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\
Zeitschrift
Vergleichende Litteraturgeschichte.
Herausgegeben
Dr, Max Koeh,
ofesBor an der Univeraitfit Marburg). H.
ERSTER BAND.
BERLIN 1887
DRUCK UNO VERLAG VON A. HAACK
NW., Dor<ilh«ii-StT»Mr5S,
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INHALT.
Abhandlungen. «^^^
Zur Einführung. Von Max Koch i
Das Hdratsversprechen. Von Marcus Landau 13
Über den Refrain. Von Richard M.Meyer 34
Über Goethes Versuch, zu Anfang unseres Jahrhunderts die römischen Komiker
Plautus und Terenz auf der weimarischen Bühne heimisch zu machen. Von
Otto Francke 91
Ästhetik, Philologie und vergleichende Litteraturgeschichte. Von Joseph Kohler 117
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und modemer Poesie. Von Alfred
Biese 135; 197; 407
Ein Problem der vergleichenden Sagenkunde und Litteraturgeschichte. Von Karl
Krumbacher 314
Untersuchungen zu dem mittelenglischen Fabliau ,|Dame Siriz^*. Von Walther
Eisner 231
Germanische Sagenmotive im Tristan-Roman. Von Gregor Sarrazin . . . . 363 ''
Vergleichende Studien zu Heinrich von Kleist L Von Richard Weissenfeis . 273
Stoffwandlungen in chinesischer Dichtung. Von Woldemar Preiherrnv. Bieder-
mann *. 395
Uhlands Beziehungen zu ausländischen Litteraturen nebst Obersicht der neuesten
Uhlandlitteratur. Von Hermann Fischer 365
Zwei Kapitel aus der Geschichte der Don Juan-Sage. Von KarlEngel . . . 393
Neue Mitteilungen.
Die Abenteuer des Guru Paramdrtan. Von Hermann Oesterley 4S
Sechs französische Briefe Gottscheds an Baculard d*Amaud. Von Theodor SQpfle 146
Fabeln und Sagen aus dem Innern Afrikas. Von Robert W. Felkin . . . . 303
Die Episode des Gottesgerichts in „Tristan und Isolde** unter den transsilvanischen
Zeltzigeunem und Rumänen. Von Heinrich von Wlislocki 457
Armenisches und Zigeunerisches zu „Barlaam und Josaphaf*. Von Heinrich von
Wlislocki 462
Seite
Vermischtes.
Beiträge zur Litteratur des Volksliedes. I. Von OttoBoeckel 73
II. Von Alexander v. Weilen . . . 319
Hans Sachsens Fastnachtsspiel von dem gestohlenen Fachen = Boccaccio, Decameron
Vni, 6. Von Fritz Neumann 161
Ein deutsches Urteil über Dante aus dem 17. Jahrhundert. Von Johannes Bolte 164
Der Verfasser des deutschen Volksbuches von den Heymonskindem. Von Friedrich
Pfaff 167
Nachtrag zum ,Heirathsversprechen*. Von W. L. Holland . 170
Der Blankvers Shakespeares im Drama Lessings, Goethes und Schillers. Von
Hermann Henkel 321
Ein Franzose als Originalverfasser eines deutschen Theaterstückes. Von Theodor
Süpfle 327
Nachricht über drei höchst seltene Faustbücher. Von KarlEngel 329
Eine vernachlässigte Aufgabe der Litteraturgeschichte. Von Marcus Landau . 470
Theodor Aubanel, 1829— 1886. Von Pol de Mont . . - 473
Beaunoir und Reichards Theaterkalender, Von Berthold Litzmann . . . . 477
Besprechungen.
L. Proescholdt: Milton and Vondel, by Gg. Edmundson 81
K. v. Reinhardstoettner: Macropedius, von E. Jacoby 84
M. Koch: Amor und Psyche in der französischen Litteratur, von A. Reimar.n . . 85
J. Stosch: Der Weinschwelg, übersetzt von K. Lucae 85
O. Boeckel: Lieder des Giovanni Meli, übersetzt von F. Gregorovius .... 86
K. Engel: Goethes Faust in England und Amerika, von W. Heinemann . . 87
M. Koch: Bibliographie of Marlowes Faust, by W. Heinemann 88
W. Creizenach: Mountfords Faustfarce, von O. Francke ... .... 88
A. Luber: Spanische Neudrucke, von k. v. Reinhardstoettner 90
Fr. Koegel: Das Weltalter des Geistes, von M. Carriere 171
H. Bulthaupt: Theorie des Aristoteles und die Tragödie, von A. Dehlen . . . 173
H. Welti: Die galante Lyrik, von M. v. Waldberg 174
F. Muncker: Petrarka in der deutschen Litteratur, von W. Söderhjelm . . . . 177
W. Wetz: Calderons Dramen aus der spanischen Geschichte, von E.Günther. . 178
K. J. Schröer: Goethe, von H. Baumgartner 182
M. Koch: Neue Goetheforschungen, von W. v. Biedermann 188
H. Lambel: Alkeste in der modernen Litteratur, von Gg. EUinger 191
J. Hanusz: Armenische Bibliothek, übersetzt von A. Leist 194
K. Krumbacher: Digenis Akritas, übersetzt von A. Luber 195
Job. Meyer: Geschichte des deutschen Kultureinflusses auf Frankreich, von
Th. Süpfle. I. Teil 334
K. Weyman: Komik und Humor bei Horaz, von Th. Oesterlen. I. und ü. Teil 339
O. Francke: Die klassischen Schriftsteller des Altertums in ihrem Einflüsse auf
die späteren Litteraturen, von K. von Reinhardstoettner. L, Plautus. . . . 342
H. Holstein: Plautuserneuerungen, von O. Günther 347
.Marcus Landau: Romanisches und Keltisches, von Hugo Schuchardt .... 348
Seite
W. Golther: Alexandre le Grand dans la litt^ature fran^aise du moyen äge,
von Paul Meyer 351
F. Vogt: Quellenschriften zur neueren deutschen Litteratur, I. Heft, von A. Bieling 354
W. Kirchbach: Lord Byron, von K. Elze 355
M. Koch: Wencel Scherffer von Scherfifenstein, von Paul Drechsler 359
R. Steiner: Goethes philosophische Entwickelung, von E. Melzer ... 359
R. Weissenfeis: Romantik und germanische Philologie^ von Fr. Pfaff . . 360
R. Dvofäk: Die Muse in Teheran, Obersetzungen von H. Brugsch .... 362
W. Wollner: Der Bergkranz, von J. Kirste 363
K. Sittl: Geschichte der griechischen Litteratur, von Ferdinand Bender. 478
Th. Süpfle: Geschichte der französischen Litteratur« von G. Bornhack . . . . 480
Rieh. M. Meyer: Die Poetik der Renaissance und die Anfänge der litterarischen
Kritik in Deutschland, von K. Borinski 482
A. Luber: Robinson in Österreich, von H. F. Wagner 483
F. Bobertag: Die Anfänge der ernsten bQrgerlichen Dichtung des 18. Jahrhunderts,
von W. Wetz. I. Teil 484
H. W(elti: Über das Sonett und seine Gestaltung in der englischen Dichtung,
von K. Lentzner 486
A critical introduction on the sonnet, by W. Sharp 488
Hugo BlQmner: Lessings Laokoon und die Gesetze der bildenden Kunst, von
Heinrich Fischer 488
F. Muncker: Das Goethesche Gleichnis, von Hermann Henkel 496
Xanthippus: Goethes Faust, von A. F. Louvier 497
/
I
Die unterzeichnete Verlagsbuchhandlung gedenkt eine
Zeitschrift
'g@S<
Dr. Max Koch,
Professor an der UDUeriität Harbaig i. H.
erscheinen zu lassen, deren erstes Heft bereits im August d. J. ausgegeben
werden wird.
Obwohl die Zeitschrift einen streng wissenschaftlichen Charakter tragen
soll, glaubt die Verlagabuchhandlung doch die Aufmerksamkeit weiterer Kreise
für das neue unternehmen in Ansprach uehmen zu dflrfen.
Es ist eine leider unleugbare Tbatsache, dass, während einerseits das
Studium der Litteraturgeschicbte in den Fachkreisen immer eifriger und von
einer wachsenden Zahl betrieben wird, andrerseits die weiteren gebildeten
Kreise der Nation diesen Studien, besonders soweit sie sich auf die Geschichte
der deutschen Litteratur beziehen, nichts weniger als förderndes Wohlwollen
eul^egenhringen. Mit dem Vorwurfe des Alexandrinertums fertigt man nui
allzugeme die ernsteren Bestrebungen für eine historische Erkenntnis der
vaterländischen Litteratur ab, und wenn auch gewiss manche ältere wie neuere
Erscheinung diesem Vorwurfe nur allzu gegründete Berechtigung verleiht, zum
grosseren Teile muss er als Vorurteil, als ein aus Unkenntnis und Miss-
verständnis herroi^ehendes Vorurteil bezeichnet werden. G-oethe selbst hat
bereits nicht nur die Notwendigkeit auch die neueren Dichter wie die
geliebten Alten mit kommentierenden Noten zu versehen hervorgehoben, sondern
auch mit Nachdruck betont, dass unser Streben nunmehr nach und nach
darauf hinausgehen mflsse, eine Geschichte unserer Poesie und poetischen
Kultur herzustellen. Wie viel des Bedeutenden und Vortrefflichen aber auf
diesem Qebiete auch, seit Goethe die Forderung aufstellte, geleistet worden
ist, gerade die eindringendsten Studien zeigen, wieviel noch für eine historische
Erkenntnis der Litteraturgeschichte zu thun übrig ist, wie sie auch zeigen,
welch hohe Bedeutung der Litteraturgeschicbte im Kreise der gesamt-
geschichÜiehen Studien zukommt
Die Zeitschrift für vergleichende Litteraturgeschichte
strebt darnach, auch bei streng philologischer Betrachtung der einzelnen und
kleinsten Erscheinungen doch stets den grossen Zusammenhang der ganzen Ent-
wickelung im Auge zu behalten. Sie will, wie schon ihr Name sagt, die
Entwicklung der Ideen und Formen, die stets sich erneuernde Umgestaltung der
gleichen oder verwandten Stoffe in den verschiedenen Litteraturen älterer wie
neuerer Zeit verfolgen; den Einfluss der einen Litterätur auf die andere in ihren
Wechselbeziehungen aufzudecken suchen. Der innige Zusammenhang zwischen
politischer und Litteraturgeschichte, der vielleicht meist nicht nach seiner
ganzen Tragweite berücksichtigt wird, soll in der Zeitschrift für vergleichende
Litteraturgeschichte besondere Beachtung finden, ebenso der Zusammenhang
zwischen der Litterätur- und Kunstgeschichte, zwischen der litterarischen und
philosophischen Entwickelung u. s. w. Die von den Deutschen ausgebildete
Uebersetzungskunst älterer wie neuester Zeit soll besonders eingehende
Würdigung erfahren. ' Ist doch durch die Meisterthaten unserer grossen
Uebersetzer in Goethe die Idee einer Weltlitteratur in deutscher Sprache
angeregt worden; die Betrachtung der Weltlitteratur aber ist eben vergleichende
Litteraturgeschichte. Endlich möchte die Zeitschrift für vergleichende
Litteraturgeschichte noch zur Lösung einer uns obliegenden Aufgabe beson-
ders beitragen. Die ersten Anregungen zu einer vergleichenden üebersicht der
Volkslieder aller Zeiten und Völker sind von Deutschland, von Herder ausgegangen.
Die Brüder Grimm verglichen Märchen alte Sitten und Gebräuche der ger-
manischen Völker. Theodor Benfey stellte Muster und Regel der Untersuchung
über die Wanderungen alter volkstümlicher Märchen und Sagen auf, Karl
Goedeke schloss sich ihm an. Seitdem hat sich hierfür eine eigene Wissen-
schaft, Folklore, für diese Studien ausgebildet. In den meisten europäischen
Ländern, in England, Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Schweden, Däne-
mark, Holland, Griechenland besteben Vereine oder Zeitschriften für Folklore-
Studien. Deutschland, von dem die Anregung für diese Studien ausgegangen,
hat, seit J. W. Wolf und Mannhardt zurückgetreten sind, keinen Mittelpunkt
für diese Studien gleich den anderen Ländern. Die Zeitschrift für ver-
gleichende Litteraturgeschichte wird es als einen Hauptteil ihrer
Aufgabe betrachten, diesen Studien eine feste Stätte zu bieten.
Wir glauben so denmach wohl berechtigt zu sein, die Teilnahme auch
weiterer gebildeter Kreise fdr unser neues Unternehmen, dessen Plan bei den
berufendsten Bichtem freudige Zustimmung gefunden hat, in Anspruch zu
nehmen. Aus der grossen Zahl derjenigen, welche bereits ihre thätige Mit-
wirkung zugesagt haben, nennen wir nur:
F. Antoine, F. Avenarius, J. Baechtold, G. Baist, E. Bech-
stein, A. Bettelheim, A. Biese, Th. Birt, F. Bobertag, 0.
Boeckel,R. Boyle,H. Breymann,H. Bultliaupt, M. Carriere,
W.V.Christ, H. Cohen, W. Creizenach, F. Dahn, N. Delius,
G. Ellinger, R. Felkin, Kuno Fischer, 0. Francke, L.
Geiger, G. Groeber, G.Hauff, W. Heinemann, C.Herford,
W. Hertz, C. Hofmann, L. Holland, H. Holstein, C. Hum-
bert, W. Kirchbach, F. Koegel, R. Koehler, E. Koelbing,
G. Koennecke, G. Koerting, H. Koerting, J. Kohler,
K. Krumbacher, J. Kürschner, H. Lambel, M. Landau,
« • • * • •
• • • • • • •
•• • • • • •
E. Lichtenberger, R. Freiherr v. Liiienkron, B. Litzmann,
A. Luber, K. Lucae, W. Mangold, E. M. Meyer, F. Michel,
E. Mogk, F. Muncker, H. Oesterley, Fr. Pfaff, J. Poestion,
C. V. Reinhardstoettner, W. H. Eosenstengel, G.Sarrazin,
A. Sauer, A. Fr. Graf v. Schack, J. Schipper, F. Schnorr
V. Carolsfeld, A. Schönbach, A. Schöne, A. Schröer, K J.
Schröer, J. Stosch, TB. Süpfle, L. v. Sybel, V.Valentin, W.
Vietor, Fr. Th. Vischer, Fr. Vogt, C. Vollmoeller, J. E.
Wackernell, A. Wagner, M. Freiherr v. Waldberg, A. v.
Weilen, R. Weltrich, R. M. Werner, W. Wetz, E. Zarncke,
J. Zupitza.
Der Inhalt der Zeitschrift wird sich in vier Abteilungen gliedern:
L Grössere selbständige Abhandlungen.
II. Neue Mitteilungen, üngedruckte oder noch nicht übersetzte Texte,
die durch ihren Inhalt und ihre internationale Verbreitung in der Litteratur-
geschichte eine hervorragende Stellung einnehmen, ungedruckte Briefe u. s. w.
jedoch mit strenger Auswahl in Anerkennung des so vielfach erhobenen
Vorwurfs gegen die in der Gegenwart beliebte Drucklegung auch unbe-
deutender und inhaltsleerer Dokumente.
III. Vermischtes; kleinere Beiträge, einzelne Bemerkungen u. s. w.
IV. Besprechungen. Auch in dem kritischen Teile soll strenge Auswahl
geübt werden. Wie die Aufforderung zum Mitwirken olme jede Berück-
sichtigung der Parteistellung ergangen ist, so wird auch die Zeitschrift
• selbst sich von dem Einflüsse jeder Schule und Partei auf das Gewissen-
hafteste freierhalten. Und wir glauben dem in unserer Litteratur herrschen-
den Parteiwesen gegenüber gerade durch die strengste Unabhängigkeit den
litterarischen Studien und der Litteratur selbst einen Dienst zu erweisen.
Wenn wir schliesslich der Hoffnung Ausdruck geben, dass die grössere
Verbreitung litterarhistorischer Kenntnisse in weiteren Kreisen auch auf 'das
Urteil über die neuesten litterarischen Erscheinungen der Gegenwart und so-
mit auf die neuere Litteratur selbst von günstigem Einflüsse sein werde, so
nehmen wir damit für unsere Zeitschrift nur die Aufgabe in Anspruch,
welcher jede historische Forschung, welcher Art sie auch sei, zu dienen be-
rufen ist: durch Erkenntnis der Vergangenheit die Gegenwart und die in
ihr wirkenden Kräfte verstehen und die berechtigten Bestrebungen der Gegenwart
fördern zu helfen.
Die Ausgabe der Zeitschrift erfolgt in Bänden von je sechs Heften,
im Umfange von 30 bis 36 Bogen im Format dieses Prospektes.
Der Preis des Bandes (Jahrganges) beträgt 14 Mark.
Berlin SW. 29, im Juli 1886.
Gneisenaustrasse 112.
Verlagsbuchhaiidlung Aupst Hettler.
Bestellzettel umstehend !
Bei der Buchhandlung
bestelle ich hiermit
Zeitschrift für vergleichende Litteraturgeschichte,
herausgegeben von Prof. Dr. Max Koch. I. Jahrgang.
Heft 1 und folgende. Preis pro Jahrgang 14 Mark.
Verlag von August Hettler in Bejlin SW. 29, Gneisenau-
strasse 112.
Ort:
Name:
Druck von Fr. Bartholomäus in Erfurt.
Zur Einführung.
Von der deutschen Litteratui^eschichte könnte man sagen, sie sei bereits
in ihren Anfängen als vergleichende Litteratui^eschichte hervoi^etreten.
