufweist.  Sie  wird  mir,  abgesehen  von  dem  Hute,  von  ver- 
schiedenen älteren  Breslauern  als  der  in  ihrer  Jugend  üblichen  am  nächsten  stehend  be- 
zeichnet; sie  ist  klein  und  schlank  und  erinnert  stark  an  ein  Wurzelmännchen. 


Kleine  Mitteilungen.  323 

2.    Der  Name  Rübenzagel. 

Immer  wieder  taucht  die  Behauptung  auf,  der  oder  jener  habe  im  schlesischen 
Riesengebirge  noch  eine  volkstümliche  Überlieferung  vom  'Rübezahl'  vorgefunden. 
So  hat  Richard  Loewe  in  dieser  Zeitschrift  18,  1 — 24.  151 — 160  mehrere  Belege  bei- 
gebracht, die  wohl  die  glaubwürdigsten  sind,  die  bisher  veröffentlicht  wurden,  da 
sie  sich  noch  der  Form  Rübenzäl  bedienen.  Wo  das  nicht  mehr  der  Fall  ist, 
müssen  wir  die  Überlieferung  von  vornherein  als  unbeglaubigt  ausschalten,  denn 
das  Fehlen  des  n  ohne  Ersatz  des  en  durch  a  ist  der  bündige  Beweis  dafür,  dass 
in  irgendeiner  Weise  literarischer  Einfluss  tätig  war:  eine  Form  'Rübezäl'  ist  in 
Schlesien  vollkommen  undenkbar.  Die  nasalis  sonans  gibt  in  schlesischer 
Mundart  nur  a,  nie  e!  In  25  Jahren  ist  mir  nur  eine  Ausnahme  aufgestossen, 
und  das  ist  eine  scheinbare:  die  Formen  'dar  Uve,  eim  Uve,  eia  Uve,  Uvebank, 
Uverihr'  und  die  Mehrzahl  'de  Iwe'  die  Verkleinerungsform  'Iwlä'  sind  auf  eine 
Form  ohne  n,  also  'der  Ofe'  zurückzuführen,  neben  der  auch  eine  mit  n  erhalten 
ist  ('eim  üwa,  eiä  Uwä,  Uwätöp,  Uwabanklä')^). 

Wo  eine  Form  'Rübezäl'  gebraucht  wird,  ist  die  Überlieferung  jedenfalls  un- 
bedingt abzulehnen,  denn  damit  ist  die  'literarische'  Beeinflussung,  wie  sie  durch 
die  Fremden  und  durch  die  Schule  sich  vollzieht,  bewiesen,  und  niemand  kann 
wissen,  wie  weit  sie  geht  und  ob  auch  nur  eine  Spur  urwüchsiger  Überlieferung 
vorliege.  Nun  meint  Loewe  (S.  158),  dass  Leute,  die  nicht  lesen  und  schreiben 
konnten,  sich  nach  denen,  die  es  konnten,  gerichtet  hätten.  Das  mag  der  Fall 
sein,  und  da  heute  die  Zahl  der  Analphabeten  auch  im  Gebirge  sehr  gering  ist, 
könnte  es  in  früherer  Zeit  stärker  gewirkt  haben,  als  wir  uns  das  heute  vor- 
stellen; die  falsche  Namenform  könnte  schon  vor  100  Jahren  sich  so  weit  verbreitet 
haben,  dass  sie  heute  schon  in  Verbindung  mit  echter  Überlieferung  auftritt. 
Ist  das  der  Fall,  dann  dürfen  wir  wohl  sagen:  wir  kommen  zu  spät. 

Aber  auch  in  Fällen,  wo  der  Erzähler  noch  die  Form  'Rübenzäl'  oder  'Rüba- 
zäl'  brauchte,  kann  ich  nicht  ohne  weiteres  auf  echte  Überlieferung  schliessen. 
Richard  Loewe  ist  sich  über  das  oben  erwähnte  schlesische  Lautgesetz  gar  nicht 
klar  geworden,  da  er  die  Vermutung  ausspricht  (S.  158),  das  a  der  Mittelsilbe  be- 
ruhe wohl  auf  Angleichung  an  das  ü  der  letzten  Silbe.  Nichts  von  alledem,  son- 
dern jegliche  nasalis  sonans  wird  zu  a,  mag  sie  stehen,  wo  sie  wolle.  Die  Formen 
'ihn'  und  'ihnen'  werden  zu  n  und  u(n)  verkürzt  und  geben  beide  in  der  Mundart 
ein  ä.  Aus  'einer'  (Dat.  sg.  f.)  wird  'arr'  (beinahe  zweisilbig),  und  daneben  steht 
noch  die  gekürzte  Form  'enner';  diese  Form  verhält  sich  zu  'Rübenzäl'  ('Rübnzäi') 
wie  'arr'  zu  'Rübäzäl',  und  auch  dieses  Verhältnis  ist  Richard  Loewe  nicht  klar 
geworden,  ja,  er  denkt  sich  offenbar  das  a  erst  aus  e  entstanden  und  dieses  aus 
en  verschliffen.  In  Wahrheit  ist  a  die  Mundart,  en  (u)  die  verschriftdeutschte 
Form,  e  eine  widerliche  Verballhornung,  die  Musäus  —  neben  der  richtigen  Form  — 
schon  bei  Prätorius  vorfand  und  die  er  offenbar  bevorzugte,  weil  sie  ihm  volks- 
tümlicher klang.  Eine  Form  'Rübezäl'  kann  aber  nicht  älter  sein,  als  der  Einfluss 
von  Musäus  I  Der  Scblesier  hat  schon  wegen  seiner  'Mehrsprachigkeit'  ein  feines 
natürliches  Gefühl  für  das  ihm  selbstverständlich  nicht  zum  Bewusstsein  kommende 
Gesetz  von  der  Vertretung  der  nasalis  sonans.  Mehrsprachig  ist  er  nämlich,  weil 
er  mit  seinesgleichen  die  Mundart,  dem  Fremden  gegenüber  aber  eine  ganze  Reihe 
von  Schattierungen    zwischen  Schriftsprache  und  Mundart    gebraucht.     Dabei  geht 


1^  Ob    ein    ähnlicher  Fall    beim  Worte  für  'Weizen'    noch    vorliege,    kann   ich  nicht 
entscheiden. 

21* 


324  Hüsing: 

die  'schriftsprachliche'  Form  nicht  selten  daneben,  obgleich  sie  *lautgesetzlich'  ge- 
bildet ist.  So  entstehen  recht  interessante  Formen.  Nicht  nur,  dass  z.  B.  'egal'  in 
'eingal'  umgesetzt  wird  nach  Analogie  von  'efach'  zu  'einfach',  sondern  das  Gefühl 
für  die  vollere  Form  neben  der  verschliffenen  gestaltet  auch  deutsche  Wörter 
um.  So  macht  die  Mundart  aus  'wir'  ein  h^,  aber  in  dem  trotzigen  Satze:  'Doas 
mach  bj,  wie  br  ber  wulln'  =  'Das  machen  wir,  wie  wir  wir  wollen',  wird 
das  br  an  der  betonten  Stelle  zu  her  gedehnt,  das  man  sich  etwa  von  einem  Faust- 
schlage auf  den  Tisch  begleitet  denken  mag;  'bj  wulln'  ist  'volumus',  soll  noch 
ein  'nos'  dazu  gesetzt  werden,  so  tritt  noch  'ber'  dazwischen.  (Eine  ähnliche  Er- 
scheinung kennt  ja  auch  das  Bayerische  mit  seinem  'ös',  obgleich  die  .Verkürzung 
's'  bereits  an  der  Verbalform  festsitzt.)  Was  macht  man  nun  mit  einem  schlesischen 
'schriftsprachlichen'  Satze  'es  hat's  ihn  noch'?  Das  ist  aus  mundartlichem  "s  höt's 
ii  nö'  verschriftdeutscht,  und  zwar  gesetzmässig,  aber  —  falsch.  Nehmen  wir  vor- 
weg, dass  das  's'  hinter  'höt'  ein  Schmarotzer  ist,  einerlei,  ob  er  aus  der  Frage- 
form 'hot's  ä  nö  (=  hat  es  ihrer  noch?)'  entstanden  sei,  oder  ob  das  geneti- 
vische 'es'  auch  vor  dem  Genetive  'ä'  noch  beibehalten  wurde  —  'es  hat'  steht 
bekanntlich  gleich  'es  gibt'  —  so  bleibt  doch  die  falsche  Verschriftdeutschung  von 
'ä'  in  'ihn'  übrig.  Sie  erklärt  sich  daraus,  dass  das  'a'  in  diesem  Falle  aus  'ar' 
verschliffen  ist,  während  der  Sprecher  im  ä  unbewusst  die  nasalis  sonans  sucht 
und  als  einzig  mögliche  schriftdeutsche  Form  dann  ein  'ihn'  findet. 

Diese  Beispiele  mögen  zeigen,  weshalb  ich  dem  schlesischen  Gebirgler  durch- 
aus die  Fähigkeit  zutraue,  ein  unsinniges  'Rübezäl'  in  ein  vernunfthaftes  'Rüben- 
zäl'  oder  'Rübazfd'  umzusetzen,  auch  wenn  die  Überlieferung  dieser  Form  schon 
erloschen  war.  Und  darum  kann  ich  auch  im  Auftreten  solcher  Formen  keinen 
Beweis  dafür  erblicken,  dass  noch  volkstümliche  Überlieferung  vorliege. 

Was  wir  hier  brauchten,  das  wäre  eine  Feststellung,  bis  in  welche  Zeit  hin- 
ein die  alte  Form  'Rübenzagel'  oder  'Rübenzäl'  als  in  Schlesien  erhalten  nach- 
weisbar sein  mag.  Es  reicht  aber  zu  diesem  Zwecke  nicht  aus,  dass  man  Bücher 
und  Zeitschriften  studiert,  sondern  hier  muss  sich  die  dingliche  Völkerkunde  mit 
der  gedanklichen  verbinden.  Man  müsste  die  Reiseandenken  sammeln  und 
prüfen,  ob  sich  auf  ihnen  der  Name  Rübenzagel  findet.  Ich  kenne  ihn  z.  B.  auf 
einem  Glase^),  das  die  Aufschrift  trägt:  'Gute  Freund  überal,  besonders  umb  den 
Rübenzäl'. 

Aus  dem  Stile  solcher  Gläser  muss  die  Zeit  bestimmbar  sein,  und  ausser 
Gläsern  wird  noch  manch  anderer  Gegenstand  in  Betracht  kommen.  Jedenfalls 
hat  noch  lange  nach  Prätorius  in  Schlesien  die  Form  Rübenzäl  gegolten.  Ob  noch 
bis  ins  19.  Jahrhundert?  Diese  Frage  dürfte  wichtig  sein  für  die  Abschätzung,  ob 
wir  im  Gebirge  noch  alte  Überlieferung  mit  richtiger  Namenform  erwarten  können 
oder  nicht. 

Im  übrigen  muss  ich  es  rühmen,  dass  Richard  Loewe  überhaupt  Rücksicht  auf 
die  Namenform  genommen  hat.  Es  ist  der  erste  Fall,  der  mir  bekanntwird!  Selbst 
bei  Philo  vom  Walde  hatte  ich  zu  verzeichnen,  dass  er  ganz  bestimmt  alte 
Überlieferung  gefunden  haben  wollte  und  erst  stutzig  wurde,  als  ich  ihm  die  Frage 
vorlegte,  mit  welcher  Namenform  ihm  der  Berggeist  dabei  benannt  worden  sei. 
Philo  verstand  diesen  Wink  und  gab  zu,  dass  das  allerdings  sehr  bedenklich 
sei  —  natürlich  hatte  sein  Gewährsmann  die  Form  des  Musäus  gebraucht. 

Vergeblich  habe  ich  mich  bemüht,  bei  Zacher  ein  Körnchen  Verständnis  für 
diese  Frage  zu  finden.    Er  stritt  rundweg  ab,  dass  die  Etymologie  'Rüben-Schwanz' 


1)  Zur  Zeit  dem  Liegnitzer  Museum  zur  Ausstellung  überwiesen. 


Kleine  Mitteilungen.  325 

überhaupt  zu  beachten  sei;  'Zäl,  Zagel'  sei  zwar  sicher  'Schwanz',  aber  Pflanzen- 
namen würden  damit  nicht  gebildet,  und  so  habe  der  Name  auch  schwerlich  etwas 
mit  'Rübe'  zu  tun.  Der  Hinweis  auf  den  schlesischen  Ausdruck  'Katzenzagel'  für 
Schachtelhalm  verfing  nicht;  ich  hatte  betont,  wie  vorzüglich  dieser  Name  die 
Pflanze  i^ennzeichne  gegenüber  der  durch  Pfarrer  Kneipp  allgemein  verbreiteten 
unglücklichen  Bezeichnung  'Zinnkraut';  aber  Zacher  lachte:  der  Schachtelhalm  habe 
doch  wahrlich  nicht  die  geringste  Ähnlichkeit  mit  einem  Katzenschwanze,  und  die 
Erklärung  werde  wohl  auch  falsch  sein.  Glücklicherweise  kam  ich  auf  den  Ge- 
danken zu  fragen,  wie  denn  nach  seiner  Erinnerung  ein  Schachtelhalm  aussehe, 
und  ich  bekam  die  Antwort:  'wie  ein  kleiner  Tannenbaum'.  Ich  erzähle  diese 
kleine  Erfahrung,  denn  ich  habe  nachmals  gemerkt,  wie  verbreitet  dieses  Miss- 
verständnis ist:  man  kennt  wohl  diese,  nicht  aber  die  so  völlig  abweichende  frucht- 
tragende Form  der  Pflanze,  die  mit  ihren  dunklen  Ringeln  in  der  Tat  verblüffend 
an  den  Schwanz  der  Katze  erinnert.  An  der  Richtigkeit  dieser  Etymologie  ist 
jedenfalls  kein  Zweifel  möglich! 

Aber  Katzenzagel  ist  nicht  der  einzige  Pflanzenname  dieser  Art.  Es  gibt 
auch  einen  Mäusezagel.  Auf  unseren  Äckern  wächst  ein  Pflänzchen,  das  dem 
Vergissmeinnicht  (Myosotis)  so  ähnlich  sieht,  dass  man  es  auch  'Ackervergiss- 
meinnicht'  nennt;  und  diese  Myosotis  in  kleinerem  Massstabe  führt  in  den  Lehr- 
büchern den  Namen  'Mäusezahn',  obgleich  der  botanische  Name  Myosurus,  d.  h. 
Mäuseschwanz,  Mäusezäl  lautet.  In  den  schlesischen  Vorbergen,  z.  B.  im  Bolken- 
hainer  Kreise,  heisst  die  Pflanze  aber  noch  richtig  'Mäusezäl'!  Daraus  ist  also  die 
unsinnige  Form  'Mäusezahn'  zurechtgestümmelt  worden  von  einem  gedankenlosen 
Lehrbuchverfertiger,  der  weder  Deutsch  noch  Griechisch  konnte.  Und  wenn  es 
so  weiter  geht,  dann  wird  wohl  in  ein  bis  zwei  Geschlechterfolgen  die  richtige 
Namenform  ausgerottet  sein,  und  der  Unsinn  'Mäusezahn'  hat  gesiegt,  unsere  Schul- 
bildung ist  um  eine  Sinnlosigkeit  reicher!  Sollte  es  nicht  eine  sehr  dankens- 
werte Aufgabe  unserer  Vereine  für  Volkskunde  sein,  bei  den  zu- 
ständigen Behörden  dahin  zu  wirken,  dass  derartige  Verballhor- 
nungen unserer  Pflanzennamen  wieder  richtiggestellt  werden? 

Das  Pflänzlein  sieht  nun  auch  nicht  gerade  aus  wie  ein  Mäuseschwanz;  die 
kleinen  blauen  Blütchen  im  Graugrünen  wirken  aber  in  einiger  Entfernung  so  aus- 
gesprochen grau,  dass  man  begreift,  wie  die  Vorstellung  einer  Maus  sich  auf- 
drängen konnte,  und  zwar  so,  dass  man  auch  den  Schwanz  zu  sehen  meint.  Es 
scheint  beinahe,  als  ob  'Zagel'  überhaupt  soviel  wie  Staude  bedeuten  könnte,  doch 
werden  wir  damit  vorsichtig  sein  müssen.  Wir  haben  ja  noch  einen  weiteren 
Pflanzennamen,  der  heute  auf  ' — zahn'  endigt  und  von  dem  sich  vermuten  lässt, 
dass  das  ursprünglich  ein  '—zäl'  war.  Freilich  wird  in  uns  heute  die  Vorstellung 
eines  'Löwenzagels'  kaum  geweckt,  wenn  wir  das  Leontodum  Taraxacum  an- 
sehen, dessen  botanischer  Name  es  ausserdem  als  'Löwenzahn'  bezeichnet.  In- 
dessen, so  sieht  ein  Löwenzahn  nicht  aus,  und  es  ist  wohl  zu  schliessen,  dass  der 
Name  Leontodum  bereits  eine  Übersetzung  aus  einer  irgendwie  verstümmelten 
Form  darstelle.  Ob  aus  einem  deutschen  Namen?  Bisher  habe  ich  bei  den  Bo- 
tanikern vergebens  nachgefragt!  Die  Antwort  lautete  stets,  damit  beschäftige  sich 
zurzeit  kein  Botaniker.  Vielleicht  könnten  diese  Zeilen  dazu  beitragen,  dass  wir 
von  Seiten  eines  Botanikers  doch  noch  einmal  eine  Antwort  auf  diese  Frage  er- 
hielten? Ist  nämlich  der  nicht  mehr  junge  Name  Leontodum  die  Übersetzung 
eines  noch  etwas  älteren  'Löwenzahn',  das  aus  nochmals  älterem  'Löwenzäl'  ver- 
dreht wäre,  dann  dürfen  wir  uns  entsinnen,  dass  unsere  alten  Kräuterbücher  den 
Löwen  goldgelb  malen  und  ihm  einen  Schweif  geben,  der  den  Beschreibungen 


326  Philipp,  Bolte: 

gemäss  als  Quaste  gezeichnet  ist,  auf  der  sich  dann  die  goldgelbe  Farbe  so  recht 
breitmachen  kann  —  mit  anderen  Worten:  so,  wie  die  Blume  aussieht,  hat  man 
sich  früher  tatsächlich  den  Löwenschwanz  vorgestellt!  Es  dürfte  also  wohl  lohnen, 
nachzuprüfen. 

Das  sind  aber  nicht  die  einzigen  Bezeichnungen  dieser  Art,  und  es  ist  auf- 
fallend, dass  gerade  in  allerlei  Literatur,  die  von  unserem  Rübenzagel  erzählt,  auch 
die  Pflanzennamen  Schwalbenzagel  (in  der  Form  'Schwallenzagel'),  Rosszäl 
und  Hundezäl  auftauchen,  übrigens  so,  dass  daraus  kein  Schluss  auf  die  gemeinte 
Pflanze  gezogen  werden  kann.  Leider  habe  ich  mir  die  Stellen  nicht  gebucht, 
doch  sind  sie  auch  kaum  von  Belang;  worauf  es  ankäme,  das  wäre,  die  Namen 
in  anderem  Zusammenhange  wiederzuönden,  aus  dem  sich  ergäbe,  welche  Pflanzen 
in  Betracht  kommen.  Könnte  der  Schwalbenzagel  etwa  der  Sauerampfer  sein?  — 
[Weiteres  über  mit  zagel  zusammengesetzte  Pflanzennamen  s.  bei  H.  Marzell,  Die 
Tiere  in  deutschen  Pflanzennamen  1913,  S.  54—59.  Katzenzagel  heissen  nach  M. 
noch  andere  Pflanzen,  z.  B.  Achillea,  Fumaria,  Melampyrum  und  Nepeta.] 

Wien.  Georg  Hüsing. 


Bücheranzeigen. 


Wilhelm  Schoof,  Die  Schwälmer  Mundart.  Ein  Beitrag  zur  hessischen  Mund- 
artenforschung (Sonderdruck  aus  der  Zeitschrift  für  deutsche  Mundarten, 
Jahrg.  1913-1914).    Halle  a.  S  ,  Waisenhaus  1914.    94  S.    Geh.  2,40  Mk. 

Die  vorliegende  Schrift,  deren  Verfasser  den  Lesern  der  Zeitschr.  für  (hoch-) 
deutsche  Mundarten  seit  1905  als  rühriger  Forscher  auf  dem  Gebiete  der  hessischen 
Mundarten  und  Ortsnamen  bekannt  ist  (s.  auch  den  Aufsatz  oben  S.  272  f.),  zerfällt 
in  zwei  Hauptteile  (S.  11—65  Laut-,  S.  66—91  Flexionslehre),  die  eingerahmt 
werden  von  einer  Einleitung  und  Sprachproben.  Der  Einleitung  nach  umfasst  die 
Schwalm  den  Teil  des  Kreises  Ziegenhain  im  Regierungsbezirk  Kassel,  der  von 
der  Schwalm  und  deren  Zuflüssen  durchströmt  wird.  Zugrunde  liegt  der  Unter- 
suchung die  Mundart  der  beiden  Dörfer  Zella  und  Loshausen  im  Mittelpunkt  der 
'engern'  Schwalm,  die  rund  100  Quadratkilometer  und  etwa  8000  Einwohner  hat. 
Zur  weitern  Schwalm  rechnet  man  eine  Reihe  Dörfer  ringsum,  deren  Boden,  zu- 
mal an  den  Abhängen  des  Knüllgebirges,  minder  fruchtbar  ist.  Je  mehr  sich  diese 
Siedlungen  von  ihrem  Mittelpunkt  entfernen,  desto  mehr  schwindet  die  Schwälmer 
Eigenart  in  Tracht  und  Sprache.  Der  Hauptverkehr  geht  nach  Niederhessen,  be- 
sonders Kassel.  Ihre  kleineren  Einkäufe  decken  die  Schwälmer  in  den  Städtchen 
Treysa,  Ziegenhain  und  Neukirchen,  die  südlichen  Dörfer  in  Alsfeld  im  Gross- 
herzogtum Hessen.  Gemäss  diesen  vier  Verkehrs  gebieten  unterscheidet  der 
Verf.  vier  Schichten  der  Mundarten,  vertreten  durch  Loshausen,  Florshain,  Willings- 
hausen  und  Hauptgeschwenda.  Durch  die  1908  eröffnete  Bahnlinie  Treysa— Hers- 
feld— Bebra  sind  die  alten  Verkehrsgrenzen  vielfach  verschoben  worden,  zumal  nach 
Hersfeld  zu.  Möchte  die  geplante  Bahn  Ziegenhain— Alsfeld  das  Wesen  der 
Mundart  nicht  so  stark  verwischen,  wie  Schoof  fürchtet!  Jedenfalls  dürfen  wir  ihm 
aufrichtig  dankbar  sein,  dass  er  noch  rechtzeitig  eine  so  reiche  Ernte  eingebracht 
hat!     Weiter    handelt    die  Einleitung    vom   Einfluss    der    alten  Amts-  und  Pfarrei- 


Bücheranzeigen.  327 

grenzen  und  der  Gaugrenze:  Die  westliche  Hälfte  des  Schwälmer  Ländchens  ge- 
hörte zum  Oberlahngau,  die  östliche  zum  fränkischen  Hessengau.  So  ist  die 
Mundart  „eine  interessante  Grenzmundart  zwischen  Ober-  und  Niederhessisch  .  .  . 
Es  überwiegt  darin  das  Oberhessische,  welches  in  den  Dörfern  der  engern  Schwalm 
ausschliesslich  vorherrscht." 

Nicht  so  ergiebig  für  die  Volkskunde  wie  die  Einleitung  und  die  erste  Sprach- 
probe 'Unsere  Kirmes'  (S.  91/92)  ist  naturgemäss  der  rein  sprachliche  Teil.  Zur 
Kennzeichnung  der  Mundart  hebe  ich  hervor:  i  (ü)  >  e,  z.  B.  sleera  Schlitten, 
heba  hüpfen;  u  >  o:  sdomp  stumpf;  hinsichtlich  der  Diphthongierung  der  mhd. 
i,  ü,  ü  steht  die  Mundart  auf  hochdeutscher  Stufe,  ausgenommen  —  Ich  >  ich 
(strichen  >  sdrica)  —  ür  bleibt  (trürec  >  druuric),  u  >  ii  in  zwei  Fällen,  z.  B. 
miurare  >  miirar  Maurer;  mhd.  —  iuw  >  auw,  z.  B.  nauw  neu.  Beim  Kon- 
sonantismus fällt  auf  das  echt  hessische  —  r  —  <  dental :  broora  Braten,  sn§iro 
schneiden,  keral  Kittel.  Ferner  —  n  +  dental  >  m:  gafoioa  gefunden;  —  agen  > 
üän:  hagen  >  hääia  Hain;  germ.  p  bleibt  un verschoben:  pets  Pfütze,  pluk  Pflug, 
tsab9  Zapfen,  somp  Sumpf.  In  der  Flexionslehre  ist  sehr  anziehend  der  Abschnitt 
über  die  teils  starken,  teils  schwachen  Genitive  bei  Familiennamen:  mit  Falgs 
Hanerc  und  Falga  Hanerc  unterscheidet  man  zwei  verschiedene  Heinrich  Falk; 
das  Zahlwort  zwei  hat  seine  drei  Geschlechter  bewahrt:  tswii  jäwa  (Jungen),  tswoo 
lf§iw  (Kühe),  tsw§g  keio  (Kinder). 

Bei  Einzelheiten  kann  man  hie  und  da  andrer  Meinung  sein.  So  fällt  auf 
—  neben  manchem  Druckfehler  (§  9  Oberweiler  statt  —  aula!)  z.  B.  §  94  „ha^uso 
(<hie  uzen]  mit  Funktionsvertauschung  vonha9us";  bei  Wörtern  wie  frääwa  freuen 
setzt  Schoof  §  111  ahd.  frouwen  an,  während  doch  die  Nebenform  frewen,  die  er 
übrigens  sehr  wohl  kennt  (§  252),  viel  näher  läge.  In  §  179c  muss  es  heissen 
^Wgm.  d,  p  im  Inlaut  nach  Liquiden  sowie  nach  m,  n  hat  sich  an  diese 
assimiliert"  statt  „im  Inlaut  sowie  m,  n  nach  Liquiden".  Innerhalb  eines 
Paragraphen  sind  öfters  Wörter  zweimal  angesetzt,  auch  Widersprüche  kommen 
vor:  wenn  es  §  118  heisst  „ruowa  >  run",  251  aber  „ruowa  >  rauw",  so  müsste 
wenigstens  gesagt  sein,  dass  rauw  die  häufigere  und  ältere  Form  ist.  Oft  verniisst 
man  bei  seitnern  Ausdrücken  die  Erklärung:  dass  z.B.  §  27  „bätsal  <  mhd.  bezel" 
Haube,  Mütze  bedeutet,  ist  wohl  nur  dem  Einheimischen  selbstverständlich. 

Dass  ältere  Sprachstufen  häufig  aus  Urkunden  belegt  sind,  z.  B.  der  md. 
Wechsel  u>o  seitdem  14.  Jahrhundert  (S.  28/29),  verdient  durchaus  Anerkennung, 
nicht  minder  die  eingestreuten  Bauernsprüche,  Auszählreime,  Kinderliedchen,  Flur- 
namen, wodurch  die  Arbeit  belebt  wird.  Alles  in  allem  eine  gediegene,  von  Hin- 
gebung an  die  Sache  zeugende  Darstellung  einer  anziehenden  Mundart.  Möchte 
der  Verfasser  recht  bald  Müsse  finden,  uns  die  verheissene  Syntax,  Wortbildung, 
Namenkunde  (Familien-,  Flurnamen)  und  das  Wörterbuch  zu  bescheren!  Wir  sehen 
ihrem  Erscheinen  mit  Spannung  entgegen. 

Dresden.  Oskar  Philipp. 


<3ieorg  Graber,  Sagen  aus  Käruteu,  gesammelt  und  herausgegeben.    Leipzig, 
Th.  Weicher  1914.     XL,  512  S.     gr.  8°.     Geb.  5  Mk. 

Als  1887  J.  Rappold  12.3  'Sagen  aus  Kärnten',  die  er  lediglich  gedruckten 
Quellen  entlehnt  hatte,  zu  einem  netten  Bändchen  vereinigte,  regte  er  zur  Samm- 
lung dessen  an,    was    noch    als    ungehobener  Schatz  im  Munde  der  Alten    und  in 


328  Bolte,  Boehm: 

Abgeschlossenheit  Lebenden  ruhe.  Dieser  Wunsch  ist  jetzt  in  Erfüllung  gegangen; 
Prof.  Georg  Graber  in  Klagenfurt  bietet  in  dem  vorliegenden  stattlichen  Buchfr 
613  Kärntner  Volkssagen,  von  denen  er  etwa  sechs -Siebentel  selber  zusammen- 
gebracht hat.  Über  die  Art  seiner  Sammeltätigkeit,  die  Zeit  und  die  Orte  seiner 
Aufzeichnungen  berichtet  er  S.  VIII  leider  nur  summarisch;  doch  ist  die  im  ganzen 
einfache,  allzu  romantischer  Ausschmückung  bare  Darstellung  und  die  über  die 
hauptsächlichen  Sagenzüge  orientierende  und  auf  die  neueren  wissenschaftlichen 
Forschungen  verweisende  Einleitung  zu  loben.  Unter  den  in  18  Gruppen  ge- 
teilten Sagen  gewahren  wir  neben  den  allgemein  verbreiteten  Erzählungen  von. 
Wassergeistern,  von  der  wilden  Jagd,  vergrabenen  Schätzen,  Geisterspuk,  Hexen 
und  Teufel  auch  die  für  das  Gebirgsland  charakteristischen  Bergwerkssagen,  die 
schatzgrabenden  Venediger,  die  schlafenden  Helden,  ferner  die  hadischen  Leute 
(Riesen)  und  saugen  Frauen,  Kirchengründungssagen  und  Legenden.  Von  ge- 
schichtlichen Ereignissen  haben  sich  besonders  die  Türken-  und  die  Franzosen- 
kriege im  Gedächtnis  fortgepflanzt,  auch  Margareta  Maultasch  lebt  noch  als  ein 
wildes  Mannweib  in  der  Erinnerung  des  Volkes.  —  Von  einzelnen  Sagen  hebe 
ich  aus  der  reichen  Fülle  hervor  das  nur  den  Wasser-  und  Waldgeistern  bekannte 
Geheimnis,  was  das  Kreuz  in  der  Nuss  bedeute  (nr.  13.  24.  82.  94);  ferner  nr.  18 
der  Ahornbaum  am  Millstätter  See  (Bolte- Polivka,  Anmerkungen  zu  Grimm 
KHM.  1,  272);  nr.  37  Selbertän  (Polyphem);  nr.  54  der  Wechselbalg  (Grimm,  KHM. 
nr.  39,  3);  nr.  56 — 57  das  Riesenspielzeug  (Grimm,  DS.  nr.  17);  nr.  60  Flachses 
Qual  (Bolte-Poh'vka  1,  222);  nr.  64  St.  Julianus  (V.  Schumann,  Nachtbüchlein  nr.  14: 
Frey,  Gartengesellschaft  1896  S.  280);  nr.  90  Waldmann  und  Mensch  (Grimm, 
KHM.  nr.  72);  nr.  96  Erdbeeren  im  Winter  (Bolte-Poh'vka  1,  100);  nr.  108  der  Tote 
als  Hochzeitsgast  (R.  Köhler,  Kl.  Schriften  2,  226);  nr.  166—169  der  Traum  vom 
Schatz  auf  der  Brücke  (oben  19,  289);  nr.  170  die  einander  mordenden  Schatzfinder 
(Montanus,  Schwankbücher  S.  564);  nr.  199,  201  das  Schlangenkrönlein  (Grimm, 
KHM.  nr.  105);  nr.  208  der  Hausgeist  und  Bär  (R.  Köhler  1,  72);  nr.  228  'Ich 
falle'  (Bolte-Poh'vka  1,  30);  nr.  237  Lenorensage  (E.  Schmidt,  Charakteristiken 
12,  189);  nr.  244  Muttertränen  (Grimm,  KHM.  nr.  109);  nr.  245—248  Totenmette 
(Grimm,  KHM.  nr.  208);  nr.  253  Quittung  aus  der  Hölle  (R.Köhler  1,133): 
nr.  258  Tod  und  Tödin  (oben  22,  56"  Gedicht  von  Tschabuschnigg);  nr.  264 
die  Scheintote  (oben  20,  362);  nr.  352  Hildegard  (Gesta  Romanorum  c.  249); 
nr.  390  Bauer  und  Teufel  (Grimm,  KHM.  nr.  189;  oben  8,  21);  nr.  427  das  boden- 
lose Schaff  (H.  Sachs,  Fabeln  ed.  Goetze  2,  532.  4,  502);  nr.  428-429  der  Schmied 
von  Rumpelbach  (Grimm,  KHM.  nr.  82);  nr.  431  Namen  erraten  (Bolte-Poh'vka 
1,  490);  nr.  468  der  Teufel  in  der  Kirche  (Zs.  f.  vgl.  Litgsch.  11,  249);  nr.  537  der 
Mann  im  Pflug  (Grimm,  DS.  nr.  537);  nr.  585-586  Blaubart  (Bolte-Poh'vka  1,  400); 
nr.  588  das  mutige  Mädchen  (Bolte-Poh'vka  1,  373).  Dem  verdienstlichen  Buche 
ist  in  Kärnten  und  ausserhalb  Kärntens  Verbreitung  zu  wünschen. 

Berlin.  Johannes  Bolte. 


Carly  Seyfarth,  Aberglaube  und  Zauberei  in  der  Volksmedizin  Sachsens. 
Ein  Beitrag  zur  Volkskunde  des  Königreichs  Sachsen.  Leipzigv 
W.  Heims  1913.     XXIII,  818  S.     8°.     Geh.  4  Mk.,  geb.  5  Mk. 

Der    Stoff   dieses    äusserst    reichhaltigen    Buches,     welches    das    Königreich 
Sachsen    mit   Ausnahme    der    Lausitz,    das    angrenzende    Sachsen-Altenburg    und 


BücheraDzeigen.  32^ 

Reuss  j.  L.  berücksichtigt,  ist  zum  grösseren  Teile  aus  der  gedruckten  volkskund- 
lichen Literatur,  besonders  der  das  bezeichnete  Gebiet  betreffenden,  zusammen- 
gestellt; ein  neun  Seiten  langes  Quellenverzeichnis  beweist,  wie  fleissig  der  Verf. 
gearbeitet  hat.  Was  ältere  Schriften  anbetrifft,  so  wurde  ausser  der  Chemnitzer 
Rockenphilosophie  und  Werken  des  Prätorius  das  bisher  weniger  bekannte  Buch 
von  Chr.  Lehmann,  Historischer  Schauplatz  derer  natürlichen  Merckwürdigkeiten 
in  dem  Meissnischen  Ober-Ertzgebirge,  Leipzig  1G99,  häufig  herangezogen,  und 
der  Verf.  hat  hiermit  offenbar  einen  guten  Griff  getan.  Die  gedruckten  Zauber- 
und  Rezeptbücher  mit  erdichtetem  Druckort  und  -jähr,  die  auch  in  Sachsen  im 
Umlauf  waren  und  noch  sind,  werden  mit  Recht  nur  selten  angeführt,  dagegen- 
hat  der  Verf.  handschriftliche  Rezeptsammlungen  benutzt,  da  sie,  selbst  wenn  sie 
aus  gedruckten  Büchern  abgeschrieben  sind,  immerhin  unter  dem  sächsischen 
Volke  verbreitete  Ansichten  wiedergeben.  —  Eine  zweite  Quelle  bilden  die  im 
Archiv  des  Vereins  für  sächsische  Volkskunde  aufbewahrten  Einsendungen  und 
Sammlungen  volksmedizinischen  Inhalts,  deren  Benutzung  dem  Verf.  durch  E.  Mogk 
ermöglicht  wurde.  Von  ihm  und  K.  Weule  ging  der  Anstoss  zu  der  ganzen 
Arbeit  aus,  deren  erster  Teil  auch  als  Leipziger  Dissertation  erschienen  ist.  Um 
dies  handschriftliche  Material  zu  ergänzen,  erliess  der  Verf.  in  Zeitschriften  und 
Zeitungen  Sachsens  Aufrufe  zur  Einsendung  von  Beiträgen,  d'ie  einen  bemerkens- 
werten Erfolg  hatten  (gegen  50  Mitteilungen),  wenn  man  bedenkt,  ein  wie  trauriges 
Ergebnis  oft  ähnliche  Aufrufe  gehabt  haben.  Ausserdem  stellten  ihm  Kenner  des 
behandelten  Gebietes  umfangreichere  Sammlungen  an  Aufzeichnungen  zur  Ver- 
fügung. —  Endlich  sammelte  der  Verfasser  einen  Teil  des  Stoffes  selbst  auf 
Wanderungen  im  sächsischen  Mittelgebirge,  vor  allem  auch  im  Erzgebirge. 

Man  sieht,  dass  S.  wohl  ausgerüstet  an  seine  Arbeit  gegangen  ist,  und  die 
Art,  wie  er  den  gewaltigen  Stoff  angeordnet  und  verarbeitet  hat,  verdient  höchste 
Anerkennung.  Er  behandelt  zunächst  die  Anschauungen  des  Volkes  von  der  Ent- 
stehung der  Krankheiten  (durch  Krankheitsdämonen,  dämonische  Menschen  und 
als  Strafe  Gottes),  wobei  er  sich  jeder  Schablone  enthält  und  die  vielen  mit- 
einander verschlungenen  Wurzeln  aufzeigt,  denen  die  Volksmeinung  entwächst. 
Den  Hauptteil  bildet  dann  die  Erörterung  der  verschiedenen  Heilmethoden  durch 
gesprochene  und  geschriebene  Worte  (hier  reiche  Zusammenstellungen  von  Segen, 
Sator-,  Abracadabra- und  ähnlichen  Formeln),  Handlungen  (z.  B.  Übertragung,  Durch- 
kriechen, Messen)  und  Dinge  (z.  B.  Wasser,  Teile  von  Menschen-  und  Tierkörpern, 
Pflanzen).  Ein  ausführliches  Register  macht  den  Schluss.  Für  jede  Angabe  ist 
in  den  Fussnoten  die  genaue  Quellenangabe  zu  finden. 

Selbstverständlich  ist  der  größte  Teil  der  mitgeteilten  Anschauungen  nicht  auf 
Sachsen  beschränkt,  aber  eben  die  Heraushebung  dieses  Einzelgebietes  hat  es  dem 
Verf.  möglich  gemacht,  immer  aus  eigener,  genauer  Kenntnis  der  Quellen  zu 
schöpfen  und  so  etwas  wirklich  Zuverlässiges  zu  bieten;  die  Mängel,  die  z.  B. 
dem  vielbenutzten  Werke  von  v.  Hovorka  und  Kronfeld  anhaften,  zeigen  ja,  wie 
selbst  bei  zwei  Verfassern  eine  ganz  einwandfreie  Darstellung  kaum  noch  möglich 
ist,  wenn  das  behandelte  Gebiet  zu  umfangreich  wird.  Für  keinen  Teil  Deutsch- 
lands dürfte  es  zurzeit  eine  so  reichhaltige  Darstellung  der  Volksmedizin  geben, 
wie  sie  S.  für  Sachsen  geliefert  hat,  und  sein  Buch  darf  man  getrost  mit  unent- 
behrlichen Werken,  wie  z.  B.  Wuttke-Meyer  und  neuerdings  Sartori,  in  eine  Reihe 
stellen. 

Berlin-Pankow.  Fritz  Boehm. 


:330  liolte: 

Antti  Aarne,  Leitfaden  der  vergleichenden  Märchenforschung.  Hamina  1913. 
IV,  87  S.  (F.  F.  Communications  ed.  by  J.  Bolte,  K.  Krohn,  A.  Olrik, 
C.  W.  V.  Sydow  nr.  13).  —  Übersicht  der  Märchenliteratur.  Hamina  1914. 
IV,  76  S.  (F.  F.  Communications  nr.  14).  —  Die  Tiere  auf  derW^ander- 
schaft,  eine  Märchenstudie.  Hamina  1913.  V,  174  S.  (F.  F.  Communi- 
cations nr.  11),  —  Der  tiersprachenkundige  Mann  und  seine  neugierige 
Frau,  eine  vergleichende  Märchenstudie.  Hamina  1914.  IV,  83  S. 
(F.  F.  Communications  nr.  15). 

Gern  hätte  ich  an  dieser  Stelle  über  alle  wichtigeren  Erscheinungen  der  letzten 
Jahre  auf  dem  Gebiete  der  Märchenforschung  einen  kurzen  Bericht  erstattet;  da 
mir  jedoch  die  Müsse  dazu  geraubt  ist,  möchte  ich  wenigstens  auf  einige  Schriften 
des  tiberaus  eifrigen  finnischen  Forschers  Aarne  hinweisen,  die  besonders  als  Ein- 
führung in  diese  junge  Wissenschaft  allgemeineres  Interesse  verdienen.  Schon 
1910  hat  Aarne  ein  nutzbringendes  Verzeichnis  sämtlicher  ihm  bekannter  Märchen- 
typen in  systematischer  Anordnung  veröffentlicht  (s.  oben  21,  181).  Jetzt  bietet 
er  Studierenden  und  Mitforschern  einen  praktischen  Leitfaden  dar,  der  zumeist 
aus  seinen  eigenen  Erfahrungen  geschöpft  ist  und  nicht  bloss  gute  Kenntnis  des 
ausgebreiteten  Materials  dartut,  sondern  auch  eine  nüchterne,  gesunde  Anschauung 
der  Probleme,  die  er  auf  klare  und  einfache  Weise  zu  formulieren  weiss.  In  knapper 
Form  bespricht  er  die  hauptsächlichen  Theorien  über  den  Ursprung  der  Märchen, 
die  arische  der  Brüder  Grimm,  die  man  auch  die  mythologische  nennen  könnte, 
die  indische  Benfeys  und  die  anthropologische  Tylors  und  Längs,  um  sie  alle  zu 
verwerfen  und  sich  der  von  seinem  Lehrer  Kaarle  Krohn  entwickelten  Ansicht  an- 
zuschliessen.  Er  sucht  den  Ursprung  der  Märchen  nicht  mit  den  englischen  An- 
thropologen in  der  Urzeit,  sondern  mit  Benfey  in  geschichtlicher  Zeit;  und  während 
Adeline  Rittershaus  ursprünglich  nur  Einzelmotive  annimmt,  die  später  willkürlich 
gemischt  und  zu  einem  Ganzen  verbunden  wurden,  ist  ihm  jedes  Märchen  ursprüng- 
lich eine  feste  Erzählung,  die  nur  einmal  an  einer  bestimmten  Stelle  und  zu  einer 
bestimmten  Zeit  entstanden  ist.  Wenn  sich  darin  Gebräuche  und  Anschauungen 
einer  primitiven  Kulturstufe  finden,  so  folgt  daraus  nicht,  dass  das  ganze  Märchen 
dieser  Periode  entstammt.  Die  Märchen  sind  Dichtungen,  hervorgegangen  aus  der 
bewussten  Absicht,  die  Hörer  durch  diese  Spiele  der  Einbildungskraft  zu  erheitern. 
Sie  sind  in  verschiedenen,  Gegenden  entstanden,  nicht  nur  in  Indien,  sondern  auch 
in  Nord-  und  Südeuropa;  ihre  Herkunft  muss  durch  die  Spezialuntersuchung  in 
jedem  einzelnen  Falle  ermittelt  werden.  Sehr  verschieden  ist  ihr  Alter;  so  hat, 
wie  ich  einschalten  möchte,  F.  v.  d.  Leyen  in  seiner  Jubiläumsausgabe  der 
Grimmschen  Kinder-  und  Hausmärchen  (Jena,  E.  Diederichs  1912)  den  inter- 
essanten Versuch  gemacht,  die  203  Nummern  nach  den  Jahrhunderten  ihrer  Ent- 
stehung in  neun  Gruppen  zu  ordnen.  Die  neueren  Märchen  sind  zumeist  Schwanke. 
Die  Verbreitung  der  Märchen  geschah  bis  in  die  jüngste  Vergangenheit  weitaus 
mehr  durch  mündliche  Überlieferung  als  durch  die  Literatur.  —  Das  zweite  Kapitel 
zählt  die  psychologischen  Ursachen  (A.  nennt  sie  mit  Olrik  'Gesetze')  der  Ver- 
änderungen von  Märchen  auf:  der  Erzähler  vergisst  einen  Zug,  schiebt  am  Anfang 
oder  Schluss  einen  verwandten  Stoff  ein,  verbindet  verschiedene  Märchen  zu  einem 
Ganzen  usw.  Bei  der  Vervielfältigung  spielt  die  Dreizahl  und  die  Analogie  eine 
Rolle,  eine  Tiergeschichte  wird  zu  einem  Menschenabenteuer,  ein  Märchen  wird 
zur  Ich-Erzählung,  es  wird  in  einem  andern  Lande  akklimatisiert,  in  einer  andern 
Zeit  modernisiert.    —    Drittens    erläutert    der  Vf    die  von  Krohn    an  den   in  ver- 


Büclieranzeigen.  331 

schiedenen  Gegenden  Pinnlands  aufgezeichneten  Versionen  der  Kalevalalieder  und 
an  den  Tiermärchen  erprobte  historisch-geographische  Methode,  die  auch  er  in 
einer  Reihe  von  Monographien  über  Märchenstoffe  angewandt  hat.  Die  Varianten 
werden  in  eine  geographische  und,  soweit  möglich,  historische  Ordnung  gebracht; 
die  Erzählung  wird  in  Hauptteile  und  diese  in  Einzelzüge  zerlegt,  das  ganze 
Material  für  jeden  Zug  durchmustert  und  die  Urform  sowie  der  Weg  des  wandern- 
den Märchens,  der  auch  für  die  Völkerpsychologie  und  die  Geschichte  der  Kultur 
von  Bedeutung  ist,  festgestellt.  Ältere  literarische  Fassungen  sind  natürlich  wichtig, 
aber  doch  erst  Beweismittel  zweiten  Ranges,  da  sie  wieder  auf  mündlichen  Er- 
zählungen beruhen.  Vom  Orient  nach  Europa  und  umgekehrt  führen  zwei  Wege, 
durch  Russland  und  über  die  Balkanhalbinsel.  In  Finnland  lässt  sich  das  Zu- 
sammentreffen zweier  Märchenströme,  aus  Skandinavien  und  aus  Russland,  nach- 
weisen. —  In  den  letzten  beiden  Kapiteln  gibt  A.  Winke  für  die  von  den  jungen 
Märchenforschern  zu  befolgende  Technik,  schildert  die  Tätigkeit  des  internationalen 
Bundes  'Folklore  Fellows',  in  dessen  Schriften  die  oben  verzeichneten  Schriften 
erschienen  sind,  die  Krohnsche  Anordnung  und  Bezeichnung  der  Völker  und  er- 
läutert seine  Lehren  an  ausgewählten  Beispielen. 

Eine  notwendige  Ergänzung  dieses  Leitfadens  bildet  die  'Übersicht  der 
Märchenliteratur'  des  Orients  und  Occidents,  die  zwar  als  Anleitung  iixv 
Studierende  bestimmt  ist,  aber  auch  den  Pachgenossen  manches  Neue  bieten  wird. 
Denn  der  Vf.  gibt  keine  blosse  Bibliographie,  sondern  eine  sorgfältige  Auswahl 
des  Wertvollen,  die  auf  eignem  Studium  und  auf  Auskünften  berufener  Kenner 
der  verschiedenen  Literaturen  beruht;  er  charakterisiert  den  Inhalt  der  Sammlungen 
und  geht  auf  Streitfragen,  wie  z.  B.  auf  die  über  die  Quellen  des  mongolischen 
SiddhI-Kür,  ein.  Natürlich  wird  hie  und  da  eine  Berichtigung  oder  ein  Nachtrag 
gemacht  werden  können;  auch  darf  man  an  die  Anordnung  keinen  allzu  strengen 
Massstab  anlegen. 

Gleichzeitig  mit  dem  Leitfaden  hat  A.  zwei  Monographien  über  bekannte 
Märchen  erscheinen  lassen,  die  als  lebendige  Illustration  seiner  Theorie  dienen 
können.  Für  'die  Wanderung  der  Tiere',  von  der  er  mehrere  hundert 
Varianten,  darunter  nahezu  hundert  ungedruckte  aus  Finnland,  zusammengebracht 
hat,  unterscheidet  er  eine  asiatische  und  eine  europäische  Fassung.  In  jener  gehen 
ein  Ei,  ein  Skorpion,  eine  Nadel  und  ein  Mörser  auf  die  Reise,  verstecken  sich 
in  einem  Hause,  quälen  nachts  die  Hausbesitzerin  und  bringen  sie  schliesslich  ums 
Leben;  in  dieser  sind  nur  Haustiere  die  Wanderer  und  ihre  Gegner  im  Wald- 
hause Wölfe,  die  erst  in  späteren  Aufzeichnungen  durch  Räuber  ersetzt  werden. 
Die  Urform  stammt  aus  Süd-  oder  Ostasien  und  muss  vor  dem  12.  Jahrhundert 
durch  mündliche  Vermittlung  auf  dem  südlichen  Wege  nach  Europa  gekommen 
sein,  wo  sie  im  lateinischen  Epos  Ysengrimus,  bei  H.  Sachs  und  Rollenhagen 
Aufnahme  fand.  Im  19.  Jahrhundert  ist  sie  durch  Grimms 'Bremer  Stadtmusikanten' 
bis  nach  Finnland  gedrungen.  —  Auch  bei  dem  Märchen  von  der  Tiersprache, 
die  der  Held  von  einer  dankbaren  Schlange  lernt,  und  von  seiner  neugierigen 
Frau,  die  er  auf  den  Rat  des  Hahnes  straft,  scheiden  sich  deutlich  eine  orientalische 
wohl  abgerundete  Form  und  eine  westliche  Fassung,  die  schon  im  13.  Jahrhundert 
bekannt  war,  in  der  aber  einige  Züge  durch  fremden  Einfluss  eine  ganz  andere 
Gestalt  bekommen  haben.  Benfey  erklärt  die  indische  Gestalt  für  die  ursprüng- 
liche, während  W.  Klinger  (1909)  sie  aus  der  altgriechischen  Literatur  ableiten 
will.  A.  pflichtet  der  Ansicht  Benfeys  bei  und  erklärt  sich  gegen  die  Ansicht 
T.  d.  Leyens,  der  eine  allmähliche  Entwicklung  der  indischen  Geschichte  aus  zwei 
Motiven,    der    Kenntnis    der  Ameisensprache    und    dem    Lachen    des  Königs,    an- 


332  Bolte,  Scheftelowitz,  Mielke: 

nimmt.     'Soweit    wir    das  Märchen    kennen,    kennen   wir    es  als  eine  vollständige 
Erzählung  oder  als  ein  davon  abgetrenntes  Bruchstück.' 

Berlin.  Johannes  Bolte. 


Micha  Josef  Bin  Gorion,  Die  Sagen  der  Juden,  gesammelt  und  bearbeitet. 
Bd.  II:  Die  Erzväter.  Frankfurt  a.  M.  Rütten  &  Loening  1914.  XV, 
446  S.     8».     Geh.  7  Mk  ,  geb.  8,50,  11  und  35  Mk. 

Während  der  erste  Band:  'Von  der  Urzeit'  die  Sagen  zu  den  ersten  neun 
Kapiteln  der  Genesis  behandelt  (s.  oben  S.  97),  enthält  der  zweite  die  Sagen  von 
der  Ausbreitung  der  Völker  nach  der  Sintflut  und  von  den  Erzvätern;  sie  erstrecken 
sich  auf  die  Kapitel  10 — 28  des  ersten  Buches  Mosis.  Die  Übersetzung  dieses 
zweiten  Bandes  hat  vor  dem  ersten  Bande  insofern  den  Vorzug,  als  sie  dem 
deutschen  Sprachgeiste  mehr  angepasst  ist.  Auch  in  diesem  Bande  kann  der  ver- 
gleichende Religioiisforscher  manches  interessante  Material  finden.  S.  26  wird 
die  aus  Sefer  Hajjäsär  entnommene  Sage  'Stern  Abrahams'  behandelt,  gemäss 
welcher  die  Weisen  und  Wahrsager  gleich  bei  der  Geburt  Abrahams  im  Osten 
einen  eigentümlich  grossen  Stern  gesehen  haben,  der  durch  den  Himmel  lief  und 
vier  Sterne  von  den  vier  Himmelsrichtungen  verschlang.  Über  diesen  astrologi-^ 
sehen  Aberglauben,  der  im  Altertum  weit  verbreitet  war,  vgl.  Scheftelowitz,  Arch. 
f.  Religionswissenschaft  14,  42 f.;  Voigt,  Die  Geschichte  Jesu  und  die  Astrologie,. 
Leipzig  1911.  —  S.  209:  'Der  Raub  der  Tubaistöchter',  eine  Sage,  die  ebenfalls 
im  Sefer  Hajjfisär  erzählt  wird  und  zum  Teil  an  Richter  c.  21  anklingt,  ist  eine 
Bearbeitung  der  römischen  Sage  von  dem  Raube  der  Sabinerinnen  (Livius  1,  9). 
Schon  der  Umstand,  dass  die  Jünglinge  die  Mädchen  aus  der  Stadt  Sabina 
rauben,  weist  darauf  hin.  —  S.  213:  Die  griechische  Sage  von  dem  Prokrustes- 
Bett  ist  gleichfalls  in  die  altjüdische  Literatur  eingedrungen.  Bereits  im  Bab, 
Talm.  Sanhedrin  109b  wird  sie  erwähnt:  Die  sittenlosen  Einwohner  der  Stadt 
Sodom  hatten  ein  Bett,  auf  das  sie  jeden  Fremden,  der  in  dieser  Stadt  über- 
nachten wollte,  hineinlegten.  War  der  Fremde  länger  als  das  Bett,  so  kürzten 
sie  dessen  Füsse,  war  er  aber  kürzer  als  das  Bett,  so  reckten  sie  seine  Glieder 
aus  und  marterten  so  die  Fremden  zu  Tode.  Auf  diese  Talmudlegende  spielt 
auch  ein  von  Mose  Ben  Qalonymus  verfasstes  Gebet  an,  das  sich  im  Malizör  des 
8.  Pesalitages  unter  Saliarit- Gebeten  befindet  und  mit  den  Worten:  'Mä  mö'il 
räsä'  beTiläw'  beginnt.  —  S.  327:  "Abraham  hätte  an  seinem  Halse  eine  grosse 
Perle  getragen,  und  jeder  Kranke,  der  darauf  sah,  sei  alsbald  geheilt  worden'. 
Die  Perle  galt  bei  vielen  Völkern  als  Amulett,  so  bei  den  alten  Indern  (Atharva- 
veda  IV  10,  Iff.),  den  Tschi-Negern  und  den  Dajaks  (vgl.  Scheftelowitz,  Schlingen- 
und  Netzmotiv  im  Glauben  und  Brauch  der  Völker  1912,  S.  30.  48),  bei  den 
Albaniern,  Griechen  und  Ungarn  (vgl.  Zachariae,  Wiener  Ztschr.  f.  d.  Kunde  d. 
Morgenl.  17,  223  f.). 

Cöln  a.  Rh.  Isidor  Scheftelowitz. 


IValtlier  Schulz-Minden,  Das  Germanische  Haus  in  vorgeschichtlicher  Zeit. 
Mit  48 Textabbildungen  (Mannus-Bibliothek,  herausgegeben  v.  G.Kossinna, 
Nr.  11).  Würzburg,  C.  Kabitzsch  1913.  VIII,  125  S.  8°.  4  Mk.  (Sub- 
skriptionspreis 3,20  Mk.) 


Bücheranzeigen.  333 

Seit  sich  die  Ausgrabungstechnik  an  den  Limes-Untersuchungen  ausserordent- 
lich vervollkommnet  hat,  war  eine  systematische  Ausdehnung  der  Hausforschung 
in  die  Vorgeschichte  hinein  mit  Bestimmtheit  zu  erwarten.  Von  den  zum  Teil 
älteren  skandinavischen  Arbeiten  abgesehen,  haben  gerade  die  letzten  zehn  Jahre 
Ergebnisse  gebracht,  die  dringend  einluden,  sie  mit  den  ethnographischen 
Forschungen  in  Beziehung  zu  setzen.  Dr.  Schulz-Minden  hat  sich  dieser  Aufgabe 
mit  Hingabe  und  erfreulichem  Erfolge  unterzogen,  wenn  er  sich  auch  aus  guten 
Gründen  auf  die  germanischen  Reste  beschränkte.  Dass  er  sich  als  Schüler 
Kossinnas  bekennt  und  die  P'orschungen  dieses  vielbefehdeten  Archäologen  zum 
Ausgangspunkt  nimmt,  wird  zwar  nicht  überall  gutgeheissen  werden,  gibt  ihm 
aber  eine  feste  geographische  Unterlage  für  seine  Untersuchung.  Sehr  glücklich 
ist  meines  Erachtens  die  Methode,  von  den  zeitlich  jüngsten  Formen  auszugehen 
und  das  Haus  der  römischen  und  der  La-Tene-Zeit  zuerst  zu  behandeln.  Es  wird 
dadurch  einerseits  eine  Brücke  zu  den  literarischen  Quellen  geschlagen,  anderer- 
seits aber  die  Möglichkeit  gewonnen,  die  unbestimmten  Verhältnisse  der  älteren 
Zeit  von  festen  Richtpunkten  aus  zu  durchleuchten.  Der  Verfasser  kommt  auf 
diese  Weise  ungezwungen  über  die  frühe  Eisen-  und  Bronzezeit,  die  er  einheitlich 
zusammenfasst,  in  die  Steinzeit.  Auch  er  gelangt  auf  dem  archäologischen  Wege 
zu  der  Annahme  eines  nordeuropäischen  bzw.  germanischen  Dachhauses,  das 
kaum  noch  abzulehnen  sein  wird.  Merkwürdigerweise  hat  er  dabei  das  vertiefte 
Haus  unbeachtet  gelassen,  das  nicht  nur  einzelne  Eigentümlichkeiten  des  späteren 
Hauses  erklärt  und  daher  nicht  ohne  Einwirkung  auf  die  spätere  Gestaltung  des 
altnordischen  Hauses  geblieben  sein  kann,  sondern  dessen  alte  Vorherrschaft  im 
Norden  noch  durch  Beispiele  aus  den  letzten  Jahrhunderten  bezeugt  ist.  Auch 
das  Fehlen  einer  gemeingermanischen  Bezeichnung  für  Wand  und  das  spätere  Auf- 
kommen der  vom  Verfasser  mit  Recht  herangezogenen  Flechtwand  bei  den  Nord- 
und  Westgermanen  (S.  89)  dürfte  um  so  mehr  mit  dem  Herauswachsen  des  ver- 
tieften Hauses  aus  der  Erde  zusammenhängen,  als  solche  Flechtwände  zur  Be- 
kleidung der  Erdwände  in  Schottland  tatsächlich  belegt  sind  (Proceedings  of  the 
Society  of  Antiquaries  of  Scotland  1902  S.  75;  1903  S.  o6).  Die  rätselhaften 
Steinhäufungen  von  Biesdorf  (1908)  sind  sicher  keine  Herdstellen,  da  sie  in  der 
Regel  nur  1  — 2  Meter  weit  auseinanderliegen.  Sehr  mit  Recht  steht  Verf.  den 
Darstellungen  der  Markussäule  in  Rom  misstrauisch  gegenüber,  die  sich  trotz  der 
Autorität  von  Domaszewski  und  Petersen  schwerlich  als  Abbildungen  germanischer 
Häuser  verteidigen  lassen.  Nicht  ganz  verständlich  ist  die  Annahme  einer  Längs- 
laube bei  dem  Hause  von  Rings  (S.  19  und  27),  das  Verf.  richtig  als  ein  Dach- 
haus ansieht,  bei  dessen  Breite  von  13  Metern  eine  4  Meter  weit  vorgerückte 
Längslaube  schlechterdings  unmöglich  ist.  So  zurückhaltend  der  Verfasser  auch 
bei  Verwertung  der  Hausurnen  (S.  60)  ist,  so  befremdet  doch  der  aus  ihnen  ge- 
wonnene Schluss  auf  das  gleichzeitige  Vorkommen  von  Rund-  und  Viereckbau. 
Haben  die  Urnen  vielfach  eine  runde  Gestalt,  so  ist  diese  wohl  weniger  eine 
Nachbildung  bestimmter  Häuser  als  eine  aus  der  Technik  bedingte  Anlehnung  an 
die  Topfform.  Bis  jetzt  ist  wenigstens  in  zweifellos  germanischen  Gebieten  das 
gleichzeitige  Vorkommen  beider  Haustypen  archäologisch  noch  nicht  nachgewiesen, 
obwohl  es  im  Westen  und  auf  altgriechischem  Boden  kaum  zu  bezweifeln  ist. 

Diese  sachlichen  Ergänzungen  sollen  keine  Herabminderung  des  Buches  sein, 
das  in  seiner  Anlage  und  Durchführung  eine  sehr  wertvolle  Bereicherung  ist. 

Berlin-Halensee.  Robert  Mielke. 


334  Notizen. 

Notizen. 

A.  Hellwig,  Ritualmord  und  ßlutaberglaube.  Minden  i.  W.,  J.  C.  C.  Bruns  [1914}.. 
174  S.  8°.  Geb.  2  Mk.  —  Der  durch  seine  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  kriminellen 
Psychologie  und  Volkskunde  bekannte  Verfasser  gibt  zunächst  einen  Überblick  über  die 
hauptsächlichsten  gegen  die  Juden  gerichteten  Ritualmordbeschuldigungen  uDd  -prozesse 
seit  dem  Jahre  1475  bis  zu  dem  in  letzter  Zeit  viel  besprochenen  Kiewer  Fall  im  Jahre 
1913;  darauf  weist  er  aus  dem  Pentateuch  und  der  jüdischen  Ritualliteratur  nach,  dass 
einerseits  von  einer  rituellen  Verwendung  des  Menschenblutes  nirgends  die  Rede  ist, 
andererseits  aber  die  Vorschriften  über  den  Blutgenuss  und  die  Auffassungen  vom  Wesen 
des  Blutes  als  Sitzes  der  Seele  derartige  sind,  dass  aus  ihnen  abergläubische  Vorstellungen 
über  die  Verwendung  von  Menschenblut  wohl  erwachsen  konnten.  In  der  darauf  fol- 
genden kriminalpsychologischen  Betrachtung  der  Ritualmordprozesse  kommt  H.  zu  dem. 
Ergebnis,  dass  die  belastenden  Zeugenaussagen  entweder  bewusste  Unwahrheiten  oder  — 
und  zum  grösseren  Teile  —  unbewusste  Aussagefälschungen  darstellen.  Auch  die  Gut- 
achten von  Sachverständigen,  die  für  die  Existenz  des  Ritualmordes  sprechen,  erweisen 
sich  ihm  bei  näherer  Betrachtung  als  nicht  beweiskräftig,  dasselbe  gilt  für  die  Ge- 
ständnisse. Dass  trotz  alledem  die  Ritualmordbeschuldigungen  nicht  aufhören,  liegt,  ab- 
gesehen von  der  allgemein  verbreiteten  Anschauung  von  der  übernatürlichen  Kraft  des 
Blutes,  auch  an  dem  Misstrauen,  mit  dem  allgemein  fremden  Rassen,  Andersgläubigen, 
Sektierern  usw.  begegnet  wird;  wurden  doch  bekanntlich  auch  christliche  Sekten  des 
Kiudermordes  beschuldigt.  Das  3.  Kapitel  ist  dem  Blutaberglauben  im  allgemeinen  ge- 
widmet, dessen  all«:emeine,  auf  Christen  wie  Juden  wie  Heiden  sich  erstreckende  Ver- 
breitung mit  vielen  Beispielen  bewiesen  wird  und  der  überall  auf  der  Erde  zu  Straftaten 
und  Morden  das  Motiv  gewesen  ist;  auch  bei  den  Juden  ist  er  zugleich  mit  vielen  anderen 
abergläubischen  Vorstellungen,  die  sie  zum  Teil  von  anderen  Völkern  übernommen  haben,, 
nachzuweisen.  Der  Verf.  kommt  zu  folgendem  Endergebnis  (S.  156f.):  'Ebensowenig, 
wie  man  daran  zweifeln  kann,  dass  ein  abergläubischer  Christ  auch  heutigen  Tages  unter 
Umständen  noch  einen  Mord  aus  Blutaberglauben  begehen  kann,  ebensowenig  lässt  sich 
in  Abrede  stellen,  dass  auch  ein  abergläubischer  Jude  einen  Mord  aus  Blutaberglauben 
verüben  kann.'  Man  darf  Avohl  sagen,  dass  H.s  Buch  das  Bedeutendste  und  Reichhaltigste 
ist,  was  bisher  über  die  immer  wieder  auftauchende  Ritualmordfrage  geschrieben  ist. 
Stracks  Schrift  'Das  Blut  im  Glauben  und  Aberglauben  der  Menschheit  (;;i892.  5.-7.  Aufl. 
1900\  aus  der  H.  viele  seiner  Angaben  entnommen  hat,  wird  von  ihm  an  Reichhaltigkeit 
des  Materials  bedeutend  übertroffen.  Neu  und  wichtig  ht  besonders  die  Behandlung  der 
Frage  vom  kriminalpsychologischen  Standpunkte  aus  und  anerkennenswert  die  Ruhe  und 
Unparteilichkeit,  mit  der  der  Verf.  das  heikle  Thema  behandelt,  das  so  oft  der  Gegen- 
stand hetzerischer  und  unwissenschaftlicher  Schriftstellerei  gewesen  ist.     [F.  B.] 

Th.  Imme,  Vosskühlers  Pitt.  Eine  Geschichte  aus  dem  Altessener  Kinderleben. 
Essen,  G.  D.  Baedeker  1914.  IV,  G5  S.  8'\  0,40  Mk.  —  Im  Rahmen  einer  einfachen 
Erzählung  stellt  der  Verf.  allerlei  Meinungen,  Gebräuche,  Sprichwörter,  Reime  u.  dgl. 
zusammen,  wie  sie  dereinst  das  Leben  eines  Essener  Kindes  von  der  Geburt  bis  zum  Ein- 
tritt in  die  Lehre  begleiteten.  Von  wissenschaftlicher  Bedeutung  ist  das  Buch  nicht,  da 
gediuckte  Quellen  nicht  angegeben  Averden;  von  solchen  abgesehen,  konnte  sich  der  Verf. 
der  Beihilfe  einer  alten  Essenerin  erfreuen,  er  selbst  ist  kein  Essener  von  Geburt. 
Wesentlich  Neues  wird  nicht  geboten,  immerhin  wird  das  Büchlein  in  dem  kleinen  Kreis, 
für  den  es  wohl  bestimmt  ist,  mit  Interesse  gelesen  werden.     [F.  B.] 

R.  Kleinpaul,  Volkspsychologie.  Das  Seelenleben  im  Spiegel  der  Sprache.. 
Berlin  und  Leipzig,  G.  J.  Göschen  1914.  VII,  211  S.  8°.  Geh.  4.60  Mk.,  geb.  5,50  Mk.  — 
Der  Verf.  unterscheidet  die  'Volkspsychologie'  als  Psychologie  der  durchschnittlichen 
Einzelnen  von  der  Völkerpsychologie  als  der  Lehre  vom  Denken  der  Kollektivseele  — 
eine  nötige,  aber  oft  schwer  durchzuführende  Unterscheidung.  Seine  eigene  Aufgabe 
sucht  er  zu  lösen,  indem  er  die  Metaphern,  zu  denen  die  volkstümliche  Vorstellung  (wie 
übrigens  die  gelehrte  auch!)  notwendig  greift,  in  einer  Folge  inhaltlicher  Gruppen  zu- 
sammenstellt:   'Das  Gemüt   und  die  Schimäre    der  Gemütsbewegungen',    'Arbeit,   die  der 


Notizen.  335- 

Seele  gegeben  wird'  u.  dgl.  Das  wäre  nun  alles  schön  und  gut,  wenn  die  Etymologien 
sicherer  wären  und  wenn  vor  allem  der  vielbelesene  und  witzige  Verf.  seinem  Hang  zum 
Kombinieren  und  zum  "Witzeln  nicht  gar  so  unbedingt  nachgeben  wollte.  Es  macht  aber 
nicht  jedem  Vergnügen,  Überschriften  zu  lesen,  wie  (S.  97):  'Rechter  Sinn  und  Irrsinn. 
Der  Luftballon,  das  Delirium,  die  Verrücktheit.  Die  Gerechtigkeit'.  Schliesslich  sollte 
doch  auch  die  populärste  Darstellung  in  einem  anderen  Stil  geschrieben  sein  als  eine 
Humoreske  von  Hartleben!     [Richard  M.  Meyer.] 

R.  Kühn  au.  Sagen  aus  Schlesien  (mit  Einschluss  Österreichisch-Schlesiens)  ge- 
sammelt und  hsg.  Berlin-Friedenau,  H.  Eichblatt  [19 W].  XVI,  182  S.  8°  mit  Abbildungen. 
2,50  Mk.  (Eichblatts  Deutscher  Sagenschatz  Bd.  4).  —  Für  den  schlesischen  Band  des 
nützlichen  Eichblattschen  Sammelwerkes  war  Kühnau,  der  kürzlich  ein  vierbändiges  Corpus 
der  schlesischen  Sagen  vollendet  hat  (oben  23,  210),  sicherlich  der  geeignetste  Bearbeiter. 
Er  hat  für  weitere  Kreise  die  besten  und  bezeichnendsten  Stücke  jenes  grossen  Werkes 
ausgewählt  und  auch  vou  den  dort  übergangenen  Rübezahlsagen  und  geschichtlichen 
Erzählungen  einige  hinzugetan.  Die  Anordnung  der  223  Nummern  schliesst  sich  im  all- 
gemeinen den  früheren  Bänden  an;  das  Vorwort  berichtet  über  die  älteren  schlesischen 
SagensammluDgen  seit  Prätorius  'Daemonologia  Rubiuzalii'  ;^1662\    [J.  B.] 

Elisabeth  Lemke,  Asphodelos  und  anderes  aus  Natur-  und  Volkskunde,  1.  Teil. 
Alienstein,  Harich  1914.  VIII,  219  S.  —  Die  als  treffliche  Kennerin  des  Volkstums  ihrer 
ostpreussischen  Heimat  bekannte  Verfasserin,  die  seitdem  durch  ausgedehnte  Reisen  und 
Studien  ihren  Beobachtungskreis  erweiterte,  legt  uns  eine  Sammlung  ihrer  in  Zeitschriften 
und  Zeitungen  zerstreuten  Aufsätze  vor.  In  diesen  Skizzen  und  Vorträgen  geht  sie  nicht 
darauf  aus,  ihren  Gegenstand  systematisch  und  erschöpfend  zu  behandeln,  sie  besitzt  aber 
die  nicht  gering  zu  schätzende  Gabe,  durch  Mitteilung  persönlicher  Eindrücke  und  Lese- 
früchte auch  in  Fernerstehenden  das  Interesse  an  unserer  Wissenschaft  anzuregen.  Und 
sollte  ein  allzu  kritisch  gestimmter  Leser  an  dem  frischen  Plaudertone  oder  dem  mit  raschen 
Übergängen  hierhin  und  dorthin  springenden.  Wichtiges  und  Nebensächliches  neben- 
einander setzenden,  obwohl  keineswegs  geistreichelnden  Stile  etwas  auszusetzen  haben,  so 
wird  auch  der  ernste  Forscher  hier  ausgedehnte  Kenntnis,  gewissenhafte  Quellenzitate 
und  manche  ihm  neue  und  wertvolle  Tatsache  entdecken.  So  bietet  der  erste  Aufsatz 
über  den  Asphodelos,  aus  dessen  Wurzeln  in  Frankreich,  Italien  und  Spanien  ein  Brannt- 
wein (porrazzo,  cardillioni,  gamon)  hergestellt  wird,  ein  hübsches  Bild  persönlicher 
Forschung.  Es  folgen  Artikel  über  den  Wacholder,  die  Rose,  den  Birnbaum,  die  Pimpinelle, 
den  Judenbaum  (Cercis  Siliquastrum\  den  Kaffee,  ferner  über  einige  Tiere:  Mäuse  und 
Ratten,  den  Raben,  die  Krähe,  die  Gans,  Frösche  und  Kröten,  den  Karpfen,  Houig  und 
Wachs,  und  endlich  über  die  rote  Farbe;  einige  davon  werden  den  Besuchern  unserer 
monatlichen  Versammlungen  das  Andenken  an  dort  gehörte  Vorträge  erneuern.     [J.  B.| 

Quickborn-Bücher,  herausgegeben  vom  Quickborn,  Vereinigung  von  Freunden 
der  niederdeutschen  Sprache  und  Literatur  in  Hamburg,  e.  V.  3.  Band:  Schnack  und 
Schnurren  von  Friedrich  Wilhelm  Lyra,  hsg.  v.  G.  Kiihlmann.  Gl  S.  —  5.  Band:  Fink- 
warder  Speeldeel,  zwei  plattdeutsche  Einakter  von  Gorch  Fock  und  Hinrich  Wriede. 
65  S.  Hamburg,  A.  Janssen  1913-1914;  je  50  Pf.  —  Lyras  1844  erschienenes  Werk 
'Plattdeutsche  Briefe,  Erzählungen  und  Gedichte'  ist  nur  wenig  bekannt  geworden,  obwohl 
es  als  Fundgrube  für  Ausdrücke,  Wendungen,  Sprichwörter  wie  auch  für  volkstümliche 
Gebräuche  u.  dgl.  keineswegs  zu  verachten  ist.  So  ist  es  erfreulich,  dass  in  dem  vor- 
liegenden Bändchen  dem  Publikum  eine  die  wichtigsten  Stücke  jenes  Buches  enthaltende 
Auswahl  in  lesbarer  Form  geboten  wird.  Der  Herausgeber  hat  die  lästige  Briefform  des 
Urbildes  aufgegeben  und  das  Schrift system  Lyras,  der  eine  möglichst  lautgetreue  Wieder- 
gabe anstrebte,  wesentlich  vereinfacht  und  gut  daran  getan.  Auch  so  bietet  Lyras 
Sprache,  die  Osnabiücker  Mundart,  wie  sie  im  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  gesprochen 
wurde,  dem  etwa  nur  an  Reuter  und  Groth  gewöhnten  Laien  genug  der  Schwierigkeiten. 
Viellficht  könnte  aus  diesem  Grunde  bei  einem  Neudruck  das  Wörterverzeichnis  erweitert 
werden,  das  jedenfalls  tür  Fernerstchende  zurzeit  nicht  ausreicht.  Doch  wird  der,  der 
sich  in  die  Schnurren  Lyras  hineinliest,  sicher  reich  belohnt  werden  durch  die  Fülle  des 
hier  gebotenen  urwüchsigen  Sprachtums    und    die   humorvolle  Darstellungsweise  des  Ver- 


336  Notizen. 

fassers,  der  auch  sachlich  Tiel  Interessantes  einflicht.  —  Das  5.  Bändchen  enthält  einen 
Einakter  ernsten  Inhalts  'Cili  Cohrs'  von  G.  Fock  und  ein  heiteres  Spiel  aus  dem  Finken- 
werderer  Dorfleben  'Leejje  Lud'  von  H.  Wriede;  beide  Verfasser  sind  bereits  früher  mit 
mundartlichen  Dichtungen  hervorgetreten.  Die  Absicht  des  Quickhorn-Vereines,  mit  diesen 
beiden  Stücken  literarisch  wertvolle  Erzeugnisse  für  läebhaberaulführungen  in  platt- 
deutschen Vereinen  zu  bieten,  ist  lobenswert,  und  in  der  Tat  sind  die  beiden  Einakter 
durchaus  zu  diesem  Zwecke  geeignet.     [F.  B.] 