Denn war es zum gröfsten Teile auch nur durch die polyhistorische
Richtung aller Gelehrsamkeit im 17, Jahrhundert veranlagst, dafs Daniel Geoi^
Morhof 1682 seinem Unterrichte „von der teutschen Poeterey Ursprung und
For^ng" fünf Kapitel „von dem Aufnehmen der reimenden Poeterey bey
frembden Völkern" voranstellte, nachdem er höchst abenteuerliche Sprachver-
gleichungen des Griechischen, Lateinischen und Deutschen getrieben hatte : so war
doch dem Vater der deutschen Litteraturgeschichte auch das Bewusstsein von
der Bedeutung eines vergleichenden Ueberblickes über die verschiedenen
Litteraturen nicht fremd. Er wirft die Frage auf „warumb wir von der auss-
ländischen Poesie zuerst handeln" und beantwortet sie mit der Erklärung:
.Allhier wollen wir von dem Ursprung und Fortgang der teutschen Poeterey
handeln, und damit solches desto gründlicher geschehen könne,
wollen wir vorher der ausländischen Völker, als der Franzosen, Italiener,
Hispanier und dann auch der Engelländer und Niederländer reimende Poeterey
anfiihren, umb zu sehen, ob etwa bey ihnen dieselbe eher als bey den Teut-
schen entsprungen, zumahl, da fast unter allen denselben, einige sich finden,
welche den Vorzug ihnen anmassen." Morhof ist der Zeitgenosse des grossen
Denkers, der die wüste Polyhistorie des Zeitalters in eine allumfassende wissen-
schaftliche Erkenntnis erfolgreich umzuwandeln strebte. Leibniz, der selbst in
drei Sprachen thätig war, gab an verschiedenen Stellen seiner Werke bedeut-
same Winke fiir ein Studium der Litteraturgeschichte, das bei ihm, der in
Ideen von der Einheit und Zusammengehörigkeit der christlichen Völker lebte,
nur ein alle europäischen Litteraturen umspannendes, vergleichendes sein konnte.
Zuchr. [. vgl. L[ll.-Guch. 1. l
Max Koch.
Das 1 8. Jahrhundert, obwohl mehr aesthetisch als historisch urteilend und
vergleichend, wufste doch aus dem theoretischen Studium der vergleichenden
Litteraturgeschischte unmittelbaren praktischen Nutzen zu ziehen. Wenn Gott-
sched 1730 von dem Studium der antiken Litteratur eine Erneuerung der
vaterländischen erhoffte, der gröfseren Leichtigkeit halber jedoch statt der
griechisch-römischen Originale ihre französischen Nachahmungen zum Studium
und zur neuen Nachahmung empfahl, so that er ungefähr dasselbe, was hundert
Jahre früher Opitz und andere gethan hatten. Allein ein Vergleich zwischen
den französischen und deutschen Bühnenstücken führte zu einer tiefgreifenden
Umgestaltung des deutschen Theaters. Und diese Gottsched'schen Bestrebungen
riefen, ebenfalls wieder nach französischem und italienischem Vorgange, die
ersten Versuche einer vergleichenden Geschichte des europäischen Dramas
hervor. Denn als solche Versuche müssen die „Beiträge zur Historie und Auf-
nahme des Theaters", welche der junge Lessing 1750 herausgab und 1754 als
„theatralische Bibliothek" fortsetzte, bezeichnet werden. Die aus dem Oktober
1749 datierte Vorrede ist die erste in Deutschland erschienene Abhandlung*)
über Wesen, Aufgabe und Nutzen vergleichender Litteraturgeschichte. Wenn
Lessing sagte: „bei diesen historischen Beiträgen wollen wir namentlich auf das
deutsche Theater sehen", so bewies er achtzehn Jahre später mit der Hambur-
gischen Dramaturgie thatsächlich, welchen Nutzen diese Studien dem deutschen
Theater zu bringen berufen seien. Durch die Vergleichung des französischen
mit dem hellenischen, spanischen, italienischen und englisch -Elisabethanischen
Drama hat Lessing das deutsche Theater von dem drückenden Joche befreit,
einer neuen Entwicklung des deutschen Dramas freie Bahn gewiesen. Lessings
ästhetische Jugendarbeiten über das Drama der verschiedenen Völker nahm
dann später August Wilhelm Schlegel als Historiker wieder auf und gab 1808
eine, trotz mancher einseitig parteilicher Urteile vortreffliche vergleichende
Geschichte des Dramas in seinen „Vorlesungen über dramatische Kunst und
Litteratur".
Wenn der Romantiker August Wilhelm Schlegel fiir seine dramatischen
Studien auf Lessing als seinen Vorgänger hinblicken mufste, die entscheidende
Anregung zu einem vergleichenden Studium aller Litteraturen hat er, haben
alle Romantiker wie die von der Romantik ausgehenden strengen Forscher
von Herder empfangen. Wie die römische Litteratur, so hat sich auch keine
der ihr in Europa folgenden selbständig auf ausschliefslich nationaler Grundlage
entwickelt. Schon das aus der römisch-byzantinischen Welt den anderen Völ-
kern überkommene Christentum führte der einheimischen Poesie, den Litteratur-
anfängen jeden Volkes mehr oder minder wirkungsreiche Elemente der antiken
Kultur und Litteratur zu. Virgilius bürgerte sich als christlicher Poet ein;
*) Dafc Plan und Vorrede der Beiträge von Lessing selbst, nicht von dem älteren Mylius
herstammen, hebt Lessing selbst in der Vorrede zur theatralischen Bibliothek hervor.
Zar EinfUhrang. 3
deutsche Mönche erzahlten in ihm entlehnten Hexametern heidnisch-germanische
Heldensage. Die Sage von dem Kriege, „der um den Raub der schönsten Frau
zu rächen" die Achajer um Trojas Mauern versammelte, ist ebenso wie die
Kunde von Alexandri Magni Heldenfahrten dem ganzen Mittelalter wohl bekannt
gewesen; französische, deutsche, spanische, slavische Dichter haben in kurzen
Reimpaaren den einst in Homerischen Hexametern, in Curtius' Prosa vorgetra-
genen Stoff besungen. Und wenn schon im Mittelalter die antiken Elemente
einen unentbehrlichen Bestandteil der europäischen Poesie bildeten, welche
Wichtigkeit mufsten sie seit den Tagen der Renaissance erlangen!*) Hatte
das Mittelalter eine internationale lateinische Litteratur ausgebildet, so wurden
nun für alle Völker dieselben unantastbaren Muster in lateinischer und bald auch
vereinzeint in hellenischer Sprache aufgestellt Zugleich aber wurde die Litteratiu-
auch eine Macht im politischen Leben, wie das Mittelalter sie nicht gekannt
hatte. Die Renaissancelitteratur, sowohl die lateinische wie die in den einzelnen
Landessprachen entstehende läfst bei aller Verschiedenheit ihre Zusammen-
gehörigkeit erkennen. Wie ihre einzelnen Werke von einander abhängig sind,
so lassen sie sich eben auch nur vom Standpunkte der vergleichenden Litteratur-
geschichte aus erfassen. Der Petrarkismus hat seine Geschichte in der eng-
lischen Poesie, das Drama Lope de Vegas und Shakespeares entwickelt sich
im bewufsten Gegensatze zu den als Muster angepriesenen Tragödien Senekas,
nach denen, schon lange vor Corneille, Jodelle das französische Drama, wie
seine Freunde nach andern antiken Mustern die ganze französische Litteratur
zu regeln wissen. Hans Sachs und Shakespeare entlehnen ihre Dramenstoffe
den Novellen des Dekamerone, die Boccaccio selbst aus uralten Motiven neu-
gestaltet hat. Die Kunstlehre, die Poetik, welche sich in der Renaissance ent-
wickelt, läfst sich in ihrer Ausbildung niu* wenn man den Blick vergleichend
auf die antiken Lehrbücher und ihre Auffassung bei den verschiedenen Völkern
richtet, verstehen.**) Die Uebersetzungslitteratur, welche den Einflufs der einen
Litteratur auf die andere in augenfälligster Weise darstellt, gewinnt, nachdem
sie schon im Mittelalter eine wichtige Rolle gespielt, seit den Tagen der Re-
naissance eine immer wachsende Ausdehnung und Bedeutung.
Auch die deutsche Litteratur in der ersten Hälfte des i8. Jahrhunderts
zeigt noch die wesentlichen Merkmale der Renaissancelitteratur. Nach römischer
Schablone suchte man die verschiedenen Fächer auszufüllen, deutsche Horaze,
Martiale, Juvenale, Homere, Theokrite, Tyrtaeos u. s. w. zu küren. Herder
war es, der 1767 in seiner grofsen Jugendarbeit „Fragmente über die neuere
♦) C. L. Cholevius, Geschichte der deutschen Poesie nach ihren antiken Elementen
Leipzig 1854 und 1856.
*•) K. Borinski, die Poetik der Renaissance und die Anfänge der litterarischen Kritik in
Deutschland. Berlin 1886.
1*
4 Max Koch.
deutsche Litteratur** diesen kindischen Vergleichungen entschieden gegenüber-
trat, als Kritiker und Historiker wirklich vergleichende Litteraturgeschichte
übend. Es bildet eine Parallele zu Lessings Bemühungen in der Hamburgischen
Dramaturgie, wenn Herder dem übermäfsigen Einflüsse der unselbständigen
römischen Litteratur gegenüber die originale griechische Litteratur ihr und der
deutschen entgegenstellt Hatte einst in den der Reformation vorangehenden
Jahren Reuchlin das Studium der hebräischen Sprache in die Wissenschaft ein-
geführt, so suchte Herder bereits in seiner Erstlingsschrift durch Betrachtung der
hebräischen und morgenländischen Poesie den Gesichtskreis der Vergleichung
überhaupt zu erweitem. Er stellte nun Johann Andreas Cramer David, Bodmer
und Klopstock Homer, Gleim Anakreon, die Karschin der Sappho wirklich
zur Seite, um durch diese Gegenüberstellung das Törichte der bisherigen Ver-
gleichung vor Augen zu führen. Er zuerst zeigte die Litteratiu- im ganzen wie
jede einzelne litterarische Erscheinung als im innigsten Zusammenhange stehend
mit der Natur und Beschaffenheit der Sprache, den örtlichen Verhältnissen, der
politischen, socialen Entwickelung eines Volkes; er lehrte die Litteratur als
Aeufserung des Volksgeistes selbst verstehen. Indem er die bisherigen Ver-
gleichimgen lächerlich machte, that sich ein ganz anderer höherer Standpunkt
für die vergleichende Litteratiu-geschichte auf, nachdem eben Lessings Laokoon
Verhältnis und gegenseitige Einwirkur^en der redenden und bildenden Künste in
vergleichenden Untersuchungen festgestellt hatte. Den drei grofsen Fragment-
sammlungen seiner Jugend, welche mittels Hilfe der vergleichenden Litteratur-
geschichte einen neuen, richtigeren Standpunkt für die Beurteilung der deutschen
Litteratur zu finden suchten und fanden, liefs Herder in späteren Jahren noch
eine Reihe von Abhandlungen folgen, welche die in dem Jugendwerke zuerst
gewonnenen Anschauungen über Litteratur und ihren Zusammenhang mit dem
ganzen Leben der Völker weiter ausführten, begründeten und ergänzten. Von
ihnen seien nur die beiden Preisschriften „Ursachen des gesunkenen Geschmacks
bei den verschiedenen Völkern, da er geblühet" (1775) und „vom Einflufs der
Regierung auf die Wissenschaften und der Wissenschaften auf die Regierung**
(1780) hier erwähnt
Eben Herder aber war es auch vorbehalten, der vergleichenden Litteratur-
geschichte eines der weitesten und fruchtbarsten Gebiete als der erste zu er-
öflFnen. Hatte Bischof Percy 1765 mit seinen Reliques of ancient English
Poetry das englisch-schottische Volkslied den litterarisch Gebildeten seiner Zeit
bekannt gemacht, so fafste Herder die Volkspoesie in ihrer weder durch Zeit-
alter noch Grenzen beschränkten Gesamtheit auf. Was Herder mit der Sanun-
lung seiner Volkslieder {1778 und 1779), denen Johann von Müller 1807 den
Titel „Stimmen der Völker in Liedern** gab, gewollt und geleistet hatte, das hat
Goethe selbst 18 18 wieder in treffendem Dichterworte ausgesprochen, Herder
preisend:
Zur Einführung.
Ein edler Mann, begierig, zu ergründen
Wie überall des Menschen Sinn erspriefst,
Horcht in die Welt, so Ton als Wort zu finden,
Das tausendquellig durch die Länder fliefet . . .
Und so von Volk zu Volke hört er singen,
Was jeden in der Mutterluft gerührt . . .
Sie meinens gut und fromm im Grund, sie wollten
Nur Menschliches, was alle wollen sollten.
Wo sich*s versteckte, wufef er's aufzufinden,
Ernsthaft verhüllt, verkleidet leicht als Spiel;
Im höchsten Sinn der Zukunft zu begründen,
Humanität sei unser ewig Ziel.
Wenn Herder zum Verständnisse der Litteratur Beachtung der Volkseigentüm-
lichkeiten gefordert hatte, das besondere, abweichende als solches nach seinen
Vorbedingungen zu beurteilen verlangt hatte, so sollte umgekehrt als letztes
Ziel der Betrachtung sich die Erkenntnis ergeben, wie allerorten alle Herzen
unter dem himmlischen Tage, jedes in seiner Sprache dieselben verwandten
Gefühle zum Ausdruck bringen, wie es gelte, das ewig gleichbleibende rein
menschliche unter den verschiedensten Hüllen und Verhüllur^en zu erkennen.
Auch die vergleichende Litteratmgeschichte wird für Herder einer der Bausteine
zu der Philosophie der Geschichte, die dem Verfasser der „Briefe zur Beförde-
rung der Humanität'' als Ziel vorschwebt
Von Herder geht eine neue AufTassur^ der Litteratiu- und Litteraturge-
schichte aus. Von ihm haben die Romantiker gelernt In den Plänen des
jungen Friedrich Schlegel zu einer griechischen Litteraturgeschichte als einem
Seitenstücke zu Winkelmanns Kunstgeschichte lebt etwas von Herders Geist
Er will die Litteratur schildern in ihrem innersten Zusammenhang mit Religion
und Sitte, bildender Kunst und Philosophie, Klima und Politik. Ungefähr zu
gleicher Zeit, in der Friedrich Schlegel sich mit diesen Plänen trug, stellte
Schiller als Abschlufs seiner philosophischen Studien die grofse Vergleichung
an zwischen antik -heidnischer und christlich -moderner Kunst; 1795 veröffent-
lichte er seine Studie „über naive und sentimentalische Dichtkunst", für jede
folgende Betrachtung der Gesamtlitteratur die unverrückbare Grundlage liefernd.
Die seit dem Beginne der Renaissance die Litteratur beherrschende Streitfrage
nach dem Verhältnis der zur Herrschaft auserkorenen antiken Muster zu den
selbständigen Regungen der neueren Dichter, die berühmte Querelle des An-
ciens et des Modernes hat durch Schillers Untersuchung, wenn nicht ihre end-
giltige Lösung, so doch zum mindesten eine ganz andere Gestalt gewonnen.
Wenn Goethes Dichtung die Vorzüge beider getrennter Welten, der naiven
und sentimentalischen zu vereinigen schien, so haben auch die Romantiker der
ersten Generation nach solcher Vereinigung der Poesie des Altertums und der
6 Max Koch.
mittleren Zeiten gestrebt. Lessing hatte in den Litteraturbriefen zum Entsetzen
der älteren Aesthetiker Sophokles und Shakespeare zusammen genannt. Tieck
vereinigte im Garten der Poesie Dante, Ariost, Cervantes, Shakespeare, Sopho-
kles, Hans Sachs, Bürger und Goethe. 1803 und 1804 hielt August Wilhelm
Schlegel in Berlin Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst, die überall
vergleichende Litteraturgeschischte fordern und geben. Er klagt im dritten
Teile seiner Vorlesungen, dafe eine solche zusammenfassende Uebersicht bisher
gefehlt habe. „Erst die Uebersicht der gesamten romantischen Poesie läfet
das Gesetzmäfsige in ihrem Fortgange und den Stufen ihrer Bildung, die rein
künstlerische Absicht und die Konsequenz in den Maximen der Meister, endlich
die durchgängige Verwandtschaft und den Zusammenhang der scheinbar un-
gleichartigen Hervorbringungen bemerken, vermöge dessen sie sich zu einem
wenn auch noch nicht geschlossenen und fortschreitenden, dennoch seiner Ein-
heit nach zu erkennenden Ganzen an einander schliefsen." Diese Gesamtübersicht
zu geben hat August Wilhelm Schlegel selbst rüstig gearbeitet. Von der pro-
vencalischen Litteratur hat er als der erste in Deutschland zutreffende Mittei-
lungen gemacht, die ältere deutsche Poesie zuerst einem weiteren Kreise
erschlossen. Während F'riedrich Bouterwek an seinem hochverdienstlichen
gründlichen Werke „Geschichte der Poesie und Beredsamkeit seit dem Ende
des 13. Jahrhunderts" (die zwölf Bände erschienen ZN^nschen 1801 und 18 19)*)
arbeitete und dadurch eine wissenschaftliche Kenntnis der einzelnen Litteraturen
ermöglichte, veröffentlichte Friedrich Schlegel seine trotz aller Einseitigkeit und
tendenziösen Gestaltung genialen „Vorlesungen über Geschichte der alten und
neuen Litteratur** (gehalten Wien 181 2), in denen gerade der Zusammenhang
der einzelnen Litteraturen, der Gang ihrer Entwickelung vergleichend dargestellt
wurde. Friedrich Schlegel war es aber auch, der, nachdem Georg Forster
schon 1791 Kalidasas Sakontala aus dem Englischen übersetzt hatte, 1808 durch
seine Schrift „über die Sprache und Weisheit der Indier** wie der vergleichen-
den Sprachwissenschaft, so auch der vergleichenden Litteraturgeschichte eine
neue Grundlage gab. Man braucht nur an Theodor Benfeys Einleitung zu seiner
Uebersetzung des Pantschatantra (Leipzig 1859) zu erinnern, um die ganze weit-
tragende Bedeutung der indischen Studien für die vergleichende Litteratiu-ge-
schichte zu erkennen. Wie für die vergleichende Sprachwissenschaft so wurde
auch für die vergleichende Litteraturgeschichte erst durch Erschliefsung des Orien-
talischen, insbesondere des indischen eine sichere Basis gewonnen. Von den Fabeln
und Schwänken des Mittelalters, den späteren Novellen ist ein grofser Teil während
*) Ich darf bei Erwähnung des Werkes von Bouterwek nicht unterlassen, auf eine neuere
rühmenswerte Veröffentlichung hinzuweisen, die, wenn auch von ganz andern Gesichtspunkten
ausgehend, doch eine gewisse Aehnlichkdt mit der älteren Arbeit hat, auf die sieben Bände von
Adolf Sterns „Geschichte der neuem Litteratur", Leipzig 1882 — 1885.
Zur Einführung.
der Kreuzzüge und später aus dem Oriente in die abendländischen Litteraturen
übertragen worden. „Die vergleichende Sagenforschung", schrieb Karl Goedeke
1865*), „die sich in neuerer Zeit mehr und mehr von dem Glauben lossagt,
dafe die Sagen, Parabeln, Fabeln und Schwanke, die mehr oder weniger über-
einstimmend bei verschiedenen Völkern verschiedener Zeit begegnen, der
mündlichen Ueberlieferung vorzugsweise oder gar ausschliefslich ihr Fortleben
verdanken, hat es zu einer ihrer Aufgaben gemacht, die litterarische Ueber-
lieferung von Volk zu Volk, von Buch zu Buch nachzuweisen, ohne die von
den Büchern ausfliefsende und wieder in die Bücher zurückströmende mündliche
Verbreitung und die dadurch bedingten Umgestaltungen zu leugnen oder gering
anzuschlagen. Ihr genügt es nicht, in der Uebereinstimmung des Morgen- und
Abendlandes das blofse Vorhandensein eines poetischen Gebildes zu konstatieren
und eine Verbreitung auf dunklen Wegen vorauszusetzen; sie beruhigt sich
nicht bei der Annahme, dafs zur Zeit des Zusammenstofses zwischen Occident
und Orient, sei es in der Völkerwanderung, sei es in den Kreuzzügen, eine
Menge morgenländischer Dichtungen und Sagen nach Europa gekommen: sie
will vielmehr erforschen, von wem sie entlehnt sind, wer sie zu uns verpflanzt
hat, wie sie bei der Veränderung des Bodens und auf dem veränderten Boden
sich selbst verändert und wie sie den Weg aus der buddhistischen Legende
oder der persischen Mystik bis in die Gegenwart gefunden haben und, wenn
auch verändert und fast zur Unkenntlichkeit verwandelt, zur höchsten dichte-
rischen Vollendung gelangt oder bis zum Witze des Eckenstehers gesunken
sind." Goedeke selbst hat, um diesen Studien eine feste wissenschaftliche Me-
thode zu lehren, in Gemeinschaft mit Oesterley einmal begonnen, „einen der
Hauptkanäle, durch welche die Sagen des Orients nach Europa flössen", zu
durchforschen. „Eis sind die kirchlichen Schriftsteller des Mittelalters, zum Teil
auch die älteren Patres, die für die Kirchen und Dogmengeschichte nicht vor-
zugsweise von Wichtigkeit erscheinen." Mit Unterstützung König Maximilians IL
von Bayern begann Goedeke an der Herstellung eines „Lexikons der Kunst-
stoffe" zu arbeiten, das dann freilich nicht ans Licht gelangte.
Die älteren Versuche auf dem Gebiete der vergleichenden Litteratur-
geschichte, man mag an Josef Goerres oder an Rosenkranz denken, mufsten
einen mehr oder minder dilettantenhaften Charakter tragen. Wie konnte man
eine vergleichende Litteraturgeschichte des Mittelalters schreiben zu einer Zeit,
*) Every-Man, Homuliis und Hekastus. Ein Beitrag zur internationalen Litteraturgeschichte
von K. Goedeke, Hannover 1865. Von den verhältnismässig wenigen Arbeiten dieser Art seien
nur erwähnt M. Landaus Untersuchung über die Quellen des Dekamerone, Weilens Beitrag zur
vergleichenden Litteraturgeschichte Shakespeares Vorspiel zu der Widerspänstigen Zähmung,
Griesebachs neueste Darstellung von den Wanderungen der Novelle von der Matrone von Ephesus,
die Arbeiten von Simrock, Quellen des Shakespeare, Oesterley, Eitner, R. Köhler, W. Hertzberg,
DuDger, Erwin Rohde, Gustav Meyer u. a. m.
8 Max Koch.
da man noch aus theoretischen Gründen die Unmöglichkeit einer epischen
Poesie bei den Franzosen bewies und den jungem Titurel für das Hauptwerk
des deutschen Mittelalters erklärte. Aber wenn nicht diu-ch iitterarhistorische
Quellenforschung, so hat die Zeit der Romantik doch auf andere Weise der
vergleichenden Litteraturgeschichte die Wege gebahnt durch die von den
Romantikem — sie folgten auch hier Herders Spuren — ausgehende Ueber-
setzungskunst.
Wenn Gervinus gegen Goethes Fordemng einer Weltlitteratur in deutscher
Sprache als einer romantischen Grille polemisiert, so hat er wenigstens in
soweit recht, als er diese Fordemng Goethes der romantischen Richtung zur
Last legt. Goethe hat sich hier in der That den Romantikem angeschlossen.
August Wilhelm Schlegel, der selbst Dante, Shakespeare, Ariost, Calderon
durch seine Uebertragungen zuerst unter uns einbürgerte, aus dem Mittel-
hochdeutschen, den antiken und fast allen romanischen Sprachen wie aus dem
Indischen übersetzte, pries bereits 1804 in seinen Berliner Vorlesimgen „die
vielfache Biegsamkeit unserer Sprache, wodurch sie geschickt wird, sich den
verschiedensten fremden anzuschmiegen, ihren Wendungen zu folgen, ihre
Sylbenmafse nachzubilden, ihnen beinahe ihre Töne abzustehlen." Klopstock
hatte bei seinen vielfachen interessanten Uebersetzungsversuchen nur die Kürze
und Gedmngenheit der deutschen Sprache gegenüber den fremden erweisen
wollen. Schlegel rühmte: „Es gibt andre Sprachen, die, statt zu überseta^en,
durchaus nur manieriert travestieren können und dadurch beweisen, dafe in
ihnen selbst nur eine Manier und kein Styl herrschend ist Die Deutschen
hingegen, wie in allen Dingen treu und redlich, sind auch treue Uebersetzer."
Nachdem er die Vorwürfe, dafs durch Uebersetzungen die eigene Produktions-
kraft geschwächt werde, zurückgewiesen, hebt er den edleren Zweck des
höheren künstlerischen Nachbildens hervor: „Es ist auf nichts geringeres an-
gelegt, als die Vorzüge der verschiedensten Nationalitäten zu vereinigen, sich
in alle hinein zu denken und hinein zu fühlen, und so einen kosmopolitischen
Mittelpunkt für den menschlichen Geist zu stiften. Universalität, Kosmopolitismus
ist die wahre deutsche Eigentümlichkeit Was uns so lange im äufsem Glänze
gegen die einseitige beschränkte, aber eben darum entschiedne Wirksamkeit
andrer Nationen hat zurückstehen lassen: der Mangel einer Richtung, welcher,
in ein Positives verwandelt, zur Allseitigkeit der Richtungen wird: mufs in der
Folge die Ueberlegenheit auf unsre Seite bringen. Es ist daher wohl keine
zu sanguinische Hoffnung, anzimehmen, dafs der Zeitpunkt nicht sogar entfernt
ist, wo das Deutsche allgemeines Organ der Mitteilung für die gebildeten
Nationen sein wird." Als Schlegel diese Worte sprach, konnte er nicht wissen,
dafs sein Gegner Schiller dieselben Ideen bereits in einem Gedichtentwurfe
ziu- Antrittsfeier des 19. Jahrhunderts niedergeschrieben hatte: „Dem, der den
Geist bildet, beherrscht, muls zuletzt die Herrschaft werden und das langsamste
Zur Einführung. 9
Volk wird alle die schnellen flüchtigen einholen. Die andern Völker waren
dann die Blume, die abfallt; wenn die Blume abgefallen bleibt die goldne
Frucht übrig, bildet sich, schwillt die Frucht der Ernte zu. Die Sprache ist
der Spiegel einer Nation, wenn wir in diesen Spiegel schauen, so kommt uns
ein grofees treffliches Bild von uns selbst daraus entgegen. Wir können das
jugendlich griechische und das modern ideelle ausdrücken, das tiefste und das
flüchtigste, den Geist, die Seele — die voll Sinn ist, unsre Sprache wird die
Welt beherrschen."
Goethe aber, als er einige Jahre später in Arnim's und Brentanos Samm-
lung einen Ueberblick über den grenzenlosen Reichtum der deutschen Volks-
lieder gewann, mahnte, den deutschen Liedern nun auch Uebersetzungen von
dem „was fremde Nationen, Engländer am meisten, Franzosen weniger, Spanier
in einem anderen Sinne, Italiener fast gar nicht, dieser Liederweise besitzen",
zur Seite zu stellen. Erst dann würden wir „eine Geschichte unserer Poesie
und poetischen Kultur, worauf es denn doch nunmehr nach und nach hinaus-
gehen mufs, gründlich, aufnchtig und geistreich erhalten." Mit lebhaftestem
Anteile verfolgte er alle Bestrebungen auf diesem Gebiete, besonders die Ueber-
setzungsarbeiten der Romantiker, deren Blütezeit er erlebte. Ja er selbst führte
durch seinen westöstlichen Divan die orientalische Poesie in die deutsche
Litteratur ein; wie er selbst Hammer, so folgten ihm Rückert und Platen.
Von den Brüdern Grimm unterstützt gab er in seiner Zeitschrift „Kunst und
Altertum" Proben serbischer und griechischer Volkspoesie, übersetzte Bruch-
stücke aus Byron, Manzoni und Euripides. Erst wenn die jetzt an den ver-
schiedensten Stellen der Werke zerstreuten und versteckten Uebersetzungen
Goethes einmal übersichtlich zusammengestellt würden, liefse sich Goethes
gewaltige Thätigkeit auch auf diesem Gebiete, die bis jetzt kaum in ihrer
ganzen Fülle übersehen werden konnte, völlig würdigen. Aber auch die
„Rezensionen und Aufsätze zur auswärtigen Litteratur**, wie sie (hrsgb. v. W.
von Biedermann) gesammelt vorliegen, zeigen, wie Goethe jede einzelne Litte-
ratur stets im Zusammenhange der allgemeinen Litteraturentwickelung ver-
gleichend betrachtete. Mit Befriedigung auf die reiche Erfüllung seiner 1806
in der Rezension von des Knaben Wunderhom erhobenen Forderung blickend,
dichtete er 1827 die Verse:
Wie David königlich zur Harfe sang.
Der Winz'rin Lob am Throne lieblich klang,
Des Persers Bulbul Rosenbusch umbangt.
Und Schlangenhaut als Wildengürtel prangt,
Von Pol zu Pol Gesänge sich emeun,
Ein Sphärentanz, harmonisch im Getummelt,
Lass't alle Völker unter gleichem Himmel
Sich gleicher Gabe wohlgemut erfreun!
10 Max Koch.
In eben demselben Bande von „Kunst und Altertum", der diese Verse enthält,
entwickelte Goethe aber an verschiedenen Stellen (VI, 2, 280; nachgel. Werke
IX, 131; 134) seine Auffassung der Weltlitteratiu-, wie er seit langen Jahren
sie sich gebildet:
„Offenbar ist das Bestreben der besten Dichter und ästhetischen Schrift-
steller aller Nationen schon seit geraumer Zeit auf das allgemein Menschliche ge-
richtet In jedem Besonderen, es sei nun historisch, mythologisch, fabelhaft, mehr
oder wenig willkürlich ersonnen, wird man durch Nationalität und Persönlichkeit
hin jenes allgemeine immer mehr diu-chleuchten und durchscheinen sehen.
„Was nun in den Dichtungen aller Nationen hierauf hindeutet und hinwirkt,
dies ist es, was die übrigen sich anzueignen haben. Die Besonderheiten einer
jeden mufs man kennen lernen, um sie ihr zu lassen, um gerade dadurch mit
ihr zu verkehren : denn die Eigenheiten einer Nation sind wie ihre Sprache und
ihre Münzsorten, sie erleichtern den Verkehr, ja sie machen ihn erst voll-
kommen möglich.
„Eine wahrhaft allgemeine Duldung wird am sichersten erreicht, wenn
man das Besondere der einzelnen Menschen und Völkerschaften auf sich beruhen
läfst, bei dgr Ueberzeugung jedoch festhält, dafe das wahrhaft verdienstliche sich
dadurch auszeichnet, dass es der ganzen Menschheit angehört. Zu einer solchen
Vermittelung und wechselseitigen Anerkennung tragen die Deutschen seit langer
Zeit schon bei. Wer die deutsche Sprache versteht und studiert, befindet sich
auf dem Markte wo alle Nationen ihre Waren anbieten, er spielt den
Dolmetscher, indem er sich selbst bereichert."
Die Weltlitteratur in deutscher Sprache, welche Goethe gefordert und ge-
fördert, ist durch die Meisterthaten unserer grofsen Uebersetzer gegründet wor-
den, und was Schlegel, Gries, Tieck, Rückert begonnen, wird auch in neuester
Zeit von W. Hertz, Schack, Heyse, Storck, L. Fritze, Gildemeister, Schipper
und andern würdig weitergeführt. Die Betrachtung der Weltlitteratur aber ist
eben vergleichende Litteraturgeschichte. Eine Zeitschrift für vergleichende
Litteraturgeschichte wird der deutschen Uebersetzungskunst eingehende Aufmerk-
samkeit zu schenken haben. Dafs sie die Entwickelung der Ideen und Formen,
die sich stets erneuernde Umgestaltung der gleichen oder verwandter Stoffe in
den verschiedenen Litteraturen älterer wie neuerer Zeit zu verfolgen, den Einflufe
der einen Litteratur auf die andere in ihren Wechselbeziehungen aufzudecken
suchen mufs, sagt schon ihr Name. In allen Litteraturen verbreitete „Stoffe in
Parallele zu stellen, scheint eine lohnende Aufgabe der vergleichenden Litteratur-
geschichte, deren Lösung tüchtige Werkstücke zu dem Bau der neuen Wissen-
schaft liefern wird, die wie jede andere nur durch den Verein vieler Kräfte ent-
stehen und gedeihen kann."*) Bei streng philologischer Betrachtung der einzelnen
*) Moritz Carriere: Die Poesie. Ihr Wesen und ihre Formen mit Grundztigen der ver-
gleichenden Litteraturgeschichte. Leipzig 1884.
Zur Einführung. 11
und kleinen Erscheinungen soll doch stets der grosse Zusammenhang der Ge-
samtentwickelung im Auge behalten werden, neben philologischem Fleiss und
Gelehrsamkeit auch das ästhetische Urteil sein Recht behaupten. „Zwischen
Philologie und Ästhetik", mit diesem Urteile hat Wilhelm Scherer seine Ge-
schichte der deutschen Litteratur geschlossen, „ist kein Streit, es sei denn dass
die eine oder die andere oder dafs sie beide auf falschen Wegen wandeln".
Vielleicht hat, nachdem früher das allgemeine ästhetische Raisonement in
litterarischen Dingen nur allzuviel die historische Kenntnis der Thatsachen er-
setzen mufste, manche kleinliche Bemühung der neueren Zeit den litterar-
historischen Studien nicht immer mit Unrecht den Vorwurf des Alexandriner-
tums zugezogen. Man hat wirklich manchmal statt des herzustellenden Werkes
nur das Handwerkszeug vor Augen gestellt. Meist aber beruht das thatsäch-
lich bestehende Vorurteil gegen Litteratiu-geschichte,* ziunal gegen deutsche
Litteraturgeschichte doch mehr auf Unkenntnis und Missverständnis. Man hat
ihre allgemeine Bedeutung wohl unterschätzt, wie man sie selbst auch wohl
zu isoliert zu behandeln liebte. Noch einmal möchte ich da an einen Ausspruch
in August Wilhelm Schlegels Vorlesungen erinnern. In der Kunst bedingen
sich „Form und Stoff immer gegenseitig: die ganze Umgebung, die Welt des
Künstlers, woraus er den letzten entlehnt, indem er schon gebildetes wieder
bildet, muss also auch auf die Gestalt seiner Hervorbringungen den bedeutensten
Einflufs haben. Zur historischen Kunstkritik gehört es folglich auch,
dass man den anders woher bekannten Geist des Zeitalters auf den Charakter
des Gedichtes beziehe oder ihn daraus errate, da oft eben in der Kunst und
Poesie die lebendigste Darstellung davon aufbehalten ist; und so werfen poli-
tische und Kunstgeschichte gegenseitig Licht auf einander." Heinrich von
Treitschke hat uns in den Abschnitten seiner deutschen Geschichte, welche
von Litteratur handeln ein Muster aufgestellt, wie beide zu gegenseitiger Er-
klärung herangezogen werden mü(sen.
Diesen Zusammenhang zwischen politischer und Litteraturgeschichte mehr
als gewöhnlich der Fall ist zu betonen, soll eine der Aufgaben dieser Zeit-
schrift werden, ebenso wie den Zusammenhang zwischen Litteratur und bildender
Kunst, philosophischer und litterarischer Entwickelung u. s. w. nachzuweisen,
der vergleichenden Litteraturgeschichte oblieget Hat doch erst vor kurzem
der siebente Band des Goethejahrbuchs mit Dehios Nachweis altitalienischer Ge-
mälde als Quelle zum Faust ein Beispiel gebracht, wie fruchtbringend Kunst-
und Litteraturgeschichte vergleichend zusanmienzuwirken vermögen.
Wenn ich hervorhob, dafs die ersten Anregungen zu einer vergleichenden
Uebersicht der Volkslieder von Deutschland, von Herder ausgegangen sind, so
mufe dagegen auch zugestanden werden, dafs seit J. W. Wolf und Mannhardt
zurückgetreten sind, in Deutschland weniger Teilnahme als in andern Ländern
für die inzwischen selbständig hervorgetretene Wissenschaft des Folklore sich
12 Zur Einführung.
kundgegeben hat In den meisten europäischen Ländern, in Dänemark, Eng-
land, Frankreich, Griechenland, Holland, Italien, Portugal, Schweden, Spanien
bestehen Vereine oder Zeitschriften für Folklore;*) möchte es der Zeitschrift
fiir vergleichende Litteraturgeschichte vergönnt sein zur Förderung dieser
Studien in Deutschland beizutragen.
Die deutsche Litteratur und die Förderung ihrer historischen Erkenntnis
soll den Ausgangs- und Mittelpunkt der in der Zeitschrift fiir vergleichende
Litteraturgeschichte geförderten Bestrebungen bilden, was natürlich keineswegs
auch selbständige Betrachtung anderer Litteraturgebiete, immer mit Rücksicht
auf die vergleichende Litteraturgeschichte, ausschliesst Auch die neueste
Litteratur, soweit sie eben im Zusammenhange der geschichtlichen Ent-
wickelung sich betrachten läfst, soll Berücksichtigung finden, denn jede histo-
rische Forschung, auf welchem Gebiete sie sich auch bewegt, hat das Recht
und die Pflicht: durch Erkenntnis der Vergangenheit und ihrer Erscheinungen
das Verständnis fiir die Gegenwart und die in ihr wirkenden Kräfte verbreiten
und ihre berechtigten Bestrebungen fördern zu helfen.