F.  Sarasin,  über  die  Aufgälben  des  \Yeltnaturschufzes  (Denkschrift  gelesen  an 
<ier  Delegiertenversammlung  zur  Weltnaturschutzkommission  in  Bern  am  18.  November  1913). 
Basel,  Helbing  &  Lichtenhahn  1914.  IV,  62  S.  8\  2  Mk.  —  Eine  schwere  Anklage 
erhebt  der  durch  seine  hinterindischen  Forschungsreisen  bekannte  Direktor  des  Basler 
ethnographischen  Museums.  Wenn  die  Verwüstung  der  Natur  durch  rücksichtsloses  Töten 
der  grossen  Tiere  weiter  ungehemmt  vor  sich  geht,  dann  wird  sich  schon  die  nächste 
Generation  einer  Naturvfrarmung  gegenübersehen,  die  nicht  ohne  Einfluss  auf  die  Kultur 
bleiben  kann.  Sarasin  hat  über  den  Umfang  dieser  verwüstenden  Vorgänge  Materialien 
in  der  Schrift  niedergelegt,  die  jeden,  nicht  am  wenigsten  aber  die  Eegierungen  der 
Kulturländer,  zum  Nachdenken  bringen  sollten.     [R.  Mielke.] 

B.  Schmidt,  Das  sächsische  Bauernhaus  und  seine  Dorfgenossen.  Dresden,  Holze 
&  Pahl  [1914].  IV,  Gl  S.  89  Zeichnungen.  4».  Geh.  1,50,  geb.  2,75  Mk.  -  Das  erste 
Heft  einer  volkstümlichen  Schriftenreibe,  die  unter  dem  Titel  'Mit  offenen  Augen'  von 
dem  Dresdener  Zeichenlehrerverein  herausgegeben  wird^  Der  Zweck  ist  ein  erzieherischer; 
es  ist  daher  von  einer  wissenschaftlichen  Darstellung,  die  bekanntlich  der  Verein  für 
sächsische  Volkskunde  beabsichtigt,  abgesehen.  Um  so  klarer  wirken  die  etwas  kräftig 
ausgeführten  Zeichnungen  und  der  beigegebene  Text.     [R.  Mielke.] 

G.  Stein  hausen,  Geschichte  der  d»^ntschen  Kultur.  Zweite,  neubearbeitete  und 
vermehrte  Auflage.  2.  Band.  Leipzig  und  Wien,  Bibliographisches  Institut  1913  Vllf, 
536  S.  gr.  8".  127  Abb.  12  Tafeln  in  Farbendruck  und  Kupferätzung.  Geb.  10  Mk.  — 
Der  vorliegende  Band  behandelt  die  'nicktpolitische  Geschichte'  Deutschlands  vom 
14.  Jahrhundert  bis  zur  Gegenwart,  neu  hinzugekommen  ist  bei  der  Neubearbf'itung  eine 
dem  Einleitungskapitel  des  1.  Bandes  entsprechende  Geschichte  der  deutschen  Landschaft 
in  dem  dargestellten  Zeitraum  von  sechs  Jahrhunderten,  völlig  umgearbeitet  wurde  unter 
anderem  der  Abschnitt  über  die  künstlerische  i^ntwicklung  im  15.  und  16.  Jahrhundert. 
Von  besonderem  Werte  ist  das  ausführliche,  38  Seiten  umfassende  Sachregister  für  das 
ganze  Werk,  das  die  Fülle  des  verarbeiteten  Stoffes  deutlich  erkennen  lässt.  Den  oben 
23,  433  zum  1.  Bande  gemachten  Bemerkungen  über  den  Wert  dieses  von  tiefer  Kenntnis, 
feinem  Stilgefühl  und  warmem  nationalen  Empfinden  erfüllten  Werkes  ist  weiteres  nicht 
hinzuzufügen.     [F.  B.] 

A.  V.  Weissembach,  Quellen  zur  Geschichte  des  Mittelalters  bis  zur  Mitte  des 
13.  Jahrhunderts  (Quellensammlung  zur  Geschichte  des  Mittelalters  und  der  Neuzeit, 
Bd.  1).  Leipzig,  K.  F.  Koehler  1913.  XII,  235  S.  gr.  8".  Geb.  5,75  Mk.  —  Das  Buch 
ist  auch  für  die  Volkskunde  nicht  ohne  Wert  durch  die  bequeme  Zusammenstellung  der 
ältesten  kulturgeschichtlichen  Nachrichten  über  die  Germanen  (Plutarch,  Caesar,  Tacitus), 
Hunnen  (Ammianus  Marcellinus)  und  Slawen  (Procopius);  erwähnt  sei  ferner  Karls  d.  Gr. 
Capitulare  de  partibus  Saxoniae,  in  dem  sich  einige  Strafbestimmungeu  gegen  den 
heidnischen  Volksglauben  linden.     [F.  B.] 


Mitteilung. 


Infolge    des    Krieges    findet    die    Abgeordnetenversammlung    des    Ver- 
bandes deutscher  Vereine  für  Volkskunde  in  Lindau  nicht  statt. 

Freiburg  i.  iJr.  John  Meier. 


^ 


3^ 


Abb.  1.    Spreewaldstube  in  der  Kgl.  Sammlung  für  deutsche  Volkskunde  zu  Berlin. 


Die  Entstehung  des  Berliner  Yolkstraclitenmuseums, 
jetzt  Königliche  Sammlung  für  deutsche  Volkskunde'). 

Von  Georg  Minden. 
(Mit  einer  Abbildung.) 


Nachdem  Berlin  durch  die  weltgeschichtlichen  Ereignisse  des  Jahres 
1870/71  zur  Hauptstadt  des  Deutschen  Reiches  erhoben  worden  war,  regte 
sich  daselbst  auf  allen  Gebieten  des  öffentlichen  Lebens  ein  tatkräftiger 
Schaffenstrieb.  Auch  die  Museen,  welche  fast  ausnahmslos  ihr  Entstehen 
dem  schöpferischen  Anstoss  der  Hohenzollern  verdankten,  füllten  sich  mit 
neuen  Schätzen  und  wurden  zu  eng  für  ihren  Inhalt.  So  wurde  für  die 
'Ethnographische  Sammlung'  und  die  'Nordischen  und  vaterländischen  Alter- 
tümer', welche  in  einigen  Sälen  des  Stülerschen,  an  der  Spree  belegeneu 
Neuen  Museums  aufgestellt  waren,  in  der  Königgrätzer  Strasse  ein  stolzer 
Prachtbau  errichtet  und  im  Jahre  1887  unter  dem  Namen  'Museum  für 
Völkerkunde'  eingeweiht. 


1)  Dieser  und  die  fünf  folgenden  Aufsätze  erscheinen  gleichzeitig  in  den  'Mitteilungen 
aus  dem  Verein  der  Königlichen  Sammlung  für  deutsche  Volkskunde  zu  Berlin',  Bd.  4. 
Heft  3. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.   1914.  Heft  4.  22 


338  Minden: 

Schon  während  der  Vorbereitungen  zu  diesem  Bau  hatte  am  24.  Mai  1878 
der  Vorstand  der  'Berliner  Gesellschaft  für  Anthropologie,  Ethnologie  und 
Urgeschichte'  an  die  Staatsbehörden  den  Antrag  gerichtet,  in  diesem 
Museum  eine  besondere  Nationale  Abteilung  für  deutsche  Trachten 
und  Geräte  einzurichten.  Aber  diese  Anregung  blieb  damals  erfolglos. 
Erst  im  Jahre  1888  trat  unter  dem  Vorsitz  Rudolf  Virchows  ein  Komitee 
zusammen,  um  den  Plan  zu  verwirklichen.  Sein  eifrigster  Förderer  war 
ein  aus  Stettin  nach  Berlin  versetzter  junger  Gymnasialoberlehrer  Dr.  Ulrich 
Jahn,  welcher  sich  eingehend  mit  Volkskunde  beschäftigt  und  ein  statt- 
liches Buch  über  die  Sao;en  seiner  Heimat  verfasst  hatte. 

Dieses  'Komitee  zur  Gründung  eines  Museums  für  deutsche 
Volkstrachten  und  Erzeugnisse  des  Hausgewerbes'  bestand  ur- 
sprünglich ausser  den  beiden  Genannten  aus  dem  Direktor  des  Völker- 
kundemuseums Professor  Dr.  Adolf  Bastian,  dem  Sammler  märkischer 
Sagen  Gymnasialdirektor  Wilhelm  Schwartz,  dem  Arzt  Dr.  Max  Bartels, 
dem  Direktor  der  prähistorischen  Sammlungen  Dr.  Albert  Voss,  dem  ger- 
manistischen Ordinarius  der  Berliner  Universität  Professor  Karl  Weinhold, 
dem  Direktor  des  Königlichen  Zeughauses  Professor  Hermann  Weiss,  dem 
Landgerichtsrat  Hollmann,  dem  Generalkonsul  William  Schönlank,  dem 
Syndikus  des  Berliner  Pfandbrief amts  Dr.  Georg  Minden,  welcher  als 
juristischer  Ratgeber  zugezogen  wurde,  dem  Besitzer  des  Panoptikums 
Louis  Castan,  ferner  aus  den  Herren  Franz  Goerke,  Jean  Keller,  Alexander 
Meyer  Cohn,  sämtlich  aus  Berlin,  ferner  aus  dem  in  Stettin  wohnhaften 
Gymnasialdirektor  Hugo  Lemcke. 

Das  Komitee  hielt  zahlreiche  Sitzungen  ab,  um  darüber  zu  beraten, 
wie  die  Geldmittel  zu  beschaffen  seien,  wie  die  Öffentlichkeit  für  den  Plan 
interessiert  werden  könne,  wie  eine  passende  juristische  Form  für  das 
Unternehmen  gefunden  werden  könne  usw. 

Es  war  überraschend  schnell  gelungen,  Räume  für  das  zu  begründende 
Museum  zu  erhalten.  Dem  Kultusminister  Dr.  von  Gossler,  bei  dem  jedes 
wissenschaftliche  Streben  geneigtes  Gehör  und  wohlwollende  Förderung 
fand,  stand  die  Verfügung  über  das  Gebäude  der  alten  Gewerbeakademie 
Klosterstrasse  36  zu,  in  welchem,  nachdem  diese  Akademie  in  das  Poly- 
technikum zu  Charlottenburg  aufgegangen  war,  das  hygienische  Museum 
untergebracht  worden  war.  In  diesem  Hause,  einem  im  zweiten  Jahrzehnt 
des  18.  Jahrhunderts  für  einen  Geheimen  Staatsrat  Friedrich  Wilhelms  L, 
Baron  von  Creutz,  entweder  von  Andreas  Schlüter  selbst  oder  von  seinem 
Schüler  Martin  Böhme  erbauten  Palast,  welcher  einen  kostbaren  Barock- 
saal enthält,  wurde  dem  Komitee  eine  Anzahl  von  Erdgeschossräumen 
unentgeltlich,  aber  widerruflich  zugewiesen,  in  denen  das  neue  Museum  ein- 
gerichtet wurde. 

Auch  die  Sammlungen  wurden  ausserordentlich  schnell  zusammen- 
gebracht.    Ulrich  Jahn  hatte  ein  s-anz   hervorraffendes  Talent  für  die  Er- 


Die  Entstehung  des  Berliner  Volkstrachtenmuseums.  339 

Werbung-  geeigneter  Gegenstände,  wenn  aucli  die  Mittel,  welche  er  zu 
diesem  Zwecke  anwendete,  nicht  immer  die  Billigung  der  anderen  Komitee- 
mitglieder finden  konnten.  Die  nötigen  Gelder  wurden  von  mehreren 
Gönnern  vorgeschossen,  unter  denen  der  Bankier  Alexander  Meyer  Colin, 
welcher  für  wissenschaftliche  Bestrebungen  ein  warmes  Herz  und  eine 
offene  Hand  hatte,  der  freigebigste  war. 

So  konnte  schon  im  Herbst  des  Jahres  1889  das  neue  Museum  durch 
den  Minister  von  Gossler  feierlich  eröffnet  werden. 

In  dem  Aufruf,  mit  welchem  das  Komitee  sich  an  das  Publikum 
wandte,  heisst  es:  „Mehr  als  irgendein  anderes  Volk  hat  das  deutsche  für 
die  Erkenntnis  seines  inneren  Wesens  getan.  Überall  sind  Sammlungen 
von  volkstümlichen  Glaubensvorstellungen,  Bräuchen  und  Sitten,  von  Sagen 
und  Märchen,  Liedern,  Sprichwörtern  und  Rätseln  in  reicher  Fülle  er- 
schienen       Nur  die,  sagen  wir,   handgreifliche  Volkskunde 

ist  im  Rückstande  geblieben.  Wie  unser  Volk  denkt  und  glaubt  und 
fühlt,  spricht  und  singt  und  tanzt,  das  wissen  wir.  Aber  wie  die  Gegen- 
stände ausschauen,  welche  es  geschaffen  hat,  wie  es  seine  Häuser  fügt  und 
aufbaut,  wie  es  seine  Höfe  und  Dörfer,  Güter  und  Fluren  angelegt  hat, 
wie  es  in  Stube,  Küche  und  Keller  wirtschaftet  und  wie  der  Hausrat  be- 
schaffen ist,  wie  es  sich  kleidet,  in  welcher  Weise  es  Viehzucht,  Acker- 
bau, Jagd  und  Fischfang  betreibt,  das  ist  zum  weitaus  grössten  Teil  noch 
verborgen.  Und  doch  ist  diese  handgreifliche  Volkskunde,  da  sie  das 
treueste  Bild  des  jeweiligen  Kulturstandpunktes  eines  Volkes  gewährt, 
unerlässlich    für  Herstellung    eines    tatsächlichen    objektiven  Archivs    des 

Volkstümlichen,    aus  dem  jeder  Forscher  schöpfen  kann Was  der 

deutschen  Volkskunde  nottut,  ist  also  ein  deutsches  Volksmuseum." 

Es  wird  in  diesem  Aufruf  die  Gründung  einer  Gesellschaft  in  Aus- 
sicht genommen,  welche  in  Berlin  durch  ein  später  vom  Staate  zu  über- 
nehmendes Museum  „ganz  Deutschland  in  den  Eigentümlichkeiten 
aller  seiner  Stämme  in  möglichster  Vollständigkeit  vorführen 
soll"  und  ein  Katalog  der  zu  sammelnden  Gegenstände  nach  folgenden 
Gruppen  aufgestellt:  Wohnung,  Haushalt  und  Hausrat,  Kleidung,  Nahrung, 
Kunst  und  Gewerbe,  Handel  und  Verkehr,  Volksglaube  und  Brauch. 

Rudolf  Virchow  hatte  in  einem  feinsinnigen  Aufsatz  in  der  Garten- 
laube (1889  Nr.  20)  die  Stellung  des  zu  gründenden  Museums  in  folgen- 
dem Gedankengang  dargelegt:  Die  Entwicklung  der  alten  Museen  sei 
begreiflicherweise  vorzüglich  den  bildenden  Künsten  zugewendet  gewesen. 
Selbst  die  Architektur  sei  gegenüber  der  Bildhauerei  und  der  Malerei 
stark  in  den  Hintergrund  gedrängt  worden.  Sehr  langsam  und  spät  sei 
das  Kunstgewerbe  aus  seiner  Vergessenheit  erweckt  worden.  Wenn  in 
diesen  beiden  Arten  von  Museen  klargelegt  wurde,  wie  die  Entwicklung 
der  Kunstfertigkeit  und  des  Kunstverständnisses  vor  sich  gegangen  sei,  so 
seien    zwei   Umstände    hinzugetreten,    welche    diese   Fragen    vertieft     und 

22* 


340  Minden: 

weit  über  das  Gebiet  der  eigentlichen  Kunst  hinaus  erweitert 
haben.  Das  seien  auf  der  einen  Seite  die  zunehmende  Kenntnis  von 
den  Leistungen  der  Naturvölker  und  andererseits  die  Umgestaltung- 
der  sos:enannten  Altertumskunde  zu  einer  wirklichen  'Vor- 
ge schichte',  die  durch  die  Entdeckung  der  Schweizer  Pfahlbauten  ein- 
geleitet worden  sei.  So  habe  sich  vor  die  eigentliche  Kunstgeschichte 
die  Geschichte  der  Arbeit  gesetzt.  Eine  Grenze  zwischen  beiden  gebe 
es  nicht;  niemand  könne  sagen,  wo  die  Kunst  beginne  und  wo  die  Arbeit 
des  täglichen  Lebens  ende.  Die  Kunst  gehe  aus  der  Arbeit  des  Tages 
hervor,  wie  die  Blüte  aus  der  Knospe.  Geschichte  und  Vorgeschichte 
seien  nur  äusserlich  getrennt;  innerlich  hängen  sie  untrennbar  zusammen. 
Die  vorgeschichtlichen  Überlieferungen  und  ethnologischen  Begriffe  ziehen 
sich  in  das  Leben  der  Kulturvölker  hinein.  Diese  Zusammenhänge  zu 
finden,  solle  das  neue  Museum  dienen.  Das  Museum  der  Trachten  und 
Geräte  solle  die  Lücke  zwischen  den  ethnologischen  und  prähistorischen 
Museen  einerseits  und  den  historischen  Museen  andererseits  schliessen. 

Bei  der  Eröffnung  des  Museums  in  der  Klosterstrasse  am  27.  Oktober 
1889  war,  wie  bemerkt,  schon  eine  stattliche  Sammlung  zusammengebracht 
worden. 

Den  ersten  Bestandteil  bildeten  die  von  Ulrich  Jahn  auf  Mönchgut 
erworbenen  Gegenstände.  Es  hatte  sich  auf  dieser  vom  Weltverkehr  ziem- 
lich abgeschlossenen  langgestreckten  Landzunge  der  Insel  Rügen  eine  viele 
altertümliche  Gewohnheiten  bewahrende  Schifferbevölkerung  erhalten.  Die 
schwarzen  Röcke  der  Frauen,  die  weiten  Hosen  der  Männer,  eine  grosse 
Anzahl  schön  geschnitzter  Mangelhölzer  und  bemalter  Schwingelbretter 
zum  Flachsbrechen  bildeten  nebst  Modellen  für  den  Fischfang  den  Kern 
der  Sammlung.  Nächstdem  erweckte  das  besondere  Interesse  eine  ganze 
elsässische  Stube  mit  Figuren  in  echten  Anzügen  und  mit  echten 
Möbeln.  Als  Motiv  für  diese  Stube  wurde  die  Brautwerbung  eines  etwas 
täppischen  Bauernburschen  gewählt.  Den  Glanzpunkt  des  Museums  aber 
bildete  eine  Spreewälderstube  (Abb.  1)  mit  Figuren:  Der  Hochzeits- 
bitter ladet  die  Bäuerin  zu  einer  Hochzeit  ein,  während  eine  andere  Bäuerin 
in  grossem  Staate  zu  Besuch  ist  und  die  alte  Grossmutter  den  Säugling  in 
der  Wiege  bewacht.  Eine  Magd  bringt  dem  Einladenden,  der  sein  Sprüch- 
lein aufsagt,  ein  Glas  Bier  dar.  Die  Zeichnung  zu  dieser  Stube  war  von 
dem  Maler  Professor  A.  Kretschmer  entworfen,  der  Bau  selbst  wurde 
genau  nach  den  echten  Massen  vom  damaligen  Kgl.  Bauinspektor  Klein- 
waechter  ausgeführt,  der  über  das  fiskalische  Gebäude,  in  dem  sich  das 
Museum  befand,  die  bauliche  Aufsicht  führte. 

Die  erwähnten  Herren,  sowie  Professor  Dr.  W.  Joest,  Ethnograph 
und  Weltreisender,  ferner  der  Geheime  Sanitätsrat  Dr.  Grempler  in 
Breslau,  der  Landschaftsmaler  Professor  Eugen  Bracht,  jetzt  Direktor  der 
Kunstakademie  in  Dresden,  Justizrat  Eduard  Frentzel  in  Berlin,  Jacob  Nord- 


Die  Entstehung  des  Berliner  Volkstrachtenmuseums.  341 

heim  in  Hamburg  und  verschiedene  andere  waren  inzwischen  dem  Be- 
gründungskomitee  beigetreten  und  hatten  sämtlich  nach  Kräften,  teils  durch 
Mitarbeit,  teils  durch  Hergabe  von  Geldmitteln  und  Gegenständen  für  das 
Museum  gewirkt. 

Seine  Exzellenz  der  Herr  Ministerialdirektor  Naumauu,  damals  Vor- 
tragender Rat  im  Kultusministerium,  war  als  Dezernent  über  das  Gebäude 
mit  dem  Komitee  in  Verbindung  getreten  und  förderte  dessen  Pläne.  Er 
nahm  auch  au  den  Sitzungen  häufig  teil. 

Von  den  aus  den  ersten  Anfängen  des  Museums  stammenden  Samm- 
lungen sei  auch  eine  litauische,  von  Herrn  Franz  Goerke,  dem  späteren 
Direktor  der  Urania  und  hervorragenden  Amateurphotographen,  gestiftete 
erwähnt. 

Die  Wachsfiguren,  welche  mit  den  Volkstrachten  bekleidet  waren, 
hatte  Louis  Castan  gearbeitet. 

Bei  der  Begründung  des  Museums  lag  schon  die  Absicht  vor,  dasselbe 
später  an  den  Preussischen  Staat  zu  überführen.  Als  Rechtsformen, 
in  welchen  man  diesen  Zweck  verwirklichen  konnte,  standen  zur  Ver- 
fügung: Die  Aktiengesellschaft,  ferner  der  einfache  Personen- 
verein, der  durch  Verleihung  des  Landesherrn  juristische  Persönlichkeit 
erhalten  konnte  —  in  das  Vereinsregister  'eingetragene  Vereine'  gab  es 
damals  noch  nicht  — ,  und  eine  satzungslos  zusammengesetzte  Gelegen- 
heitsgesellschaft. Als  Muster  schwebte  zunächst  das  Berliner  Kunst- 
gewerbemuseum vor,  das  etwa  20  Jahre  vorher  auf  ähnliche  Weise  durch 
den  Zusammentritt  von  Privatpersonen  unter  dem  Protektorat  des  damaligen 
Kronprinzenpaares  begründet  worden  war.  Indessen  ergab  sich  bald,  dass 
jener  Gründung  in  den  gewerblich  interessierten  Kreisen  doch  stärkere 
Hilfsmittel  zur  Seite  standen  als  unserem  'Volksmuseum'.  Ein  Brief 
Rudolf  Virchows  vom  5.  Mai  1889  gibt  über  die  Grundgedanken  des 
Komitees  Auskunft.  Er  schreibt:  „So  grosse  Beiträge  —  wie  bei  der  damals 
ebenfalls  gegründeten  Urania  —  werden  wir  unseren  Mitgliedern  nicht  auf- 
erlegen können.  Wir  hatten  uns  gedacht,  dass  die  eigentlichen  Mitglieder 
einen  mäßigen  Jahresbeitrag  zu  zahlen  hätten,  dass  aber  eine  Anzahl  von 
potenten  Mitgliedern  einen  Garantiefonds  mit  grösseren  Einlagen  h  fonds 
perdu  bildeten..  Letztere  bei  einer  späteren  Übergabe  an  den  Staat  ganz 
oder  teilweise  zu  entschädigen,  ihnen  auch  vielleicht  Zinsen  und  der 
laufenden  Verwaltung  eine  Dividende  zu  sichern  und  doch  nicht  das 
Museum  in  ihren  Besitz  gelangen  zu  lassen,  wäre  die  eigentliche  Aufgabe 
des  Statutes.  Ich  bekenne,  dass  das  eine  etwas  unklare  Aufgabe  ist;  aber 
ich  zähle  auf  Ihre  Kunst." 

Diese  Aufgabe  war  in  der  Tat  nicht  leicht  und  nicht  schnell  zu  lösen. 
So  kam  es  denn,  dass  das  Museum  längst  eröffnet,  dass  Aufseher  und 
Personal  angestellt  war,  dass  von  den  Besuchern  das  —  allerdings  nicht 
sehr  reichlich  fliessende  —  Eintrittsoreld    erhoben  wurde,    ohne    dass  klar 


342 


Minden: 


erkennbar  war,  wer  denn  eigentlich  der  Unternehmer  dieser  Veranstaltung 
wäre.  Erst  am  27.  Januar  1891  wurden  die  Satzungen  beschlossen  und 
der  Verein  in  der  Art  konstituiert,  dass  er  aus  ordentlichen  —  10  Mark 
Jahresbeitrag  zahlenden  —  Mitgliedern,  immerwährenden  Mitgliedern, 
welche  250  Mark  ein  für  allemal  zahlten,  ferner  aus  korrespondierenden 
und  Ehrenmitgliedern  bestand,  und  dass  an  seiner  Spitze  zwei  Kollegien, 
ein  achtgliedriger  Vorstand  und  ein  aus  zwölf  Personen  bestehender  Aus- 
schuss,  standen,  welche  umschichtig  gewählt  wurden.  Das  Verhältnis  zum 
Preussischen  Staat    wurde    in   §  9    in    der  Art    festgelegt,    dass    der  Staat 

solange    sich    die  Sammlungen    unentgeltlich    in    fiskalischen   Räumen 

befanden  —  das  Recht  hatte,  die  Sammlungen  jederzeit  zum  Selbstkosten- 
preise anzukaufen,  sowie  dass  der  Regierung  vorbehalten  blieb,  einen 
Staatskommissarius  zur  Beaufsichtigung  zu  ernennen. 

Die  erste  in  den  Satzungen  vorgesehene  Generalversammlung  wurde 
auf  den  26.  Mai  1895  berufen  und  ergab  als  Vorstandsmitglieder:  Rudolf 
Virchow,  1.  Vorsitzender,  Voss  und  Joest,  Stellvertreter,  Sanitätsrat 
Lissauer,  Privatdozent  Dr.  Richard  M.  Meyer  und  Fabrikbesitzer  Hermann 
Sökeland,  Schriftführer,  Goerke  und  Alexander  Meyer  Cohn,  Schatzmeister, 
und  als  Ausschussmitglieder  Bartels,  Bracht,  Frentzel,  Grempler,  den  Maler 
Professor  August  von  Heyden,  Kleinwaechter,  der  inzwischen  nach  Erfurt 
versetzt  worden  war,  sowie  seine  beiden  Amtsnachfolger  die  Bauräte 
Küster  und  Alfred  Körner,  Dr.  Minden,  Jacob  Nordheim  und  William 
Schönlank.  Zum  Obmann  des  Ausschusses  wurde  Dr.  Minden  gewählt. 
Die  Mitgliederzahl  des  Vereins  betrug  damals  106. 

Die  Generalversammlungen  folgten  sich  alljährlich.  Die  erste  Jahres- 
bilanz vom  1.  April  1892  bis  31.  März  1893  balancierte  mit  2719,25  Mark; 
unter  den  Einnahmen  finden  sich  200,10  Mark  Jahresbeiträge  und  457  Mark 
Eintrittsgelder. 

Sökeland,  der  zuerst  3.  Schriftführer  war  und  später  die  erste  Schrift- 
führerstelle übernahm,  unterzog  sich  gleichzeitig  der  eigentlichen  Ver- 
waltung des  Museums.  Seine  Erfahrung  in  kaufmännischen  und  gewerb- 
lichen Dingen  einerseits,  seine  aus  der  westfälischen  Heimat  mitgebrachte 
Kenntnis  der  ländlichen  Verhältnisse  andererseits,  endlich  die  natürliche 
Gabe,  alle  Dinge  mit  der  Gründlichkeit  eines  wissenschaftlich  veranlagten 
Geistes  zu  bearbeiten,  machte  ihn  für  diese  Tätigkeit  besonders  geeignet. 

In  der  ursprünglichen  Absicht  hatte  es  gelegen,  dass  der  zu  gründende 
Verein  die  Volkskunde  auch  literarisch  bearbeitete.  Aber  bald  zeigte 
sich  zwischen  den  naturwissenschaftlich  und  den  philologisch  geschulteil 
Mitgliedern  des  Komitees  eine  Kluft,  die  nicht  zu  überbrücken  war.  So 
zweigte  sich  schon  im  Beginn  des  Jahres  1891  von  dem  Gründungskomitee 
des  Volkstrachtenmuseums  der  'Verein  für  Volkskunde'  ab,  welcher 
unter  Leitung  von  Karl  Weinhold  die  von  den  Professoren  Moritz  Lazarus 
und    H.   Steinthal    20  Jahre    vorher    begründete    'Zeitschrift    für    Völker- 


Die  Entstehung  des  Berliner  Volkstrachtenmuseums.  343 

Psychologie'  als  'Zeitschrift  des  Vereins  für  Yolkskuüde'  übernahm  und 
his  jetzt  fortgesetzt  hat.  Die  beiden  Vereine  sind  durch  Personalunion 
TJelfach  verbunden;  sie  sind  aus  demselben  Geiste  entsprossen;  ihre  Ziele 
gehören  organisch  zusammen,  aber  dennoch  ist  es  nicht  gelungen,  sie 
zu  einem  Gesamtgebilde  zu  vereinigen,  obgleich  sie  sich  gegenseitig 
unterstützen.  Der  Museumsverein  hat  in  späteren  Jahren  auch  seinerseits 
in  zwanglosen  Heften  einige  Aufsätze  aus  dem  Gebiete  der  Volkskunde 
veröffentlicht  (s.  unten  S.  360). 

Rudolf  Virchow  war  bis  an  sein  Lebensende  für  das  Volkstrachten- 
museum unermüdlich  tätig.  Er  versuchte  immer  wieder,  bessere  und 
günstiger  gelegene  Räume  vom  Staate  zu  erlangen.  Auf  seine  Ver- 
anlassung beehrten  die  Minister  Miquel  und  Graf  Zedlitz-Trützschler  im 
Jahre  1892  das  Museum  mit  ihrem  Besuch  und  wurden  vom  gesamten 
Komitee  umhergeführt.  Auch  Ihre  Majestät  die  Kaiserin  Friedrich  hatte 
die  Gnade,  auf  Virchows  Bitten  im  Museum  zu  erscheinen.  Sie  zeigte 
hier,  wie  auf  so  vielen  anderen  Gebieten,  eindringendes  Verständnis  für 
die  Dinge  und  setzte  die  Komiteemitglieder  durch  das  Gedächtnis  in  Er- 
staunen, mit  dem  sie  sich  bei  vielen  Volkstrachten  genau  erinnerte,  wo 
und  wann  sie  dieselben  gesehen  hatte. 

Es  sei  einem  Augenzeugen  gestattet,  eine  kleine  Episode  aus  diesem 
Besuche  zu  erwähnen.  Die  Räume  des  Museums  sind  in  bezug  auf  Er- 
wärmung und  Beleuchtung  wenig  günstig  bestellt.  Der  kaiserliche  Besuch 
fand  bei  strenger  Winterkälte  statt.  Ihre  Majestät  bemerkte  den  rot- 
glühenden eisernen  Ofen  neben  einer  Wachsfigur  und  stellte  an  Virchow 
di«  Trage,  ob  die  Hitze  der  Figur  nicht  schade:  „Majestät,  es  ist  nicht 
alle  Tage  so  gut  geheizt  wie  heute",  war  die  Antwort,  die  auch  auf  die 
pekuniäre  Lage  des  Museums  einiges  Licht  zu  werfen  geeignet  war. 

Ein  erheblicher  Zuwachs  wurde  den  Sammlungen  durch  folgenden 
Umstand  zuteil:  Ulrich  Jahn,  von  Natur  unruhig  und  unbeständig  ver- 
anlagt, hatte  den  preussischen  Schuldienst  verlassen  und  sein  Interesse 
ausländischen  Unternehmungen  zugewandt.  Nach  einer  ziemlich  miss- 
glückten Londoner  Ausstellung  brachte  er  für  die  Weltausstellung  in 
Chicago  im  Jahre  1893  mit  den  Mitteln  der  Deutschen  Bank  und  der 
Nationalbank  für  Deutschland  ansehnliche  volkskundliche  Sammlungen 
zusammen,  welche  durch  eine  unter  Leitung  Bernhard  Dernburgs,  des 
späteren  Kolonialministers,  stehende  -Deutsch-ethnographische  Ausstellung' 
dort  in  einem  'Deutschen  Dorf  beim  amerikanischen  Publikum  grosses 
Interesse  fanden.  Diese  Sammlungen  wurden  im  Jahre  1894  nach  Deutsch- 
land zurückgebracht  und  gelangten  nach  recht  schwierigen  und  lang- 
wierigen Verhandlungen  1898  in  das  Eigentum  des  Museums.  Obgleich 
der  grösste  Teil  dieser  Sammlungen  eine  Schenkung  der  an  dem  Chicago- 
Unternehmen  Beteiligten  darstellt  —  es  sei  besonders  Henry  Villards  in 
Amerika  und  des  Fabrikbesitzers  Dr.  Friedrich  von  Heyden  in  Wiesbaden, 


344  Minden : 

eines  Bruders  des  Malers,  gedacht  — ,  fehlte  doch  noch  zum  Erwerb  der 
Sammlung  eine  grössere  Summe,  wegen  welcher  Vorstand  und  Ausschuss 
mit  gutem  Erfolge  das  deutsche  Publikum  zu  einer  Beisteuer  anging.  Es 
ward  in  diesem  Aufruf  vom  März  1897  gesagt,  dass  der  einzige  passende 
Platz  für  ein  grosses  deutsches  Volksmuseum,  zu  welchem  in  der 
Klosterstrasse  der  Grund  gelegt  worden,  die  Hauptstadt  des 
Deutschen  Reiches  sei.  „Wir  haben",  heisst  es  weiter,  „im  vorigen 
Jahre,  als  wir  auf  der  Gewerbeausstellung  einen  ganz  kleinen  Teil  unserer 
Schätze  dem  grösseren  Publikum  ohne  besonderes  Eintrittsgeld  zugänglich 
machten,  reichlich  Gelegenheit  gehabt  zu  sehen,  mit  welcher  Freude 
gerade  die  unteren  Volksklassen  solche  Gegenstände  betrachten.  Sie 
sind  gew^ohnt,  dass  diese  Dinge  mit  einer  gewissen  Geringschätzung  be- 
trachtet werden,  und  sehen  nun  mit  vieler  Dankbarkeit  dieselben  mit 
einer  Sorgfalt  behandelt,  wie  man  sie  früher  nur  auf  die  ihrem  Verständnis 
fernliegenden  Kunstgegenstände  verwendete.  Hängt  doch  gerade  die 
Volkskunde  mit  den  grossen  Fragen,  die  unsere  Zeit  bewegen,  in  ihrem 
innersten  Kern  zusammen,  so  wenig  dieser  Zusammenhang  auch  äusserlich 
hervortritt.  Die  Erkenntnis  dessen,  was  das  Volk  denkt  und  wie  es  fühlt, 
ist  der  Schlüssel  zum  Verständnis  für  die  Bedürfnisse  der  menschlichen 
Gemeinwesen." 

Es  sei  bemerkt,  dass  für  die  Regelung  der  Chicago-Angelegenheit 
auch  der  Kommerzienrat  Julius  Isaac  sehr  tätigen  Anteil    genommen    hat. 

Mit  der  im  oben  angeführten  Aufruf  erwähnten  Gewerbeausstellung 
hatte  es  folgende  Bewandtnis:  Im  Jahre  1896  fand  in  Berlin  die  grosse 
Gewerbeausstellung  im  Treptower  Park  statt;  eine  Beteiligung  unseres 
Museums  an  derselben  wurde  dadurch  ermöglicht,  dass  die  in  Berlin  be- 
kannte Patzenhofer  Brauerei,  deren  Direktor  der  Abgeordnete  Fritz  Gold- 
schmidt war,  auf  unsere  Anregung  und  unter  unserer  Leitung  ihr  Aus- 
schankgebäude auf  dem  Ausstellungsterrain  als  Spreewaldgehöft  nach  dem 
Modell  des  Architekten  Alfred  Klepsch  durch  den  Professor  HofPacker 
aufführen  Hess  und  die  dazu  gehörige  Scheune  uns  zur  Aufstellung  unserer 
oben  geschilderten  Spreew^aldstube  zur  Verfügung  stellte.  Der  Besuch 
war  ein  ausserordentlich  reger.  Das  'Volk',  dessen  Mitglieder  nicht  allzu 
häufig  Besucher  in  der  Klosterstrasse  waren,  hatte  hier  bequem  Gelegen- 
heit, ohne  Eintrittsgeld  einen  Begriff  vom  'Volksmuseum'  zu  erhalten. 
Da  der  Bau  des  Gehöfts,  der  sich  in  die  Landschaft  am  Karpfenteich  sehr 
gut  eingliederte,  nur  provisorisch  errichtet  war,  musste  es  leider  nach 
Schluss  der  Ausstellung  wieder  abgerissen  werden. 

Der  Museumsverein  erhielt  Korporationsrechte  durch  Allerhöchste  Ge- 
nehmigung vom  3.  Mai  1899.  Der  Anlass,  diese  zu  erbitten,  war  ein 
Legat  von  10  000  Mark,  das  dem  Verein  von  seinem  obengenannten  Vor- 
standsmitglied Professor  Dr.  Joest  hinterlassen  wurde  und  das  die  Testa- 
mentsvollstrecker nur  mit  landesherrlicher  Genehmiffunoj  auszahlen  wollten. 


Die  Eatstehung  des  Berliner  Volkstrachtenrauseums.  34o 

Auch  für  die  Schenkungen  des  Gönners  und  Vorstandsmitglieds  Alexander 
Meyer  Cohn  erhielt  der  Verein  die  landesherrliehe  Genehmigung  zur  An- 
nahme. So  wurde  der  ursprüngliche  Wunsch,  ein  juristisch  festes  Gebilde 
zu  schaffen,  nach  zehn  Jahren  verwirklicht. 

Aber  noch  immer  schwebte  über  dem  Verein  das  Damoklesschwert 
der  Entziehung  seiner  Räume.  Die  Räume  in  der  Klosterstrasse  waren 
vom  Staate,  wie  bemerkt,  zw^ar  ohne  Entgelt,  aber  auf  Widerruf  dem 
Volkstrachtenmuseum  zur  Verfügung  gestellt  worden.  Im  Jahre  190.3  nun 
wurde  dem  Vorstand  vom  Kultusministerium  mitgeteilt,  dass  das  Gebäude 
voraussichtlich  eine  anderweitige  Bestimmung  erhalten  w^ürde  und  dass 
der  Museumsverein  sich  daher  nach  anderen  Räumen  umsehen  müsse. 
Das  war  ein  schwerer  Schlag!  Rudolf  Virchow  war  am  5.  September  1902 
verstorben.  Noch  in  seinen  letzten  Monaten  hatte  ihn  der  Gedanke  leb- 
haft beschäftigt,  ob  nicht  der  von  Anfang  an  in  Aussicht  genommene 
Plan  der  Übernahme  des  Museums  durch  den  Preussischen  Staat  verwirk- 
licht werden  könnte.  Nun  wandelte  sich  das,  was  als  eine  drohende  Ge- 
fahr für  den  Fortbestand  des  Museums  erschienen  war,  schliesslich  zum 
Guten. 

Unser  Museum  hatte  überall  das  Interesse  für  das  Sammeln  volkstüm- 
licher Gegenstände  erweckt.  In  allen  Teilen  des  deutschen  Vaterlandes 
waren  kleinere  Ortsmuseen  entstanden.  Als  sich  die  Nachricht  verbreitete, 
dass  das  Museum  sein  Berliner  Unterkommen  verlieren  sollte,  meldeten 
sich  andere  deutsche  Städte,  um  dasselbe  aufzunehmen.  Besonders  aus 
Weimar  und  aus  Hamburg  lagen  ernste  und  günstige  Anerbietungen  vor. 
Im  Kreise  des  Vorstandes  und  Ausschusses  war  für  eine  Verlegung- 
Stimmung  vorhanden.  Aber  das  hätte  der  ursprünglichen  Idee  Abbruch 
getan.  Der  Verein  hatte  immer  auf  dem  Standpunkt  gestanden,  dass  das 
deutsche  Volksmuseum  nach  Berlin  gehöre.  Mau  hatte  es  als  ein 
nationales  und  patriotisches  Unternehmen,  welches  einen  Überblick  über 
das  gesamte  deutsche  Volk  bieten  sollte,  begründet  und,  wie  oben  er- 
wähnt, immer  betont,  dass  es  nur  in  Berlin,  in  der  Hauptstadt  des 
Deutschen  Reiches,  seinen  Zweck  erreichen  könne.  So  war  auch  früher 
die  Anregung,  das  Unternehmen  dem  Germanischen  Museum  in  Nürnberg 
anzugliedern,  zurückgewiesen  worden. 

Und  das  beharrliche  Festhalten  an  diesem  Gedanken  führte  zum  Ziel. 
Nach  lebhaften  Besprechungen  wurde  vom  Vorstande  und  Ausschuss  noch 
einmal  an  das  Preussische  Kultusministerium  das  Anerbieten  gerichtet, 
das  Museum  unter  Verzicht  auf  jede  Entschädigung  dem  Preussischen 
Staate  zu  übergeben,  und  durch  Reskript  des  Herrn  Kultusministers  Studt 
vom  28.  Oktober  1903  wurde  dem  Verein,  dessen  Vorsitz  inzwischen 
Dr.  Max  Bartels  übernommen  hatte,  mitgeteilt,  dass  dieser  Antrag  ange- 
nommen sei.  So  war  denn  das  ursprünglich  gesteckte  Ziel  erreicht  und 
die  14jährigen  Bestrebungen  von  Erfolg  gekrönt.     Das  Bestehen   des  von 


346  Minden: 

einer  Gruppe  von  Gelehrten,  Künstlern  und  Freunden  der  Volkskunde 
geschaffenen,  von  einem  Privatverein  verwalteten  und  vergrösserten 
Museums  war  nunmehr  unter  dem  Schutze  des  preussischen  Adlers  ge- 
sichert. Aus  dem  'Museum  für  deutsche  Volkstrachten  und  Erzeugnisse 
des  Hausgewerbes'  war  die  'Königliche  Sammlung  für  deutsche  Volks- 
kunde' geworden.  Der  Verein,  der  sein  Eigentumsrecht  aufgab,  bestand 
weiter  als  'Verein  der  Sammlung  für  deutsche  Volkskunde'.  Der 
satzungsmässige  Zweck,  die  Eigentümlichkeiten  der  Bevölkerung  Deutsch- 
lands, Trachten,  Hausanlagen  und  Erzeugnisse  des  Hausgewerbes  zu 
sammeln,  blieb  unverändert.  Der  umgewandelte  Verein  sollte  der  König- 
lichen Museumsverwaltung  zur  Seite  stehen  und  für  Vergrösserung  der 
Sammlung  wirken. 

Die  ^öjährige  W^iederkehr  des  Eröffnungstages  zu  erleben,  ist  nur 
wenigen  Mitgliedern  des  ursprünglichen  Komitees  vergönnt.  Auch  unter 
den  später  in  den  Vorstand  und  Ausschuss  eingetretenen  Mitgliedern  hat 
der  Tod  eine  reiche  Ernte  gehalten. 

Wenn  man  ein  Gewordenes,  Fertiges  betrachtet,  kann  man  sich  nur 
schwer  vorstellen,  welche  Arbeit  und  Mühe,  welche  Sorgen  und  Kämpfe 
das  W^erdende  mit  sich  gebracht  hat.  So  ist  es  auch  mit  unserem  Volks- 
trachtenmuseum. Selbst  das  Archiv  und  die  Protokolle  werden  wohl  nur 
ein  schwaches  Bild  geben  von  der  Art,  wie  die  Dinge  anfangs  betrieben 
wurden.  Auf  den  Bänken  und  Stühlen  der  Spreewaldstube  oder  in  einem 
Kommissionszimmer  des  Abgeordnetenhauses  oder  im  Panoptikum  oder  in 
irgend  einem  Restaurant,  wohin  der  in  seiner  Gastlichkeit  unermüdliche 
William  Schönlank  eingeladen  hat,  tagt  das  Komitee  und  berät  über  die 
Verwaltung.  Mit  derselben  Gründlichkeit,  mit  der  er  über  die  Ergebnisse 
von  mikroskopischen  Untersuchungen  und  Schädelmessungen  berichtete, 
erörtert  Rudolf  Virchow  die  Fragen  der  laufenden  Verwaltung,  ob  man 
ein  Spinde  oder  einige  Drahtgestelle,  ein  Dutzend  Besen  und  Wischtücher 
anschaffen  solle.  Eugen  Bracht  berichtet,  dass  er  eigenhändig  die  Farben 
an  einer  wurmstichigen  Truhe  aufgefrischt  hat.  Sökeland  schildert,  wie 
er  persönlich  den  Transport  unserer  Figuren  von  der  Klosterstrasse  nach 
dem  Treptower  Park  auf  dem  Möbelwagen  begleitet  und  sorgfältig  be- 
wacht habe.  Das  ganze,  aus  Männern  so  verschiedener  Berufskreise  zu- 
sammengesetzte Komitee  war  von  einer  wahren  Leidenschaft  für  das 
Museum  ergriffen.  Der  Kassenbericht  wurde  mit  grösster  Aufmerksamkeit 
entgegengenommen.  Wenn  ein  Komiteemitglied  bei  einem  Besuch  im 
Museum  einmal  gleichzeitig  fünf  oder  sechs  zahlende  Besucher  angetroffen 
hatte,  so  wurde  sofort  die  Morgenröte  einer  besseren  Zeit  verkündet. 

Nicht  vergessen  sei  der  Kustos  Höft,  ein  emeritierter  schleswig- 
holsteinischer Schullehrer,  wettergebräunt  und  knorrig  wie  eine  deutsche 
Eiche,  ein  Veteran  aus  den  Freiheitskämpfen  der  meerumschlungeneu 
Nordmark.     Er  hatte  sich  seine  eigene  Theorie  über    germanische  Volks- 


Die  Entstehung  des  Berliner  Volkstrachtenmuseums.  347 

künde  und  Mythologie    konstruiert    und  wich  von    derselben    in    der  Dis- 
kussion nicht  einen  Schritt  zurück. 

Der  oben  erwähnte  Plan,  dass  eine  Rückzahlung  des  aufgebrauchten 
Kapitals  an  die  Geldgeber  des  Museums  seitens  des  Preussischen  Staates 
zu  erwarten  sei,  ist  schon  nach  kurzer  Zeit  nicht  mehr  ernstlich  erörtert 
worden.  Interessant  war  es  zu  sehen,  wie  so  viele  Männer,  die  in  ihrem 
Berufe  auf  grösste  finanzielle  Solidität  hielten,  in  bezug  auf  das  Museum 
von  einem  leichtsinnigen  Optimismus  besessen  waren.  „Schulden  sind  ein 
gutes  Bindemittel,  das  Komitee  zusammenzuhalten,"  sagte  Virchow,  und 
August  von  Heyden  behauptete,  eine  Museumsverwaltung,  die  keine 
Schulden  mache,  habe  ihren  Beruf  verfehlt. 

Dass  das  wissenschaftliche  Ziel,  welches  die  Gründung  veranlasste, 
jetzt  schon  voll  erreicht  ist,  wird  man  nicht  behaupten  können,  aber  die 
Wege  zu  seiner  Erreichung  sind  doch  kenntlich  gemacht  und  geebnet. 

Es  sei  gestattet,  noch  einige  Schlussbemerkungen  anzufügen.  Die 
Absicht  der  Begründer  des  Museums  war,  wie  sich  aus  obigem  ergibt, 
eine  o-rosszügio-e.  Nicht  eine  für  besondere  Liebhabereien  und  Kuriosi- 
täten berechnete  Sammlung  sollte  geschafPen  werden,  sondern  eine  streng 
wissenschaftliche,  die  Literatur  der  A^olkskunde  ergänzende;  sie  sollte 
einen  Überblick  über  die  sozusagen  ethnographischen  Elemente  im 
heutigen  deutschen  Volk  gewähren. 

Ich  möchte  dazu  auf  einige  Punkte  hier  eingehen.  Zunächst  ist  zu 
bemerken,  dass  das  'Volk'  aus  zwei  sich  gegenseitig  ergänzenden  Bestand- 
teilen zusammengesetzt  ist,  dem  städtischen  und  dem  ländlichen.  Sie 
stehen  untereinander  in  engster  Beziehung.  Die  Landbevölkerung  gibt 
ihren  Menschenüberfluss  an  die  Stadt  ab,  aber  auch  von  der  Stadt  gehen 
die  mannigfaltigsten  Dinge  auf  das  Land  hinaus.  Nicht  nur  Menschen, 
auch  Ideen,  Bücher,  technische  Fortschritte.  Die  Sachkenner  behaupten 
sogar,  dass  die  meisten  Volkstrachten  ursprünglich  städtische  Moden  ge- 
wesen sind,  die  von  den  Bauernschneidern  nachgemacht  und  vergröbert, 
schliesslich  feststehend  geworden  sind. 

Da  nun  in  den  Städten,  und  zwar  je  grösser  sie  sind,  in  desto  höherem 
Masse,  die  schnell  wechselnde  Mode  regiert,  auf  dem  Lande  der  viel  tiefer 
eingewurzelte  Brauch,  so.  ist  der  ethnographische  Einschlag  auf  dem  Lande 
viel  stärker  als  in  der  Stadt.  Daher  kommt  es,  dass  unser  Museum  sehr 
viel  mehr  ländliches  Material  enthält  als  städtisches,  obgleich  grundsätz- 
lich das  letztere  nicht  ausgeschlossen  sein  sollte. 

Ein  anderer  Gegensatz,  der  durch  das  deutsche  Volk  geht,  ist  der 
zwischen  Nord-  und  Süddeutschland.  Die  grosse  Ebene,  in  welcher  sich 
der  Preussische  Staat  schliesslich  aus  der  Mark  Brandenburg  entwickelte, 
war  für  die  Bewahrung  landschaftlicher  Eigentümlichkeiten  weniger  ge- 
eignet als  «las  politisch  zersplitterte  Oberdeutschland,  zu  dem  in  diesem 
Sinne  auch  das  mittlere,    wie    das    westliche  Deutschland    zu  rechnen  ist. 


348  Minden:  Die  Entstehung  des  Berliner  Volkstrachtenmuseums. 

So  haben  sich  in  den  Alpenländern,  im  Schwarzwald,  auch  in  Thüringen 
und  Westfalen  Volkssitten  und  Volkstrachten  viel  länger  erhalten  als  in 
Preussen.  Aber  unser  Museum  zeigt,  dass  auch  hier  bis  vor  kurzem  die 
bunteste  Mannigfaltigkeit  herrschte.  Gerade  unser  Museum  war  der 
Anlass,  dass  aus  den  Truhen  der  Bauern  vieles  an  den  Tag  kam,  was  der 
modernisierte  Bauer  als  wertlos  gewordenen  Hausrat  der  Altvorderen  bei- 
seite geworfen  oder  verpackt  hatte.  Diese  verschwundenen  oder  ver- 
schwindenden Eigentümlichkeiten  soll  unser  Museum  aufbewahren. 

Auch  das  kommt  noch  in  Betracht,  dass  kein  Volk  aus  einer  ein- 
heitlichen Easse  besteht.  Wie  in  der  Vorgeschichte  eine  Nation  aus  ver- 
schiedenen Stämmen  zusammengeschmiedet  worden  ist,  lässt  sich  nur  ver- 
muten; die  spätere  Zusammenfassung  verschiedener  Rassen  zu  einem 
Gesamtvolke  lehrt  die  Weltgeschichte.  Noch  in  der  Gegenwart  sind  selbst 
in  eine  so  einheitliche  Nation,  wie  die  deutsche,  stammfremde  Bestand- 
teile eingesprengt,  wie  die  Spreewaldwenden,  die  Litauer  usw.  Unser 
Museum  zeigt  diese  Volks-Enklaven  recht  deutlich,  weil  gerade  bei  ihnen 
sich  viel  volkstümlich  Eigentümliches  zu  erhalten  pflegt. 

Die  deutsche  Nation  ist  jetzt  eine  einheitliche;  die  Einheitlichkeit 
macht  Fortschritte,  die  selbst  in  einer  so  kurzen  Spanne  Zeit,  wie  seit 
der  Gründung  des  Museums  verfloss,  zu  spüren  sind. 

W^ährend  im  Mittelalter  jedem  Deutschen  sein  Stammesrecht  in  der 
Art  anhaftete,  dass  der  Franke,  der  Sachse,  der  Bayer  auch  ausserhalb 
seiner  Stammesgrenze  nur  nach  fränkischem,  sächsischem,  bayerischem 
Gesetz  sein  Recht  nahm,  während  noch  bei  der  Begründung  unseres 
Museums  Deutschland  in  verschiedene  Privatrechtsgebiete  zerfiel,  haben 
wir  seit  dem  1.  Januar  1900  ein  für  das  ganze  Reichsgebiet  und  alle  An- 
gehörigen des  Deutschen  Reiches  geltendes  Bürgerliches  Gesetzbuch.  Dass 
unsere  Literatur  ein  Gemeingut  ist,  dass  jeder  Deutsche  auf  seinen 
Goethe  und  seinen  Schiller  stolz  ist,  dass  wir  auch  von  einer  deutschen 
Kunst  und  deutschen  Wissenschaft  sprechen  dürfen,  bedarf  keines  Be- 
weises. Die  allgemeine  Dienstpflicht,  unter  dem  Joch  der  Fremd- 
herrschaft in  Preussen  entstanden,  hat  zur  Einigung  aller  Deutschen  in 
hervorragendem  Masse  beigetragen.  Kolonialpolitik  und  Marine  sind  dafür 
wirksam  gewesen,  dass  auch  in  fremden  Weltteilen  das  deutsche  Volk  als 
etwas  Einheitliches  auftritt. 

Wenn  alle  diese  und  viele  andere  Faktoren  dazu  beigetragen  haben, 
die  Unterschiede  zwischen  Deutschen  und  Deutschen  auszugleichen,  so 
ist  andererseits  nicht  zu  verkennen,  wieviel  Besonderheiten  noch  vor- 
handen sind. 

Unser  Museum  hat  nicht  den  Zweck,  überlebte  Eigentümlichkeiten 
zu  konservieren.  Aber  die  Einheit  besteht  schliesslich  doch  aus  dem 
Zusammenschluss  der  Besonderheiten,  wie  die  Regenbogenfarben  sich  zum 
weissen  Licht    zusammenschliessen.      Die  Besonderheiten    in    der  Einheit 


Brunner:  Die  Entwickelung  der  Königlichen  Sammlung.  349 

und  die  Einheit  in  den  Besonderheiten  zu  finden,  das  wird  auch  in  Zu- 
kunft die  richtige  Methode  für  die  Volkskunde  sein.  Diesem  grossen 
wissenschaftlichen  Zwecke  dient  das  jetzt  'Königliche  Sammlung  für 
deutsche  Volkskunde'  benannte  Museum.  Die  Grundlagen  sind  gelegt; 
die  Ziele  werden  sich  erweitern  und  vertiefen.  Die  Volkskunde  wird  sich 
vielleicht  in  verschiedene  Disziplinen  spalten;  sie  wird  ihre  Aufgaben 
präzisieren  und  umgrenzen.  Aber  nie  möge  sie  aufhören,  sich  als  ein 
Glied  der  grossen  Universitas  literarum  zu  fühlen,  die  kein  höheres 
Streben  kennt  als  überall  die  Wahrheit  zu  suchen. 

Berlin. 


Die  Entwickelung  der  Königlichen  Sammlung  für 
deutsche  Volkskunde  seit  dem  Jahre  1904. 

Von  Karl  ßrunner. 

Nachdem  im  vorhergehenden  Aufsatze  einer  der  verdienstvollsten 
Mitbegründer  des  'Museums  für  deutsche  Volkstrachten  und  Erzeugnisse 
des  Hausgewerbes  zu  Berlin'  die  Ursprünge  dieses  vaterländischen  Unter- 
nehmens nachgewiesen  hat,  sei  es  dem  derzeitigen  Verwalter  der  Samm- 
lung gestattet,  auf  deren  weitere  Entwickelung  in  einem  kurzen  Über- 
blick einzugehen,  die  Richtlinien  der  Verwaltung  und  die  Aufgaben  für 
die  Zukunft  darzulegen. 

Während  anfänglich  die  Beiträge  der  Mitglieder  des  Museumsvereins 
und  sonstige  Einnahmen  des  Museums  nicht  ausschliesslich  für  Neu- 
erwerbungen verwendet  werden  konnten,  ist  durch  seine  Übernahme  in 
Staatsbesitz  und  -Verwaltung  die  Möglichkeit  gegeben,  alle  Mittel  des 
Vereins  für  Ankäufe  und  Veröffentlichungen  auszunutzen.  Im  Interesse 
der  ersteren  werden  die  'Mitteilungen'  in  bescheidenen  Grenzen  gehalten; 
etwa  jedes  Jahr  ist  ein  Heft  herausgegeben  worden. 

Bald  nach  der  Übernahme  der  Sammlung  ins  Staatseigentum  fand  in 
den  Jahren  1906—1907  eine  gründliche  Erneuerung  der  Museums- 
räume statt,  verbunden  mit  einer  ansehnlichen  Erweiterung  und  Einbau 
einer  Zentralheizung.  Die  erforderliche  Neuaufstellung  der  Sammlung 
wurde  in  dem  zur  Wiedereröffnung  fertiggestellten  Neudruck  des  seiner- 
zeit von  den  Herren  Prof.  Dr.  Weinitz  und  Hooft  bearbeiteten  'Führers' 
berücksichtigt!).  Nunmehr  erscheint  dieser  Führer  nach  umfangreichen 
Neuaufstellungen  wiederum,  ausgestattet  mit  15  Bildertafeln,  welche  die 
Hauptsammlungsgebiete  einigermassen  umschreiben. 

1)  Vgl.  auch  'Mitteilungen'  3,  11-14;  Zeitschrift  des  Vereins  für  Volkskunde  18, 
241-263. 


350  Brunner: 

Die  Vermehrimg  der  Sammlungeu  ist  mit  Hilfe  des  Museumsvereins 
und  einzelner  Gönner  seit  dieser  Zeit  rüstig  vorgeschritten.  Die  grössten 
Verdienste  erwarben  sich  hier  die  Mitglieder  des  Vorstandes  und  Aus- 
schusses, voran  der  Vorsitzende  Hr.  Dr.  James  Simon,  Hr.  Stadtver- 
ordneter H.  Sökeland,  Frau  Marie  Andree-Eysn  in  München,  Hr.  und 
Frau  Direktor  Dr.  Minden,  Hr.  Prof.  Dr.  C.  Strauch,  Hr.  Prof.  Ad. 
Schlabitz,  Frl.  Julie  Schlemm,  Frl.  Elisabeth  Lemke,  Frau  Prof. 
Seier,  Hr.  Kommerzienrat  Hans  Schlesinger,  Freiherr  von  Dier- 
gardt,  Hr,  L.  Verch,  Hr.  Prof.  Dr.  Weinitz,  Hr.  Hofspediteur  O.  Licht, 
Hr.  Prof.  Dr.  E.  Schnippel,  Frl.  Margarete  Lehmann-Filhes,  Hr. 
Direktor  Werner,  Hr.  Lehrer  Brusch,  Hr.  Prof.  Ludwig,  Hr.  Konser- 
vator Ed.  Krause,  Hr.  Lehrer  Scharnweber,  Hr.  Prof.  Dr.  Ed.  Hahn 
und  Hr.  Geh.  Kommerzienrat  Pintsch.  Verdienste  besonderer  Art  er- 
warben sich  ferner  die  Herren  Prof.  Rob.  Mielke,  Direktor  Goerke 
und  Geh.  Baurat  Mühlke  neben  manchen  anderen. 

Der  Museumsverein  besteht  zurzeit  aus  3  Ehrenmitgliedern,  5  immer- 
währenden und  etwa  100  ordentlichen  Mitgliedern. 

Aus  den  Mitgliederbeiträgen  konnten  im  Laufe  der  letzten  zehn  Jahre 
wieder  viele  Einzelstücke  zur  Ergänzung  der  Sammlungen  erworben 
werden,  aber  auch  grössere  Gruppen  und  Zusammenstellungen  von  Gegen- 
ständen. 

Die  hauptsächlichsten  grösseren  Erwerbungen  aus  der  neueren  Zeit 
des  Museums  seit  1904  mögen  hier  in  gedrängter  Übersicht  folgen  nach 
den  Kategorien,  welche  der  Sammlung  von  Anbeginn  zugrunde  gelegt 
wurden. 

1.   Haus  und  Wohnung. 

Zu  den  bereits  vorhandenen  wertvollen  Modellen  bäuerlicher  Häuser 
ist  durch  eine  grossartige  Stiftung  des  Hrn.  Dr.  James  Simon  eine  Reihe 
von  bisher  13  weiteren  Bauernhausmodellen  im  Massstab  1  :  20  getreten. 
Die  weitere  Vervollständigung  dieser  lehrreichen  und  schönen  Sammlung 
ist  in  Aussicht  genommen,  so  dass  sich  hier  die  Möglichkeit  findet,  die 
volkstümlichen  Bauweisen  in  ganz  Deutschland  durch  vortreffliches  An- 
schauungsmaterial kennen  zu  lernen,  ohne  weite  Reisen  unternehmen 
zu  müssen.  Um  die  Auswahl  der  nachzubildenden  Bauten  hat  Hr.  Prof. 
Rob.  Mielke  seinen  früheren  grossen  Verdiensten  um  das  Museum  ein 
hervorragendes  neues  hinzugefügt.  Hr.  Prof.  Ad.  Schlabitz  stiftete 
selbstgemalte  Bilder  vom  Innern  einer  alten  Tiroler  Sennhütte  und  vom 
Bauernhöfe  an  der  Krems  in  Oberösterreich. 

Zu  der  bereits  in  früherer  Zeit  durch  die  eifrigen  Bemühungen  des 
damaligen  Museumsleiters  Hrn.  Sökeland  gelungenen  Erwerbung  der 
schönen  Hindelooper  Kammer  ist  in  neuerer  Zeit  eine  weitere  friesische 
Stubeneinrichtung  getreten,    die  ostfriesische  Winterküche,   welche  wieder 


Die  Entwickelung  der  Königlichen  Sammlung.  351 

der  Freigebigkeit  des  Hrn.  Dr.  James  Simon  verdankt  wird.  Diese 
Bauernstube  konnte  in  den  erweiterten  Museumsräumen  in  ziemlich  be- 
friedigender Weise  aufgestellt  werden,  während  leider  die  Hindelooper 
Kammer  wegen  der  unzulänglichen  Räume  noch  in  ihrem  alten  Zustande 
ohne  richtige  Beleuchtung  verbleiben  muss.  Erst  wenn  es  möglich  sein 
wird,  diesen  kostbaren  Besitz  in  anderen  grösseren  Räumen  mit  ent- 
sprechender Beleuchtung  aufzubauen,  wird  man  seine  ganze  Originalität 
und  Schönheit  würdigen  können. 

Zwei  weitere  ganze  Stubeneiurichtungen  von  besonderer  Eigenart  sind 
durch  Mittel  des  Museumsvereins  erworben  worden:  eine  oberösterreichische 
und  eine  schlesische  aus  dem  Hirschberger  Tale  im  Riesengebirge.  Die 
oberösterreichische  ging  aus  der  Sammlung  des  Hrn.  von  Preen  hervor 
und  besteht  nicht  nur  aus  der  kleinen,  mit  origineller  Ausstattung  ver- 
sehenen Stube,  sondern  auch  aus  Küche  mit  allem  Zubehör  und  sog. 
Speis,  einem  kleinen  Vorratsraum,  in  den  sich  der  Backofen  erstreckt. 
Die  schlesische  Stube  ist  die  charakteristische  Holzstube  des  Riesen- 
gebirges ^)  mit  einem  sehr  volkstümlich  verzierten  Fayenceofen,  den  der 
Vereinsschatzmeister,  Hr.  Kommerzienrat  Hans  Schlesinger,  als  er- 
wünschte Schenkung  hinzufügte. 

2.  Haushalt  und  Hausrat. 

Diese  Abteilung  wurde  durch  viele  Einzelerwerbungen  bereichert, 
?3esonders  aber  durch  die  von  Hrn.  Dr.  James  Simon  gestifteten  wert- 
vollen Möbel  aus  Bückeburg.  Unter  ihnen  ragt  hervor  ein  mit  über- 
reichen Verkröpfungen  geschmückter  Eichenschrauk  und  eine  riesenhafte 
Brauttruhe.  Diese  und  andere  Geräte  zeigen  eine  eigenartige  kräftige 
Bauernkunst.  Zu  bedauern  ist  es,  dass  solche  Möbel  in  Niederdeutschland 
schon  selten  werden,  da  sie  von  Händlern  vielbegehrte  Schmuckstücke  für 
die  'altdeutschen'  oder  'antiken'  Wohnungseinrichtungen  der  Grossstädter 
geworden  sind. 

Einen  gut  erhaltenen  sog.  Beilegerofen  aus  gusseisernen  gezierten 
Platten  stiftete  wiederum  Hr.  Sökeland.     Er  stammt  von  der  Unterweser. 

Dem  Museumsverein  wird  eiue  andere  sehr  wirksame  und  wertvolle 
Bereicherung  verdankt,  die  zugleich  ein  lebendiges  Bild  alten  Volks- 
-brauches  gewährt,  das  ist  der  mit  einer  ganzen  Brautausstattung  aus  dem 
Ende  des  18.  Jahrh.  prunkvoll  beladene  oberbayrische  Hochzeits-  oder 
Kammerwagen"'').  Diese  prächtige  Zusammenstellung  mit  den  bunt  und 
charakteristisch  bemalten  Möbeln,  dem  reich  mit  selbstgesponnencm  Flachs 
und  eigengewebtem  Linnen  ausgestatteten  Schrank,  dem  hohen  Himmel- 
bett und  sonstigem  so  mannigrfaltigen  Zubehör  hatte  Hr.  Prof.  Franz  Zell 


1)  Vgl.  'xMitteiluugen'4,  71— 8:3;  Zeitschrift  des  Vereins  für  Volkskunde  23,337— 349. 

2)  Vgl.  'Mitteilungen'  3,  107 ff.;  Zeitschrift  des  Vereins  für  Volkskunde  19,  282-28G. 


352  Brunner: 

in  Manchen  aus  Anlass  der  1909  in  Berlin  veranstalteten  Volkskunst- 
Ausstellung  besorgt,  wo  dieser  Wagen  den  Mittelpunkt  der  historischen 
Abteilung  bildete. 

Die  grosse  Menge  altertümlicher  Feuererzeugungs-  und  Be- 
leuchtungsgeräte ist  jetzt  in  einer  vergleichenden  Zusammenstellung 
zu  übersehen.  Sie  wurde  in  neuerer  Zeit  wesentlich  durch  die  Sammlung 
von  Preen  vermehrt,  welche  der  Museumsverein  ankaufte. 

3.  Kleidung  und  Schmuck. 

Auch  diese  Gruppe,  ursprünglich  ja  der  Schwerpunkt  der  Sammlungen 
des  Museums,  wurde  in  neuerer  Zeit  nicht  unbeträchtlich  vermehrt,  ob- 
wohl die  älteren  Bestände  so  umfangreich  sind,  dass  sie  aus  Mangel  an 
Raum  und  guten  Schränken  nur  etwa  zur  Hälfte  zur  Schau  gestellt  werden 
können. 

An  ganzen  Trachtensammlungen  wurden  zwei  erworben.  Eine 
aus  Hannover  und  Braunschweig  stammende,  ausserordentlich  wertvolle 
und  reiche  Zusammenstellung,  die  eine  fühlbare  Lücke  ausfüllte,  verdankt 
das  Museum  wiederum  dem  Hrn.  Vorsitzenden  des  Museumsvereins 
Dr.  James  Simon.  Die  andere  Sammlung,  welche  von  Frau  Direktor 
Prof.  Dr.  Seier  zusammengebracht  und  geschenkt  wurde,  umfasste 
Trachten  aus  Mönchgut,  dem  Fläming,  Münstertal,  Tessin  und  Gailtal. 
Einzelne  Trachten  und  Teile  von  solchen  wurden  zur  Ergänzung:  der 
Sammlung  in  sehr  grosser  Zahl  vom  Muaeumsverein  erworben  oder  von 
Gönnern  geschenkt.  Aus  einer  deutschen  Sprachinsel,  Gressoney  in 
Piemont,  brachte  Hr.  Direktor  Dr.  Minden  eine  schöne,  mit  prächtiger 
Goldhaabe  ausgestattete  Frauentracht  mit  heim. 

Besondere  Hervorhebung  verdient  jedoch  noch  eine  grosse  Sammlung 
von  Frauen hauben  in  ausgewählt  schönen  Stücken,  die  von  Hrn.  Dr. 
James  Simon  erworben  und  dem  Museum  übergeben  wurde.  Ihr  ge- 
hören hervorragend  prächtige  Stickereien  aus  Nord-  und  Süddeutschland 
an,  und  es  ist  sehr  zu  bedauern,  dass  diese  bedeutende  Schenkung  aus 
Raummangel  nicht  mehr  im  ganzen  zur  Schau  gestellt  werden  kann. 

Zur  Ergänzung  der  schon  früher  recht  ansehnlichen  Sammlungen  von 
Bauernschmuck,  die  Prof.  Mielke  in  unseren  'Mitteilungen'  aus  dem 
Museum  Bd.  1  und  2  zuerst  eingehend  und  grundlegend  behandelt  hat, 
wurden  wiederholt  solche  aus  Westfalen  teils  vom  Museumsverein 
erworben,  teils  von  Hrn.  Dr.  James  Simon  geschenkt.  Grossartiger 
noch  war  aber  seine  Schenkung  einer  bedeutenden  Sammlung  ost- 
friesischer Schmucksachen,  deren  feine  Filigranarbeiten  zu  dem  Besten 
gehören,  was  auf  diesem  Gebiete  vorhanden  sein  dürfte.  Hrn.  Direktor 
Dr.  Minden  verdanken  wir  die  Erwerbung  mehrerer  charakteristischer 
und  vorher  in  der  Sammlung  noch  nicht  vertretener  silberner  Schmuck- 
sachen aus  Schlesien  mit  eigentümlicher  Filigranarbeit,   die  nach  Sachsen 


Die  Entwickelung  der  Königlichen  Sammlung.  353 

hinübergreifen  und  dort  als  'Bernstädter  Schmuck'  bezeichnet  werden. 
Dem  oft  bewährten  Gönner,  Hrn.  Dr.  James  Simon,  verdankt  das 
Museum  dann  eine  grosse  Sammlung  von  Einsteckkämmen  und  Haar- 
spangen von  Silber,  Schildpatt  und  Hörn  aus  Nord-  und  Süddeutschland. 
Viele  dieser  Kämme  sind  wunderbar  reich  durch  Sägearbeit,  Radierung 
und  Pressung  verziert  und  bildeten  in  vielen  Fällen  einen  notwendigen 
Bestandteil  der  volkstümlichen  Haartracht.  Einige  schöne  Stücke  dürften 
wohl  auch  als  Meisterstücke  gearbeitet  worden  sein. 

4.  Nahrung. 

Diese  Abteilung,  welche  vor  allem  die  wichtigsten  Zweige  der 
Bauernarbeit,  Yieh-  und  Landwirtschaft,  Jagd,  Fischfang,  Bereitung  der 
Nahrungsmittel  wie  Brot  und  Getränke  umfasst,  ist  wohl  hauptsächlich 
aus  Mangel  an  Raum  für  die  meist  umfangreichen  Geräte  und  Anlagen 
noch  wenig  ausgebaut  worden.  Immerhin  konnte  bei  der  neuesten  Auf- 
stellung doch  ein  Versuch  gemacht  werden,  einiges  Hierhergehörige  zu- 
sammenzuordnen. Verschiedene  einzelne  Stücke  wurden  in  neuerer  Zeit 
hinzuerworben,  so  mehrere  landwirtschaftliche  Geräte,  z.  B.  der  eigentüm- 
liche Dreschstecken  aus  Oberösterreich,  gestiftet  von  Hrn.  von  Preen, 
eine  kleine  Sammlung  kunstvoll  geschnitzter  und  bemalter  Wetzstein- 
behälter für  Schnitter,  Kumpfe  genannt,  aus  Tirol,  die  Hr.  Dr.  James 
Simon  überwies,  Geräte  für  die  Haubergswirtschaft  im  Rheinlande,  Hand- 
mühlen verschiedener  Art  und  Stampfen,  ferner  prächtig  verzierte  Maul- 
tiergeschirre aus  Südtirol,  Geschenk  des  Hrn.  L.  Verch.  Aus  Sammlungen 
der  europäisch-ethnologischen  Abteilung  des  Museums  für  Völkerkunde 
sowie  aus  dem  Kunstgewerbemuseum  wurden  ebenfalls  verschiedene  ein- 
schlä^ioe  Geräte  übernommen. 


"o'o^ 


5.  Kunst  und  Gewerbe. 

Spinnen  und  Weben  sind  die  wichtigsten  Bestandteile  der  von  Frauen 
ausgeübten  Volkskunst.  Schon  die  älteren  Sammlungen  waren  dem- 
entsprechend reich  an  Geräten  und  Erzeugnissen  dieses  Gebietes.  Neuer- 
dings wurde  eine  Sammlung  von  Spindeln  und  Spinnrocken  aus  dem 
Nachlasse  von  Prof.  Reuleaux  erworben.  Viele  Einzelstücke  wurden 
ausserdem  besonders  von  Hrn.  Prof.  Schlabitz  aus  Tirol  gespendet. 
Der  grosse  Reichtum  des  Museums  an  Geräten  zur  Bearbeitung  des 
Flachses  und  zum  Spinnen  gestattete  bei  der  jüngsten  Neuordnung  der 
Sammlungen  eine  lehrreiche  Zusammenstellung  aller  dieser  Geräte  in 
ihren  hauptsächlichsten  und  besten  Typen.  Sehr  wertvolle  Vorarbeit  dazu 
wurde  seinerzeit  von  Hrn.  Sökeland  durch  Stiftung  der  wichtigsten 
Geräte  aus  Niedersachsen  und  ihre  Beschreibung  in  den  Museums- 
mitteilungen von  1897  geleistet.  Zu  den  Spinngeräten  gesellt  sich  in  der- 
selben Zusammenstellung  der  Webstuhl  und  was  dazu  gehört. 