Marburg i. H.
*) Gustav Meyer: Essays und Studien zur Sprachgeschichte und Volkskunde. Berlin 1885.
Das Heiratsversprechen.
Von
Marcus Landau.
Unter den Werken des griechischen Dichters Kallimachos, der im dritten
Jahrhundert v. Chr. lebte, wird ein Gedicht Kydippe genannt, von
welchem nur einige Fragmente erhalten sind und dessen Inhalt wir
nur aus spätem Bearbeitungen, nämlich einer Epistel des Aristaenet (Buch I lo),
der beinahe sieben Jahrhunderte später lebte, und zwei Heroiden Ovids
{XX und XXI) kennen.
Der griechische Sophist hat die Erzählung in seiner Manier mit
geschmacklosem rhetorischen Beiwerk überladen, der römische Dichter gibt
sie in zwei Briefen von Acontius an Cydippe und von dieser an Acontius
wieder*), eine Darstellungsform, welche dazu (lihrt, dafs die beiden Korre-
spondierenden einander Dinge erzählen müssen, welche sie ohnehin ganz gut
wissen, die aber auf andere Weise nicht zur Kenntnis des Lesers gebracht
werden konnten. So ist auch die Beschreibung, welche Acontius von dem
Aeufsern Cydippe's gibt
Tu facis hoc oculique tui, quibus ignea cedunt
Sidera, qui flammae causa fuere meae;
Hoc flavi faciunt crines et eburnea cervix
u. s. w. (Her. XX 57)
nur für den Leser berechnet; denn die Schöne wird doch wohl gewufst
haben, dafs sie blondes Haar und einen weissen Nacken hatte.
*) Die Mehrzahl der Heroiden -Handschriften schliefet mit dem zwölften Verse der Epistel
Cydippe's an Acontius und werden die übrigen Verse dieser zwei Heroiden von den meisten Ovid-
kritikem jetzt für unecht gehalten. Auf die Frage, ob sie den Sabinus einen Zeitgenossen Ovids,
einen spätklassischen Dichter oder gar einen Humanisten des fün&ehnten Jahrhunderts zum Ver-
lasser haben, kann hier nicht eingegangen werden, und begnüge ich mich dieserhalb auf die zwei
jüngsten Publicationen H. St. Sedlmayer's über die Heroiden (Kritischer Commentar zu Ovids
Heroiden, Wien 1881 und Prolegomena critica ad Heroides Ovidianas, Wien 1878) sowie auf dessen
Ausgabe der Heroiden zu verweisen. Wer aber auch der Verfasser dieser Verse gewesen sein
mag, eine ältere Vorlage mu(s er doch gehabt haben, und diese dürfte wohl die Dichtung des
Kallimachos öder eine Uebersetzung derselben gewesen sein.
14 Marciu LAndau.
Die gewählte Form brachte es ferner mit sich, dafs der Dichter trotz
aller seiner Geschwätzigkeit den Ausgang nicht erzählen sondern nur erraten
lassen konnte, und wir würden von der ganzen Geschichte eine sehr unklare
Kenntnis haben, wenn wir nicht die Epistel des Aristaenetos besäfsen.*)
Aus einer Vergleichung dieser Epistel mit den erhaltenen Fragmenten
des Kallimachos ergibt sich, dafs Aristaenetos den Gang der Erzählung aus
des Kallimachos Gedicht genommen hat. Wir können sonach aus der Epistel
mit Zuhilfenahme der Heroiden den ungefähren Inhalt der „Kydippe"
reconstruieren, welche, wie Buttmann wahrscheinlich macht, einen Bestand-
teil der Aitia des Kallimachos bildete.**)
Der griechische Dichter erzählte also ungefähr Folgendes:
Akontios, ein Jüngling aus Keos, einer der kykladischen Inseln ***), war
zu einem Feste der Artemis nach Delos gekommen, wo er im Tempel der
Göttin ein sehr schönes Mädchen erblickte, das in Begleitung ihrer Amme
dahin gekommen war. Akontios verliebte sich sogleich in die schöne
Fremde, aber anstatt ihr seine Liebe zu erklären oder bei ihrem Vater um
sie zu werben, schrieb er auf einen Apfel die Worte: ,,Ich schwöre bei dem
Heiligtum der Artemis, mich dem Akontios zu vermählen" und liefs den
Apfel vor die Füfse des Mädchens — Kydippe's — rollen. Die Amme hob
die Frucht auf und bat — wahrscheinlich weil sie nicht lesen konnte —
ihre junge Herrin, die Inschrift ihr vorzulesen. Kydippe las laut, errötete
und warf den Apfel weg. Wir dürfen in der Wahl dieses sonderbaren
Mittels nicht einen ungeschickten Kunstgriff des Dichters sehen f), sondern
haben es hier mit dem Rest eines alten Mythos zu thun, Aepfel spielen in
der Liebesmythologie eine grofse Rolle und brauche ich nicht erst an den
Apfel des Paris zu erinnern.
Von einem grofsen Standesunterschied, der dem Jüngling den Mut
zum offenen Werben benahm, ist in dem Gedicht nicht die Rede; in der
ursprünglichen Mythe bestand aber wohl ein solcher — der zwischen Sterb-
lichen und Unsterblichen, wie wir später sehen werden.
*) Aristaeneti epistolae, griechisch und lateinisch, herausgegeben von J. C. de Pauw,
Utredit 1736, lib. I lo, S. 56.
**) Vergl. „Uebcr die Fabel der Kydippe" in Mythologus von Philipp Buttmann. Berlin 1829.
Bd. IL 115 — 143.
♦*♦) Bei Aristaenet ist kein Ort der Handlung angegeben.
f) In der XXI. Heroide fragt auch Kydippe:
Exoranda tibi non capienda fui.
Cur, cum me peteres, ea non profitenda putabas,
Propter quae nobis ipse petendus eras?
Cogere cur potius, quam persuadere, volebas,
Si poteram audita conditione capi? (V. 128.]
Das Heiratsverspreclien. 15
Nach Hause zurückgekehrt wurde Kydippe von ihrem Vater ohne
Widerspruch ihrerseits einem andern Manne verlobt. Als aber die Hochzeit
gefeiert werden sollte, erkrankte Kydippe gefahrlich. Die Hochzeit wurde
verschoben und sie genafs. Als dann zum zweiten Male die Hochzeits-
vorbereitungen getroffen wurden, erkrankte sie wieder, und so wiederholten
sich Erkrankung und Genesung drei Mal.
Der in seiner Heimat in Sehnsucht nach der fernen Geliebten sich ver-
zehrende Akontios erfuhr davon und eilte nach ihrem Wohnort, wo er sich
täglich nach ihrem Befinden erkundigte, so dafs man Verdacht schöpfte und
ihn der Zauberei beschuldigte. Aber eine Anfrage beim delphischen Gott
klärte alles auf: Die im Tempel seiner Schwester laut verlesenen Worte
hatten die Kraft eines der Göttin geleisteten Eides, und Artemis hinderte
dessen Bruch, indem sie Kydippe vor der Vermählung mit einem andern
als Akontios erkranken liefs. Nun erzählte auch das Mädchen das Abenteuer
im Tempel zu Delos, worauf ihre Eltern sie mit dem Akontios vermählten.
So läfst der alte griechische Dichter die Göttin die Heilighaltung des
unwissentlich geleisteten Eheversprechens zu Gunsten eines Irdischen erzwingen.
Wir werden aber bald einigen jungem Erzählungen begegnen, in denen die
Göttin die Haltung eines ihr selbst geleisteten Versprechens erzwingt oder
zu erzwingen sucht, und diese Bearbeitungen stehen wohl der ursprünglichen
Mythe näher.
Der Ort, wo Kydippe und ihre Eltern wohnen, ist in den Heroiden
nicht angegeben. Buttmann vermutet, dafs Athen gemeint sei. Aus Kydippe's
Schilderung ihrer Fahrt nach Delos über Mykonos, Tenos und Andros (XXI 8i)
könnte man eher auf Euböa schliefsen. Jedenfalls müfste man aber annehmen,
dafs sie die Inseln in verkehrter Ordnung aufzählt, denn von den drei liegt
Mykonos am nächsten von Delos. Mir scheint, dafs dieser Vers von Jemanden
herrührt, der die Lage der griechischen Inseln nicht kannte.
In neuerer Zeit haben zwei Engländer die Geschichte von Kydippe
und Akontios nach den zwei Heroiden poetisch bearbeitet: Charles Kent
u. d. T. „The golden apple" in seiner „Aletheia" betitelten Sammlung und
E. Bulwer u. d. T. „Cydippe or the apple" in seinen „Lost tales of Miletus."
Endlich hat Ernst Eckstein die kleine Erzählung zu einem grofsen Roman
verarbeitet, in welchem Kydippe's Vater Archont von Milet ist und das
Versprechen im dortigen Tempel der Aphrodite geleistet wird.
Aus dem Altertum ist uns aber auch eine verwandte Erzählung auf-
bewahrt, in welcher der mythische Kern wahrnehmbarer ist. Wir finden
sie in der „Sammlung von Verwandlungen" {M€vafA0Q^(a(f€(OP avpaycoy^) des
Antoninus Liberalis, der zwar erst im zweiten Jahrhundert n. Ch. lebte, seine
Stoffe aber aus älteren Schriftstellern nahm. So nennt er als Quelle seiner
16 Marcus Landau.
ersten Erzählung „Ktesylla" das dritte Buch der Verwandlungen des Nikandre
aus Kolophon, der vielleicht ein Zeitgenosse des Kallimachos war, dessen
Kydippe von Liberalis in dieser Erzählung citiert wird.
Hier ist es der Athener Hermochares der sich am Altare des Phöbos
zu Karthäa in die schöne Ktesylla aus Julis verliebt und ihr im Tempel der
Artemis den Apfel mit der bekannten Aufschrift zuwirft. Er begnügt sich
aber nicht damit, sondern hält auch um sie bei ihrem Vater Alkidamas an.
Dieser verspricht sie ihm auch, mit feierlichem Eide beim Phöbos, vergisst
aber später sein Versprechen und verlobt sie einem Andern. Ktesylla aber,
welche die Liebe des Hermochares erwidert, entflieht dem Hause ihres
Vaters und vereinigt sich in Athen mit dem Geliebten, dem sie einen Soha
schenkt. Aber zur Strafe für den Eidbruch ihres Vaters stirbt sie im Kind-
bett, worauf bei der Beerdigung ihr Leib sich in eine Taube verwandelt,
welche davon fliegt*)
Auf Befehl des delphischen Gottes erbaute Hermochares ihr einen
Tempel in Julis, wo sie als Aphrodite Ktesylla verehrt wurde.
Wir haben es hier wohl mit einer aitiologischen Erzählung zu thun,
welche die Entstehung des Kultus einer Aphrodite Ktesylla erklären sollte
und die vielleicht nur wegen desselben Schauplatzes mit der Kydippe-Sage
in Verbindung gebracht wurde. Julis, der Geburtsort Ktesyllas, und Karthäa
waren die Hauptorte der Insel Keos, der Heimat des Akontios, und dieser
spricht in der Heroide XX von den Carthaeis Nymphis. **)
Der Ortsname Karthäa ist aber wahrscheinlich semitisch (vergl. Karthago
und das biblische Kirjah für Stadt) und deutet vielleicht einen semitischen
Ursprung der Sage an.
Bevor wir uns aber zu den Semiten wenden, müssen wir noch ein
deutsches Märchen betrachten, das der griechischen Sage nahe steht.
Fern im schönen Märchenlande safs einmal ein König mit seinen
Töchtern und Hofleuten an der Tafel, da kam plitsch platsch, etwas die
Marmortreppe herauf gekrochen, klopfle an die Thür und rief „Königstochter,
jüngste, mach mir auf!" Die Prinzessin lief und wollte sehen wer draufsen
wäre, als sie aber aufmachte da safs ein Frosch davor. Da warf sie die
Thür hastig zu, setzte sich wieder an den Tisch und war ihr ganz angst.
Als aber der König sie fragte was der Frosch von ihr wolle, da mufste sie
erzählen, wie sie einen Tag vorher im Walde beim Brunnen mit ihrem
*) antiqaae Cartheia moenia Ceae,
Qua pater Aleidamas placidam de corpore natae
Miraturus erat nasci potuisse columbam.
(Ovid, Metam. VH 368.)
**) V. 223 hat auch die Lesart Coryciis und Corinthiis Nymphis, die aber auf der Insel
Keos nichts zu schaffen hatten. Vergl. Buttmann 1. c.
J
Das Meiratsversprechen. 17
liebsten Spielzeug, einer goldenen Kugel, gespielt habe und diese ins Wasser
fallen liefs. Als sie darüber laut zu weinen und zu klagen anfing, da streckte
ein Frosch seinen dicken häfslichen Kopf aus dem Wasser und erbot sich
ihr die Kugel wieder zu bringen, wenn sie ihm dagegen verspreche ihn zum
Gesellen und Spielkameraden anzunehmen, ihn an ihrem Tischlein sitzen,
aus ihrem goldenen Tellerlein essen, aus ihrem Becherlein trinken und in
ihrem Bettlein schlafen zu lassen. In ihrer Not versprach die junge Königs-
tochter alles was der Frosch verlangte, und dachte dabei „was der einfaltige
Frosch schwätzt, der sitzt im Wasser bei seines Gleichen und quakt, und
kann keines Menschen Geselle sein". Kaum hatte der Frosch ihr Versprechen
erhalten als er auch schon die goldene Kugel aus dem Wasser herausholte
und ihr brachte, worauf sie, ohne sich weiter um ihn zu bekümmern, mit
ihrem Spielzeug nach Hause lief. Am andern Tage dachte sie nicht mehr
an ihr Versprechen und an den armen Frosch. Der aber war nun bis in
den Königspalast gekrochen und forderte sein Recht. Und der König, der
ein gewissenhafter Mann war, sagte zu seiner Tochter „was du versprochen
hast, das mufst du auch halten". Trotz ihres Absehens mufste sie mit dem
häfslichen Frosch aus einem Tellerlein essen, aus einem Becherlein trinken.
Als sie ihn aber auch ins Bett nehmen mufste, da warf sie ihn voll Zorn
an die Wand und rief: „Nun wirst du Ruhe haben, du garstiger Frosch!**
Als er aber von der Wand herabfiel, war er kein Frosch, sondern ein Königs-
sohn mit schönen und fi-eundlichen Augen. Ihn hatte eine böse Hexe in
einen Frosch verwandelt und die Königstochter hatte ihn durch die etwas
unsanfte Behandlung erlöfst, worauf er ihr lieber Geselle und Gemahl ward.*)
Das Erlösen in Tiere verwandelter Menschen durch gewaltsame, scho-
nungslose Behandlung ist ein in Märchen hin und wieder vorkommender
Zug, und mancher verwunschene Prinz hat sich noch ärgere Behandlung
gefallen lassen müssen, als der Frosch. Doch wird auch mitunter die Erlö-
sung durch einen Kufs bewirkt. In einem dem deutschen sehr ähnlichen
gälischen Märchen verlangt der Frosch selbst, dafs die Königstochter ihm
den Kopf abschlagen soll. **)
Das Motiv des Standesunterschiedes, das in den griechischen und
römischen Erzählungen kaum wahrnehmbar war, tritt im Deutschen sehr
scharf als Unterschied zwischen Mensch und Tier hervor. Der Unterschied
ist aber nur ein scheinbarer und verschwindet mit der Erlösung des ver-
zauberten Prinzen.
*) Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchcn No. i. Der Froschkönig.
*♦) Nr. 33 bei J. F. Campbell, Populär tales of the West Highlands. Edinburg 1860.
Englische und nordfranzösiche Versionen erwähnt Reinhold Köhler, in seiner Besprechung von
Campbelb Sammlung (Orient und Occident, II, 330).
Ztschr. f. vgl Litt-Gesch. I. 2
18 Marcus^Landau.
Dagegen ist die Leistung des Versprechens als Lohn für den vom
Tiermenschen geleisteten Dienst sehr gut motiviert.
War es im deutschen Märchen der in ein Tier verwandelte Mensch,
der selbst sein Recht sucht, so tritt in einem altjüdischen das Tier für den
in seinem Rechte verkürzten Menschen ein und zwingt den Ungetreuen, sein
Versprechen zu halten. Wir treten aber mit diesem jüdischen Märchen in
einen Kreis ein, in welchem nicht wie in den bisher erwähnten die Frau die
Treulose oder Widerstrebende ist, sondern in welchem ein Mann sich der
Treulosigkeit oder Vergefslichkeit schuldig macht. Und gerade diese
Fassung des Märchenstoffs ist die am häufigsten vorkommende.
Im babylonischen Talmud ini Traktat von den Fasttagen Fol. 8 heifst
es: „Sieh, wie grofs die Macht des Glaubens ist aus der Erzählung von
Chulda und der Cisterne. Wenn der Glaube an diese (so belohnt wurde),
um wie viel mehr wird der an Gott belohnt werden."
Der Talmud in seinem eigentümlichen Lakonismus gibt uns keine
weitere Erklärung und wir müssen sie bei dessen Kommentatoren suchen.
Wenn diese auch um mehrere Jahrhunderte jünger sind, so genügt doch
die Anspielung im Talmud, um das hohe Alter des Märchens zu bezeugen.
Die älteste und ausführlichste Erklärung dieser Anspielung finden wir
in dem „Aruch" genannten talmudischen Lexikon des Rabbi Nathan, Sohn
des Jechiel aus Rom, welcher in der zweiten Hälfte des elften Jahrhunderts
lebte und sein Werk um das Jahr iico vollendete. Er verdankte seine
Bildung einem sicilischen Gelehrten Mazliach ibn al Bazak, der noch die
Vorträge des berühmten Gaon Hai in Babylon gehört hatte*), und konnte
also zu seinem Werke noch alte asiatische Ueberlieferungen benutzen.
Rabbi Nathan erzählt nun zur Erklärung der betreffenden Tälmudstelle :
„Ein Mädchen ging einst um Wasser zu schöpfen zu einer von menschlichen
Wohnungen entfernten Cisterne und stürzte hinein. Auf ihr Hilferufen näherte
sich ein gerade des Weges kommender Jüngling dem Rande der Cisterne,
erkundigte sich aber, bevor er ihr seine Hilfe anbot, ob sie ein mensch-
liches W^esen oder ein Dämon sei. — Es war dies eine löbliche Vorsicht,
denn es ist ja bekannt, dafs einsame Brunnen und Cisternen in alter Zeit
die Lieblingsverstecke böser Geister waren, wo sie in Gestalt schöner Frauen
unerfahrenen Jünglingen auflauerten. In den hebräischen und griechischen
Bearbeitungen der Sieben Meister (Sandabar und Syntipas) wird von einem
Jüngling erzählt, der sich verleiten liefs, ein sich für eine verirrte Königs-
tochter ausgebendes weibliches Wesen auf sein Pferd zu nehmen, und der
*) Dr. M. Güdemann, Geschichte des Erziehangswesens und der Kultur der Juden in
Italien. Wien 1884. S. 61.
Das Heiratsversprechen. 19
gewifs ein klägliches Ende genommen hätte, wenn er nicht den Namen
Gottes angerufen, worauf die Teufelin vom Pferde stürzte und verschied.
In einigen .Bearbeitungen unseres Märchens ist es auch wirklich eine
Fee, welcher der Jüngling Treue schwört und dann bricht.
Doch kehren wir zur Erzählung des Aruch zurück: Nachdem der
Jüngling sich überzeugt hatte, dafs die Hilfeheischende ein irdisches Mädchen
von menschlichem Fleisch und Blut sei, versprach er sie aus der Cisterne
herauszuziehen, wenn sie dagegen ihn zu heiraten verspräche. Das Mädchen
ging ohne langes Bedenken auf diese Bedingung ein, worauf der Jüngling sie
herauszog und sogleich von seinem künftigen Eherechte Gebrauch machen
wollte, wogegen sich aber das Mädchen sträubte. Sie kamen daher über-
ein, er solle bei ihrem Vater um ihre Hand anhalten und sie in herkömm-
licher gesetzlicher Weise heiraten. Zu Zeugen ihres Verlöbnisses nahmen
sie die Cisterne und ein eben vorbeilaufendes Chulda*) (Wiesel oder Marder)
und schieden dann von einander.
Eine ältere Fassung lautete vielleicht, dafs der Jüngling, wie im bald
zu erwähnenden sicilianischen Märchen, dem Mädchen Gewalt anthat und
wurde wohl vom frommen Rabbi aus moralischen Rücksichten geändert,
da die Strafe des Jünglings fiir das blofse Vergessen der Verlobung zu
hart erscheint.
Nach Hause zurückgekehrt stellte sich das Mädchen von einem Dämon
besessen, um den Werbungen der Freier zu entgehen, der Jüngling aber
vergafs sein Versprechen und heiratete eine andere. Seine Frau gebar ihm
ein Kind, das wurde von einem Qiulda gebissen und starb. Ein zweites
*) Was ftlr ein Tier die Chulda eigentlich war, lälst sich nicht genau bestimmen. Das
Wort wird mit Marder oder Wiesel übersetzt, und ist in der Erzählung wahrscheinlich letzteres
Tier oder das ihm verwandte Ichneumon gemeint. Denn das Wiesel galt für ein geheimnisvolles,
zauberkundiges Tier, von dem im Altertum und Mittelalter gar viel gefabelt wurde. Es war einst
ein Mädchen, das, weil es, um die Geburt des Herkules zu erleichtem, eine Lüge gesagt hatte,
von der Göttin Lucina in ein Wiesel verwandelt wurde, das die Jungen durch den Mund zur
Welt bringt:
Qnae quia mendaci parientem juverat ore,
Ore parit; (Ovid. Metam. IX, 323)
Herkules aber hatte alle Ursache, der Lügnerin dankbar zu sein, errichtete ihr später einen Altar
und brachte ihr Opfer. (Antoninus Liberalis, Verwandlungen 29.)
Während im antiken Aberglauben das Wiesel mit der Geburt des Herkules in Verbindung
gebracht wird, stellt sich der deutsche die kranke Gebärmutter unter der Gestalt eines Wiesels vor.
(Simrock, Handbuch der deutschen Mythologie, } 140, S. 515.) Das Wiesel kennt aber auch das
Kraut, mit welchem man Tote lebendig machen kann und die menschlische Seele nimmt oft die
Gestalt eines Wiesels an. (Simrock 1 c. J 128, S. 448; Liebrecht, Gervasius von Tilbury, S. 03;
A. de Gubematis, Zoological Mythology, Pars I eh. 7, vol. II, 51.) Auf einen derartigen Aber
glauben dürfte wohl auch die Rolle zurückzuftihren sein, welche das Wiesel in der talmudischen-
Erzählung spielt
2*
^ö Marcus Landau.
Kind wurde durch den Fall in eine Cisterne getötet Da fragte die junge
Frau ihren Mann, warum denn ihre Kinder in so ungewöhnlicher Weise das
Leben verlören, und dieser erinnerte sich nun seines ersten Verlöbnisses.
Er erzählte den ganzen Vorfall seiner Frau, schied sich von ihr und ging,
um die Verlobte von der Cisterne aufzusuchen, welche sich aber wieder
besessen stellte, als man ihr die Ankunft eines neuen F*reiers meldete. Als
sie aber den Jüngling erblickte, gab sie die Verstellung auf, worauf dann
die Hochzeit der Beiden stattfand.*)
Es ist merkwürdig, dafs in der jüdischen Erzählung neben der wunder-
baren Strafe des treulosen Mannes auch ein Leiden des an seinem Ver-
sprechen festhaltenden Mädchens vorkommt. Freilich ist es niu- eine fingierte
Krankheit, während in der griechisch-römischen Erzählung Cydippe an einem
von der Göttin gesendeten. Uebel leidet,- aber die Aehnlichkeit zwischen
dem Besessensein der Jüdin und der Krankheit der Griechin —
Languor enim causis non apparentibus haeret,
Adjuvor et nuUa fessa medentis ope — (Her. XXI, 13)
ist zu auffallend, als dafs wir jeden Gedanken an mögliche Entlehnung ab-
weisen könnten.
In einem sicilianischen Märchen (bei Laura Gonzenbach No. 46) findet
ein Königssohn in einem entlegenen Hause ein schönes Mädchen und thut
ihr Gewalt an. Die Arme ruft vergeblich um Hilfe, denn weit und breit ist
niemand da, der sie hören könnte. Da erblickte sie eine Schlange, die eben
vorüberkroch, und sprach: „Wenn mich denn niemand hört in meiner Not,
so rufe ich diese Schlange an, die soll für mich zeugen, dafs du keine
andere heiraten darfst als mich." — Einige Zeit hernach wollte der Prinz
sich mit einer schönen Prinzessin verheiraten, da kam eine Schlange, wand
sich um seinen Hals und war nicht wegzujagen. Versuchte man es, sie
wegzureifsen , ^o schnürte sie sich nur fester um seinen Hals und erwürgte
ihn fast.
Als die entehrte Jungfrau davon erfuhr, begab sie sich in die Stadt,
wo der Prinz lebte, ging ins Schlofs und sagte, sie habe ein Mittel, den
Prinzen zu heilen. Mit diesem auf ihr Verlangen allein gelassen, fi-agte sie
ihn: „Erkennst du mich?" „Nein", antwortete der Prinz, da schlang die
Schlange sich fester um seinen Hals. „Wie", rief sie, „hast du vergessen,
wie du mich zwangest, deinen Willen zu thun, und ich die Schlange zum
Zeugen anrief?" Er wollte sich noch immer stellen, als ob er sie nicht
kenne; aber die Schlange zog fester an, und so sagte er notgedrungen, dafs
*) Etwas abweichend wird die Geschichte in dem Raschi, einem Zeitgenossen Rabbi
Nathans, zugeschriebenen Kommentar zur erwähnten Talmiidstelle erzählt. Es scheint aber, dafs
gerade der Kommentar dieser Talmud-Abteilung nicht Raschi selbst, sondern einen etwas jüngeren
jüdbchen Gelehrten zum Verfasser hat
Das Heiratsversprechen. 21
er sie wiedererkenne. Da liefs die Schlange ein wenig nach mit ihrem
Drucke. So gelang es dem tapfem Mädchen, unterstützt von der Schlange,
dem Königssohn ein bindendes Heiratsversprechen abzuringen. Er liefs
hierauf die Prinzessin zu ihrem Vater zurückschicken und heiratete das
Mädchen, das ihn von der bösen Schlange befreit hatte.
Während im deutschen Märchen der Frosch selbst kommt, um sein
Recht zu suchen, im jüdischen Tier und Cisterne das Rächeramt übernehmen,
kommt im sicilianischen die Beschädigte mit dem Tier, um den Treulosen
zur Gutmachung des Unrechts zu zwingen.
Dafe hier statt des Wiesels die Schlange das Rächeramt übernimmt,
ist wohl nicht ganz zufallig. Orientalischer und europäischer Aberglaube
bringen die Schlange mit dem Wiesel und dem ihm verwandten Ichneumon
in mannigfaltige Beziehungen: Das Ichneumon kriecht dem Krokodil in den
Rachen und tötet es. In einer Erzählung des Pantschatantra (V, 2) tötet das
Ichneumon eine schwarze Schlange, welche ein Menschenkind bedroht, und
in manchen Uebersetzungen der indischen Erzählung tritt das Wiesel an die
Stelle des Ichneumon.*) Das Wiesel selbst kämpft aber auch oft gegen die
Schlange und stärkt sich zum Kampfe durch das Essen von Raute.**)
In einer griechischen***), der des Pantschatantra sehr ähnlichen Erzählung
ist es dagegen wieder eine Schlange, welche das Menschenkind vor dem
Wolfe schützt. Und so gut wie das Wiesel, wenn nicht besser, verstehen
es die Schlangen, Tote wiederzubeleben, und Menschen lernen es von ihnen. f)
Es ist eine ganz nützliche Kunst, nur darf man sie nicht so ungeschickt
ausüben, wie jener Mann, von dem eine talmudische Sage erzählt ff) Er
versuchte nämlich die Kraft des belebenden Krautes zuerst an einem toten
Löwen, den er vor dem Thore von Tyrus fand; und das Erste was der
dem Leben wiedergegebene Löwe that war, dafs er seinen Retter frafs.
Von einem entehrten und wegen einer Königstochter verratenen weib-
lichen Wesen erzählt auch ganz kurz Diodor von Sicilien in seiner histo-
rischen Bibliothek (IV, 84) : Daphnis , der reiche Rinderhirt und Sohn des
Hermes wurde von einer Nymphe geliebt, welche ihm verkündete, wenn er
sich mit einer andern einliefse, würde er das Gesicht verlieren. Er liefs sich
•) Th. Benfey, Pantschatantra I, 479—486.
♦*) Liebrecht 1. c ns; Gubernatis Zool. Myth. II, 52; Piinius Hist nat. XX, 51, XXIX, t6.
♦**) Bei Pausanias X, 33. 5. Diese Erzählung scheint Benfey gar nicht gekannt zu haben.
f ) Grimm, Kinder- und Hausmärchen III, 26 ; Erwin Rohde, Der griechische Roman S. 125 ;
Hyginus fabulae cap. 136; Poeticon astronomicon II, 14; I. G. v. Hahn, Sagwissenschaftliclie
Studien 239. Ueber Tiere als Bestrafer oder Entdecker von Verbrechen vergl. noch: Benfey 1. c.
S. 483 — 4; F« H. von der Hagen, Gesamtabenteuer I, S. CIV E; F. Liebrecht, Zur Volkskunde,
Der Mäuseturm; Derselbe zu Gervasius von Tilbury S. 113, Anmkg.; Welcker, Der Delphin des
Arion, in dessen Kleinen Schriften I, 89.
•J-j*) Midrasch Rabbath zu Leviticus cap. 22.
22 Marcos Landau.
von einer Königstochter trunken machen und verfuhren, worauf er, wie es
ihm die Nymphe verkündet hatte, erblindete.
Aehnlich erzählt Parthenius von Nycäa in seinen Liebesgeschichten
{negl iQmxixäv na^fjfKttmv. 29) nach der Sicilischen Geschichte des Timäus.
Wir erfahren bei ihm, dafs die verliebte Nymphe Echenais hiefs und dafe
Daphnis nach langem Widerstreben gegen viele in ihn verliebte Frauen
endlich von einer Königin in Sicilien durch vielen Wein berauscht wurde,
worauf er die Untreue beging und des Gesichts beraubt wurde.
Viel ausfuhrlicher berichtet' hierüber der Pränestiner Aelian in seinen
Vermischten Erzählungen {noixUy^ iffrogia) (Buch X, 18), der wahrscheinlich
einem Hirtengedicht des Stesichoros, das aber nicht mehr vorhanden ist,
nacherzählt: Daphnis und die Nymphe schwören einander ewige Treue, und
diese droht dem schönen Hirten, er werde erblinden, wenn er nicht Wort
halte. Aber nach einiger Zeit vergafs er in der Trunkenheit seinen Eid und
liefs sich von einer in ihn verliebten Königstochter verfuhren. Ueber diese
Begebenheit und die Erblindung des Daphnis, setzt Aelian hinzu, hat man
zuerst bukolische Gedichte gesungen und Stesichoros aus Himera soll der
erste gewesen sein, der diese Art Gedichte verfafst hat
Ganz verschieden ist die Idylle Theokrits von Daphnis, in welcher
dieser nicht als untreu, sondern als unempfindlich für die Liebe der Nymphe
geschildert wird. Er wird von Aphrodite mit unglücklicher Liebe zu einer
andern bestraft.*)
In allen diesen einfachen antiken Erzählungen wird der Treulose durch
unmittelbaren Eingriff der Gottheit bestraft, während in dem viel jungem
sicilischen Märchen schon wie im jüdischen das zum Zeugen angerufene Tier
das Rächeramt übernimmt Andererseits imterscheiden sich wieder alle diese
sicilischen Dichtungen von den früher besprochenen (Kydippe, Froschkönig
und Mädchen am Brunnen) dadurch, dafs sie von keinem gebrochenen Ehe-
versprechen, sondern von einer Entehrung handeln. Sowohl in dem Gedichte
des Kallimachos als in dem Märchen ist von irdischen Mädchen, in den
übrigen griechischen Dichtungen aber von Nymphen die Rede, und solche
halb göttliche oder teuflische, halb menschliche Wesen sind auch die Hel-
dinnen der noch zu betrachtenden Bearbeitungen.
Von diesen sind die ältesten in der Kaiserchronik und in der Geschichte
der englischen Könige des Wilhelm von Malmesbury, beide Werke aus der
ersten Hälfle des zwölften Jahrhunderts, enthalten, und sind beide Erzäh-
lungen wohl aus einer Quelle geflossen.
*) Theokrit Id. I. Vergl. F. G. Weicker, Kleine Schriften I, 188 tL Bonn 1844- Erwin
Rohde, Der griechische Roman S. 29.
Das Heiratsversprechen. 28
Mit christlicher Tendenz erzählt die Kaiserchronik*) von einem jungen
Heiden in Rom, Astrolabius geheifsen, dem beim Ballspielen sein Ball in
ein altes Gemäuer fiel. Als er dort hineinging, um den Ball zu suchen,
erblickte er ein schönes Frauenbild, in das er sich verliebte, und dem er
seinen Ring an den Finger steckte, ewige Liebe versprechend.
Daz bilide was gewis
in honore Veneris
sagt der deutsche Dichter und erzählt dann, wie
ime ward daz bilide also liep
mit dem tiuwele wart er besezzen.
Der junge Mann konnte weder essen noch trinken, noch schlafen; immer
stand das Bild der Venus vor seinen Augen, und er ward mit der Zeit
ernstlich krank. In seiner Not wendete sich Astrolabius an Eusebius, den
Kapellan des Kaisers, einen frommen Mann, der aber in seiner Jugend die
schwarze Kunst studiert hatte.
Mit Hilfe dieser Wissenschaft citierte Eusebius den Teufel und verlangte
die Rückstellung des Ringes, da dem jungen verliebten Römer nicht anders
geholfen werden konnte. Der Teufel weigerte sich unter allerlei Vorwänden,
dem Befehle des Eusebius Folge zu leisten, mufste sich aber endlich dazu
verstehen, den Kapellan in die Unterwelt zu tragen,
er vuorte in in einir wile
dreihundert mile
in eines tiefen meres grünt**),
wo Eusebius den Ring holte und zugleich erfuhr, dafs die Macht der Venus-
statue von einer „Würze" herrühre, die unter ihr vergraben sei.
Auf die Oberwelt zurückgekehrt gab Eusebius den Ring dem Astro-
labius zurück, worauf dieser gesund ward und sich mit noch vielen Heiden
zum Christentum bekehrte. Die Bildsäule aber wurde von ihrer Stelle
gerückt und zu Ehren des heiligen Michael vom Papste Ignatius geweiht
Von einer zweiten durch die Venus gestörten Ehe wird nichts gesagt.
Dagegen weifs die Kaiserchronik auch (V. 10795 — 10835) von einer Statue
des Merkur zu erzählen, welche nicht blos einen Ring, sondern die ganze ihr
in den Mund gesteckte Hand des Kaisers Julianus festhielt und nicht eher
losliefs, bis er vom Christentum abfiel und des Teufels Anbeter zu werden
versprach.
*) Die Kaiserchronik, Gedicht des zwölften Jahrhunderts, herausgegeben von H. F. Mass-
mann, Quedlinburg 1849. V. 13100 ff.