Zeitschr.  (I.Vereins  f.  Volkskunde.  1914.    Heft  4.  23 


354  Brunner: 

Au  Erzeugnissen  der  volkstümlichen  Weberei  wurden  in  neuerer 
Zeit  besonders  Decken  und  Kissen  mit  bildmässigen  Darstellungen  ge- 
sammelt, seien  es  nun  die  bekannten  blau-  oder  rotweissen  Damastgewebe 
des  18.  Jahrli.  aus  Mitteldeutschland  oder  die  schleswig-holsteinischen 
Beiderwande.  Von  letzteren,  im  allgemeinen  schon  sehr  selten  gewordenen 
Yorhangstoffen  schenkte  die  Berliner  anthropologische  Gesellschaft 
zum  25jährigen  Jubiläum  der  Sammlung  vier  schöne  Stücke. 

Eine  hervorragende  und  geradezu  monumentale  Bereicherung  erfuhr 
die  Sammlung  durch  die  Stiftung  eines  grossen,  über  7  m  langen  und 
über  4  m  hohen  Altarvorhanges,  eines  sogen.  Hungertuches,  aus  der 
Kirche  von  Telgte  in  Westfalen^).  Hr.  Prof.  Dr.  C.  Strauch  überwies 
diese  aus  dem  Jahre  1623  stammende  wertvolle  Netzgrundstickerei  dem 
Museum  als  Geschenk  und  trug  auch  die  bedeutenden  Kosten  einer  gründ- 
lichen Erneuerung. 

Von  anderen  Erzeugnissen  der  Volkskunst,  die  ja  einzeln  in  grosser 
Zahl  den  Sammlungen  zuflössen,  mögen  noch  mehrere  kostbare  Schmiede- 
arbeiten erwähnt  sein,  wie  ein  prächtiger  grosser  Leuchter,  bei  Auf- 
bahrungen in  Ostfriesland  benutzt,  ferner  eiserne  Wetterfahnen  und  kunst- 
volle Grabkreuze  aus  Oberösterreich, 

Auch  die  keramischen  Sammlungen,  deren  Bestand,  besonders 
aus  Schleswig-Holstein,  bereits  früher  recht  bedeutend  war,  konnten  nach 
und  nach  so  ergänzt  werden,  dass  sie  eine  einigermassen  vollständige 
Übersicht  der  in  Deutschland  geübten  Bauerntöpferei  und  volkstümlichen 
Payencerie  gewähren^).  Einen  mit  Sinnsprüchen  und  Piguren  bemalten 
Kachelfries  aus  dem  Schwarzwalde  stiftete  Hr.  Dr.  James  Simon. 

Schliesslich  sei  noch  hier  der  durch  neuere  Überweisung  aus  dem 
Museum  für  Völkerkunde  vermehrten  Sammlung  eigenartiger  und  alter- 
tümlicher Musikinstrumente  aus  Litauen  gedacht. 

6.  Handel  und  Verkehr. 

In  diese  Gruppe  gehört  in  erster  Linie  die  bedeutend  erweiterte 
Sammlung  von  Kerbhölzern,  Botenstäben  und  dergleichen^),  welche 
trotz  der  Seltenheit  dieser  Dinge  im  allgemeinen  wenig  Aufwendungen 
verursacht  hat.  Hr.  Prof.  L.  Mussgnug  in  Nördlingen  stiftete  eine  An- 
zahl solcher  Kerbhölzer,  ferner  Hr.  Lehrer  Brusch  in  Prauzburg  in 
Pommern,  und  eine  ganze  Reihe  dieser  altertümlichen  Abrechnungsgeräte 
sind  der  europäischen  Sammlung  des  Museums  für  Völkerkunde  zu  ver- 
danken. Derselben  Quelle  entstammt  ferner  eine  grössere  Zahl  von  alten 
Holzkalendern*),  teils  in  Buchform,  teils  in  Perm  von  Runenstäben.   Auch. 


1)  Vgl.  'Mitteilungen'  C,  185;  Zeitschrift  des  Vereins  für  Volkskunde  21,  321. 

2)  Vgl.  'Mitteihmgen'  3,  149;  Zeitschrift  des  Vereins  für  Volkskunde  21,  265. 

3)  Vgl.  'Mitteilungen'  4,  15;  Zeitschrift  des  Vereins  für  Volkskunde  22,  337. 
4;  Vgl.  'Mitteilungen'  .3,  75:  Zeitschrift  des  Vereins  für  Volkskunde  19,  249. 


Die  Entwickelung  der  Königlichen  Sammlung.  355 

überliess  das  hiesige  Kunstgewerbemuseum  einige  solche  Stücke  von  be- 
sonderem Interesse. 

Zu  den  bereits  mit  der  sogen.  Virchow-Sammlung  in  das  Museum 
gelangten  Wagen  und  Schlitten  mit  reich  geschnitzten  und  bemalten 
Lehnbrettern  wurde  ein  weiterer  prächtiger  Schlitten  derselben  Art  durch 
Ankauf  aus  den  Mitteln  des  Museumsvereins  erworben. 

Die  noch  in  der  Entwickelung  begriffene  Sammlung  von  volkstüm- 
lichen Korbflechtereien  wurde  durch  Hrn.  Prof.  Dr.  Strauch  und 
Hrn.  Postdirektor  Esslinger  bereichert.  Der  von  dem  letzteren  Gönner 
zum  Museumsjubiläum  gestiftete  Tragkorb  aus  der  Nürnberger  Gegend 
weist  eine  besonders  merkwürdige  altertümliche  Form  auf. 

Bei  passendei'  Gelegenheit  konnte  auch  die  Sammlung  deutscher 
Zunftaltertümer  durch  Ankäufe  wesentlich  vergrössert  werden,  wozu 
die  Mittel  durch  eine  Geldsammlung  zusammengebracht  wurden,  an  der 
sich  die  Mitglieder  des  Museumsvereins  hervorragend  beteiligten. 

Ferner  konnten  einige  Wirtshausschilder  der  alten  ausdrucksvollen 
Art  aus  Bayern  und  Graz  den  bereits  früher  vorhandenen  hinzugefügt 
werden. 

7.  Volksglauben  und  Brauch. 

Diese  Abteilung,  eine  der  grössten  und  durch  den  nahen  Zusammen- 
hang mit  der  literarisch  gepflegten  Yolkskunde  überaus  wichtig,  ist  auch 
in  neuerer  Zeit  mit  besonderer  Sorgfalt  und  in  grossem  Umfange  ver- 
mehrt worden.  Sie  umfasst  die  Sammlungen,  welche  sich  auf  Geburt, 
Kindheit,  Hochzeit,  Tod,  Feste  des  Lebens  und  des  Jahrkreislaufes,  den 
Kultus  und  vor  allem  auf  Volksglauben,  Volksmedizin  und  ähnliches 
beziehen. 

An  erster  Stelle  sei  hier  die  grosse  neapolitanische  Weihnachts- 
krippe mit  echten  Figuren  aus  dem  Anfange  des  18.  Jahrh.  erwähnt, 
welche  S.  M.  der  Kaiser  dem  Museum  zur  Aufstellung  überwiesen  hat. 
Dazu  kam  eine  Anzahl  holzgeschnitzter  Krippenfiguren  aus  Schlesien 
und  Tirol,  die  teils  angekauft,  teils  von  Hrn.  Hofspediteur  0.  Licht  ge- 
schenkt worden  sind. 

Eine  der  grossartigsten  Stiftungen  der  letzten  Jahre  ist  die  grosse 
Sammlung  von  Votiven  und  Weih  gaben,  welche  dem  Museum  durch 
das  Ehrenmitglied  des  Museumsvereins,  Frau  Prof.  Marie  Andree  geb. 
Eysn,  als  Geschenk  überwiesen  wurde.  Derselben  von  jeher  bewährten 
Gönnerin  verdanken  wir  ferner  eine  interessante  Sammlung  von  Decken- 
gehängen aus  Bauernstuben,  die  eine  merkwürdige  Entwickelung  zeigen, 
ebenso  zahlreiche  Amulette  und  ähnliche  Dinge  zur  Abwehr  schädlicher 
Geisterwesen,  Krankheiten  und  Unwetter. 

Zu  den  bereits  früher  in  grosser  Zahl  gesammelten  Masken,  welche 
bei   den  volkstümlichen  Umzügen    in    der  Winter-  und  Frühlingszeit    ge- 


356  Brunner: 

braucht  werden,  stiftete  Hr.  Dr.  James  Simon  fünf  Masken  eines  alten 
Nikolaus-Spieles  aus  dem  Enneberg  in  Tirol.  Durch  Ankäufe  und  Stif- 
tungen wurden  auch  die  Lärmwerkzeuge,  welche  denselben  Zwecken 
wie  die  Masken  dienten,  wesentlich  vermehrt.  Somraertagsruten  aus 
Liegnitz  stiftete  Frau  Geheimrat  Bartels. 

Auf  den  Totenkultus  beziehen  sich  verschiedene  sehr  bemerkens- 
werte neue  Zugänge,  wie  die  Totenkronen  und  Kränze,  die  zum  Andenken 
an  Verstorbene  in  den  Kirchen  aufgehängt  wurden,  bemalte  Schädel,  Bei- 
gaben einer  Wöchnerin  aus  der  Oberlausitz,  ferner  ein  besticktes  Bahr- 
tuch einer  Zunft  aus  dem  Thüringer  Walde,  gestiftet  von  Frl.  Julie 
Schlemm. 

Merkwürdig  grobe  Raufwerkzeuge  aus  Oberösterreich  wurden  mit 
der  Sammlung  v.  Preen  durch  Mittel  des  Museumsvereins  erworben. 

Eine  Sammlung  volkstümlicher  Puppen  stiftete  Frl.  Elisabeth 
Lemke;  recht  urtümliche  Holzspielsachen  aus  Ostpreussen  verdanken 
wir  Hrn.  Prof.  Dr.  Strauch,  und  Frau  Prof.  M.  Andree-Eysn  Hess  sich 
auch  die  Vermehrung  der  zahlreichen  Kinderpfeifen  in  Ton  ange- 
legen sein. 

Die  volkstümliche  Medizin,  das  Besegnen,  Krankheitsheilung 
durch  zauberische  Massnahmen  wie  Verschlucken  von  Steinstaub  prä- 
historischer Hämmer,  Tonstaub  von  Muttergottesbildern,  bedruckten 
Zetteln  und  Teig  von  Tolltafeln,  Verpflöcken  von  Krankheiten  und 
manches  andere  dieser  Art  konnte  durch  eine  grössere  Zahl  neu  er- 
worbener Gegenstände,  meist  aus  Stiftungen  herrührend,  erläutert  werden. 
Das  Kunstgewerbemuseum  zu  Berlin  überliess  uns  zwei  Gefässe  und 
Pastillen  aus  schlesischer  sogen,  terra  sigillata,  die  im  Volksglauben 
früherer  Jahrhunderte  als  heilkräftig  gegen  Vergiftung    angesehen   wurde. 


Allen  treuen  Mitgliedern  des  Museumsvereins,  allen  hochherzigen 
Stiftern  ist  der  Dank  nicht  nur  der  Verwaltung,  sondern  des  deutschen 
Volkes  sicher.  Denn  was  mit  ihrer  Hilfe  gesammelt  werden  konnte,  ist 
ein  jetzt  allgemein  geschätzter  Besitz  aus  dem  Erbe  unseres  deutschen 
Gesamtvolkes,  welcher  infolge  der  neuzeitlichen  Entwickelungen  des  Ver- 
kehrs, der  Arbeitsteilung  und  ethischen  Anschauungen  ein  für  allemal 
dahin  ist,  nachdem  er  sich  von  prähistorischen  Zeiten  an  in  langsamem 
Fortschreiten  bis  zur  Gegenwart  im  Volksleben  behauptet  hat.  Wohl 
finden  sich  noch  immer  hier  und  da  Überreste  aus  diesem  alten  Leben, 
die  sich,  wenn  auch  in  veränderten  Formen,  in  das  moderne  gerettet 
haben,  und  Bestrebungen  zur  Förderung  solcher  Übergänge,  aber  die 
völlig  veränderten  Lebensbedingungen  der  europäischen  Völker  machen 
es  doch  wahrscheinlich^  dass  ihre  Zeit  um  und  dass  es  Aufgabe  der 
Museen    für  Volks-    und  Heimatkunde    ist,    diese  Dinge    zur    historischen 


Die  Entwickelung  der  Königlichen  Sammlung.  357 

Betrachtung  und  zum  völkervergleichenden  Studium  aufzubewahren.  So 
kann  aus  solchen  Sammlungen  der  höchste  Nutzen  gezogen  und  die  Ver- 
sranffenheit  mit  der  Geü:enwart  und  Zukunft  verbunden  werden. 

Wir  kommen  nunmehr,  auf  dem  Vorgesagten  fussend,  zur  Unter- 
suchung der  Frage,  welches  die  eigentümlichen  Zwecke  und  Ziele  eines 
Museums  für  Volkskunde  sind. 

Zunächst  liegt  es  nahe,  darauf  einzugehen,  was  unter  Volkskunde 
jetzt  allgemein  verstanden  wird,  und  aus  dieser  Erklärung  die  Folgerungen 
hinsichtlich  der  Bestimmung  der  Museen  für  Volkskunde  abzuleiten. 

Das  Arbeitsgebiet  der  Volkskunde  ist  die  Volksüberlieferung. 
Was  an  altererbten  Sitten  und  Gebräuchen,  Glauben,  Sage,  Lied,  Märchen, 
Recht  und  Sprache  von  ungeschichtlichen  Zeiten  an  gelebt  und  sich  im 
günstigsten  Falle  bis  in  die  Gegenwart  erhalten  hat,  das  zu  erforschen  ist 
die  Aufgabe  der  Volkskunde.  Das  Volk  im  Sinne  dieses  Wortes  ist  nicht 
eine  bestimmte  soziale  Schicht,  sondern  eben  jener  Teil  jedes  Kulturvolkes, 
welcher  Träger  von  Volksüberlieferungen  war  oder  ist. 

Albrecht  Dieterich  spricht  in  einem  vortrefflichen  Aufsatze  über 
Wesen  und  Ziele  der  Volkskunde^)  seine  Ansicht  darüber  so  aus:  „Volk 
ist  —  die  Bezeichnung  der  Unterschicht  der  Kulturnationen.  —  Volks- 
kunde ist  eben  Erforschung  und  Erkenntnis  der  'Unterwelt'  der  Kultur." 
Je  weiter  wir  in  die  Vergangenheit  zurückgehen,  um  so  breiter  wird  diese 
Schicht,  je  näher  der  durch  'Bildung'  der  Natur  entfremdeten  Gegenwart, 
um  so  schmaler  wird  sie.  Als  Begründer  der  wissenschaftlichen  deutschen 
Volkskunde  wird  Jakob  Grimm  mit  Stolz  genannt. 

Als  Träger  der  Volksüberlieferungen  ist  in  neuerer  Zeit  besonders 
der  Bauernstand  erkennbar  geworden,  weil  er  fern  den  gleichmachenden 
Einflüssen  des  grossen  Verkehrs  und  der  sogen.  Bildung  der  Städte  am 
vaterländischen  Boden  fest  haftet,  an  den  sich  ja  viele  altüberlieferte 
Gebräuche,  Glauben,  Feste  und  Sagen  knüpfen. 

Allen  diesen  Erscheinungen  ist  ein  gewisser  Mangel  an  Individualität 
und  eine  typische  Verbreitung  der  Form  eigentümlich.  Sie  sind  dadurch 
charakterisiert  als  Besitz  der  Volksseele  im  Ganzen,  nicht  Erzeugnisse 
Einzelner,  wenn  auch  ihre  urprünglich  individualistische  Formung  nicht 
bestritten  werden  soll. 

E.  Mogk  hat  in  einem  Aufsatze  über  Wesen  und  Aufgaben  der 
Volkskunde^)  die  assoziative  Denkweise  des  Volkes  im  Gegensatze  zur 
individuellen  und  reflektierenden  Geistesarbeit  als  ausschlaggebend  für 
die  Begriffsbestimmung  der  Volksüberlieferungen  bezeichnet.  Er  sagt 
dann  (S.  6):    „Die  Volkskunde  hat  zur  Aufgabe  darzulegen,    wie  sich  die 


1)  Hessische  Blätter    für  Volkskunde  1,  17(i  =  A.  Dieterich,    Kleine  Schriften,   hsg. 
V.  R,  Wünsch  1911,  S.  293. 

2)  Mitteilungen  des  Verbandes  deutscher  Vereine  für  Volkskunde  Nr.  6  (Nov.  1907). 


358  ^  Brunner: 

Psyche  des  Yolkes  äussert:  1.  im  Wort,  2.  im  Glauben,  3.  in  Handlungen, 
4.  in  Werken." 

Die  wesentlichste  Arbeit  eines  Museums  für  Volkskunde  wäre  dem- 
nach wohl  durch  den  vierten  Punkt  dieses  Programmes  gekennzeichnet. 
Aber  es  ist  doch  möglich  und  wenigstens  in  den  Berliner  Sammlungen  von 
jeher  mitangestrebt  worden,  auch  zu  den  übrigen  Aufgaben  der  im  allge- 
meinen literarisch  gepflegten  Volkskunde  Erläuterungen  zu  geben.  Um 
aus  der  Fülle  des  Stoffes  nur  ein  grosses  Beispiel  hervorzuheben,  dürfte 
die  reiche  Sammlung  von  Opfergaben,  welche  wir  unserem  Ehrenmitgliede 
Frau  M.  Andree  verdanken,  zur  Darstellung  des  Volksglaubens  von  aller- 
grösster  Bedeutung  sein. 

Vielleicht  könnte  in  Zukunft  das  Museum  für  Volkskunde  mit  einem 
Archiv  für  phonographisch  aufgenommene  Proben  der  schwindenden  Volks- 
mundarten in  Form  von  Liedern,  Sagen  und  Märchen  verbunden  werden. 
Ausserdem  wären  kinematographische  Aufnahmen  von  natürlichen  Szenen 
des  Volkslebens  und  Abbildungen  aller  Art,  selbstverständlich  auch  künst- 
lerische, von  Volkstypen,  volkstümlichen  Trachten  und  Geräten  in  grösserem 
Umfange,  ferner  Modelle  dieser  Art  hier  aufzusammeln  und  bei  der  Auf- 
stellung mit  zu  verwenden. 

Dadurch  würde  oft  auch  der  von  Mogk  a.  a.  0.  und  von  anderen  ge- 
forderten historischen  Vertiefung  der  Volkskunde  gedient  und  die  Ent- 
wickelung  der  Dinge  lückenlos  nachzuweisen  sein,  was  an  den  erhaltenen 
Gegenständen  selbst  nicht  immer  möglich  ist.  Dass  auch  die  germanistisch- 
philologischen  Forschungsergebnisse  nach  dem  Muster  von  Moriz  Heyne 
für  die  Sammlungen  deutscher  Volksaltertümer  nutzbar  gemacht  werden, 
ist  selbstverständlich,  nicht  minder  wie  die  aus  der  Ethnologie  gewonnenen 
Vergleiche  und  Erkenntnisse. 

Nachdem  so  der  Umfang  der  Sammlungen  eines  Museums  für  Volks- 
kunde und  ihre,  wissenschaftlichen  Hilfsmittel  angedeutet  wurden,  sei  es 
gestattet,  auch  der  Frage  näherzutreten,  ob  ein  solches  Museum  lebens- 
fähig ist  und  ob  es  gerade  in  Berlin  am  richtigen  Platze  steht^). 

Wie  wir  wissen,  ist  gerade  infolge  der  Gründung  des  Berliner  Museums 
für  deutsche  Volkstrachten  und  Erzeugnisse  des  Hausgewerbes  vor  25  Jahren 
sowohl  die  Pflege  der  literarischen  Volkskunde  in  wissenschaftlichen  Ver- 
einen neu  erblüht,  als  auch  eine  grosse  Zahl  von  Museen  erstanden,  welche 
sich  der  Pflege  des  Volkstümlichen  in  ihrem  Bereiche  widmeten.  Die 
Lebensfähigkeit  scheint  durch  das  nun  erreichte  blühende  Jünglingsalter 
unseres  Museums  hinreichend  erwiesen.  Seine  Beliebtheit  und  sein  Besuch 
nimmt  trotz  der  abgelegenen  Örtlichkeit  immer  zu  und  würde  noch  grösser 
sein,  wenn  durch  einen  Hörsaal  im  Hause  die  Möglichkeit  gegeben  wäre, 


1)  Vgl.  W.  Bode,  Denkschrift,  betr.  Erweiterungs-  u,  Neubauten  bei  den  Kgl.  Museen 
(Berlin  1907)  S.  12. 


Die  Entwickelung  der  Königlichen  Sammlung.  359 

längere  Einführungen  in  die  einzelnen  Gebiete  der  Volkskunde  zu  geben, 
an  welche  sich  dann  die  jetzt  leider  infolge  der  engen  Räume  sehr  er- 
schwerten Führungen  durch  die  Sammlung  anschliessen  könnten.  Auch 
der  akademische  Unterricht  würde  sich  dann  in  höherem  Masse  des  Museums 
bedienen  können  als  es  jetzt  möglich  ist,  und  die  Fühlung  mit  dem  'Verein 
für  Volkskunde'  könnte  dann  durch  Abhaltung  seiner  Sitzungen  im  Museum 
sich  viel  inniger  und  nützlicher  gestalten. 

Wie  O.  Lauffer^)  bezüglich  der  nahe  verwandten  historischen 
Museen  bemerkt,  dass  das  grosse  Publikum  die  Befriedigung  seiner  kultur- 
geschichtlichen Interessen  und  die  auf  unmittelbarer  Anschauung  beruhende 
Stärkung  seines  Heimatsgefühls  dort  findet  und  dass  deshalb  die  Besucher- 
zahl der  historischen  Museen  die  der  Kunstsammlungen  immer  bei  weitem 
übertrifft,  so  ist  zu  hoffen,  dass  bei  gleich  günstiger  Gestaltung  der  äusseren 
Verhältnisse  auch  das  Museum  für  deutsche  Volkskunde  im  öffentlichen 
Interesse  immer  mehr  steigen  und  seine  Lebensfähigkeit  mehr  und  mehr 
erweisen  wird.  Denn  die  Übersättigung  der  Grossstädter  mit  einseitiger 
Geistesnahrung  drängt  sie  mit  Notwendigkeit  auf  Gebiete  hin,  welche  zum 
Ausgleich  Gemütswerte  enthalten,  wie  die  Sammlungen  von  vaterländischen 
und  heimatlichen  Altertümern. 

Dass  eine  Grossstadt  wie  Berlin,  die  doch  kein  eigenes  starkes 
Volkstum  besitzt  und  auch  in  der  umgebenden  Provinz  kein  solches  mehr 
aufzuweisen  hat,  deshalb  gerade  ein  Museum  brauche,  das  der  Bevölkerung 
und  den  Fremden  einen  Begriff  deutschen  Volkstums  geben  könne  —  das 
war  auch  die  Meinung  der  hochverdienten  Gründer  unseres  Museums  und 
brauchte  eigentlich  kaum  nachträglich  bewiesen  zu  werden. 

Die  Provinzmuseen  sind  in  dieser  Hinsicht  in  einer  viel  besseren 
Lage;  sie  haben  auch  genügenden  Museumsstoff  und  können  den  in  Berlin 
aus  ihren  Bezirken  gesammelten  gern  entbehren.  Eine  Konkurrenz  findet 
nicht  statt,  sondern  die  Provinzsammlungen  beschränken  sich  auf  die  Dar- 
stellung des  Volkstums  in  ihrer  Provinz,  während  sich  das  Berliner  Museum 
von  jeher  weitere  Ziele  stecken  musste,  nämlich  eine  Übersicht  der  auf 
Volksüberlieferungen  beruhenden  Erzeugnisse  des  Volksgeistes  in  ganz 
Deutschland  zu  geben. 

Hiermit  sollte  eben  die  noch  fehlende  sachliche  Grundlage  geschaffen 
werden  für  das  volle  Verständnis  des  tiefsten  Lebens  des  Volkes,  das  auf 
der  Überlieferung  von  Jahrtausenden  beruht. 

Berlin. 


1)  'Museumskunde'  1!»1U,  S.  38. 


360  Brunner:  Die  Entwickelung  der  Königlichen  Sammlung. 

Die  in  den  beiden  vorstehenden  Aufsätzen  erwähnten  'Mitteilungen  aus 
dem  Museum  für  deutsche  Volkstrachten'  (seit  1905  betitelt:  'Mitteilungen 
aus  dem  Verein  der  Königlichen  Sammlung  für  deutsche  Volkskunde')  brachten  in 
ihren  ersten  zwei  Bänden  folgende  Abhandlungen: 

E.  Bracht,  Volkstümliches  aus  dem  Hümmling,  Bd.  1,  Heft  1  (1897^  S.  7.  —  H.  Söke- 
land.  Vorlage  hausgewerblicher  Gegenstände  aus  Westfalen.     Ebenda  S.  19. 

0.  Scholz,  Ländliche  Trachten  Schlesiens  aus  dem  Anfange  dieses  Jahrhunderts.  Bd.  1, 
Heft  2  (1898)  S.  49.  Der  schlesische  Bauernhof  in  der  Gegend  von  Jauer,  Ebenda 
S.  56.  —  H.  Sökeland,  Westfälische  Spinnstube.  Ebenda  S.  59.  Diggens-  oder 
Degensbriefe  (Ehekontrakte)  aus  Westfalen.     Ebenda  S.  75. 

Julie  Schlemm,  Zur  Volkskunde  der  Schwalm.  Bd.  1,  Heft  3  (1898)  S.  89.  —  A.Treichel, 
Psaligraphie  und  Friichtebild.     Ebenda  S.  118. 

A.  Vasel,  Alte  Bauernschüsseln  im  Braunschweigischen.  Bd.  1,  Heft  4  (^1899)  S.  142  — 
0.  Schwindrazheim,  Feld-Einfassungen  und  Durchlässe  in  Ost-Holstein. 
Ebenda  S.  148.  —  0.  Scholz,  Ein  schlesischer  Lichteuabend.    Ebenda  S.  155. 

H.  Worpenberg,  Aus  dem  westfälischen  Volks-  und  Hauserwerbsleben.  Bd.  1,  Heft  5 
(1900)  S.175.  —  H.  Sökeland,  Einiges  über  'Desemer'  >  Wiegestöcke).  Ebenda 
S.  190.  Gniedelsteine,  Bötzettel  und  Talisman  aus  Lenzen  a.  d.  Elbe.  Ebenda 
S.  202. 

E.  Bracht,  Volkstümliches  von  den  Nordfriesischen  Inseln.  Bd.  1,  Heft  6  (1900)  S.226. — 
F.  Weinitz,  Zur  älteren  Volkskunde  des  Grossherzogtums  Baden.    Ebenda  S.  265. 

Marie  Eysn,  Das  Gadelraachen,  eine  Hausindustrie  im  Berchtesgadnerlande.  Bd.  1, 
Heft  7  1901)  S.  289.  —  R.  Mielke,  Bauernschmuck.  Ebenda  S.  296  und  Bd.  2, 
Heft  1  ,1903)  S.  25. 

E.  Lemke,  Aus  den  auf  Tod  und  Begräbnis  sich  beziehenden  Sammlungen  des 
Museums.  Bd.  2,  Heft  1  (1903)  S.  40.  —  A.  Treichel,  Marianne  von  Zoppot. 
Ebenda  S.  52. 

A.  Voss,  Verzeichnis  von  volkskundlicheu  Sammlangen  und  Museen  in  Deutschland  und 
den  Nachbarländern.  Bd.  2,  Heft  3  (1905)  S.  79.  —  K.  Brunner,  Handspinnerei 
und  volkstümliche  Seilergeräte.  Ebenda  S.  118.  —  F.  Weinitz,  Die  Kunst  auf 
dem  Lande.    Ebenda  S.  125. 

H.  von  Preen,  Eine  Wallfahrtswanderung  im  oberen  Innviertel  mit  Berücksichtigung  der 
Löffelopferung.  Bd.  2,  Heft  4  ,1906  S.  168.  —  H.Förster,  Die  Frauenkopf- 
tracht  der  Vierlande.  Ebenda  S.  187.  —  H.  Müller-Brauel,  Mitteilungen  zur 
Bardowiker  Trachtenkunde.    Ebenda  S.  201. 

Die  späteren  Hefte  erschienen  gleichzeitig  in  der  'Zeitschrift  des  Vereins  für 
Volkskunde'. 


Weinitz:  Das  Landesmuseum  für  Sächsische  Volkskunst  in  Dresden. 


361 


Abb.  1.     Das  Landesmuseum  für  Sächsische  Volkskunst  in  Dresden. 


Das  Landesmuseum  für  Sächsische  Volkskunst 

in  Dresden. 

Von  Franz  Weinitz. 

(Mit  drei  Abbildungen.) 


Auf  der  zweiten  gemeinsamen  Tagung  für  Denkmalspflege  und 
Heimatschutz,  im  September  des  vorigen  Jahres  in  Dresden  abgehalten, 
hat  wohl  mancher  Teilnehmer,  gleich  mir,  die  Gelegenheit  wahrgenommen, 
das  erst  vor  kurzem  eröffnete  Landesmuseum  für  Sächsische  Volkskunst 
zu  besuchen.  Ich  konnte  den  Besuch  in  diesem  Frühjahre  unter  der 
freundlichen  Führung  des  Hofrats  und  Professors  O.  Seyffert,  des  Vor- 
sitzenden des  Vereins  für  Sächsische  Volkskunde  in  Dresden,  wiederholen 
und  will  nun  versuchen,  in  Kürze  eine  Schilderung  des  Hauses  und  seines 
Inhaltes  zu  geben. 

Das  Museum  befindet  sich  im  Jägerhofe  auf  der  Neustadt,  Aster- 
strasse 1,  hinter  dem  leider  recht  unschönen  modernen  Bau  des  Finanz- 
ministeriums, welcher  der  Brühischen  Terrasse  gegenüber  sich  auf  dem 
rechten  Eibufer  erhebt.  Der  alte  Jägerhof  war,  wie  Aulagen  dieser  Art  zu 
sein  pflegen,  ein  Durcheinander  von  Gebäuden  und  Höfen,  von  denen  ein- 
zelne bis  in  die  zweite  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  zurückgingen.  Manches 
wurde  später  niedergerissen,  und  neue  Bauten  (1720  —  1740)  erhoben  sich 
und  veränderten  so  das  ursprüngliche  Bild,  bis  dann  nach  1870  —  das 
Militär,    das    hier    gelegen,    bezog    seine    neuen    Kasernen    —    mit    dem 


362  Weinitz: 

völligen  Abbruch  begonnen  wurde.  Auch  der  künstlerischste  Bauteil,  ein 
Eenaissancebau  aus  dem  Anfang  des  17.  Jahrhunderts,  war  schon  bedroht 
und  sollte  der  Spitzhacke  ausgeliefert  werden,  als  es  dem  Einsprüche 
verständiger  und  kunstbegeisterter  Männer  gelang,  das  Gebäude  zu  retten 
und  für  eine  Sammlung  von  Gegenständen  sächsischer  Volkskunst  zur 
Verfügung  zu  stellen.  Was  Hofrat  Seyffert  viele  Jahre  hindurch,  immer 
im  Hinblick  auf  ein  künftiges  Museum,  mit  Eifer  und  Glück  gesammelt, 
fand  nun  ein  sicheres,  der  Allgemeinheit  zugängliches  Heim.  Einem 
solchen  Eifer  fehlte  dann  auch  nicht  die  Beihilfe  des  Staates,  der  Stadt 
und  vieler  Privatpersonen.  Die  Erkenntnis  wurde  allgemein,  dass  mit 
diesem  Museum  für  das  Studium  der  Kulturgeschichte  des  Königreichs 
Sachsen  die  wichtigste  Stätte  geschaffen  sei. 

Der  Jägerhof  (Abb.  1)  stellt  sich  dank  der  geschickten  und  ver- 
ständigen Erneuerung  als  ein  schmucker  Bau  dar,  der  von  Nord  nach  Süd 
gerichtet  ist  und  drei  Treppentürme  auf  der  Ostseite  hat.  Ein  zierlicher 
Renaissancegiebel  als  südlicher  Abschluss  erfreut  durch  seine  anmutige 
Form  das  Auge.  Die  Zahl  1617,  oben  am  Giebel,  zeigt  an,  in  welches 
Jahr  die  Vollendung  dieses  Gebäudes  zu  setzen  ist.  Das  Erdgeschoss, 
wo  in  alter  Zeit  die  Meute  der  englischen  Doggen  untergebracht  war, 
wird  gebildet  aus  zwei  langen,  gewölbten,  durch  Pfeiler  voneinander  ge- 
schiedenen Schiffen,  und  man  bewahrt  gern  das  Bild  in  der  Erinnerung, 
das  sich  einem  bietet,  wenn  man  vom  Vorräume  —  der  Eingang  ist  von 
der  Südseite  her  —  hinunter  schaut  bis  zum  entgegengesetzten  Ende  des 
OstschifFes.  Im  westlichen  Schiffe  sind  durch  Trennungswände  zwischen 
Pfeiler  und  Wand  einige  Räume  geschaffen,  die  zu  Stuben  eingerichtet 
worden  sind.  Im  ersten  Stocke  befindet  sich  nur  ein  einziger  Raum,  der 
frühere  Jagdsaal,  der  die  für  seinen  jetzigen  Zweck  nötigen  Veränderungen 
—  Einbauten  und  Stuben  —  erfahren  hat.  Das  Dachgeschoss,  der  Boden- 
raum, enthält  eine  reichhaltige  Sammlung  von  Bauernmöbeln,  die,  nach 
der  Zeitfolge  geordnet,  für  Studienzwecke  zugänglich  sind. 

Es  ist  ein  frohes,  farbiges  Bild,  das  uns  hier  überall  geboten  wird. 
An  der  langen  Wand  unten  im  Erdgeschoss  finden  wir  Bauernmöbel, 
Brot-  und  Kleiderschränke  aus  verschiedenen  Gegenden,  Krüge,  Teller, 
Holz-  und  Eisengerät  aufgestellt.  Gegenüber  dieser  Wand  aber  sind  drei 
Stuben  aufgebaut:  eine  Stube  aus  der  Dresdener  Gegend  mit  vielem 
bäuerlichen  Zinn  und  einem  festlich  gedeckten  Tische  für  eine  Tauf- 
gesellschaft hergerichtet  (Abb.  2);  eine  Lau  sitz  er  Stube  mit  bemaltem 
und  geschnitztem  Himmelbette  (1833),  mit  Schrank  und  Kachelofen;  eine 
kleinbürgerliche  Wohnstube  mit  Sofa  und  Kaffeetisch,  Glasschrank, 
gelbem  Stückofen,  mit  Ölbildern  und  einem  Kronleuchter,  den  eine  kunst- 
fertige Hand  mit  Perlenstickereien  verziert  hat.  In  den  anderen  Räumen 
hier  unten,  die  nicht  'Stuben'  sind,  finden  wir  ausgezeichnete  Beispiele 
von  Truhen,    Wiegen,    Himmelbetten    und    anderem  Hausrat.     Unter    den 


Das  Landesmuseum  für  Sächsische  Volkskunst  in  Dresden.  363 

Töpfer-  und  Glaswaren  —  darunter  sind  auch  fremde,  die  in  Sachsen 
Heimatrecht  erworben  haben  —  fallen  die  schönen,  grossen  Teller  mit 
dem  sächsischen  Kurwappen  besonders  auf.  Dazu  kommen  zwei  Teller- 
«chränke,  der  eine  aus  Wallroda  bei  Radeberg,  der  andere  aus  der 
Lausitz  (1805).  Auch  der  dörflichen  Friedhofskunst,  die  in  der  jüngsten 
Zeit  mit  Recht  wieder  zu  Ehren  gekommen  ist,  hat  der  Schöpfer  des 
Museums  zwei  Räume  zur  Verfügung  gestellt.  Natürlich  ist  die  Dresdener 
Heidegegend  nicht  vergessen  worden.  Ihre  Dörfer  haben  Zinngefässe  und 
Waldzeichen  hergegeben,  und  auf  das  fröhliche  Jagen  im  Moritzburger 
Forste  weisen  die  Jagdlappen  hin.  Am  Ende  der  Halle,  also  nach 
Norden  hinaus,  hat  sich  der  Vorstand  des  Vereins  ein  gemütliches 
Sitzungszimmer  eingerichtet,  und  somit  darf  man  sicher  sein,  dass  der 
gute  Geist  des  Hauses  auch  auf  seine  fernere  Tätigkeit  bestimmend  ein- 
wirken wird. 

Im  Obergeschosse,  das  wir  über  die  Wendeltreppe  des  letzten 
Treppenturmes  erreichen,  sehen  wir  Arbeiten  aus  der  jüngsten  Zeit  aus- 
gestellt, die  unter  dem  Einflüsse  und  der  Einwirkung  des  sächsischen 
Heimatschutzes  entstanden  sind.  Das  Alte  in  zweckentsprechender  Weise 
wieder  aufleben  zu  lassen,  ist  das  Bestreben  und  Bemühen  des  Vereins. 
Der  Erfolg  ist  ihm,  wie  man  hier  sehen  kann  (Bergmannsleuchter,  Spiel- 
zeug und  anderes  mehr),  nicht  versagt  geblieben.  Was  auf  Volks- 
belustigungen (Kasperltheater),  Sitten  und  Gebräuche  Bezug  hat,  kommt 
hier  oben  gleichfalls  gut  zur  Schau,  und  dankbar  ist  es  zu  begrüssen, 
dass  die  Privilegierte  Scheibenschützengesellschaft  in  Dresden  zwei  grosse 
Scheiben  (1794  und  1816),  das  Modell  des  Vogels  auf  der  Dresdener 
Vogelwiese,  Originalstücke  desselben,  Rüstung  und  Winde  aber  die 
Privilegierte  Bogenschützengilde  in  Dresden  gespendet  haben.  Die 
Dresdener  Vogelwiese,  das  Oktoberfest  in  München  und  der  'Dom'  in 
Hamburg,  diese  drei  Volksfeste  im  wahren  Sinne  des  Wortes  sind  es,  die 
—  wenn  auch  etwas  verkümmert  gegen  die  früheren'  Zeiten  —  den 
Massenfrohsinn  der  unteren  deutschen  Volksschichten  bis  in  unsere  Tage 
hinein  gerettet  haben. 

Das  Erzgebirge  ist  erst  in  jüngster  Zeit  das  Reiseziel  auch  ferner 
wohnender  Naturfreunde  geworden.  Es  hat  eine  alte,  bisher  wenig  be- 
achtete Kultur,  Die  Weihnachtspyramiden  und  -berge,  auch  Krippen  ge- 
nannt, die  'Bergwerke'  und  so  manches  andere,  das  mit  der  dortigen 
Hausindustrie  (Klöppelarbeiten),  mit  dem  Bergbau  zusammenhängt,  wird 
uns  hier  im  Museum  in  auserlesenen  Stücken  vorgeführt.  Und  nun  die 
Volkstrachten:  die  Altenburger,  die  evangelischen  und  katholischen 
Wenden,  die  Bewohner  des  Meissnischen  Hochlandes,  die  Vogtländer,  die 
aus  der  Dresdener  Heide,  all  das  Schmucke  und  Schöne  und  Gediegene 
ihrer  Tracht,  hier  ist  es  zusammengebracht,  hier  bietet  es  dem  Besucher 
eine,     vielleicht    unerwartete,    Augenweide.      Wer    im    Königreiche    viel 


364 


Weinitz: 


K 


Das  Landesmuseum  für  Sächsisclie  Volkskunst  in  Dresden. 


365 


366  Weinitz:  Das  Landesmuseum  für  Sächsische  Volkskunst  in  Dresden. 

herumgekommen,  wird  manches  bekannte  und  ihm  liebe  Stück  hier 
wiederfinden.  Reihenschankzeichen  grüssen  ihn  von  den  Wänden,  und 
den  grossen  Königsvogel,  den  der  glückliche  Schütze  an  der  Giebelseite 
seines  Hauses  annagelt  —  ich  entsinne  mich  solcher  Siegeszeichen  aus 
dem  Tale  unter  dem  Oybin  —  kann  er  hier  aus  nächster  Nähe  bestaunen. 
Das  alles  führt  uns  so  recht  zu  Gemüte,  dass  jetzt  noch  wie  einst  ein 
fröhlicher  Sinn  im  Volke  lebt  und  sauren  Wochen  frohe  Feste  folgen. 

Hier  oben  warten  aber  auch  noch  vier  Stuben  darauf,  dass  wir  ihnen 
Beachtung  schenken.  Das  ist  die  Vogtländische  Hutzen(Spinn)- 
stube,  die  ihrer  fünf  Besucherinnen  harrt.  Ein  Raum,  ausstaffiert  mit 
Himmelbett,  Kleiderschrank,  Ofen  und  der  nach  ihrem  Äusseren  so  ge- 
nannten 'Schürzenuhr'.  In  der  Lausitzer  Weberstube  herrscht  die 
Armut,  blau  ist  sie  getüncht,  am  Ofen  das  Wandtellerbrett.  Der  alte 
Webstuhl  dient  zum  Stoffweben.  Sehr  reizvoll  ist  und  die  Wohlhaben- 
heit ihres  Besitzers  spiegelt  wider  die  Grossschönauer  Daraast- 
weberstube  (Abb.  3).  Da  drinnen  sieht's  wohnlich  aus,  und  freundlich 
scheint  die  liebe  Sonne  hinein.  Ein  grosser  Damastwebstuhl,  der  bis 
1830  im  Gebrauch  war  und  jüngst  geschickt  wiederhergestellt  wurde,  ein 
prächtiger  alter  Ofen  mit  blauer  Bemalung,  die  Ofenbank  mit  der  soge- 
nannten Hölle,  der  Tisch  in  der  Ecke  mit  Krügen,  die  Bilder  an  den 
Wänden,  die  kunstvoll  bemalte  Wiege  —  alles  dieses  legt  Zeugnis  ab 
dafür,  dass  es  dem  fleissigen  und  geschickten  Damastweber  dort  im  Süd- 
ostzipfel des  Königreichs  ganz  gut  ging.  Die  sächsische  Wendei,  in  der 
Oberlausitz,  tritt  uns  entgegen  in  der  Wendischen  Woche nstube, 
deren  Bett  mit  weissen  Linnen  dicht  verhängt  ist.  An  seiner  Stirnseite, 
gleichsam  als  Schutz,  steht  der  grosse  Kleiderschrank.  Der  Wandanstrich 
ist  gelb  mit  blauer  Borte. 

Was  der  Museumsbestand  sonst  noch  an  kleinerem  Gerät,  an  Zinn- 
krügen und  -tellern,  Handmühlen,  Beleuchtungsgegenständen,  Holz- 
schnitzereien, Schränken  und'  Truhen  besitzt,  ist,  soweit  es  nicht  im 
Bodenräume  sich  befindet,  hier  im  Obergeschosse  an  der  Fensterseite  und 
in  dem  grossen  Ausstellungsschranke  aufgestellt.  Abbildungen  alter 
Bauernhäuser  aus  dem  Königreiche  und  seinen  Grenzgebieten  —  durch 
Modelle  solcher  Häuser  zeichnet  sich  ja  gerade  unsere  Berliner  Königliche 
Sammlung  für  deutsche  Volkskunde  aus!  —  sind  auch  hier,  wie  nicht 
anders  zu  erwarten,  in  guter  Auswahl  aufgehängt. 

Das  Landesmuseum  für  Sächsische  Volkskunst  hat  vor  manchen  ähn- 
lichen Museen  vor  allem  das  voraus,  dass  es  in  einem  Gebäude  unter- 
gebracht ist,  wie  es  sich  ein  besseres  wohl  kaum  wünschen  konnte. 
Welche  Freude  und  welche  Genugtuung  muss  es  nicht  seinem  Schöpfer, 
Hofrat  Seyffert,  bereitet  haben,  die  Gegenstände  in  diese  weiten,  lichten 
Räume  einzuordnen,  den  Forderungen  der  Wissenschaft  und  des  Ge- 
schmackes entsprechend!     Und    sollte    er    nicht   jetzt    schon,    wenn    auch 


Pessler:    Aufgaben  der  deutschen  Sach-Geographie.  3G7 

kaum  ein  Jahr  verflossen,  seitdem  er  seine  Sammlung  der  Allgemeinheit 
zugänglich  gemacht  hat,  an  sich  des  Dichterwortes  Wahrheit  erfahren 
haben:  „Segen  ist  der  Mühe  Preis"? 

Berlin. 


Aufgaben  der  deutschen  Sach-Geographie, 

Von  Wilhelm  Pessler. 


Die  deutsche  Sach-Geographie  umfasst  räumlich  das  gesamte 
deutsche  Sprachgebiet,  inhaltlich  die  gegenständliche  Volkskunde,  metho- 
disch die  geographische  Verbreitung  der  volkskundlichen  Sachen.  Sie  ist 
also  einerseits  ein  Teil  der  Sach-Forschung,  welche  ausser  ihr  die  Sach- 
Beschreibung  und  die  Sach-Geschichte  enthält,  andrerseits  ein  Teil  der 
Ethno-Geographie,  welche  die  vier  Hauptteile  Körper,  Geist,  Sprache  und 
Sache  des  Menschen  in  ihrer  geographischen  Verbreitung  erforscht. 

In  die  Sach-Geographie  gehört  das  jetzige  und  ehemalige  Besitztum 
des  Volkes.  Eine  zeitliche  Grenze  lässt  sich  hier  eigentlich  nicht  ziehen; 
aus  praktischen  Gründen  werden  hingegen  die  vorgeschichtlichen  Funde 
von  einer  eigenen  Wissenschaft,  der  Prähistorie,  behandelt  und  in  eigenen 
Museen  oder  Museumsabteilungen  gesammelt.  Auch  eine  räumliche 
Beschränkung  ist  schwierig,  aus  Gründen  der  Zweckmässigkeit  aber  an- 
zuraten. Wenn  auch  die  Ausgangspunkte  mancher  Sachwellen  ausserhalb 
des  Deutschtums  liegen  und  andrerseits  der  deutsche  Einfluss  weit  darüber 
hinausgestrahlt  hat,  so  ist  das  deutsche  Sprachgebiet  doch  als  Pahnien  für 
unsere  Forschung  festzuhalten.  Für  einen  Teil  Deutschlands  hat  Wolfram 
(als  Vertreter  der  Gesellschaft  für  lothringische  Geschichte  und  Altertums- 
kunde, Korrespondenzblatt  des  Gesamtvereins  der  deutschen  Geschichts- 
und Altertumsvereine  1904)  methodisch  wichtige  Winke  gegeben.  Er 
fordert  hier  systematische  Zusammenstellung  der  Forschungsergebnisse  aus 
den  Teilen  Deutschlands,  die  nicht  unmittelbar  dem  römischen  Herrschafts- 
bereich angehörten.  Sein  Ziel  ist  die  Erkenntnis,  „wie  sich  bei  Berührung 
zweier  Völker  die  beiderseitigen  Kulturen  durchdrungen  und  beeinflusst 
haben."  Als  Mittel  empfiehlt  er  die  Zusammenfassung  aller  Funde  aus 
dem  freien  Germanien,  die  als  'materielle  Erinnerung  an  den  römischen 
Einfluss'  gelten  können.  Im  Anschluss  an  diesen  Vortrag  betonte  Höfer 
die  Notwendigkeit,  die  nur  römisch  scheinenden  Einflüsse,  wie  z.  B.  kel- 
tische Urnen  und  Fibeln,  von  den  echtrömischen  scharf  zu  trennen  und 
als  letztere  besonders  die  Münzen,  Bronze-,  Silber-  und  Goldgeräte,  Glas- 
becher,  Statuetten  und  die  echtrömischen  Tongefässe   ins  Auge  zu  fassen; 


368  Pessler: 

auch  der  römische  Einfluss  auf  die  Gebräuche  sei  nicht  zu  vergessen,  z.  B. 
die  Sitte,  dem  Toten  eine  Münze  beizulegen,  die  schon  im  2.  Jahrhundert 
im  Mansfeldischen  bestanden  habe,  wo  ein  Brandgrab  in  Oberwiederstädt 
dies  ausweise.  Später,  und  zwar  schon  im  5.  Jahrhundert,  habe  der  vom 
Rhein  ausgehende  Einfluss  schon  fränkischen  Charakter  angenommen. 
Wie  auch  hier  der  ethnologische  Gesichtspunkt  überall  der  ausschlag- 
gebende ist,  so  wird  er  auch  in  der  übrigen  deutschen  Sach-Geographie, 
soweit  sie  spätere  Jahrhunderte  und  die  Jetztzeit  behandelt,  wichtiger  sein 
als  der  rein  verkehrs-geographische.  Mit  Recht  nennt  Otto  Lau  ff  er 
(Museumskunde  2,  12)  die  volkskundlichen  Realien  „die  äusserlich  sicht- 
baren Beweise  für  eine  grosse  Reihe  von  Kulturwellen,  die  sich  in  früherer 
Zeit  über  die  betreffende  Landschaft  ergossen  haben";  wenn  er  sie  für  um 
so  wertvoller  hält,  je  typischer  sie  sind,  so  ist  dem  in  vollem  Masse  bei- 
zustimmen. Diejenigen  Sachen,  welche  ausser  der  Yerkehrsbeziehung 
auch  ein  Zeichen  von  fortgesetzter  Lebens-  und  sogar  Blutsgemeinschaft 
sind,  werden  Zeugnisse  nicht  nur  von  Sachwellen,  sondern  auch  von 
Volkstumswellen, 

Bei  der  Verbreitung  verhalten  sich  in  der  Sach-Geographie  der 
Gegenstand  und  seine  Form  zueinander  ähnlich  wie  bei  der  Sprach-Geo- 
graphie  das  Wort  und  seine  Lautgestaltung:  bei  beiden  haben  wir  ent- 
weder den  Gegensatz  von  Gebieten,  wo  der  Gegenstand  oder  das  Wort 
vorhanden  ist,  und  solchen,  wo  er  sich  überhaupt  nicht  findet  (z.  B.  die 
friesischen  Bettpfannen  und  das  Wort  Schreiner),  oder  den  Gegensatz  von 
Landschaften,  wo  die  Sache  und  das  Wort  so  geformt  ist,  und  Landschaften, 
wo  beide  anders  geformt  sind  (z.  B.  das  Fenster  in  seinen  vier  verschiedenen 
Formen  und  Fipe  =  Pfeife). 

Die  Landkarten  sind  in  der  zusammenfassenden  Sach-Geographie 
möglichst  in  gleichem  Massstabe  zu  zeichnen,  damit  der  Vergleich  er- 
leichtert wird;  es  ist  zweckdienlich,  wenn  sie  ausser  dem  Flussnetz  recht 
viele  bekannte  Ortschaften  als  Merkpunkte  enthalten. 

An  Reichhaltigkeit  der  sachlichen  Kultur  wird  es  Deutschland 
voraussichtlich  mit  jedem  anderen  Volke  aufnehmen  können,  wie  ja  das 
deutsche  Volk  auch  in  körperlicher,  geistiger  und  sprachlicher  Hinsicht  zu 
den  mannigfaltigsten  der  Welt  gehört.  Die  Forschung  ist  um  so  leichter, 
je  kleiner  das  Gebiet  eines  Volkes  ist;  sie  ist  aber  um  so  wichtiger,  von 
je  grösserer  Bedeutung  das  betreffende  Volk    für    die  Weltgeschichte    ist. 

Die  ungeheure  Menge  von  einzelnen  Sachen,  welche  in  der  Volks- 
kunde zu  behandeln  sind,  teilen  wir  der  Übersicht  halber  in  verschiedene 
Gruppen: 

1.   Die  Nahrung. 

Verschiedenartig,  wie  die  Landschaft,  das  Klima  und  die  Bevölkerung 
Deutschlands,  sind  auch  seine  Esswaren.    Gleich  das  notwendigste  Nahrungs- 


Aufgaben  der  deutschen  Sach-Geographie.  369 

mittel,  das  Brot,  ist  sach-geographisch  von  grosser  Bedeutung,  sowohl  was 
seinen  Stoff,  wie  seine  Form  anbelangt.  Vom  Material  des  Brotes  scheint 
der  Dinkel  ethnologisch  das  wichtigste  zu  sein;  hat  man  doch  sogar  die 
Grenzen  des  Gebiets,  wo  er  das  Hauptbrotkorn  ist,  mit  den  alten  Alemannen- 
grenzen in  Beziehung  bringen  wollen.  Allerdings  findet  er  sich  beim 
Brotbacken  auch  weit  darüber  hinaus  als  Beimischung  zu  anderem  Ge- 
treide. Die  Formen  des  Brotes  sind  sowohl  beim  täglichen  Hausbrot  wie 
beim  Feinbrot  und  beim  Festgebäck  verschieden.  Von  Formen  des  Haus- 
brotes seien  hier  die  süddeutschen  kreisrunden  Laibe  und  länglichen 
Kipfe  angeführt,  das  'Kastenbrot'  Norddeutschlands,  das  Prem-  oder 
Präbenbrot  in  Osnabrück  (aus  Weizenmehl  mit  Milch  angemengt)  in  der 
Form  eines  liegenden  Zylinders  mit  zwei  Wülsten,  der  spitz-elliptische 
Bauernstuten  (aus  Roggen)  im  Osnabrückschen  und  das  gleichgeformte 
Weizenkorinthenbrot  aus  derselben  Gegend,  die  Kastenform  des  Pumper- 
nickels. Die  Verbreitung  der  Salzstangen  scheint  neueren  Datums  zu 
sein.  Ganz  auszuscheiden  von  der  Forschung  sind  die  wohlschmeckenden 
Salzstangen,  die  in  Lüneburg  und  Rosslau  neuerdings  gebacken  werden. 
Der  Vorgang  des  Völkermuseums  in  Bremen,  die  typischen  Formen  des 
täglichen  Gebrauchbrotes  vereinigt  in  einem  grossen  Schauschranke  aus- 
zustellen, verdient  gewiss  Nachahmung.  Ein  volkstümlich  wichtiges  Fein- 
brot sind  die  Zwiebäcke,  welche  in  sehr  mannigfacher  Form  vorkommen. 
Ich  führe  hier  nur  die  länglichen,  schmalen,  beiderseitig  ebenen  Zwiebäcke 
an,  die  man  in  Fürstenau  (bei  Quakenbrück)  und  Umgegend  findet.  Nächst 
den  Zwiebäcken  wichtig  sind  die  Kringel  (z.  B.  die  Harburger  Krengel) 
und  Brezeln.  Bekannt  ist  der  Bremer  'Klaben'  und  der  Hildesheimer 
Pumpernickel,  der  etwas  ganz  anderes  ist  als  der  westfälische.  Unter  dem 
Festgebäck  hat  der  Krapfen  bereits  von  berufener  Seite  Beachtung  ge- 
funden. Untersuchungen  über  die  Stollen  und  andere  aus  besonderem 
Anlass  gebackene  Kuchen  und  die  süddeutschen  Fastenbrezen  haben  sich 
anzuschliesseu. 

Die  Kartoffel  erscheint  in  mannigfacher  Form  auf  dem  Tische,  z.B. 
als  Kartotfelpufifer,  der  in  Nordwestdeutschland  anders  gestaltet  ist  als  in 
Oberfranken;  hierher  gehört  auch  der  Pickert  aus  der  Umgegend  von 
Melle,  ein  Kartoffelreibekuchen,  der  dem  Puffer  ähnlich  ist,  jedoch  ohne 
Fett  gebacken  wird. 

Die  Suppen  sind  ebenfalls  sehr  verschieden.  Eine  Frage,  die  hier 
z.  B.  zu  lösen  wäre,  ist  die  Feststellung  der  Endgrenze  der  süssen  Suppen 
Norddeutschlands. 

Die  Klösse  haben  offenbar  schon  seit  langer  Zeit  im  Volksleben  eine 
grosse  Rolle  gespielt.  So  erwähnt  Gustav  Freytag  ihr  Vorkommen  in 
Thüringen  und  schreibt  ilmen  beinahe  die  Bedeutung  eines  Volkstums- 
merkmals  zu,  wenn  er  sagt  („Die  Ahnen"  L  Ingo,  Kap.  5:  In  den  Wald- 
lauben) „....,  dann  zogen  die  Vandalen  ihre  Mienen  kraus  und  summten 

Zeitschr.  d.  Veruius  f.  Volkskunde.    19U.    Heft  4.  24 


370 


Pessler: 


ein  höhnendes  Wort,  das  sie  erfunden  hatten,  weil  die  Tliüringe  bei  ihren 
Mahlzeiten  runde  Ballen  aus  Teig  von  Weizenmehl  vor  vielem  andern 
hochachteten."  Die  'Thüringer  Klösse'  sind  ja  heute  noch  bekannt  genug, 
doch  bestehen  sie  jetzt  in  der  Hauptsache,  ebenso  wie  die  Oberländer 
Klösse  Oberfrankens,  aus  Kartoffeln  mit  einem  Kern  von  gerösteten  Brot- 
würfelu.  Die  in  Bayern  vorkommenden  Leberknödel  und  Weckklösse 
werden  sich  vielleicht  durch  geographische  Abgrenzung  als  ethnologisch 
wichtig  erweisen.  Die  Bremer  Klösse  (im  alten  Herzogtum  Bremen)  oder 
Kehdinger  Klösse  (Land  Kehdingen,  eine  Eibmarsch  im  Lande  Bremen) 
bedürfen,  gleich  allen  andern  Klössen,  einer  fetten  Sauce,  um  geniessbar 
zu  sein. 

Von  Mehlspeisen,  soweit  sie  nicht  zu  den  Klössen  gehören,  sind 
die  in  Alemannien  so  häufigen  'Spätzle'  zu  beachten.  —  Vielleicht  erweist 
sich  auch  Hirsebrei  und  Buchweizenpfannkuchen  als  wichtig.  —  Die 
süsse  Brotauflage  ist  bekanntlich  am  Niederrhein  das  Apfelkraut,  sonst 
vielfach  das  Zwetschgenmus;  vom  Sünteltale  erzählte  man  mir,  dass  mau 
dort  'Stipsel'  zum  Brot  geniesse:  ein  aus  Zuckerrüben  gekochter  Saft,  in 
den  das  trockene  Brot  hineingetunkt  'hiueingestippt'  wird;  die  Ostgrenze 
dieses  Stipselgebiets  zwischen  Deister  und  Süntel  soll  bei  der  Stadt  Münder 
liegen.  Wieweit  die  rote  Grütze  eine  Speise  der  Skandinavier  und  Nieder- 
deutschen ist,  wäre  noch  festzustellen. 

Butter  und  Käse  sind  nach  Zusammensetzung  und  Form  sehr  ver- 
schieden. Der  norddeutschen  gesalzenen  Butter  steht  die  süddeutsche  un- 
gesalzene gegenüber.  Die  grosse  Mannigfaltigkeit  in  Art  und  Form  der 
Käse  ist  zu  bekannt,  als  dass  sie  hier  besonderer  Erwähnung  bedürfte. 
Von  Käsegerichten  nenne  ich  hier  den  norddeutschen  Kochkäse  und  die 
Allgäuer  'Käsespatzen'. 

Die  grosse  Mannigfaltigkeit  in  der  Wurstbereitung  in  deutschen 
Gauen  ist  bekannt,  aber  unsres  Wissens  leider  noch  nicht  Gegenstand 
einer  Monographie  geworden,  obwohl  die  Ergebnisse  wahrscheinlich  von 
grösster  Bedeutung  sein  würden.  Hier  seien  nur  zwei  Beispiele  angeführt, 
die  ich  freundlicher  Mitteilung  verdanke.  Erstens  zeigt  die  Zusammen- 
setzung der  Blutwurst  eine  Verschiedenheit  zwischen  einem  nördlichen 
und  einem  südlichen  Gebiet;  im  nördlichen  Bezirk  wird  sie  mit  Mehl  ver- 
setzt, im  südlichen  nicht;  die  Grenze  soll  ungefähr  von  Northeim  in  Han- 
nover bis  zur  Saalemündung  laufen.  Zweitens  handelt  es  sich  um  den 
Unterschied  zwischen  Grützwurst  und  Weisswurst;  bei  der  ersteren  wird 
das  minderwertige  Fleisch  mit  Gerstengrütze  gemischt,  bei  der  letzteren 
mit  Weissbrot.  Die  Scheidelinie,  welche  diese  beiden  Gebiete  trennt, 
soll  mit  der  oben  genannten  Linie  Northeim — Saalemündung  übereinstimmen. 

Auch  die  Zusammensetzung  des  Mahls  ist  nicht  überall  dieselbe; 
z.  B.  soll  in  Österreich  der  Salat  nicht  zum  Saftbraten,  sondern  nur  zum 
trocknen  Braten  genossen  werden. 


Aufgaben  der  deutschon  Sach-Geographie.  37 j 

Unter  den  volkstümlichen  Getränken  ist  der  Deutsche  seit  alters 
besonders  dem  Bier  zugetan.  Aus  der  grossen  Anzahl  der  verschiedenen 
Biere  (z.  B.  Berliner  Weisse,  Leipziger  Gose,  Braunschweiger  Mumme, 
Hannoverscher  Broyhan,  die  verschiedenen  bayrischen  Biere  usw.)  kommen 
für  die  volkskundliche  Sach-Geographie  nur  diejenigen  in  Betracht,  welche 
altes  Erbgut  bestimmter  Volksgemeinschaften  sind.  Es  ist  nicht  unmöf- 
lieh,  dass  auch  die  alten  Grenzen  zwischen  hellem  und  dunklem  Bier  von 
mehr  als  verkehrsgeographischer  Bedeutung  sind. 

Für  die  volkstümlichen  Esswareu  und  Getränke  gibt  es  unseres 
Wissens  überhaupt  noch  keine  Landkarten;  denn  von  dergleichen 
Karten,  wie  sie  die  'Weinkarte  von  Europa'  darstellt,  w^elche  die  ver- 
schiedenen weinproduzierenden  Länder  und  Ortschaften  angibt,  z.  B. 
Bomst  in  der  Provinz  Posen,  welches  den  jetzigen  nördlichsten  Weinbau- 
ort der  Erde  darstellt,  müssen  wir  natürlich  absehen.  Die  nächste  Auf- 
gabe der  volkskundlicheu  Nahrungsmittelforschung  ist,  das  bisher  Er- 
arbeitete aus  der  Literatur  zusammenzufassen  und  in  Karten  darzustellen, 
welche  allerdings  grosse  Lücken  aufweisen  werden.  Sodann  muss  im 
grossen  Massstabe,  sei  es  durch  Aussendung  von  Yolkskundeforschern,  sei 
es  durch  Fragebogen,  die  Yerbreitung  des  Brotes,  z.  B.  die  Grenzen  des 
Schwarzbrotes  und  der  Wurst,  sowohl  nach  Zusammensetzung  wie  nach 
Form,  festgelegt  werden.  Mit  dem  Beginn  der  Arbeit  darf  hier  nicht 
lange  gezögert  werden,  weil  auch  auf  dem  Gebiet  der  Esswaren  die  volks- 
tümlichen Überlieferungen  einer  starken  Verdrängung  und  Vermischung 
ausgesetzt  sind. 

2.  Die  Kleidung. 

Anstatt  die  Behauptung  aufzustellen,  dass  die  Hausformen  und  Volks- 
trachten durchaus  nicht  ethnisch  bedingt  seien,  hätte  man  sich  einesteils 
aus  den  bisher  erschienenen  Haustypenkarten  von  den  Beziehungen  zum 
Stammestum  überzeugen  und  andernteils  selbst  eine  Trachtenkarte  ent- 
werfen sollen,  durch  welche  die  zweite  Hälfte  jener  Behauptung  bewiesen 
wird.  Selbstverständlich  sind  die  Faktoren  bei  Kleidung  und  Haus 
zu  mannigfaltig,  als  dass  man  sie  rein  geographisch  auf  Boden  und  Klima, 
oder  rein  ethnologisch  auf  das  Volkstum,  oder  rein  kulturgeschichtlich 
auf  bestimmte  Vorbilder  höherstehender  Volksschichten  zurückführen 
könnte.  Erschwert  wird  die  Forschung  dadurch,  dass  in  vielen  Bezirken 
ältere  Zeugnisse  fehlen,  so  dass  die  Frage  nach  dem  Ursprung  der  Tracht 
sich  nicht  überall  endgültig  lösen  lässt.  Soviel  steht  fest,  dass  ein  starker 
Einfluss  der  Modeströmungen  stattgefunden  hat.  Ein  weiterer  Missstand 
ist  das  von  Jahr  zu  Jahr  schneller  vor  sich  gehende  Verschwinden  der 
Trachten,  wodurch  der  Trachtenforscher  sich  genötigt  sieht,  auf  die 
nicht  immer  zuverlässige  Auskunft  alter  Ortsbewohner  zurückzugreifen. 
Endlich  genügen  die  Trachteusammlungen  vieler  Museen,    so    erfreulich 

24* 


3  7  "2  Pessler: 

sie  an  sich  sind,  doch  in  vielen  Punkten  nicht  den  Anforderungen  einer 
wissenschaftlichen  Trachtenkunde,  indem  bei  manchen  Trachten  nur  die 
Landschaft  und  nicht  das  Dorf,  bei  anderen  nicht  die  genaue  Jahreszahl, 
bei  weiteren  nicht  der  Anlass  des  Tragens  und  der  Stand  des  Trägers 
angegeben  ist;  es  ist  sogar  vorgekommen,  dass  bei  einer  Keihe  von 
Mützen,  welche  mit  den  zugehörigen  Notizen  von  einem  Freunde  der 
heimischen  Volkskunde  geschenkt  waren,  nach  einiger  Zeit  zum  Entsetzen 
des  Geschenkgebers  die  Zettel  mit  den  Notizen  von  den  Mützen  entfernt 
waren,  wodurch  dieselben  an  volkskundlichem  Wert  ungeheuer  eingebüsst 
haben.  Dass  bei  der  musealen  Aufstellung  von  Trachten  keine  Trachten- 
teile aus  verschiedenen  Kirchspielen  zu  einer  Trachtenfigur  vereinigt 
werden  dürfen,  bevor  endgültig  feststeht,  dass  diese  Kirchspiele  zu  ein 
und  derselben  Trachtengruppe  gehören,  ist  selbstverständlich. 

Bei  der  Behandlung  ist  am  besten  Tracht  und  Schmuck  zu  trennen. 
Bei  der  Tracht  empfiehlt  es  sich,  ganze  Tracht  und  Trachtenteile  für  sich 
zu  behandeln.  Für  die  wissenschaftliche  Forschung  scheint  es  mir  wesent- 
lich, den  grossen  Unterschied  zwischen  Trachten-Art  und  Trachten- 
Gruppe,  der  unseres  Wissens  bisher  noch  nicht  genügend  hervorgehoben 
ist,  zu  betonen.  Beide  Begriffe,  Trachten-Art  sowohl  wie  Trachten- Gruppe, 
gehen  auf  Verschiedenheit  in  der  Tracht,  jedoch  äussern  sich  diese  Ver- 
schiedenheiten auf  grundsätzlich  voneinander  abweichenden  Gebieten: 
die  Trachten-Art  bezieht  sich  auf  die  Mannigfaltigkeit  der  Tracht,  je  nach 
Konfession,  zeitlichem  Anlass,  Stand,  Geschlecht  und  Alter;  die  Trachten- 
Gruppe  umfasst  die  rein  örtlichen  Unterschiede. 

Als  Trachten- Arten  können  wir  also  ansehen:  nach  dem  Geschlecht 
Männer-  und  Frauentrachten,  nach  dem  Stande  Bauern-  und  Fischer- 
trachten, die  z.  B.  in  Blankeoese  nebeneinander  vorkommen  sollen,  nach 
dem  Alter  Kinder-,  Jugend-,  Erwachsenen-  und  Greisentracht,  nach  dem 
zeitlichen  Anlass  Tracht  für  die  Taufe  (Täufling  und  Paten),  die  Kon- 
firmation, die  Hochzeit  (Brautleute,  Brautführer  und  Brautjungfern),  den 
Todesfall  (Totenhemd,  Trauertrachten  in  verschiedenen  Abstufungen),  den 
Alltag  und  den  Feiertag  (Arbeitsanzug,  gewöhnliche  Werktagstracht, 
Sonntagskirchentracht,  Sonntagsausgehtracht,  Frühmessentracht,  Abend- 
mahls- oder  Kommunionstracht),  nach  der  Konfession  evangelische  und 
katholische  Trachten. 

Innerhalb  jeder  Trachten-Art  ist  sowohl  der  Bestand  wie  die  örtliche 
Gruppierung  festzustellen.  Der  Bestand  der  Volkstrachten  muss  zunächst 
überall  aufgenommen  werden,  d.  h.  es  muss  festgestellt  werden,  wo  über- 
haupt jetzt  noch  oder  nachweislich  vor  kurzer  Zeit  volkstümliche  Kleidung 
getragen  wird  oder  wurde,  und  zwar  ist  die  Anzahl  der  männlichen  und 
weiblichen  Träger  für  früher  und  jetzt  in  jedem  einzelnen  Kirchspiel 
festzustellen.  Nun  gibt  es  Bezirke,  wo  die  Alltagstracht  ganz  ausgestorben 
ist,    die  Kirchentracht    nur  noch  von  den  Frauen    getragen    wird,    wieder 


Aufgaben  der  deutschen  Sach-Geographie.  373 

andere  Gegenden,  wo  nur  noch  zum  Abendmahl  eine  volkstümliche 
Kleidung  angelegt  wird.  Es  ist  also  für  die  verschiedenen  Trachten- 
Arten  die  Anzahl  der  Träger,  d.  h.  der  Bestand,  durchaus  verschieden. 
Infolgedessen  rauss  die  Aufnahme  des  Bestandes  für  die  einzelnen  Trachten- 
Arten  gesondert  erfolgen. 

DieTrachten-Gruppe,  welche  die  lokalen  Unterschiede  umfasst,  findet 
sich  in  jeder  einzelnen  Trachten-Art.  Ob  sich  diese  örtliche  Gh-uppierung  in 
der  einen  Trachten-Art  mit  der  in  der  anderen  Trachten- Art  (z.B.  die  Grenzen 
in  der  Brauttracht  und  die  in  der  Männer-Sonntagstracht)  deckt,  ist  bisher 
noch  nicht  festgestellt.  Die  Volkstrachtenforschung  hat  also  jede  einzelne 
Trachten-Art  in  ihrer  geographischen  Verbreitung  für  sich  ins  Auge  zu  fassen, 
das  ist  eine  Auflösung  der  gesamten  Tracht  in  Einzeltrachten,  ein  Verfahren, 
für  das  die  Sprachforschung  längst  ein  entsprechendes  Vorbild  gegeben  hat. 

Die  kartographische  Darstellung  ist  in  der  Trachtenforschung 
bisher  leider  noch  nicht  viel  angewandt  worden.  Uns  sind  nur  die  beiden 
vortrefflichen  Karten  von  .lustig  über  die  Trachten-Gruppen  bei  Marburg 
und  die  von  Holsten-Bremer  über  den  Bestand  und  den  Umfang  der 
Volkstracht  im  pommerschen  Weizacker  bekannt,  letztere  mit  starker 
ethnologischer  Tendenz.  Für  die  weitere  Forschung  möchte  ich  für  jede 
einzelne  Trachten-Art  ein  besonderes  Kartenblatt  empfehlen,  das  oben  in 
einer  Karte  den  Bestand  (auch  mit  Jahreszahlen  des  Aussterbens  der 
Tracht)  und  in  einer  Karte  darunter  die  geographische  Gruppierung  zeigt. 
So  hat  man  auf  ein  und  derselben  Tafel  oben  ein  Bild  von  der  ehemaligen 
und  jetzigen  Geltung,  unten  von  der  landschaftlichen  Mannigfaltigkeit. 
Vergleichen  wir  weiterhin  nur  die  oberen  Karten  auf  den  verscliiedenen 
Blättern  miteinander,  so  ergibt  sich  unmittelbar,  welcher  zeitliche  Anlass, 
welches  Alter  und  welche  Konfession  noch  am  meisten  von  städtischer 
Kleidung  unbeeinflusst  geblieben  ist.  Vergleicht  man  dagegen  die  unteren 
Karten  auf  allen  Blättern  miteinander,  so  werden  bestimmte  Grenzen 
wiederkehren  und  bei  Heranziehung  von  Volkstums-,  Territorial-,  Kon- 
fessions- und  Verkehrsgrenzen  sich  mit  einigen  von  diesen  als  identisch 
erweisen.  —  Bei  beschränktem  Platze  ist  es  auch  möglich,  Bestand  und 
Gruppierung  auf  einer  Karte  darzustellen,  indem  man  ersteren  durch 
schwarz    schraffierten  Untergrund,    letztere    durch    farbige  Linien    angibt. 

Eigentlich  sollten  auch  die  Trachten-Teile,  wie  es  in  der  Sprach- 
forschung für  die  einzelnen  Laute  schon  geschehen  ist  und  wie  man 
es  in  der  Hausforschung  für  die  einzelnen  Hausteile  plant,  sämtlicli  für 
sich  behandelt  werden.  Da  aber  dieses  wissenschaftliche  Prinzip  wohl 
auf  unüberwindliche  praktische  Hindernisse  stossen  wird,  so  wird  der 
Trachtenforscher,  allerdings  mit  Bedauern,  vorläufig  nur  die  wichtigsten 
Trachtenstücke  als  Einzelobjekte  tür  die  kartographische  Darstellung 
ins  Auge  fassen  können.  So  würde  es  z.  B.  sehr  interessieren,  genauere 
Angaben  über   die  Holzschuhe,    die  Mützenformen    und    die  Trauerfarben 


374  Pessler: 

in  ihrer  Verbreitung  zu  besitzen.  Von  anderen  Einzelheiten  wären  ge- 
legentlich die  Hüftkissen  im  Frauenleibchen,  die  sich  bei  Marburg  finden, 
oder  die  Art  der  Strumpfbänder  in  Hessen,  welche  im  Kreise  Biedenkopf 
mit  einem  Puschel,  in  der  Schwalm  flach  mit  einer  Erbreiterung  am 
Schluss  endigen,  zu  erwähnen.  Es  wäre  nicht  uninteressant,  einmal  für 
einen  kleinen  Bezirk  der  geographischen  Trachtenforschung  ein  ganz  ge- 
naues Schema  zugrunde  zu  legen,  damit  man  sich  wenigstens,  ehe  es  zu 
spät  ist,  an  einem  Punkte  in  deutschen  Gauen,  ein  vollständig  genaues 
Bild  von  Trachten-Verbreitung  machen  kann.  Ich  denke  mir  dieses 
folgenderraassen:  Der  Forschung  liegt  ein  grosses  Blatt  zugrunde,  dessen 
Spalten  ausgefüllt  werden  müssen.  Die  1.  Spalte  enthält  sämtliche  Kirch- 
spiele der  Gegend  und  hat  die  Überschrift:  Ortschaft;  alle  übrigen  Spalten 
haben  die  Überschrift:  Trachtenteile,  und  zwar  z.  B.  die  ersten  acht  die 
Gesamtüberschrift:  Rock,  die  folgenden  zehn  die  Gesamtüberschrift:  Taille. 
Als  Einzelmerkmale  des  Rockes  wären  dann  folgende  in  den  einzelnen 
Spalten  zu  behandeln:  1.  Stoff.  2.  Farbe.  3.  Länge  (ob  laug,  halblang, 
kurz  oder  sehr  kurz).  4.  Form  vorn  (ob  glatt  oder  etwas  angehalten). 
5.  Form  hinten  (einmal  oder  mehrmals  gekraust  oder  mit  dichten  Falten, 
plissiert).  6.  Verschluss.  7.  Aussenstoss  (aus  welchem  Stoff,  von  welcher 
Farbe,  welcher  Breite  und  welchem  Muster).  8.  Ob  allein  oder  mit 
Taille  verbunden.  Bei  der  Taille  könnte  man  folgende  Kennzeichen  ins 
Auge  fassen:  1.  Stoff  (wenn  von  der  gleichen  Art  wie  der  Rock,  so  ist 
das  besonders  anzugeben).  2.  Farbe.  3.  Länge.  4.  Form  vorn  (glatt,  in 
Falten  gezogen,  ausgeschnitten,  tief  ausgeschnitten,  Miederform,  zu 
schnüren,  mit  langem  Schnipp,  mit  Schnipp  vorn  und  hinten).  5.  Form 
hinten.  6.  Verschluss.  7.  Besatz  (Verstoss).  8.  Ob  mit  dem  Rock  in 
eins  gearbeitet.  9.  Ob  Brustlatz  dazu  getragen.  10.  Andere  Besonder- 
lieiten.  Es  ist  gewiss  nicht  unnütz,  diese  Einzelheiten  in  einer  besonders 
interessanten  Trachteugegend  zu  erforschen,  z.  B.  in  der  schaumburgischen, 
welche  trotz  ihres  geringen  Umfanges  drei  verschiedene  Trachtengruppen 
aufweist.  Innerhalb  der  östlichen  (östlich  von  Sachsenhagen  bis  zur 
hannoverschen  Grenze)  gibt  es  noch  Unterschiede  hinsichtlich  des  Aussen- 
stosses  am  Rock,  welcher  wiederum  im  östlichen  Teile  dieser  Ostgruppe 
schlicht  violett,  im  westlichen  Teile  dagegen  mit  Samt  gemustert  ist. 

Der  Schmuck  des  Landvolkes  hat  nicht  den  gleichen  geographischen 
Wert  wie  die  übrige  Volkstracht,  weil  er  hinsichtlich  seiner  Entstehung- 
lange  nicht  so  lokal  gebunden  ist.  Während  bei  den  Kleidungsstücken 
der  Verfertiger  wenigstens  im  Kirchspiel,  oft  auch  in  der  einzelnen  Ort- 
schaft selbst  ansässig  ist  und  Stoff  und  Muster  nur  zum  Teil  von  auswärts 
l)ezogen  werden,  so  entsteht  selbstverständlich  der  Schmuck,  soweit  er 
<ioldschmiedearbeit  ist,  nicht  in  jedem  einzelnen  Kirchspiel,  sondern 
innerhalb  eines  verhältnismässig  grossen  Bezirkes  nur  an  einem  Orte,  der 
allerdings    nicht    immer    gross    ist    (z.  B.    im  Hannoverschen:    Buxtehude, 


Aufgaben  der  deutschen  Sach-Geographie.  375 

Rotenburg  uud  Yisselhövede).  Vorläufig  wären  also  die  verschiedenen 
Goldschmiedewerkstätten  mit  ihren  Zeichen  festzustellen  und  der  Umkreis 
der  von  ihnen  ausstrahlenden  Schmuckstücke,  womöglich  unter  Berück- 
sichtigung der  Musterbücher,  zu  kartieren.  Sehr  wichtig  wäre  es  auch, 
bei  den  einzelnen  Goldschmieden  nachzufragen,  ob  sie  den  bei  ihnen 
kaufenden  Landleuten  aus  irgend  einem  Bezirke  ganz  bestimmte  Gegen- 
stände anbieten,  weil  sie  in  diesem  Bezirke  üblich  seien,  und  ob  etwa  die 
Käufer  bei  grösserer  Auswahl  sich  nur  auf  diejenigen  Stücke  beschränken, 
welche  für  ihre  Gegend  typisch  sind.  Auch  bevor  noch  diese  höchst 
wichtigen  Fragen  gelöst  sind,  ist  doch  schon  soviel  sicher,  dass  der 
Bauernschmuck  deutlich  unterscheidbare  örtliche  Gruppen  bildet,  so  z.  B. 
die  Schultertuchhalter  in  Form  von  Ketten  auf  beiden  Ufern  der  Elbe, 
und  zwar  in  den  Yierlanden  als  die  bekannte  Brustkette  und  in  der 
Winser  Blbmarsch  als  dünne  Platten,  die  durch  Kettchen  verbunden 
sind.  Für  das  alte  Herzogtum  Bremen  geradezu  typisch  ist  die  Gürtel- 
rosette. Diese  Beispiele  liessen  sich  allein  aus  Niedersachsen  leicht  ver- 
mehren. Es  wäre  vielleicht  niclit  unangebracht,  vorläufig  einmal  von  ganz 
Deutschland  eine  Schmuckkarte  zu  entwerfen,  an  welche  die  weitere  ge- 
naue Forschung  anknüpfen  kann.  Auch  hier  ist  es  dann  späterhin  aus 
Rücksieht  auf  Zeit  und  Geld  praktisch,  eine  besonders  lohnende  Gegend 
als  Musterbeispiel  herauszugreifen. 

3.  Der  Hausrat. 

Die  Möbel  weisen  bekanntlich  geographisch  sehr  verschiedene 
Formen  auf.  Wenn  wir  sie  mit  Schwindrazheim  in  Tische,  Sitzmöbel, 
Kastenmöbel  und  Schlaf möbel  einteilen,  so  sind  die  Tische  nach  ihrem 
Aufbau  oder  nach  ihrer  Platte  verschieden.  Dreibeinige  Tische  kommen 
im  westlichen  Niedersachsen  vor,  so  im  Diepholzischen  und  Osnabrück- 
schen.  Innerhalb  des  letzteren  ist  besonders  für  das  Artland  eine  Tisch- 
form bezeichnend  mit  kreisrunder  Platte,  mit  einer  weiteren  kreisrunden 
Platte  in  halber  Höhe  und  drei  Beinen,  welche  vierkantig  und  schräg 
gestellt  sind.  —  Unter  den  Sitzmöbeln  sind  die  Stuhlforraen  noch 
mannigfaltiger  als  die  Bänke.  Hier  genügen  nicht  Angaben  wie  die, 
dass  die  dreieckige  Sitzfläche  bei  Lengerich  und  im  Münsterlande  häufig 
sei  und  eine  hohe  geschlossene  Rückenlehne  bei  Westerkappeln  usw., 
oder  dass  die  trapezförmige  Rückenlehne,  die  mit  ihrem  schmalen  Ende 
an  den  Sitz  anstösst,  für  die  Schwalm  in  Hessen  typisch  sei,  sondern 
diese  Erscheinungen  sind  erst  einmal  entwicklungsgeschichtlich  in  Zu- 
sammenhang mit  den  grossen  Stilperioden,  dann  geographisch  zu  er- 
forschen. —  Die  beiden  Arten  der  Kastenmöbel,  Truhen  uud  Schränke, 
sind  beide  für  die  volkskundliche  Forschung  wichtig.  Für  die  Einteilung 
der  Truhen  genügen  Angaben  wie  'gotische  Truhe'  nicht,  sondern  die 
Eigenschaften,  besonders  hinsichtlich  des  Aufbaues,    sind  in  der  Bezeich- 


376  Pessler: 

nung  noch  schärfer  hervorzuhebeu.  Vor  allem  sind  die  vier  Hauptforraen 
der  Truhenfüsse  schärfer  zu  scheiden:  1.  Die  Beine  werden  durch  die 
Verlängerungen  der  in  den  Langseiten  liegenden  senkrechten  Eckbretter 
gebildet.  2.  Die  Beine  werden  durch  die  Verlängerung  der  in  den 
Schmalseiten  liegenden  senkrechten  Eckbretter  gebildet.  3.  Unter  den 
Schmalseiten  liegt  je  eine  Fussschwelle.  4.  Unter  jeder  Ecke  befindet 
sich  ein  Kugelfuss.  Es  ist  nun  festzustellen,  ob  diese  vier  zeitlich  auf- 
einanderfolgenden Perioden  in  der  Truhenentwicklung  sich  auch  geo- 
graphisch gegeneinander  absetzen.  Auch  die  Truhendeckel  müssen  hin- 
sichtlich ihrer  Verbreitung  genauer  berücksichtigt  werden;  z.  B.  ist  hier 
festzustellen,  wieweit  der  sargförmige  Deckel,  der  besonders  für  die  Graf- 
schaften Hoya  und  Diepholz  typisch  erscheint,  in  geschlossener  Verbreitung 
vorkommt.  —  Die  Schlafmöbel,  soweit  sie  nicht  als  Butze  fest  mit  dem 
Hausgefüge  verbunden  sind,  also  das  Bett  und  die  Wiege,  Hessen  sich 
gewiss  auch  einmal  mit  Vorteil  behandeln.  Bei  den  Wiegen  kann  man 
hinsichtlich  des  Aufbaues  zwei  Hauptformen  unterscheiden:  1.  solche  mit 
festem  Fussgestell  und  schwingendem  Kasten,  2.  solche,  wo  der  Kasten 
mit  den  Füssen  fest  verbunden  ist  und  das  Ganze  gemeinsam  schwingt. 
Bei  letzteren  unterscheidet  man  wieder,  was  die  Richtung  der  Bewegung 
anbetrifft,  solche,  welche  längs  schwingen  und  solche,  welche  quer  schwingen. 
Beide  Formen  nebeneinander  sah  ich  in  der  städtischen  Altertums- 
sammlung in  Marburg.  Sie  sollen  beide  aus  der  Umgebung  von  Marburg 
stammen.  In  der  Schwalm  kommt  die  längsschwingende  vor,  wie  das 
hessische  Landesmuseum  in  Kassel  beweist.  Im  Museum  in  Bückeburg 
steht  eine  Kombinationswiege,  welche  auf  drehbarem  Rahmen  ruht,  so 
dass  sowohl  längs  als  auch  quer  gewiegt  werden  kann.  —  Unabhängig 
von  den  Konstruktionen  und  den  Formen  der  Möbel  ist  das  auf  ihnen 
angebrachte  Ornament  sowohl  nach  Technik  (auch  die  Intarsien)  wie  nach 
Motiven  zu  verfolgen.  So  ist  z.  B.  festzustellen,  wie  weit  die  im  Osna- 
brücker Artlaude  an  der  Haase  vorkommende  Verdoppelung  der  Hocli- 
füllung  mit  den  spitzen  Verkröpf ungen  an  der  oberen  und  der  unteren 
Schmalseite,  die  sich  dort  auf  den  Zimmervertäfelungeu,  den  Schiebetüren 
der  Schlafbutzen  und  den  Möbeln  finden  und  für  die  Gegend  bezeichnend 
sind,  auch  in  den  umliegenden  Landschaften  in  die  Volkskunst  ein- 
gedrungen sind. 

In  der  Einteilung  des  Hausrats  lässt  Lauffer  den  Möbeln  die  andere 
Wohnungsausstattung,  Gerät  und  Geschirr  für  Küche  und  Keller,  Ess-  und 
Trinkgerät,  Rauch-  und  Schnupfgerät,  Beleuchtungsgerät  und  Gerät  zum 
Spinnen,  Weben  und  Sticken  folgen.  Die  Geräte  und  Gefässe  zur 
Aufbewahrung  und  Bereitung  von  Speisen  und  Getränken  be- 
dürfen dringend  einer  zusammenfassenden  entwicklungsgeschichtlichen  wie 
geographischen  Darstellung,  von  den  Tonwaren  an,  soweit  sie  volkstüm- 
lich sind  (z.  B.  die  typischen  Krüge  aus  Dreihausen,    südöstlich  von  Mar- 


Aufgaben  der  deutschen  Sach-Geographie.  377 

bürg),  bis  zu  den  Grütz-  und  Kornmühlen  und  der  grossen  Anzahl  von 
Backvorrichtungen.  —  Beim  Ess-  und  Trink  gerät  sind  die  Gefässe 
(z.  B.  die  Gosefiaschen  in  Leipzig  nebst  den  hohen  Trinkgläsern  und  die 
^Stangen'  in  Gotha),  die  Geräte  (Löffel,  Messer,  Gabeln)  und  die  Gegen- 
stände, die  zur  Handhabung  und  Aufbewahrung  von  Ess-  und  Trinkgerät 
dienen  (z.  B.  die  aus  Holzpflöcken  kunstvoll  zusammengesetzten  Schüssel- 
untersätze Niedersachsens,  der  'Kaffeeschlitten'  in  Grosslinden  bei  Giessen, 
der  ein  Umschütteln  des  Kaffeesatzes  verhindern  soll,  der  hängende  Löffel- 
behälter in  Stuhlform  in  Hessen),  für  sich  zu  behandeln. 

Das  Beleuchtungsgerät  möchte  ich  in  solches  für  die  Wohnräume 
und  solches  für  die  Wirtschaftsräume  scheiden.  Unter  den  Stubenleuchten 
ist  der  Trankrüsel  volkskundlich  wichtiger  als  die  Lampe.  Neben  den 
Standkrüseln.  welche  zum  Teil  mit  einer  sinnreichen  Stundenskala  ver- 
sehen sind,  gibt  es  Hängekrüsel.  Der  Hängekrüsel  hängt  gewöhnlich 
mittels  eines  senkrecht  verstellbaren  Krüselhakens  mit  Zahnschiene  an 
einem  wagrecht  beweglichen  Krüselarm,  auf  dem  der  Krüselhaken  noch 
durch  eine  Schnuröse  hin-  und  hergeschoben  wird;  hierdurch  ist  es 
möglich,  innerhalb  eines  sehr  grossen  Umkreises  die  Lichtquelle  an  jeden 
beliebigen  Punkt  zu  bringen.  Der  Krüselarm  ist  nun  entweder  an  der 
Wand  oder  an  der  Decke  angebracht.  Ersteres  ist  in  Niedersachsen 
häufiger.  Im  Museum  in  Bückeburg  jedoch  ist  ein  Krüselarm  an  einem 
der  Stubenbalken  befestigt;  gleichfalls  an  der  Decke  sitzt  der  Krüselarm 
in  dem  Heidemuseum  inWalsrode,  einem  dorthin  gebrachteuBauernhause  von 
1798,  das  aus  Hartem  bei  Fallingbostel  stammt.  In  den  ausgezeichneten 
Bauernstuben  des  o-ermanischen  Museums  in  Nürubero-  findet  sich  auch 
ein  Krüselarm,  der  an  der  Decke  sitzt  und  zwar,  wenn  ich  mich  recht 
erinnere,  in  der  oberhessischen  Bauernstube.  Unter  den  Leuchten  in  den 
Wirtschaftsräumen  spielt  im  alten  Niedersachsen  die  Kienluchte  eine 
Hauptrolle.  Es  ist  dies  ein  Behälter  aus  Eisenblech  mit  brennendem 
Kienspan.  Hinzu  kommt  die  Kiendarre,  ein  ähnlicher  Behälter  zum 
Trocknen  der  Kienspäne.  Wahrscheinlich  wird  die  ethno-geographische 
Betrachtung  der  Kienluchten  w^ichtiger  sein  als  die  der  Laternen. 

Das  Handarbeitsgerät  im  weiteren  Siune  ist  volkskundlich 
und  ethno-geographisch  von  verschiedenem  W^erte.  Aus  dem  Gebiete  des 
Spinnens  sind  die  beiden  zeitlich  verschiedenen  Formen  des  Spinnrades, 
das  breite  und  das  hohe,  daraufhin  zu  erforschen,  ob  sie  sich  vielleicht  auch 
räumlich  gruppiert  haben,  und  der  Haspel  ist  auf  seinen  Umfang  und  die  ver- 
schiedenen Arten  des  Schallzeichens  zu  untersuchen,  welches  die  Erreichung 
der  vorgeschriebenen  Länge  anzeigt  (z.  B.  der  Hammer  oder  der  Schnapper). 
Von  den  Webegeräten  ist  ausser  dem  Webstuhl  mit  Zubehör,  der  Garn- 
winde und  dem  Spulrad  besonders  die  Verschiedenheit  des  Apparates  zum 
Vorordnen  der  Fäden  nach  der  Scherleiter  (ob  feststehende  Schertoppen 
oder  drehbares  Schertüg)  nach    ihrem   örtlichen  Auftreten    zu    erforschen. 


^Yg  Pessler: 

Die  beiden  Haiiptformen  der  Hecheln,  nämlich  die  kreisrunde  und  die 
rechteckige  Anordnung  der  Hechelzähne,  sind  vielleicht  mehr  geographisch 
als  entwicklungsgeschichtlich  geschieden.  Eine  gute  Hilfe  ist  es  jeden- 
falls, wenn  die  Stücke  nicht  nur  genau  lokalisiert,  sondern  auch  datiert 
sind,  wie  die  runde  Anordnung  von  1725,  die  ich  in  Grossen-Linden  bei 
Giessen  gesehen  habe.  Ob  sich  beim  Stricken  und  Nähen  volkskuud- 
lich  brauchbare  örtliche  Yerschiedenheiten  ergeben,  z.  B.  in  den 
Stricknadeln,  Nadelbüchsen,  Nadelkissen  und  Nähkasten,  ist  noch  nicht 
sicher;  am  ehesten  wird  dies  wohl  noch  bei  den  Nähkasten  der  Fall 
sein,  wenn  z.  B.  die  eigenartige  Form  des  Nähkastens  aus  dem  Alten 
Lande,  der  in  dem  Vaterländischen  Museum  in  Hannover  steht,  für  diese 
Elbmarsch  typisch  ist.  Aus  dem  Gebiete  des  Stickens  sind  die  Stick- 
mustertücher sach-geographisch  offenbar  wertvoller  als  die  Stickrahmen. 
Es  ist  sehr  nötig,  einmal  festzustellen,  ob  die  Stickmustertücher  nach  der 
Art  des  Stiches  und  nach  den  Motiven  wirklich,  wie  man  vermutet  hat, 
geographische  Provinzen  zeigen. 

Unter  den  Hausrat  möchte  ich  auch  ferner  noch  das  Gerät  zum 
Waschen,  Plätten  und  Fälteln  rechnen.  Aus  dem  Gebiete  desWaschens 
scheinen  mir  die  Mangelhölzer  und  Mangelbretter  zum  Glätten  der  Wäsche 
sach-geographisch  wichtiger  zu  sein  als  Waschkessel,  Waschtubben,  Wasch- 
tisch zum  Reiben  der  Wäsche  und  Waschbrett  zum  Klopfen  derselben. 
Von  den  zum  Plätten  oder  Bügeln  dienenden  Gegenständen  sind  die 
Gniggelsteine  oder  Gniedelsteine  zum  Glätten  der  Nähte  volkskundlich 
wichtig,  wohl  auch  noch  wertvoller  als  die  Fältelapparate,  das  Tolleisen 
und  das  Tollbrett  mit  Rolle. 

Zum  kleineren  Verkehrsgerät  gehören  die  Körbe  und  Kiepen. 
Die  landschaftlich  verschiedenen  Formen  der  Kiepe  oder  Köze  sind  ethno- 
logisch sicherlich  sehr  wichtig  und  zum  Glück  schon  Gegenstand  der 
Forschung,  leider  aber  noch  nicht  auf  einer  Karte  zusammengefasst,  w^as 
sich  gewiss  gelohnt  hätte. 

Als  anderen  Hausrat  möchte  ich  noch  die  Bettwärmer  ('Bedpan') 
hinzufügen,  welche  für  die  Friesengebiete  bezeichnend  sind.  Es  ist  hier 
festzustellen,  ob  die  in  den  angrenzenden  Gebieten  vorkommenden  Bett- 
wärmer Ausstrahlungen  der  friesischen  Kultur  sind.  Auch  hier  wird  eine 
genaue,  von  Ort  zu  Ort  schreitende  Landesaufnahme  und  die  Verwendung 
von  Landkarten  gute  Dienste  leisten. 

Überhaupt  ist  es  zu  bedauern,  dass  das  grosse  Gebiet  des  Haus- 
rates, für  das  wir  so  viele  ausgezeichnete  Kenner  in  Deutschland  haben, 
bisher  noch  nicht  systematisch  vom  geographischen  Standpunkte  aus  be- 
trachtet worden  ist;  denn  einerseits  würde  dies  der  Entwicklungsgeschichte 
grosse  Dienste  leisten,  andererseits  würden  die  grossen  örtlichen 
Zusammenhänge,  die  zweifellos  vorhanden  sind,  dadurch  erst  zutage 
treten. 


Aufgaben  der  deutsclien  Sach-Geographie.  379 

4.  Die  Wohnung. 

Der  volkstümliche  Wohnbau  der  Deutsehen  spielt  in  der  Yolkskunde- 
forschung  mit  Recht  seit  langem  die  Hau})trolle.  Die  Bedeutung  liegt  in 
folgendem:  Uralte  Volksüberlieferung  ist  jetzt  noch  darin  lebendig;  mit 
der  genauen  Kenntnis  des  Hauses  ist  zugleich  die  des  Lebens  der  Be- 
wohner gegeben;  der  Hausbau  hat  sich  als  völkisch  ganz  besonders  wichtig 
erwiesen,  weil  er,  in  seiner  Form  wirtschafts-geographisch  begründet,  in 
seiner  Verbreitung  zum  grossen  Teil  ethno-geographisch  bedingt  ist. 

Als  die  nächsten  Aufgaben  der  Haus-Geographie  erscheinen  mir 
folgende:  Das  Plaus  als  Ganzes  ist  namentlich  östlich  der  Elbe  und 
westlich  der  Maas  genau  zu  kartieren,  ebenso  in  der  Schweiz.  Neben 
dem  Grundriss  muss  die  Konstruktion  als  gleichwertiger  Faktor  erforscht 
werden.  So  ist  z.  B.  die  dreischiffige  Anlage  des  Friesenhauses  und 
des  nördlichen  Sachsenhauses  auch  einmal  als  Gemeinsamkeit  durch  eine 
Karte  festzustellen.  Ausser  den  Hauptunterschieden  im  Grundriss  (z.  B. 
ob  Längsdiele  oder  Querdiele)  muss  unbedingt  auch  einmal  die  Strassen- 
seite  des  Hauses  (ob  Giebelhaus  oder  Traufseitenhaus)  kartiert  werden. 
Am  besten  verbindet  man  diese  beiden  Gesichtspunkte  und  trägt  auf 
einer  Karte  des  deutschen  Sprachgebiets  folgende  vier  Formen  ein: 
1.  Giebelhaus  mit  Längsdiele  oder  Längsflur  (z.  B.  das  altsächsische 
Haus  in  den  allermeisten  Fällen).  2.  Giebelhaus  mit  Querdiele  oder 
Querflur  (z.  B.  das  Wohnhaus  des  mitteldeutschen  Gehöfts).  3.  Trauf- 
seitenhaus mit  Längsdiele  (vereinzelt  im  altsächsischen  Gebiet).  4.  Trauf- 
seitenhaus mit  Querdiele  (z.  B.  im  südöstlichen  Niedersachsen  und  in 
Mitteldeutschland  meistens,  wenn  es  zu  keiner  Gehöftbildung  kommt).  — 
Ferner  ist  das  Haus  für  die  genaue  kartographische  Fixierung  in  seine 
I']inzelräume  und  Einzelteile  zu  zerlegen,  genau  wie  die  Sprache  für 
ihre  genaue  geographische  Festlegung  in  Wörter  und  in  Laute  zerteilt 
wird.  Bei  den  Einzelräuraen  ist  Wirtschaftsteil  und  Wohnteil  zu  scheiden. 
In  ersterem  ist  vor  allem  die  Diele  und  die  Raumbenutzung  des  Lager- 
bodens (z.  B.  wo  das  Korn,  wo  das  Heu  und  wo  das  Bohnenstroh  usw. 
liegt)  in  ihrer  örtlichen  Verschiedenheit  festzustellen.  Im  Wohnteil  ist 
besonders  die  Form  und  Lage  der  Küche  und  der  Schlafräume  zu  be- 
achten. Hinsichtlich  der  Einzelteile  des  Hauses  fehlen  uns  noch  durch- 
aus Landkarten  über  die  verschiedenen  Arten  der  Herde  und  Öfen.  Diese 
werden  um  so  leichter  herzustellen  sein,  je  mehr  die  Museen  in  dieser 
Hinsicht  vorgearbeitet  haben,  wie  z.  B.  in  Niedersachsen,  wo  im  Vater- 
ländischen Museum  in  Celle  in  dieser  Hinsicht  der  deutschen  Wissen- 
schaft ein  sehr  grosser  Dienst  geleistet  ist.  Mit  vollem  Recht  sagt 
Bernard  Müller  ('Museumskunde'  6,  87):  „Von  hervorragendem  Interesse 
sind  die  verschiedenen  Herdanlagen  aus  allen  Gegenden  Nordhannovers, 
die  im  Original  bis  in  die  kleinsten  Einzelheiten  und  mit  sämtlichem 
Zubehör    sich    hier    wieder    aufgebaut    flnden    und    ergeben,    dass    dieser 


3gO  Pessler: 

Mittelpunkt  des  Hauses  in  den  verschiedenen  Bezirken  des  Landes  sehr 
bemerkenswerte  Unterschiede  zeigt."  Ausser  den  Feuernngsanlagen 
kommen  als  Einzelteile  des  Hauses  im  Innern  solche  Gegenstände  in  Be- 
tracht, welche  entweder  fest  (A^ertäfelung,  Wandschrank,  Decke)  oder 
lose  (Zimmertüren)  mit  dem  Hausgefüge  verbunden  sind.  Die  Einzelteile 
des  Hauses  aussen  teile  ich  mit  Schwindrazheim  in  Wände,  Dach  und 
Öffnungen  ein.  Hier  brauchen  wir  noch  Landkarten  über  die  Ausbildung 
der  Fassaden,  über  die  Dachformen  und  die  verschiedenen  Arten  der 
Firstsicherungen  (z,  B.  Hengelten  =  hölzerne  Dachreiter  an  der  Ostsee- 
küste), während  wir  über  die  Giebelzierden  schon  einige  Karten  besitzen. 
Von  den  Hausöffnungen  sind  die  Türen,  bei  welchen  das  Einfahrtstor  und 
die  Türen  für  Menschen  zu  trennen  sind,  offenbar  sach-geographisch 
nicht  so  bedeutsam  wie  die  Fenster.  Die  Beziehungen  der  Drehfenster 
nach  aussen  zum  Sachsentum,  der  senkrechten  Schiebefenster  zumFriesentuni 
sind  ja  offenbar.  Die  Drehfenster,  welche  nach  innen  schlagen,  sind  vor- 
wiegend hochdeutsch  und  ostniederdeutsch,  die  seitlichen  Schiebefenster 
scheinen  vereinzelt  überall  vorzukommen.  Hier  hat  die  Einzelforschung 
einzusetzen  und  Alter,  Werden  und  Vergehen  der  Form  und  ihrer 
Grenzen  festzustellen.  Ob  sich  bei  anderen  Einzelheiten  des  Hauses  die 
sach-geographische  Betrachtung  lohnt,  ist  noch  nicht  zu  übersehen;  wie  z.  B. 
betreffs  der  Art  der  Lichtzufuhr  in  das  vordere  Ende  der  Diele  im  Sachsen- 
hause, wo  wir  folgende  Arten  zu  unterscheiden  haben:  entweder  durch 
das  Tor  selbst,  sei  es  vorübergehend  durch  einen  oberen  offenen  Flügel, 
sei  es  bleibend  durch  ein  Fenster  oder  durch  die  dem  Tor  benachbarte 
Wand  durch  kleine  Fenster,  und  zwar  hier  entweder  über  dem  Tor  oder 
seitlich  von  ihm. 

5.   Andere  Banten. 

Die  Windmühlen  sind  noch  viel  zu  weni"-  der  Gegenstand  volks- 
kundlicher  Forschung  gewesen.  Jedem  von  uns  sind  schon  die  beiden  in 
Deutschland  vorkommenden  Hauptarten  aufgefallen:  die  deutsche  oder  die 
Bockwindmühle  und  die  holländische  oder  die  Turmwindmühle,  die  ich 
als  Drehrumpfmühle  und  als  Drehkopfmühle  einander  gegenüberstellen 
möchte.  Bei  der  ersteren  ist  der  ganze  Rumpf  nebst  dem  Flügelwerk 
drehbar  und  ruht  auf  einem  senkrechten  festen  Ständer,  der,  wie  wir  in 
Rühlmanns  'Allgemeiner  Maschinenlehre'  lesen,  den  Namen  Hausbauni 
hat  und  durch  ein  Schwell-  und  Strebewerk  'Bock'  gestützt  wird;  diese 
älteste  Konstruktion  der  Windmühlen  soll  aus  Deutschland  stammen  und 
die  Windmühle  überhaupt  eine  deutsche  Erfindung  sein.  Bei  der  holländischen 
Turmmühle  ist  nur  der  Kopf  nebst  dem  Windrade  drehbar,  während  der 
ganze  Rumpf  feststeht  und  meist  aus  Ziegelsteinen  aufgemauert  ist.  Ver- 
breitungsangaben über  diese  beiden  Hauptarten  der  Windmühlen  scheint 
es  nicht  zu  geben,    geschweige  denn  eine  Landkarte  darüber.     Sehen  wir 


Aufgaben  der  deutschen  Sach-Geographie.  381 

ilavon  ab,  dass  die  Windmühlen  überhaupt  an  physiogeographische  Faktoren 
gebunden  sind,  so  wäre  es  Tloch  möglich,  dass  die  örtliche  Gruppierung 
innerhalb  des  Windmühlengebiets  verkehrsgeographische  und  vielleicht  auch 
■ethno-geographische  Momente  aufweist.  Natürlich  kommt  für  die  Forschung 
nur  der  ältere  Bestand  in  Betracht,  da  wahrscheinlich  schon  seit  längerer 
Zeit  die  holländische  Windmühle  als  die  praktischere  in  das  Gebiet  der 
■deutschen  Windmühle  eingedrungen  zu  sein  scheint.  —  Auch  die  kleinen 
Windmühlen,  welche  zum  Herausheben  des  Wassers  dienen,  die  in  der 
Wilster  Marsch  so  auffallend  häufig  sind,  wären  auf  ihre  Ausbreitung  hin 
zn  verfolgen.  —  Ob  die  Wassermühlen  irgendwelche  sach-geographische 
Zusammenhänge  erkennen  lassen,  ist  noch  fraglich.  —  Dass  der  Kirch en- 
bau,  abgesehen  von  den  Stilperioden,  auch  landschaftlich  zusammenfassbare 
Oruppen  aufweist,  ist  bekannt.  Gewiss  hängt  hier  einiges,  soweit  es  sich 
um  Ostdeutschland  handelt,  mit  der  Herkunft  der  deutschen  Kolonisten 
zusammen.  Mit  Recht  hat  Mielke  auch  auf  Giebeleingang  und  Trauf- 
seiteneinijano:  der  Kirchen  «geachtet.  Es  wäre  nicht  unnütz,  diesen  Ge- 
<lanken  in  grossem  Massstabe  zu  verfolgen.  Wenigstens  für  das  italienische 
Volkstum  soll  ein  gutes  Leitfossil  der  Campanile  sein,  der  einzelstehende 
Kirchturm,  der  nicht  nur  in  Italien  und  auf  den  Inseln,  sondern  auch  nach 
Südtirol,  dem  Küstenlande  und  Dalmatien  hinein  als  Wegweiser  jetziger 
oder  ehemaliger  italienischer  Nationalität  gilt;  in  Dalmatien  soll  vor- 
dringende slawische  Majorität  diesem  romanischen  Wahrzeichen  stets  durch 
Änderungen  ihr  Gepräge  aufgedrückt  haben. 

6.  Landwirtschaftliches  Gerät. 

Für  die  Einteilung  und  Gruppierung  der  landwirtschaftlichen  Geräte 
hat  sich  Hoffmann-Krayer  ein  Verdienst  erworben  ('Museumskunde'  ß, 
113).  Am  übersichtlichsten  ist  die  Haupteinteilung  in  Pflanzenbau,  Tier- 
zucht, Verkehrsmittel.  Als  Hauptteile  des  Pflanzenbaues  wiederum  nennt 
er  Acker-,  Wiesen-,  Gemüse-,  Obst-  und  Weinbau.  In  jedem  dieser  vier 
Gebiete  können  wir  vier  Hauptperioden  unterscheiden,  nach  denen  die  in 
ihnen  srebrauchten  Geräte  übersichtlich  anzuordnen  sind:  1.  Bearbeitung 
des  Bodens.  2.  Pflanzen  und  Säen.  3.  Ernten.  4.  Bearbeitung  des  Ge- 
ernteten. 

Die  grösste  ethnologische  Bedeutung  legt  Richard  Braungart  den 
Ackergeräten  bei,  wenn  er  seinem  Hauptwerk  den  Titel  gibt  'Die  Urheimat 
der  Landwirtschaft  aller  indogermanischen  Völker,  an  der  Geschichte  der 
Kulturpflanzen  und  Ackerbaugeräte  in  Mittel-  und  Nordeuropa  nachgewiesen' 
(Heidelberg  1912;  vgl.  Zeitschrift  des  Vereins  für  Volkskunde  23,  94). 
Mit  Recht  erwartet  er  (S.  3)  Aufklärung  über  die  Ethnologie  von  Alt- 
europa von  'ganz  genauen  kartenmässigen  Ermittlungen  über  die 
geographische  Verbreitung  gewisser  typischer  Ackergeräte'.  Leider  gibt 
es  für  das  deutsche  Sprachgebiet  dergleichen  Karten  noch  gar  nicht.    Be- 


3g2  Pessler: 

kannt  sind  mir  in  Europa  nur  die  beiden  Linien  über  die  Verbreitung- 
der  Sense  und  des  zweispännigen  Wagens  in  Kurland  in  Bielensteins  Atlas 
der  ethnologischen  Geographie  des  Lettenlandes  (Petersburg  1892)  auf 
Karte  6,  deren  andere  Linien  nur  Spracherscheinungen  behandeln.  Es  ist 
zu  wünschen,  dass  das,  was  hier  ein  Deutscher  für  die  Erforschung  eines 
fremden  Volksstammes  geleistet  hat,  in  unserer  Heimat  bald  Nachfolge 
finden  wird,  bevor  es  zu  spät  ist;  denn  bei  dem  starken  Umschwung  in 
der  landwirtschaftlichen  Betriebsweise  ist  das  Sammeln  der  alten  Formen 
in  einem  Ackerbaumuseum  hohe  Zeit,  die  Feststellung  ihrer  Grenzen 
allerdringendste  Notwendigkeit. 

Was  den  Ackerbau  betrifft,  so  scheinen  von  den  Geräten  zur 
Bearbeitung  des  Bodens  die  Eggen  sach-geographisch  besonders  wichtig 
zu  sein,  und  zwar  ist  es  hier  wieder  ein  Punkt,  auf  den  besonders  zu 
achten  ist,  nämlich  die  Anbringung  der  für  den  Anspann  bestimmten 
Öse  am  vorderen  Querbalken.  In  Bleckmar  in  der  Lüneburger  Heide  ist 
diese  Zugöse  auf  ein  Drittel  der  Länge  angesetzt,  während  sie  im  Osna- 
brückschen  Artlande  auf  ein  Sechstel  der  Länge  hiuausgerückt  ist.  Auch 
in  Voigtholz  bei  Peine  soll  die  Zugöse  sehr  weit  am  Ende  des  Balkens 
sitzen,  während  sie  an  einem  altertümlichen,  vollständig  aus  Holz  bestehen- 
den Exemplar,  das  aus  Elze  bei  Bennemühlen  stammt  und  im  Vater- 
ländischen Museum  von  Hannover  ausgestellt  ist,  genau  in  der  Mitte  sitzt. 
Überhaupt  scheinen  Zugrichtung  und  Bau  der  Eggen  wichtiger  zu  sein 
als  das  Material,  das  ursprünglich  rein  Holz  ist  und  allmählich  teilweise 
vom  Eisen  verdrängt  wird.  —  Auch  der  Unterschied  in  der  Form  der 
Feldbeete  ist  wahrscheinlich  ethno-geographisch  bedingt;  für  einen  Ver- 
gleich ist  es  da  selbstverständlich  notwendig,  nur  Gleichartiges  nebenein- 
ander zu  setzen  und  nicht  etwa  die  Feldform  innerhalb  eines  Weizenfeldes 
in  Süddeutschland  mit  der  eines  Kohlfeldes  in  Norddeutschland.  —  Unter 
den  Erntegeräten  haben  besonders  die  Sicheln  und  Sensen  Formen,  deren 
landschaftliche  Verschiedenheit  grösser  ist  als  bei  den  Harken.  Für  die 
Kenntnis  der  Sensen  und  Sicheln  finden  sich  ja  Beispiele  in  Menge  in 
manchen  volkskuudlichen  Museen;  doch  fehlt  eine  Karte  über  die  ver- 
schiedenen Sensenformen  bisher  noch  durchaus.  —  Von  den  Geräten  zur 
Bearbeitung  des  Geernteten  kämen  z,  B.  Dreschflegel  und  Kornsiebe 
in  Betracht.  Ihnen  schliessen  sich  die  Getreidemasse  an.  Von  diesen  ist 
der  Himten,  der  zylindrisch  ist  und  in  hoher  oder  flacher  Form  vorkommt, 
anscheinend  eine  Eigenart  von  Niedersachsen  und  seinen  Grenzgebieten. 
Von  der  kartographischen  Fixierung  aller  Hohlmasse,  Gewichte  und  Wagen 
im  deutschen  Sprachgebiet  verspreche  ich  mir  viel  für  die  deutsche  Sach- 
Geographie. 

Aus  der  Abteilung  Wiesenbau  ist  hier  die  Art  des  Heustapeins  zu 
erwähnen,  in  welcher  verschiedene  Landesteile  sehr  voneinander  abweichen. 
Es    sei    hier    nur    an  die  Gubben  erinnert,  sowie    an    die   zum    Trocknen 


Aufgaben  der  deutschen  Sach-Geographie.  383 

des  Heus  dienenden  Gerüste.  Diese  haben  im  Allgäu  den  Namen  Heinzen 
und  bestehen  aus  einem  senkrechten  Stock,  der  wiederholt  von  zwei  wage- 
rechten Stäben  kreuzweise  durchbohrt  wird.  In  Krain  heissen  sie  Harfen 
und  setzen  sich  aus  zwei  senkrechten  Pfosten  zusammen,  welche  durch 
eine  Reihe  wagerechter  Stäbe  verbunden  sind. 

Für  den  Obst-  und  Weinbau  hat  die  sach-geographische  Forschung 
auch  erst  einzusetzen.  D*urch  seine  grössere  Ausdehnung  erscheint  der 
Obstbau  wichtiger,  durch  charakteristischere  Gegenstände  der  Weinbau. 
Letzterer  umfasst  ja  in  Deutschland  räumlich  immerhin  sehr  beschränkte 
Gebiete  und  daher  kann  die  Erforschung  seiner  Geräte  nur  über  diese 
sach-,  kultur-  und  verkehrsgeographische  Aufschlüsse  geben.  Andrerseits 
lohnt  es  sich  gerade  einmal  hier  anzufangen,  weil  die  Aufgabe  nicht  ufer- 
los ist.  Ausserdem  lässt  vielleicht  gerade  das  vielfach  streifenförmig  auf- 
tretende Vorkommen  der  Weingebiete  am  ehesten  Richtungslinien  in  der 
Ausbreitung  der  Formen  der  Weinbaugeräte  erkennen. 

Die  Tierzucht  können  wir  für  unsere  sach-geographische  Forschung 
in  die  Zucht  von  Vieh,  Geflügel,  Bienen  und  Fischen  einteilen.  Bei 
der  Fischzucht  spielt  das  Netz  eine  Hauptrolle  und  mit  Recht  rückt 
Hoffmann-Krayer  es  in  den  Vordergrund.  Was  er  an  Hauptmerk- 
malen angibt,  nämlich  das  Material,  die  Gesamtform,  die  Flechtart,  die 
Maschenweite,  sowie  die  Flechtwerkzeuge  und  die  Lage-  und  Zugart  werden 
sich  vermutlich  auch  in  der  geographischen  Forschung  wichtig  erweisen. 
Über  alle  diese  Einzelerscheinungen  sind  besondere  Karten  anzufertigen. 
Die  sich  dort  ergebenden  Zusammenhänge  werden,  da  sie  an  die  Ver- 
breitung der  Gewässer  gebunden  sind,  vielleicht  zu  den  dort  gegebenen 
A'erbreitungsfaktoren,  nämlich  den  Talrichtungen  und  den  Wasserscheiden, 
in  Beziehung  treten.  Vermutlich  werden  sich  die  Seen  und  die  schmaleren 
Teile  der  Meere  nicht  als  trennend,  sondern  als  verbindend  und  über- 
leitend erweisen,  wie  das  z.  T.  schon  für  andere  ethno-geographische  Ge- 
biete der  Fall  ist. 

Die  Verkehrsmittel  teilen  wir  in  solche  zu  Laude  und  solche  zu 
Wasser  ein.  Zu  den  ersteren  rechnen  wir  die  Schiebe-  und  Zugkarren, 
die  Wagen,  Kinderwagen  und  Schlitten.  Der  Unterschied  zwischen  deu  vier- 
rädrigen Wagen  und  den  zweirädrigen  grossen  Wagenkarren  verspriclit  nach 
meiner  Ansicht,  sofern  ältere  unbeeinflusste  Zustände  in  Betracht  kommen, 
sach-geographisch  sehr  wichtige  Aufschlüsse.  Es  ist  sehr  zu  bedauern, 
dass  eine  Karte  hierüber  noch  vollständig  fehlt.  Auch  die  Art  des  Ge- 
spanns ist  ins  Auge  zu  fassen,  und  zwar  besonders  die  volkstümliche  An- 
zahl der  Zugtiere,  ob  ein,  zwei  oder  drei  (z.  B.  die  Troika  der  Russen). 
Hier  werden  wir  zu  grossen  Leitlinien  der  Volkstums-  und  A^erkehrs- 
bewegungen  kommen.  Niciit  zu  vergessen  sind  hier  auch  die  Treibe- 
mittel, z.  B.  Peitsche,  Stock  und  Stachel. 


gg^  Pessler: 

7.  Volkstümliche  Industrie  und  Handwerk. 

Handwerk  und  Hausfleiss,  soweit  sie  nicht  in  jedem  Haushalt  be- 
trieben werden,  sondern  eine  Arbeitsteilung  voraussetzen,  sind,  was  die 
örtlichen  Unterschiede  der  in  ihnen  verwandten  Geräte  anbetrifft,  noch 
nicht  Gegenstand  eines  umfassenden  Vergleichs  gewesen.  Dass  hier  über- 
reicher Stoff  vorhanden  ist,  liegt  auf  der  Hand.  Vielleicht  empfiehlt  es 
sich,  von  den  zahlreichen  in  Betracht  kommenden  Handwerken  (Zimmer- 
mann, Tischler,  Schlosser  und  Schmied,  Stellmacher,  Schlachter,  Schneider, 
Schuster)  eins  herauszugreifen  und  für  dessen  wichtiges  Handwerkszeug 
bestimmte  Merkpnnkte  in  Deutschland  zu  untersuchen.  Hierdurch  ergeben 
sich  für  jedes  derselben  einige  Hauptgebiete,  deren  genaue  Abgrenzung 
dann  später  zu  erfolgen  hat,  indem  man  die  zwischen  ihnen  liegenden 
Grenzzonen  genauer  untersucht. 

8.   Die  Siedelung. 

Von  der  grossen  ethnologischen  Bedeutung  der  Siedelung  zu  reden, 
ist  seit  den  grundlegenden  Forschungen  von  Meitzen  und  Schlüter 
nicht  mehr  nötig.  Dank  diesen  Forschern  sind  ja  die  Hauptgebiete  der 
Dorfformen  und  ihre  Beziehungen  zu  den  Völkern  bekannt;  auch  haben 
sich  ihren  Landkarten  noch  manche  andere  angeschlossen.  Als  die  nächsten 
Aufgaben  möchte  ich  die  Bearbeitung  einzelner  politisch  geschlossener 
Gebiete  unter  Berücksichtigung  auch  sämtlicher  Nebenformen  empfehlen, 
wie  sie  uns  Alfred  Hennig  für  das  Königreich  Sachsen  geliefert  hat,  und 
dann  Zusammenfassung  der  Ergebnisse  in  grossen  bunten  Karten  für  den 
gesamten  deutschen  Sprachboden.  Wie  sehr  die  Nebenformen  neben  den 
Hauptformen  berücksichtigt  werden  müssen,  wenn  man  ein  Bild  des  Tat- 
sächlichen geben  will,  geht  aus  der  grossen  Anzahl  von  verschiedenen 
Ortsformen  hervor,  die  man  erhält,  wenn  man  die  von  den  obengenannten 
Forschern  für  Mitteleuropa  eingetragenen  Dorfformen  durch  die  ausserdem 
noch  angeführten  Formen  auf  der  Hennigschen  Karte  von  Sachsen 
und  auf  der  Schlüterschen  Karte  von  Nordostthüringen  ergänzt.  Nach 
der  Stärke  des  Zusammenhangs  der  verschiedenen  Gehöfte  innerhalb  der 
Siedelungen  kann  man  drei  Stufen  unterscheiden:  Streusiedelungen,  ge- 
lockerte Ortsformen,  geschlossene  Ortsformen.  Zur  Streusiedelung 
rechnen  wir  die  Einzelhöfe  keltischen  Ursprungs,  die  Einzelhöfe  andern 
Ursprungs,  z.  B.  die  durch  das  Gelände  bedingten,  und  andere  Einzel- 
siedelungen. Zu  den  gelockerten  Siedelungsformen  zählt  man  die 
Reihendörfer,  sowohl  die  mit  Marschhufen  wie  die  mit  Waldhufen,  ferner 
das  Zweizeilendorf,  das  Einzeilendorf,  die  Einreihen  und  das  Quellreihen- 
dorf, dessen  Waldhufeu  meist  fächerförmig  aufgeteilt  sind.  Ge- 
schlossenere Ortsformen  sind  einerseits  die  germanischen  Haufen- 
oder Gewanndörfer  von  verschiedenem  Grundriss:  solche  mit  rundlichem 
Kern,  solche  ohne  erkennbaren  rundlichen  Kern,  Grundriss  unregelmässig 


Aufgaben  der  deutschen  Sach-Geographie.  385 

strahlenförmig,  Grundriss  geradlinig  rechtwinklig,  anderseits  das  Gassen- 
dorf, das  echte  Strassendorf  und  das  Platzgassendorf  als  Vorstufe  des 
Strassendorfs.  Diesen  letzteren  ist  mit  den  gelockerten  Ortsformen  des 
Reihendorfs  die  Erstreckung  in  einer  Richtung  gemeinsam.  Am  ge- 
schlossensten sind  die  Runddörfer:  der  echte  Rundling  oder  das  Platz- 
dorf sowohl  in  der  Form  des  Normalrundlings  wie  des  Doppelrundlings, 
der  verlängerte  Rundling  oder  die  Sackgasse  und  der  zum  Gassendorf 
umgebaute  Rundling  oder  die  Kurzgasse.  Die  Zuweisung  bestimmter 
Ortsformen  an  bestimmte  Völker  kann  im  einzelnen  erst  erfolgen,  wenn 
alle  die  aufgeführten  Haupt-  und  Nebensiedelungen  für  ganz  Mitteleuropa 
kartographisch  genau  fixiert  sind. 

Von  anderen  Elementen  der  Siedelung  können  Strassen,  z.  B.  Moor- 
brücken und  Knüppeldämme,  Burgen  und  Kastelle,  Landwehren  und  andere 
Wälle  für  die  Sach-Geographie  älterer  Zeit  von  Bedeutung  sein.  Hervor- 
ragendes Interesse  sowohl  für  die  Gegenwart  wie  für  die  Vorzeit  bean- 
spruchen meines  Erachtens  die  Wallhecken  oder  Knicks,  welche  be- 
kanntlich im  Landschaftsbilde  Nordwestdeutschlands  und  Englands 
charakteristisch  sind.  Eine  genaue  Kartierung  derselben  ist  um  so  wich- 
tiger, als  sie  in  ihrem  Bestände  stark  vermindert  werden.  Ein  solches 
Kartenbild  in  grossen  Umrissen  wäre  ohne  allzugrosse  Mühe  herzustellen 
und  würde  die  von  mir  vermutete  Beziehung  von  Wallhecken  zum  alten 
Sachsentum  ohne  weiteres  klarlegen. 

9.  Andere  TOlkstümliche  Gegenstände. 

Die  volkstümliche  Überlieferung  wird  selbstverständlich  auch  noch  in 
vielen  anderen  Beziehungen  festgehalten,  so  bei  Sitten  und  Gebräuchen. 
Festen,  Spielen,  Verkehr  und  bei  den  Gegenständen,  die  mit  diesen  zu- 
sammenhängen. Als  Beispiel  sei  hier  nur  die  Totenbretter-Sitte  er- 
wähnt, die  nicht  nur,  wie  es  den  Anschein  hatte,  alt-baju warisch  ist,  son- 
dern auch  ins  Frankengebiet  hinübergreift.  Die  einzige  Landkarte  über 
Totenbretter  verdanken  wir  Frau  Andre e-Eysn. 

Die  Spiele  und  die  bei  ihnen  gebrauchten  Sachen  sind  bislang  nocii 
nicht  kartiert.  Hier  ist  es  merkwürdig,  dass  sogar  die  Spielkarten  geo- 
graphische Unterschiede  zeigen:  Die  in  der  Provinz  Hannover  gebräuch- 
lichen französischen  Karten  treffen  im  Eichsfelde  auf  die  deutschen  Spiel- 
karten, und  zwar  soll,  wie  man  mir  gesagt  hat,  die  Grenze  zwischen  den 
Dörfern,  deren  Bewohner  französische  Karten  gebrauchen,  und  zwischen 
den  Dörfern  mit  deutschen  Karten  nicht  mit  der  dort  verlaufenden  Grenze 
zwischen  den  Provinzen  Hannover  und  Sachsen  zusammenfallen,  sondern 
mit  der  Sprachgrenze  zwischen  Niederdeutsch  und  Mitteldeutsch,  welche 
auf  dem  Eichsfelde  eine  Strecke  weit  südwärts  etwas  über  die  Provinzial- 
grenze  hinausgreift. 

Auch  die  Unterschiede  in  der  Hillebille,    dem  Schlagholz,    könnten 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.   1914.   Heft  4.  '>') 


3gg  Pessler:  Aufgaben  der  deutschen  Sach-Geographie. 

vielleicht  geographisch  betrachtet  werden;  einmal  scheint  sie  als  eine  Art 
Musikinstrument  bei  Hausrichten  zu  dienen,  auf  der  andern  Seite  ist  sie 
das  bekannte  Lärmsignal. 

10.   Die  sach-geogi-aphische  Forschung  in  ethnologisch  besonders 

wichtigen  Bezirken. 

Die  Erforschung  der  volkskundlichen  Realien  gewinnt  besondere  Be- 
deutung einerseits  in  Grenz-  und  Mischgebieten,  einerlei,  ob  deren  ethno- 
logische Verhältnisse  von  vornherein  klar  sind  oder  nicht,  andererseits  in 
Yolkstumsinselu,  die  nach  Gründungszeit  und  Ausdehnung  genau  bekannt 
sind,  und  dieses  beides  aus  ganz  verschiedenen  Gründen.  Die  ersteren^ 
die  Grenzzonen,  in  denen  zwei  Elemente  sich  begegnen,  sich  örtlich 
mischen  und  sich  daneben  zu  neuen  Formen  vereinigen,  beanspruchen 
selbstverständlich  grosses  Interesse;  eine  wichtige  Forderung  für  die  Zu- 
kunft scheint  mir  hier,  die  sich  begegnenden  Typen  alle  beide,  jeden  für 
sich  bis  tief  in  das  andere  Gebiet  hinein,  zu  verfolgen,  indem  mau  z.  B. 
nicht  nur  den  mitteldeutschen  Bauelementen  im  grossen  Gebiet  des  Sachsen- 
haustypus, sondern  auch  dem  altsächsischen  Baueinfluss  nach  Mitteldeutsch- 
land hinein  nachgeht  bis  dorthin,  wo  auch  nicht  mehr  das  geringste  Kenn- 
zeichen von  ihm  zu  finden  ist.  Der  Kartographie  erwächst  durch  die 
Darstellung  dieser  Verhältnisse  eine  besonders  dankbare  Aufgabe.  —  Eine 
o-anz  andere  Seite  der  Volkstumswissenschaft  wird  durch  die  Untersuchung 
jener  Stammeseinschlüsse  und  -ausschlüsse  berührt,  welche  in  neuerer  Zeit 
durch  Übersiedelung  entstanden  sind,  deren  Zugehörigkeit  zu  einem  be- 
stimmten Volkstum  also  genau  bekannt  ist.  Hier  ist  möglichst  der  ge- 
samte sachliche  Besitzstand  der  eingewanderten  Bevölkerung  im  ganzen 
Umfang  der  Sprachinsel  festzustellen  und  dann  sowohl  mit  dem  des  um- 
wohnenden Stammes  wie  mit  dem  in  der  alten  Heimat  der  Kolonisten 
o-enau  zu  vergleichen.  Wir  haben  dann  in  diesem  Falle  einmal  die  Ge- 
legenheit,  auf  ethnologische  Rückschlüsse  von  der  Sache  auf  das  Volkstum 
verzichten  zu  können  und  beide  Elemente  als  bekannte  miteinander  in 
Beziehung  zu  bringen.  Vielleicht  nimmt  sich  in  dieser  Hinsicht  die  Sach- 
forschung einmal  folgender  Bezirke  an:  die  1732  gegründeten  Kolonien 
der  Salzburger  Protestanten  in  Ostpreussen;  die  seit  zwei  Jahrhunderten 
bestehenden  V^aldenser  Kolonien  im  westlichen  Württemberg;  die  nieder- 
deutschen Kolonien  in  den  jütischen  Gebieten  Nordschleswigs. 

11.    Die  Bedeutung  der  deutschen  Sach-Geographie  für  die  deutschen 

Yolkskundemuseen. 

Die  Erforschung  der  sachlichen  Volkskunde  vom  geographischen  Stand- 
punkte aus  hat  für  alle  Volkskundemuseen  einen  doppelten  Wert,  nämlich 
einen  wissenschaftlichen  und  einen  praktischen.  In  rein  wissenschaft- 
licher Hinsicht  gibt  die  Sach-Geographie  erstens  räumliche  und  völkische 


V.  Preen:  Der  Oberinnviertier.  3S7 

und  damit  ursächliche  Zusammenhänge,  und  ferner  ein  übersichtliches  Bild 
des  Tatbestandes.  Beides  wird  durch  Landkarten  zum  bedeutend  schärferen 
Ausdruck  gebracht,  und  darin  beruht  der  ungeheure  wissenschaftliche  \Yert 
der  Landkarte. 

Die  praktische  Bedeutung  der  Sach-Geographie  für  die  Museen  liegt 
vorwiegend  in  zwei  Punkten;  denn  einmal  hängt  die  erschöpfende  Aus- 
wahl aller  typischen  Formen  für  die  museale  Vorführung  in  Modellen, 
Abbildungen  usw.  selbstverständlich  unmittelbar  von  dem  jeweiligen  Stande 
der  sach-geographischen  Forschung  ab;  andererseits  vermitteln  die  im 
Museum  ausgehängten  geographischen  Karten  ein  besseres  Verständnis  der 
Modelle  und  sind  auch,  für  sich  betrachtet,  höchst  anziehende  Studien- 
objekte für  den  Museumsbesucher. 

Hannover. 


Der  Oberinnviertler. 

Von  Hugo  V.  Preen. 

(Mit  7  Abbildungen^).) 

Dem  Besucher  der  Königlichen  Sammlung  für  deutsche  Volkskunde 
in  Berlin  dürfte  meine  Sammlung  aus  dem  oberen  Innviertel  nicht  un- 
bekannt sein.  Die  dort  aufgestellten  Gegenstände  stammen  fast  alle  aus 
einem  von  Salzach,  Inn  und  Kobernausener  Wald  eingeschlossenen  Stück 
Land,  im  Mittelalter  Mattiggau  genannt.  Ich  glaube  nicht  fehlgegriffen 
zu  haben,  wenn  ich  über  die  Charaktereigenschaften  der  aus  bajuwarischen 
Bewohnern  dieses  seit  über  hundert  Jahren  unter  österreichischer  Herr- 
schaft bestehenden,  vom  Weltgetriebe  entfernten  Landstriches  einiges  be- 
richte und  diese  Arbeit  als  erwünschte  Ergänzung  und  gleichsam  Illustration 
meiner  Sammlung  betrachte.  Es  handelt  sich  hier  um  ein  Völkchen,  das 
uns  schon  im  Mittelalter  durch  das  Epos  'Meier  Helmbrecht'  bekannt  ist. 
Die  älteste  Fassung  spielt  in  unserer  Gegend,  und  wer  sie  aufmerksam 
gelesen,  Land  und  Leute  sich  angesehen  hat,  muss  zugeben,  dass  dies 
Volk  noch  genau  dasselbe  ist  mit  seinen  guten  und  schlechten  Eigen- 
schaften, wie  es  in  dem  Gedicht  uns  geschildert  wird. 

Wenn  der  Leser  für  dies  Land,  seine  Bewohner,  seine  landschaftlichen 
Keize,  seine  kulturelle  und  geschichtliche  Vergangenheit  etwas  übrig  hat, 
tut  er  gut,  sich  Braunau  am  Inn  als  Ausgangspunkt  zu  seineu  Wande- 
rungen zu  wählen.     Um    nun  von  da    aus    das    einem   Garten    gleichende 

1)  Die  Abbildungen  1,  P»,  4,  G  und  7  nach  Gemälden  des  Verfassers,  2  und  5  nach 
Photographien. 

25* 


3gg  V.  Preen: 

Mattigtal  und  die  Gegend  lun  und  Salzach  aufwärts  bis  Burgliausen,  der 
ehemaligen  bayerischen  Herzogsresidenz,  zu  durchstreifen,  darf  man  nicht 
vor  den  schlechten  Verkehrswegen  zurückschrecken  und  sich  nicht  vor 
der  zum  Teil  sehr  mangelhaften  Verpflegung  an  manchen  Orten  fürchten. 
Braunau  am  Inn,  bekannt  durch  seine  gotische  Kirche  mit  herrlichem 
Turm  und  die  Erschiessung  des  Nürnberger  Buchhändlers  J.  Ph.  Palm 
1806,  ist  wie  gemacht  als  Ausgangspunkt  für  Ausflüge  verschiedener  Art. 
Besonders  für  Freunde  feinerer  Naturschönheiten,  der  Vorgeschichte  und 
Geschichte  sind  die  Spaziergänge  in  der  nächsten  Umgebung  sehr  emp- 
fehlenswert. Gleich  nach  Verlassen  des  alten  Festungsstädtchens  berühren 
wir  bei  meinem  Besitztum  Osternberg,  durch  seine  grosse  Esche  bekannt, 
prähistorischen  Boden.  An  Forellenweihern  entlang  gehend  erreicht  man 
bald  die  frühere  karolingische  Pfalz,  das  spätere  Augustiner-Stift  Kans- 
hofen,  dessen  Sehenswürdigkeiten  man  vor  2  oder  8  Stunden  nicht  leicht 
erledigen  kann.  Unweit  von  dieser  alten  Kulturstätte  nehmen  die  grossen 
Forste  Weilhart  und  Laach  ihren  Anfang,  die  uns  eine  Menge  Gräber 
aus  den  verschiedenen  Zeitabschnitten  und  andere  Denkmäler  aus  der 
vor-  und  nachrömischen  Zeit  bewahrt  haben.  Nicht  nur  die  Salzach-  und 
Inngegend,  sondern  auch  das  Mattigtal  brachte  uns  namhafte  Funde,  unter 
die  in  erster  Linie  der  Uttendorfer  Goldfund,  den  ich  1885  einem 
Hallstattzeitgrab  entnahm,  zu  rechnen  ist. 

Das  Land  steigt  ungefähr  3  Stunden  stufenförmig  an  bis  zu  dem 
schwachen  Höhenrücken  Adenberg,  der  den  Anfang  einer  bis  zu  den 
Salzburger  Vorbergen  sich  hinziehenden  Hügelreihe  macht  und  uns  einen 
umfassenden  Ausblick  gerade  auf  die  Gegend  gestattet,  von  der  in  diesem 
Aufsatz  die  Rede  sein  soll. 

Überall,  wohin  das  Auge  schweift,  sehen  wir  üppige  Felder,  darin  wie 
Oasen  stattliche,  von  Obstbäumen  eingeschlossene  Höfe,  ab  und  zu  alte 
Dorfkirchen  mit  ihren  teils  spitzen,  teils  zwiebeiförmigen  Türmen,  Gast- 
häuser, Kapellen,  alte  Linden,  kleine  Täler  mit  üppigen  Wiesen  und  alten 
Eichen,  alles  begrenzt  gegen  den  Horizont  mit  Wäldern  und  Höhenzügen 
der  Flussläufe  Salzach,  Inn  und  Mattig,  im  Süden  überragt  von  den 
markigen  Linien  der  Salzburger  Alpen.  Am  westlichen  Abhang  des 
Adenbergs  liegt  das  Kirchdorf  Gilgenberg  am  Beginne  einer  kleinen 
Schlucht.  Den  Platz  vor  der  freigelegenen  alten  Kirche  ziert  eine  alte 
Linde,  unter  der  in  alten  Zeiten  Recht  gesprochen  ward.  Unweit  davon 
gegen  Norden  im  sog.  Revier  Gilgenberg  hat  man  die  Helmbrechtshöfe 
und  den  dazugehörigen  im  Epos  genannten  Brunnen  zu  suchen.  Ober- 
lehrer M.  Schlickinger  gebührt  das  Verdienst,  die  Lage  der  Helmbrechts- 
höfe richtiggestellt  zu  haben.  Diese  Gegend  zog  mich  von  jeher  an, 
nicht  nur  die  Landschaft  mit  ihrem  romantischen  Hintergrund,  sondern 
auch  ihre  Bewohner,  deren  urwüchsiges  Wesen  auf  Maler  und  Volks- 
kundler   Eindruck    machten.      Diese    meine  Bestrebungen    fanden    reiche 


Der  Oberinnviertier.  389 

Unterstützuug  durch  den  Gasthofbesitzer  und  Feuerwehrobmann  J.  Hirsch- 
linger, dessen  Anregung  wir  es  auch  zu  verdanken  haben,  dass  im  Jahre 
1882  die  ersten  Ausgrabungen  hallstattzeitlicher  Gräber  am  Gansfuss  unter 
meiner  Leitung  unternommen  werden  konnten. 

Städte  und  Märkte  mit  ihren  Zerstreuungen  üben  eine  grosse  An- 
ziehungskraft auf  den  Landbewohner  aus,  und  es  sind  hauptsächlich  die 
Orte  Braunau,  Obernberg  am  Inn,  Altheim,  Mauerkirchen,  Mattighofen  und 
Ried,  die  der  Bauer  gerne  mit  seinem  Besuche  beehrt.  Salzburg  und 
Linz  gilt  hierzulande  schon  als  eine  Reise.  Diese  Orte,  so  verschieden 
sie  im  Bilde  auch  wirken,  sind  doch  in  ihrer  Gesamtanlage  dem  Muster 
Salzburgs  nachgebildet,  wo  welsche  Baumeister  stets  ihren  Einfluss  geltend 
gemacht  haben.  Der  Hauptplatz  der  Laudorte  gleicht  einer  breiten 
Strasse,  wo  die  Märkte  abgehalten  werden.  Vom  Platze  laufen  kleine 
Gassen  mit  ländlichen  Haustypen  aus,  die  jetzt  leider  immer  mehr  ver- 
schwinden. Die  Häuser,  teilweise  mit  Erkern  versehen,  sind  freundlich 
und  behaglich,  die  Fenster  mit  Blumen  geschmückt.  Zum  Hauptplatz 
gehört  die  Kirche  sowie  die  vielen,  in  verschiedenen  altertümlichen  Stil- 
arten gebauten  Gast-  und  Bräuhäuser,  Kaufgewölbe,  Brunnen  und  andere 
öffentliche  und  private  Gebäude.  Das  Schulgebäude,  das  noch  vor  hundert 
Jahren  in  den  meisten  Dörfern  und  Märkten  aus  einem  Holzhause  länd- 
lichen Stils  bestand,  steht  jetzt  häufig  ausserhalb  des  Ortes.  Seine 
nüchterne  Bauart  schlägt  den  heimatlichen  Bestrebungen  der  Neuzeit 
geradezu  ins  Gesicht  und  ist  mit  dem  Bahnhofsgebäude  und  Neubauten 
reich  gewordener  Bürger  auf  gleiche  Linie  zu  stellen. 

Wenn  ich  über  den  Charakter  des  Oberinnviertiers  hier  berichte, 
muss  ich  vorausschicken,  dass  ich  hauptsächlich  den  Bauernstand  im  Auge 
habe,  denn  gerade  bei  diesem  hat  sich  Art  und  Sprache  der  Vorzeit  am 
reinsten  bewahrt.  Der  Bauer  lebt  auf  seinem  stattlichen  Hofe  wie  ein 
König  in  seiner  Residenz.  Der  Hof,  meist  im  Viereck  gebaut,  besteht 
aus  vier  einzelnen  Gebäuden,  dem  Wohnhaus,  Pferdestall,  Kuhstall  und 
Scheune,  die  durch  hölzerne  Tore  abgeschlossen  sind.  Den  Hauptplatz 
im  Hofe  nimmt  der  Misthaufen  ein,  ein  beliebter  Sammelplatz  der  Hühner, 
Enten  und  Schweine.  Nicht  so  gut  wie  diese  hat  es  der  Hofhund,  der  in 
den  seltensten  Fällen  bei  Tag  seine  Freiheit  geniesst,  erst  am  Abend  nach 
Torschluss  wird  er  von  seiner  Kette  befreit.  Ausserhalb  des  Hofvierecks 
in  unmittelbarer  Nähe  steht  das  Austraghaus,  bestimmt  für  die  alten  in 
Ruhe  gesetzten  Hofbesitzer.  Auch  sehen  wir  häufig  das  Backhaus  ausser- 
halb und  hie  und  da  die  Hauskapelle,  wenn  sie  nicht  in  einer'Nische 
an  der  Aussenmauer  der  Stallung  angebracht  ist.  Vor  dem  Wohnhause 
am  rückwärtigen  Ausgang  unweit  des  Hausgärtchens  ist  die  grosse  Bank, 
der  Heimgarten  genannt,  der  Versammlungsort  der  Hausbewohner  und  der 
Nachbarn  nach  Feierabend.  Im  Winter  spielt  sich  in  der  Bauernstube 
das  ganze  häusliche  Leben  ab;  da  werden  am  grossen,  gediegenen  Bauern- 


390 


V.  Preen: 


tisch  unter  dem  Herrgottswinkel  die  Mahlzeiten  eingenommen,  die  Hand- 
arbeiten verrichtet,  die  Handwerker  schlagen  in  diesem  Raum  ihre  Werk- 
statt auf,    um  für  Geschirr,    Schuhe  und  Kleider    zu    sorgen,    und    abends 


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Abb.  1.    Mäimertracht.     Eigentum  des  Deutschen 
Schulvereins  in  Wien. 


Abb.  2.     Bäuerin  mit  Riegelhaube 
(Trauertracht). 


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▼    .M,itiiHth:il  und  l  rngebung  1850  • 


Abb.   3.      Mädchen   in      Kigentum  des  Deutschen  Abb.   4.      BurSchen-     l'^inentum  des  Deutschen 

Schulvereins  in  Wien.  ,  ,  Schulvereins  in  Wien. 

Xanztracht.  tracht. 

wird  geplauscht,  gespielt,  gesungen  und  manchmal  der  Jugend  Tanzstunde 
erteilt. 

Bei  meinen  häufigen  Wanderungen  ins  Innere  des  Bezirks  habe  ich 
noch  die  herrlichen  alten  Holzbauten,  die  aus  Fachwerk  gezimmerten 
Scheunen    mit    den    bemoosten    Strohdächern,    die    malerischen    Balkone, 


Der  Oberinnviertler.  391 

Schrot  genanut,  die  mit  ihren  gefälligen  Formen  die  Hofseite  der  Bauten 
schmückten,  gesehen  und  alles  Zierwerk  am  Gebäude  gezeichnet^). 

Damals  hatte  ich  noch  vielfach  Gelegenheit,  die  behaglichen  Stuben 
mit  der  altertümlichen  Ausstattung,  dem  grossen  Stubenofen  mit  der 
'Höll'  (warmer  Sitz  hinter  dem  Ofen  für  die  Alten)  zu  bewundern.  An 
diesen  schloss  sich  der  Herd  in  der  sogenannten  'Euchel'  an,  von  wo  aus 
auch  der  rückwärts  augebaute,  aus  einem  Lehmgewölbe  bestehende  Back- 
ofen geheizt  wurde.  Alles,  was  man  da  an  Geräten  aus  Eisen,  Kupfer, 
Holz  und  Ton  erblickte,  machte  den  Eindruck  grösster  Gediegenheit,  ge- 
paart mit  geschmackvoller  Formenge bung.  Ein  Blick  in  die  Vorrats- 
kammer zeigt  uns  den  Milchwirtschaftsbetrieb,  und  einer  in  die  schönen, 
bemalten  Kisten  und  Truhen  in  der  guten  Stube,  die  sich  im  oberen 
Stock  befindet,  den  Reichtum  an  selbstgesponnener  Leinewand,  Kleidungs- 
stücken der  Besitzer  und  Schmuck  der  Bäuerin.  Alles  war  auf  lange 
Dauer  berechnet,  die  schön  ausgenähte  lederne  Hose,  das  Prachtstück  des 
Grossvaters,  trug  der  Enkel  noch  werktags  viele  Jahre  hindurch,  und 
dasselbe  gilt  bei  den  weiblichen  Bewohnern  mit  ihren  Röcken,  von  denen 
die  Staatskleider,  der  seidene  Rock,  stets  ein  ganzes  Leben  aushalten 
mussten.  Jetzt  hat  der  Bauer  kein  Geld  und  wohl  auch  keine  Lust,  sich 
auf  lange  Dauer  mit  Kleidungsstücken  zu  versehen.  Auch  hier  ist  die 
Mode,  die  allmächtige,  wenn  auch  nur  dem  Bauerngeschmack  entsprechend, 
die  unbedingte  Herrscherin,  und  der  Bauer  bringt  es  nicht  über  sich,  hier 
gegen  den  Strom  zu  schwimmen.  Noch  in  meiner  Jugend  bestand  die 
Männertracht  aus  langem  Schossrock  mit  Silberknöpfeu,  langer  oder  kurzer 
Lederhose,  Sammetweste,  breitkrämpigem  schwarzen  Filzhut  mit  Quaste, 
silberner  Uhrkette  und  silberbeschlageuer  Pfeife  und  dem  langen  Eichen- 
stock (Abb.  1).  An  Sonn-  und  Feiertagen  beim  Kirchgang  versammelte 
sich  alt  und  jung  auf  dem  die  Kirche  umgebenden,  von  einer  Mauer 
eingefriedeten  Gottesacker,  die  Bäuerinnen  (Abb.  2)  angetan  mit  der  Pelz- 
haube, Ohrelhaube  genannt,  darunter  das  schwarze,  seidene  Kopftuch,  wie 
es  jetzt  noch  getragen  wird,  häufig  auch  mit  der  sogenannten  Linzer 
Goldhaube,  die  den  Trägerinnen  ein  stattliches  Aussehen  gab  und  prächtig 
zu  den  schillernden  Seidenkleidern  passte.  Die  Dirndeln,  denen  das 
lange,  schwarzseidene  Kopftuch  weit  über  ihre  bunten  Kleider  reichte 
(Abb.  3),  standen,  die  Hände  über  das  Gebetbuch  und  Taschentuch  ge- 
faltet, beiseite,  hie  und  da  Blicke  zu  den  in  Gruppen  geordneten  Burschen 
werfend.  Die  männliche  Jugend  in  Lederhosen,  Rohistiefeln,  kurzen 
grellfarbenen  Jankern,  bunter  Weste  und  kleinem,  kecksitzendem  Filzhut, 
langem  Raufstecken,  Nelken  hinter  dem  Ohr  (Abb.  4),  erwiderte  die 
Zeichensprache  der  ländlichen  Schönen. 


1)  140  Nummern  Bauernhausverzierungen  besitzt  von  mir  die  Sammlung  des  Vereins 
Alt-Braunau. 


392 


V.  Preen: 


Wenn  wir  über  den  Menschenschlag  etwas  sagen  sollen,  so  ist  das 
nicht  so  einfach,  als  man  am  Anfang  glauben  mag.  Wir  finden  hier 
grosse  blonde,  blauäugige  Gestalten  mit  kräftigen,  zum  Teil  gebogenen 
Nasen,  und  daneben  wieder  gedrungene,  dunkle  Leute  mit  braunen  Augen 
und  kleinen  Nasen  (Abb.  5  —  7).  Von  einem  durchgängig  schönen  Menschen- 


Abb.  5.     Tj'pus  eines  Mannes  in  mittleren  Jahren. 


Abb.  6.    Älterer  Bauer. 


Abb.  7.    Ältere  Bäuerin. 


schlag  dürfen  wnr  nicht  reden,  was  natürlich  nicht  ausschliesst,  dass 
wirklich  schöne  und  feine  Gesichter  nicht  selten  zu  finden  sind.  Vor- 
herrschend stossen  wir  auf  sogenannte  Langgesichter  bei  mesokephaler 
Schädelform. 

In  den  zu  den  Flussläufen  gehörenden  Gebieten  ist  der  schotterige 
Boden  vorherrschend,  in  den  höhergelegenen  stark  lehmig,  und  schwere 
Böden  treten  an  Stelle  der  sterilen  des  Flachlandes.    In  den  Tälern  finden 


Der  Oberinnviertler.  39,^ 

wir  dank  einigermassen  guter  Pflege  die  fruchtbarsten  Wiesen.  Das. 
Klima  weicht  von  dem  in  dem  Gebirgsvorland  nicht  ab;  Fröste  im  Mai 
und  im  Spätherbst  sind  unbeliebte  Gäste.  Die  Kälte  erreicht  selten 
18°  E.,  und  der  Schnee  bedeckt  kaum  zwei  Monate  lang  die  Erde.  An 
Fruchtgattungen  gedeihen  gut:  Roggen,  Weizen,  Hafer,  Gerste,  Flachs 
und  Buchweizen,  der  aber  selten  mehr  gebaut  wird.  Von  Mischfrucht 
nennen  wir  Kartoffel,  Kraut  und  Rüben.  Die  Obstzucht  ist  im  Verhältnis 
zu  anderen  Ländern  zurück,  die  Äpfel  und  Birnen  werden  zu  Most  und 
Dörrobst  im  Haus  verarbeitet,  der  Rest  an  den  Händler  verkauft. 