**) Von derartigen Wunderritten habe ich in meinen „Quellen des Dekameron", zweite Aufl.
S. 193 — 218 ausführlich gesprochen.
24 Marcos Landau.
Ohne christliche Tendenz, aber mit vielen Einzelnheiten ausgeschmückt
finden wir diese wunderbare Erzählung bei Wilhelm von Malmesbury.*) Er
berichtet von einem reichen und vornehmen Jünglinge zu Rom, der zur
Feier seiner Vermählung ein prächtiges Gastmahl veranstaltete. Nach dem
Essen begab er sich mit seinen jungen Freunden ins Freie, um durch gym-
nastische Uebungen und körperliche Spiele die Verdauung des vielen Ge-
gessenen und Getrunkenen zu befördern. Um sich freier bewegen zu können,
zog der Bräutigam seinen Trauring vom Finger, und da sich in der Nähe
des Spielplatzes eine Bronzestatue befand, steckte er den Ring an den aus-
gestreckten Finger derselben. Als er dann den Spielplatz verlassen und
seinen Ring holen wollte, fand er, dafs die Statue eine Faust gemacht hatte
und den Ring fest hielt Nachdem er sich lange vergeblich bemüht, den
Finger abzubrechen und den Ring zurückzubekommen, ging er nach Hause,
ohne seinen Freunden etwas von seinem Verluste zu sagen. Einige Stunden
später kam er wieder und fand den Finger der Statue wieder gerade ge-
streckt, der Ring war aber verschwunden.**) Als er dann in der Nacht an
der Seite seiner Neuvermählten ruhte, fühlte er, wie sich irgend etwas g^reif-
bares aber unsichtbares zwischen ihn und seine Gattin drängte, und zugleich
hörte er eine Stimme, welche ihm zurief: „Bei mir ruhe, denn mir hast du
dich heute vermählt; ich bin Venus, an deren Finger du den Ring gesteckt
hast; ich habe ihn und gebe ihn nicht zurück." Der junge Ehemann
erschrak, konnte die ganze Nacht nicht schlafen und die Brautnacht nicht
geniefsen. Der Spuk wiederholte sich Nacht für Nacht. Der junge Mann,
der sich sonst gesund und wohl befand, konnte seine eheliche Pflicht nicht
erfüllen, zum grofsen Aerger seiner jungen Frau, auf deren Drängen er
endlich den ganzen Sachverhalt den Eltern mitteilte. Diese wendeten sich
an den seiner Zauberkünste wegen weit berühmten und berüchtigten Pres-
byter Palumbus, und dieser versprach, für reiche Belohnung die Sache wieder
in Ordnung zu bringen. Er gab dem jungen Ehemann einen Brief und
sagte ihm: „Stelle dich des Nachts an einen Kreuzweg, da wirst du viele
Männer und Frauen, verschieden an Alter, Stand und Aussehen vorüberziehen
sehen, einige zu Pferd, andere zu Fufs. Rede mit ihnen nicht, aber wenn
dann ein gröfserer und stärkerer auf einem Wagen kommt, so übergebe
diesem schweigend den Brief und was du wünschest wird geschehen. Ver-
liere nur nicht die Geistesgegenwart!" Der Mann that, wie Palumbus ge-
heifsen. Er sah den Zug der Gespenster, darunter auch ein auf einem
Maultier reitendes Weib mit aufgelöstem Haar und goldenem Diadem. Ihre
Kleidung war so leicht, dafs sie fast nackt erschien; mit goldenem Stab
*) De anulo statuae commendato, in dessen De gestis regum Anglorum lib. II bei G. Waitz,
ex Wilhelmi Malmesburiensis scriptis, in Monumenta gennaniae historica, Scriptores tomus X, p. 449 sq.
♦*) Vgl. Prospcr M^rimte Erzählung: la V^nus dllte. Paris 1837.
Das Heiratsvenprechen 26
lenkte sie das Maultier und machte dabei unzüchtige Geberden. Zuletzt
kam der Gebieter auf herrlichem mit Smaragden und Perlen geschmückten
Wagen. Strengen Blicks fragte er nach dem Begehren des Jünglings, worauf
dieser ihm schweigend den Brief des Zauberers reichte. Nachdem der
Teufel ihn gelesen, rief er: „Allmächtiger Gott! wie lange wirst du denn
die Schändlichkeiten dieses Palumbus dulden?" Dann schickte er seinen
Diener, um der Venus den Ring zu entreifsen. Diese sträubte sich zwar
lange, mufste aber endlich doch den Ring zurückstellen, mit welchem der
jimge Ehemann froh zu seiner Gattin eilte, die ihr Eheglück nun ungestört
genie&en konnte. Als aber der Presb3rter Palumbus erfuhr, was der Teufel
von ihm gesagt, da wufste er, dafs sein Ende nahe sei, bekannte öffentlich
vor dem Papste alle seine Schandthaten und nahm sich in grausanier Weise
das Leben. „Davon spricht noch jetzt ganz Rom, die Mütter erzählen es
ihren Kindern."
Der englische Chronist hat im Geiste seiner Zeit die schaumgeborene
Göttin zu einer lüderlichen Dirne degradiert, aber auch, indem er Gott durch
den Teufel anrufen liefs, einen Verstofs gegen die Dämonologie des Mittel-
alters begangen.
Wie er dazu kam, diese römische Begebenheit in seine Geschichte der
englischen Könige einzuschalten und mit der Sa^e von der wilden Jagd zu
verbinden, ist ebenfalls schwer begreiflich; umsomehr, da sie sich meines
Wissens in italienischen Chroniken und Legendenwerken nicht findet.
Dagegen haben spätere englische Chronisten (Matthäus von Westminster,
Radulphus von Diceto, Johann Brompton und Heinrich von Knyghton) sie
dem von Malmesbury in etwas abgekürzter Form nacherzählt.
Der von Westminster erzählt das Geschichtchen unmittelbar nach dem
von der guten Gräfin Godiva, die zum besten der Stadt Coventry ganz
nackt spazieren geritten. Hat ihn der Ritt der frommen Gräfin auf prächtig
geschirrten Zelter nur
clothed on with chastity
vielleicht an den Ritt der frechen Venus erinnert? Matthäus gibt auch an,
dafs die Geschichte mit dem Ringe i. J. 1058 unter dem (Gegen-) Papst
Benedict X. vor sich ging.*)
Radulphus de Diceto, der am Ende des 13. Jahrhunderts lebte, verlegt
die Geschichte vom Ringe in die Zeit Papst Gregors VI. (1044 — ^45) ^^d
erzählt atwas kürzer als Malmesbury.**)
*) Flores Historiarum per Matthaeum Westmonasterieosem collect! praecipue de rebus Bri-
tannicia. London 1573, IIb. I, p. 424.
**) Radulphi de Diceto, decani Londoniensis Abbreviationes chroniconim, in R. Twysden
Historiae anglicanae scriptores X. London 1652, col. 471.
26 Marcus Landau.
Johann Brompton, der den Wilhelm von Malmesbury ausdrücklich als
seine Quelle nennt, gibt noch aus eigenem hinzu, dafs der des Ringes
beraubte junge Ehemann Lucius und seine Frau Eugenia hiefs, und diese
Namen finden wir auch in der viel kürzer gefafsten Erzählung des Heinrich
von Knyghton. *)
Eine reinere edlere, unser Interesse mehr als die Teufelin der eng-
lischen Chronisten fesselnde, ja unser Mitleid erregende Gestalt ist die
geheimnisvolle Waldfrau eines deutschen Gedichts aus dem dreizehnten
Jahrhundert, das in Jüngern Umarbeitungen seit Ende des fünfzehnten Jahr-
hunderts in Strafsburg mehrmals gedruckt, in Arnims „Knaben Wunderhorn"
und Simrocks ,.Deutsche Volksbücher" (Bd. III) aufgenommen wurde. Nach
einer Strafsburger Handschrift aus dem fünfzehnten Jahrhundert hat es
Christian Moriz Engelhardt u. d. T. „Der Ritter von Staufifenberg , ein alt-
deutsches Gedicht nach der Handschrift der öffentlichen Bibliothek zu Strafs-
burg, nebst Bemerkungen zur Geschichte, Litteratur und Archäologie des
Mittelalters ..." herausgegeben (Strafsburg 1823).
Die Sprache des Gedichts gehört der zweiten Hälfte des dreizehnten
Jahrhunderts an, und nichts berechtigt zu der Vermutung des Herausgebers,
dafs es Umarbeitung einer altern Dichtung oder gar ein Werk Hartmanns
von der Aue sei. Die Strafsburger Handschrift nennt keinen Verfasser, im
Epilog des ältesten Drucks wird ein Herr Eckenolt genannt, ob als Dichter
oder Abschreiber ist nicht klar.**)
Der Inhalt der Handschrift stimmt mit den alten Drucken ziemlich
genau überein und auch die örtliche Ueberlieferung am Schauplatze der
Handlung stimmt im Allgemeinen mit dem Gedichte überein. Im badischen
Mittelrheinkreise in der Ortenau, nicht gar weit von Strafsburg, wo das
Gedicht wiederholt gedruckt und die Handschrift gefunden wurde, steht das
Schlbfs Stauffenberg, das einst Ritter Petermann von Temringer oder Peter
Dimringer bewohnt hat, und am Thorwege ist in Stein gehauen seine
geheimnisvolle Herzliebste, die Waldfrau zu sehen, die aber hier als Meerfee
dargestellt ist. Das junge Weib hebt kummervoll die Arme über dem
Haupte empor, die Hände zerrinnen in unförmliches Gewässer, Flofsfedem
überhängen den Rücken und enden den Körper.
Sagte es uns nicht der Inhalt des Gedichts, so würde der Stein reden
und uns verkünden, dafs wir den Melusinen -Sagenkreis streifen.
*) Chronicon Johannis Brompton und Henricus de Knighton, Chronica de evcntibiis Angliae
lib. I, cap. 13 in Twysdens obenerwähnter Ausgabe col. 950 und 2335.
**) Vergl. die Rezension von Engelhardts Ausgabe in den Göttinger gelehrten Anzeigen
vom 24. Mai 1824, S. 833 ff.
Das Heiratsversprechen. 27
Und ein Kind des Wassers ist auch das wunderschöne Mädchen Ratna-
mandschari (Perlenband), die, wie ein indisches Märchen erzählt*), alle vier-
zehn Tage aus dem Meere emportaucht, auf einem Lager von strahlenden
Edelsteinen ruhend.
Kandarpaketu, der Sohn des Dschimutakuto folgt ihr kühn in die Tiefe
des Meeres, wo sie, die Tochter des Feenkönigs, in goldener Stadt in gol-
denem Palaste wohnt, von dienenden Feen umgeben.
Die Halbgöttin schenkt dem irdischen Jüngling ihre Liebe und verbindet
sich mit ihm in Gandharver-Ehe, d. h. ohne kirchliche Ceremonien und ohne
Wissen der Eltern und Verwandten. Nachdem die Ehe geschlossen war,
lebten sie in Freuden und Herrlichkeit bei einander. Da sagte die Fee
ihrem Gatten: „Dies alles geniefse, aber das Bild der Fee Svarnareka berühre
nie." Aber Kandarpaketu mifsachtete das Verbot und liefs sich verlocken,
das Bild zu berühren, da stiefs es ihn, obwohl nur gemalt, mit dem Fufse
von sich, sodafs er in die irdische Welt zurückgeschleudert wurde, und Fee
und Feenreich nimmer wiedersah.
Nach dieser Excursion nach Indien kehre ich nach Deutschland zurück,
bitte aber den Leser, den Fufs der Fee nicht zu vergessen.
Der fromme und tapfere Ritter Peter Dimringer von Stauffenberg in
der Ortenau am Rhein hat den Bruch des gegebenen Wortes noch härter
gebüfst als Kydippe und der jüdische Jüngling.
Auf einsamen Ritt im Walde fand er einst ein wunderschönes Weib,
das ihm seine Liebe gestand und ihn glücklich zu machen versprach unter
der Bedingung, dafs er stets treu bleiben und keine andere Frau heiraten sollte.
Du darfst wohl minnen doch nicht freien;
Nimmst du jedoch ein ehlich Weib,
So erstirbt dein stolzer Leib
Darnach am dritten Tage.**)
Der Ritter ging auf ihre Bedingungen ein und rief Gott zum Bürgen
seiner Treue an.
Wie man sieht, ging die deutsche Fee in ihrer eifersüchtigen Strenge
nicht so weit wie die indische und der Ritter konnte daher lange ein
wonniges Leben mit ihr fuhren, ihre Reize und ihren unermefslichen Reich-
tum geniefsen. So oft er nur den Wunsch aussprach, die Schöne bei sich
zu haben.
Eh' er das Wort zu Ende sprach
Vor seinen Augen im Gemach
Stand das Fräulein ohne gleich.
*) Hitopadesha, Bach II, Kap. 7.
**) Nach Simrocks Uebertragung.
28 MartQs Landau.
Später ging es noch schneller:
Wenn der Schönen ihn Verlangen nahm,
Hatt' er kaum den Wunsch gedacht,
Ob es Tag war oder Nacht,
So war sie bei ihm gleich zur Stund'
Und that ihm ganze Freundschaft kund.
Hatten Kurzweile viel
Mit der süfsen Minne Spiel.
Doch nicht blos ihre Liebe schenkte die Fee dem Ritter, sie gab ihm
(wie die Schöne in Goethes Märchen von der neuen Melusine) auch viel Geld
und Gut,
Dafs er auch die Gesellen
Zufrieden mochte stellen
Mit den Gaben seiner Hand.
Lange lebte so der Ritter mit seiner geliebten Frau, alle Bitten und
Zureden der Freunde und Verwandten nicht beachtend, die in ihn drangen,
sich zu verheiraten. Wiederholt beteuerte er der Fee ihr bis zum Tode
treu zu bleiben, und diese gestattete ihm sogar, im äufsersten Falle von
seiner heimlichen Liebe zu erzählen, um die Zudringlichen loszuwerden;
nur zum Heiraten solle er sich nicht überreden lassen.
Da traf es sich, dafs der Ritter zum Königshofe nach Frankfurt zog
und sich im Turnier sehr auszeichnete. Der König, der schon früher viel
Gutes von ihm vernommen hatte, bot ihm seine Nichte, die Fürstin von
Kärnten zur Frau an. Vergebens versuchte der Stauffenberger, zuerst unter
allerlei Vorwänden die hohe Ehre abzulehnen; er mufste endlich von seinem
Verhältnis zu der Fee, ihren geheimnisvollen Besuchen, ihren reichen Gaben
und seinem Versprechen, kein ehelich Weib zu nehmen, erzählen. Als aber
ein Bischof die Schöne zu sehen verlangte, da antwortete der Ritter:
„Sie lässt sich von niemand sehn
Als von mir nur ganz allein."
Nun konnte jeder verständige Christenmensch einsehen, dafs es nicht mit
rechten Dingen zugehe; denn ein frommes irdisches Weib könne doch nicht
so blitzschnell erscheinen und verschwinden, ohne von jemand andern als
dem Liebsten gesehen zu werden.
„Ihr verlieret Seel und Leib",
Sprach ein alter Kapellan,
„Nun seid ihr doch ein Christenmann,
Wie seid ihr so gesinnet,
Dafs ihr den Teufel minnet?
Das Haralsversprechen. fSl9
Der Teufel umgeschaifen
Hat sich zu einem Weibe.
Die Seel in eurem Leibe
Ist ewiglich verloren,
Ihr habt reine Fraun verschworen;
Der Teufel in der Hölle
Ist euer Schlafgeselle."
Und der Ritter, anstatt seine Geliebte zu verteidigen, anstatt zu er-
zählen, wie oft und andächtig sie von Gott und der heiligen Jungfrau spreche,
liefs sich von den Pfaffen überreden und versprach des Königs Muhme zu
heiraten.
Als der Ritter nach Hause kam, da erschien ihm die Geliebte in der
Nacht und verkündete ihm sein nahes Ende als Strafe des gebrochenen
Wortes. Da er eine andere heirate, müsse er am dritten Tage sterben, .als
Zeichen werde sie ihn am Hochzeitstage ihren Fufs sehen lassen. Auch
jetzt benahm die Fee sich wie eine gute Christin und ermahnte ihn recht-
zeitig zu beichten und das Sakrament zu empfangen.
Das thut dir not sicherlich,
Gott erbarme deiner Seele sich.
Und als der Ritter mit seiner Braut, der Fürstin von Kärnten und allen
Gästen beim Hochzeitsmahle safs, da sah man,
Dafs etwas durch die Decke stiefs.
Einen Menschenfufs es sehen liefs
Blofs, in dem Saal bis an das Knie.
Auf Erden ward so schöner nie.
So minniglicher nie gesehen.
Der Fufs verschwand, und in der Decke war kein Loch sichtbar, obwohl man
ein solches noch in unserm Jahrhundert im Schlosse zu Stauffenberg zeigte.
Nach dieser Erscheinung starb der Ritter am dritten Tage, wie ihm
verkündet worden, und seine Braut ging in ein Kloster, um für sein Seelen-
heil zu beten. Was mit der Fee geschah, wird nicht berichtet Nach einer
andern Version des Gedichts sah man sie oft mit der Braut -Witwe am
Grabe des Ritters beten.
Der Urkern der Erzählung, die Verbindung von sterblichen und un-
sterblichen Wesen, der in den antik -heidnischen Dichtungen verhüllt, in
der jüdischen ganz verschwunden ist, tritt in den christlich -mittelalterlichen
wieder deutlich zu tage. Die Gottheiten des Olymps spielen bei den grie-
chischen und römischen Dichtern die zweite Rolle, erst bei den englischen
Chronisten wird Venus selbst die Heldin der Erzählung. Aber es ist nicht
mehr die herrliche schaumgeborene Göttin, sondern nur eine Spukgestalt,
90 Marens Lmdmn.
eine Teufelin, die von Menschen besiegt wird, denn sie mufe dem Befehl
eines Höhern gehorchen.
Im deutschen Gedicht ist die in den Irdischen Verliebte keine Teufelin
mehr, aber auch kein irdisches Weib. Sie ist. wenn selbst keine Christin,
doch eine, die an die Macht und Güte des Christengottes glaubt, und des-
halb kann sie auch lange Zeit ihr Glück geniefeen. Sie verliert es zwar durch
den Wortbruch des Menschen, aber dieser mufs dafür den Tod erleiden.
Doch erst in der wohl jüngsten Gestaltung der alten Mythe kommt
die Göttin wieder ganz zu ihrem Recht Der Mensch, der sich ihr ver-
pflichtet, wird wie Kydippe und wie der Bräutigam des Mädchens von der
Cisterne zum Worthalten gezwungen — durch dasselbe Mittel, dessen sich
die Venus der englischen Chronisten bedient Freilich ist es keine Teufelin
und keine verdächtige Waldfee, sondern ein der Gottheit sehr nahe stehen-
de§ Wesen, das die Erfüllung des gegebenen Versprechens erzwingt: Ein
französischer frommer Dichter des 13. Jahrhunderts hat aus der Venus der
Chronisten die heilige Jungfrau gemacht. — Freilich hatten ihm die noch
frömmern Verfasser von albernen Legenden und Wundergeschichten dabei
vorgearbeitet In vielen ihrer Erzählungen spielt die Gottesmutter höchst
eigentümliche Rollen. Sie erscheint bald als Beschützerin der ärgsten Sünder
und Verbrecher, denen sie Straflosigkeit und ewigö Seligkeit gewährt, wenn
sie nur fleifsig zu ihr beteten; bald als Liebe heischende und eifersüchtige
Frau, die sich ihrer Schönheit rühmt, irdischen Frauen ihre Liebhaber ab-
spänstig macht*) oder Anbeter, die ihr untreu geworden sind, mit Wundem
oder Gewaltmitteln zu ihrer Pflicht zurückruft.
So wird in dem berüchtigten, auf Befehl Kaiser Karl VI. bis auf wenige
Exemplare vernichteten, irrtümlich dem Mönche Potho zugeschriebenen, von
dem Benediktiner Bernhardt Pez 1731 in Wien herausgegebenen Liber de
miraculis sanctae Dei Genitricis Mariae (cap. 16, S. 334)**) von einem Kle-
riker in Pisa folgendes erzählt:
Er war immer ein treuer Anbeter der heiligen Jungfrau gewesen, liefs
sich aber endlich doch von seinen Freunden bereden zu heiraten, und begann
schon während der Vorbereitungen zur Hochzeit in seiner Verehrung der
Gottesmutter nachlässig zu werden. Als er sich einmal doch in die Kirche
*) Bei Caesarius von Heisterbach (Dialogus miraculorom, dist. VII, cap. 32) trägt sich die
heil. Jungfrau einem Knappen zur Frau an, um ihn von der Liebe zu seiner Herrin zu kurieren.
Ihre Werbung lautet: „Placetne tibi species mea? . . . Sußiceret tibi si me posses habere uxorem?
Accede ad me et da mihi osculum."
*♦) Ueber dieses Buch und seine Schicksale vergl.: Die Garelli, von Gustav Freiherm von
Suttner. Wien 1885, S. 49. Doch ist von demselben noch mehr als ein Exemplar vorhanden.
Dals Potho nicht der Verfasser dieser Manen-Legenden ist, wird in einer demnächst erscheinenden
Schrift des berühmten Romanisten Mussafia nachgewiesen werden.
Das Heiratsversprechen. 31
begab, um zu ihr zu beten, fuhr sie ihn aufs heftigste an und liefs es auch
nicht an Drohungen fehlen. „O iniquissime et stultissime , cur me dereli-
quisti, cum tua amica essem et declinasti in alterius amorem? Moneo te ne
dimittas me nee, me contempta, conjugem ducas", rief sie ihm zu.
Der erschrockene Kleriker verliefs gleich nach der Trauung sein
irdisches Weib und entfloh, man weifs nicht wohin. Doch ward vermutet,
er habe sich in der Einsamkeit ganz dem Dienste Gottes und seiner Mutter
gewidmet.
Einige Aehnlichkeit mit dieser Erzählung hat auch die 35. im eben
erwähnten Buche (S. 389) und finden sich verwandte Erzählungen in vielen
Sammlungen von Marienlegenden. Auf diese hier weiter einzugehen kann
ich aber um so eher unterlassen, als wir hierüber eine abschliefsende Arbeit
von der Meisterhand Mussafia's zu erwarten haben.
Etwas entfernter steht eine Erzählung von einem Jünglinge, der sich
der heiligen Jungfrau gewidmet hatte, und den diese an seinem Hochzeits-
tage sterben liefs, in dem Bonum universale de proprietatibus apum (ü, 29)
des Thomas von Cantimpr^ (gest. um 1293). In dem Speculum historiale
des Vincenz von Beauvais findet sich aufser der Marienlegende (VIII, 87)
auch eine Erzählung, welche der des Wilhelm von Malmesbury ähnlich ist*)
Der um 1236 verstorbene französische Benediktiner Gautier de Coincy
war es nun, der aus der einfachen Marienlegende und der unheimlichen
Erzählung der englischen Chronisten ein höchst eigentümliches Gedicht bil-
dete. Er erzählt uns in seinen Miracles de Notre Dame von dem jungen
Manne, der sich mit der heiligen Jungfrau vermählte, die ihn dann am Ver-
kehr mit irdischen Frauen hinderte.**)
Ganz wie bei den englischen Chronisten treffen wir auch hier eine
Gesellschaft junger Leute, die sich mit Ballspielen unterhalten. Einer von
ihnen will seinen Ring ablegen und weifs keinen bessern Platz für ihn zu
finden, als sich in eine nahe Kirche zu begeben und ihn an den Finger
einer Statue der heiligen Jungfrau zu stecken. Der junge Mann ist aber
noch nicht vermalt, und sein Ring ist kein Trauring. Er ist nur ein Ge-
schenk seiner Liebsten und von ihm hochgeschätzt. Das war unserm from-
men Dichter aber nicht genug, um die Aneignung des Ringes durch die
heil. Jungfrau zu entschuldigen. Er läfst daher den jungen Mann in einem
Anfall von Frömmigkeit vor der Statue niederknien und sich ihr förmlich
angeloben:
*) Nach A. Graf, Roma nella memoria del medio evo, Turin 1883, II, 392, 402, wo noch
einige andere Parallelstellen angeführt sind.
**) Du varlet qui se maria k Nostre Dame, dont ne volt qu'il habitast k autre. Bei Bar"
bazan-M^on, als Anhang zum Castoiement, Paris 1808, S. 420. Miracles de la Sainte Vierge de
Gaatier de G>incy ed. Abb6 Poqaet Paris 1857. S. 633.
32 Marcus LaikUn.
Dame, fet-il, en mon aage,
D'ore en avant vous servirai,
Car onques mais ne remirai
Dame, meschine, ne pucele
Qiie tant me fust plaisant ne bele;
Cest anei ci, qui moult est btaus,
Te veil doner par fine amor,
Par tel convent, que ja nul jor
N'arai mais amie ne fame,
Se vous non, bele douce Dame.
Als er ihr dann den Ring an den ausgestreckten Finger steckt und sie
diesen sofort umbiegt und den Ring so festhält, dass kein Mensch ihn herunter-
ziehen kann, handelt sie in ihrem vollen Recht Aber ein Wunder bleibt die
Sache immerhin. Alle Anwesenden, die auf das Geschrei des jungen Mannes
herbeiliefen, konnten sich vor Staunen nicht fassen und erklärten ihm, er müsse
nun ohne den mindesten Verzug der Welt entsagen und ins Klostser gehen,
um der Dame Sainte Marie ausschliefelich zu dienen.
Der junge Mann vergafe aber bald Versprechen und Wunder und heiratete
die irdische Geliebte, welche ihm den Ring geschenkt hatte, und die überdies
sehr reich und vornehm, lieb und schön war.
Trotzdem konnte er sich ihres Besitzes nicht erfreuen, denn, wie er nur
das Brautbett bestieg, schlief er gleich ein.
Wie in der Erzählung des englischen Chronisten die Venus sich zwischen
die Neuvermälten drängt und den Bräutigam für sich reklamiert, so erscheint
hier die heilige Jungfrau dem jungen Manne im Traum, zeigt ihm den Ring,
den er ihr gegeben und wirft ihm seine Untreue vor. Mit besonderem Nach-
druck erinnert sie ihn daran, dafs er gesagt habe, sie sei hundertmal schöner
als alle Mädchen, die er kenne.
Et si disoies que cent tans
Ere plus bele et plus plesans
Que pucele que tu seusses.
Wiederholt erscheint sie dem jungen Gatten, immer nachdrücklicher
werden ihre Vorwürfe, immer schärfer ihre Drohungen, ja sie erniedrigt sich
sogar wie ein gemeines eifersüchtiges Weib, ihre Nebenbuhl«in zu schmähen
und nennt die doch ganz unschuldige junge Gattin eine chetive femme und
pullente pullentie (stinkendes Aas).
Dem französischen Dichter war die Erzählung des Chronisten vom Jüng-
ling in Rom gut bekannt; aber gegen die heilige Jungfrau konnte er nicht die
Hilfe eines Zauberers in Anspruch nehmen lassen, und würde er auch damit
gegen die erbauliche Tendenz seines Gedichts verstofeen haben.
Das Heiratsversprechen. 33
Er läfst daher den jungen Mann in aller Frühe, ohne seiner Frau ein
Wort zu sagen, davonlaufen und in ein Kloster eintreten, wo er Gott und der
heiligen Jungfrau bis an sein Lebensende diente. •
Avec s'amie ala manoir.
Cui il avoit par amors mis
Uanel oü doi com fins amis,
Dou siecle toz se varia
A Marie se maria.
So wird das im Tempel gegebene Versprechen nach dem Willen der
Göttlichen erfüllt, in der Erzählung des frommen Mönchs so gut wie in der
des heidnischen Griechen, von der wir in dieser Darstellung ausgegangen sind.
Nur dafs die griechische Göttin die Ehe, die christliche Gottesmutter die
Ehelosigkeit erzwingt.
Wien.
Ztschr. £ vgl. Litt.-Gesch. I.
Ueber den Refrain.
Von
Richard M. Meyer.
Für die vergleichende Poetik hat Scherer (Anz. f. d. Alt. I, 199 f. vgl. Haupt
ebd. II, 322 f.) mafegebende Gesichtspunkte aufgestellt Seine Betrachtungen
zeigen, dafs innerhalb des grofsen Gebietes der vergleichenden Litteratur-
geschichte die vergleichende Poetik eine besonders wichtige Stellung beansprucht
Es wäre vielleicht unrichtig, zu sagen, dafe hier eine gröfsere Gesetzinäfsigkeit
der Entwicklung walte als bei Produkten der Prosa; aber die augenfälligen
Veränderungen der poetischen Form und deren Einwirkung auf das ganze
Dichtwerk lassen die Regeln einer gesetzmäfsigen Fortbildung leichter beobachten.
Die Gesetze einer solchen Entwicklung für reine ausnahmslos wirkende Natur-
gesetze zu erklären würde ich für ebenso unrichtig halten als das mir auf
linguistischem Boden zu sein scheint; aber dem freien Willen der gestaltenden
Individualität, den schon so manche Schranken eines Teils der Freiheit berauben
(Geschmack der Zeit, Muster, eigene Bildung u. s. w.), legt die poetische Fonn
noch drückendere Fesseln an, sodafs die Gestaltung der Poesie in ihren ver-
schiedenen Epochen eine gröfsere Einheitlichkeit erhält. Solche Epochen
indefs nur nach der Form abzugrenzen, wäre so einseitig, wie sie nur nach
dem Inhalt zu bestimmen. Entscheidend ist das Verhältnis des Inhalts zur
Form und dies zeichnet sich, wie ich glaube, auf eine höchst merkwürdige
Weise ab in der Geschichte eines Kunstmittels, das weder ganz inhaltlicher
noch ganz formaler Natur ist, sondern eben vermittelt: des Refrains. —
Die Figur des Refrains besteht in der ständigen Wiederkehr bestimmter
Lautgruppen am Schlufs von Gedichtabschnitten. Diese Lautgruppen können
von zweierlei Art sein: entw^eder bilden sie wirkliche allgemeinverständliche
Worte, sodafs nur ihre periodische Wiederholung sie von dem übrigen Texte
abhebt, oder diese Lautgruppen ermangeln eines fafslichen Sinns, sodafe ein
sogenannter sinnloser Refrain die Worte des Gedichtkörpers begleitet Eine
besonders häufige Abart des „sinnlosen Refrains" ist der sogenannte laut-
nachahmende Refrain, der richtiger „musiknachahmender Refrain" hiefse, weil
Ueber den Refrain. 35
er den Klang bestimmter Instrumente oder auch Geräusche wiederzugeben
sucht. Ich will es im Folgenden versuchen, die Entstehung dieser Hauptformen
und ihr wahrscheinliches zeitliches Verhältnis zu untersuchen.
Wüfsten wir von der Figur des Refrains nichts weiter, als dafs sie der
Volkspoesie aller Zeiten und Länder gemein ist, so würde schon das genügen,
um dem Refrain in der Geschichte der Poesie eine bedeutungsvolle Stelle
anzuweisen. Dieser Eindruck aber wird verstärkt, sobald wir die Eigenart des
Refrains in ästhetischer Hinsicht prüfen. Der Refrain widerspricht nämlich ganz
direkt und vernehmlich der Aufgabe der Poesie, wie sie Lessing bei der
Prüfung der gröfsten poetischen Leistungen erkannt hat. Er fand, es sei das
Ziel der Dichtung, das zeitlich Folgende darzustellen. Während aber alle
andern Mittel der Poesie diesem Zwecke dienen, hat der Refrain und er ganz
allein die Wirkung, ein Nebeneinander vor unsere geistigen Augen zu stellen.
Wenn etu'a in einer genealogischen Stelle der Bibel oder Homers das Geschlecht
eines Helden aufgezählt wird, so wiederholt sich unsenn Geist ohne Weiteres
die historische Reihenfolge. Wenn aber in einer solchen Stelle in der Edda
einer Gruppe von Namen jedesmal der Refrain folgt: ,Dies ist all dein Geschlecht,
Ottar du Blöder*, so ruft dies Wort jedesmal von neuem die mit der gleichen
Marke versehenen früheren Worte ins Gedächtnis. Wir erhalten den Eindruck,
als sähen wir in einem Ahnensaal die Bilder der Vorfahren nebeneinander
hängen, alle mit dem gleichen Wappen bezeichnet.
Fassen wir nun diese beiden Eigentümlichkeiten des Refrains zusammen,
seine Unentbehrlichkeit in aller autochthonen Poesie, und seine psychologische
W^irkung. Wir werden mit einem Schlag durch dies Kunstmittel zurückgeführt
in die Zeiten der ursprünglichsten Poesie, die wir kennen. Ueberall ist Coordi-
nation älter als Subordination. Die Poesie uncivilisirter Völker ist noch nicht
wie die des logisch geschulten Dichters durch den streng befolgten Leitfaden
der Zeitfolge zu einer übersichtlichen Einheit geformt. Der Malerei ohne
Perspektive entspricht vollkommen diese Poesie ohne Zeitfolge. Dies ist auch
wohl begreiflich, denn diese älteste Zeit ist im Gegensatz zu der Objektivität
der alten Heldendichtung durchaus subjektiver Natur: ein mächtiger Eindruck
verlangt Ausdruck und bricht in verschiedenen Formen hervor; doch die
Gnindstimmung kehrt immer wieder als Refrain. So geartet ist alle älteste
Poesie, die wir kennen. Und wo wir bei tiefstehenden Rassen diese Ursprünge
des Liedes treffen, da ist der Refrain nicht nur überall vorhanden, sondern
auch überall gleichartig: es ist ein Empfindungslaut — der Keim des soge-
nannten „sinnlosen Refrains".
Freilich ist in Bezug gerade auf diesen „sinnlosen Refrain" eine ganz
andere Erklärung versucht worden. A. W. Grube hat in seinem verdienstlichen
Aufsatz über den Kehrreim im deutschen Volkslied (Aestlietische Vorträge II, 1 1 7)
die Ansicht geäufsert, die jüwezunge — wie der mhd. Kunstausdruck lautet —
36 Richard M. Meyer.
sei aus Mifsverständnis des lateinischen Kirchengesangs entsprungen. Dies
scheint mir so recht ein Beispiel jener rein litterarischen Art zu forschen, die
nie vom Buche fortkommt, während in Wahrheit doch der Weg geistiger
Arbeit durchaus nicht nur von Buch zu Buch geht. Hier braucht man nur
zu fragen: wen haben denn die ältesten . Sänger Griechenlands mifeverstanden ?
Denn mit vollem Recht vergleicht Otfried Müller (Gesch. d. griech. Litt. I, 28)
den homerischen iv^fiog dem Juchzer der Schweizerbauern, und wer will da
Kirchenmusik heraushören! Wohl aber entsprang diese selbst zum Teil
solchen Refrains wie dem Hallelujah.
So weit sind solche Empfindungslaute, der Poesie der Urvölker unent-
behrliche Schlufspartikeln, so unendlich weit sind sie von verderbter Nach-
ahmung kunstvoller Liturgien entfernt, daCs sie vielmehr zum allerältesten Schatz
menschlicher Ausdrucksweise gehören. Ueber die Zeiten hinausgehend, aus
denen uns wirklich poetische Belege erhalten sind, weisen die refrainbildenden
Empfindungslaute in die vorhistorische Epoche der Urpoesie zurück. Denn
sie liegen den ersten Regungen des Sprachvermögens so nahe, dafs dieser
Stufe keimender Urpoesie sich sogar das Tier schon nähert. Die alte Theorie,
die aus Interjektionen die Sprache entstehen liefs, hat Darwin in seinem Werk
über den Ausdruck der Gemütsbewegungen in einer vertieften und gegründeten
Weise erneuert. Seiner Entwicklungslehre entsprechend erscheinen ihm (vgl.
aaO. bes. S. 85) als Wurzeln der Sprache die unwillkürlichen Begleit-
laute natürlicher Bewegungen. Empfindungslaute und verschiedene
Schreie mit verschieden nuancierter Bedeutung teilen daher alle höhern Tiere
mit dem Menschen. Aber sie haben nicht nur die ersten Keime der Sprache
gemein, sondern auch Ansätze zu einer gesteigerten Sprachform. Eine Affen-
art, der Gibbon, singt sogar, wie ebenfalls Danvin (aaO. 88) bemerkt. Und was
scheint tierische Vokalmusik von der ältesten Poesie der Urvölker noch zu
trennen, wenn nach Brehms Bericht (Illustriertes Tierleben 1, 27. 31. 72) ver-
schiedene Affenarten den Sonnenaufgang und -Untergang mit Geschrei begrüfsen?
gelten doch noch so vollkommene Kunstwerke wie die ältesten Lieder der
Veden demselben Gegenstand. Ja, wenn man Brehms Angaben (aaO. 62) trauen
darf, haben die Brüllaffen sogar einen Vorsänger, wie er dem Gesang der
Naturvölker nahezu unentbehrlich ist.