Die  grossen  Waldkomplexe  Weilhart,  Laach  und  Kobernausserforst 
sind  mit  geringen  Ausnahmen  in  Privathänden,  nur  einzelne  Bauern  be- 
sitzen Stücke  in  diesen  Wäldern,  die  durch  Ablösung  der  Forstrechte 
ihnen  zugesprochen  wurden,  oder  bei  Verkauf  der  ärarischeu  Wälder  in 
ihre  Hände  kamen.  Die  Jagden  sind  in  erster  Linie  den  Grossgrund- 
besitzern eigen,  dann  den  Gemeinden,  welch  letztere  sie  an  grössere 
Jagdherren  verpachten  oder  auch  an  jagdlustige  Bauern  oder  Private. 

Vorherrschend  ist  die  Rindviehzucht,  die  trotz  mangelhafter  staat- 
licher Hilfe  gedeiht,  aber  noch  ganz  anders  betrieben  werden  könnte. 
Ausserdem  finden  wir  Pferdezucht  und  Schweine,  vereinzelt  Schafe;  auch 
Bienen  gehören  wie  das  Kleinvieh  zu  jeder  Hauswirtschaft.  Was  die 
Fischzucht  anbelangt,  so  unterscheiden  wir  die  Fluss-,  Bach-  und 
Weiherfische.  Die  Flüsse  mit  den  Altwässern  liefern  Hechte,  Huchen, 
Aschen,  Schleie,  Barben  usw  ,  die  Weiher  und  Bäche  schöne  Forellen,  die 
in  den  herrlichen  Wässern  prächtig  gedeihen. 

Am  häufigsten  treffen  wir  die  Brauereien,  Ziegeleien,  Mühlen, 
Schmieden  (im  Mattigtal  alte  Sensengewerke),  Ledereien,  Maschinen- 
reparaturwerke,  Torfstiche  usw.  An  grossen  Industrien  ist  gerade  unsere 
Gegend  recht  arm,  dieser  Mangel  aber  bewahrt  den  Bewohnern  ihre 
Eigenart  und  stört  sie  nicht  in  dem  Bewusstsein,  die  Herren  im  Lande 
zu  sein. 

Der  Besitz  wird  in  verschiedene  Grössenklassen  geteilt.  Die  Schlösser 
verfügen  über  ein  durchschnittliches  Flächenmass  von  200  —  400  ha,  die 
Brauereien  und  Grutsbesitze  50 — 100  ha,  Bauernhöfe  20 — 40  ha,  Sölden 
2 — 3  ha  und  Häuseln  Y2  ^^-  ^™  häufigsten  ist  der  sogenannte  mittlere 
Bauer  vertreten,  der  über  15  — 20  Äa  verfügt. 

Um  nicht  weitschweifig  zu  werden,  gebe  ich  hier  nur  kurz  das  wich- 
tigste geschichtliche  Material,  das  ich  zur  Charakteristik  der  Bewohner 
für  notwendig  halte: 

Die  ersten  Bewohner  der  Gegend  vom  4.  Jahrhundert  an  gehörten  zum 
norischen  Volksstamm,  der  bis  heute  noch  zum  Keltenbereich  gerechnet  wird. 
Im  Jahre  15  v.  Chr.  fielen  Norikum  und  damit  auch  die  Gebiete  der  Salzach,  des 
Inns,  der  Mattig  und  der  Ache  an  die  Römer.  Durch  nahezu  500  Jahre  haben  sie 
das  Land    zwischen  Inn   und  Donau    beherrscht,    Städte    und  Kolonien    gegründet 


394 


V.  Preen: 


und  das  Volk  für  römische  Sitte  und  Kultur  gewonnen.  Von  454  an  erscheint 
der  hl.  Severin,  und  es  beginnt  unter  dem  hl.  Valentin  von  Passau  aus  und  unter 
dem  hl.  Rupert  von  Salzburg  aus  die  Christianisierung  eines  Teiles  unserer 
Gegend.  Nach  49ü  erfolgen  die  Einfälle  der  Alemannen,  Thüringer  und  Heruler. 
Um  488  verlassen  die  Römer  das  Land  und  überlassen  es  490  den  Ostgoten. 
Nach  Theoderichs  Tode  nehmen  die  Bajuvaren  das  von  letzteren  verlassene  Land 
in  Besitz.  Im  Jahre  74o  bekriegen  Karlmann  und  Pipin  den  Herzog  Odilo  und 
bemächtigen  sich  des  Landes.  Zwei  Jahre  später  wird  Odilos  Sohn  Tassilo  von 
König  Karl  entthront.  Nach  den  Kämpfen  mit  den  Ungarn  erstand  das  Herzogtum 
Bayern  wieder,  und  nun  begann  mit  der  Wiederkehr  der  Ruhe  kulturelles  Leben. 
Zu  gleicher  Zeit  nahmen  auch  die  sogenannten  Landadligen  zu,  die,  ursprünglich 
freie  Bauern,  dann  fürstliche  Dienstmannen  wurden.  Durch  Verleihung  der 
Gerichtsbarkeit  an  privilegierte  Herren  und  die  Abnahme  der  Zahl  der  Freien 
verfiel  die  alte  Gauverfassung  und  es  bildeten  sich  Komitate,  die  nachmaligen 
Landgerichte  (1002).  —  Die  Zeit  der  Reformation  ging  nicht  gerade  spurlos  an 
dem  Lande  vorüber,  hinterliess  jedoch  keine  wesentlichen  Eindrücke  im  Volke. 
Während  in  den  Gegenden  um  Wels  und  an  der  Donau  die  Folgen  des  Bauern- 
aufstandes für  Jahrhunderte  eine  blühende  Kultur  vernichteten,  blieb  in  unserem 
Viertel  so  ziemlich  alles  beim  alten.  Da  nur  wenige  der  Ketzerei  wegen  aus- 
wandern mussten,  war  man  hier  nicht  genötigt,  wie  im  benachbarten  Herzogtum 
Österreich  ob  der  Enns,  Schwaben  und  Oberpfälzer  in  den  verödeten  Landstrecken 
anzusiedeln.  Die  Bevölkerung  blieb  daher  bayrisch,  obwohl  eine  Mischung  von 
grossem  Vorteil  für  sie  gewesen  wäre.  Im  Jahre  1779  trat  Bayern  das  obere 
Innviertel  an  Österreich  ab.  Leider  hatten  die  unter  dem  ideal  angelegten  Kaiser 
Josef  eingeführten  freiheitlichen  Einrichtungen  keine  lange  Dauer.  Erst  1848 
wurden  durch  die  Aufhebung  der  Untertänigkeitsverhältnisse  und  der  Patrimonial- 
gerichtsbarkeit halbwegs  bessere  Verhältnisse  geschaffen.  Im  Jahre  1853  begann 
die  Ablösung  der  Forstrechte,  die  1857  beendet  ward. 

Ehe  ich  den  Hauptteil  meiner  Abhandlung  beginne,  führe  ich 
J.  Wimmer  an,  dessen  Worte  auch  auf  den  Innviertler  Anwenduug  finden^): 
„Das  Abgeschlossensein  in  Einöden  verursachte  im  Laufe  der  Zeiten  den  Ein- 
druck des  Zurückhaltens  —  Versteckten  —  Heimlichen,  welches  sich  erst 
dann  ändert,  wenn  der  Gegenstand  des  Verkehrs  ein  etwas  bestimmterer 
geworden  ist.  Gerade  in  diesem  Abgesonderten  müssen  wir  den  Haupt- 
grund seiner  Charaktereigenschaften  sehen,  die  ihn  von  anderen  unter- 
scheiden." Ehe  ich  ferner  auf  unseren  Bauern  näher  eingehe,  möchte  ich 
noch  ein  Urteil  eines  Mannes  erwähnen,  der  am  Anfang  des  19.  Jahr- 
hunderts in  Niederbayern  lebte ''^),  einem  Volksstamm,  zu  dem  auch  unsere 
Leute  gehören.  Wenn  auch  stark  pessimistisch  gesehen,  mag  doch  im 
grossen  und  ganzen  das  Urteil  für  die  damalige  Zeit  Geltung  gehabt 
haben,  und  wir  sehen  daraus,  dass  sich  im  Laufe  der  Zeit  der  Charakter 
wesentlich  bessern  konnte.  Er  gibt  als  Charakterfehler  an:  „Furchtsam- 
keit,   Misstrauen,    Falschheit,    Ungeselligkeit,    abstossendes  Wesen,    Stolz, 


1)  J.  Wimmer,    Die    sozialen    und    volkswirtschaftlichen    Zustände    im    Landgericht 
Eggenfelden,  Niederbayern,  1862. 

2)  Töni-Herbertsfelden  über  die  Rottaler  in  Niederbayern. 


Der  Oberinnviertler.  395 

Prachtliebe,  Wollust,  Religiosität  im  Äiisserlichen  ohne  festen  Glauben 
und  ohne  Tugend,  denen  nur  die  folgenden  guten  Eigenschaften  gegen- 
überstanden: Treue,  Willigkeit,  Friedfertigkeit  und  Dienstgefälligkeit. 
Heutzutage  bestätigen  manche  Ausnahmen  doch  die  Regel  des  besseren 
Gegenteils."  Seine  guten  Eigenschaften  sind  ja  dieselben  seiner  Stammes- 
brüder, der  Germanen,  die  sich  durch  Ehrlichkeit,  Pflichterfüllung,  Recht- 
lichkeit usw.  weit  über  die  anderen  Nationen  erheben. 

Zum  Teil  noch  Nachkommen  der  freieigenen  Leute,  sitzen  die  jetzigen 
Hofbesitzer  wie  Zaunkönige  auf  ihrem  Eigentum,  nach  wie  vor  strenge 
Hausordnung  haltend.  Die  rohen  Sitten  vergangener  Jahrhunderte  und 
die  ungleiche  Rechtsbehandlung  früherer  Zeiten  haben  zum  grossen  Teil 
aufgehört,  die  alles  glättende  Neuzeit  hat  auch  hier  bis  in  die  kleinste 
Hütte  ihren  Einfluss  geltend  gemacht.  Das  Verhältnis  zwischen  Brotherrn 
und  Dienendem  ist  ein  anderes  geworden,  ohne  aber  die  alte  äussere  Form 
eingebüsst  zu  haben.  Der  Bauer  behandelt  seine  Dienstboten  wie  Ge- 
hilfen. 31it  dem  'Drangeid'  v(,^ird  der  Dienstvertrag  besiegelt,  den  beide 
Teile  zu  halten  für  recht  finden.  Die  Bauersleute  sorgen,  so  gut  es  ihnen 
möglich  ist,  für  ihre  Ehalten  (Dienstboten).  Den  Befehl  führt  der  Mann, 
wenigstens  nominell,  w^ährend  der  Frau  in  der  Hauswirtschaft  die  w^eib- 
lichen  Mitbewohner  zu  folgen  haben.  Die  Kinder  stehen  nach  Yerlassen 
der  Schule,  insofern  sie  auf  dem  Hofe  beschäftigt  werden,  im  richtigen 
Dienstverhältnis;  nur  da,  wo  der  Bauer  und  die  Bäuerin  sich  sehen  lassen, 
nehmen  die  Kinder  den  Platz  bei  der  Familie  ein.  Die  Wohltätigkeit 
spielt  eine  grosse  Rolle,  und  es  werden  oft  grosse  Anforderungen  an  den 
Besitzer  von  Grund  und  Boden  gestellt,  die  er  auch  ohne  Murren  erfüllt, 
f^s  ist  für  manchen  ein  Glück,  dass  er  nicht  jeden  Kreuzer  notiert,  den 
er  für  Bettelsammlungen  für  Abgebrannte,  kirchliche  Zwecke  und  was 
noch  alles  an  ihn  herantritt,  ausgibt,  es  würden  ihm,  wenn  er  die  Ge- 
meinde-, Staats-  und  Landabgaben  dazurechnet,  die  Haare  zu  Berge  stehen. 

Unglücksfälle  verschiedener  Art,  wie  es  das  Geschäft  mit  sich  bringt, 
können  die  Leute  nicht  niederdrücken,  sie  sind  es  gewohnt  und  helfen 
sich  mit  Humor  darüber  hinweg.  Sehr  empfindlich  trifft  sie  der  Verlust 
irgendwelcher  Tiere,  und  man  möchte  behaupten,  fast  mehr  als  das  Ab- 
leben der  Bäuerin,  wenigstens  wird  dies  durch  folgenden  boshaften  Aus- 
spruch gekennzeichnet:  „Ross  verrecken,  das  gibt  Schrecken,  Weiber- 
sterben kein  Verderben."  So  ernst  darf  man  das  aber  nicht  nehmen; 
wenn  der  Bauer  auch  bald  nacli  dem  Tode  seiner  Frau  wieder  an  Ersatz 
denkt,  so  trauert  er  doch  seiner  Bäuerin  nach  und  weiss  ihre  guten  Eigen- 
schaften hervorzuheben. 

Roheit  Tieren  gegenüber  findet  man  selten,  wie  das  bei  den  süd- 
liclien  Völkern,  besonders  bei  den  Welschen  der  Fall  ist;  sieht  man  aber 
trotzdem    beim  Viehtrieb    derartige    Dinge,    so    sind    sie    meist    von    den 


396  V-  P^een: 

städtischeil  Metzgerkuechten  ausgeübt  worden.  —  Die  bäuerliche  Familie 
hat  in  ihren  Grundzügen  viel  Ähnlichkeit  mit  der  fürstlichen,  beide  hei- 
raten aus  iS^ützlichkeitsgründen,  selten  aus  Neigung.  Der  Bauer,  der  auf 
Festigung,  Vermehrung  des  Besitzes  und  auf  Einfluss  sieht,  sucht  sich 
sein  Ehegespons  aus  den  Reihen  seinesgleichen,  übersieht  dabei  aber 
keineswegs  die  wirtschaftlichen  Eigenschaften.  Das  Sprichwort,  nach  dem 
der  Bauer  freit,  heisst:  „Was  hat  sie,  was  kann  sie?"  Gar  nicht  selten 
sind  solche  Ehen,  die,  aus  Vernunft  geschlossen,  sehr  glückliche  geworden. 

Für  den  Bauern  ist  sein  Besitz,  die  stattliche  Hofstatt,  das  Höchste, 
um  das  sich  alles  dreht,  und  auf  einen  schönen  'Zügl',  d.  h.  Viehstand, 
Wagl  und  Ross,  blank  und  blitzend  aufgeputzt,  setzt  er  seinen  Stolz  und 
protzt  überall  damit. 

Hat  der  Bauer  voreheliche  Kinder,  so  wird  das  nicht  als  Schande 
empfunden,  er  sorgt  für  diese  und  nimmt  sie  des  öftern  auch  an  Kindes- 
statt an.  Die  nicht  erbberechtigten  Geschwister  des  Bauern  dienen  an 
anderen  Orten  oder  erwerben  sich  ein  kleines  Grundstück  mit  Haus,  um 
selbständig  dazustehen;  nur  ungern  verlassen  sie  die  Heimat,  weil  sie  sich 
nirgend  wohler  als  zu  Hause  fühlen. 

Die  Nahrung  der  Bewohner  kann  man  nicht  gerade  schlecht  nennen, 
sie  ist  auch  nicht  besonders  üppig.  Der  Hauptwert  wird  auf  Fett  gelegt, 
und  zwar  auf  gutes  Fett,  auch  sieht  man  darauf,  dass  es  an  der  Menge 
der  einzelnen  Gerichte  nicht  fehlt.  Am  Morgen  um  6  Uhr  gibt  es  ein- 
gekochte Suppen,  das  Mittagessen  um  11  Uhr  besteht  aus  Speck  oder 
Fleischknödeln  in  der  Suppe,  dazu  kommt  Sauerkraut,  als  Getränk  Most. 
Um  3  Uhr,  die  sogenannte  Brotzeit,  je  nach  der  Jahreszeit,  Brot  mit 
Rettichen,  Salat,  Rahnen,  Topfenkäse  und  Most  dazu.  Abends  um  6  Uhr 
liebt  mau  sehr  im  Rohr  gebackene  Nudeln,  'Buchteln',  mit  Milch  oder 
Dörrobst,  auch  an  manchen  Orten  Kartoffeln,  die  überhaupt  eine  Haupt- 
nahrung bilden.  Zu  allen  Gerichten  liegt  das  schwarze,  gute,  stark  ge- 
säuerte Bauernbrot  auf  dem  Tisch.  An  Sonn-  und  Feiertagen  spielt  die 
Kaffeesuppe  mit  viel  Frankkaffee  zum  Frühstück  eine  Hauptrolle,  während 
mittags  Braten  oder  Geräuchertes  und  Gebackenes,  die  landesüblichen 
Kücheln,  auf  den  Tisch  kommen.  An  den  sogenannten  Heiligen  Zeiten 
schwelgt  die  Bevölkerung  in  den  verschiedenen  Arten  von  Schmalz- 
gebackenem, bestehend  aus  Hollerstrauben,  Brennesselstrauben,  Hirn- 
bafösen,  Griessschnitten  usw.,  zudem  erhalten  sie  Bier,  welches  ihnen  auch 
beim  Heuen,  Ernten  und  Dreschen  gewährt  wird. 

Zum  Schluss  noch  einiges  über  die  Sitzordnung  der  Hausbewohner 
bei  den  gemeinsamen  Mahlzeiten.  Den  äussersten  Platz  am  Tisch,  vom 
Herrgottswinkel  aus  nach  rechts,  nimmt  der  Bauer  ein,  links  an  ihn,  zum 
Herrgottswinkel  zu,  reihen  sich  die  Knechte  an,  und  links  auf  der  einen 
freien  Bank  die  Mägde,  von  denen  eine  so  sitzt,  dass  sie  leicht,  ohne  jemand 
zu    belästigen,    ihren   Sitz    verlassen    kann,    um    die  Speisen    aufzutragen. 


Der  Oberinnviertler.  397 

Am  Herd  hantiert  die  Bäuerin,  sie  isst  nur  in  den  seltensten  Fällen  mit 
am  Tisch,  weil  sie  am  Ofen  zu  schaffen  hat,  und  verzehrt  ihr  Mahl  auf 
der  Ofenbank.  Erhält  der  Bauer  Besuch,  so  bekommt  dieser  das,  was 
gerade  im  Hause  ist,  aufgetragen,  wobei  Most  oder  Flaschenbier  nicht 
fehlen  dürfen.  Die  Bauersleute  sitzen  abseits  und  warten  darauf,  dass  sie 
der  Gast  einlädt  mitzuhalten.  Wenn  ein  Gast,  sei  er  wer  er  sei,  das  an- 
gebotene Essen  ablehnt,  so  gilt  das  als  Beleidigung. 

Was  über  Kindererziehung  zu  sagen  ist,  besonders  über  die  Be- 
handlung der  Säuglinge,  gehört  nicht  zu  dem  Erfreulichen;  denn  hier  ist 
^iie  sogenannte  Gute  alte  Zeit  mit  all  ihrem  schädlichen  Aberglauben  und 
ihrer  Unwissenheit  noch  in  ihrem  Recht.  Nur  selten  glückt  es  dem 
menschenfreundlichen  Arzt,  eine  vernünftige  Art  der  Kinderbehandlung 
durchzuführen.  Ist  ein  Kind  von  Natur  nicht  aussergewöhnlich  kräftig 
veranlagt,  so  erliegt  es  der  törichten  Behandlungsweise.  Die  Gevatterin 
tröstet  dann  die  Mutter  mit  den  Worten:  „Es  hat  es  jetzt  gut.  es  ist  ein 
Engerl  geworden".  Schon  sehr  früh  sehen  die  Eltern  darauf,  dass  die 
Kinder  in  der  Hauswirtschaft  sich  beschäftigen,  sie  wachsen  frisch  auf 
und  werden  nicht  wie  die  Stadtkinder  der  Reichen  unter  einen  Glassturz 
gestellt,  sie  lernen  sich  in  jeder  Lage  richtig  benehmen  und  schützen  sich 
selbst  vor  Gefahr.  Dann  wird  die  Volksschule  im  Dorfe  besucht,  die 
heutzutage  viel  leistet,  aber  von  den  Eltern  nicht,  wie  sie  es  verdient, 
geschätzt  wird.  Der  Lehrer,  dem  durch  die  übermenschenfreundlichen 
Vorschriften  die  Hände  gebunden  sind,  hat  mit  den  unbotmässigen 
Schülern,  denen  das  Lernen  und  Folgen  im  Gegensatz  zu  dem  freien 
Leben  auf  dem  Hofe  nur  zu  schwer  fällt,  oft  seine  liebe  Not.  Mit  den 
Dirndeln  ist  der  Lehrer  viel  zufriedener,  sie  fassen  schneller  auf,  lernen 
schneller  als  die  Burschen,  und  er  braucht  nicht  so  viel  von  den  Eltern 
Versäumtes  nachzuholen.  Über  die  Wahl  des  Berufes  wird  nicht  viel 
nachgedacht,  der  Älteste  übernimmt  nach  der  Übergabe  den  Hof,  und  die 
anderen  Geschwister  treten  entweder  zu  Hause  oder  sonstwo  in  den  Dienst. 
Ist  einer  vom  Geistlichen  ausersehen,  wogen  seines  'guten  Kopfs"  zu 
studieren,  so  hat  die  Ffimilie  nichts  dagegen,  wenn  er  'geistlich  wird', 
•denn  es  bringt  ja  immerhin  den  Eltern  Ehre  und  Ansehen.  Besonders 
lieb  ist  es  der  Mutter,  die  in  ihrem  geistlichen  Herrn  Sohn  einen  Für- 
sprecher im  Himmel  hat. 

Auf  Familienfeste  wird  viel  gehalten,  als  da  sind  Taufen,  Firmung, 
Hochzeiten,  Primizen  und  zu  guter  Letzt  auch  die  Beerdigungen.  Der  prak- 
tische Egoismus  der  Bauern  hat  sich  auch  diese,  Taufe,  Kommunion  und 
Firmung  zunutze  gemacht,  indem  er  streng  darauf  sieht,  dass  zu  Paten 
nur  vermögende  und  einflussreiche  Persönlichkeiten  gewählt  werden.  Bei 
Hochzeiten  entfaltet  sich  der  ganze  Stolz  der  Bauernfamilie,  und  hier  wie 
auch  bei  den  Beerdigungen  wird  auf  grossen  Zuspruch  gesehen,  da  hier- 
nach das  Ansehen  der  Familie  in    der  Öffentlichkeit  beurteilt  wird.     Be- 


398  V.  Preen: 

sonders  bei  Beerdigungen  lässt  sich  der  Bauer  durch  seinesgleichen  nicht 
gerne  in  den  Schatten  stellen  und  ist  sehr  unangenehm  berührt,  wenn 
die  Kosten  geringer  gestellt  werden,  als  bei  den  anderen  Bauern  mit 
gleichem  Besitz.  Sein  Standesbewusstsein  zeigt  sich  also  hier  auch  wieder 
in  protziger  Art. 

Naht  bei  den  Alten  der  Zeitpunkt  des  Abtretens  vom  Hof,  so  be- 
merkt das  der  erbberechtigte  Sohn  schon  früher,  als  es  den  Alten  lieb  ist^ 
denn  nur  ungern  geben  sie  die  Zügel  der  Regierung  ans  den  Händen. 
Tritt  aber  der  Fall  ein,  so  sorgt  schon  das  ruhebedürftige  Ehepaar,  ehe 
es  das  'Zuhaus'  oder  eine  im  benachbarten  Markt  gemietete  Wohnung 
bezieht,  für  einen  reichlichen  'Austrag',  den  der  Nachfolger  zu  leisten 
hat.  Der  Bauer  denkt  in  diesen  heiklen  Angelegenheiten  seinen  Kindern 
gegenüber  sehr  praktisch,  fast  egoistisch,  und  es  ist  nicht  zu  verwundern^ 
wenn  sich  beim  Ableben  der  Eltern  in  den  Leidenskelch  der  Trauer  auch 
etwas  Freude  mischt. 

Die  Arbeit  bei  uns  hat  ein  wesentlich  anderes  Gesicht  als  bei 
manchen  anderen  deutschen  Stämmen.  Hier  spielt  die  körperliche  Arbeit 
eine  grössere  Rolle  als  die  geistige,  es  liegt  dies  zum  Teil  auch  in  der 
Beschaffenheit  des  ländlichen  Betriebs.  Der  Bauer  wäre  sehr  geneigt,  in 
dem  Trott  weiterzumachen,  den  seine  Vorfahren  angeschlagen,  w^enn  nicht 
der  'verdammte  Fortschritt'  wäre,  der  ihn  am  Ende  doch  zwingt  mitzu- 
tun, denn  so  dumm  ist  der  Bauer  nicht,  einen  Vorteil,  den  neue  Er- 
rungenschaften bringen,  zu  verkennen  und  nicht  bei  sich  einzuführen. 
Hier  gilt  auch  wieder  der  Spruch:  „Wenn  der  Bauer  nicht  muss,  rührt  er 
weder  Hand  noch  Fuss."  Seine  Taglöhner  und  Bediensteten  sind  fleissig 
und  sehen  im  allgemeinen  auf  die  Förderung  der  Hauswirtschaft,  sie  freuen 
sich  mit  ihm  auf  das  glückliche  Einbringen  der  Ernten  und  trauern  mit 
ihm  bei  Misswachs  und  anderen  Unglücksfällen.  Die  geistige  Schwer- 
fälligkeit und  das  Sichgehenlassen  bringt  es  aber  mit  sich,  dass  der  Herr 
nicht  nur  für  sich,  sondern  auch  für  die  Dienenden  denken  muss.  Wenn 
der  Bauer  seine  Befehle  gegeben,  kann  er  sicher  sein,  dass  sie  pünktlich 
ausgeführt  werden  und  braucht  nicht  wie  ein  Sklavenhalter  hinter  ihnen 
mit  der  Knute  zu  stehen.  Für  ein  ernstes  Wort  oder  eine  Rüge  ist  der 
Dienende  empfänglich,  das  ewige  Schimpfen,  Poltern  oder  gar  spöttische 
Behandlung  verträgt  er  nicht,  ein  Verweis  in  Scherzesform  tut  öfter 
Wunder.  Trotz  dieser  guten  Eigenschaften  ist  unser  Landvolk  kein  Ar- 
beitervolk im  wahren  Sinne  des  Worts,  wie  Slawen  und  Welsche.  Feinde 
der  intensiven  Bewirtschaftung  der  Güter  sind  die  vielen  Feiertage  und 
was  in  ihrem  Gefolge  ist;  von  diesen  haben  nur  die  Gastwirtschaften  einen 
Nutzen,  wohin  die  Leute  ihr  Geld  tragen,  statt  es  auf  Zinsen  anzulegen. 
Ein  Ökonom,  der  von  anderen  Gegenden  her  intensiven  Wirtschaftsbetrieb 
gewöhnt  ist,  wird  noch  nicht  in  der  Lage  sein,  mit  den  hiesigen  Kräften 
Erspriessliches  zu  leisten. 


Der  Oberinnviertier.  399 

Im  Handel  ist  der  Bauer  zum  grossen  Teil  sehr  vorsichtig,  ja  fast 
ängstlich,  denn  er  weiss  genau,  dass  der,  welcher  den  Schaden  hat,  für 
den  Spott  nicht  zu  sorgen  braucht.  Dagegen  lacht  er  sich  aber  auch  ins 
Fäustchen,  wenn  er  einem  als  überschlau  geltenden  Händler  ein  Schnipp- 
chen geschlagen  und  sich  dessen  im  Wirtshause  rühmen  darf.  Im  allge- 
meinen ist  er  ehrlich,  der  Handschlag  oder  das  Drangeid,  mit  welchem 
er  den  Kauf  g,bschliesst,  ist  für  ihn  bindend.  Ein  sehr  schöner  Zug,  zu- 
gleich ein  echt  deutscher,  im  Charakter  des  Bauern  ist  das  Festhalten  am 
gegebenen  Wort.  Hat  er  einen  anständigen  Abnehmer  seiner  Erzeugnisse, 
so  kann  dieser  sicher  sein,  dass  ihm  niemand,  auch  wenn  er  mehr  bieten 
würde,  zuvorkommt.  Man  hält  auch  ganz  nach  altem  Brauch  viel  auf 
Gegenseitigkeit.  Der  Bauer  lässt  sich  nur  etwas  schenken,  wenn  er  in 
der  Lage  ist,  sich  in  gleicher  Weise  erkenntlich  zu  zeigen.  Im  Handel 
gilt  dasselbe  ungeschriebene  Gesetz  der  Gegenseitigkeit,  das  strenge  ge- 
handhabt wird.  In  den  Städten  und  Märkten  tritt  die  Gegenseitigkeit  in 
übertriebenem  Masse  in  die  Erscheinung  unter  dem  Titel  'Kundentrinken', 
das  vielfach  jetzt  lästig  empfunden  wird.  Die  Wirte  und  Bräuer,  zu  den 
angesehenen  Leuten  gehörig,  spielen  auf  dem  Lande  eine  grosse  Rolle. 
Im  Wirtshause  wird  der  Handel  geschlossen  und  der  Wirt,  häufig  auch 
Bräuer,  mit  seiner  grossen  Personal-  und  Sachkenntnis,  tritt  als  Vermittler 
auf.  Da  die  Wirte  auf  den  Besuch  der  Bevölkerung  angewiesen  sind, 
gehören  sie  keiner  der  politischen  Parteien  an,  sie  denken  für  sich  meist 
freiheitlich,  machen  aber  im  öffentlichen  Leben  keinen  Gebrauch  davon. 
Sie  kennen  fast  alle  Besucher  der  Gegend,  besonders  die  Stänkerer,  und 
mit  sicherem  Takt  wissen  sie  Konflikte  zu  verhüten  oder  die  Streitenden 
auf  neutrales  Gebiet  zu  verweisen.  Sie  haben  nicht  nur  der  Jugend, 
sondern  auch  manchmal  den  ernsthaften  Männern,  die  bei  starkem  Bier- 
genuss  handgemein  zu  werden  drohen,  zu  wehren.  Derartige  Feindselig- 
keiten werden  von  der  Bevölkerung  nie  ernst  genommen,  werden  bald 
ausgeglichen,  und  die  Streitenden  sind  nach  der  Mensur  wieder  die  besten 
Freunde.  Das  Nichtnachtragen  ist  überhaupt  eine  gute  Eigenschaft,  selbst 
dem  Wirte  nimmt  der  einmal  von  ihm  an  die  Luft  Gesetzte  diese  Tat 
nicht  übel.  Den  Müllern  und  Bäckern  wird  eine  eigene  Moral  zuge- 
schrieben, von  der  oft  scherzweise  im  Gasthaus  in  Anwesenheit  der  oben- 
genannten die  Rede  ist,  es  kommt  aber  nie  vor,  dass  man  diese  Vertreter 
eines  einträglichen  Berufes,  vor  100  Jahren  'unehrliche  Leute'  genannt, 
für  wahrhafte  Spitzbuben  hält. 

Den  Behörden  gegenüber  ist  der  Bauer  misstrauisch,  eine  Eigenschaft, 
deren  Entstehung  noch  in  der  alten  Leibeigenschaft  zu  suchen  ist;  er  hält 
die  Behörden  noch  vielfach  für  bestechlich,  merkt  aber  nicht,  dass  in  den 
deutschen  Ländern  Österreichs  die  Bestechlichkeit  vollständig  aufgehört 
hat.  Kommt  der  Bauer  ins  Amt,  ist  er  ziemlich  kleinlaut;  hat  er  einen 
ungünstigen  Bescheid  erhalten,  getraut  er  sich  erst  im  Wirtshaus  oder  zu 


400  ^-  Pieen: 

Hause  zu  schimpf eu.  Er  hat  keine  Ahnung  vom  Staatswesen  und  vom 
amtlichen  Getriebe,  ist  auch  nie  über  derartiges  aufgeklärt  worden.  Durch 
diese  Unwissenheit  ist  er  gewissenlosen  Menschen  rein  ausgeliefert. 
Übrigens  findet  er  stets  Hilfe  bei  gewandten  Leuten,  deren  es  jetzt  doch 
mehrere  in  jedem  Orte  gibt.  Er  hat  ein  sehr  feines  Gefühl  für  natür- 
liches Recht,  auch  hat  er  Geschick,  Beamte,  mit  denen  er  in  Yerkehr  tritt, 
richtig  einzuschätzen.  Ist  er  überzeugt  von  dem  Wohlwollen  des  Beamten, 
so  trägt  er  ihm  volles  Vertrauen  entgegen  und  lässt  sich  darin  nicht 
wankend  machen.  Wenn  der  Beamte  diese  Stimmung  richtig  zu  würdigen 
weiss,  kann  er  oft  nur  mit  ein  paar  verständigen  Worten  und  Zureden 
das  erreichen,  wozu  ein  anderer  Berge  von  Akten  verfassen  muss.  Durch 
Gepolter  und  Unnachsichtigkeit,  unangebrachte  Strenge  (Sekkatur)  richtet 
niemand  beim  Volk  etwas  aus.  Zum  Prozessieren  ist  er  sehr  geneigt, 
und  es  genügt  ihm  oft  eine  Kleinigkeit,  um  einen  Rechtsstreit  vom  Zaun 
zu  brechen.  Diese  Prozesswut  hat  schon  manchen  von  Haus  und  Hof 
gebracht.  Zum  Glück  nimmt  diese  Krankheit  in  neuerer  Zeit  sehr  ab, 
das  beweist  das  Schwinden  der  Advokaten  auf  dem  Lande.  Unangenehm 
ist  dem  Bauer  der  Gang  zum  Gericht,  er  erledigt  am  liebsten  kleine 
Streitig-keiten,  Beleidigunoren  ohne  o-erichtliche  Klage.  Auch  sucht  er  sich 
vor  jeder  Zeugenaussage,  besonders  vor  einem  abzulegenden  Eide  zu 
drücken,  weil  es  seinem  Wesen  widerspricht,  durch  etwaige  ungünstige 
Aussagen  seinem  Nebenraenschen  zu  schaden.  Leider  muss  ich  aber  hier 
gestehen,  dass  Meineide  nicht  zu  den  grossen  Seltenheiten  gehören. 

Der  Landarzt,  der  von  den  Gemeinden  Beihilfen  erhält,  geniesst  im 
Verhältnis  zu  früheren  Zeiten  grosses  Ansehen,  kommt  im  Range  gleich 
hinter  dem  Pfarrer,  ist  auch  in  vielen  Fällen  der  Vertraute  eines  grossen 
Teils  der  Bevölkerung  und  wirkt,  wo  er  hinkommt,  segensreich.  Es 
kommt  aber  trotzdem  noch  vor,  dass  Kranke  Wallfahrten  unternehmen 
oder  durch  Haus-  und  Zaubermittel,  die  sogenannte  Pfuscher  oder  An- 
wender verabreichen,  sich  behandeln  lassen.  Erst  wenn  dadurch  nichts 
erreicht  wird,  findet  der  Kranke  den  Weg  zum  Arzt,  den  er  als  letzten 
Rettungsanker  betrachtet.  In  vielen  Fällen  ist  es  aber  schon  zu  spät, 
und  wenn  der  Arzt  nichts  mehr  machen  kann,  dann  heisst  es  gleich:  „er 
kann  nichts";  glückt  aber  eine  Kur,  hat  er  für  alle  Zeiten  Oberwasser. 
Die  Tierärzte,  besonders  die  staatlichen,  sind  selten  zu  haben,  da  sie  als 
Sanitätsbehörde  fast  nur  im  Auftrage  des  Staates  ihren  Beruf  ausüben 
und  viele  Zeit  mit  Bureauarbeiten  verbringen  müssen.  Sie  werden  durch 
geprüfte  Kurschmiede  ersetzt,  die  jetzt  die  Pfuscher  mehr  und  mehr  ver- 
drängen, übrigens  darf  man  sich  unter  dem  Worte  Pfuscher  keine  un- 
geschickten Menschen  vorstellen;  es  sind  meist  Leute  mit  Anlagen,  Er- 
fahrung und  guter  Beurteilungsgabe,  denen  nur  die  wissenschaftliche  Aus- 
bildung fehlt;  sie  bedienen  sich  auf  Wunsch  der  althergebrachten  Zauber- 
formeln,   ohne    welche    sie    beim  Volke  nicht  durchdringen.     Wir  wollen 


Der  Oberinnviertler.  ^.qi 

aber  deshalb  keinen  Stein  auf  diese  Eigenart  des  Volkes  werfen,  wieder- 
holt sich  ja  ganz  dasselbe  bei  den  höheren  Ständen.  Über  die  oesund- 
heitlichen  Verhältnisse  ist  nicht  viel  Günstiges  zu  berichten,  man  steht 
Neuerungen  sehr  skeptisch  gegenüber  und  gibt  nicht  viel  auf  die 
heilende  Wirkung  der  Reinlichkeit,  des  Lichtes  und  der  Luft.  Ein  Arzt, 
der  nicht  Massen  von  Medizin  verschreibt,  wird  nicht  für  voll  genommen. 

Die  Gemeindegesetzgebung  aus  dem  vorigen  Jahrhundert  räumt 
den  Gemeinden  viel  mehr  Rechte  ein,  als  denen  im  Deutschen  Reiche.  Die 
Intelligenz  unserer  Bevölkerung  ist  aber  nicht  so  hoch,  um  sich  einer  so 
ausnehmend  liberalen  Verfassung  würdig  zu  erweisen,  es  entstehen  daher 
eine  Menge  Missstände,  die  zu  verhindern  die  Staatsbehörde  keine  Macht- 
befugnisse besitzt.  Üble  Folgen  zeigen  sich  hauptsächlich  auf  gesundheit- 
lichem Gebiet,  wo  ein  Zusammenarbeiten  der  Gemeinden  mit  dem  Staat 
völlig  ausgeschlossen  ist;  ein'  weiterer  Übelstand  sind  die  schlechten 
Strassen.  Wir  sehen  leider,  dass  der  Bauer  auf  gute  Wege  keinen 
grossen  Wert  legt;  er  hat  noch  nicht  einsehen  gelernt,  dass  gute  Wege 
Pferde  und  Wagen  schonen,  und  tröstet  sich  damit,  wenn  man  ihm  dies 
vorhält:  „Der  Wagner  und  der  Schmied  müssen  auch  leben." 

Bei  der  Bürgermeisterwahl  werden  verschiedene  Gesichtspunkte  ins 
Auge  gefasst.  In  erster  Linie  denkt  man  ans  Geld  und  wählt  einen 
Kandidaten,  von  dem  man  sicher  weiss,  dass  er  sich  lieber  loskauft  als 
die  Wahl  annimmt.  In  zweiter  Linie  wählen  sie  —  ich  will  nicht  sagen 
den  Dümmsten  in  der  Gemeinde,  aber  wenigstens  einen  gutmütigen 
Menschen,  der  ihnen  nicht  unbequem  wird.  Ist's  nun  damit  auch  nichts, 
so  wählen  sie  einen,  von  dem  sie  glauben,  dass  er  die  Geschäfte  ordent- 
lich versieht,  aber  ohne  dem  Einzelnen  wehe  zu  tun  und  die  Umlagen 
zu  erhöhen.  Entpuppt  er  sich  jedoch  als  eine  Persönlichkeit,  die  sich 
Achtung  verschafft,  wird  er  nach  dreijähriger  Amtsdauer  wieder,  und  zwar 
einstimmig  gewählt.  Die  dreijährige  Amtsdauer  ist  übrigens  eine  der 
vielen  ganz  verkehrten  Einrichtungen,  die  der  Entwicklung  gesunder 
gemeindlicher  Verhältnisse  gerade  entgegengesetzt  wirkt.  Zu  Gemeinde- 
schreibern nahm  man  früher  Leute,  die  ihr  Fortkommen  in  der  Welt 
nicht  finden  konnten,  zur  Gemeinde  gehörten  und  folglich  auch  erhalten 
werden  mussten;  auf  diese  Art  sparte  man  wieder  einige  Groschen. 
Dasselbe  System  galt  und  gilt  noch  von  den  Gemeindedienern  und  Weg- 
machern. 

Handelt  es  sich  darum,  irgend  etwas  Gemeinnütziges  durchzuführen, 
so  kommt  es  sehr  darauf  an,  welche  Persönlichkeit  der  Anreger  ist. 
Stellt  es  sich  heraus,  dass  einer  bei  solcher  Unternehmung  mehr  Nutzen 
als  andere  ziehen  würde,  finden  sich  sofort  gewissenlose  Querköpfe,  die 
den  Neid  der  Bevölkerung  erregen,  um  einen  manchmal  für  die  Gesamt- 
heit wertvollen  Plan  zu  Fall  zu  bringen.  Zu  spät  sieht  die  Bevölkerung 
dann    ein,    dass    man    sie    genarrt    hat,    zieht    aber  trotzdem  keine  Lehre 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1914.   Heft  4.  26 


402  ^'  Pr^en: 

daraus.  So  ängstlich  der  Bauer  auch  ist,  lässt  er  sich  doch  von  Fremden 
lediglich  durch  andauerndes  Zureden  zu  allerlei  beschwatzen  und  zum 
Schluss  übers  Ohr  hauen.  Unternimmt  einer  von  seinesgleichen  irgend 
etwas  und  braucht  Beihilfe,  so  kann  er  derselben  sicher  sein,  auch  wenn 
der  Erfolg  des  Unternommenen  nicht  durchaus  sicher  ist. 

Bei  Bränden  ist  es  auffallend,  dass  eine  neugierige  Menge  die  Un- 
glücksstätte betrachtet,  ohne  selbst  Hand  anzulegen,  und  gerade  gilt  das 
hauptsächlich  von  der  männlichen  Jugend,  die  sich  erst  herbeilässt  zu 
arbeiten,  wenn  sie  von  den  Gendarmen  dazu  gezwungen  wird.  Es  ist  das 
kein  schöner  Zug  der  Leute,  den  ich  mir  eigentlich  nicht  recht  erklären 
kann,  denn  er  passt  nicht  zu  dem  sonst  hilfsbereiten  Wesen  des  Volkes. 
Der  Abgebrannte,  meist  schlecht  versichert  (eine  Zwangsversicherung  für 
Brand  wie  für  Hagel  gibt  es  bei  uns  nicht),  ist  auf  öffentliche  Sammlung 
und  Materialunterstützung  der  Besitzenden  in  der  Gemeinde  angewiesen, 
also  ganz  wie  vor  Jahrhunderten. 

Der  Bauer  ist  ein  leidenschaftlicher  Jäger  von  Natur  aus  und  sieht 
gar  nicht  ein,  dass  es  ein  so  grosses  Verbrechen  sein  soll,  sich  einmal 
einen  Hasen,  ein  Reh  oder  aus  dem  Forst  einen  Hirsch  zu  holen,  ohne 
vorher  zu  fragen.  Ich  habe  da  oft  von  den  achtbarsten,  angesehensten 
Grundbesitzern  und  Jagdpächtern  die  köstlichsten  Jagd-  und  Wilderer- 
geschichten erzählt  bekommen,  die  darin  gipfelten,  wie  sie  dem  Forst- 
personal einen  oder  den  andern  Streich  gespielt  haben.  Der  Bauer  hält 
das  Wildern  ebensowenig  wie  das  Schwäi'zen  für  eine  Sünde,  will  aber 
durchaus  nicht  mit  den  Berufswilddieben,  für  die  kein  weidgerechtes 
Jagen  gilt,  in  eine  Linie  gestellt  werden.  Er  hält  die  Begriffe  W^ildern 
und  Wildstehlen  streng  auseinander. 

Die  beliebtesten  Vergnügungen^),  von  denen  schon  hier  und  da  die 
Rede  war,  sind  gar  mannigfaltige.  In  früheren  Zeiten,  vor  etwa  40  bis 
60  Jahren,  genügten  die  häuslichen  Spiele:  Mühlfahren,  Gesellschaftsspiele, 
Werfen  mit  Hufeisen,  Plattein  genannt,  Fastnachtsumzüge,  Mummenschanz, 
Tänze  und  wie  alle  diese,  dem  Volkskundler  wohlbekannten  Dinge  heissen 
mögen,  vollständig.  Dazu  kamen  noch  die  Hochzeiten,  kirchlichen  Feste, 
Preiskegeln,  Eisschiessen,  letzten  Märzenbiere  und  die  Umritte  und 
Fahrten^)  an  den  Tagen  Stephani,  Georgi,  Leonhardi  usw.  Für  Rennen 
und  Wettfahren  hatte  der  Bauer  schon  seit  Jahrhunderten  viel  übrig,  und 
besonders  bei  diesen  darf  der  Herr  seine  Dienstboten  nicht  zurückhalten. 
Zu  all  diesen  Unterhaltungen  kommen  jetzt  seit  neuerer  Zeit  noch  die 
Feste,  welche  die  Feuerwehren,  Veteranen,  Krieger,  die  Schützen  und  die 
Sänger    veranstalten.     Die  Fülle  von  Unterhaltungen,    besonders    die    neu 


1)  H.  V.  Preen,   Drischlegspiele    aus  dem  oberen  Innviertel.   Zeitschr.  d.  Vereins  für 
Volkskunde  14,  3G1— 376. 

2)  G.  Schierghofer,  Altbayerns  Umritte.     München  1914. 


Der  Oberinnviertler.  403 

hinzugetretenen,  haben  die  alten,  die  Eigenart  des  Volks  charakterisieren- 
den Mummereien  in  den  Hintergrund  gedrängt. 

Der  Bursch  auf  dem  Lande,  der  Schule  entwachsen,  wendet  sieh 
gleich  dem  Dienste  zu  und  beginnt  seine  Laufbahn  als  sogenannter 
Schweinskavalier  oder  Stallbub,  dann  steigt  er  langsam  zu  den  höheren 
Würden  auf.  Die  ersten  Sprünge,  die  der  Bub  macht,  bestehen  in 
Rauchen,  'zu  Menschern  gehn'  und  ab  und  zu  Raufen;  damit  zeigt  er  der 
erstaunten  kleinen  Welt  seiner  Heimat  an,  dass  er  ein  'Manu'  sein  will. 
Der  Bursch  kennt  auch  schon  alle  landesüblichen  Lieder  und  Trutz- 
gesangeln, auch  ist  ihm  das  Tanzen,  welches  er  schon  in  der  Bauern- 
stube während  der  langen  Winterabende  gelernt  hat,  nicht  fremd.  Mit 
ungefähr  16  Jahren  wird  er  in  die  bäuerliche  Verbindung  seines  Sprengeis, 
Zeche  genannt,  bei  den  Gebildeten  heisst  man  es  Burschenschaft,  aufge- 
nommen. Nun  beginnt  das  eigentliche  Leben,  und  es  ist  ihm  im  Rahmen 
der  Zeche  Gelegenheit  gegeben,  &ich  auszutoben,  kurz,  er  kann  mit  seiner 
überschüssigen  Kraft  machen,  was  er  will.  Das  Raufen  der  Burschen 
einzeln  oder  in  Zechen  spielt  die  Hauptrolle;  sie  bedienen  sich  dabei  so- 
genannter erlaubter  Waffen,  als  da  sind  Stuhlbeine,  Latten,  Stöcke,  Steine, 
Gläser  oder  Krüge.  Häufig  aber  wird  zu  den  unerlaubten  gegriffen,  wie 
Messer,  Ochsenzenn,  Schlagringen,  Raufeisen,  in  der  Neuzeit  sogar  Revolver. 
So  kampflustig  und  mutig,  oder  besser  gesagt  wütend,  sich  die  meisten 
bei  Massenkämpfen  zeigen,  einen  widerlichen  Eindruck  macht  das  Über- 
fallen einzelner  durch  viele;  diese  begnügen  sich  nicht  damit,  dem  Opfer 
einen  Denkzettel  zu  geben,  sie  gehen  in  ihrer  blinden  Wut  oft  so  weit, 
dass  der  Geschlagene  nicht  mehr  aufsteht.  Wegen  Raufhändel  eingesperrt 
zu  werden  gilt  nicht  als  schimpflich,  aber  'gebandelt'  vom  Gendarmen 
durch  Ortschaften  geführt  zu  werden  wird  sehr  schmerzlich  empfunden. 
Um  diesen  bittern  Gang  zu  sparen,  werden  die  meisten  bei  der  Festnahme 
geständig.  Anzuerkennen  ist,  dass  niemand  seine  Mitschuldigen  verrät, 
auch  halten  die  miteinander  verfehdeten  Zechen,  wenn  es  heisst,  einen  vor 
dem  Gerichte  reinzuwaschen,  fest  zusammen. 

Hat  sich  der  Bursch  ausgetobt,  so  hört  das  Liebeln  auf,  und  an  seine 
Stelle  tritt  der  Schatz.  Er  rauft  seltener,  ist  verträglicher  und  nicht  mehr 
so  rachedurstig  wie  in  der  Sturm-  und  Drangperiode.  Beim  Militär  hält 
er  strenge  Kameradschaft,  schaut  auf  die  Staatskrüppel  mit  Verachtung 
herab,  der  Korpsgeist  wird  ausgeprägter,  und  vor  dem  Feinde  benimmt 
er  sich  musterhaft.  Nach  seiner  Dienstzeit  geht  er  aber  heim,  und  wenn 
er  sich  auch  nach  den  schönen  Militärjahren  wieder  tüchtig  plagen  muss, 
er  zieht  doch  seine  Selbständigkeit  den  drei  Sternen  bei  den  Kaiserlichen 
vor.  Zu  Hause  wird  der  Ausgediente  gleich  Mitglied  der  verschiedensten 
Vereine,  wo  er  das  militärisch-kameradschaftliche  Wesen  bei  Festlich- 
keiten fortsetzt.  Die  Militärjahre  sind  nicht  spurlos  au  ihm  vorüber- 
gegangen, er  hat  viel  gelernt,  viel  gesehen  und  bringt  manches  Gute  heim. 

26* 


404  V-  Preen: 

Hat  er  aber  in  Wien  gedient,  so  möchte  ich  am  liebsten  auf  die  mitge- 
brachten geistigen  Errungenschaften  verzichten.  Mir  macht  es  immer 
einen  widerlichen  Eindruck,  wenn  ich  bei  uns  die  Urlauber  und  mit  ihnen 
die  andern  Burschen  die  ekelhaften,  frivol-sentimentalen  Wiener  Lieder 
singen  höre,  die  gar  nicht  zu  unserer  derbeu,  aber  natürlichen  Bevölkerung 
passen.  Trotz  friedlicher  Vereinstätigkeit  bleibt  er  treu  seiner  Zeche,  die 
mit  einer  anderen  Zeche  seit  urdenklichen  Zeiten  verfehdet  ist,  auch  wenn 
der  Grund  und  Anlass  zur  Fehde  schon  längst  vergessen.  Überhaupt  sucht 
der  Bursch  als  echtes  Landeskind  alles  auf,  was  Leidenschaft  erregt^ 
geistige  Getränke,  das  nationale  Kegelspiel  'Anwandeln'  und  Pferderennen» 
Begreiflich  ist  daher  auch,  dass  er  gerne  und  hoch  spielt.  Beim  Kegel- 
spiel kann  man  noch  seine  blauen  Wunder  sehen,  was  Spielleidenschaft 
zuwege  bringt.  Dieses  einfache  Spiel  wird  zum  Glücksspiel  umgewandelt^ 
und  die  Guldenzettel,  an  Stelle  der  Kreuzer,  fliegen  nur  so  herum.  In 
dieser  Leidenschaft  geben  die  Alten  den  Jungen  nichts  nach,  im  Gegenteil 
sie  treiben  es  noch  ärger  als  jene.  Wie  wir  aus  allem  hier  Gesagten 
sehen,  ist  das  Völkchen  sehr  vergnügungssüchtig,  es  wird  jede  Gelegen- 
heit benutzt  zum  Feiern,  und  den  Schluss  bildet  regelmässig  Rausch, 
Liebe  und  Rauferei.  Man  könnte  aber  nicht  sagen,  dass  diese  Lebens- 
weise der  Arbeit  einen  Eintrag  tut,  höchstens  leidet  der  Geldbeutel  dar- 
unter, das  Loch  in  demselben  wird  wieder  verstopft,  der  Mensch  geht  mit 
der  Zeit  in  sich  und  wird  solid  und  sparsam.  Eigentliche  unverbesserliche 
Lumpen  und  Faulenzer  gibt  es  sehr  wenige.  Auf  ein  gutes  Feiertags- 
gewand, ordentliche  Wäsche,  Uhr  mit  grossgliedriger  Silberkette  und 
Pferdeanhängsel  wird  gesehen  und  jetzt  in  unserer  Zeit  auf  modernere 
Kleidung,  grelle  Stoffe  und  rauhen,  grünen  Filzhut,  geputzt  mit  einem 
riesigen  Pinsel,  Gemsbart  genannt.  Gelegentlich  der  Modernisierungswut 
im  Schwarzwalde  äusserte  einmal  der  bekannte  Schilderer  Hansjakob 
folgendes,  was  auch  für  uns  Geltung  hat:  „Alles  lass  ich  mir  gefallen  bei 
der  ländlichen  Jugend,  das  Trinken,  Raufen  usw.,  nur  sollen  sie  nicht  das 
Billardspielen  anfangen." 

Die  Dirndeln  spielen  natürlich  im  bäuerlichen  Jungleben  eine  grosse 
Rolle.  Gar  mancher  Streit  und  mancher  Messerstich  entsteht  auf' mittel- 
bare Veranlassung  des  zarten  Geschlechts.  Das  ist  ja  überall  gleich  in 
der  Welt,  nur  das  Wie,  d.  h.  die  näheren  Umstände,  sind  etwas  anders,, 
sie  haben  örtliche  Färbung.  Eine  gründliche  Kennerin  des  Volkscharakters, 
Frau  S.  Scheibl,  hat  mir  einige  Beiträge  über  das  Kapitel  'Dirndeln'  ge- 
geben, die  ich  hier  benutze.  Wenn  man  mit  Aufmerksamkeit  die  blond- 
zöpfigen,  blauäugigen  frischen  Köpfe  der  Schulmädeln  betrachtet,  hat  man 
seine  helle  Freude  an  dieser  echt  germanischen  Rasse.  Verlassen  sie 
nach  Schulschluss  das  Haus,  so  beginnt  ein  fröhliches  Scherzen  und 
Necken  unter  beiderlei  Geschlecht,  wobei  die  Buben,  was  die  Schlagfertig- 
keit betrifft,    meist    den  kürzeren  ziehen.     Aus  der  Schule  entlassen,    be- 


Der  Oberinnviertier.  405 

ginnt  das  Mädchen  den  Dienst  mit  der  wenig  beneidenswerten  Stelle  eines 
'Kucherls',  wo  es  schon  Gelegenheit  hat,  neben  der  Hauswirtschaft  allerlei 
Erfahrungen  jeder  Art  fürs  spätere  Leben  zu  sammeln.  Die  Kleine  wird 
oft  gehänselt  von  jung  und  alt,  sie  gibt  je  nach  ihren  Geistesgaben 
scherzhaft  gemeinte,  mitunter  spitzige,  schlagfertige  Antworten.  Im  soge- 
nannten Heimgarten,  den  bäuerlichen  Gesellschaftsabenden,  lernt  das 
Kucherl  tanzen,  und  es  entwickelt  sich  auch  da  schon  manche  Liebschaft. 
Man  sieht  es  nicht  gerne,  wenn  die  noch  nicht  erwachsenen  Dirndeln  zu 
einer  öffentlichen  Musik  gehen,  es  kann  ihnen  dann  passieren,  dass  man 
ihnen  als  Zeichen  des  Unpassenden  ein  Glas  Wasser  mit  Kieselsteinen 
gefüllt  auf  ihren  Platz  stellt.  Später,  wenn  das  Dirndel  erwachsen  ist, 
in  die  nächste  Rangklasse  einer  Stallmagd,  'Stallmensch',  aufrückt,  be- 
ginnen schon  die  Liebschaften,  es  wird  bei  ihm  gefensterlt,  und  es  ist 
stolz  auf  die  Eroberung,  die  es  gemacht.  Wenn  eine  Braut  gefragt  wird, 
ob  sie  noch  Jungfrau  sei,  antwortet  sie  stolz:  „Da  müsst  i  mi  schäme, 
wenn  mi  no  kaner  gern  ghabt  hätt!"  Auch  die  Burschen  nehmen  es 
nicht  so  genau  mit  der  sogenannten  Moral,  denn  es  kommt  häufig  vor, 
dass  der  Bräutigam  am  Tage  vor  seiner  Hochzeit  bei  seinem  alten  Schatz 
die  Nacht  zubringt.  Platonische  Liebe  ist  ein  unbekanntes  Ding,  man 
weiss  nichts  Rechtes  damit  anzufano-en.  Ziemlich  früh  ist  die  Jugend 
über  alles  unterrichtet,  man  nimmt  bei  den  Unterhaltungen  kein  Blatt  vor 
den  Mund.  Dem  Fernerstehenden,  der  derartige  Unterhaltungen  nicht 
gewohnt  ist,  fällt  die  überaus  grosse  Derbheit  auf,  die  aber  mit  den  Ge- 
meinheiten,   wie  sie  in  grossen  Städten  üblich  sind,    nicht  gleichartig  ist. 

Eitel  und  abergläubisch  sind  die  Dirndeln  durch  die  Bank.  Damit 
das  schwarzseidene  Kopftuch  ordentlich  fest  auf  dem  Kopfe  sitzt,  wird 
die  Nadel,  die  das  Tuch  halten  soll,  durch  die  Kopfhaut  (!)  gesteckt.  Wer 
das  Kopftuch  als  altmodisch  verschmäht,  stülpt  sich  einen  einmal  modisch 
gewesenen  Hut  mit  Federn  auf  den  Kopf  und  bildet  sich  weiss  Gott  was 
ein.  Es  gibt  nicht  leicht  einen  komischeren  Anblick,  als  wenn  man  an 
Sonn-  und  Feiertagen  die  Dirndeln  mit  ihren  Hüten,  noch  dazu  schief 
aufgesetzt,  mit  den  rot  erhitzten  Gesichtern  auf  Fahrrädern  au  sich  vorbei- 
rasen sieht.  Zum  Glück  kann  man  sagen,  und  das  verdanken  wir  unseren 
Bestrebungen,  dass  das  Tragen  der  Kopftücher  in  den  Bezirken  Braunau, 
Schärding  und  Ried  immer  grösseren  Umfang  annimmt. 

Abergläubisch  sind  unsere  Dirndeln  noch  sehr  und  bleiben  es  bis  in 
ihr  hohes  Alter.  Die  Gebräuche  in  der  Thomasnacht,  Bleigiessen,  Pan- 
toffelwerfen, Orakelbefragen  und  der  Glaube  an  üble  Vorbedeutungen 
sprechen  deutlich  dafür.  Wenn  auch  die  Sitten  auf  dem  Lande  für  etwas 
lax  gehalten  werden,  so  entbehren  sie  doch  nicht  der  Katürlichkeit. 
Sehen  wir  uns  nur  einmal  ein  ländliches  Tanzvergnügen  an  mit  seinem 
hübschen  Landlertanz,  da  werden  wir  einen  grossen  Abstand  gegenüber 
dem  städtischen  Gebaren  finden  und  erstaunt  sein,    mit  welchem  Anstand 


406  ^-  Preen: 

alles  vor  sich  geht.  Mit  Vorliebe  besuchte  ich  die  läudlichen  Unter- 
haltungen in  den  Bauernhäusern  mit  ihrem  familiären  Charakter  und  habe 
mich  stets  behaglich  bei  diesen  Leuten  gefühlt,  die  nicht  mehr  vorstellen 
wollen  als  sie  sind.  Hier  bekam  ich  einen  Begriff  vom  Gemütsleben  und 
der  vielseitigen  Begabung  der  Leute  nicht  nur  in  Musik,  sondern  auch  in 
der  Dichtkunst.  Ich  war  überrascht  über  die  Gabe  des  Improvisrerens 
und  über  das  Liedergedächtnis  so  mancher.  Aufgefallen  ist  mir  das  An- 
stimme» ernster,  ja  trauriger  Lieder,  wenn  die  Stimmung  recht  gemütlich 
zu  nennen  war. 

Was  Speidel,  der  bekannte  feinsinnige  Wiener  Kritiker,  in  einem 
kleinen  Aufsatz  über  das  Mattigtal  und  seine  Bewohner  sagte,  ist  so 
treffend,  dass  ich  mich  nicht  enthalten  kann,  es  hier  anzuführen:  „Christen 
sind  es,  es  ist  aber  diesem  Christentum  nicht  zu  trauen,  überall  sitzt  der 
Heide  unter  der  Haut."  Der  Volkskundler,  der  'Von  deutscher  Sitt'  und  Art' 
[München  1908]  von  Bronne-r  gelesen  hat,  versteht,  was  mit  diesen  wenigen 
AVorten  gesagt  sein  soll.  In  Sitten,  Gebräuchen  und  Volksmedizin  entdecken 
wir  den  alten  Natur- und  Götterkult  wieder,  der  von  der  Kirche  nicht  zer- 
stört werden  konnte.  Die  Kirche  hat  mit  ihm  rechnen  müssen,  sie  hat  ihm 
nur  andere  Namen  gegeben,  um  sich  einigermassen  Geltung  zu  verschaffen. 
Der  Charakter  der  Bewohner  konnte  nicht  umgemodelt  werden,  es  ist 
daher  der  Kirche  nur  geglückt,  ihn  sich  dienstbar  zu  machen.  Dies  ge- 
schah durch  Einrichtungen,  für  die  sich  das  Volk  empfänglich  zeigte,  als 
da  sind  Feiertage,  Bittgänge,  Prozessionen,  Wallfahrten,  die  Gottesdienste 
mit  ihren  Prunkentfaltungen  und  Kunstgenüssen  jeder  Art.  In  früheren 
Zeiten  bemächtigte  sich  die  Kirche  des  ganzen  Geisteslebens  und  sorgte 
für  die  mannigfaltigsten  Anregungen. 

Die  Schule,  jetzt  unabhängig  von  der  Geistlichkeit,  bringt  neues 
Leben  ins  Volk,  indem  sie  die  Einseitigkeit  forträumte;  der  Lehrer  ist 
nicht  mehr  im  Dienst  des  Geistlichen,  sondern  ihm  gleichgestellt,  und,  so- 
viel ich  bemerkt,  ist  das  Verhältnis  zwischen  beiden  kein  schlechtes  ge- 
worden. Er  ist  in  seiner  Gegend  eine  notwendige  Persönlichkeit,  liebt 
und  pflegt  die  Musik  und  sorgt  auch  für  die  Weiterbildung  der  Jugend 
in  praktischen  Fächern,  kurz,  wenn  irgend  etwas  unternommen  werden 
soll,  wozu  die  Kräfte  der  Bevölkerung  nicht  ausreichen,  muss  er  oder  der 
Herr  Pfarrer  einspringen.  Trotz  alledem  ist  das  Lesebedürfnis  des 
Bauern  nicht  besonders  gross;  das  ist  aber  auch  begreiflich,  wenn  man 
bedenkt,  dass  nach  schwerer  Tagesarbeit  die  Müdigkeit  den  Bauern  über- 
mannt. AVir  finden  im  Bauernhause  nur  den  Kalender  (jetzt  den  von  uns 
empfohlenen  Heimatkalender),  die  Zeitung  des  landwirtschaftlichen  Vereins, 
selten  eine  politische  —  solche  liegen  im  Gasthaus  aus  —  oder  ein 
Legendenbuch,  das  von  den  Frauen  oder  alten  Leuten  zum  Zeitvertreib 
gelesen  wird. 

Wie  schon  gesagt  ist  Religion  eine  Art  Mode,  ein  geheiligter  Brauch, 


Der  Oberinnviertier.  407 

auf  dessen  Einhaltung  die  Bevölkerung  sieht,  um  sich  das  Himmelreich 
zu  verdienen.  Die  Gebete  werden  zu  den  üblichen  Zeiten  hergeleiert, 
ohne  dass  der  Geist  dabei  etwas  zu  tun  hat;  die  Religion  mit  ihren 
Segensmitteln  betrachtet  der  Bauer  als  eine  Melkkuh,  die  ihm  bei  guter 
Behandlung  alles  gibt,  was  er  von  ihr  wünscht. 

.Trotz  aller  Vorspiegelungen  über  Ketzer  und  Andersgläubige  hält  der 
Bauer  diese  auch  für  Menschen;  es  kommt  jetzt  doch  selten  vor,  dass  ein 
Lutherischer,  wie  sie  hierzulande  sagen,  als  Höllenkandidat  betrachtet  wird. 
Die  ganze  Natur  des  Bauern  ist  tolerant,  nur  eins  beirrt  ihn,  wenn  jemand, 
mit  dem  er  verkehren  soll,  gar  nichts  glaubt,  er  sagt  dann:  „Das  ist  ein 
Eiskalter,  der  glaubt  weder  an  Gott  noch  an  den  Teufel."  Der  Pietismus, 
wie  er  häufig  bei  Protestanten  und  Sektierern  gefunden  wird,  gehört  hier 
zu  den  Seltenheiten.  Die  Betbrüder  uud  Betschwestern  stehen  in  keinem 
grossen  Ansehen,  es  sind  auch  meist  Leute,  deren  Charakter  mit  ihrer 
Frömmigkeit  nicht  im  Einklang  steht.  Den  frömmsten  Teil  der  Be- 
völkerung bilden  selbstverständlich  die  Frauen,  diese  sorgen  auch  für  die 
Hausheiligen,  schmücken  den  Herrgottswinkel  und  kümmern  sich  um  die 
üblichen  geweihten  Hausmittel  und  Segen.  Eine  Anzahl  von  Leuten  gibt 
es  auch,  die  sich  im  Wirtshaus  ihrer  freiheitlichen  Gesinnung  rühmen,  aber 
nicht  in  Anwesenheit  des  Ortsgeistlichen;  sie  besuchen  gleich  den  andern 
die  Kirche  und  machen  sonst  alles  mit,  um  keinen  Anstoss  zu  erregen. 

Für  Politik  haben  die  Leute  nicht  viel  Verständnis,  sie  wählen  ruhig 
wie  die  andern,  aus  Bequemlichkeit  und  um  sich  nicht  bei  dem  frommen 
Teil  der  Familie  unbeliebt  zu  machen.  Daher  kommt  es  auch,  dass  ein 
Teil  der  Abgeordneten  nicht  mit  dem  nötigen  Ernst  die  ländlichen  Inter- 
essen vertritt,  sondern  lediglich  Parteipolitik  treibt;  denn  sie  wissen 
genau,  dass  die  ländliche  Intelligenz  keine  zu  genaue  Kritik  übt.  Wenn 
für  unsere  ländlichen  Bezirke  eine  Menge  der  notwendigsten  Einrichtungen, 
die  im  deutschen  Nachbarstaat  längst  Segen  brachten  und  den  allgemeinen 
Wohlstand  förderten,  in  unseren  Vertretungen  nicht  einmal  zur  Sprache 
kamen,  so  darf  die  Rückständigkeit  unserer  Länder  nicht  allein  den  Ab- 
geordneten und  dem  Staate,  sondern  auch  der  Bevölkerung  zur  Last  ge- 
legt werden.  Der  Bauer  erweist  seinem  Seelsorger  die  gebührenden  Ehren, 
auch  wenn  er  weiss,  dass  die  Persönlichkeit  des  Pfarrers  manchmal  nicht 
einwandfrei  ist.  Die  angestammte  Würde  und  der  Nimbus,  der  ihn  um- 
gibt, übt  immer  einen  eigenen  Zauber  auf  das  Volk  aus. 


Wir  sehen,  dass  die  äusseren  Verhältnisse  vielfach  auf  die  Ausbildung 
des  Charakters  bestimmend  wirkten  und  im  Laufe  der  Zeiten  die  Eigen- 
schaften schärften  oder  milderten.  Die  isolierte  Lage  des  Landes  und  die 
nicht  häufige  Blutmischung  der  Bewohner  hat  viel  zur  Erhaltung  des 
alten  Charakters  beig-etrao-en.    Die  Jahre  unter  österreichischer  Herrschaft 


408  V.  Preen:  Der  Oberinnviertler. 

siud  nicht  spurlos  vorübergegangen;  diese  Verwaltung  hat  mit  der  der 
Nachbarn  auf  deutschem  Gebiet  nicht  Schritt  gehalten,  und  diesem  Um- 
stand verdanken  wir  ein  längeres  Verbleiben  in  der  Sphäre  der  'guten 
alten  Zeit'.  Während  durch  die  Gründung  des  Deutschen  Reiches  in  den 
altbayerischen  Landen  frisches  Leben,  strammere  Zucht  und  Pflicht- 
erfüllung Eingang  fanden,  blieben  diese  Segnungen  bei  uns  aus,  und  es 
geschah  wenig  in  volkserzieherischer  Hinsicht.  So  mancher  ehrlich  Denkende 
hat  mir  schon  in  diesen  Punkten  recht  gegeben.  Aber  mit  dem  Deutschen 
Reiche  ist  ein  Gefühl  der  Zusammengehörigkeit  aller  deutschen  Stämme 
entstanden,  das  auch  bei  uns  allgemeinen  Widerhall  fand.  —  Von  unserem 
Volke  wäre  nur  noch  zu  sagen,  dass  aus  ihm  so  manche  tüchtige  Menschen, 
Dichter,  Musiker,  bildende  Künstler,  Ärzte,  Beamte,  Militärs  und  Ge- 
lehrte, aber  bisher  keine  ganz  hervorragenden  Denker,  wie  sie  uns  Deutsch- 
land geschenkt  hat,  hervorgegangen  sind.  Sie  alle  haben  die  Heimat  nie 
vergessen  und  den  Imiviertler  auch  in  ihrem  Benehmen  nie  verleugnet. 


Zum  Schluss  lasse  ich  noch  einige  volkstümliche  Redensarten  folgen, 
die  von  der  kurzen  treffenden  Ausdrucks-  und  Denkweise  des  Volkes 
Zeugnis  geben: 

1.  Beim  Lindetfahren  (in  deu  Wald)  und  Indiestadtgehen  weiss  man  nie, 
wann  man  heimkommt. 

2.  Ich  frier  um  d'  Nasen  herum,  d.  h.  ich  hab  kein  Geld. 

H.    Wenn  der  Vater  ein  Kran  (Krähe)  ist,  wird  der  Sohn  kein  Dachel  (Dohle). 

4.  Wer  nicht  fortgeht,  kommt  nicht  heim. 

5.  Wo  der  Teufel  nicht  selber  hinkommt,  schickt  er  ein  altes  Weib. 

6.  Ich  wünsch  dir  ein  neues  Jahr!  Darauf  die  Erwiderung:  Und  dir  das  alte, 
es  ist  schon  gezahlt. 

7.  Wo  Geld  ist,  ist  der  Herrgott,  wo  keins,  der  Teufel. 

8.  Zwischen  Tag  und  Nacht  ist  kein  Zaun. 

9.  Wenn  der  Himmel  einen  kleinen  (blauen)  Flecken  kriegt,  kriegt  der  Petrus 
eine  Hose. 

10.  Haben  mein  Vater  und  Mutter  sterben  müssen,  wird's  uns  wohl  auch  nicht 
umbringen  müssen. 

11.  Wie  geht's,  nichts  Neues?  Was  soll's  geben,  is  eh  das  Alte  das  Bessere. 

12.  Ein  Ahnelkind  und  ein  Stubenfarkel  sind  selten  was  wordn. 

13.  Gscheit  bleibt  gscheit;  fällst  mit  dem  Kopf  in  den  Bach,  bleiben  die  Füsse 
trocken. 

14.  Warme  Füss,  kalter  Kopf,  hint  offen,  langes  Leben  zu  hoffen. 

15.  A  Gewöhnets  is  a  eisern  Pfoad  (Gewohnheit  ist  ein  eisern  Hemd). 

16.  Wenn  der  Vogel  recht  warm  sitzt,  fliegt  er  fort. 

17.  Das  Wissen  soll  man  vor  dem  Essen  gelernt  haben. 

18.  Wer  viel  einweicht  (Wäsche),  schweibt  (wäscht)  viel  aus. 

19.  Wo  die  Scheuertor  alleweil  offen  sind,  is  nix  drin. 

20.  Das  ist  ein  alter  Spruch  gewesen:  was  unter  dem  Tisch  liegt,  gehört 
dem  Besen. 

21.  Sein  tuts  was  (sagt  man  bei  ganz  ausserge wohnlichen  Ereignissen). 


Treichel:  Die  sogenannten  Apostel-Bienenstöcke  von  Höfel.  409 

Gerade  zum  Schluss  gekommen  mit  dieser  Arbeit,  höre  ich  Lärm  auf 
der  Landstrasse  vor  meinem  Hause.  Aus  heiseren  Kehlen  tönt  der  Ruf: 
„Hoch  Österreich,  hoch  Deutschland!"  an  mein  Ohr,  Ich  eile  hinunter 
und  drücke  noch  allen  die  Hand,  den  jungen  und  älteren  Leuten,  die  zur 
Fahne  eilen  und  begeistert  in  den  Kampf  gegen  einen  nichtswürdigen 
Feind,  ziehen. 

Osternberg,  im  August  1914. 


Die  sogenannten  Apostel-Bienenstöcke  von  Höfel'). 

Von  Franz  Treichel. 
>Mit  einer  Abbildung:.) 


Die  Imkerei  bediente  sich  als  Wohnung  für  ihre  Schützlinge  wohl 
allgemein  der  uns  bekannten  Spitzkörbe,  die  jetzt  mehr  und  mehr  bei 
der  fortgeschrittenen  Bienenzucht  den  bequemeren  Bienenhäusern  ge- 
wichen sind,  welche  einen  besseren  Überblick  und  eine  leichtere  Beobachtung 
der  Völker  gestatten  und  bei  denen  auch  das  Abräuchern  der  Bienen 
fortfällt,  wenn  man  den  Honig  einheimsen  will.  Welch  ein  weiter  Schritt 
gegen  die  'Beuten'  unserer  Vorfahren,  die  den  Schwärm  in  einer  'Klotz- 
beute' hielten,  einem  ausgehöhlten  Baumstamm,  wie  ihn  sich  wilde  Bienen- 
völker im  Walde  in  Bäumen  mit  natürlichen  Löchern  zum  Wohnsitz  aus- 
zuwählen pflegen! 

Jedoch  so  eigenartige  Häuser  als  Bienenstöcke,  wie  sie  unsere  Ab- 
bildung zeigt,  dürften  wohl  ziemlich  selten  in  der  Welt  sein.  Sie  be- 
finden sich  in  Höfel,  einem  schlesischen  Dorfe  in  der  Nähe  der  Bahn- 
station Flagwitz  am  Bober,  gehören  dem  Gutsbesitzer  Hrn.  Vogt  und 
werden  von  Hrn.  Lehrer  Werner  bewirtschaftet,  dem  ich  meine  Angaben 
verdanke. 

Der  übliche  Name  dieser  Bienenhäuser,  die  menschliche  Figuren  dar- 
stellen, ist  nicht  zutreffend,  denn  es  sind  nicht  zwölf  an  der  Zalil,  wie 
man  nach  den  12  Aposteln  vermuten  könnte,  sondern  18  Bienenstöcke; 
ferner  aber  ist  überhaupt  nur  e  i  n  Apostel  unter  ihnen. 

Diese  Kunstwerke  von  Immenwohnungen  sind  in  lauger  Reihe  in  einem 
schuppenartigen  Bauwerk  aufgestellt,  das  nach  der  Vorderseite  offen  ist, 
wie  jedes  Bienenhaus,  damit  die  Tiere  ausfliegen  können.  Die  einzelnen 
Stöcke  sind  ungefähr  2  m  hoch  und  haben  einen  Umfang  von  etwa  1,50  m. 
Die  aus  Lindenholz  geschnitzten  Figuren  stellen  dar:  Aaron,  Moses,  Simeon, 
Faulus,    Petrus    —    der    einzige  Apostel    unter    ihnen    — ,    Abt,   Äbtissin, 


1)  Nach  einem  ain  2t.  Mai  1914  iin  Verein  für  Volkskunde  gehaltenen  Vortrage. 


410 


Treichel:  Die  sogenannten  Apostel-Bienenstöcke  von  Höfel. 


Nonne,  Prälai,  Mönch,  Zwerg,  Gutsherr  mit  Gattin,  die  eine  Doppelfigur 
bilden,  sodann  4  Bauersfrauen  und  2  Nachtwächter.  Jede  Figur  ist  mit 
einem  ihr  eigentümlichen  Gegenstände  ausgestattet. 

■  Auf  der  Abbildung,  angefertigt  nach  einer  Ansichtskarte,  die  ich  Hrn. 
Werner  verdanke,  kann  man  leider  nicht  die  ganze  Reihe  überblicken. 

Aaron  trägt  das  Mannakrüglein  und  den  blühenden  Stab,  Moses  stützt 
die  Gesetzestafeln  an  seinen  Körper  und  hält  in  seiner  Linken  die  auf- 
gerichtete Schlange,  neben  ihm  steht  Simeon  mit  dem  Kinde,  dann  folgen 
Paulus  und  Petrus    mit  Evangelienbüchern;    die    zweite  Abteilung    hinter 


Abb.  1. 


der  Tragestütze  zeigt  Abt  und  Prälat  mit  Krummstab,  sowie  einen  Mönch 
mit  Rosenkranz  und  —  Bierkrug;  es  folgt  anscheinend  noch  die  Äbtissin, 
nicht  erkennen  dagegen  lässt  sich  die  erste  Figur,  die  verdeckt  ist;  die 
folgende  Reihe  besteht  aus  den  Bauersfrauen  mit  Kaffeetassen,  Fächern, 
Wäscherollen  u.  a.  m.  Die  Nachtwächter  tragen  einen  Spiess,  während 
dem  Zwerge  ein  Schnapsglas  beigegeben  ist.  Die  Schlupfbrettchen  und 
-loch er  für  die  Bienen  sind  an  den  Figuren  deutlich  zu  erkennen;  sie 
sind  in  etwas  über  Kniehöhe  angebracht. 

Über  die  Herstellung  der  Bienenstöcke  ist  sicheres  nicht  bekannt. 
Die  ältesten  Figuren  wurden  wahrscheinlich  ums  Jahr  1600  geschnitzt, 
als  das  dortige  Bauerngut,  die  sogenannte  Scholtisei,  im  Besitz  des 
Klosters  Naumburg  a.  Bober  war.     Einige  Figuren  sind  neuerer  Herkunft 


Fräukel:   Kleine  Mitteilungeu.  411 

und  nachweislich  im  Auftrage  des  ums  Jahr  1800  dort  lebenden  Bienen- 
vaters Üeberschär  in  Löwenberg  geschnitzt  worden.  Ich  nehme  an,  dass 
der  Stamm  aus  12  Stück  bestanden  hat  und  so  der  Name  'Zwölf- Apostel- 
Bienenstöcke'  entstanden  ist. 

Die  meisten  der  Figuren  sind  nicht  ohne  Kunstfertigkeit  gearbeitet, 
wie  der  Faltenwurf  der  Gewänder  und  die  Gesichtsbildung  zeigt;  andere 
sind  dagegen  ziemlich  plump  ausgefallen,  was  auf  mehrere  Hersteller 
schliessen  lässt. 

Einmal  drohte  dieser  seltsamen  Gesellschaft  Gefahr.  Das  war  im 
Jahre  1813,  als  die  Franzosen  drei  Tage  lang  in  Höfel  hausten.  Doch 
müssen  sie  wohl  Respekt  vor  den  Figuren  gehabt  haben;  denn  während 
sie  an  50  danebenstehende  Bienenkörbe  Feuer  legten,  fügten  sie  den 
12  Aposteln  kein  Leid  zu.  Leider  kann  man  diese  Rücksicht  dem  Zahn 
der  Zeit  nicht  nachsagen,  da  diese  Wahrzeichen  dortiger  Gegend  immer 
mehr  verfallen.  Trotzdem  sind  sie,  wie  gesagt,  noch  im  Gebrauch.  Die 
Erneuerung  würde  'eine  Stange  Gold'  kosten,  wie  mein  Gewährsmann 
hinzusetzte. 

Die  Bienenstockfiguren  tragen  keinerlei  Inschriften,  die  uns  irgend- 
eine weitere  Aufklärung  über  ihre  Entstehung  geben  könnten.  Vergeb- 
lich erkundigte  ich  mich,  ob  eine  besondere  Begebenheit  den  Anlass  zu 
ihrer  Verfertigung  gegeben  hätte,  irgendein  Aberglaube  sich  daran  knüpfe 
oder  Sage  und  Legende  etwas  berichteten.  Vielleicht  verdanken  die 
Figuren  einem  frommen  Gelöbnis  ihre  Entstehung,  falls  nicht  etwa  die 
dargestellten  Personen  als  die  Schützer  der  Bienen  anzusprechen  sind. 

Berlin. 


Kleine  Mitteilungen. 


Der  *  Weiberbraten'  von  Berghausen  bei  Speyer. 

Ein  originelles  Pest  mit  historischem  Hintergrund  beging  nach  achtjähriger 
Pause  zum  erstenmal  wieder  am  9.  Mai  1914  die  Gemeinde  Berghausen  bei 
Speyer  a.  Rh.:  den  sog.  '"Weiberbraten'.  Welche  Bewandtnis  es  damit  hat, 
erkennt  man  aus  der  Vorgeschichte  des  eigenartigen  Brauches.  Laut  der  Über- 
lieferung sollen  im  Jahre  1706  die  59  Frauen  von  Berghausen  auf  ihrem  Gange 
nach  der  nahen  Stadt  Speyer,  um  dort  ihre  Milch  abzusetzen,  in  dem  'Gutleut- 
hause',  einem  Spital,  ^  am  ehemaligen  Gutleuteweg,  jetzt  Berghäuserstrasse,  rechts 
zunächst  dem  Wege  nach  dem  Tafelsbrunnen  —  den  Ausbruch  einer  Feuersbrunst 
bemerkt  und  dadurch  gelöscht  haben,  dass  sie  ihre  für  den  Markt  bestimmte  Milch 
auf  die  Flammen  gössen.  Aus  Dankbarkeit  für  dieses  uneigennützige  Eingreifen 
bestimmte    das  Pflegeamt    des    ehemaligen  Gutleut-Almosens,    dass    den  Weibern 


412  Fränkel: 

Berghausens  alljährlich  am  Gedächtnistage  dieser  Begebenheit,  am  Montag  nach 
dem  heiligen  Dreikönigsfeste,  15  Pfund  Kalbfleisch  (oder  14  Pfund  Rindfleisch) 
und  15  Pfund  Schweinefleisch,  nach  anderer  Überlieferung  IP/o  Pfund  Rind- 
und  16^/2  Pfund  Schweinefleisch,  nebst  Brot  (und  Wein)  verabreicht  werden.  Seit 
■der  französischen  Herrschaft  im  Anfange  des  19.  Jahrhunderts  wird  diese  Spende, 
der  sogenannte  'Weiberbraten',  in  Geld  geleistet,  und  zwar  bezahlte  alljährlich  bis 
heute  das  Bürgerhospital  Speyer  als  Rechtsnachfolger  des  Gutleut-Almosens  ans 
Bürgermeisteramt  Berghausen  4  Gulden  45  Kreuzer  (umgerechnet  seit  1875  in 
8  Mk.  14  Pf.).  Dieser  Betrag  langte  natürlich  nicht  im  geringsten  für  das  Festmahl 
der  ganzen,  auch  an  Ansprüchen  gewachsenen  Frauenschar  Berghausens  —  daher 
zahtt  jetzt  jede  einzelne  davon  selbst  einen  bestimmten  Beitrag,  während  die  Speyerer 
pflichtmässige  Spende  einen  Teil  der  Musikkosten  deckt.  Eine  Stiftungsurkunde 
besteht  nicht,  wenigstens  ist  keine  bekannt.  Erstmals  erscheint  diese  Ausgabe  für 
die  Weiber  von  Berghausen  in  der  Speyerer  Spitalrechnung  für  das  Jahr  1714,  und 
zwar^  als  gewöhnliche.  Das  Fehlen  bestimmter  Anhaltspunkte  für  den  Ursprung 
dieser  Stiftung  ist  jedenfalls  in  dem  Verbrennen  der  bezüglichen  Schriftstücke  von 
1555  bis  einschliesslich  1713  (wie  auch  schon  im  Dreissigjährigen  Krieg)  begründet. 
Der  volksmässigen  Tradition  widerspricht  die  urkundlich  belegte  Tatsache,  dass 
jenes  Gutleuthaus  im  Jahre  1706  französische  Mordbrenner  vollständig  ein- 
äscherten. Erst  1740  gibt  ein  Speyerer  Zins-  und  Lagerbuch  als  Ursache  der 
Spende  an,  dass,  „als  vor  alters  das  Gutleuthaus  in  Brand  geraten,  derselbe  durch 
die  Weiber  zu  Berghausen  gelöscht  worden  sein  soll."  Da  hiernach  der  Anlass 
rechtlich  kaum  sicher  galt,  so  suchte  die  Spitalverwaltung  die  finanzielle  Last  ab- 
zuwälzen. Die  Gemeinde  Berghausen  verfocht  das  Recht  ihrer  Frauen,  gab  jedoch 
in  dem  Streit  nicht  das  vererbte  Verlangen  an,  stellte  vielmehr  fest,  „wenn  die- 
jenigen, so  daß  Gutleuts-Guts-Aecker  in  ihrer  Gemarkung  liegendt  ihr  Zugvieh 
ausspanneten,  so  hätten  sie  das  recht  in  ihrer  Gemarkung  zu  weyden,  wegen  welchen 
man  ihnen  diese  Gebühr  zu  entrichten  hätte,  wovon  sie  auch  nicht  abstunden 
sondern  sich  im  widrigen  fall  an  denen  fruchten  bezahlt  machen  wollten."  Zu 
Beginn  des  19.  Jahrhunderts  verweigerte  das  Speyerer  Bürgerhospital  die  weitere 
Auszahlung;  jedoch  verfügte  die  königl.  Regierung  der  Pfalz  unter  dem  7.  Sep- 
tember 1821  die  fernere  Entrichtung.  Gymnasiallehrer  Dr.  Albert  Becker  in 
Zweibrücken,  der  bedeutendste  Fachmann  der  Rheinpfalz  auf  dem  Gebiete  der 
Volkskunde,  führt')  diesen  Brauch  auf  ein  Weiderecht  in  der  Berghausener 
Gemarkung  zurück,  das  vom  Gutleut-Almosen  ausgeübt  wurde'-*).  Auf  jeden  Fall 
reicht  dieser  Brauch  jahrhundertelang  zurück^). 


1)  Hessische  Blätter  für  Volkskunde  10,  145ff.,  Nachtrag  ebd.  11,  34  in  einem  Auf- 
satze 'Frauem-echt  in  Brauch  und  Sitte.  Zur  Geschichte  des  Weiberbratens  von  Berg- 
hausen bei  Speyer'. 

2)  Teilweise  wörtlich  übernommen,  aber  noch  sicherer  begründet  und  in  den  richtigen 
grösseren  Zusammenhang  gestellt  hat  Alb.  Becker  seine  bezüglichen  Ausführungen  und 
Auslegungen  in  sein  ungemein  ergiebiges  fesselndes  Büchlein:  'Frauenrechtliches  in  Brauch 
und  Sitte.  Ein  Beitrag  zur  vergleichenden  Volkskunde'  (Programm  des  k.  Gymnasiums 
Zweibrücken  1913)  und  seine  'Beiträge  zur  Heimatkunde  der  Pfalz'  IV  (Kaiserslautern 
191.3),  S.  21-23;  63 -64  (Anmerkungen  19— 22);  42-43;  71  f.  (Anm.  65);  77  (Martin  Greifs 
verherrlichendes  Gedicht  'Die  Frauen  von  Berghausen'  in  dessen  'Neuen  Liedern  und 
Mären'  (1902)  S.  153f.,  zuerst  in  der  Gartenlaube  1898  Nr.  5,  S.  69  —  Anhang  I).  Zur  Ent- 
stehung solcher  Sagen  verweist  A.  Becker  auf  F.  Ohlenschlagers  akademische  Festrede 
'Sage  und  Forschung'  (München  1885)  und  W.  L.  Hertslet,  Der  Treppenwitz  der  Welt- 
geschichte, 6.  Auflage  von  H.  F.  Helmolt,  S.  17  ff. 

3)  Von   dem    altherkömmlichen  Verlaufe   des  Festtages  berichtet  Ludwig  Schandein 


Kleine  Mitteilungen.  41^. 

Die  heurige  Feier    fand    mit  allem  Pomp  statt:    sie    brachte  die  ganze  kleine 
Gemeinde  auf  die  Beine,    lockte    auch    eine  grosse  Anzahl  Schaulustige  und  Neu- 
gierige aus  der  näheren    und  weiteren  Umgegend    herbei.     Ein  Umzug  leitete  das 
Fest  nachmittags  VgS  Uhr  ein.    Lustige  Musik  kündigte  den  herannahenden  Aufzug 
an.     Dann    kam    stolzen  Schritts    das    „Komitee    der  Milchfrauen":    drei  wackere 
Frauen    mit    weissen  Schürzen,    Blumen    im  Haar    und    mit  bluraengeschmückten 
blanken  Milchkannen.     In  ihrer  Mitte  die  Fahne,  dabei,  von  zwei  weissgekleideten 
Mädchen  geführt,  ein  blumengezierter  Wagen,   in  dem  die  älteste  Frau  des  Ortes, 
die  83jährige  Witwe  Walburg,  sass.    Dahinter,  gleichfalls  festlich  geschmückt,  das 
Heer    der   übrigen  Milchfrauen.     Unter   den    flotten  Klängen    der  Kapelle  zog  der 
Zug  vor  eine  Reihe  freigebiger  Häuser,    wo    den  Frauen    in  ihre  blank  geputzten 
zinnernen  Milchmasse  Wein    geschenkt    wurde.     Während    die   immer  zahlreicher 
herbeiströmende  Weiblichkeit  sich  daran  erquickte,  ging  das  männliche  Geschlecht, 
das  sich  darum  gruppierte,  leer  aus  —  so  will  es  der  Brauch;  denn  es  ist  eben  ein 
ausgesprochenes    Frauenfest,    wie  auch  A.  Becker    das  Ganze  richtig   unter  das 
Prauenrecht    rückt.     So    wurde    denn    der  'Weiberbraten'    selbst,    als    nach   mehr 
als  zweistündigem  Umzug    sich    die  Teilnehmerinnen    im  'Pfälzer  Hof    zum  Fest- 
essen versammelten,  ohne  Männer  verzehrt.     Freilich,  als  der  Form  der  Tradition 
genügt  war,  holten  die  Frauen  ihre  ehelichen  Hälften,  die  geladenen  Honoratioren 
und  die  Freunde  des  alten  volksmässigen  Brauches  herein  —  Ledige  bleiben  auch 
da  noch  ausgeschlossen  — ,  und  nun  drehte  man  sich,  ganz  dem  Herkommen  ge- 
mäss,   im  Tanze,    bis  die  Sonntagssonne  zu  den  Fenstern  hereinlugte.     J.  Rumpf, 
der  in  der  gelesensten  Tageszeitung  der  Vorderpfalz,  dem  Ludwigshafener  General- 
Anzeiger,  Nr  104  vom  5.  Mai  1914,  im  voraus  für  das  Verständnis  des  merkwürdigen 
Brauchs  bei  der  Bevölkerung  in  einem  gut  unterrichteten  Artikel  Stimmung  machte, 
scheint  seiner  Portdauer  gewiss:    „Dass  dieser  Pfälzer  Brauch,    der  einzige  seiner 
Art,    nicht  verschwindet    und   das  Andenken  bei  den  nachfolgenden  Geschlechtern 
erhalten  bleibt,  dafür  sorgen  die  Milchfrauen  Berghausens,  die,  mit  Recht  stolz  auf 
die  entschlossene    und    selbstlose  Handlung  ihrer  Vorgängerinnen,    das  ewige  Ge- 
dächtnis   wahren    und    gewahrt    wissen    wollen.     Es    ist  ein  besonderes  Verdienst 
Albert  Beckers,    den  Kern    des  fortlebenden,  sichtlich  Jahrhunderte    alten  Brauchs 
herausgeschält    und  dann  unter  den    grundsätzlichen  Gesichtspunkt  des  'Frauen- 
rechts' gebracht    zu    haben,    innerhalb    der  Fülle    ähnlicher  Materialien    aus    der 
Rheinpfalz  und   den  Stammes-  oder  traditionsverwandten  Nachbargegenden.     Dass 
die  heutigen  aktiv  wie  passiv  Beteiligten  von  Ursprung    und  Sinn    gar  keine  oder 
höchstens    einzelne    eine    ganz    leise  Ahnung    haben,    mag    man    mit   historischer 
Nüchternheit  aussprechen,  sogar  bedauern  —  nach  richtiger  begründeter  Erklärung 
zu  suchen,  erwächst  der  Forschung  daher  erst  zur  Pflicht.    Weder  August  Becker, 
der  bekannte  Erzähler  pfälzischer  Herkunft,  in  seinem  (1913  für  den  Pfälzerwald- 
verein  neu  aufgelegten)  Buche  'Die  Pfalz  und  die  Pfälzer'  (S.  152)  von  1857  noch 
W.  H.  Riehls  berühmtes  Buch  'Die  Pfälzer'  (1898)  deuten  in  ihren  kulturhistorischea 
Gemälden  die  Geschichte  vom  Weiberbraten  an." 

Ludwigshafen  a.  Rh.  Ludwig  Fränkel. 


in  der  Zeitschrift  „Bavaria"  IV  2  S.  388.  Die  feststellbaren  Daten  für  die  Vergangenheit 
bringt  J.  Rumpf,  ,.Der  Weiberbraten  zu  Berghausen.  Nach  Akten  des  Hospitalarchivs  zu 
Speyer",  Speyerer  Zeitung  90  (1901)  Nr.  115/116,  meist  Rechnungsbelege.  Vgl.  auch 
Frankfurter  Zeitung  vom  24.  Mai  1901,  2.  Morgenblatt. 


414  Schütte: 

Braunschweigische  Sagen*). 

I.    Der  wilde  Jäger. 

Wenn  es  in  der  Luft  'jif  jaf  jif  jaf  tönte  und  ich  meinen  Vater  danach  fragte, 
so  sagte  er:  Dat  is  de  wille  Jäger,  Junge,  den  lat  man  trecken. 

(Altvater  Bosse  in  Hötzum.) 

Der  wilde  Jäger  fliegt  kaum  haushoch.  Dem  alten  Lohe  in  Braunschweig 
(vor  zehn  Jahren  etwa  verstorben)  ist  er  öfter  begegnet.  Einmal  hat  er  mit  ihm 
gesprochen,  aber  er  durfte  nicht  sagen,  was  er  mit  ihm  geredet  habe,  sonst  würde 
Not  und  Pestilenz  über  ihn  kommen- 

Ein  paar  Brüder  waren  einst  in  einer  Herbstnacht  auf  dem  Felde  und  trugen 
die  Hürden  vor.  Da  sei,  so  erzählte  der  eine,  der  Jäger  Busch  über  das  Feld 
gekommen.  Es  habe  sich  plötzlich  über  dem  Dorfe  Hallendorf  ein  grosses  Hunde- 
gebell erhoben  und  sei  immer  näher  gekommen,  bis  es  über  ihnen  durch  die 
Luft  gesaust  sei.  Da  habe  der  Bruder  gefragt:  „Wer  da?"  „Jäger  Busch"  sei 
ihm  aus  der  Luft  geantwortet.  Dieser  habe  vier  Pferde  vor  seinem  Wagen  gehabt, 
und  viele  Hunde  seien  nebenher  gelaufen. 

li.    Der  Teufel. 

a)  Der  Teufel  heisst  meistens  Gluhswanz,  seltener  Langswanz  und  Draken- 
trecker,  oft  wird  er  mit  dem  Vornamen  Martin  angeredet,  vgl.: 

Märten,  hast  noch  ein  vergetten, 
Hast  noch  keine  Botter  eschettcD. 

Er  hat  einen  schwarzen,  rauhen  Schwanz,  und  wer  unter  den  Freimaurern  ist,  zu 
dem  kommt  er,  und  er  muss  sich  mit  seinem  eigenen  Blute  unterschreiben. 

b)  Wenn  der  Gluhschwanz  durch  die  Luft  zieht  und  einen  trifft,  der  nicht  unter 
Dach  und  Fach  ist,  lässt  er  auf  ihn  Schmutz  herunterfallen.  Ist  man  aber  unter 
Dach  und  Fach  und  ruft  ihm  'Halfpart'  zu,  so  gibt  er  die  Hälfte  von  dem,  was  er 
hat,  ab.  Als  es  einmal  ein  Knecht  rief,  liess  er  etwas  in  den  'Alpaul'  (=  Jauche- 
pfuhl) fallen.  Als  der  Knecht  eine  Harke  geholt  und  es  herausgefischt  hatte,  war 
es  eine  Pipwurst.     (Wedtlenstedt.) 

Manche  Leute  konnten  den  Gluhschwanz  auf  freiem  Felde  anhalten.  Dann 
fragten  sie  ihn,  was  er  auf  habe.  Er  habe  Geld  geladen,  antwortete  er.  Woher 
er  das  geholt  habe?  „Aus  der  königlichen  Schatzkammer."  „Wo  bringst  du  es 
hin?"  Auf  diese  Frage  erhielten  sie  keine  Antwort.  Dann  riefen  sie  ihm  zu 
„Märten,  half  Parten!",  und  er  musste  ihnen  die  Hälfte  abgeben.     (Hötzum.) 

c)  Wenn  der  Gluhschwanz  in  den  Schornstein  hineinfuhr  und  man  ein  Rad 
vom  Wagen  abnahm  und  es  verkehrt  wieder  aufsteckte,  so  konnte  er  nicht  wieder 
aus  dem  Hause  heraus,  sondern  musste  erst  eine  Wand  einrennen,  um  da  heraus- 
zufahren.    (Hötzum.) 

Der  Teufel  hilft  buttern^). 

Einer  Frau  in  Coppengrave  am  Hilse  gelang  das  Buttern  immer  so  schnell, 
dass  man    es  sich  nicht  erklären  konnte.     Eines  Tages,    als    ihr  Mädchen  buttern 


1)  Vgl.  Voges,    Sagen  aus  dem  Lande  Braunschweig,   Braunschweig  1895;    Schütte, 
Braunschweig.  Magazin  1898  S.  2:^  und  1899  S.  111  und  117 ff.;  ders.,  oben  11,  338fif. 

2)  Vgl.  Schambach  und  Müller,  Niedersächs.  Sagen  Nr.  185;  Schütte,  Braunschweig. 
Magazin  1898  S.  23. 


Kleine  Mitteilungen.  415 

musste,  sah  dies  einen  dicken  Frosch  in  dem  Schmant  sitzen.  Da  schüttete  es 
ihn  aus,  nahm  den  Frosch  und  warf  ihn  aus  der  Tür.  Nun  musste  es  immerzu 
buttern,  weil  die  Butter  nicht  werden  wollte.  Als  die  Frau  erschien,  fragte  sie, 
was  es  denn  gemacht  hatte.  Da  sah  sie  schon  den  Höpper  hinter  der  Tür  sitzen, 
kriegte  ihn  auf  und  sagte: 

Ach,  kunim  Charlöttchen 

In  meinen  Smantpöttchen, 

Use  Mäken  ungewetten 

Hat  dik  ut  en  Botterfatte  smetten. 

Der  betrogene  Teufel. 

a)  Die  Pferdejungen   neckten  den  Teufel  stets,    er  konnte    ihnen    aber  nichts 
anhaben.    Da  bat  er  Gott,  er  mochte  sie  ihm  in  die  Hand  geben.    Der  liebe  Gott, 
sagte,  er  solle  sie  haben,  wenn  die  Eichen  kein  Laub  mehr  trügen.    Damit  er  sie 
nun  nicht  kriegt,  hat  der  Herrgott  gefügt,    dass  die  Eichen  immer  noch  trockenes 
Laub  haben,  wenn  sie  zu  grünen  anfangen. 

b)  Ein  Förster  am  Elme  hatte  sich  dem  Teufel  verschrieben;  der  gewährte 
ihm  grossen  Anlauf  vom  Wilde  und  gab  ihm  Freikugeln.  So  ging  ihm  kein 
Schuss  fehl,  und  er  lebte  herrlich  und  in  Freuden.  Es  kam  aber  die  Zeit,  wo 
der  Vertrag  ablief,  bei  dessen  Abschluss  er  versprochen  hatte,  des  Teufels  zu 
sein,  nämlich  sobald  nach  zehn  Jahren  im  Walde  das  Laub  abgefallen  sei.  Der 
Teufel  stellte  sich  richtig  nach  zehn  Jahren  um  Martini  ein,  um  den  Förster  zu 
holen.  Der  aber  machte  Ausflüchte  und  meinte,  der  Teufel  irre  sich,  denn  alle 
Blätter  seien  noch  nicht  abgefallen.  Sie  gingen  in  den  Wald,  um  nachzusehen, 
und  der  Förster  behielt  Recht:  die  Dickungen  der  Eiche  und  Buche  w^aren  noch 
nicht  entblättert.  Der  Satan  musste  abziehen,  nahm  sich  aber  vor,  zu  rechter  Zeit 
wiederzukommen.  Das  tat  er  denn  auch  um  die  Osterzeit  und  wies  dem  Förster 
die  nun  blattlosen  Dickungen.  Dieser  aber  führte  den  Bösen  zu  einer  Buchen- 
heisterpflanzung aus  den  Vorjahren,  an  der  zu  gleicher  Zeit  grüne  und  trockene 
Blätter  zu  sehen  sind.  Die  Zeit  war  also  wieder  verpasst;  der  dumme  Teufel  sah 
ein,  dass  er  betrogen  war,  zog  grimmig  ab  und  kam  nicht  wieder.  (Gross-Dahlum, 
vom  -f  Forstmeister  Ziegenmeyer.) 

c)  Opperstund  will  kein  Minsche  mehr  an  en  Düwel  glöwen,  olinges  leit  e 
sik  aberst  öfter  seihn  un  hale  düssen  un  jünnen.  Et  kämm  mal  abens  in 
Schummern  de  Grotendahlsche  Föster  oppen  Räbschen  (Dorf  Räbke  am  Elme) 
Stiege  hendal.  Da  möte  ne  Ein,  blef  bi  ne  stun  un  bot  ne  de  Dagestit.  De 
Föster  bot  en  ok  en  guen  Abend  und  blef  ok  stän.  Wildessen  dat  hei  den 
Frommen  en  betten  hinken  sach,  as  hei  ran  kämm,  kek  e  na  sinen  Fäuten.  Da 
word  e  en  Ferfaut  gewahr  un  nu  wußte  hei  Bescheid:  dat  moßte  de  Düwel  sin.  Wenn 
et  ne  nu  ok  en  betten  isig  den  Rüggen  runder  leip,  sau  harr'  e  doch  keine  Furcht, 
hei  was  en  stämmigen  Kercl  un  namm  et  mit  sessen  op. 

„Tu",  sä  de  Düwel,  „wat  drögsten  da  vor  en  putzig  Dings  op  dincr  Schulder?" 
^Dat  is  mine  Tabackspipe",  sä  de  Föster  un  namm  sine  B^linte  in  de  Hand. 
^Hm,  roken  möchte  ik  ok  wol  emal",  meine  de  Düwel.  „Da  kannste  tan  komen", 
antwöre  de  Föster,  un  dabi  stok  e  den  Düwel  de  Mündunge  int  Mul,  „säst  ok 
gliks  Füer  hebben".  Dorbi  treck  e  en  Hünen  op  un  drücke  af.  De  Düwel  pruste, 
spucke  ut  un  reip:  „Fudichkan!  De  Taback  is  mik  tau  starke",  un  dormidde 
mak  e,  dat  e  weg  kämm.  (Gross-Dahlum,  vom  f  Forstmeister  Ziegenmeyer.)  — 
[Vgl.  Bolte-Polivka,  Anmerkungen  zu  den  KHM.  der  Brüder  Grimm  2,  530 ^.J 


416  Schütte: 


III.   Hexen. 


Am  alten  Mai,  das  ist  der  zwölfte,  ziehen  die  Hexen  nach  dem  Blocksberge 
(Lebenstedt.)  —  Wer  sie  hat  sehn  wollen  in  der  Wolpernacht,  hat  sich  müssen 
auf  einen  Kreuzweg  setzen  und  Kreuzdornen  um  sich  herumlegen,  dann  haben 
sie  ihm  nichts  tun  können.  (Hötzum.)  —  Hexen  aber,  die  durch  eine  Verletzung 
blutrünstig  werden,  können  einem  nichts  anhaben.  (Volkmarsdorf.)  —  Schlägt 
man  auf  die  Türschwelle  drei  Hufnägel  in  Dreiecksform,  dann  kann  die  Hexe 
nicht  in  die  Stube  (Wedtlenstedt),  hängt  man  ein  Pflugrad  in  den  Schweinestall, 
so  geht  sie  nicht  an  die  Schweine.  (Cremlingen.)  —  Der  Stridde  (=  Dreifuss 
als  Untersatz)  durfte  über  Nacht  auf  dem  Herde  nicht  stehen  bleiben,  sondern 
musste  umgestossen  werden,  dass  er  auf  dem  Rücken  lag.  Sonst  kochten  die 
Hexen  auf  ihm  die  Nacht.     (Hötzum.) 

IV.  Weisse  Taube  als  Seele. 

In  Helmstedt  war  einem  in  der  Jürgenstrasse  wohnenden  Bader  ein  silberner 
Löffel  weggekommen.  Der  Verdacht,  ihn  gestohlen  zu  haben,  fiel  auf  Melusine, 
des  Baders  Magd.  Vergebens  beteuerte  diese  ihre  Unschuld;  sie  wurde  ein- 
gezogen, gefoltert  und  zum  Tode  durch  das  Schwert  verurteilt.  Auf  einem  Hügel 
vor  dem  Südertore  am  Büddenstedter  Wege  wurde  sie  geköpft,  und  als  der  Kopf 
fiel,  schwebte  aus  dem  Rumpfe  eine  weisse  Taube  als  Zeichen  von  Melusinen» 
Unschuld  empor.  In  der  folgenden  Nacht  sank  auf  der  Richtstätte  der  Hügel  ein, 
und  es  entstand  eine  tiefe  Grube,  die  als  Melusinenkuhle  noch  heute  zu  sehen 
ist.  Nach  Jahr  und  Tag  warf  der  Wind  einen  alten  Birnbaum  in  des  Baders 
Garten  um;  dabei  zerfiel  ein  Elsternnest,  und  darin  fand  sich  der  vermisste  Löffel. 

V.  Werwolf  und  Löwenbär. 

a)  Ein  Mann,  der  sich  einen  Wolfsriemen  umschnallte,  wurde  zum  Werwolf 
und  konnte  dann  ein  ganzes  Schaf  auffressen.     (Hötzum.) 

b)  In  den  Wiesen  bei  Stiege,  die  man  das  Füllenbruch  nennt,  mähten  an 
einem  warmen  Sommertago  zwei  Männer  Gras.  Den  Mittag  rasteten  sie,  assen 
und  legten  sich  zum  Schlafen  nieder.  Nach  kurzem  Schlummer  erwachte  der 
eine,  vermisste  seinen  Gefährten  und  sah,  wie  dieser,  in  einen  Wolf  verwandelt^ 
ein  in  den  Wiesen  weidendes  Füllen  beschlich,  zerriss  und  frass.  Darauf  ver- 
wandelte er  sich  wieder  in  einen  Menschen  und  kehrte  zur  Ruhestätte  zurück^). 
Hier  lag  der  andere  entsetzt  und  stellte  sich  schlafend.  Nach  einiger  Zeit  gingen 
beide  wieder  an  die  Arbeit.  Dem  Werwolfe  ging  sie  schlecht  von  der  Hand, 
und  bald  klagte  er  über  Vollheit  im  Magen.  Da  konnte  sich  der  andere  nicht 
enthalten  zu  sagen:  „Wer  ein  Füllen  gefressen  hat,  muss  wohl  voll  im  Leibe 
sein."  Der  Werwolf  erwiderte:  „Hättest  du  mir  das  vor  einer  Stunde  gesagt,  so 
wäre  dein  letztes  Brot  gebacken  gewesen."  Inzwischen  waren  nämlich  noch 
andere  Mäher  an  die  Wiesen  getreten,  die  sich  dem  Werwolfe  mit  entgegengestellt 
hätten.     Dieser  suchte  das  Weite,  und  man  hat  ihn  nicht  wieder  gesehen. 

c)  Menschen  verwandeln  sich  durch  einen  Verwünschungsriemen  in  Löwen- 
bären. Wenn  ein  Mensch  den  Riemen  umschnallt  und  dieser  nicht  wieder  auf- 
geschlagen wird,  so  ist  der  Mensch  ein  Löwenbär.     (Lebenstedt.) 


1)  Vgl.  Voges  a.  a.  O.  Nr.  107;    Schambach  u.  Müller  Nr.  198;    Harrys,  Volkssagen 
Niedersachsens  Nr.  24.     Grimm,  D.  Sagen  Nr.  214. 


Kleine  Mitteilungen.  4^7 

VI.  Tückeboten. 

Die  Tückeboteii  wandten  sich  stets  zu  den  Betenden.  Ein  Frachter  fuhr 
einmal  bei  dem  Schöppenstedter  Turme,  wo  es  früher  bruchig'  war,  und  betete. 
Da  setzten  sich  alle  Tiickeboten  auf  seinen  Wao^en,  dass  er  so  schwer  wurde,  dass 
sein  Pferd  kaum  weiter  konnte.  Als  sich  aber  einer  gar  auf  seinen  Peitschen- 
stock setzte,  wusste  er  nicht  ein  und  aus  und  rief:  Donnerwetter!  —  und  weg  waren 
sie  alle.     (Hötzum.) 

Vli.  Nächtlicher  Zauber  bei  Helmstedt. 

Der  Zimmermeister  Koch,  ein  ruhiger,  nüchterner  Mann,  kehrte  eines  Abends 
spät  aus  dem  Weissen  Rosse,  seiner  vor  dem  Südertore  belegenen  Stammkneipe, 
zurück,  konnte  aber  das  Tor  nicht  finden.  Die  ganze  Gegend  war  verwandelt  und 
ihm  unbekannt  geworden.  Da  fiel  ihm  das  einzig  in  solchem  Falle  helfende 
Mittel  ein,  er  setzte  sich  zu  Boden  und  zog  seine  Schuhe  um,  so  dass  der  rechte 
auf  den  linken  Fuss  kam.  Nun  fiel  es  ihm  wie  Schuppen  von  den  Augen;  er 
fand  alles,  wie  es  immer  gewesen  war,  kam  durch  das  Tor  und  erreichte  sein 
nahe  gelegenes  Haus. 

VIII.   Versunkene  Gebäude. 

a)  Von  der  alten  Strasse  von  Delligsen  nach  Kaierde  aus,  dem  Hofe  Mittal 
am  Ithberge  gegenüber,  sieht  man  zwischen  der  Strasse  und  dem  Röhnberge  ein 
Wasserloch.  Es  ist  von  einer  Wiese  umgeben,  die  die  Meerwiese  genannt  wird. 
-Hier  soll  eine  Kirche  versunken  sein;  die  Glocken  will  man  zuweilen  im  Sommer 
noch  aus  dem  Wasser  heraus  läuten  hören. 

b)  Im  Silberhohl  im  Bodenburger  Holze  am  Hahnenkampe  ist  ein  Schloss 
mit  einer  Prinzessin  versunken.  (Dorfbeschreibung  von  Seesen  1757,  hand- 
schriftlich auf  der  hiesigen  Plankammer.) 

IX.   Bannung. 

a)  In  einem  Hofe  in  Bortfeld  spukte  ein  Verstorbener.  Da  holte  man  einen 
Pater,  und  der  bannte  den  Geist  in  eine  Flasche.  Diese  nahm  er  und  fuhr  mit 
einem  Knechte,  der  sich  nicht  umgucken  durfte,  nach  dem  Bruche  und  begrub  die 
Flasche  unter  einer  'Kopheike'.  Da  ist  er  nicht  wiedergekommen,  aber  eine  Stelle 
in  dem  einen  Stalle  ist  noch  bedenklich,  da  dürfen  sie  kein  Vieh  hinstellen,  sonst 
wird  es  krank. 

bj  Hinter  der  Grasmühle  bei  Schöningen  ist  der  Kuhteichsberg;  dorthin,  so 
erzählte  man  vor  60  Jahren,  hätten  die  Mönche  immer  welche  gebannt. 

c)  Einen  bösen  Geist,  der  sich  bei  Gross-Twülpstedt  zeigte,  bannte  der  Pastor 
Kemphans,  indem  er  ihn  in  einen  ledernen  Sack  tat  und  nach  dem  Wipperteiche 
hinter  Wendschott  trug. 

X.   Unruhe  im  Grabe. 

a)  Dat  Mäken  mit   der  Lüchte. 

Einst  ging  ein  Mädchen,  das  schwanger  war,  mit  seinem  Bräutigam  von 
Bettmar  nach  Münstedt,  traf  aber  dort  nicht  ein,  sondern  wurde  in  einer  Plachs- 
rotte  ertrunken  aufgefunden.  Man  glaubte,  sein  Bräutigam  habe  es  ertränkt. 
Sieht  man  nun  seit  der  Zeit  ein  Irrlicht,  so  heisst  es,  'dat  Mäken  mit  der  Lüchte' 
ginge  wieder  umher. 

Zeitüchr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1914.    Heft  *.  27 


418  Schütte: 

b)  Verwünschte  Jungfrau. 
Am  Röhnberge  bei  Delligsen  geht  eine  Jungfrau  mit  goldenen  Eimern. 

c)  Die  Jungfrau   mit  silbernen  Schlüsseln. 

Der  Klostergarten  von  St.  Ludgeri  bei  Helmstedt  ist  mit  einer  hohen  Mauei* 
umgeben.  An  seiner  östlichen  Seite  ist  eine  Pforte,  aus  der  nachts  eine  Jungfrau 
mit  einem  Bunde  silberner  Schlüssel  kommt.  Sie  geht  den  Weg  zum  Stroh- 
mühlenteiche, wo  sie  verschwindet.  Die  Pforte  wird  unterdessen  von  einem  ver- 
zauberten grossen  Hunde  bewacht. 

d)  Fräulein  mit  goldenen  Eimern. 

Es  war  einst  ein  Schloss  bei  Coppengrave,  an  dem  Strassborn  gelegen,  der 
da  fliesst.  Jetzt  ist  es  untergegangen,  von  einem  Zauberer  verwünscht.  Diesen 
sollte  das  junge  Fräulein,  das  einen  grossen  Lieblingshund  hatte,  heiraten,  mochte 
ihn  aber  nicht.  Der  Rand  des  Schlosses  ist  noch  zu  sehen;  die  Stelle  ist  schon 
öfter  vollgefahren,  doch  die  Erde  verschwindet  immer.  Alle  zehn  Jahre  erscheint 
das  Fräulein  mit  goldenen  Eimern  und  schöpft  Wasser.  Dann  geht  der  Hund 
neben  ihm  her  und  bewacht  es;  vor  dem  Stege,  wo  das  Wasser  fliesst,  stellt  er 
sich  auf.  Der  Zauberer  steht  vor  dem  anderen  Ende  des  Steges.  Wenn  dann 
Leute  kamen,  die  nach  der  Mühle  in  Brunkensen  wollten,  konnten  sie  nicht  hin- 
über. Einmal  kam  eine  Frau  daher,  als  die  zehn  Jahre  gerade  wieder  herum  waren. 
Da  sah  sie  das  Fräulein  die  volle  Stunde  von  11—12  stehen  und  den  Hund  auch; 
ein  Irrlicht  stand  aber  in  dem  Kreise,  in  dem  sich  das  junge  Mädchen  befand, 
kam  auf  die  Frau  zu,  und  es  ging  immer:  „Huck  up!"  Da  rief  sie:  „Zum  Teufel 
huck  up!",  und  auf  einmal  war  es  so  schwer  auf  ihrer  Kiepe,  dass  sie  sie  gar 
nicht  mehr  tragen  konnte.  Als  die  Stunde  vorüber  war,  wollte  sie  weg  über  den 
Steg  gehen.  Da  aber  ihre  Kiepe  so  schwer  war,  sagte  sie:  „Kriuzdonnerwetter, 
wat  is  denn  dat  up  miner  Keipen!"  Dann  wurde  sie  ordentlich  zurückgerissen, 
und  es  huckte  etwas  ab.  Als  sie  nach  Hause  kam,  erzählte  sie  es.  Ein  alter 
Mann  aber  wollte  ihr  nicht  glauben  und  sagte:  „Wenn  ik  allet  glöwe,  dat  glöwe 
ick  nich."  Sie  jedoch  erwiderte:  „Mik  hat  et  mine  Mutter  un  mine  Grossmutter 
verteilt,  un  nu  is  et  mik  begegnet."  Da  sagte  er:  „Wenn  ik  in  tein  Jahren  noch 
lewe,  will  ek  er  ok  hen  un  seihn,  ob  et  wahr  is."  Als  die  zehn  Jahre  herum 
waren,  ging  er  nach  der  Mühle,  um  sich  Roggen  schroten  zu  lassen,  und  als  er 
zur  Stunde  dahin  kommt,  sieht  er  das  Nämliche:  Das  junge  Mädchen  geht  mit 
den  goldenen  Eimern  dreimal  um  das  Schloss  herum,  dann  kommt  der  Hund  und 
steht  bei  ihr,  während  sie  Wasser  schöpft,  darauf  erscheint  auch  der  Zauberer. 
Dem  Alten  steigen  die  Haare  zu  Berge,  doch  bleibt  er  stehn;  als  er  sich  aber 
nach  dem  Hunde  hin  bewegt,  kriegt  er  eine  Ohrfeige,  dass  er  die  Besinnung 
verliert.  Als  er  wieder  zu  sich  kommt,  sieht  er  den  Hund  mit  der  Jungfrau  ver- 
schwinden, den  Zauberer  sah  er  nicht  mehr. 

e)   Verwünschte  Jungfrau^). 

Der  Berg  hinter  dem  Grünenpläner  Kurhause  heisst  die  heilige  Au.  Dort 
soll  früher  ein  Kloster  gestanden  haben,  noch  ist  ein  Nonnenteich  da.  Einst  stand 
hinter  dem  Kurhause  eine  alte  Eiche.  Unter  dieser  hatte  sich  einmal  ein  Kind 
mit  einem  Korbe  voll  Erdbeeren  hingesetzt.  Da  erschien  eine  Jungfrau  und  bat 
um  die  Erdbeeren.      Das  Kind  aber  lief  mit  seinem  Korbe  fort.      Da   klagte    die 


1)  Vgl.  Voges  Nr.  17;   Schambach  u.  Müller  Nr.  115. 


Kleine  Mitteilungen.  419 

Jungfrau,  dass  sie  nicht  erlöst  wäre.  Nun  könnte  sie  erst  erlöst  werden,  wenn 
die  jungen  Schösslinge  der  Eiche  so  dick  geworden  wären,  dass  aus  dem  Holze 
eine  Wiege  gemacht  werden  könne,  und  das  Rind,  das  darin  gewiegt  wäre,  heran- 
gewachsen sei.     Dies  erst  könne  sie  erlösen. 

f)  Fräulein  auf  der  Asse. 

Auf  der  Asse  zeigte  sich  oft  ein  Fräulein  in  weissem  Kleide  mit  einem  Bunde 
Schlüssel.  Wenn  einer  durchging,  winkte  es.  Ein  Förster  ging  auf  das  Winken 
zu,  da  war  das  Fräulein,  als  er  dicht  bei  ihm  war,  auf  einmal  verschwunden. 
Aber  an  der  Buche,  an  der  es  gestanden  hatte,  fand  er  einen  grossen  Sack  voll 
Turhölter  (=  Käse)  stehen.  Er  besah  ihn  und  steckte  sich  eine  Tasche  voll.  Als 
er  nach  Hause  kam  und  den  Käse  herauskriegen  wollte,  hatte  er  lauter  Gold- 
stücke in  der  Tasche.  Da  ging  er  wieder  hin  und  wollte  sich  noch  Käse  holen, 
aber  da  war  der  Sack  verschwunden. 

g)   Frau  ohne  Beine. 

Eine  Frau  ohne  Beine  ging  hinter  der  Försterei  bei  Grünenplan.  Sie  trug 
weisse  Kleider.  Wenn  man  jedoch  in  ihre  Nähe  kam,  war  sie  stets  ver- 
schwunden. 

h)   Die  Darmwäschersche, 

Den  Steg,  der  über  die  Hille  geht,  die  durch  Coppengrave  hindurch  in  die 
Gleene  fliesst,  beschreitet  nach  zehn  Uhr  abends  kein  Kind  mehr.  Hier  sitzt 
nämlich  die  Darmwäschersche,  und  zwar  kommt  sie  alle  Vierteljahr  an  den  Steg 
der  Hille,  um  die  Gedärme  ihres  Schwiegersohnes,  der  sie  totgeschlagen  hat,  zu 
waschen. 

i)  Mann  ohne  Kopf. 

In  einem  Holze  hinter  Rautheim,  der  Grashof  geheissen,  jetzt  urbar  gemacht, 
hörte  man  abends  in  der  Dämmerung  einen  Mann  ohne  Kopf  immer  'Hoho' 
rufen. 

Im  Glüsigwalde  zwischen  Helmstedt  und  Harbke  ging  nachts  der  Jäger 
Schickedanz  um,  trug  seinen  glühenden  Kopf  unter  dem  Arme  und  erschreckte 
die  Leute. 

k)   Der  Bölkhans. 

Zwischen  Gross-Sisbeck  und  Gross-Twülpstedt  war  der  Kleibusch.  In  ihm 
stand  ein  steinerner  Tisch.  An  diesem  sass  oft  der  Bölkhans  (Konring)  mit 
einer  Feder  hinter  dem  Ohr  und  schrieb.  Vielen  huckte  er  auf  und  rief:  „Hollaho, 
hierher,  hier  is  de  Snee!"  (=  Grenze)  Manchmal  rief  er  sein  Hollaho,  hoho,  hoho 
so  laut,  dass  in  Papenrode  die  Fenster  klingelten.  Nun  ward  dies  auch  einem 
Pastor  erzählt,  und  dieser  wollte  die  Leute  von  ihrem  Aberglauben  abbringen, 
von  dem  auch  sein  Kutscher  erfüllt  war.  Er  Hess  diesen  also  anspannen  und 
setzte  sich  in  den  Wagen.  Sein  Friedrich  rausste  fahren.  Er  hatte  aber  den 
Leuten  gesagt,  der  da  riefe,  wäre  nicht  Konring,  sondern  ein  Vogel.  Als  sie 
jedoch  in  die  Gegend  kamen,  wo  sich  Konring  aufzuhalten  pflegte,  rief  dieser  auf 
einmal  in  den  Kutschwagen  hinein.  Da  erschrak  der  Pastor  und  rief:  „Friedrich, 
wende  um,  es  ist  ein  böser  Geist!" 

27* 


^20  Schütte,  Zachariae: 

1)  Toter  kehrt  ins   Haus  zurück. 

Ein  alter  Bauer  wollte  seine  Stelle  (Grab)  im  Hofe  haben.  Nach  seinem 
Tode  führte  aber  sein  Sohn  seinen  Wunsch  nicht  aus,  sondern  Hess  den  Toten 
nach  dem  Kirchhofe  bringen.  Als  nun  eines  Tages  der  Knecht  Flachs  in  die 
Rote  legen  musste,  wobei  er  Strümpfe  und  Schuh  ausgezogen  hatte,  kam  ihm 
immer  etwas  an  die  Beine.  Er  fasste  zu  und  schnappte  einen  langen,  dicken 
Fisch.  Nun  dachte  er:  „Sollst  schnell  nach  Hause  laufen  und  den  Fisch  hin- 
bringen". Als  er  aber  da  war,  sprang  der  Fisch  weg  und  sprach:  „Nun  hast  du 
mich  weit  genug  gebracht";  er  habe  sich  eine  Stelle  im  Hause  gewünscht  und 
wolle  nun  nicht  wieder  heraus.  Unter  der  Treppe  sollten  sie  ihm  eine  Stelle  aus- 
mauern und  einen  Himpten  Salz  und  einen  Himpten  Asche  durcheinandermengen 
und  ihm  geben.  Den  wolle  er  dann  wieder  auseinanderlesen  und  sich  damit  die 
Zeit  vertreiben. 

m)  Die   Pfeife. 

Der  alte  Förster  Perl  in  Coppengrave  war  gestorben.  Zwei  Tage  nach  seinem 
Begräbnisse  kam  die  alte  Frau  Perl  mit  den  Nachbaren  auf  ihren  Mann  zu  sprechen 
und  sagte:  „Mein  Mann  hat  immer  so  gern  die  Pfeife  geraucht,  und  ich  habe  sie 
ihm  nicht  ins  Grab  gelegt."  Als  sie  die  Nacht  darauf  zwischen  elf  und  zwölf  im 
Bette  lag,  trat  unten  einer  vor  das  Fenster  und  rief  dreimal:  „Dora,  Dora,  meine 
Pfeife!"  Sie  war  darüber  so  erschrocken,  dass  sie  keinen  Laut  von  sich  geben 
konnte,  dachte  aber,  sie  habe  geträumt,  und  blieb  ruhig  liegen.  Die  folgende 
Nacht  ging  es  gerade  wieder  so  los.  Als  sie  aufwachte,  dachte  sie:  „Jetzt  kannst 
du  es  nicht  mehr  ertragen",  band  einen  Bindfaden  an  die  Pfeife  und  Hess  sie 
hinunter.  Am  andern  Morgen  war  sie  froh,  dass  sie  die  Pfeife  hingegeben  hatte. 
Zu  ihrem  grossen  Erstaunen  hing  sie  aber  am  Wegweiser.  Der  Tote  hatte  sie 
also  nicht  mit  ins  Grab  genommen,  sondern  an  den  Wegweiser  gehängt. 

n)  Die  Nachtmütze. 

Einem  Bauern  in  Coppengrave  war  die  Frau  gestorben.  Sie  hatte  vor  ihrem 
Tode  ihre  Nachtmütze,  die  man  ihr  nach  dem  Tode  aufsetzen  sollte,  in  das  Ofen- 
loch gelegt.  Das  hatte  sie  aber  ihren  Angehörigen  zu  sagen  vergessen,  und  die 
hatten  sie  daher  der  Leiche  nicht  aufgesetzt.  Als  sie  ein  paar  Wochen  tot  war, 
ging  in  der  Nacht  zwischen  elf  und  zwölf  dem  Mädchen  die  Kammertür  auf,  und 
die  Tote  erschien  in  weissem  Kittel.  Das  Mädchen  erschrak  und  konnte  kein 
Wort  sagen.  Als  es  am  Morgen  herunterkam,  sagte  es  seinem  Herrn,  die  Frau 
sei  dagewesen.  Er  aber  erwiderte:  „Mädchen,  du  hast  wohl  geträumt,  weil  wir 
gestern  abend  davon  gesprochen  haben.  Wenn  sie  wieder  kommt,  frag,  was  sie 
will!"  Die  Nacht  darauf  kam  sie  richtig  wieder  und  stellte  sich  vor  das  Bett. 
Da  fragte  das  Mädchen:  „Fru,  wat  will  se  denn?"  „Ach",  sagte  sie,  „im  Oben- 
locke da  leit  meine  Nachtmützen."  „Na",  sagte  das  Mädchen,  „gät  man  hen,  ik 
will  se  morgen  abend  vor  de  Döre  legen."  Den  Abend  blieb  das  Mädchen  lange 
auf,  nahm  die  Nachtmütze  aus  dem  Ofenloche  und  legte  sie  vor  die  Tür.  Am 
andern  Morgen  war  sie  verschwunden,  aber  seit  der  Zeit  ist  die  Frau  nicht  wieder 
ins  Haus  gekommen. 

Braunschweig.  Otto   Schütte. 

(Schluss  folgt.) 


Kleine  Mitteilungen,  421 

Rätsel  der  Königin  von  Saba  in  Indien. 

In  meiner  Abhandlung  'Zur  Geschichte  vom  weisen  Haikar'  oben  17,  172  fl'. 
habe  ich  die  Rätselfragen  und  Eätselaufgaben,  die  dem  klugen  Mahosadha  vom 
König  Vedeha  im  Mahäummaggajätaka^)  zur  Lösung  vorgelegt  werden,  aus  diesem 
Jätaka  ausgezogen  und  kurz  besprochen.  Nur  die  15.  'Frage',  die  Sandstrick- 
aufgabe^),  habe  ich  a.  a.  0.  ausführlich  behandelt.  Indessen  beanspruchen 
mehrere  von  den  andern  Aufgaben  ein  gleiches,  wo  nicht  grösseres  Interesse:  so 
vor  allem  das  'salomonische  Urteil'  in  der  5.  Aufgabe,  das  schon  so  oft  mit  der 
entsprechenden  biblischen  Erzählung  im  I.Buch  der  Könige  verglichen  worden 
ist^).  Hierher  gehören  ferner  einige  Aufgaben,  die  eine  mehr  oder  weniger  grosse 
Ähnlichkeit  mit  Rätseln  der  Königin  von  Saba  aufweisen.  Diese  Aufgaben 
will  ich  hier  etwas  ausführlicher  besprechen,  als  es  in  meiner  oben  angeführten 
Abhandlung  geschehen  ist,  wo  ich  mich  mit  Andeutungen  begnügen  musste. 

Zunächst  kommt  die  wohlbekannte  und  weitverbreitete  8.  Aufgabe  in  Be- 
tracht: Mahosadha  soll  zeigen,  welches  von  den  beiden  Enden  eines  Stabes  die 
Spitze  und  welches  die  "Wurzel  ist.  Er  löst  die  Aufgabe  in  der  Weise,  dass  er 
sich  ein  Gefäss  voll  Wasser  bringen  lässt,  an  der  Mitte  des  Stabes  einen  Faden 
befestigt  und  an  diesem  Faden  den  Stab  auf  das  Wasser  hinablässt;  das  Ende 
des  Stabes,  das  zuerst  im  Wasser  versinkt,  ist  das  Wurzelende.  Eigentümlich  ist 
an  dieser  Lösung,  wie  ich  beiläufig  bemerken  möchte,  dass  der  Stab  in  der  Mitte 
an  einen  Faden  angebunden  wird.  Dieser  Zug  findet  sich,  soweit  ich  sehe,  sonst 
nicht  in  der  indischen  oder  in  der  davon  abhängigen  Literatur,  wohl  aber  in 
einigen  westlichen  Versionen;  s.  Poh'vka  im  Archiv  für  slavische  Philologie  27.  617. 

Wie  ich  in  meiner  Abhandlung  oben  17,  174  bereits  angedeutet  habe,  wird 
die  Stabaufgabe  auch  unter  den  Rätseln  der  Königin  von  Saba  aufgeführt.  Erst 
jetzt  bin  ich  in  der  Lage,  genauere  Angaben  zu  machen.  Die  ältesten,  übrigens 
nicht  einmal  sonderlich  alten  jüdischen  Quellen  für  die  Rätsel  der  Königin  von 
Saba  —  der  Midrasch  zu  den  Sprüchen  und  das  zweite  Targum  zum  Buche 
Esther  —  kennen  die  Aufgabe  allerdings  nicht.  Dagegen  erscheint  sie  in  einer 
späten,  dem  15.  Jh.  angehörigen  Redaktion  der  Rätsel,  die  S.  Schechter  unter  dem 
Titel  'The  riddles  of  Solomon  in  Rabbinic  literature'  Folk-Lore  1,  349—358  her- 
ausgegeben und  übersetzt  hat.  Hier  lautet  das  19.  und  letzte  Rätsel:  'She  [the 
Queen  of  Sheba]  next  ordered  the  sawn  (trunk  of  a)  cedar  tree  to  be  brought, 
and  asked  him  to  point  out  which  (end)  the  root  had  been  and  at  which  the 
branches.  He  bade  her  cast  it  into  the  water,  when  one  end  sank  and  the  other 
üoated  upon  the  surlace  of  the  water.  That  part  which  sank  was  the  root,  and 
that  which  remained  uppermost  was  the  brauch  end'. 

Die  beiden  folgenden  Aufgaben,  die  Mahosadha  löst,  haben  die  Geschlechts- 
unterscheidung zum  Gegenstand.  Im  ersten  Falle  unterscheidet  er  einen  männ- 
lichen von  einem  weiblichen  Schädel:  'die  Nähte  (sibba)  am  Kopfe  eines  Mannes 
sind  gerade,  die  am  Kopfe  eines  Weibes  sind  krumm'.     Im  zweiten  Falle  erkennt 


1)  Zum  Mahuummafrgajätaka  vgl.  jetzt  auch  M.  Winteruitz,  Geschichte  der  indisclien 
Literatur  2,  1  (1913),  S.  111  ff. 

2)  Zur  Sandstrickaufgabe  s.  auch  oben  17,  4(!1  und  Folk-Lorc  9,  3G8ff.  Die 
4.  Aufgabe,  die  Geschichte  vom  strittigen  Garnknäuel,  habe  ich  in  der  Wiener  Zeit- 
schrift für  die  Kunde  des  Morgenlandes  2(3,  418ff.  ausführlich  behandelt  und  dort  gezeigt, 
dass  die  Geschichte  auch  in  den  abendländischen  Literaturen,  bei  Etienne  de  Bourbon, 
Johannes  Pauli,  Hans  Sachs  und  anderen  vorkommt. 

3)  Zuletzt  von  Richard  Garbe,  Indien  und  das  Cliristentum  1914  S.  25ff. 


422  Zachariae: 

er,  welche  von  zwei  Schlangen  ein  Männchen  und  welche  ein  Weibchen  ist;  die 
Schlangenmännchen  haben  nämlich  einen  dicken  Schwanz,  die  Weibchen  einen 
dünnen;  bei  jenen  ist  der  Kopf  dick,  bei  diesen  lang;  jene  haben  grosse,  diese 
kleine  Augen  usw.  Da  liegt  es  nun  nahe,  eines  der  berühmtesten  Rätsel  der 
Königin  von  Saba  zu  vergleichen^),  ein  Rätsel,  in  dem  es  sich  ebenfalls  um  Ge- 
schlechtsunterscheidung handelt:  das  'Kinderrätsel',  das  oft  besprochen  worden 
ist,  ausführlich  namentlich  von  W.  Hertz  in  seiner  Abhandlung  'Die  Rätsel  der 
Königin  von  Saba',  Zs.  für  deutsches  Altertum  27,  1 — 33,  mit  Zusätzen  wieder 
abgedruckt  in  den  Gesammelten  Abhandlungen  von  W.  Hertz  1905  S.  413 — 455. 
Im  Midrasch  zu  den  Sprüchen  wird  von  der  Königin  gesagt:  'Sie  Hess  Knaben 
und  Mädchen  kommen,  alle  von  gleichem  Aussehen,  gleicher  Grösse  und  gleicher 
Kleidung,  und  sprach  zu  Salomo:  Sondre  mir  die  Männlichen  von  den  Weib- 
lichen!' Ähnlich  in  anderen  Quellen.  Mit  den  verschiedenen  Lösungen,  die  dem, 
Kinderrätsel  zuteil  geworden  sind,  kann  ich  mich  hier  nicht  befassen^);  nur  darauf 
sei  hingewiesen,  dass  die  Schlangenaufgabe  des  Jätaka  ebenfalls  in  verschiedener 
Weise  gelöst  worden  ist  (s.  Benfey,  Kleinere  Schriften  3,  174;  Schiefner-Ralston, 
Tibetan  Tales  p.  165).  Und  noch  eins.  Wenn  im  Jätaka  zwei  Aufgaben  neben- 
einander stehen,  die  beide  die  Geschlechtsunterscheidung  zum  Gegenstande  haben, 
so  tritt  uns  bei  den  Rätseln  der  Königin  von  Saba  eine  annähernd  gleiche  Er- 
scheinung entgegen.  Nachdem  berichtet  worden  ist,  wie  Salomo  das  Kinderrätsel 
löste,  heisst  es  in  dem  vorhin  angeführten  Targum  weiter:  'Die  Königin  tat  aber 
noch  etwas  Ähnliches,  indem  sie  Beschnittne  und  Unbeschnittne  brachte  und  zu 
ihm  sprach:  Sondre  mir  die  Beschnittnen  von  den  Unbeschnittnen!'  (A.  Wünsche, 
Die  Rätselweisheit  bei  den  Hebräern  1883  S.  16 f.;  vgl.  Folk-Lore  1,  354.  357). 

Wir  wenden  uns  zu  der  12.  Aufgabe,  die  Mahosadha  lösen  muss,  zu  der 
Edelsteinaufgabe.  Wie  aus  dem  KusajAtaka  (Nr.  531)  bekannt  ist,  hatte  einst 
Sakka,  der  Götterkönig,  dem  Kusa  einen  wunderbaren  Edelstein  geschenkt''). 
Dieser  Edelstein  wird  als  'an  acht*)  Stellen  krumm'  (gebogen,  gewunden)  be- 
zeichnet; mithin  war,  wie  man  annehmen  muss,  die  Höhlung  des  Steines,  durch 
die  ein  Faden  gezogen  war,  ebenfalls  'krumm',  denn  sie  folgte  naturgemäss  den 
Windungen  des  Steins.  Nun  war  der  Faden  zerrissen  (zerbrochen;  morsch  ge- 
worden), und  niemand  vermochte,   den  alten  Faden  aus  dem  Stein  herauszuziehen 


1)  Mit  dem  Kinderrätsel  hat  Friedr,  von  der  Leyen  eine  andere  indische  Scharfsinns- 
probe in  Parallele  gesetzt:  ein  kluger  Minister  entscheidet,  welche  von  zwei  ganz  gleichen 
Stuten  die  Mutterstute  und  welche  das  Fohlen  ist  (v.  d.  Leyen,  Das  Märchen  1911  S.  94; 
Archiv  für  das  Studium  der  neueren  Sprachen  115,  15.    116,  8). 

2)  Ausser  der  Abhandlung  von  Hertz  vergleiche  man  S.  Krauss,  Byzantinische  Zeit- 
schrift 11,  12Gf.;  M.  Gaster,  Folk-Lore  1,  ISoff.;  S.  Schechter  ebenda  S.856f.;  Tractatus 
de  diversis  historiis  Romanorum  ed.  Hertzstein  1893  S.  59  ff. 

3)  Jätaka  5,  310,  17.  312,  4.  Kraft  eines  wunderbaren  Edelsteins,  den  der  Götter- 
könig dem  siegreichen  Kusa  um  den  Hals  hängt,  wird  Kusas  Hässlichkeit  in  göttliche 
Schönheit  verwandelt:  s.  R.  Köhler,  Kl.  Schriften  1,  523.  526;  Schiefner-Ralston,  Tib. 
Tales  p.  28. 

4)  Acht  ist  eine  in  Indien,  zumal  bei  den  Buddhisten,  sehr  beliebte  Zahl;  s.  oben 
15,  77.  17,  189ff.  —  Nach  der  englischen  Übersetzung  des  Jätaka  Bd.  6,  S.  167  bedeutet 
der  Ausdruck  atthasu  thanesu  variiko  'an  acht  Stellen  krumm'  s.  v.  a.  'octagonaP.  Diese 
Übersetzung  kann  ich  nicht  für  richtig  halten  ('achteckig'  wäre  im  Päli:  atthamsa,  attha- 
kona).  Nur  unter  der  Voraussetzung,  dass  der  Stein  und  folglich  auch  das  Loch  darin 
'krumm'  waren  (man  denke  an  das  Gewinde  einer  Muschel),  lässt  es  sich  verstehen,  dass 
das  Herausziehen  des  alten  Fadens  und  das  Einfädeln  eines  neuen  so  schwierig  war. 


Kleine  Mitteilungen.  423 

und  einen  neuen  einzufädeln.  Aber  Mahosadha  bringt  es  zustande:  er  lässt  sich 
etwas  Honig  bringen,  beschmiert  das  Loch  in  dem  Stein  an  beiden  Seiten  (am 
Ein-  und  Ausgang)  mit  Honig,  dreht  einen  Wollladen,  beschmiert  ihn  an  der 
Spitze  (an  dem  einen  Ende)  gleichfalls  mit  Honig  und  schiebt  ihn  ein  Stück  in 
die  eine  Öffnung  des  Steines  hinein.  Den  Stein  selbst  legt  er  (mit  der  anderen 
Öffnung  zu  Unterst)  an  einen  Ort,  wo  Ameisen  herauskommen  (in  einen  Ameisen- 
haufen). Die  Ameisen,  von  dem  Duft  des  Honigs  angezogen,  kommen  aus 
ihrem  Loch  heraus,  kriechen,  indem  sie  den  alten  Faden  verzehren,  in  den  Edel- 
stein hinein,  fassen  den  Wollfaden  an  der  mit  Honig  beschmierten  Spitze  an  und 
zerren  ihn  durch  die  Öffnung  hindurch. 

Diese  Aufgabe  tritt  uns,  nebst  ihrer  Lösung,  in  sehr  ähnlicher  Passung  unter 
den  Rätselaufgaben  entgegen,  die  die  Königin  von  Saba  dem  Salomo  stellt:  aller- 
dings nicht  in  der  jüdischen  Überlieferung,  wohl  aber  in  der  arabischen,  wo 
die  Königin  den  Namen  BalqTs  (oder  ßilqis)  führt.  Ich  gebe  die  Zeugnisse  in 
aller  Kürze.  Meine  Quellen  sind  ausser  Hertz,  Ges.  Abhandlungen  S.  420 ff.  die 
Biblischen  Legenden  der  Muselmänner  von  G.  Weil  1845  und  die  Neuen  Beiträge 
zur  semitischen  Sagenkunde  von  M.  Grünbaum  1893. 

Die  Korankommentatoren  Zamalisarl  und  (kürzer)  Baidäwl  erzählen:  Balqis 
schickte  dem  Salorao  500  Jünglinge,  wie  Jungfrauen  aussehend,  und  500  Jung- 
frauen, wie  Jünglinge  gekleidet,    ferner ein  Kästchen,    in  dem  eine  unge- 

bohrte  Perle  sowie  ein  krummgebohrter  Onyx  war,  und  sprach  zu  einem  der 
Gesandten:  Wenn  er  ein  Prophet  ist,  so  wird  er  die  Jünglinge  und  Jungfrauen 
voneinander  unterscheiden,  die  Perle  durchbohren  und  durch  den  Edelstein 
einen  Faden  ziehen  können.  Salomo,  vom  Engel  Gabriel  über  alles  belehrt, 
fragte  die  Gesandten  nach  dem  Kästchen,  indem  er  ihnen  zugleich  sagte,  was  es 
enthielt.  Dann  Hess  er  den  Holzwurm^)  herbeibringen,  der  die  Perle  durch- 
bohrte, während  ein  weisser  Wurm  einen  Faden,  den  er  in  den  Mund  ge- 
nommen, durch  den  Onyx  hindurchzog.  Darauf  löste  Salomo  die  erste  Aufgabe, 
das  'Kinderrätsel'  (Grünbaum  S.  217f.;  vgl.  Hertz,  Ges.  Abhh.  S.  423). 

Nach  der  Weltchronik  des  Tabarl^)  befragte  Salomo  mit  Bezug  auf  die  un- 
gebohrte  Perle  zuerst  die  Menschen,  dann  die  Dschinnen  und  zuletzt  die  Dä- 
monen, auf  deren  Rat  er  den  Wurm  Arada  bringen  Hess,  der  mit  einem 
Faden  im  Munde  die  Perle  durchbohrte  und  zugleich  den  Faden  hindurchzog 
(Griinbaum  S.  220.  Die  Nichterwähnung  des  krummgebohrten  Onyx  erklärt 
sich,  wie  Grünbaum  bemerkt,  aus  der  Lückenhaftigkeit  des  Textfes.    Vgl.  Hertz  S.  422). 

Die  einander  ähnlichen  Jünglinge  und  Jungfrauen,  die  zu  durchbohrende 
Perle  und  der  krumm  gebohrte  Onyx  werden  auch  in  den  Prophetengeschichten 
des  al-Kisäi  und  des  Tha'labi  erwähnt  (Grünbaum  S.  220;  Hertz  S.  422  f.). 

Besondere  Erwähnung  verdient  noch  die  arabische  Legende  bei  Weil  S.  260ff. 
(im  Auszug  bei  Hertz  S.  424).  Danach  durchbohrte  Salomo  die  undurchlöcherte 
Perle  mit  dem  Stein  Sämür^),  dessen  Kenntnis  er  dem  Dämonen  Sachr  und  einem 


1)  Nach  Baidawi  bei  Hertz  8.42:')  nimmt  ein  Bobrwurin  ein  Haar  und  zieht  es 
durch  die  Perle;  vgl.  Tabarl  ebenda  S.  422. 

2)  In  Bal'amis  persischer  Überarbeitung  von  Tabaris  Chronik  wird  nur  ein  un- 
durchbohrter  Rubin  erwähnt.  'Salomo  hiess  seine  Diws  einen  Diamant  holen,  um 
■den  Rubin  damit  zu  durchbohren'  i  Hertz  S.  420). 

,">)  Dies  ist  der  Stein  Schamir,  der  auch,  und  zwar  gewöhnlich,  als  Wurm  aufge- 
fasst  wird;  s.  Steinschneider,  Hebräische  Bibliographie  18,  59  f.;  Grünbaum,  Neue  Beiträge 
1893  S.  229f.:  Gesammelte  Aufsätze  1901  S.  31ff.  42f.:  S.  Singer,  Zs.  f.  deutsches  Alter- 
tum 35,  178.  183  f.  (wo  weitere  Literaturangaben). 


424  Zachariae,  Bolte:  Kleine  Mitteilungen. 

Raben  verdankte  (Weil  S.  236);  nur  das  Einfädeln  des  Diamanten,  dessen 
Öffnung  alle  möglichen  Krümmungen  machte,  setzte  ihn  in  einige  Ver- 
legenheit, bis  endlich  ein  Satan  einen  Wurm  brachte,  der  sich  durchwand  und 
einen  seidenen  Faden  zurückliess.  Salomo  fragte  den  "Wurm,  womit  er  ihn  für 
diesen  grossen  Dienst  belohnen  könne.  Der  Wurm  erbat  sich  einen  schönen 
Fruchtbaum  zur  Wohnung.  Salomo  wies  ihm  den  Maulbeerbaum  an,  der  von 
dieser  Stunde  an  für  alle  Zeiten  den  Seidenwürmern  sicheres  Obdach  und 
Nahrung  gewährt.  — 

Es  liegt  somit  in  der  Salomosage  und  im  Jätaka  dieselbe  Aufgabe  vor:  es 
soll  durch  einen  krummdurchbohrten  Edelstein  ein  Faden  gezogen  werden.  Auch 
die  Lösung  der  Aufgabe  wird  in  fast  gleicher  Weise,  durch  kleine  Tiere,  durch 
Würmer  oder  Insekten,  herbeigeführt.  Nach  der  Darstellung  bei  Weil  spinnt  ein 
Seiden  wurm  den  Faden  selbst;  er  kriecht  durch  die  Öffnung  des  Steins  und 
lässt  den  Faden  darin  zurück.  Im  Jätaka  werden  die  Ameisen  durch  den  Duft 
des  Honigs  bewogen,  in  die  Öffnung  hineinzukriechen.  Dieser  Zug  ist  der 
indischen  Fassung  der  Rätselaufgabe  eigentümlich. 

In  der  Salomosage  wird,  ausser  dem  Ziehen  eines  Fadens  durch  eine  bereits 
vorhandene  Öffnung,  auch  die  Durchbohrung  eines  Steines  verlangt  und  von 
einem  Holzwurm  ausgeführt.  Die  Vorstellung,  dass  ein  Stein  von  einem  Wurm 
(oder  Insekt)  durchbohrt  werden  kann,  findet  sich  auch  in  Indien.  Die  Höhlungen 
in  dem  heiligen  Sälagräma-Stein')  sollen  von  Würmern  (vajrakTfa),  oder  von 
Visnu  in  der  Gestalt  eines  Wurmes  gebohrt  worden  sein. 

Halle  a.  S.  Theodor  Zachariae. 


Aus  Hermann  Kestners  Yolksliedersammlung^). 

i.  Vogel  im  Käfig. 

(Dänisch  mit  Melodie  bei  Berggreeu,  Folkesange  og  Melodier  1^,  200  Nr.  109:  'En  eeulig 

Fugl  udi  sit  Buur\) 

1.  Ein  Vöglein  in  dem  Käfig  klagt, 
Dass  Freiheit  ihm  entrissen. 

Was  nützt  ihm  seiner  Schwingen  Macht, 
Die  Bande  fest  umschliessen! 

0  war  ich  frei  und  könnte  wandern, 
Anstatt  im  Kerker  hier  von  Gold 
Zu  nehmen  Brot  von  andern! 

2.  So  froh  und  frei  flog  einst  ich  aus, 
Nun  muss  ich  Knechtschaft  leiden. 
Ein  goldner  Kerker  ist  mein  Haus 
So  eng  nach  allen  Seiten. 

Nur  meiner  Sehnsucht  heisse  Träume 
Ziehn  in  die  weite  Welt  hinaus 
Durch  schrankenlose  Räume. 

Berlin.  Johannes  Bolte. 


1)  Literatur  über  den  Sälagrnma  s.  oben  15,  92 f. 

2)  Über   H.  Kestners   (1810—1890)    ungedruckte    Sammlungen    deutscher    und    aus- 
ländischer Volkslieder  vgl.  oben  12,  57. 


V.  der  Leyen:  Bücheranzeigen.  ^'2r> 


Büclieraiizeififeii. 


Ö' 


Anmerkungen  zu  den  Kinder-  und  Hausniärchen  der  Brüder  Grimm, 

neu  bearbeitet  von  Johannes  Bolte  und  Georg  Polivka.  1,  Band 
(Nr.  1—60).  Leipzig,  Dieterich  (Th.  Weicher)  1913.  YIII,  556  S.  gr.  8°. 
Geh.  12  Mk.,  geb.  14  Mk. 

Von  den  "Wissenschaften,  die  in  den  letzten  Jahrzehnten  um  Anerkennung 
und  um  Gleichberechtigung  mit  älteren  und  bewährteren  kämpfen,  fordert  die 
Märchenforschung  ein  ganz  besonderes  Mass  von  Arbeitskraft  und  Entsagung, 
Bescheidenheit  und  Vorsicht.  Das  Material  kaum  einer  anderen  "Wissenschaft  ist 
so  reich,  so  verstreut  über  alleLänder  und  Zeiten,  so  versteckt  in  andere  Gattungen 
der  Literatur,  so  schwankend  in  seinem  Wert  und  so  abhängig  von  der  Art  der 
Sammler  und  Erzähler,  so  wenig  gesichert  gegen  neue  Funde  und  Überraschungen 
und  so  unaufhörlich  in-  und  durcheinandergleitend.  Es  muss  uns  wie  eine  gütige 
Fügung  erscheinen,  dass  gerade  in  Deutschland  der  Märchenforschung  sich  Ge- 
lehrte zuwandten,  die  jene  Tugenden  der  unverdrossenen  Arbeit  und  der  selbst- 
losen Entsagung  in  vorbildlicher  Kraft  besassen.  Hier  seien  vor  allem  Jacob  und 
Wilhelm  Grimm  und  Reinhold  Köhler  genannt.  Die  Anmerkungen  der  Brüder 
Grimm  zu  ihren  Märchen  haben  nun  Johannes  Bolte  und  Georg  Polivka  erneut, 
und  sie  haben  ihr  Werk  dem  Andenken  von  Reinhold  Köhler  gewidmet.  Der 
erste  Band  des  langersehnten  Buches  liegt  nun  vor!  Wir  wollen  gleich  bemerken, 
dass  es  im  besten  Geist  der  Grimm  und  Köhler  gehalten  ist,  dass  es  eine  Fülle 
von  Materialien  zusammenträgt,  die  fast  die  Kraft  einzelner  zu  übersteigen 
scheint,  und  dass,  auf  lange  Zeit  hinaus,  das  ganze  Werk  ein  Schatzhaus  bleiben 
wird,  aus  dem  die  Märchenforschung  sich  gesicherte  Kenntnisse  und  Erkenntnisse 
holen  kann. 

Bolte  und  Polivka  haben  in  ihren  neuen  Anmerkungen  das  Werk  und  den 
Wortlaut  der  Brüder  Grimm  nach  Möglichkeit  geschont,  auch  den  Abdruck  merk- 
würdiger abweichender  deutscher  Fassungen  der  Märchen  wiederholt,  ebenso  den 
Abdruck  interessanter  Fassungen  aus  früheren  Jahrhunderten.  Nicht  nur  die  von 
den  Brüdern  in  allen  Auflagen  aufgenommenen  Märchen  sind  behandelt,  auch 
solche,  die  später  unterdrückt  oder  nur  auszugsweise  wiedergegeben  wurden.  Die 
Zahl  der  Varianten  aus  deutschen  und  fremden  Ländern  ist  natürlich,  entsprechend 
dem  fast  unübersehbaren  Zuwachs  von  Märchenaufzeichnungen  und  Märchen- 
sammlungen, den  das  vergangene  Jahrhundert  brachte,  im  Vergleich  mit  den  Hin- 
weisen der  Brüder  Grimm,  fast  in  das  Beängstigende  gestiegen.  Doch  wird  die 
Übersicht  durch  eine  klare  Anordnung  und  Einteilung  überall  ermöglicht.  Dabei 
gehen  die  Verfasser  nicht  nur  den  Parallelen  des  ganzen  Märchens  oder  seinen 
wesentlichen  Motivreihen  nach,  sondern  auch  einzelne  Motive  finden  ihre  eingehende 
Behandlung,  und  diese  erstreckt  sich,  sobald  die  Materialien  vorliegen,  bis  auf 
den  fernen  Osten,  bis  auf  die  primitiven  Völker,    bis  auf  das  klassische  Altertum. 


426  ^-  <iß'"  Leyen,  Boehm: 

Alle  Wissenschaften,  die  der  Literatur  dieser  Völker  gelten,  haben  daher  ihren 
Vorteil  von  der  unvergleichlichen  und  anspruchslosen  Belesenheit  unserer  Ver- 
fasser. Namentlich  ist  es  unschätzbar,  dass  durch  die  Mitwirkung  Georg  Polivkas 
die  slawischen  Materialien  in  einer  noch  nie  erreichten  systematischen  Vollständig- 
keit beigebracht  und  verwertet  werden.  Irgendwelche  kleine  Nachträge  zu  liefern, 
scheint  uns  zwecklos  und  wichtigtuerisch:  das  Wenige,  was  man  vermisst,  bringt 
wahrscheinlich  der  zweite  Band,  oder  die  Bearbeiter  hatten  ihre  guten  Gründe, 
wenn  sie  aus  den  ihnen  zu  Gebote  stehenden  Hinweisen  eine  Auswahl  trafen. 

Absichtlich  halten  Bolte  und  Polivka  ihren  Literaturangaben  die  mythologischen 
Deutungsversuche  der  Märchen,  und  damit  viele  Verwirrung  und  haltlose  Phantasien 
fern.  Ebenso  ist  die  Zurückhaltung  gegenüber  den  anthropologischen  und  psycho- 
logischen Theorien  begreiflich,  die  uns  die  meisten  Märchenmotive  aus  dem 
Glauben  und  den  Sitten  der  Urzeit  oder  aus  seelischen  Erregungen  ableiten.  Frei- 
lich sind  die  Ergebnisse  hier  viel  gesicherter,  anerkannter  und  einleuchtender,  und 
der  Referent  hätte  gern  eine  Reihe  von  Hinweisen  auf  die  Bücher  von  Tylor, 
Spencer,  Frazer,  Andree,  Peilberg  gefunden,  sogar  auf  Ludwig  Laistner,  schon 
weil  dieser  jedesmal  reichhaltige  und  beachtenswerte  Materialien  bringt.  Auch 
hätten  wir  gern  gesehen,  wenn,  besonders  bei  lebhaft  umstrittenen  Märchen,  wie 
z.  B.  bei  dem  treuen  Johannes,  dem  Teufel  mit  den  drei  goldenen  Haaren,  dem 
Brüdermärchen  ausführlicher  auf  die  Geschichte  der  Forschung  und  auf  die  Theorie 
des  Ursprungs  eingegangen  wäre.  Von  solchen  Verweisen  hätte  ausser  der 
Märchenkunde  auch  die  Poetik  einen  grossen  Gewinn  gehabt;  wird  doch  die  Be- 
deutung des  Märchens  für  die  Poetik,  d.  h.  für  die  Wissenschaft  vom  Ursprung, 
den  Formen  und  der  Wirkung  der  Dichtung,  immer  klarer.  So  liefern  die  An- 
merkungen denen  ein  unschätzbares  Material,  die  die  Zusammensetzung,  Umsetzung, 
Zersetzung  der  Märchen  und  Märchenmotive,  die  Veränderungen  ihrer  literarischen 
Formen,  die  Anpassung  an  den  Geschmack  und  die  Bedürfnisse  des  Volkes  studieren 
wollen.  Aber  auf  das  erste  Werden,  die  primitiven  Anfänge  des  Märchens,  ebenso 
auf  die  Art,  auf  Alter,  Stand,  Geschlecht  des  Erzählers,  auf  die  Gesetze  der 
Märchenform  und  auf  die  Märchenformeln  fallen  nur  wenig  Lichter.  Die  ver- 
gleichende Literaturgeschichte  muss  den  Anmerkungen  von  Bolte  und  Polivka  vor 
allem  danken,  die  Forscher,  die  in  dem  Märchen  namentlich  das  literarische  ins 
Volk  gewanderte  Kunstwerk,  das  Kunstmärchen  im  Volksmund  sehen.  —  Dagegen 
sind  mit  vollem  Recht  die  psychoanalytischen  Erklärungen  der  Märchen,  die  Ar- 
beiten der  Schule  von  Freud,  übergangen.  Das  Wenige,  was  an  i]inen  viel- 
leicht haltbar  sein  mag,  ist  uns  vorher  von  anderen  Forschern  übermittelt  worden, 
und  alle  anderen  Hypothesen  sind  vorläufig  so  unwissend  und  so  unkritisch,  so 
gewaltsam  und  willkürlich  in  der  Behandlung  und  Verwertung  des  Materials,  dass 
sie  eine  Berücksichtigung  durch  die  strenge  Wissenschaft  noch  nicht  verdienen. 

Gerade  nachdem  durch  die  unablässigen  Mühen  unserer  beiden  Forscher  allen 
zukünftigen  Gelehrten,  die  der  V^erbreitung  und  der  Geschichte  der  Märchen  nach- 
gehen, die  Arbeit  überall  erleichtert  und  oft  ganz  abgenommen  wurde,  müssen 
wir  fordern,  dass  dies  Buch  mit  derselben  Vorsicht  und  Sorgfalt  benutzt  wird,  mit 
der  es  geschaffen  wurde.  Namentlich  die  Hinweise  auf  die  Arbeiten  anderer  Ge- 
lehrter sollten  nicht  einfach  übernommen,  sondern  jedesmal  nachgeschlagen 
werden.  Man  wird  darin  manche  Ergänzungen  und  Nachweise  finden,  die  Bolte 
und  Polivka  absichtlich  nicht  im  einzelnen  verzeichneten.  Überhaupt  wird  es  sich 
immer  empfehlen,  die  Werke  und  Studien  von  Reinhold  Köhler,  Chauvin,  Cosquin, 
Gaston  Paris,  Antti  Aarne,  Dähnhardt  zur  Ergänzung  zu  vergleichen. 

Der    letzte    Band    soll    ein     alphabetisches    Verzeichnis    der    Märchenmotive 


Bücheranzeigen.  427 

bringen.  Im  Anschluss  daran  wären  noch  andere  Übersichten  erwünscht,  sei  es 
im  dritten  Band  und  von  den  gleichen  Verfassern,  sei  es  von  anderen  Gelehrten 
an  anderer  Stelle  —  nachdem  diese  wahrlich  genug  Lebenskraft  und  Lebenszeit 
geopfert,  um  ein  Urkundenbuch  der  Märchenforschung  zu  schaffen.  Wir  wünschten 
eine  Tabelle,  aus  der  hervorgeht,  welches  Märchen  sich  mit  anderen,  und  wie  und 
wie  oft  es  sich  mit  anderen  verflochten  oder  durchflochten  hat,  und  wie  sich  in 
diesen  Verflechtungen  die  einzelnen  Länder  ähneln  und  unterscheiden.  Dann 
wünschen  wir  eine  Karte  zu  jedem  Märchen,  die  nach  Massgabe  unserer  Kenntnis 
sein  geographisches  Verbreitungsgebiet  und  seine  Dichtigkeit  in  den  verschiedenen 
Ländern  und  Landschaften  darstellt.  Vielleicht  wären  die  deutschen  Karten  von 
den  Weltkarten  zu  trennen,  und  vielleicht  sollte,  wenn  die  Daten  vorliegen,  auch 
vermerkt  werden,  aus  welchen  Jahrhunderten  und  wie  oft  in  den  Jahrhunderten 
das  Märchen  bezeugt  ist.  Ein  solcher  Märchenatias  würde  die  Beteiligung  der 
einzelnen  Länder  an  der  Märchenerzählung,  sowie  die  gebenden  und  nehmenden 
Mächte  im  deutschen  Märchen  sehr  anschaulich  zeigen.  Ebenso  würde  er  der 
Auffindung  der  Zusammenhänge  und  Wanderungen  der  einzelnen  Varianten  und 
Motivgruppen  —  einer  sehr  verwickelten  Aufgabe  —  gründlich  und  kräftig  vor- 
arbeiten. 

Wir  werden,  wenn  uns  der  zweite  Band  vorliegt,  noch  einmal  auf  das  ganze 
Werk  zurückkommen.  Diesmal  möchten  wir  nicht  ohne  vaterländischen  Stolz  be- 
tonen, dass  auch  in  diesem  Buch  der  Zweibund  von  Deutschland  und  Österreich 
ein  Werk  geschaffen,  das  andere  Völker  so  bald  nicht  nachmachen  werden.  Auf 
der  einen  Seite  ist  es  ein  Zeugnis  jenes  selbstverleugnenden,  unverdrossenen,  das 
Kleinste  nicht  übersehenden  Gelehrtenfleisses,  den  wir  deutsch  nennen  dürfen,  auf 
der  anderen  Seite  ein  wundervolles  Dokument  von  Überblick  und  von  Verständnis 
für  die  Märchen  der  ganzen  Welt  und  ihr  Behagen  an  Spiel  und  Leben.  Die 
geistige  und  friedliche,  so  stille  Welteroberung  dieses  Buches  ist  ein  seltsames 
Vorspiel  zu  den  ungeheuren  Kämpfen  um  die  Weltherrschaft,  in  die  Deutschland 
nun  gedrängt  wird;  möge  sie  auch  eine  glückliche  Vorbedeutung  sein.  Möge  der 
zweite  Band  in  die  Zeit  des  Friedens  fallen,  und  eindringlicher,  als  es  der  erste 
nun  kann,  der  Welt  zeigen,  dass  Deutschland  ausser  politischen  und  militärischen 
auch  wissenschaftliche  Anrechte  auf  eine  Weltherrschaft  besitzt. 

München,  im  Oktober  1914.  Friedrich  v.  der  Leyen. 


August  Hausrath  und  August  Marx,  Griechische  Märchen.  Märchen, 
Fabeln,  Schwanke  und  Novellen  aus  dem  klassischen  Altertum,  ausge- 
wählt und  übertragen.  Mit  23  Tafeln.  Jena,  E.  Diederichs  1913. 
1.— 3.  Tausend.     XXII,  363  S.     8^     Geh.  6  Mk.,  geb.  7,50  Mk. 

In  der  vornehmen  und  gediegenen  Ausstattung,  die  man  bei  dem  Diederichsschen 
Verlage  von  jeher  gewohnt  ist,  vereinigt  dieser  mit  trefflichen  Abbildungen  ge- 
schmückte Band  über  hundert  ausgewählte  Stücke  in  deutscher  Übersetzung;  Marx 
übertrug  die  Abschnitte  aus  Herodot,  Chares  und  Älian  sowie  die  Erzählung  des 
Apuleius  von  Amor  und  Psyche,  Hausrath  das  übrige.  Das  Märchen  hat  es  be- 
kanntlich im  Altertum  zu  einer  besonderen  Literaturgattung  nicht  gebracht,  und  es 
war  gewiss  keine  geringe  Arbeit,  aus  der  Menge  der  antiken  Schriftwerke  die 
Stücke  herauszuheben,  die  märchenhaften  Charakter  oder  wenigstens  märchenhafte 
Züge    am    deutlichsten    an    sich    tragen.     Einen  besonders    breiten  Raum  nehmen 


428  Boehm,  Schelenz: 

natürlich  die  Tiermärchen  und  Fabeln  ein,  von  denen  ja  in  den  äsopischen  Fabeln 
und  denen  des  Babrius,  Romulus  u.  a.  zahlreiche  Stücke  hinter  der  kunstpoetischen 
oder  rhetorisch  gefärbten  Form  das  volkstümliche  Urbild  mehr  oder  weniger  klar 
erkennen  lassen.  Dazu  fügten  die  Herausgeber  Novellen  und  Schwanke,  besonders 
aus  Herodot,  auch  solche  aus  späterer  Zeit  (Äschines,  Lucian,  Apuleius),  Legenden 
und  Balladen  des  Bacchylides,  Wundergeschichten  aus  dem  Alexanderroman  und 
die  beiden  Glanzstücke  aus  den  Satiren  des  Petronius,  das  Gastmahl  des  Tri- 
malchio  (z.  T.  übersetzt)  und  die  Witwe  von  Ephesus. 

Seit  Rohdes  'Griechischem  Roman'  hat  sich  die  Forschung  immer  lebhafter 
mit  den  hier  in  Proben  gegebenen  Literaturzweigen  beschäftigt;  von  neueren  Ar- 
beiten seien  besonders  erwähnt  Reitzenstein,  Hellenistische  Wundererzählungen 
(Leipzig  1906)  und  Das  Märchen  von  Amor  und  Psyche  (Leipzig  1912).  Und  ebenso 
wie  der  klassische  Philologe  beginnt,  Olriks  'Gesetze'  auch  für  die  Rekonstruktion 
antiker  Märchen  zu  verwenden,  haben  Germanisten,  wie  Bolte  (vgl.  oben  S.  425)  und 
von  derLeyen  (Das  Märchen,  1911),  auch  den  Märchen  des  Altertums  ihre  Aufmerk- 
samkeit zugewendet.  Unter  diesen  Umständen  ist  die  vorliegende  Sammlung  als  ein 
überaus  erwünschtes  Hilfsmittel  zu  begrüssen,  die  Kenntnis  von  dem,  was  man  als 
antike  Märchen,  Schwanke  u.dgl.  bezeichnen  kann,  in  \veiteren,  für  die  Volkskunde 
interessierten  Kreisen  zu  verbreiten.  Auch  der  klassische  Philologe  wird  diese 
Zusammenstellung  des  so  weit  zerstreuten  Stoffes  dankbar  entgegennehmen.  Die 
Übersetzung  der  prosaischen  Abschnitte  liest  sich  meist  sehr  glatt,  obwohl  sie 
sich,  nach  Stichproben  zu  urteilen,  ziemlich  eng  an  den  Text  hält,  von  den  nötigen 
Zusammenziehungen  abgesehen;  weniger  tadellos  scheint  mir  stellenweise  die 
Wiedergabe  der  poetischen  Stücke,  besonders  der  Abschnitte  aus  Homer.  Aufge- 
fallen sind  mir  einige  Milderungen  erotischer  Stellen  in  Amor  und  Psyche; 
freilich  kann  der  schillernde  Stil  des  Apuleius  überhaupt  in  einer  Übersetzung 
nicht  wiedergegeben  werden.  Hinw^eisen  möchte  ich  bei  dieser  Gelegenheit  auf 
einen  ausgezeichneten  Aufsatz  von  Richard  Helm  in  den  Neuen  Jahrbüchern  17,  170 
(Das  'Märchen'  von  Amor  und  Psyche),  in  dem  H.  gegenüber  der  symbolischen 
Ausdeutung  Reitzensteins  m.  E.  mit  grosser  Gelehrsamkeit  nachweist,  dass  diese 
weltberühmte  Erzählung  keine  allegorische  Darstellung  eines  Mysteriums,  auch 
nicht,  wie  andere  meinen,  die 'Bearbeitung  eines  wirklichen  Volksmärchens  ist, 
sondern  eine  frei  erfundene,  für  die  Unterhaltung  des  Lesers  bestimmte  Götter- 
liebesgeschichte, aufgebaut  auf  Motiven  aus  der  Sage  und  Poesie  und  von  einer 
Reihe  von  Märchenzügen  durchsetzt.  Freilich  enthalten  auch  eben  jene  Sagen- 
motive viel  Märchenhaftes.  Ferner  hat  Hausrath  im  Julihefte  derselben  Zeitschrift 
(N.  Jb.  17,  441)  interessante  Beiträge  zur  ionischen  Novellistik  geliefert,  die  sich 
vielfach  mit  dem  in  der  inhaltreichen  Vorrede  des  vorliegenden  Buches  Aus- 
geführten berühren. 

Berlin-Pankow.  Fritz  Boehm. 


August  Ackermann,  Der  Seelenglaube  bei  Shakespeare.  Eine  mytho- 
logisch-literarwissenschaftliche  Abhandlung.  Frauenfeld,  Huber  &  Co. 
1914.     VI,  151  S.     S\     2,80  Mk. 

Gestützt  auf  genaue  Kenntnis  der  bisher  erschienenen  weitschichtigen  Arbeiten 
über  die  in  den  Dramen  des  grossen  Briten  zutage  tretenden  Anschauungen  in 
bezug  auf  Seelen-  und  Geisterglauben,  unternimmt  es  der  Verfasser,  diesen  Glauben 


Bücheranzeigen.  429 

zusammenhängend  von  der  mythologischen  Seite  darzustellen.  Als  wertlos,  albern 
tut  er  einen  Teil  der  früheren  Arbeiten  ab,  geistreich  oder  wenigstens  wissen- 
schaftlich verwertbar  nennt  er  andere.  Ästhetisch-belletristische  Darstellungen  hat 
er  ebenso  wie  antiquarische,  die  sich  auf  die  Zusammenhänge  von  Shakespeares 
Wissen  mit  volkstümlichen  englischen  Überlieferungen  beziehen,  von  seinem 
Standpunkt  mit  Recht,  unbenutzt  gelassen.  Wenn  er  seine  eigenen  Wege  geht, 
weil  er  die  Wege  seiner  wirklich  mythologischen  Gesichtspunkten  nachspürenden 
Vorläufer  als  von  verkehrten  Voraussetzungen  getragen,  veralteten  Gewährsmännern 
blindlings  folgend,  ansieht,  so  kann  man  das  nur  loben.  Vielleicht  tut  das  der  Verf. 
auch  mit  ähnlichen  Arbeiten  von  mir,  deren  Erscheinen  die  Rriegsfurie  verzögert 
hat,  ihrer  Selbständigkeit  wegen.  Jene  Gelehrten  allerdings  (z.  B.  Simrock,  der 
'absurde'  Bell  usw.)  würden  oder  werden  sich  gegen  das  über  sie  gefällte  harte 
Urteil  auflehnen.  „So  viel  Schriftsteller,  so  viel  Theorien"  über  den  Animismus, 
trotzdem  seit  Tylors  Werk  darüber  unter  den  meisten  Mythologen  fast  nur  eine 
Meinung  besteht,  meint  der  Verf.  Vielleicht  geht  der  Streit  letzten  Endes  nur  um 
Worte.  Soweit  sie  die  (Menschen-)  Seele  bedeuten,  sprechen  sie  ursprünglich 
(wie  ich  seinerzeit  ebenfalls  ganz  unabhängig  von  Vorläufern  fand  und  in  meiner 
Arbeit  über  Organtherapie  ausführte)  von  bewegter  Luft.  Auf  geradezu  unwill- 
kürliche allgemeine  Uranschauungen  geht  zweifellos  das  Wort  der  Schöpfungssage 
zurück:  'Er  blies  einen  lebendigen  Odem  ein',  und  was  schliesslich  in  dem  Wort 
rrärta  gsT  festgelegt  w^urde,  stützte  sich  jedenfalls  auch  auf  Naturanschauungen. 
Auch  der  Geist,  die  Seele  (anima,  ärsfio;)  bewegte  sich,  da  sie  unsichtbar,  un- 
fassbar  war,  gleich  der  zweifellos  menschlich  gedachten  Gottheit,  oder  ward  von  ihr 
bewegt  wie  Luft  oder  Wind.  „Es  flog  mir  an",  sagt  das  Volk  noch  besonders 
von  Krankheiten  unbekannter  (dämonischer)  Ursache.  Die  'Winds  from  behind', 
die  'Flatus',  die  sich  die  Hexen,  wieder  den  christlichen  heiligen  Geist  verhöhnend, 
geben,  sind  für  diese  Annahmen  ebenfalls  beweisend.  Später  hat  man  erst,  meine 
ich,  gleichlaufend  mit  Erwägungen  des  Grauens  vor  der  Dunkelheit,  von  Geistern 
(und  von  Gespenstern)  wiederkehrender  (franz.  revenant)  Verstorbener,  von 
Schatten,  shadow  (axÖTog  [Todes-]  Dunkel)  und  ö}itd  —  Schemen  gesprochen. 
Wandelbar,  wie  sie  sind,  auch  weil  die  Phantasie  das  Auge  des  Beschauers  ver- 
wirrt, spielt  ihre  Gestalt  kaum  eine  Rolle.  Das  Seelenwesen  'verwandelt'  sich 
ganz  nach  Belieben.  Die  wichtigste,  für  den  Verfasser  vornehmlich  in  Betracht 
kommende  Gestalt  ist  die  des  Seelenwesens  Mensch.  Dass  solche  Annahmen  zu 
der  weiteren  der  Trennung  der  Seele  vom  Träger  und  der  Portdauer  nach  dessen 
Tode  führten,  ist  klar,  ebenso  die  Annahme  der  Überwanderung  auf  einen  anderen 
Träger.  Die  Anschauungen  Shakespeares  über  die  Seele  als  bewegendes  Moment 
und  als  überlebenden  Teil  des  Menschen,  seine  in  der  Tat  erstaunlich  reiche 
mythologische  Welt  dem  Leser  vor  Augen  zu  führen,  ist  dem  Verfasser,  wie  zu- 
gestanden werden  muss,  vortrefflich  gelungen.  Häufig  genug  spricht  der  Dichter 
von  Luftgeistern.  Dass  der  Name  Ariel  auf  einen  'aerial'  spirit  zurückgeht, 
scheint  mir  doch  nicht  unbestreitbar.  Ich  meine,  dass  dem  Namen  und  der  Figur 
doch  der  alttestamentarische  Ariel  zugrunde  liegt,  wie  er  durch  Wyclif  nordwärts 
gekommen  ist  und  zu  des  Dichters  Zeit  wohl  schon  als  Wasser-  und  Luft-Geist 
galt.  Dass  solche  Geister  den  Menschen  (ausgenommen  besonders  begnadeten) 
unsichtbar  und  ausserdem  unverwundbar  waren,  liegt  schon  an  ihrer  Luftgestalt. 
Dass  sie  in  feuriger  Gestalt  umgingen,  ist  eine  einfache  weitere  Folge.  Der  fröh- 
liche Puck  wird  eingehend  gewürdigt.  Sollte  dieser  Gobiin  nicht  auch  sprachlich 
mit  den  Pochijeistern  zu  tun  haben?  In  dem  Kapitel  Seolentiere  fällt  mir  die 
Schreibung  Cowlip    auf,    die  vielleicht  auf  einem  Druckfehler  beruht.     Es  heisst 


430  Schelenz: 

jedenfalls  richtig  Cowslip.  Was  die  Stelle:  'SyCorax  with  age  and  envy  was 
grown  into  a  hoop'  betrifft,  so  ist  die  Deutung  geistreich  und  zeugt  für  das  findige 
Auge  des  Verfassers.  Das  Alter  drückte  aber  doch  nur  die  Hexe  wie  einen 
Haken  zusammen,  nicht  in  die  Gestalt  eines  Wiedehopfs,  wie  mir  als  allein 
berechtigt  eben  noch  von  einem  gelehrten  Engländer  bestätigt  wurde.  Das  inter- 
essante Seelentier  soll  auch  ob  seiner  Seltenheit  für  England  nicht  in  Frage 
kommen.  In  bezug  auf  die  Meterapsychose  vermisse  ich  die  Stelle  im  Antonius, 
wo  in  bezug  auf  das  Krokodil  gesagt  wird,  dass  die  'Elements  transraigrate'.  In 
meinem  Buch  'Shakespeare  und  sein  Wissen  auf  den  Gebieten  der  Arznei-  und 
Volkskunde'  brachte  ich  sie  1,  249.  Vielleicht  stützen  sich  die  bezüglichen  An- 
gaben auf  Marlowe.  Dass  man  nur  menschenähnlich  gestalteten  und  grossen 
Elfen  Reigentänzen  zutrauen  kann,  scheint  mir  nicht  unbedingt  nötig.  Auch 
'demy  puppets',  ja  fast  mikroskopische  Minimus,  kann  ich  mir  tanzend  denken, 
und  fairy-rings  könnten  doch  nur  sehr  kleine  Persönchen  niedergetreten  haben. 
Die  Hexen  salbten  sich,  wie  schön  auf  einem  Bilde  von  Franns  Francken  darge- 
stellt ist,  nicht  um  sich  etwa  für  den  Luftdruck  geschmeidig  zu  machen.  Infolge 
der  Anwendung  der  narkotischen  Salbe  traten  Halluzinationen  ein.  Wie  im 
Traum  fühlten  sich  die  Hexen  emporgehoben,  fliegend.  Die  Stelle  mit  dem  Sieb 
als  Fahrzeug  ist  auch  mir  rätselhaft.  Vielleicht  liegt  ihr  ein  Irrtum  zugrunde. 
Als  Hexenarbeit  finde  ich  Wasserschöpfen  mit  einem  Sieb.  Direkter  Anschluss  an 
Flutarch,  wie  man  aus  verschiedenen  Stellen  herauslesen  kann,  ist  wohl  bei 
Shakespeare  nicht  anzunehmen.  Dass  vieles  von  seiner  hierher  gehörigen  Weis- 
heit letzten  Endes  antiken  Ursprungs  ist,  nicht  bodenständig  oder  allgemein  ger- 
manisch etwa,  ist  begreiflich.  Federn  der  gerade  durch  sie  unheimlich  wirkenden 
Eule  mussten  folgerecht  ähnlich  gewertet  werden.  Das  Frodigium  der  verwelken- 
den Lorbeerbäume  braucht  man  kaum  als  antiken  Ursprungs  zu  erklären.  Miss- 
wachs, allein  ein  Unglück,  kündet  ohne  weiteres  Unglück.  Bei  den  mühsam  ein- 
geführten und  gepflegten  Lorbeerbäumen  musste  das  Welken  besonders  auffallen 
und  zu  Prophezeiungen  Anlass  geben.  Für  des  Dichters  Bekanntsein  mit  Peuer- 
geistern  spricht  auch,  wie  ich  bemerken  möchte,  die  für  mein  Wissensgebiet 
interessante  Stelle  mit  den  Light  wenches,  übrigens  auch  der  Burning  devil.  Ich 
erwähnte  sie  in  meinem  Werk  I,  114.  115.  Wenn  Imogen  um  Schutz  vor  den 
'Terapters  of  the  night'  betet,  so  denkt  sie  zweifellos  an  den  Nachtmar,  der  den 
Mädchen  so  vorzügliche  sexuelle  Belehrung  zuteil  werden  lässt,  wie  an  anderer 
Stelle  gesagt  ist.  Die  Deutung  des  Namens  Mab  kann  ich  unmöglich  für  be- 
rechtigt ansehen.  1557  ist,  wie  Murray  angibt,  schon  von  Mother  Mab,  old  rotten 
witch  die  Rede.  Mab  als  Abkürzung  für  Mabel  war  zu  Shakespeares  Zeiten  auch 
schon  gang  und  gäbe.  Das  'Verheddern'  der  Haare  ist  lediglich  als  Strafe  ver- 
ärgerter Elfen  oder  Hexen  zu  deuten,  daher  auch  der  Name  Wichtelzopf  (polnisch 
beiläufig  Wieszczyce,  gleichzeitig  der  Name  für  die  wissenden  Hexen).  Geheilt 
wird  er  mit  'Hexenmehl'.  Ich  bin  der  Überzeugung,  dass  der  Dichter  auch  ohne 
den  Einfluss  von  Reginald  Scot  über  alles,  was  in  das  Gebiet  der  'geheimen 
Wissenschaften'  gehörte,  rationalistisch  dachte.  Das  Hamlet  in  den  Mund  gelegte 
Wort  'We  defy  augury'  ist  ein  verhältnismässig  leicht  wiegender  Beleg  dafür.  Wie 
der  Tag,  das  Licht  der  Feind  der  Nacht  und  ihrer  der  Einbildungskraft  mit  ihren 
Geistererscheinungen  Vorschub  leistenden  Finsternis  siegreicher  Gegner  ist,  so  ist 
auch  das  kleine  (Nacht-)  Licht  ihr  Feind.  Der  durch  seine  Anwesenheit  belästigte 
Geist  (Wind)  bringt  es  zum  Flackern  und  kündigt  sich  auf  diese  Art  an:  'ihe 
laper  burns  ill'.  Von  Curfew,  dem  Löschen  des  Feuers,  dem  Einbruch  der  Dunkel- 
heit,   bis   zum    ersten    Hahnenschrei,    dem  Anbruch    des    lichten    Tages,    der    die 


Bücheranzeigen.  —  Notizen.  431 

'Dunkelheit  zerteilt,  die  Sonne  erwachen  und  die  benommene  Vernunft  klar  ur- 
teilen lässt',  gehen  die  Truggestalten  der  Geister  um.  —  Nur  in  wenig  Punkten 
gehe  ich  mit  dem  Verf.  nicht  denselben  Weg.  Das  beeinträchtigt  den  hohen 
Wert  seiner  Arbeit  in  keiner  Beziehung.  Ein  Inhaltsverzeichnis  hätte  ihn  m.  E. 
wesentlich  vergrössert,  mehr  als  das  Stellenverzeichnis.  Die  Aufzeichnung  der 
vom  Verf.  benutzten  Literatur  ist  eine  willkommene  Beigabe.  Dass  wir  gleich- 
zeitig, unabhängig  voneinander,  ähnlichem  Ziele  zustrebten,  kann  für  die  Kenntnis 
des  grossen  Dichters  nur  von  Nutzen  sein. 

Cassel.  Hermann  Schelenz. 


Notizen. 


K.  Ahnert,  Fröhliche  Heerfahrt!  Heitere  Soldatengedichte  an  i']isenbahnwageii. 
gesammelt.  1.— 3.  Folge.  Nürnberg,  G.  Ahnert.  Je  24  S.  16°.  10  Pf.  —  Wohl  jeder 
hat  seit  Ausbruch  des  Krieges  mit  Bewegung  oder  Heiterkeit  Proben  dieser  neuartigen 
Form  von  'Volksdichtung'  gelesen.  Die  vorliegenden  Heftchen  bieten  nicht  weniger  als 
300  solcher  Inschriften,  die  der  Sammler  teils  selbst  aufgezeichnet,  teils  durch  Mitteilungen 
erfahren  hat.  Frömmigkeit,  Vaterlandsliebe,  grimmer  Hohn,  vor  allem  aber  ein  urwüchsiger 
Humor  spricht  aus  ihnen.  Eine  wirklich  ernstgemeinte  Roheit  ist  nirgends  zu  finden,  so 
blutrünstig  die  Scherzverse  bisweilen  auch  klingen.  Volkskundlich  interessant  sind  übrigens 
die  zahlreichen  Anklänge  an  bekannte  Lieder,  oft  begegnen  uns  auch  geradezu  Dichter- 
stellen. Die  kleine  Sammlung  nimmt  in  dem  Schwall  der  Kriegsdichtung  unserer  Tage 
nicht  die  letzte  Stelle  ein,  bringt  sie  doch  ungekünstelte  Äusserungen  der  unmittelbar 
Beteiligten  Die  Heftchen,  denen  weitere  folg-n  sollen,  werden  gewiss  auch  als  Gruss  aus 
der  Heimat  unsern  Kriegern  im  Felde  Freude  machen!     [F.  B.] 

G.  Amalfi,  Delitti  di  superstizione.  Criminologia  folk-lorica  (aus:  Rivista  di  diritto 
penale  e  sociologia  criminale  15).  Pisa  1914.  93  S.  —  Durch  verschiedene  Arbeiten  sagen- 
veryleich»  nder  Art  ist  A.,  zurzeit  Oberstaatsanwalt  am  Appellationsgericht  zu  Neapel, 
unsern  Lesern  aus  früheren  Jahrgängen  bekannt;  auch  die  vorliegende  Untersuchung  der 
aus  dem  Aberglauben  hervorgegangenen  Verbrechen  hängt  mit  der  Volkskunde  eng  zu- 
sammen. Mit  ausgebrf-iteter  Literaturkenntnis  (leider  nicht  ohne  störende  Druckfehler) 
schildert  der  Vf.  die  Anschauungen  des  Altertums  und  des  Mittelalters  wie  die  veränderte 
Beurteilung  der  Neuzeit,  beleuchtet  eine  Reihe  von  Fällen,  in  denen  der  Aberglaube  den 
Schatzgräber  zur  Opferung  eines  Kindes,  andre  zu  Giftmord,  Diebstahl,  Gewalttat  oder 
Kurpfuscherei  verleitete,  und  tritt  für  mildere  Beurteilung  der  Leichtgläubigkeit  und 
schärfere  Behandlung  der  vielfach  geistig  abnormen  Hexenmeister  und  weisen  Frauen 
ein.     [J.  B.] 

S.  Dobenedetti,  II  Sollazzo  e  il  Saporetto  con  altre  rime  di  Simone  Prudenzani 
d'Orvieto.  Torino,  Loescher  1913.  XL,  20S  S.  (Giornale  storico  della  lett,  italiana, 
Supplement!)  15).  —  II  testamento  cinico.  Torino  1912.  21  S.  Studi  critici  per  nozze 
Neri-Gariazzo).  —  L'orho  che  ci  vede.  Cividale  1912.  12  S.  (Miscellanea  in  onore  di 
V.  Crescini).  —  Due  ballate  del  Sollazzo  di  Simone  Prudenzani  (Atti  della  r.  Accademia 
di  Torino  49,  65—80.  19i:>).  —  Einen  bisher  unbekannten  italienischen  Dichter  aus  dem 
Anfänge  des  15  Jahrhunderts  hat  Debenedetti  das  lilück  gehabt  zu  entdecken,  den 
Orvietaner  Simone  Prudenzani,  und  hat  seine  Werke  nach  fünf  Hss.  des  15.  bis  17.  Jahr- 
hunderts sorgsam  herausgegeben;  es  sind  1.  eine  Sammlung  von  18  gereimten  Novellen, 
betitelt  'Lii-er  solatii',  2  ein  Liber  Saporccti,  der  in  Sonettform  die  sechs  Altersstufen 
des  Menschen  und  den  Mundus  placitus,  blandus,  tranquillus  und  meritorius  behandelt, 
8.  rime  varie  Auf  diese  Werke  wie  auf  das  Leben  des  Dichters  wird  der  Herausgeber 
in  einer  späteren  Schrift  näher  eingehen;  vorläufig  hat  er  drei  Stücken  der  für  uns  be- 
sonders interessanten  N'ovellensammlung  stoffgeschichtliche  Untersuchungen  gewidmet, 
nämlich  der  10.  Novelle  'Violentia',  der  12.  'Symunia'  und  der  15.  'Pertinacia'.    Die  eine 


432  Notizen. 

behandelt  die  schon  in  der  Cukasaptati  auftretende  Geschichte  der  treulosen  Frau  des 
Einäu<?igen,  die  ihren  Mann  durch  leckere  Speisen  blind  zu  machen  hofift  (oben  8,  73. 
217.  225;  10,  71),  die  andere  das  Testament  des  Hundes  (oben  4,  428)  und  die  dritte  den 
Zwiebeldieb  i;Pauli,  Schimpf  und  Ernst  nr.  349).     [J.  B.] 

A.  van  Geunep,  Religioos,  moeurs  et  legendes.  Essais  d'ethnographie  et  de  lin- 
guistique  (5e  serie).  Paris,  Mercure  de  France  1914.  218  S.  —  Auch  diese  Reihe  von 
völkerkundlichen  Aufsätzen  zeigt  die  anregende,  organisatorische  Begabung  des  frucht- 
baren Verfassers.  Er  bespricht  die  neue  Ausgabe  von  Frazers  'Golden  bough',  mehrere 
Abhandlungen  über  Totemismus  von  Frazer,  Goldenweiser,  Loisy,  Thurnwald  u.  a.,  sowie  Leaf s 
Buch  über  Troja,  welches  die  Handelswege,  auf  denen  die  von  Schliemann  gefundenen 
Schätze  dahin  gelangten,  festzustellen  sucht  und  in  echt  englischer  Weise  die  Ilias  zur 
Glorifikation  eines  Handelskrieges  herabwürdigt.  Ein  besondrer  Artikel  macht  Front  gegen 
den  Einlluss  der  Historiker  und  der  Kuriositätensammler  auf  die  Völkerkunde  und  verlangt 
Monographien  über  kleine,  genau  durchforschte  Gebiete.  Mehr  als  die  Hälfte  des  Bandes 
aber  beschäftigt  sich  mit  einigen  französischen  Vorläufern  der  Völkerkunde  im  18.  Jahrh. 
wie  Montesquieu,  Rousseau,  Voltaire,  Boulanger,  Dulaure  und  mit  dem  schon  früher  be- 
ginnenden Interesse  für  den  Orient.     [J.  B.] 

B.  Geyer,  Sagenschatz  der  Stadt  Zwickau.  Bildschmuck  von  C.  Weissbach. 
Zwickau,  W.  Kretzschmar  1913.  119  S.  8".  1  Mk.  —  Unter  den  41  Nummern,  denen 
leider  keine  Quellenangaben  beigefügt  sind,  befinden  sich  der  sächsische  Prinzenraub, 
Tetzel,  der  Speckdieb  als  Teufel,  der  Katzenveit.  Dagegen  passen  nr.  4  und  12,  Musäus' 
Märchen  vom  geraubten  Schleier  und  eine  lange  historische  Novelle  von  den  Zwickauer 
Unruhen  im  Jahre  1407,  wenig  zu  dem  Charakter  einer  Sagensammlung,     [J.  B.] 

P.  Herr  mann,  Island,  das  Land  und  das  Volk.  (Aus  Natur  und  Geisteswelt  Nr.  461.) 
Leipzig,  B.  G.  Teubner  1914.  IV,  114  S.  8».  9  Abb.  1,25  Mk.  —  Der  durch  sein  um- 
fangreiches Werk  'Island  in  Vergangenheit  und  Gegenwart'  (3  Bde.  Leipzig  und  Torgau 
1907—1913;  vgl.  oben  18,  217  f.)  bekannte  Verfasser  gibt  hier  in  dem  durch  die  Eigenart 
der  Teubuerschen  Sammlung  gezogenen  engen  Rahmen  einen  Überblick  über  Islands 
Lage,  Klima,  Pflanzen-  und  Tierwelt,  geologische  Entstehung,  ferner  über  seine  Geschichte, 
Staatsverfassung,  Bevölkerung,  Wirtschaftsverhältnisse,  materielle  und  geistige  Kultur, 
S.  86—93  finden  wir  einen  Abriss  der  isländischen  Volkskunde  (^Wohnung,  Kleidung, 
Sitten,  Gebräuche,  Aberglaube\  Vieles,  was  hier  nur  ganz  kurz  berührt  werden  konnte, 
ist  den  Lesern  dieser  Zeitschrift  aus  den  Aufsätzen  K.  v.  Maurers  und  der  im  Jahre  1911 
verstorbenen  Margarete  Lehmann- Filhes,  einer  besonders  begeisterten  Verehrerin  dieses 
merkwürdigen  Landes,  auch  in  Einzelheiten  bekannt.  Wenn  auch  in  den  letzten  Jahren 
verhältnismässig  viel  über  Island  geschrieben  ist,  so  sind  doch  über  seine  natürlichen 
und  kulturellen  Verhältnisse  zum  Teil  noch  so  viel  falsche  Meinungen  im  Schwange,  dass 
diese  auf  bestem  statistischen  Material  beruhende  Darstellung  mit  Freudeu  zu  begrüssen  ist. 
[P.  B.] 

J.  Klapper,  Erzählungen  des  Mittelalters  in  deutscher  Übersetzung  und  lateinischem 
Urtext  hsg.  Breslau,  Marcus  1914.  VIII,  474  S.  8°.  14  Mk.  (=  Wort  und  Brauch  12). 
—  Zu  seiner  1911  erschienenen  Ausgabe  lateinischer  Exempla  oder  Predigtmärlein  des 
Mittelalters  (oben  22,  216)  liefert  K.  eine  recht  ansehnliche  Fortsetzung.  Von  den 
211  Nummern,  die  hier  sowohl  in  deutscher  Übertragung  als  im  Originaltext  erscheinen, 
stammen  164  aus  einer  Breslauer  Hs.  des  14.  Jahrhunderts,  die  aus  drei  um  1250 
und  1300  durch  deutsche  Dominikaner  verfassten  Sammlungen  zusammengestellt  ist; 
ausser  einigen  einzelnen  Geschichten  ist  angehängt  eine  um  1450  geschriebene  Sammlung, 
welche  ein  Cisterzienserwerk  des  13.  Jahrhunderts  reproduziert  und  gleich  den  Gesta 
Romanorum  und  der  Scala  cell  mit  ausführlichen  Moralisationen  versehen  ist.  Die  Ein- 
leitung weist  auf  die  Beziehungen  zu  Volksschwänken  und  Märchen  und  die  starken  Um- 
bildungen der  Stoffe  hin.  Zu  den  stoffgeschichtlicheu  Anmerkungen  sei  noch  nachgetragen  : 
nr.  23  Augustiu  am  Meere  i^oben  16,90.  21,  337y;  nr.  52  Maler  und  Teufel  (v.  d.  Hagen, 
Gesamtabenteuer  nr.  76);  nr.  72  Beatrix  (oben  15,  129j;  nr.  111  die  Königstochter  im 
Blumengarten  (Zs.  f.  dt.  Alt.  34,18.  36,95);  nr,  142  der  undankbare  Sohu  (Grimm,  KUM. 
145);   nr.  154  der  Vogel    unter   der   Schüssel    (R.  Köhler,   Kl.  Sehr.  3,  13);    nr.  156    der 


Notizen.  -'  433 

Neidische  und  der  Geizige    Bolte-Polivka,   Anm.  zu  Grimm,   KHM.  2,219):    nr.  157    drei 
Schatzfinder  (Chauvin,  Bibl.  arabe  8,  100);  nr.  2»X)  die  Rätsel  des  Teufels  (R.  Köhler  2, 15). 

[J.  B.] 
E.  F.  Knuchel,  Die  Umzüge  der  Kleiu-Basler  Ehrenzeichen.  Ihr  Ursprung  und 
ihre  Bedeutung.  Im  Auftrage  der  Schweizerischen  Gesellschaft  für  Volkskunde  zusammen- 
gestellt. Basel,  Verlag  der  Schweiz.  Gesellschaft  1914.  47  S.  8°.  4  Tafeln.  1,50  Fr.  — 
Die  einer  Anregung  von  Hoffmann-Krayer  entsprungene  und  von  diesem  mit  einer  kurzen 
Vorrede  eingeleitete  kleine  Schrift  will  eine  quellenmässig  genaue  Geschichte  und  Er- 
klärung der  noch  heute  in  dem  auf  dorn  rechten  Rheinufer  gelegenen  Baseler  Stadtteil 
Klein-Basel  abgehaltenen  Umzüge  der  'Ehrenzeichen'  liefern.  Der  Verf.  gibt  zunächst 
einen  Überblick  über  die  geschichtliche  Entwicklung  der  seit  dem  Ende  des  14.  Jahr- 
hunderts urkundlich  feststellbaren  Gesellschaften  'Zum  Hären,  zum  Rebhaus  und  zum 
Baum',  deren  Wappenhalter:  Wilder  Manu,  Löwe  und  Greif  in  den  Festumzügen  durch 
Masken  dargestellt  werden.  Es  handelte  sich  bei  diesen  Vereinigungen  ursprünglich  nicht 
um  solche  rein  beruflicher  Art,  wie  die  Zünfte,  sondern  um  losere  Verbände  von  Bürgern, 
die  durch  gemeinsame  Lebensbedingungen,  Überlieferung  und  gesellschaftliche  Stellung 
einander  nähergetreten  waren;  eine  Beteiligung  am  politischen  Leben  ist  mehrfach  fest- 
zustellen. Seit  dem  Jahre  1838  werden  die  Umzüge,  die  in  den  vorhergehenden  Jahr- 
zehnten öfters  unterblieben,  von  den  drei  Ehrenzeichen  gemeinsam  regelmässig  abgehalten. 
Ihren  heutigen  Verlauf  und  ihre  früheren  Formen  schildert  der  Verf.  äusserst  eingehend, 
unterstützt  von  den  vorzüglich  gelungenen  Tafeln:  auch  der  für  jedes  Wappentier  ver- 
schiedene Rhythmus  der  den  Umzug  und  die  Tänze  begleitenden  Trommelmärsche  wird 
durch  Noten  wiedergegeben.  Zum  Schluss  vergleicht  K.  die  verwandten  Aufzüge  in  der 
Schweiz  und  anderen  Ländern  und  kommt  schliesslich  zu  dem  Ergebnis:  'Die  Umzüge  der 
drei  Ehrengesellschaften  sind  aus  militärischen  Musterungen  hervorgegangen:  hinzuge- 
kommen sind  Umzug  und  Tanz  der  Ehrenzeichen:  die  uralten  Bräuche  endlich  der  Wasser- 
taufe und  des  Brunnenumgangs  sind  erst  später  mit  dem  Umzug  der  Gesellschaft  zum 
Eebhaus  in  Zusammenhang  gebracht  worden.'  Ob  in  der  Tat  in  den  militärischen 
Musterungen  der  Ursprung  dieser  Aufzüge  zu  suchen  ist,  scheint  uns  angesichts  des 
Fehlens  älterer  Belege  sehr  zweifelhaft.  Inmierhin  ist  die  Untersuchung  mit  grosser  Sorg- 
falt und  Liebe  zur  Sache  geführt  und  bildet  ein  wertvolles  Stück  in  der  Reihe  der  von 
der  Schweizerischen  Gesellschaft  für  Volkskunde  herausgegebenen  Schriften.     [F.  B.] 

D.  V.  Kralik,  Die  deutschen  Bestandteile  der  Lex  Baiuvariorum  (Sonder-Abdruck 
aus  dem  Neuen  Archiv  der  Gesellschaft  für  ältere  deutsche  Geschichtskunde.  38.  Bd.). 
Hannover  und  Leipzig,  Hahn  1913.  132  S.  8°.  —  Eine  durch  gründliche  Sprach- 
kenntnisse, Scharfsinn  und  Besonnenheit  ausgezeichnete  Arbeit,  die  sowohl  dem  Ver- 
ständnis des  volkstümlichen  deutscheu  Rechtes  wie  auch  allgemein  gebräuchlicher  Wörter 
und  Dinge  zugute  kommt.     [M.  Roediger.] 

A.  Leskien,  Eine  litauische  Totenklage  'Das  Begräbnis  als  Hochzeit):  Festschrift 
für  Ernst  Windisch,  Leipzig,  Harrassowitz  1914,  S.  5  — 7.  —  Die  von  Juskevic  in  seiner 
Sammlung  litauischer  Volkslieder  (Kasan  1880—1882)  unter  Nr.  1190  abgedruckte  Klage 
einer  Mutter  um  ihre  Tochter  wird  übersetzt  und  erläutert.     [H.  Michel  ] 

H.  Mar  Zell,  Volkstümliche  PÜanzenuamen  aus  dem  bayrischen  Schwaben.  Ein 
Beitrag  zur  Volkskunde.  S.-A.  aus  dem  41.  Bericht  des  Naturwissenschaftlichen  Vereins 
für  Schwaben  und  Neuburg.  Augsburg,  M.  Seitz  1913.  54  S.  8°.  0,80  Mk.  —  Der  un- 
ermüdliche Sammler  auf  dem  Gebiete  der  Volksbotanik  bietet  in  vorliegendem  Aufsatze 
eine  zum  grossen  Teil  auf  mündliche  Mitteilungen  zurückgehende  Zusammenstellung  der 
im  bayrischen  Schwaben  noch  gebräuchlichen  volkstümlichen  Pflanzennamen.  Wertvoll 
-sind  besonders  die  mit  grosser  Vorsicht  und  Zurückhaltung  gegebenen  Deutungen  der 
Namen.     |F.  B.] 

E.  Mogk,  Die  geschichtliche  und  territoriale  Entwicklung  der  deutscheu  Volkskunde 
.Archiv  für  Kulturgeschichte  12,  231—270).  —  Die  anschaulich  geschriebene,  bis  1912 
reichende  Übersicht  beginnt  mit  dem  Jahre  1891,  wo  Woinhold  in  Berlin  den  Verein  für 
Volkskunde  ins  Leben  rief,  und  schildert  die  darauf  in  fast  allen  Ländern  deutscher  Zunge 
erwachende  Tätigkeit,    die    zur    Gründung    von   landschaftlichen  Gesellschaften   und  Zeit- 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskuade.   19U.   Heft  4.  28 


434  Notizen. 

Schriften  führte.  Neben  die  Sammlungen  und  Untersuchungen  traten  bald  auch  Er- 
örterungen über  den  Begriff  der  jungen  Wissenschaft.  Während  andre  Völker  sich  mit 
der  Aufzeichnung  der  Überlieferungen  (Folklore)  begnügten,  spielte  in  Deutschland  das 
psychologische  Moment,  die  Erforschung  der  Volksseele  von  Anfang  an  eine  wichtige 
Rolle.  Gegen  Weinholds,  von  Jiriczek,  Hanffen,  Wuttke  u.  a.  angenommene  Abgrenzung 
der  Volkskunde  erhoben  sich  Ethnologen,  die  sie  wie  Winternitz,  Günther,  Kaindl  als  einen 
Teil  der  Völkerkunde  betrachteten,  und  Philologen  wie  Dieterich  und  Voretzsch,  die  sie 
auf  das  rein  geistige  Leben  des  Volkes  beschränken  wollten.  Den  zwischen  Strack  und 
Hoffmann-Krayer  über  den  Begriff  des  Volkes  und  die  assoziativen  Denkformen  geführten 
Streit  suchte  Mogk  1907  durch  Betonung  des  Gemüts  gegenüber  dem  Verstände  zu 
schlichten.  In  den  folgenden  Jahren  traten  die  Untersuchungen  über  das  Wesen  des 
Mythus  und  des  Märchens,  Arbeiten  religionsgeschichtlicher  Art,  Sammlungen  von  land- 
schaftlichen Sitten  und  Trachten  mehr  in  den  Vordergrund.     [J.  B.] 

A.  Nägele,  Über  Kreuzsteine  in  Württemberg  und  ihre  Bedeutung.  Monumente 
und  Dokumente  zur  Kreuzsteinforschung  mit  besonderer  Berücksichtigung  Oberschwabens. 
S.-A.  aus  den  Württembergischen  Jahrbüchern  für  Statistik  und  Landeskunde  1913, 
S.  377  — 426.  —  Eine  zusammenfassende  Darstellung  der  Kreuzsteinforschung  nach  ihrem 
augenblicklichen  Stande  gab  der  Verf.  oben  22,  253 — 277.  375—398.  In  dem  allgemeinen 
Teil  des  vorliegenden  Aufsatzes  sind  jene  Ausführungen  in  erweiterter  Form  und  mit 
reicherem  Bildermaterial  wiederholt,  während  im  zweiten  Teil  eine  genaue  Beschreibung 
von  etwa  250  in  Schwaben  gefundeneu  Kreuzsteinen  folgt  und  von  weiteren  50  wenigstens 
der  Standort  angegeben  wird.  —  Die  Steinkreuzfrage  wird  in  letzter  Zeit  vielfach  be- 
handelt, wie  eine  Musterung  der  Zeitschriftenliteratur  zeigt.  So  bringt  z.  B.  das  1.  Heft  der 
neuen  Bayerischen  Hefte  für  Volkskunde,  die  unter  der  Schriftleitung  von  F.  v.  der  Leyen  und 
F.  Spamer  vom  Bayerischen  Verein  für  Volkskunst  und  Volkskunde  herausgegeben  werden, 
einen  hübsch  illustrierten  Aufsatz  von  H.  Schnetzer,  Vom  Steinkreuz  zum  Marterl.  Ferner  sei 
darauf  hingewiesen,  dass  der  oben  22,  398  Anm.  1  verzeichnete  Aufsatz  von  G.  Kufahl  in 
Nr.  12  und  43  der  Sonntags-Beilage  des  Dresdner  Anzeigers  1913  fortgesetzt  ist.     [F.  B.] 

L.  Neubaur,  Zur  Geschichte  und  Bibliographie  des  Volksbuchs  von  Ahasverus. 
S.-A.  aus  der  Zeitschrift  für  Bücherfreunde,  hsg.  v.  C.  Schüddekopf,  N.  F.  5  (1913)  S.  211 
bis  223.  —  Der  durch  seine  Untersuchungen  über  die  Sage  vom  Ewigen  Juden  bekannte 
Verf.  (s.  oben  22,  33  54)  gibt  hier  eine  kurze  Zusammenfassung  über  die  literarische 
Tradition  der  Cartaphilus-  und  Ahasveruslegende  und  verficht  auch  an  dieser  Stelle 
die  Entstehung  des  Volksbuches  aus  der  mittelalterlichen  Überlieferung,  Dagegen  ist  be- 
kanntlich Ed.  König  in  seiner  Schrift  'Ahasver,  der  ewige  Jude,  nach  seiner  ursprüng- 
lichen Idee'  1907  und  in  einem  Aufsatze  in  Teubners  Neuen  Jahrbüchern  15  (1912),  587 
für  die  Selbständigkeit  der  Ahasverusgestalt  als  einer  Allegorie  des  jüdischen  Volkes  ein- 
getreten. Zur  Widerlegung  dieser  Anschauung  führt  N.  Tatsachen  an,  aus  denen  hervor- 
geht, dass  das  Vertiot  des  Frankfurter  Ahasverusspieles  1708  nicht  wegen  seines  christeu- 
feindlichen,  sondern  seines  geschmacklosen  Tones  erfolgte.  Ferner  weist  N.  nach,  dass 
Nicolaus  Wagner,  der  Schleswiger  Verleger  des  Volksbuches  von  1602,  zur  Herausgabe 
lediglich  durch  seine  Bekanntschaft  mit  Paul  von  Eitzen  und  geschäftliche  Gründe  ver- 
anlasst wurde.  Den  Scliluss  bildet  ein  bibliographisch  genaues  Verzeichnis  verschiedener 
Ausgaben  des  Volksbuches  als  Ergänzung  der  von  N.  im  'Gentralblatt  für  Bibliotheks- 
wesen' 18B3,  250  und  1911,  506  veröffentlichten  Liste.     [F.  B,] 

G.  Pitre,  Voci  sicilian«  di  paragone  raccolte  ed  illustrate.  Acireale  1914.  20  S. 
8°  (aus  Rivista  Sicania  2,  nr.  4>.  —  P.  gruppiert  die  in  seinen  'Proverbi,  motti  e 
scongiuri'  (1910)  gesammelten  Verglejchnngen  der  sizilischen  Volkssprache,  die  an  Zahl 
die  der  anderen  Gegetiden  Italiens  weit  übertreffen,  nach  sachlichen  Kategorien.  Vor- 
wiegend dienen  sie  zur  Veranschauli'  huuir  menschlicher  Körperbeschaffenheit,  Charakter- 
eigenschaften und  Beschäftigunj^en.  Bezeichiipnd  ist,  dass  in  den  Vergleichuugen  manche 
Sitte  und  mancher  Vorfall  aus  verganirener  Zeit  fortlebt.     [J.  B.] 

J.  Po  mm  er,  Das  Volkslied  in  Österreich  (S.-A,  aus  der  Zeitschrift  'Das  deutsche 
Volkslied',  .lahrg  16,  Heft  7).  11  S.  Der  Bericht,  den  Poramer  als  Obmano  des  Ar- 
beitsausschusses für  das  deutsche  Volkslied  in  der  Steiermark  über  dessen  Tätigkeit  in  den 


Notizen.  435 

ersten  77«  Jahren  seines  Bestehens  (7.  VI.  1905  —  30.  IV.  1914)  am  10.  Mai  1914  in  der 
fünften  Sitzung  des  Ausschusses  zu  Graz  erstattete.  Die  knappen  statistischen  Nachweise 
lassen  deutlich  die  gewaltige  bisher  geleistete  Sammler-  und  Ordnertätigkeit  und  den  er- 
freulichen Fortgang  des  grossen  Unternehmens  erkennen.  Um  von  den  mehr  geschäftlichen 
Mitteilungen  abzusehen  ^Mitglieder,  Arbeitsteilung,  Finanzen  usw.),  heben  wir  aus  den 
Nachrichten  über  das  bisherige  Ergebnis  der  Sammeltätigkeit  und  den  Stand  der  Samm- 
lung folgendes  hervor:  Ende  1913  lagen  121  Einsendungen  mit  8855  Einzelstücken  vor 
(Geistliche  und  weltliche  Volkslieder  mit  und  ohne  Weise,  Schnaderhüpfel,  Jodler,  Juchezer 
und  Rufe,  Tanzweisen  u.  a.),  die  nach  einem  festen  Plan  numeriert  und  eingeordnet 
wurden.  Rechnet  man  die  bis  zum  Abschluss  des  Berichts  hinzugekommenen  Eingänge 
hinzu,  so  kommt  man  auf  147  Einsendungen  mit  11052  Stücken!  Unter  den 
Sammlern  (55  an  Zahl)  ist  der  Lehrerstand  am  zahlreichsten  vertreten,  doch  finden  wir 
auch  Handwerker,  Tagelöhner,  Bauernburschen  imd  -knechte  vertreten.  Druckfertig  liegt 
die  1.  Abteilung  des  Tanzbandes  mit  3000  steirischen  Weisen  vor,  auch  der  Jodlerband 
ist  dem  Abschluss  nahe.  Die  jetzt  eifrig  betriebene  Ausschöpfung  der  Archive  und 
Bibliotheken  wird  einen  weiteren  Stoffzuwachs  ergeben,  so  dass  man  bei  vorsichtiger 
Schätzung  für  die  geplante  ministerielle  Ausgabe  steirischer  Volksmusik  und  Volkspoesie 
auf  eine  Gesamtzahl  von  über  20  000  Stücken  rechnen  kann.  So  wird  sich  P.s  Hoff- 
nung erfüllen,  dass  'die  deutsche  Steiermark  ihren  Platz  in  der  ersten  Reihe  der  an 
poetisch-musikalischem  Volksgut  reichsten  Länder  des  österreichischen  Kaiserstaates  mit 
Ehren  behaupten  wird'.     [F.  ß.] 

W.  S.  Reymont,  Die  polnischen  Bauern.  4  Bde.  Berechtigte  Übersetzung  aus 
dem  Polnischen  von  Jean  Paul  d'Ardeschah.  Jena,  E.  Diederichs  1912.  1. — 3.  Tausend. 
XXXII,  32L  352.  439.  364  S.  8".  Geh.  je  2,50  Mk.,  geb.  je  3,50  Mk.  —  Unter  dem 
Titel  'Der  Bauernspiegel'  soll  bei  Diederichs  eine  Reihe  von  fremden  Bauernromanen  er- 
scheinen, die  als  Quellen  zur  zeitgenössischen  Völkerkunde  gelten  können.  Das  diese 
Sammlung  eröffnende  umfangreiche  Werk  von  Reymont,  erschienen  vor  Russlands  Nieder- 
lage gegen  Japan  und  der  grossen  revolutionären  Bewegung  im  Russischen  Reich,  wird 
heute,  wo  Polen  zum  Schauplatz  der  folgenschwersten  Ereignisse  geworden  ist,  zweifellos 
besonderes  Interesse  erregen.  Wie  ein  gewaltiges  Epos  schildert  der  Roman  das  Leben 
eines  polnischen  Dorfes  im  Kreislauf  eines  Jahres  —  die  vier  Bände  sind  nach  den  Jahres- 
zeiten benannt  —  bis  in  die  intimsten  Einzelheiten,  die  Taten  und  Schicksale  seiner  Be- 
wohner, besonders  des  Dorftyrannen  Boryna  und  seines  heissblütigen  Weibes,  typischer 
Vertreter  ihres  Volkes.  Auf  die  meisterhafte  Charakterschilderung,  die  politische  Be- 
deutung des  Romanes  und  ähnliches  einzugehen,  ist  hier  nicht  der  Platz,  doch  darf  es 
wegen  des  reichen  volkskundlichen  Inhalts  hier  nicht  unerwähnt  bleiben.  Ausdrucksweise, 
Tracht,  Arbeit,  Sitten,  Aberglauben,  Bräuche,  Feste  und  andere  Äusserungen  des  Volks- 
tums werden  so  ausführlich  beschrieben,  dass  darüber  die  Handlung  des  Romans  oft  ganz 
in  den  Hintergrund  tritt;  so  nimmt  die  Schilderung  der  Hochzeit  Borynas  nicht  weniger 
als  74  Seiten  in  Anspruch,  da  alle  Abschnitte  des  Festes,  besonders  die  Tänze,  mit  einer 
Genauigkeit  gescliildert  werden,  die  in  einem  wissenschaftlich-volkskundlicheu  Aufsatz 
kaum  grösser  sein  könnte.  So  wird  jeder  volkskuudlich  Interessierte  den  Roman  trotz 
oder  vielleicht  gerade  wegen  seiner  Längen  mit  grösster  Anteilnahme  lesen.  Die  Über- 
setzung ist  nicht  immer  tadellos,  besonders  hässlich  liest  sich  die  fast  regelmässig  ge- 
brauchte Umschreibung  des  Genetivs  von  Personennamen  durch  das  dem  Nominativ  nach- 
gestellte Possessivum,  z.  B.  'er  sah  iu  Jagusch  ihre  himmelblauen  Augen'.  Die  Aus- 
stattung des  Buches  ist  sehr  vornehm,  besonders  hübsch  wirkt  die  in  bäuerlichen  Motiven 
gehaltene  Umschlagszeichnung  von  A.  Gramatyka-Ostrowska.     |F.  B.] 

E.  Samt  er,  Die  Religion  der  Griechen.  Leipzig  und  Berlin,  B.  G.  Teubner  1914. 
VI,  84  S,  Mit  einem  Bilderanhang.  Geb.  1,25  :\Ik.  (Aus  Natur  und  Geisteswclt  nr.  457.) 
—  Die  Anschauungen  über  das  Wesen  der  griechischen  Religion  sind  selbst  bei  Gebildeten 
oft  so  rückständig  und  verkehrt,  dass  eine  allgemeinverständliche  und  leicht  zugängliche 
Darstellung  dieses  für  das  Verständnis  des  Altertums  wie  unserer  Zeit  so  wichtigen  Ge- 
bietes ein  dringendes  Erfordernis  war.  Diese  Aufgabe  zu  übernehmen,  war  Samter,  der 
in  seineu  Schriften    durch   reiche  Kenntnis    des  antiken  Quellenmaterials   und    vorsichtige 

28* 


4,36  Notizen. 

Anwendung  der  vergleichenden  Methode  so  viele  Äusserungen  antiker  Religion  erläutert 
und  geklärt  hat,  vorzüglich  geeignet.  Seine  Darstellung  geht,  wie  es  heutzutage  selbst- 
verständlich ist,  nicht  von  der  in  den  homerischen  Gedichten  widergespiegelten  religiösen 
Anschauungswelt,  sondern  von  der  Volksreligion  aus  und  gibt  nicht  eine  Schilderung  der 
einzelnen  traditionellen  Göttergestalten,  sondern  geht  den  Wurzeln  nach,  aus  denen  diese 
sich  allmählich  entwickelten.  Die  Spuren  von  Fetischismus  und  Verehrung  tiergestaltiger 
Götter  werden  aufgezeigt,  der  Kult  der  Verstorbenen  und  der  chthonischen  Gottheiten, 
der  Glaube  an  Vorzeichen  und  Orakel  wird  geschildert;  die  beiden  eleusinischen  Göttinneu 
sowie  Dionysos  und  Asklepios  sind  die  einzigen  Götterpersönlichkeiten,  die  behandelt 
werden,  da  ihre  Kulte  die  meisten  Beziehungen  zum  Volksglauben  haben.  Den  zweiten 
Teil  bildet  die  Darstellung  der  Haupttatsachen  des  Kultes,  wie  Tempel,  Priester,  Opfer 
und  Gebet,  ferner  Reinigungsgebräuche,  häuslicher  Kult  und  Zauberriten.  In  dem  Kapitel 
'Religion  und  Sittlichkeit'  gibt  S.  einen  Überblick  über  die  Stellung  der  grossen  Philo- 
sophen und  Dichter  zum  Volksglauben,  im  Schlusskapitel  wird  die  orphische  Bewegung 
mit  ihi-en  weitreichenden  Einflüssen  geschildert.  Das  Buch  ist  in  bestem  Sinne  volks- 
tümlich geschrieben,  nur  der  Kenner  merkt  die  Fülle  des  in  diese  einfache  Darstellung 
verarbeiteten  Materials.  S.  hat  seine  Aufgabe  vortrefflich  gelöst  und  sich  damit  um  die 
Wissenschaft  ein  grosses  Verdienst  erworben.  Auch  die  Freunde  deutscher  Volkskunde 
werden  das  Buch  mit  lebhaftem  Interesse  lesen;  S.  hat  mit  Recht  nur  ganz  selten 
Analogien  angeführt,  der  aufmerksame  Leser  wird  überall  selbst  solche  finden  können. 
Ein  späterer  Band  der  Sammlung  soll  die  griechische  Religion  zur  Zeit  des  Hellenismus 
zum  Thema  haben;  diese  Ergänzung  des  vorliegenden  ist  sehr  wünschenswert  und  lässt 
hoffentlich  nicht  lange  auf  sich  warten.     [F.  B.] 

P.  Sartori,  Sitte  und  Brauch,  3.  Teil:  Zeiten  und  Feste  des  Jahres,  Leipzig, 
W.  Heims  1914.  VII,  354  S!  8».  4  Mk.  (Handbücher  zur  Volkskunde  Bd.  7-8).  —  Mit 
lebhafter  Genugtuung  begrüssen  wir  den  Schlussband  des  nutzbringenden  Werkes,  dessen 
Reichhaltigkeit  und  Zuverlässigkeit  wir  schon  oben  20,  348.  22, 216  rühmen  konnten. 
Sartori  verfolgt  hier  die  an  bestimmte  Tage  des  Jahres  geknüpften  Feste  von  der  Ad- 
ventszeit bis  Ende  November  und  verzeichnet  übersichtlich  den  Glauben  an  Vorbedeutun- 
gen, die  zur  Erringung  der  Fruchtbarkeit  und  zur  Abwehr  des  Unheils  geübten  Bräuche 
des  Landvolkes,  deren  Mannigfaltigkeit  manchen  überraschen  wird,  die  Umzüge  und  Be- 
lustigungen, die  Regeln  über  Speisen  und  Gebäcke,  die  Spuren  des  Totenkultes  und  be- 
sonderer Opfer.  Manche  seltsame  Sitte,  wie  z.  B.  die  in  Schlesien  auftretende,  am  Jakobi- 
tage  einen  geputzten  Ziegenbock  vom  Kirchturme  zu  stürzen,  erhält  durch  eine  Fülle 
analoger  Fälle,  die  aus  angrenzenden  und  sogar  aussereuropäischen  Ländern  beigebracht 
werden,  Aufklärung.  Der  Einfluss,  der  von  der  christlichen  Kirche  ausging,  wird  ge- 
bührend gewürdigt;  gegen  die  früher  so  beliebte  Ableitung  vieler  Bräuche  aus  dem  ger- 
manischen Heidentume  übt  der  Verf.  vorsichtige  Zurückhaltung;  selbst  die  Ansicht,  dass 
in  vielen  Weihnachts-  und  Neujahrsbräuchen  Reste  eines  ehedem  um  diese  Zeit  gefeierten 
Totenfestes  zu  erkennen  seien,  will  er  sich  nicht  zu  eigen  machen.  Yermoloffs  stoffreiches 
Werk  über  den  landwirtschaftlichen  Volkskalender  (^1905)  ist,  soweit  ich  sehe,  nicht  be- 
nutzt. Wie  in  den  früheren  Bänden  stehen  unter  dem  knappgefassten  Texte  ausgedehnte 
Anmerkungen,  und  ein  gutes  Literaturverzeichnis  folgt.  Besonders  dankenswert  ist  das 
62  Seiten  umfassende  Gesamtregister,  das  die  hier  aufgespeicherten  Schätze  aufs  bequemste 
überblicken  lässt.     [J.  B.] 

F.  Vogt,  Weihuachtsspiele  des  schlesischen  Volkes,  Gesammelt  und  für  die  Auf- 
führung wieder  eingerichtet,  Leipzig  und  Berlin,  B,  G.  Teubner  1914.  IV,  44  S.  8", 
Steif  geh.  1  Mk.  —  Die  Reste  der  früher  in  Schlesien  verbreiteten  Spiele  von  der  Ein- 
kehr des  Christkindes  zu  Advent,  von  der  Geburt  Christi  und  vom  König  Herodes  hat  der 
Verf.  bekanntlich  in  seinem  umfassenden  Werk  'Die  schlesischen  Weihnachtsspiele'  (1900) 
zusammengestellt  und  die  Entwicklung  dieser  Volksschauspiele  vom  Mittelalter  bis  zur 
Gegenwart  verfolgt.  Die  an  jener  Stelle  gebotene  Wiederherstellung  der  Texte  und  Sing- 
weisen ist  seitdem  vielfach  zu  Aufführungen  verwendet  worden.  Das  vorliegende  Büch- 
lein enthält  die  drei  Spieltexte  mit  Singweisen  und  szenarischen  Anweisungen  und  will  der 
weitereu  Neueinführung  dieser  sinnigen  und  urwüchsigen  Volksschauspiele  dienen,    [F.  B.] 


Nachruf.   —  Brunner:    Protokolle.  437 

Max  Hof  1er  f. 

Am  8.  Dezember  d.  J.  verschied,  67  Jahre  alt,  nachdem  er  seit  einiger  Zeit  ge- 
kränkelt, in  Tölz  der  älteste  Arzt  dieses  Marktfleckens  und  des  "damit  verbundenen 
Bades  Krankenheil,  Dr.  phil.  h.  c,  Dr.  med.  Max  Höfler,  Kgl.  bayerischer  Hofrat. 
Sein  Vater  war  der  eigentliche  Erschliesser  von  Krankenheil,  und  er  selbst  hat 
als  dessen  Nachfolger  durch  lange  Jahre  Tausenden  von  Kranken  seine  reichen 
Erfahrungen  dienstbar  gemacht.  Seine  Landpraxis  eröffnete  ihm  eine  genaue 
Kenntnis  der  bäuerlichen  Zustände  und  Anschauungen,  denen  er  namentlich  in 
bezug  auf  die  Volksmedizin  und  Festgebräuche  nachging.  Über  Volksmedizin  und 
Aberglauben  in  Oberbayern,  die  volksmedizinische  Botanik  der  Germanen,  die 
volksmedizinische  Organotherapie  und  ihr  Verhältnis  zum  Kultopfer  hat  er  Bücher 
veröffentlicht,  daneben  dieses  Gebiet  in  Abhandlungen,  die  in  Zeitschriften  er- 
schienen, gepflegt,  noch  eifriger  aber  den  Gebacken  und  Gebildbroten  nachgespürt, 
die  sich  an  kirchliche  Festtage  und  Familienfeiern  knüpfen.  Unsere  Zeitschrift, 
die  Zeitschrift  für  österreichische  Volkskunde  und  andere  enthalten  zahlreiche 
hierauf  zielende  Untersuchungen,  die,  gleich  den  volksmedizinischen  Arbeiten,  nie 
blosse  Sammlungen  bringen,  sondern  stets  der  Geschichte  und  dem  Ursprung  der 
Meinungen  und  Bräuche  nachgehen.  Als  der  Münchener  Verein  für  Volkskunst 
und  Volkskunde  seine  Zeitschrift  begann,  eröffnete  Höfler  sie  mit  einem  Volks- 
kalendarium,  das  eine  reiche  Zusammenstellnng  des  Glaubens  und  der  Bräuche 
bietet,  die  das  Volk  mit  den  einzelnen  Tagen  verbindet.  Unserm  Verein  hat  er 
seit  seiner  Begründung  angehört  und  unsere  Zeitschrift  vom  ersten  Band  an  bis 
zum  vorliegenden  mit  Beiträgen  bedacht.  Um  so  schmerzlicher  empfinden  wir  den 
Verlust  dieses  hochverdienten  Veteranen  der  wissenschaftlichen  Volkskunde,  der 
auch  als  Mensch  durch  seine  lautere  Gesinnung  und  liebenswürdige  Hilfs- 
bereitschaft allen,  die  ihm  je  persönlich  nahegetreten  sind,  unvergesslich  bleiben 
wird. 

Berlin.  Max  Roediger. 


Aus  den 

Sitziin^s- Protokollen  des  Vereins  für  Volkskunde. 


Freitag-,  den  23.  Oktober  1914.  Der  Vorsitzende,  Hr.  Geh.  Regierungsrat 
Prof.  Dr.  Roediger,  widmete  den  verstorbenen  Mitgliedern  und  Freunden  des 
Vereins,  Frl.  Dr.  van  der  Kop,  Baurat  Prof.  Friedrich  Müller  und  Prof.  Dr.  Richard 
M.  Meyer  herzliche  Worte  des  Gedenkens.  An  der  Kriegsanleihe  hat  sich  der 
Verein  mit  Zeichnung  von  2000  M.  beteiligt.  Der  Unterzeichnete  legte  eine 
Anzahl  neuer  Erwerbungen  aus  der  Kgl.  Sammlung  für  deutsche  Volkskunde  vor. 
Darunter  befanden  sich  eine  oberhessische  Zunfturkunde  der  Schuster  und  Löber 
(=  Lohgerber)  aus  der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahrh.  mit  beigefügten  Normalsohlen 
aus  Holz,  wie  sie  in  der  Zeitschrift  des  Ferdinandeums  in  Innsbruck,  Jahrg.  1913, 
beschrieben  und  abgebildet  sind.  Eine  Anzahl  Gewebe,  Beiderwande  aus  Schles- 
wig-Holstein, weisser  Damast,  blau-weisses  Leinen  und  bedruckte  Stoffe  mit  volks- 
tümlichen Darstellungen,  besonders  aus  der  biblischen  Geschichte,  boten  Gelegen- 


^38  Brunner: 

heit  zu  Vergleichen  und  historisch-technischen  Betrachtungen.  Aus  dem  Kreise 
'Volksglauben  und  Brauch'  lag  ein  merkwürdiges,  Tunscheere  genanntes  volkstüm- 
liches Neujahrsgeschenk  aus  dem  Hümmling  vor,  über  welches  sich  in  der  Zeit- 
schrift 'Niedersachsen'  17,  197  einiges  findet.  Allerhand  Schutzmittel  für  Mensch 
und  Vieh,  wie  die  von  Marie  Andree-Eysn  in  dem  Buche  'Volkskundliches  aus 
dem  bayrisch-österreichischen  Alpengebiet'  S.  113 — 114  erwähnten  Schratlgaderl, 
Trudenkreuze,  Salzstein  und  Salzkirchl,  sowie  ein  aus  Lippe  stammendes  eisernes 
Kreuzamulett,  aus  einem  Sargnagel  geschmiedet,  vervollständigten  diese  kleine 
Ausstellung.  Der  Vorsitzende  sprach  sodann  'Vom  kriegerischen  Volkslied': 
Man  muss  zwischen  volkstümlichem  Lied  und  Volkslied  unterscheiden.  Das  Volks- 
lied ist  ein  gesungenes,  allen  Volkskreisen  verständliches  Lied,  während  das  volks- 
tümliche Lied,  von  bekannten  Dichtern  herrührend,  wohl  vom  Volke  aufgenommen, 
aber  leicht  verändert  wird.  Der  Ausgangspunkt  einer  historischen  Betrachtung 
über  das  deutsche  Volkslied  ist  des  Tacitus  Bemerkung  über  den  'barditus'  der 
Germanen.  Über  den  Inhalt  dieser  Gesänge  ist  aber  nichts  gesagt.  Vielleicht 
handelte  es  sich  nur  um  einen  Kampfruf,  der  den  Römern  furchtbar  in  die  Ohren 
klang.  Der  Zweck  des  Kampfrufes  ist,  den  Mut  der  Krieger  und  ihre  Kraft 
wirkungsvoll  zu  äussern.  Im  11.  Jahrh.  heisst  dieser  Kampfruf  das  Feldgeschrei. 
Daraus  entwickelten  sich  kirchliche  Gesänge,  die  sogen.  Leisen  {y.vcHE  i/Jtjoov),  wovon 
das  Reutersche  'Läuschen'  den  letzten  Nachklang  darstellt.  Da  die  Volkspoesie 
in  alter  Zeit  nicht  aufgezeichnet  wurde,  begegnen  wir  ihr  erst  im  14.  Jahrh. 
Eigentümlich  ist  ihren  Liedern  die  Sprunghaftigkeit.  In  der  Reformationszeit  und 
im  Dreissigjährigen  Kriege  treten  eigentümliche  Reimchroniken,  Relationen,  auf. 
Historisch-politische  Dichtung  ist  im  lö.  Jahrh.  in  der  Schweiz  besonders  beliebt. 
Dem  älteren  politischen  Liede  fehlt  das  Persönliche.  Eine  umfassende  Volkslyrik 
entwickelte  sich  erst  mit  dem  Landsknechtwesen.  Solcher  Lieder  wurden  eine 
Anzahl  verlesen.  Liebe  zum  Soldatenberuf  findet  sich  aber  erst  seit  den  vierziger 
Jahren  des  19.  Jahrh.,  nachdem  körperliche  Misshandlungen  des  Soldaten  verboten 
worden  waren.  Die  Überlegenheit  des  Soldaten  über  den  Bürger  findet  im  Kriegs- 
iiede  ungeschminkten  Ausdruck.  Das  Trinken  spielt  im  modernen  Soldatenliede 
keine  hervorragende  Rolle.  Das  Leid  des  Soldatenloses  wird  in  älteren  Liedern 
oft  beklagt.  Der  verwundete  Krieger  fand  nicht  so  hilfsbereite  Pflege  wie  heut. 
Der  arme  'Schwartenhals'  des  16.  Jahrh.  musste  oft  betteln  gehen.  In  E'riedens- 
zeiten  war  das  Leben  des  Soldaten  leichter,  daher  findet  die  Friedenssehnsucht 
(Friedenstaube)  im  kriegerischen  Volksliede  warme  Worte.  Nach  hoffentlich 
baldigem  ehrenvollen  Ende  des  jetzigen  Weltkrieges  hofft  der  Redner  nicht  auf 
einen  vierzigjährigen,  sondern  auf  Geibels  'Deutschen  Frieden'.  Hr.  Prof.  Dr. 
Bolte  wies  anschliessend  darauf  hin,  dass  das  Bild  von  der  durch  den  Belagerer 
umworbenen  Festung  sich  jetzt  wieder  häufig  in  der  Kriegspoesie  finde.  Hr.  Ge- 
heimrat Dr.  Friedlaender  gab  einige  Proben  der  jetzt  üblichen  Kriegs-  und  Sol- 
datenlieder und  ging  näher  auf  die  Entstehung  des  kleinen  Kriegsliederbuches  von 
1914  ein. 

Freitag,  den  27.  November  1914.  Vorsitz  Geh.  Rat  Roediger.  Hr.  Prof. 
Ludwig  legte  die  Nachbildung  eines  alten  Holzschlosses  oder  Riegels  ohne 
Schlüssel  von  einer  Stalltür  im  Ostseebade  Horst  vor,  ferner  eine  Parbenskizze 
dieses  Gebäudes  und  zwei  russische  gestickte  Handtücher  aus  Ostpreussen.  Hr. 
F.  Treichel  zeigte  Abbildungen  der  Mädchentracht  von  der  Kurischen  Nehrung  u.  a. 
Es  entspann  sich  daraus  eine  Erörterung  über  die  eigentümlichen  Bootswimpel  der 
kurischen  Fischer,  die  mit  reicher  Schnitzerei  und  Bemalung  ausgestattet  sind. 
Nach  Angabe  von  Frl.  Ida  Hahn    soll    die  Form  oder  Farbe   der  Fahne  mit  dem 


Protokolle.  439 

Familienbestande  des  Besitzers  veränderlich  sein.  Wie  Dethlefsen  in  seinen 
Bauernhäusern  und  Holzkirehen  in  Ostpreussen  S.  30 — 31  angibt,  hat  jedes  Dorf 
seine  eigenen  Farben,  während  die  Schnitzereien  der  einzelnen  Dörfer  in  einer 
bestimmten  Gruppe  von  Darstellungen  sich  bewegen.  Der  Unterzeichnete  legte 
ein  reich  beschnitztes  Gerät  vor  von  Klammerform,  datiert  1782.  Es  gehört  der 
Kgl.  Sammlung  für  deutsche  Volicskunde  und  war  bisher  von  unbekannter  Be- 
stimmung. Durch  Vergleich  mit  einem  sogen.  Tenakel  und  Divisorium  aus  der 
hiesigen  Buchdruckerei  Gebr.  Unger  konnte  festgestellt  werden,  dass  es  sich,  wie 
Hr.  Maurer  vermutete,  um  ein  Buchdruckergerät  handelt,  welches  zum  bequemeren 
Pesthalten  und  Lesen  von  Handschriften  früher  allgemein  benutzt  wurde.  Frl. 
Elisabeth  Lemke  sprach  sodann  über  die  Kichererbse  und  berichtet  selbst  wie 
folgt  über  ihren  Vortrag:  „Nach  Erwähnung  der  Zustände,  die  auf  Sizilien  die 
sogen.  'Sizilianische  Vesper'  veranlassten,  welche  Empörung  am  Ostermontag 
(30.  März)  des  Jahres  1"282  losbrach  und  alle  Franzosen  auf  der  Insel  vernichtete 
(man  erzählt  sich,  es  sollen  nur  zwei  Edelleute  übrig  geblieben  sein),  wurde  ein- 
gehend der  Erbse  gedacht,  die  dabei  eine  grosse  Rolle  spielte:  die  Kichererbse, 
Cicer  arietinum  L.,  deren  Name  kein  Franzose  richtig  aussprechen  konnte.  In  der 
Schriftsprache  heisst  die  Erbse  italienisch  cece,  pl.  ceci,  in  Dialekten  ceceri  und 
ciceri.  Nach  Hehn  gehörten  die  Kichererbsen  in  Italien  zur  hauptsächlichsten 
Mahlzeit  der  ärmeren  Volksklassen,  während  sie  heute  diese  Rolle  in  Spanien 
spielen,  wo  sie  cicercha  und  garbanzo  heissen.  Bei  den  antiken  'Floralien'  wurden 
sie  unter  das  Volk  ausgestreut,  das  sie  mit  Gelächter  aufzufangen  suchte.  Mög- 
licherweise stimmt  Ciceros  Name  vom  fleissigen  Anbau  der  Erbse,  gleichwie  die 
Familiennamen  Lentulus,  Fabius,  Piso  entstanden  sind;  Cicero  brachte,  als  er 
Quästor  wurde,  den  Göttern  ein  Weihgeschenk,  auf  dem  sein  Name  Marcus 
Tullius  und  darunter  eine  Erbse  eingegraben  waren.  In  Italien  gehören  geröstete 
Kichererbsen  (das  in  Catania  beobachtete  Rösten  wurde  ausführlich  geschildert), 
gleich  Mandeln,  Lupinen,  Kürbiskernen  usw.  zum  Näschwerk,  das  'Zeitvertreib' 
(passatempo)  genannt  wird.  Verbreitet  ist  die  Benutzung  der  gerösteten  Kicher- 
erbsen zur  A^ermischung  mit  Kaffee,  was  aber  wohl  sehr  oft  Geschäftsgeheimnis 
bleibt.  —  E.  Lemke  hat  aus  verschiedenen  Gegenden  Italiens,  auch  von  Sizilien 
und  Sardinien,  Kichererbsen  mitgebracht;  aus  der  in  Neapel  erstandenen  Aussaat 
gab  es  gute  Erfolge.  —  Es  wurden  Proben  von  Kichererbsen  und  auch  getrocknete 
Pflanzen  vorgelegt;  unter  den  Erbsen  befanden  sich  auch  einige,  die  seinerzeit 
Prof.  Dr.  Schweinfurth  aus  Ägypten  gebracht  hatte.  (Diese  wichen  in  Form, 
Grösse  und  Farbe  von  allen  übrigen  ab.)  Mit  dem  an  Oxalsäure  reichen  Kraut 
erbeutet  man  auf  Sardinien  Fische.  —  (Geröstete  Kichererbsen  aus  Palermo  wurden 
zur  'Vernaschung'  angeboten,  und  zum  Nachtisch  im  Restaurant  gab  es  gekochte 
Kichererbsen  aus  verschiedenen  Gegenden  Italiens.  Die  Zubereitung  hatte  Frau 
Geheimrat  Friedel  gütigst  übernommen.)"  —  Hierzu  bemerkte  Hr.  Dr.  F.  Boehm, 
dass  die  Etymologie  des  Beinamens  Cicero  schwierig  und  dunkel  sei.  Auch  Geh. 
Rat  Roediger  wies  auf  etymologische  Schwierigkeiten  deutscher  Wörter  wie 
Erbse  u.  a.  hin.  Wahrscheinlich  handle  es  sich  um  Lehnwörter  aus  nicht  indo- 
germanischen Sprachen.  Ferner  kommt  noch  als  erschwerend  der  Bedeutungs- 
wandel der  Wörter  im  Laufe  der  Zeit  hinzu.  Hr.  Prof.  Dr.  Ed.  Hahn  legte  eine 
lange  Eisensichel  und  eine  kurze,  unsymmetrisch  gestielte  Harke  aus  Südtirol  vor, 
die  für  die  Kornernte  bestimmt  und  mit  je  einer  Hand  gleichzeitig  benutzt  werden. 
Im  Anschlüsse  an  die  Beobachtung,  dass  die  Südtiroler  das  Sternbild  der  Plejaden 
als  Sichel  benennen,  erörterte  der  Redner  die  Beziehungen  der  Sternenwelt  zu 
den  Geräten  des  Ackerbaues    in    den  Anschauungen    und  Bezeichnungen    der  ver- 


'440  Brunner:    Protokolle.  —  Berichtigungen. 

schiedenen  Völker  alter  und  neuer  Zeit.  Näheres  darüber  ist  in  den  Verhand- 
lungen des  Nürnberger  Anthropologenkongresses  von  1913  und  den  Verhandlungen 
der  Berliner  anthropologischen  Gesellschaft  von  1914  enthalten.  Bezüglich  der 
T/orgezeigten  Sichel  bemerkte  noch  Hr.  Geheimrat  Fried el,  dass  solche  in  der 
Mark  als  Rohrsicheln  benutzt  worden  sind  und  vielfach  im  Wasser  gefunden 
werden. 

Berlin.  Karl   Brunner. 


Berichtigungen. 

1. 

Zu  dem  oben  S.  223  abgedruckten  Sitzungsberichte  vom  27.  März  1914  möchte 
ich  bemerken,  dass  ich  bei  der  Besprechung  falsch  verstanden  worden  bin  und 
meine  Auffassung,  betreffend  den  'Achterpflug'  nicht  lautete,  dass  acht  Ochsen 
hintereinander  vor  den  Pflug  gespannt  wurden,  da  diese  grosse  Anzahl  schon  an 
und  für  sich  für  einen  Pflug  zuviel  sein  dürfte,  andererseits  auch  die  Bespannung 
eines  Pfluges  mit  acht  Zugtieren  Schwierigkeiten  bietet,  sondern  dass  'Achter- 
pflug', nicht  'Achterzug-Pflug',  einen  Pflug  bezeichnet,  welcher  aus  zwei  Teilen, 
einem  Vorwagen  (Vorgelege)  und  dem  eigentlichen  Pfluge  besteht,  d.  h.  der 
Pflug  geht  'achtern'  =  hinter  dem  Vorwagen,  welcher  zum  Anspannen  der  Zug- 
tiere diente.  —  Sodann  wollte  ich  ausdrücken,  dass  der  'Swin  slag'  (slag 
[schwedisch]  =  Schlag,  Art:  svin-slag  =  Schweine-Schlag)  dasjenige  Feld  ist^ 
auf  dem  die  Schweine  weiden.  Schlag  ist  bei  uns  noch  jetzt  die  Bezeichnung 
der  Ackereinteilung. 

Berlin.  Franz  Treichel. 


0.ben  S.  243  Z.  14  von  unten  ist  hinter  'Pflanzenteil  oder'  einzufügen:  (V).  — 
S.  243  Z.  7  von  unten  hinter  'bis"  heisst  es  V  statt  IV. 

La  Plata.  Robert  Lehmann-Nitsche. 


3. 

Oben  S.  268  Anm.  1  ist  hinter  'Höfler  oben  9,  444'  einzufügen:  wo  über 
barches  gehandelt  wird;  über  Perchtenbrod,  Gebildbrote  und  Barches  s.  oberi 
11,  193—201  usw. 

Budapest.  Berthold  Kohlbach. 


Register. 


441 


!Eleg*istei\ 

(Die  Namen  der  Mitarbeiter  sind  kursiv  gedruckt.) 


Aachen  226.  229 f. 

Aal  290.  299. 

Aarne,  A.  109.  330. 

Abdontag  12. 

Abel  70  f. 

Abendrot  59. 

Abenteuerroman  821". 

Aberglaube  355  f.  405.  431. 
Amerika  9G.  Baden  218. 
Blut-  334.  Hessen  293—303. 
Isergebirge  193  f.  krimi- 
neller 175— 182.  293-305. 
334.  431.  Pflanzen-  1—19. 
102.  193  f.  294 f.  Schleswig- 
Holstein  55— G2.  vgl.  Gei- 
ster, Hexen,  Krankheiten. 
Teufel,  Zauber. 

Abortivum  10. 

Abraham  332. 

Abt,  A.  109.  217. 

Achtzahl  422. 

Ackerbau  382.  393.  489. 

Ackermann,  A.  428f. 

Acnna  de  Figueroa,  F.  241. 

Adam  63.  97. 

Ägypten  164f.  211. 

AJiasverus  434, 

Ahnert,  K.  431. 

Albanien  166. 

Albertus  Magnus  1.  3. 

Alchimie  12  f. 

d'Alcripe,  Ph.  82. 

Algier  165. 

Allan  13. 

Alraunwurzel  17.  322. 

de  Alta  Silva,  J.  101. 

Altmai  416. 

Amalfi,  G.  431. 

Amaranthus  9. 

Ameisen  26.  30.  423. 

Amerika:  Aberglaube  96. 
Volksrätsel  240  ff. 

Ammassalik  214f. 

Amor  und  Psyche  428. 

Amulett  355.  Perlen-  332. 
Pflanzen-  13.  17  f. 

Anagallis  5. 

Andersen,  TF.  Tschuwaschi- 
sche Sagen  vom  Igel  als 
Ratgeber  312—315. 

Andrae,  A.  Hausinschriften 
aus  Nord-  und  Mittel- 
deutschland 31—47. 

Andree,  R.  308. 

Andree-Eysn,M.268.355f.  385. 

Angelica  13. 

Angola  218. 

Animismus  429. 

Anna,  d.  hl.  137. 

Anthropophyteia  241. 


Antinoupolis  219. 
Antirrhinum  5 f.  9. 
Antonius  v.  Berry,  d.  hl.  155. 
—  v.  Padua,  d.  hl.  140.  151. 
Anton     Ulrich,     Herzog    von 

Braunschweig  83.  86. 
Aphrodisiaca  3f.  5.  7.  13. 
Apollonia,  d.  hl.    136f.     153. 

157. 
Apostelbienenstöcke  224.  409. 
Apuleius  428. 
Arabien  163f.  423. 
Argentinien:    Volksrätsel  240 

bis  255. 
Ariel  429. 
Armenien  164. 
Arromunen  166. 
Artemisia  7.  9.  13. 
Arzt  400  f. 
Asche  62. 
Aschermittwoch  59. 
Aeschylus  112. 
Asphodelus  335. 
Asplenium  15.  j 

Assa  foetida  61  f. 
Aster  18. 

Augenleiden  s.  Krankheiten. 
Ausstellung    für    italienische 

Volkskunde  207. 
Austrag  389.  398.     .  ' 

Avemaria  136  ff. 

Bachmann,  Z.  259.  ' 

Bäcker  399. 

Backhaus  389.     -ofeu  391. 

Baden  218.  i 

Bahlmann,  P.  217. 

Bahrrecht  80 f. 

Baldasseroni,  F.  207. 

Baldrian  9. 

Balkanvölker  165  ff. 

V.  Balthasar,  Ä.  263. 

Balqls  423. 

Bannung  417. 

Barches  265  ff. 

Barditus  438. 

Bartels,  A.  .356. 

Basel  124  f.  433. 

Bauerncharakter  3S9ff.  435. 
-haus    s.  Haus.       -hochzeil 
79.  435.   -krieg  394.    -prak- 
tik  12.     Polnische  —  435. 

Bäume  belebt  97. 

Bayern:      Bevölkerung    394. 
Umritte  104. 

Beamte  399  ff. 

Bechstein,  L.  100. 

Becker,  A.  311.  412  f. 

Becker,  K.  110  f. 

Behexung  62. 


Behrend,  F.  Aus  den  Reise- 
berichten des  Frhrn.  A. 
V.  Mörsperg  77—80.  Notiz 
102.    Berichtigung  224. 

Beiderwand  354.  437. 

Beifuss  13.  16. 

Beil  61. 

Beleuchtung  352.  377. 

Berghausen  411  f. 

Berlin  101.  345.  358  f. 

Berührung  heilend  229. 

Beschwörungen  s.  Segen. 

Besen  61. 

Besessene  229. 

Besuch:  Vorzeichen  55 f. 

Bett  .'>.>,  376.     -wärmer  378. 

Bibliographie  von  Angola  218. 
ethnologische  220.  volks- 
kundliche 109.  217. 

Bielenstein,  R.  243  ff.  382. 

Bienenstöcke  224.  409. 

Bier  371. 

Bin  Gorion,  M.  J.  97.  332. 

Bismarck-Archipel  105.  2i:>f. 

Blasius,  d.  hl.  58.  157. 

Blau  s.  Farben. 

ßleigiessen  405. 

Blitz  abgewendet  8  ff. 

Blocksberg  416. 

Blut  57.  -aberglaube  334. 
gestillt  137.  150.  155.  157. 
tabu  203. 

Bock,  H.  Iff. 

Böcke),  0.  218. 

Boehm,  F.  439.  Zur  Pflege 
der  Volkskunde  in  Italien 
206—210.  Bespr.  96.  328 
bis  329.  427-428.  Notizen 
100-106.  217-221.  334  bis 
336.  431-437. 

Bölkhans  419. 

Balte,  J.  108fl'.  160.  I25f.  138. 
Zur  Wanderung  d.  Schwank- 
stoffe 81-88.  Zum  Schwank 
vom  Zeichendisput  90.  Vic- 
tor Chauvin  t  106  —  107. 
Zum  Bericht  über  den  Mar- 
burger Verbandstag  112. 
Nochmals  das  Soldatenlied: 
'Hurra,  die  Schanze  vier" 
319.  Aus  Hermann  Kest- 
ners  Volksliedcrsammlung 
424.  Bespr.  327.  3.!0-332. 
Notizen  100—106.  217.  221. 
■335.  4:U-437. 

Bootswimpel  438. 

Borchardt,  P.  21 S. 

Boersch,  Ch.  115. 

Botrychium   12. 

Brachcndistel  19. 


442 


Register. 


Brände  402. 

Brandenburg:  Sagen  219. 

Brandsch,  G.  Noch  ein  Vor- 
schlag zur  lexikalischen  An- 
ordnung von  Volksmelodieu 
196—199. 

Brandt,  H.  234. 

Branntwein  61. 

Brant,  Seb.  116.  118.  121. 

Brauerei  56. 

Braun,  R.  218. 

Braunau  a.  Inn  387. 

Braungart,  R.  381. 

Braunsciiweig:  Hausinschrif- 
ten 38.  Herzog  82  f.  Nach- 
barreime 91.  Sagen  414  bis 
420.     Tracht  352. 

Braut:  Schmuck  94f.  Vor- 
zeichen 55. 

Breisgau  126. 

Brendicke,  H.  101. 

Brigitta,  d.  hl.  157. 

Bronner.  F.  J.  406. 

Brot  55  f.  61.  153.  369.  396. 

Brücke  129  f.  239. 

Brueghel,  P.    131  f.  227.  239. 

Brunfels,  0.  If. 

Brunholdisstuhl  199. 

Brunne r,  K.  222 f.  437 f.  439. 
Die  Entwickelung  der  Kgl. 
Sammlung  für  deutsche 
Volkskunde  seit  dem  Jahre 
1904  349  360.  Sitzungs- 
berichte 108  -112.221  -  224. 
337-440. 

Brusch,  K.  354. 

Brustknochen  57. 

Brjonia  17. 

Buchdruckerei  439. 

Buchweizen  58. 

Bückeburg  351. 

Bügeln  378. 

Buin  213. 

Bulgarien  166. 

Bürger,  G.  A.  81  f. 

Burggrafenamt  71  f. 

Burschenleben   40;>. 

Butter  13.  56.  297.  370.  415. 
-milch  57. 

Biäuras,  A.  Neugriechische 
Spottnamen  und  Schimpf- 
wörter 162-175. 

Byzanz  163  ö".  170. 

Caland,  W.  Der  Scliwank  vom 
Zeichendisput  in  Litauen 
und  Holland  88-90. 

Oamehl,  A.  W.  103. 

Camerarius,  Ph.  125. 

Carlina  3.  8. 

Carstens,  H.  f  Volksglauben 
und  Volksmeinungen  in 
Schleswig-Holstein  55  —  62. 

Castan,  L.  339.  341. 

Celos,  G.  305  f. 

Challah  267  ff. 

Chauvin,  V.  10(;f. 

Chenopodium  8. 

Chile:  Lied  105. 

Cicer  arietinum  439. 


Cicero  439. 
Cichorium  16. 
Clara,  d.  hl.  158. 
Cohn,  A.  Meyer  339.  345. 
Cölu  a.  Rh.  226. 
Coutumes  99  f. 
('ramer,  F.  100. 
Ciispinus  Bonifacius  82 f. 
Cyathus  11. 

Damköhler,  E.  83.  85  f. 
Dänemark  79  f. 
Debenedetti,  S.  431. 
Deckengehänge  355. 
Delphinium  16. 
Dialekte  s.  Mundarten. 
Diehl,  W.  293. 
Dienstantritt  57.  395.     -leute 

395.  398. 
Dieterich,  A.  357. 
Dinkel  369. 

Dioskorides  1.  5.  6.  18. 
Dolopathos  101. 
V.  Domaszewski.  A.  201. 
Donneraxt  296  f.    -würz  8. 
Dorant  s.  Oraut. 
Dorf  formen  222.  384  f. 
Doritsch,  A.  8S. 
Dorn  139.  143. 
Dost  8  f. 
Drache  32  f. 
Drangeid  399. 
Drayton,  M.  81. 
Dreikönigstag  57.   109. 
Dreizehn  62. 
Dreschen  56.  58.  353. 
Druiden  17. 
Dunkelheit  57. 
Duntzenheim  116. 
Durchkriechen  61.  201  ff. 
Dürrwurz  8. 

Ebcrmann,    0.      Le  Medecin 

des  Pauvres  134-162. 
Eberraute  13,    -würz  3.  8. 
Echternach  129 ff.  234  ff. 
Edelstein  422. 
Efeu  146. 

Egge  294.  299.  382. 
Egidius,  d.  hl.  59. 
Eheauffassung  396.  -recht99f. 
Ehrenzeichen  433. 
Ei  57.  59.  148.  295  f.  310. 
Eiche  11. 
Eid  400. 
Eifel  106. 

Eisen  56.  97. 193.  -kraut  16. 18. 
Elfen  430. 

Enchiridion  Leos  III.  155. 
Engelwurz  13. 
England:  Lied  221. 
Ente  59. 
Enzian  14. 

Epilepsie  s.  Krankheiten. 
Epiphanias  109. 
Eppen,  M.  261. 
Erbse  58.  439. 
Erdbeben  97. 
Erde  55.  97. 
Ernte  194.  382.     -fest  224. 


:  Eryngium  4.  19. 

Erzgebirge  363. 

Eskimo  214  f. 

Esrel  313  f. 

Essen  iStadt)  334. 

Esslinger,  C.  355. 
I  Ethnopsychologie  105. 

Eule  430. 

Eulenspiegel  82. 

Eva  66.  70. 

Evangelisten  153. 

Exempla  432. 

i  Fabel  427. 

I  Faden  56.  422  f. 

Fälteln  378. 

Familie:  bäuerliche  396, 
Feste  397. 

Farben:  blau  16.  rot  119. 
125  f.  228. 

Farnkraut  41  12.  15. 

Fastenzeit  59. 

Fastnacht  199. 

Faustsage  221. 

Fegen  57. 

Fehrle,  E.  218. 

Feist,  S.     Bespr.  213-216. 

Feldformen  382. 

Fenster  380. 

Ferri,  G.  208. 

Feste:  Familien-  397.  Neu- 
jahr 58.  61.  109.  176  f.  194. 
438.  Ostern  7.  57 ff.  118. 
167.  Pfingsten  234.  Weih- 
nachten 56  f.  59.  109.  188 
bis  190.  355.  436.  vgl.  Drei- 
königstag, Johannistag, 
Karfreitag  usw. 

Feuererzeugung  352. 

Fichtelgebirge  219. 

Fieber  s.  Krankheiten. 

Fisch  59.  439.  -netz  383. 
-zucht  393. 

Fischer  57.  438. 

Flachs  58. 

Flechterei  355.  378. 

Fliege  11.  148.  297. 

Floralia  439. 

Flucheu  193.  417. 

Flurnamen  s.  Namen. 

Fock,  G.  335. 

Fowler,  W.     Warde  202 f. 

Franck,  J.  36. 

— ,  M.  258. 

-,  Seb.  16. 

Frähkel,  L.  Auffrischung  al- 
ter Fastnachts  feiern  in  der 
Rheinpfalz  199.  Jungfrauen- 
versteigerung im  oberen 
Nahetal  311.  Der  'Weiber- 
braten' von  Berghausen  bei 
Speyer  411-413. 

Franken  167.  370. 

Frankreich:  Gebäcke  306 ff. 
Volksmedizin  134 — 162, 

Frauen:  Recht  412 f.  Stellung 
395. 

Frazer,  J.  G.  201  ff. 

Freimaurer  414. 

Freitag  s.  Wochentage. 


Keffister. 


443 


Fremclwörterfrage  211. 
Freyberg,  E.  H.  263. 
Frey  tag,  G.  diVJ. 
Friede!,  E.  101.  440. 
Friedlaender,  M.  438. 
Friedrich  d.  Gr.  83. 
Friedrich  Wilhelm  I.  83  f. 
«       Friesland  350. 
Fritz,  J.  221. 
Frosch  415. 
Frost  59. 
Fachs    26.     28.         -schwänz 

(Pflanze)  0. 
Fuchs.  L.  2. 
Fulnek  188  f. 
Funke  am  Licht  55. 
V.  Fürst.  G.  2G2. 
Fussspur  193.  258  f. 

ttaidoz,  H.  2o5. 

Galläpfel  11. 

Gallnswüche  58. 

Gallwespe  11. 

Gänsefuss  ^^Pflanze)  8. 

Gart  der  Gesundheit  7.  9. 
17. 

Gartz  a.  0.  259. 

Gauchheil  5. 

Gebäcke265ff.  305  ff.  369.396. 
vgl.  Brot.  Gebildbrote. 

Gebärmutter  118.  138f.  148. 
1.54. 

Gebet  417. 

Oebhardt,  A.  (und  Oechsler, 
E.)  Die  Windsheimer  Hand- 
schrift des  Liedes  "Von 
Sankt  Martins  Freuden"  47 
bis  54.  Bespr.  21G— 217. 

Gebildbrote  109.  265-271. 
305-309.  440. 

Geburt  erleichtert  9.  137. 141. 
144.  149.   269. 

Geisslersekte  233. 

Geisterglauben  428f.  -schiff 
9t).  KX).  —verscheucht  6 f. 
17.  98.  140. 

Geraeindeverfassung  401, 

van  Geunep,  A.  201.  432. 

Genoveva,  d.  hl.  145. 

Gentiana  14. 

Georg,  d.  hl.  104. 

Germanen:  Haus  332.  See- 
herrschaft 216.  Tracht  223  f. 

Gerste  11.  58. 

Gertrud,  d.  hl.  256  ff. 

Geschlechtskraukliciteu  s. 
Krankheiten.  -Unterschei- 
dung 422. 

Gespenst  gemisshandelt  175 
bis  182.     vgl.  Geister. 

Getreidebau  382.  39.">.  -masse 
382. 

<jewebe  s.  Weberei. 

Gewerbeausstellmig  344. 

Geyer,  B.  432. 

Gicht  s.  Krankheiten. 

Gilgenberg  ;')8tS. 

Glasscherben  3i0f. 

Glocken  211.  223.417.  -tnrm 
381. 


Glückgreifen  109. 

Gluhschwanz  414. 

Goldwurz  13. 

Goerke,  F.  340f. 

Geslar:  Hausinschriften  38. 

Göttingen:        Hausinschriften 

32  f. 
Graber,  G.  327. 
Gräberfunde  368.  388  f. 
G?r(f,  S.   Hianzische  Märchen 

20-31. 
Graffunder,  P.  219. 
Greifs wald:  Sage  256-264. 
Grenzsteine  310f. 
Gressoney  352. 
Griechenland    111.   162-175. 

427  f.  435  f. 
Grimm,  Brüder  108.  425. 
Grind  s.  Krankheiten. 
Gross,  J.  125. 
Guuaris,  K.  162. 
Guthknecht,  G.  223. 
V.  Guttenberg,  Frhr.  319. 

Haaropfer  269 f. 

Haas,  A.  100.  Eine  alte 
Greifswalder  Lokalsage  256 
bis  264. 

Hafer  11. 

Hagel  159. 

Hahn  98.  222.     vgl.  Huhn. 

HaJiii,  Ed.  439  f.  '  Bespr.  211 
bis  212.    Notiz  103. 

-,  I.  438. 

Hakenkreuz  307  f. 

v.  Halem,  G.  A.  87. 

Hameln:  Rattenfänger  78 f. 

Handwerk  218.  390.  399. 

Hannover  36  f.  352. 

Harke  57.  59.  439. 

Harn  56. 

Hartheu  7 f. 

Haselstrauch  149. 

Haeser,  H.  llSff.  234. 

Haspel  .'!77. 

Haube  352.  391. 

Hauch  1.37  ff.  229.  429. 

Haus :  germanisches332.0ber- 
innviertler  389  ff.  sächsi- 
sches 336.  366.  schlesischrs 
223.  —  Bauern-  103.  223. 
332.  350  f.  366.  379 ff.  389  ff", 
-bau  55.  103.  -formen  379 ff", 
-geographie  220.  379.  -in- 
schriften  31  f.  -kapelle  389. 
-Urnen  :)33. 

Hausrath,  A.  427. 

Hautkrankheiten  s.  Krankli. 

Hävecker,  H.  261. 

Heanzen  20  f. 

Hechel  378. 

Heckenrose  62. 

Hecker,  J.  F.  C.  lli'.ff. 

Hegi,  G.  219. 

Heimgarten  389. 

Heinricli  Julius,  Herzog  von 
Braunschweig  82. 

Heisterbach  102. 

Helgoland  94  f. 

Hellwiff,    A.  334.     Missliand- 


lung  eines  Gespenstes  175 
bis  182.  Misshandlung  eines 
Hexenmeisters  303—305. 

Helm,  R.  428. 

Hemavijaya  318. 

Hemd  57.  294 f.  297. 

Hennig,  A.  384. 

Herd  379.  391. 

Herdengeläut  211  f. 

de  Herentals,  P.  231. 

Hering  61, 

Hermaphroditismus  97.  - 

Herodot  111. 

Herrgottswinkel  390.  396. 

Herrmann,  P.  432. 

Het-tel,  J.  Zum  Schwank  vom 
Zeichendisput  317  — 318. 

Hertz,  W.  422. 

Hesiod  111. 

,  Hessen:  Aberglaube  293  — 303. 
1      Flurnamen  101. 

Heustapel  382  f. 

Hexagramm  222. 

Hexen  24 f.  28.  56 f.  303  416. 
429  f.  Butter-  56.  -meister 
303ff.     Tiergestalt  98. 

V.  Heyden,  A.  347. 
i  —    F   343. 

Hianzen  20  f. 
i  Hildegard,  d.  hl.  1. 

Hilka,  A.  101. 

Hillebille  385 f. 

Himmelsbricf  61.  142. 

Himten  382. 
i  Hirsch,  A.  113  ff.  234. 

Hirschberg  i.  Schlesien  321  f. 

Hirschlinger,  J.  389. 

Hirschzunge  295. 

Historia  Septem  Sapientium 
101, 

Historische  Lieder  438. 

Hochzeitsgebräuche:  Däne- 
mark 79f.    jüdische  222, 

Hochzeitswagen  351. 

Hof  389. 

Höfel  409  f. 

Höfer,  P.  367. 

Hoffmanu-Krayer,  E.  381.  383. 
433. 

Ilöfler,  M.  t  238.  268.  270 
437.  Ein  Helgoländer Braut- 
schmuck 94  95  Vernageln 
200-201.  Gebäcke  und  Ge- 
bildbrote (PoUweck  und 
Osterwolf)  305-309. 

Höft,  F.  346.  349. 

Hohlenstoin  117. 

HöU  391. 

Holland:  Schwanke  89 f, 

Holzbauten  390  f. 

Holzkalender  354. 

Hondius,  J.  133f. 

Honig  148.  267.  423. 

Honigberg  272 ff. 

Hörmann,  K.  211  f. 

Hornschucli,  F.  48. 

Horstius,  G.  127. 

Hose  62.  .391, 

Hostie  229. 

Hotz,  W.  101. 


444 


Register. 


Hubertus,  d.  hl.  145.  155. 

Hufenverteilung  223. 

Huhn  149.  222.    vgl.  Hahn. 

Hühnerauge  s.  Krankheiten. 

Hund  59.  418. 

Hünengräber  105.  278. 

Hungerberg  272 ff.  319. 

Hungertuch  §54. 

Hunnen  in  Ortsnamen  278. 

Hure  9  f. 

Hüsing,  G.    Zum  RübeuzageJ 

320-32(3. 
Hygiene  401. 
Hypericum  7. 

Igel  94.  312-315. 

Hex  10. 

llg,  M.  Maltesische  Legenden 

von  der  Sibylla  G3  — 71. 
Imlinsche       Familienclironik 

119. 
Imme,  Th.  334. 
Immergrün  7. 

Imperatoria  13.  ^ 

Impotenz  13. 
Indien  421  f. 
Innviertel  387-409. 
Inschriften:  Eisenbahmvagen - 

431.    Haus-  31  f.  ÜJir-    104. 
Inula  8. 
Irrlicht  417. 
Isaac,  J.  .344. 

Isergebirge:  Aberglaube  193  f. 
Island  432. 
Italien    128.    206-210.    308. 

4.34.  439.     vgl.  Sizilien. 

.Jachert,  G.  319. 

Jagd  402. 

Jägerhof  in  Dresden  3(il  fF. 

Jahn,  F.  L.  83. 

-,  U.  .338  ff.  .343. 

Jainaliteratur  318. 

Jakobus,  d.  hl.  59.  43G. 

Jätaka  421  f. 

Joch,   kaudinisches  201  —  206. 

Johann  Albrecht,  Herzog  von 

Mecklenburg  87. 
Johannes  d.  T.    12.  126.  144. 

154.  158.  226.  2.32  f. 
Johannisevangelium  229. 

-feuer  14. 16.  233.    -kraut  7. 

13. 18.  -nacht  4. 14. 16.  127. 

-tanz  232.  238, 
Johanuiterorden  77. 
Joseph,  d.  hl.  69. 
Joest,  VV.  .344. 
Judas  Ischarioth  59. 
Jude,  ewiger  434. 
Juden:  Aberglauben 334.  Feste 

221.  265  f.     Gebäcke  265 ff. 

Sagen  97  f.  332.  Spottnamen 

167  f. 
Jungfrau    61.    63  f.   68.    311. 

Heilige  137.      verwünschte 

418. 
Juniperus  9. 
Jütland  386. 

Kaffee  396.  439. 


Kain  70  f. 

Kaiserin  Friedrich  343. 

Kalender  101.  354. 

Kamm  353. 

Kammerwagen  351. 

Kampfruf  438. 

Kantzow,  Th.  257. 

Karfreitag  57. 

Kärnten  327  f. 

Kartenspiel  395. 

Kartoffel  58.  369.  396. 

Käse  370.  419. 

Katze  98.  325. 

Katzenelnbogen  293  ff. 

Kaudinisches  Joch   201—206. 

Kegelspiel  404. 

Kehricht  57. 

Keramik  s.  Töpferei. 

Kerbhölzer  354. 

Kerner,  J.  109. 

Kessel  61.    -haken  149. 

Kichererbse  439. 

Kienspan  377. 

Kiepe  355.  378. 

Kind  55.  334.  uneheliches  396. 

Kindererziehung  397.  -krank- 
heiten  s.  Krankheiten,  -rät- 
sei 422.    -spiel  19.  59. 

Kinematograph  358. 

Kirchenbau  381. 

Klapper,  J.  432. 

Kleidung  s.  Tracht. 

Kleinasien  163. 

Kleinlawel  116. 

Kleinpaul,  B.  .334. 

Klette  10  f.  102. 

Klösse  369. 

Knacken  der  Möbel  55. 

Knicks  385 

Knoblauch  7.  18. 

Kiioop,  O.  Die  kluge  Königs- 
tochter 191-192. 

Knortz,  K.  96. 

Knuchel,  E.  F.  433. 

Kohl  58.  62. 

Kohlhach,  li.  Das  Zopfgebäck 
im  jüd.  Ritus  265  -  271.  Be- 
richtisung  440. 

Kohlen  o5.  l93.  310f. 

Kolller,  J.  Bespi^  99-100. 

Köhler,  R.  425. 

Külbigk  238 f. 

Kolonialsprachen  106. 

Kongress  für  italienische 
Volkskunde  207. 

König,  E.  434. 

V.  Königshoven,  J.  11 3 ff. 

Kopfschmerzen  s. Krankheiten. 

Kopftuch  391.  405. 

Korb  355.  378. 

Korngeist  309. 

Korsett  109. 

Kosmas  und  Damian  139. 

Kossinna,  G.  333. 

Kot  296  f. 

V.  Kralik,  D.  433. 

Krankheiten:  Allgemeines  64. 
329.  400.  Augen-  16.  65. 
141.  144.  158.  Brust-  296  f. 
Epilepsie  17. 118. 129f.  150. 


156.  238.  vgl.  Tanzkrank- 
heit. Fieber  1.38.  148.  158. 
Geschlechts- 18.  Grind  137. 
Haut-  145f.  154.  156.  Hüh- 
nerauge 12.  Kinder-  151. 
297  f.  Kopfweh  143.  Läh- 
mung 294.297.  Leib  weh  57  f. 

138.  150.  153.  157.  Ohren- 
schmerzen 143.  Pest  6.  13. 
Pferde-3.  61.  142.297.  Skor- 
but 149.  Steine  151.  Tanz- 
113-134.225-239.  Taran- 
tismusl28.  Tollwut  128.145. 
148.  238.  Veitstanz  s.  Tanz- 
krankh.  Verbrennung  139. 
143. 154  f.  Verrenkung  152  ff. 
155.  297.  Vieh-  14  16. 118. 
145.  147  ff.  154.  158.  303  ff. 
Wassersucht  146.  Wildfeuer 

139.  Wunden  137.  151.  157. 
Würmer  156.  Zahnweh- 
136  f.  143.  153.  157  f. 

Kranz  7.  231. 

Kräuterbücher  1—16.  -weihe  6  f. 
Kreuz    56.    119.    1,36  ff.    144. 

-dorn  137.  416.    -steine  4.34. 

-weg  8.  416. 
Kriegsdichtung  431.  438. 
Krippe  355. 
Krokodil  430. 
Kröte  118. 
Krüsel  377. 
Kubier,  B.  219. 
Küchel  391. 
Kuckuck  59. 
Kufahl,  G.  434. 
Kuh  61. 

Kühnau,  R.  335. 
Kultur,  deutsche  2 10  f.  336. 
Kundentrinken  399. 
Kunstlied  s.  Lied. 
Kurische  Nehrung  438. 
Kuss  57. 

Lacombe,  M.  99. 

Lähmunff  s.  Krankheiten. 

Lampe  .55.  377. 

Lampros,  S.  162. 

Landkarten  367  ft\  427. 

Landsknechte  438. 

La-Plata-Gebiet  240-255. 

Lares  207. 

Lärmwerkzeuge  356. 

Lauffer,  0.  359.  368. 

Laurentius,  d.  hl.  143.  157. 

Laus  62. 

Lausitz  362. 

Lazarus,  d.  hl.  158. 

Lebenswasser  24 f. 

Ledum  8. 

Legenden  aus  Malta    63—71. 

Lehmann-Kitsche,  R.  Zur 
Volkskunde  Argentiniens,  I. 
Volksrätsel  aus  dem  La- 
Plata-Gebiete240-255.  Be- 
richtigung 440. 

Lehnwort  210  f. 

Leibweh  s.  Krankheiten. 

Lein  58. 

lieisen  438. 


Register. 


445 


Lemke,  E.  109.  335.  35G.  439. 

Leonhardifalirten  104. 

Leontodum  325. 

Leskien,  A.  433. 

Lettische  Rätsel  243 ff. 

Leviatan  97. 

Levy,  A.  221. 

Lex  Baiuvariorura  48ä. 

r.  der  Leyen,  F.  330.  Bespr. 
425-427. 

Licht  57.  Vorbedeutungen  55. 
430.     -mess  58. 

Licht,  0.  355. 

Liebeszauber  s.  Aphrodisiaca, 
Zauber. 

Lied:  chilenisch  105.  englisch 
221.  spanisch  105.  — 
deutsch:  Mähren  188-190. 
Rheinland  110.  Steiermark 
434  f.  historisch  438.  Kriegs- 
438.  Kunst-  315-317.  Mar- 
tins-47— 54.  politisch  438. 
Soldaten-  319.  438.  Weih- 
nachts-  188-190.  Melodien 
50.  190.  196—199.  —  Süd- 
see 213. 

Lilium  13. 

Limburg  227.  233. 

Links  18.  62.  417. 

Litauen  88 ff.  341.  354.  433. 

Loch  im  Kirchendach  258  f. 

Löffel  57. 

Lohrc,  IL  Notiz  219. 

Loranthus  17. 

Lorbeerbaum  430. 

Loria,  L.  206  f. 

Lotto  160. 

Loewe,  R.  323. 

Löwenbär  416.  -maul  6.  -zahn 
325  f. 

Ludwig,  H.  438. 

Luftgeister  429. 

Luiden  57. 

Lustration  203  ff. 

Lüttich  226.  229  f. 

Lyra,  F.  W.  335. 

Mab  430. 

Mädchenleben  404  f. 

Mahosadha  421. 

Mährten:  Weihnachtslied  188 
bis  190. 

Mai,  E.  102.  224. 

Majoran  294.  299. 

Malta  63  f. 

Mandragora  17. 

Mangeln  378. 

Mannstreu  4. 

Märchen  :  deutsch;  Kluge  Kö- 
nigstochter 191  f.  Lebens- 
wasser 24  f.  Zwei  Rrüder  22. 
426.  Grimms  -  108.  425  ff. 
Hianzen  20-31.  —  grie- 
chisch 427  f.  slawisch  191  f. 
426.  —  Tier-  331.  428.  -for- 
schung  330ff.  425 ff.  -lite- 
ratur  331.  -motive  108  ff. 
330  ff.  425  ff. 

Margarete,  d.  hl.  58  f. 

Mariae  Geburt  7. 226.  —  Him- 


melfahrt 6.  8 ff.  226.  -Mag- 
dalenentag  115  f. 

Mark  Brandenburg  219. 

Martinslied  47-54. 

Martinus  Minorita  239. 

Marx   A.  427. 

Margen,'  H.  'l02,  219.  433. 
Volkskundliches  aus  alten 
Kräuterbüchern  d.  16.  Jahr- 
hunderts 1 — 19. 

Masken  355. 

Mastricht  226.  231.  239. 

Matthiasdienstag  199.  -nacht 
.59. 

Mattiggau  387  f. 

Mattioli,  P.  A_.  2.  6  f.  10  ff.  17. 

Mauerraute  15. 

Maulbeerbaum  424. 

Maurer,  H.  439. 

Maus  13.  325. 

Mecklenburg:  Rätsel  243 ff. 

Medecin  des  Pauvres  134—162. 

Meeresherrschaft,  altgerma- 
nische 216. 

Meerrettich  7. 

V.  Megenberg,  K.  1.  11. 

Meier  Helmbrecht  3871". 

Meier,  J.  Mitteilung  336. 

Meineid  400. 

Meinhof,  C.  106. 

Meisterwurz  13. 

Melken  62. 

Melodien  s.  Lied. 

Menghin,  0.  Über  Tiroler 
Bauernhochzeiten  und  Pri- 
mizen  (Schluss)  71 — 76. 

Merian,  M.  261. 

Messer  55.  57. 

Metz  226. 

Meyer,  R.  M.  f  437.  Notiz 
334  f. 

Michel,  H.  Bespr.  210f.  No- 
tizen 104  f.  433. 

Mielke,  R.  222.  350.  352.  381. 
Bespr.  332—333.  Notizen 
103  f.  336. 

Mikraelius,  J.  260. 

Milchzauber  15.  149. 

Militärdienst  403.  433, 

V.  Miltitz,  J.  236. 

Minden,  G.  222.  224.  352. 
Die  Entwicklung  des  Ber- 
liner Volkstrachtenmuseums 
337-349. 

Mink,  J.  103. 

Mistel  17. 

Mistforke  62. 

Mitternacht  57. 

Mittwoch  s.  Wochentage. 

Möl)el  351.  375 ff. 

Mocchi,  A    207. 

Modelgeer  14. 

Modestus,  d    hl  125. 

Mogk,  E    357.  433. 

Mohn  267. 

Mönch  Felix  102.  224. 

Mönchgut  340. 

Mond  58.  193.    -raute  12. 

Morgenrot  59. 

V.  Mörsperg,  A.  77  f. 


Most  396. 

Mühle:  FormenoSO.  gegen  den 
Wind  laufend  257  ff. 

Müller  399. 

Müller,  B.  379. 

— ,  Conrad  21(if. 

— ,  Gurt,  Nachbarreime  aus 
Obersachseu  90—94.  183 
bis  188. 

— ,  ^V.  Zur  Geschichte  des 
Aberglaubens  in  der  Ober- 
grafschaft Katzenelnbogen 
293-303. 

Müller-Riidersdorf,  W.  220. 
Acker  und  Garten  im  Aber- 
glauben des  Isergebirges 
193-194. 

Münchhausens  Entenjagd  81 
bis  83. 

Mund  verziehen  55. 

Mundarten:  neugriechisch  173. 
plattdeutsch  335.  schlesisch 
323-326.   Schwälmer  326f. 

Museen  für  deutsche  Volks- 
kunde 386  f. 

Museum  für  deutsche  Volks- 
trachten 337—349.  —  für 
italienische  Volkskunde 
206  ff.  —  für  sächsische 
Volkskunst   108.   361—367, 

Musikinstrumente  354. 

Mussgnug,  L.  354. 

Mvosotis  325. 

Myrte  193. 

Nabel  138. 

Nachbarreime  90-94.183-188. 

Nachgeburt  61. 

Nachtinar  430. 

Nachtmütze  420. 

Nagel  193.  200  f.  416. 

Nägele,  A.  434. 

Naglfar  100. 

Nähen  57.  378. 

Nahetal  311. 

Nahrungsmittel  353. 368  ff.  396 . 

Namen:  Flur-  101.  272  292. 
Orts-  272-292.  319.  Pflan- 
zen- 19.  433.  Rübenzagel 
323-326.    Spott- 162-175. 

Naturschutz  336. 

Neckereien  90-94.  183-188. 

Nestelknüpfen  13. 

Netz  383. 

Neubaur,  L.  434. 

Neugriechen  162-175. 

Neujahr  s.  Feste. 

Neusüdwales  94. 

Nikolaus,  d.  hl.  259  f. 

Nikolskij,  N.  V.  312. 

Nisard,  Ch.  160. 

Noriker  393. 

Novati,  F.  208  f. 

Novelle:  Altertum  427.  Mit- 
telalter 101. 

Nüchternheit  138.  140. 

Nudeln  396. 

Nussbaum  148.  193.  219. 

Oberinnviertel  387—409. 


446 


Register, 


Oberösterreich  350.  353.  887  ff. 

Oberschätzen  20. 

Oechsler,  E  (und  A.  Gebhardt) 
Die  Weinheimer  Handschrift 
des  Liedes  'Von  Sankt  Mar- 
tins Freuden'  47—54. 

Ofen  55  f.  351.  391. 

Ofenbeck,  S.  20f. 

Ohnekopf  419. 

Ohrenschmerzen  s.  Krankh, 

Ol  119.  137.  297. 

Orakel:  Ehe- 59. 405.  Ernte- 11. 

Orant  5  f.  9. 

Origanum  8. 

Orphlker  112. 

Ortsnamen  s.  Namen. 

Ostern  s.  Feste. 

Osternberg  388. 

Österreich:  Lied  433.  vgl. 
Tirol  usw. 

Osterwolf  305 fF. 

Ottilia,  d.  hh  16. 

Pachelbl,  J.  C.  220. 

Palraenweihe  9  f.  13. 

Palmsonntag  9  f. 

Pantoffelwerfen  405. 

Papjri  219, 

Paracelsus,  Th.  3. 

Paris  (Pflanze^  6.  18. 

Paten  397. 

Paul,  d.  hl.  137  f. 

Pelissier,  R.  224. 

Perchtenbrot  268. 

Perle  332. 

Persien  164. 

Pesüer,  W.  220.   Aufgaben  der 

deutschen  Sach-Geographie 

367     387. 
Pest  s.  Krankheiten. 
Peterwurz  297. 
Petrus,  d.  hl.  16.  59.  137. 147. 

154.  15Gf. 
Petsch,  R.  242. 
Pflanzen  1—19. 102.  219.  433. 
Pfefferkorn,  G.  M.  261. 
Pfeife  55   356    420. 
Pferd  3.  61.  100.  142.  297. 
Pfingsten  s.  Fest»». 
Pflu?  223   312.  416.  440. 
Pfuscher  400. 
Phallus  306 f. 
Philipp,    0.     Zum    Bahrrecht 

80    81.      Beigaben     unter 

Rainsteinen  310  -  311.    ße- 

spr.  326-327. 
Phönix  27    29. 
Phonograph  358. 
Pin  dar  Ulf. 
Pitre,  G.  103.  208  f.  434. 
Plater,  F.  124. 
Platteln  402. 
Plätten  378 
Plejaden  439. 
Plinius  1.  3    5 ff.  13. 
PoitoH  99  f. 
Polen:  Hauern  435.   Märchen 

191  f. 
Politische  Lieder  438. 
Polivka,  G.  425  f. 


Pollweck  305  ff. 
Poljtrichum  15. 
Pommer,  J.  196.  434. 
Pommersche  Sagen  100.    256 

bis  264. 
Praetorius,  J.  18.  261. 324.335. 
f.  Preen,  H.  353.    Der  Ober- 

innviertler  387  —  409. 
Primiz  71  -  76. 
Prokrustes  332. 
Prudenzani,  S.  431. 
Przjgodda,  P.  108. 
Pteridium  12. 
Puck  429. 
Puppen  356. 
Pustertal  71  f. 

Quickborn-Bücher  335. 

Bainsteine  310f. 

Ranck,  Chr.  103. 

Ranshofen  386. 

Rätsel:  argentinische  240  bis 
255.  doppeldeutige  194  f.  in- 
dische 421-424.  der  Kö- 
nisi'i  von  Saba  421—424. 
lettische  243 ff-  mecklen- 
burgische 243  ff.  schleswig- 
holsteinsche  194f. 

Rattenfängrer  v.  Hameln  78 f. 

Räucherpulver  17. 

Raufen  356.  399.  403. 

Raupe  159. 

Raute  16. 

Ravensburg  125. 

Rechen  194. 

Rechts  62.  417. 

Redensarten  104.  408.  vgl. 
Sprichwörter. 

Reformation  394. 

Regen  59. 

Reid,  J.  S.  204. 

Reimchroniken  438. 

Reiners,  A.  130.  234 f. 

Re'niüungsbräuche  201  ff. 

Reitzenstein,  R.  428. 

Relationen  438. 

Religion,    altgriechische  435. 

Rem,  VV.  114. 

Reseda  5. 

Reymont,  W.  S.  435. 

Rheinland:  Lied  110. 

Rht'inpt'alz:  Fastnacht  199. 
Weiberbraten  411  ff. 

Richter-Heimbach,  A.  100. 

Riegel  438. 

Riemen  416.    -blume  17. 

Riesenbett  105.  -gebirge 
320  ff.    -schiff  100. 

Rittersporn  16. 

Ritualiiiord  334. 

Rivander,  Z.  259. 

Rochus  d.  hL  142. 

Rock  374.  391. 

Roediger,  M.  108  f.  221  f.  437  f. 
Max  Höflert437.  Notiz  433. 

Roggen  58. 

Roheim,  G.  Nachtrag  zu  den 
Igelsagen  94. 

Rolland,  E.  135. 


Romdahl,  A.  131. 

Römer  in  Deutschland  1(10. 393. 

Röscher,  W.  H.  202. 

Rose  62. 

Rosmarin  294 f.  298. 

Rot  s.  Farben. 

R-.th,  F.  114. 

Rübe  58. 

Rüben?agel  320-326.  335. 

Rückwärtszaubern    148.  156. 

Rüdesheim  311. 

Ruhrtalsagen  217. 

Rumänien  166. 

Rupert,  d.  hl.  394. 

Russland:  Fremdvölker  7.  224. 

Ruta  16. 

Ruthen en  7. 

Saba,  Köniein  421  ff. 

Sabbat  s.  Juden. 

Sabinerinnen,  Raub  332. 

Sach-Geographie  367—387. 

Sachsen:  Aberglaube  32S. 
Bauernhaus  386.  Museum 
für  Sachs.  Volkskunst  108. 
361  -  367  Nachbarreime  90 
bis  94. 183  -  188.  Tracht363. 

Sachsenwald  105. 

Sadebaum  10. 

Sa^en:  deutsch:  Faust  221. 
Flug  des  Schneiders  82.  Rat- 
tenfänger 78f.  lanz-238f. 
Wettlauf  mit  Heiligenbild 
256—264.  Brandenburg  219. 
Braunschweig  414—420. 
Kärnten  327.  Pommern  100. 
256  264.  Ruhrtal  217. 
Schlesien  320ff.  335.  Thü- 
ringen 100.  Zwickau  432. 
-  jüdisch  97-99.  332. 
Südsee- 213.  tschuwaschisch 
Igel-)  312-315. 

Sagmina  8ff. 

Salbei  295.' 

Salomo  63 ff.  421  f.  -inseln 
106.  213  ff.  -urteil  421. 

Salz  55ff.  61.  159. 

Salzburg  386.  388.  Mönch 
von  —  47. 

Samen  3. 

Sammlung  für  deutsche  Volks- 
kunde z.  Berlin  337 -360. 387. 

Samstag  s.  Sonnabend. 

Samter,  E.  111.  4351 

Sandstrickaufgabe  421. 

Sarasin,  P.   336. 

Sargnaj^el  56.  438. 

Sartori,  P.  436. 

Schachtelhalm  325. 

Schad  iSchadaeus\  0.  116. 

Schädel  100. 

Schaf  61.  158. 

Schanze  vier  319. 

Schaubrote  267. 

Scheftelowitz,  I.  Bespr.  97 
bis  99.  332. 

Scheibl,  S   404. 

Schelem,  H.  Bespr.  428-430. 

Schell,  O   319. 

Schellen  2111 


Register. 


447 


Schenck  v.  Grafenberg-,  J. 
125  f.  130. 

Schierghofer,  G.  104. 
Schiessen  bei  Primizen  72. 

Schiiter,  J.  113  f. 

Schimpfwörter  162  —  175. 

Schlabitz,  A.  350.  353. 

Schlachten  57. 

Schlagholz  385  f. 

Schlange   70.  154 f.  314.  322. 

Schlegel,  R.  104. 

Schlemm,  J.  356. 

Schlesien:  Haus  223.  351. 
Mundart  323—326.  Sagen 
335.    Weihnachtsspiele  436. 

Schleswig-Holstein :  Aberglau- 
ben 55—62.  Rätsel  194 f. 

Schlickinger,  M.  388. 

Schlitten  355, 

Schlitz,  Grafschaft  101. 

Schlüssel  418. 

Schmidt,  B.  336. 

Schmied  165.  354. 

Schmuck  94 f.  352  f.  374. 

Schnabelschuhe  230. 

Schnecken  297.  -gebäck307f. 

Schneider  59.  82. 

Schneider,  C.  261. 

Schnetzer,  H.  434. 

Schnitzerei  320-322. 

Schoof,  W.  326.  Beiträge  zur 
volkstümlichen  Namen- 
kunde (1-2)  272—292. 
Nachtrag  319. 

Schrank  351. 

Schratlgaderl  438. 

Schuhe  gewechselt  417. 

Schule  397.  406. 

Schulz-Minden,  W.  332. 

Schürze  58. 

Schütte,  0.  Braunschweigische 
Sägen  414-420. 

Schwalbe  103.  813. 

Schwalra  104.  326  f. 

Schwalm,  .J.  H.  104. 

Schwangere  9. 

Schwäuke  81-90.  317-318. 
427  f. 

Schwartenhals  438. 

Schwein  59.  155.  193.  416. 440. 

Schweiz:  Aberglauben  10. 
Bräuf  be  219.  433. 

Schwelle  10.  57.  61.  416. 

Sebenbaum  9. 

Seele  98.  416.  428. 

Seelenwanderung  430. 

Sesen  7. 134 ff.  218.  222.  296  f. 
Blut-  137  IT  Drei-Frauen- 
141.  144.  Drei-Königs-  156. 
Feuer-  159.  Wetter-  159. 
Wurm-  156. 

Seidenwurm  424. 

Seiler,  F.  210  f. 

Seier,  C.  352. 

Sellerie  18. 

Serbien  166. 

Seuenbaum  9. 

Severin,  d.  hl.  394. 

Seyfarth,  C.  328. 

Seyffert,  0.  361. 


Sgauzini,   C.  104. 

Shakespeare.  W.  81.  428 f. 

Sil.jlla  63-71. 

Sichel  439. 

Sieb  430. 

Siebenschläfer  59. 

Sieben  Weise  Meister  101. 

Siebenzahl  62. 

Silvester  s.  Neujahr. 

Simon,  d.  hl.  154. 

Simon,  J.  350  ff. 

Sindibad  101. 

Singrün  7. 
I  Sittlichkeit  405. 
I  Sitzen  55.  396. 
I  Sitzungsberichte        108—112. 
!     221     224.  437—440. 
I  Sizilien  434.  439. 

Skorbut  s.  Krankheiten. 

Slawische  Märchen  426. 

Societä  di  Etnografia  Italiana 
207f. 

Sökeland,  H.  342.  346.  350 f. 
353. 

Soldatenlied  319.  438. 

Selon  111. 

Sonnabend  s.  Wochentage. 

Sonne  59. 

Sonnenkult  238.  -uhr  104. 

Sophokles  112. 

Spangenberg,  C.  236. 

Spanisches  Lied  105. 

Specklin,  D.  119. 

Speichel  62. 

Speide],  L.  406. 

Speyer  411  f. 

Spiel  402.  404.  -karten  385. 
-Sachen  356.  Weihnachts- 
436.  vgl.  Kinderspiel. 

Spinne  11.  59.  157. 

Spinnerei  57.  353.  377. 

Spottnamen  162—175.  -reime 
90-94.  183-188. 

Sprechen  im  Schlaf  55. 

Spreewald  344. 

Sprichwörter  408.  neugrie- 
chisch 164 f.  vgl.  Redens- 
arten. 

Springprozessionen  129ff.234flf. 

Stabrätsel  421. 

Stall  389. 

Stargard  i.  P.  259. 

Stechpalme  10. 

Steiermark  435. 

Steine:  heilige  423 f.  Rain- 
310.    vgl.  Krankheiten, 

Steinmetz,  S.  R.  220. 

Stenzel,  A.  105. 

Sterkkraut  5  f. 

Sternbilder  439. 

Stickerei  354.  378. 

Stillschweigen  61. 

Srock  im  Eisen  201. 

Storch  61. 

Strassburff  i.  E.  113  ff. 

Stratß,  D.  Weihnachtslieder 
aus  Mähren  188-190. 

Stratz,  C.  H.  221. 

Strauch,  C.  354 ff. 

Strick  61. 


Stricken  378. 

Strumpfband  62.  374. 

Stuben:  Friesland  .350.  Ober- 
österreich 351  Sachsen 
362ff.  Schlesien  351.  Spree- 
wald 337.  344. 

Stückrath,  0.  Drei  Kunstlieder 
im  Volksmunde  315—317. 

Stuhl  375. 

Succisa  16. 

Südseelieder  213.  -sagen  213. 

Sumpfporst  8. 

Suppen  369.  396. 

Swantewit  237  f. 

Tabernaemontanus,  I.  Th.  2.  9. 

Tacitus  438. 

'  Takke,  L.  259. 

j  Tanz  890.  403.  405 f,    als  Heil- 

j     mittel  120  f  227,  -krankheit 

I      s.  Krankheiten,  -sagen  238. 

1  Tarantismus  s.  Krankheiten, 

\  Tataren  164. 

Taube  416.  438. 

Teufel:  abgewehrt  9.  ausge- 
trieben 229  f.  betrogen  415. 
Grossmutter  59.  hilft  but- 
tern 414.  und  Maria  68f. 
Namen  414. 

Teufelsabbiss  (Pflanze)  16. 

Thalbitzer,  W.  214. 

Theophrast  1.  6. 

Thiofried,  Abt  234. 

Thomas,  d.  hl.  149,  -nacht 
405. 

Thüringen  100,  369, 

Thurnwald,  R,  105.  213  f. 

Tiermärchen  331.  428.  -quä- 
lerei  395.     -spräche  331. 

Tigillum  sororium  201  f. 

Tirol  350.  353.  439, 

Tisch  375. 

Tod:  Austreiben  222.  über- 
listet 312  f.  im  Volkslied 
221.  Vorzeichen  55.  61. 193. 

Toleranz  407. 

Tollwut  s.  Krankheiten. 

Tonarten  52. 

Tongern  226.  230. 

Töpferei  354.  363.  376  f. 

Totenbannung  417.  -bretter 
385.  -klage  433.  -köpf  61. 
-münze  368.  -spuk  420.  429. 

Tracht:  allgemein  347,  352, 
371  ff.  altgermanisch  223  f. 
Innviertler  391.  neugrie- 
chisch 171  f.  sächsisch  363. 
—  Museum  für  deutsche 
Volkstrachten  327—349. 

Tragus   s.  Bock. 

Trankrüsel  377. 

Traumseele  98. 

Treichel,F.  109.  111.223 f.  438. 
Die  sog.  Apostel-Bienen- 
stöcke von  Höfel  409-411. 
Berichtigung  440. 

Tripolis  165. 

Trithemius,  J.  232. 

Triumphbogen  72.  201  ff. 

Truhe  351.  375  f. 


448 


Kegister. 


Tschuwaschen :  Sagen  312  bis 

315. 
Täckebotea  417. 
Tunis  1G5. 
Tunschere  438. 
Tür  10.  438. 
Türken  168  f.    -band  13. 

Überschreiten  (iL 

Uhr  55.    -Umschriften  104. 

Ulm  127. 

Umritte  101^402. 

Umsehan  417. 

Umzüge  355.^  402,  433. 

Unruhe  im  Grabe  417  f. 

Urban,  d.  hl.  58. 

Urin  294.  296  f. 

Utrecht  226.  229.  239. 

Uttendorf  388. 

Valentin,  d.  hl.  394. 

Valeriana  9. 

Vanselow,  C.  261. 

Vaterunser  136ff. 

van  Veen,  S.  D.  89. 

Veit,  d.  hl.    58.    118 ff.  225ff. 

237  f.    Veitstanz  s.  Krankh. 
Venusb  erg  281. 
Verband  deutscher  Vereine  f  ür 

Volkskunde  108.    112.  222. 

336. 
Verbena  8.  14.  IS. 
Verbrennung  s.  Krankheiten. 
Verch,  L.  353. 
Verein     der     Sammlung    für 

deutsche  Volkskunde  346ff. 

350.  —für  Volkskunde  342. 

vgl.  Sitzungsberichte. 
Vergleichungen  434. 
Vernae:eln  200  f. 
Verneiden  15. 

Verrenkung  s.  Krankheiten. 
Verrufen  56.  61. 
Versteigerung  311. 
Verstorbene  s.  Tote. 
Versunkene  Gebäude  417. 
Vicuna  Cifueutes,  J.  105. 
Viehdienstag  199.  -krankheiteu 

s.  Krankh.    -zucht  383.  893. 
Yillards,  H.  343. 
Vinca  7. 

Virchow,  R.  338  ff. 
Viscum  17. 
Vitus  s.  Veit. 
Vögelin,  S.  114.  225. 
Vogelschiessen  363, 
Vojjt,  F.  436. 
Völkerpsychologie  104f. 
Volksbotanik  s.  Pflanzen. 
VolksKücher  82.  221.  434. 
Volksdichtung  218.  vgl.  Lied. 
Volksglauben  s.  Abergl. 
Volkskunde:  argrentinische240 

bis  255.  italienische  206  bis 

210.  Begriff  339.  347.  357  L 

434.  Bibliographie  109.  217. 

Geschichte  433  f. 


Volkskunst  s.  Schnitzerei,  Stik- 
kerei,  Töpferei,  Weberei  usw. 

Volkslied  s.  Lied. 

Volksmedizin  134—162.  vgl. 
Krankheiten. 

Volksmeinungen  s.  Abergl, 

Yolkspsychologie  334. 

Volksrätsel  s.  Rätsel. 

Volkssagen  s.  Sagen. 

Volksschauspiele  436. 

Vorzeichen:  Besuch  55 f.  58. 
62.  Glück  57.  Streit  57.  Tod 
55.  61.  193.  Verheiratung 
55.  61.     Wetter  58  f.  61. 

Votivgaben  355. 

Wagen  351,  355.  383. 

Wagenaer,  Chr.  221. 

Walachei  166. 

Walde  320. 

vom  Walde,  Philo  324. 

Waldenser  386. 

Waldwirtschaft  393. 

Wallfahrten  104.  400. 

Wallheckeu  385. 

Walpurgisnacht  16.  416. 

Warmbrunn  320. 

Waschen  57.  378. 

Wasser  148. 

Wassersucht  s.  Krankheiten. 

Wattenheim  199. 

Weberei  353.  366.  377.  437. 

Wegwarte  16. 

Weib  s.  Frau. 

Weiberbraten  411—413. 

Weichselzopf  430. 

Weide  148. 

Weihbüschel  7  f.  -gaben  355. 
-nacht  s.  Feste,  -wasser  119. 
229. 

Wein  371.  383, 

Weinberg  281. 

Weinitz,  F.  Das  Landesmu- 
seum für  Sächsische  Volks- 
kunst in  Dresden  361 — 367. 

Weise,  A,  81, 

v.  Weissembach,  A.  336. 

Weltnaturschutz  336. 

Wendrich,  E.  321. 

-,  F.  321. 

Wermut  7.  9. 

Werwolf  416 

Westfalen  352. 

Wettersegen  s.  Segen,  -zauber 
s.  Zauber. 

Wettlauf  402.  mit  Heiligen- 
bild 256  ff. 

Wetzstein  353, 

Wicke,  E.  C.  232 f. 

Widertonmoos  15. 

Wiedehopf  430, 

Wiege  376. 

Wildblumen  297. 

Wilddieberei  402. 

Wilder  Jäger  414. 

Wildfeuer  s.  Krankheiten. 

Wilhelm  IL,  Kaiser  355. 


Willibrord,  d,  hl.  129 f.  234  f. 

Wüster  marsch   220. 

Wimmer,  J.  394. 

Wimpel  438. 

Wind  55.  58  f.  —  lassen  314  f. 
-mühle  380. 

Windsheimer  Hs.  47—54. 

Winterberg  281. 

Wirth,  A.  221. 

Wirtshaus  399.      -schild  355. 

Witt,  A.  Doppeldeutige  Volks- 
rätsel aus  Schleswig-Hol- 
stein 194—195. 

Witwer  57. 

Wochentage:  Mittwoch  56. 
Freitag  56f.  59.  193.  271. 
Sonnabend  56 f.  Sonntag61. 

Wöchnerin  9. 

Wolf  14(5. 

Wolfram,  G.  367. 

Wossidlo,  R.   243ff. 

Wrede,  A.  106, 

Wriede,  H.  335. 

Wunden  s.  Krankh.  —  Christi 
140. 

W^urm  IL  243.    vgl.  Krankh. 

Wurst  370. 

Württemberg  434. 

Xanthium  10. 
Xenophanes  111. 

Ysop  294f.  298. 

Zabern  114.  116  f. 

Zachariae,  Th.  Das  kaudini- 
sche  Joch  201— 206.  Rätsel 
der  Königin  von  Saba  in 
Indien  421-424. 

Zacher,  K.  3241 

Zagel  324f, 

Zähne  56. 

Zahnweh  s.  Krankheiten. 

Zauber;  abgewehrt  146,  159. 
läebes-  3.  5.  7.  Milch-  15. 
149.  Rückwärts-  156.  in 
Sachsen328.  -sprüchel34ff. 
218.  400.  vgl.  Segen.  Wet- 
ter- 159. 

Zaunrübe  17. 

Zeche  403  f. 

Zeichendisput  88—90.  317  bis 
318. 

Zeiller,  M.  261. 

Zeitschrift  für  Kolonialspra- 
chen 106. 

Z«ll,  F.  351. 

Ziege  61.  436, 

Zigeuner  165. 

Zisterzienser  102. 

Zopfgebäck  265—271. 

Zunftalrertümer  355.  437, 

Züricli  225 f. 

Zwickau  432. 

Zwölfnächte  57.  62. 


Druck  von  Gebr.  ünger  in  Berlin,  Bernburger  Strasse  30. 

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GR      Zeitschrift  Tür  Volkskunde 

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