Selbstverständlich soll hier nicht etwa ultradarwinianisch eine Kontinuität
angedeutet werden, die ganz unhaltbar wäre. Ich meine nur: die Ansätze der
Urpoesie stecken so tief in den ersten Regungen der Geistesthätigkeit, dafs sie
fast schon den Tieren erreichbar waren. Wir dürfen bei den Menschen also
hier ganz sicher die älteste Stufe vermuten. Denn Anfang der Poesie ist dies
wirklich schon. — Man hat viele Definitionen der Poesie versucht; ich meine
doch, dafs man sich am Ende entschliefsen mufs, fiir Poesie alles gelten zu
lassen, was bei irgend einem Volk einmal die bei uns von der Dichtung
Ucber den Refrain. 3'
besetzte Stelle einnimmt Ist Poesie gesteigerte Sprache, ist sie das Aufgebot
aller Ausdrucksmittel zur Auslösung einer seelischen Erregung, der Reflex einer
gesteigerten Anschauung oder Empfindung — ist sie das, so sehe ich nicht,
wie man diese Benennung dem begeisterten oder entsetzten Schrei des Ur-
menschen verweigern will. Wie nach dem schönen Gedicht von Anastasius
Grün nur mit dem letzten Menschen der letzte Dichter ausziehen wird, so war
der erste Mensch wohl schon der erste Dichter. Der übermächtige Eindruck
des Sonnenuntergangs prefste ihm einen Schrei aus — andere Mittel des Aus-
drucks waren ihm noch versagt. Aber sein Enkel vermochte schon deutlicher
was er empfand verständlich zu machen, doch blieb jener Empfindungslaut —
und in den sinnlosen Refrains der Volkslieder aller Länder klingt einverstanden
die Empfindung des Urahnen nach. —
Wir stehen hier auf keinem Boden, der Beweise zuläfst. Wird innere
Wahrscheinlichkeit gelegentlich durch äufsere Belege erhärtet, so mufs fiir jetzt
uns das genug sein. Sei es denn gestattet, von dieser Basis aus die Geschichte
des Refrains kurz zu skizzieren und damit, wie ich glaube, die äufsersten
Umrisse der Geschichte der poetischen Form. —
Es kann keine ältere, keine einfachere, rohere, naturwüchsigere Poesie
gedacht werden als diese: in gewissen pathetischen Momenten — wenn ich
mich so ausdrücken darf — verlangt die übermäfeige Erregung einen Ausdruck,
und durch die Laute, welche naturgemäfse Bewegungen solcher Augenblicke
mit sich bringen, witd der Weg angedeutet, auf dem solcher Ausdruck zu
finden ist. Nicht damit solche gesteigerte Weise des Ausdrucks entsteht, wohl
aber damit sie weiter wirkt, damit durch Nachahmung und Anerkennung die
ersten Spuren einer poetischen Konvention und Tradition geschaffen werden,
ist die Anwesenheit von Hörern gefordert. Doch meine ich nicht, dafs alle
älteste Poesie Chorpoesie gewesen sein müfee. Kennen wir doch jene pathe-
tischen Momente, die gesteigerten Ausdruck hervorriefen: es sind eben die,
welche schon das Tier mit gesteigertem Empfindungslaut begleitet. Vor allem
ist es das Liebeswerben, auf das Darwin sogar — doch gewifs mit Unrecht —
fast ausschliefslich Gewicht legt. Dies aber ist zu chorischer Poesie begreiflicher-
weise nicht geeignet; der Einzelne trägt es der Einzelnen vor, grade wie noch
jetzt beim Fensterin die bajuvarischen Bauern ihre Liedchen singen. Ein
pathetischer Moment in höherem Sinn aber ist ein Todesfall — und nirgends
fehlen der ältesten Poesie Klagelieder. Sie waren naturgemäfs Qiorlieder und
so erhielten sie sich, wo die Einzeldichtung verstob. Dazu erforderte das
strenge Ceremoniell aller Naturvölker genaue Wahrung des Bestattungsritus
besonders bei den Häuptlingen. Und so sind es fast überall solche Trauer-
gesänge, die als älteste Poesie uns aufbewahrt blieben. In noch höherem
Grade als die Wendepunkte im Leben des Einzelnen und des Stammes sind
drittens die der ganzen Natur entscheidende Augenblicke, deren durchgreifende
38 Richard M. Meyer.
Wichtigkeit die Nerven und Sinne des Urmenschen in gesteigerte Bewegung-
versetzt Wie die Vögel den Morgen mit Gesang begrüfeen, ist er zahlreichen
Tiergattungen höher organisierter Art das Zeichen zum gemeinschaftlichen
Geschrei. Und den Beginn der schönen Jahreszeit läfst wohl kein Volk unge-
feiert vorübergehn. So haben wir vor der Entstehung der Sprache die ersten
Keime der Poesie. Aus diesen Anfangen sollte sich später die lyrisch-epische
Urpoesie ent\\'ickeln und weiterhin dann aus dem Liebeswerben des Einzelnen
die reine Lyrik, aus dem Trauerlied des Stammes die reine Epik, aus der
Begrüfeung der Sonne die nie rein lyrische und nie rein epische religiöse Poesie. —
Dies wären denn die ältesten, für den Menschen prähistorischen Ansätze
dessen, was bei weiterer Entwicklung des Intellekts Poesie werden sollte.
Und die Form ist nicht zweifelhaft: einförmiges Wiederholen jener Empfindungs-
laute. Noch für unendlich spätere Zeit spricht Otfrid Müller (aaO. S. 30) von
den altgriechischen Anrufen ui und /jj': „solche Ausrufungen, die, an sich be-
deutungslos, durch den Ton, mit dem sie ausgestofsen werden, eine Empfindung
bezeichnen . . . bilden gleichsam die ersten Anfänge und Keime zu den
Hymnen, die mit ihnen begannen und schlössen." Also was Refrain (und
Gegenrefrain) werden sollte, war damals noch zugleich Text, wenn man so
sagen darf
Aber dieser Refrainkeim, eben weil er noch zugleich Liedkörper ist,
gewinnt selbst einen typischen Abschlufs, und damit erreicht er eine neue
Stufe seiner Entwicklung. — Hat man unter dem Druck ftiner starken Erregung
denselben Laut wieder und wieder ausgestofsen, so wird beim Aufhören aus
rein physischen Ursachen leicht ein anderer Laut ertönen. Und wie überall
wird auch hier was zufällig begleitender Umstand war, selbständig ausgebildet
Selbst diesen Schritt noch thut der Mensch nicht allein, ßrehm spricht (111.
Tierleben IL S. XL) von „Strophen" des Vogelgesangs: eben jener Schlufston
bezeichnet sie. Es heifst dort: „Werden die Gesangsteile oder Strophen scharf
und bestimmt vorgetragen und deutlich abgesetzt, so nennen wir das Lied
Schlag, während wir von Gesang reden, wenn die Töne zwar fortwährend
wechseln, sich jedoch nicht zu einer Strophe (richtiger: zu Strophen) gestalten."
Was charakterisiert nun aber solchen „Schlag", z. B. den der Finken, der am
genauesten studiert und beschrieben worden ist, wie man aus Brehms Mit-
teilungen (aaO. II, 70) ersieht: eben der Abgesang. Allemal beginnt der
Finkenschlag mit mehrmaliger Wiederholung des selben (immer sehr hellen
und spitzen) Tones ; dann folgt — zuweilen durch einen kurzen Uebergangslaut
vermittelt — die etw-a gleich häufige Wiederholung eines zweiten, etwas tieferen
und breiteren Tones; und dann drittens eine Reihe ganz anderer Laute, die
meist in einen gedehnten A- Klang austönt. Hätte Bartsch die von ihm (Alt-
frz. Romanzen und Pastourellen Einl. S. XV) versprochene Sammlung von
Refrains veröffentlicht — die aber nun leider einstweilen ebensowenig zu er-
Ueber den Refrain. 39
warten ist ^^ie die von E. Schmidt Q. F. IV S. 9 Anm. in Aussicht gestellte
Abhandlung über Refrain und Responsion im altern Minnesang, so dankenswert
dieselbe auch wäre — so würde man gewifs noch recht häufig einen ähnlich
einfachen und natürlichen Bau vorfinden. Wir könnten nach der antiken Ter-
minologie sagen: auf eine Strophe folgt eine nicht genau gleiche Antistrophe
und abschliefsend eine Epode. Wir könnten nach der mhd. Terminologie
sagen: auf zwei nicht genau gleiche Stollen folgt ein Abgesang.
Offenbar ist dies schon eine höhere Form. Zu dem „Schlag** steht der
einfache „Sang** der Vögel, zu dem Refrain mit kunstmässigen Abschlufs die
monotone Wiederholung des gleichen Empfindungslauts etwa, wie die äolische
Lyrik zur dorischen. Der dreiteilige Bau stellt so eine Vorstufe zu noch feinerer
Entu'ickelung dar. Hier also treffen wir den Refrain -gewissermafeen in der
zweiten Potenz: der Abschlufslaut ist so zu sagen ein neuer Refrain, den der
alte Refrain ansetzt. Bald wird der alte Refrain sich in den stofflichen Lied-
körper, der neue Refrainsatz sich in einen vollen Chor-Refrain umwandeln. —
Das wäre denn also der erste Fortschritt, den wir in der Entwickelung
der Vorpoesie — wenn man das Wort gestatten will — voraussetzen dürfen:
ein Fortschritt in mufikalischer Richtung, ein Vorrücken zu besserer Gliederung.
Er ist vorbildlich fiir die späteren Fortschritte.
Erst jetzt kommen wir auf historischen Boden, erst jetzt zu den Zuständen,
die für die ältesten zu gelten pflegen, zu denen des artikuliert redenden Menschen.
Noch nie hat man ja einen Menschenstamm entdeckt, der der Sprache entbehrte;
und auch noch nie ein Volk ganz ohne Poesie. Ja man hat sogar nach Herder
wiederholt behauptet, die Poesie sei älter als die Prosa. Aber mag das rück-
sichtlich des Inhalts auch eine gewisse Berücksichtigung haben — hinsichtlich
der Form ist hiermit eine unhistorische Vorstellung von urmenschlicher Voll-
kommenheit verbunden. Die Form musste erst gewonnen werden und ward
in jahrhundertelangem Ringen mit der Sprache mühsam gewonnen. — Wir
sind hier wie so oft genötigt, wo Zeugnisse aus dem Vorleben unserer Kultur-
völker fehlen, das Beispiel gegenwärtig kulturloser Völker zu Hilfe zu nehmen,
und wir dürfen das, mit Vorsicht immerhin, thun, wo sich diese Beispiele in
die natürliche Entwickelungsreihe zwanglos einfügen. Für Furagen der ältesten
germanischen Poesie hat damit denn auch schon Burdach (Zs. f. d. Alt 27,
345 f.) den Anfang gemacht.
In der ältesten historischen Epoche treffen wir den Gesang der Menge
noch völlig auf dem Punkte, auf dem wir alle Poesie der Urzeit vermuten.
Aber hier tritt der Vorsänger auf, an dessen Thätigkeit die weitere Entwickelung
nunmehr anknüpft wie die des Dramas an die Recitation des Schauspieles.
Der Chor stösst auch jetzt noch einförmig nur Empfindungslaute aus. Ein
Vorsänger aber setzt in einzelnen Abschnitten den Grund dieses Gesangs oder
a* Richard M. Mever.
Geschreis in artikulierter Rede auseinander. — Am anschaulichsten ist diese
Art Volksgesang im eigentlichen Sinne des Worts von zuverlässigen Gewährs-
männern bei den Eskimos beschrieben worden. „Ihre Lieder," sagt Talvj,
(Versuch einer geschichtlichen Charakteristik der Volkslieder, S. 115) „haben
weder Reim noch Metrum, sie bestehen in kurzen, unregelmässigen Sätzen, die
mit einem gewissen rhythmischen Tonfall abgesungen werden. Ein Vers oder
Satz wird von einer einzelnen Stimme gesungen, die von einer Art Trommel
begleitet wird. Darauf fallen alle Anwesenden im Chor ein, indem sie einige
sinnlose Töne jauchzend abschreien." Aber nichts anderes ist es auch, wenn
am Schlufs der Rias Andromache, Hekabe, Helena der Reihe nach Hektors
Verdienste preisen, die Weiber ringsum aber nur mit Klagegeschrei einstimmen.
— Die Geschichte der. vom Vorsänger vorgetragenen Stücke beschäftigt uns
hier nicht; der Refrain aber ist noch der alte, vorhistorische, nur nicht mehr
in seiner ursprünglichen Einzelstellung sondern artikuliertem Texte gesellt.
Nun aber geschieht in der Geschichte des Refrains der gröfste und wich-
tigste Schritt. Es wird von der Epoche der Urpoesie zu der vorgeschritten,
die wir eigentlich erst Volkspoesie zu nennen pflegen. An dem Teil wieder-
holt sich die Entwicklung des Ganzen. Von dem instinktiven Schrei waren wir
zu artikulierter doch mit Interjektionen untermischter Rede gelangt — in der
Alltagssprache wie in der Poesie. Diese beiden scheidet nur die Form des
Vortrags. Bei feierlichen Gelegenheiten, deren Zahl übrigens zunimmt, sucht
man die Rede in eine höhere Region zu versetzen, — noch kann man das nur
durch die begleitenden Umstände. Der Refrain, der Tanz, das Musicieren sind
also hier nichts anderes als ein Mittel, die Rede den Göttern oder der Geliebten
genehm zu machen, indem man die Sprache gewissermafsen mit Schmuck
behängt, weil man sie selbst noch nicht schöner zu formen versteht. Die
Musik und der Tanz sind Symbole der Feierlichkeit, der Refrain aber insbe-
sondere aber ist Zeichen der feierlichen Rede, ist Symbol der Poesie.
Und nun schreitet die Artikulation weiter fort und ergreift auch dies über
sie ursprünglich erhabene Symbol. Dem Refrain wird eine im Charakter der
betreffenden Gelegenheit begründete gemeinverständliche Bedeutung beigelegt.
Dieser Fortschritt zur Artikulation des Refrains lag überall nahe, da der
stoffliche Text über den formalen innerhalb der Sprache leicht den Sieg ge-
winnt. Nur im Einzelgesang konnte der Refrain seine Natur wahren : hier fehlten
ja meist die Kunstformen der Musik und des Tanzes, der Refrain war somit
neben der Art des Vortrags das einzige Symbol der Poesie, das einzige Mittel,
die Rede in eine höhere Sphäre zu erheben. Und so hat in den Einzelliedchen
der Bauern das Holdrio u. dgl. sich wirklich bis in die Gegenwart gerettet.
In der chorischen Poesie aber hatte der Refrain eine schwierigere Stellung-
Der Vorsänger trug einen allgemein interessirenden Text vor, die Menge wirkte
durch Refrain, Musik und Tanz mit. All diese nachbarlichen Kunstformen, be-
Ucbcr den Refrain. 41
sonders aber einerseits der Text, andererseits die Musik wirkten stark ein. So
entstanden z\vei Formen des artikulierten Refrains : der in Worten ausgedrückte
und der lautnachahiKiende, eigentlich musiknachahmende Refrain.
Der lautnachahmende Refrain ist wohl älter ; denn da ja die Menge sowohl
Träger der Musik als der Kehrzeile war, vermischten diese beiden sich leichter,
als der Refrain des Chors mit dem Text des Vorsängers. Der lautnachahmende
Refrain findet sich daher überall und ist noch in den Volksliedern höchst ver-
breitet Jedes Volk ahmt natürlich am meisten seine Lieblingsinstrumente nach :
der deutsche Refrain gibt (nach J. Grimm, Gram. III, 308) gern Pfeifen und
Trompeten, der französische (nach Groeber, Altfr. Romanzen und Pastourellen
S. 19) Vogelgesang und Flötenspiel wieder. Am liebsten werden überall mili-
tärische Signale nachgeahmt; doch ist bei ihnen auch die Ausdeutung in
Worten allgemein beliebt Hat sich doch so möglicherweise die ganze im
Mittelalter eifrig gepflegte Gattung der Tagelieder aus der Deutung des
warnenden Hornsignals entwickelt (Scherer Deutsche Studien II, 491.)
Denn dieser andere Weg ward noch häufiger betreten. Die Grund-
stimmung des ganzen Liedes, die man nun durch Worte auszudrücken gelernt
hatte, -zwang solchen klaren Ausdruck auch dem Chor ab. Reich an der-
artigen Schall Versen, aus denen der ursprüngliche Empfindungslaut oft noch
hell heraustönt, ist besonders die altgriechische Poesie; sie sind in der Ab-
handlung von Koester De cantilenis popularibus veterum Graecorum gesammelt.
Naturgemäfe ist der Sinn dieser stehenden Zeilen ein sehr einfacher und, da
jedes Volk die gleiche Empfindung so kurz und schlagend wie möglich aus-
zudrücken sucht, und da deshalb nur die knappste Form sich behauptet, treffen
wir wiederholt gleiche Refrains auf Gebieten, die jeden Gedanken an Entlehnung
ausschliefeen. Dieselbe Kehrzeile, welche nach Brugsch (Die Adonisklage und
das Linoslied S. 24) dem altägyptischen Maneros seinen Namen gab, wird in
Südwestaustralien stundenlang gesungen: ,Kehre wieder*! (Burdach aaO. 349 Anm.)
Der Refrain der Kriegslieder krystallisiert sich um das Wort „Speer" u. s. w.
Diese beiden Arten des artikulierten Refrains haben nun auf die Ent-
wicklung dfer poetischen Form unzweifelhaft sehr bedeutend gewirkt Ja man
könnte sagen, dafs von einer strengeren Form überhaupt erst seit der Arti-
kulation des Refrains die Rede sein kann. Dabei ist auch das nicht zu über-
sehen, dafe erst von dieser Epoche an Lieder ohne Refrain anzunehmen sind:
der stoffliche Teil, der Liedkörper, konnte den formalen, den Refrain, ganz
erdrücken. Da nun das gewohnte Funktionszeichen der Poesie fehlte, \viirde
strengere Form zuerst Notwendigkeit. Wie aber diese zu finden sei, zeigte
der formale Teil der alten refrainierten Gedichte.
Der Refrain, der nur vokale Nachahmung der Musik ist, trägt zur inhalt-
lichen Einheit des Liedes natürlich nicht so viel bei wie der homogene Refrain,
der völlig in den Gedankenkreis des Vorsängers eintritt. Immerhin aber ist
42 Richard M. Meyer.
doch auch er dem Texte näher gerückt. So ist der Refrain nunmehr nicht
blos Symbol der Poesie überhaupt, sondern er hat weiter eine speziell auf das
einzelne Lied sich beziehende symbolische Bedeutung. Die Klagelieder wieder-
holen ihr ,.Kehre zurück" und so erhält dieser Refrain verstärkt den Sinn des
ganzen Liedes: ,all dies singen wir aus Sehnsucht nach dir*. Oder wenn eine
Reihe von Anrufungen desselben Gottes die Erzählung von seinen Thaten
unterbricht oder vielmehr zusammenbindet, so sagt dieser stehende Kehrreim
nichts anderes als dies: ,A11 das erzählen wir, um dich zu preisen — und dich
dadurch uns gnädig zu stimmen*. Der artikulierte Refrain wird also in höherem
Grad als der unartikulierte ein Band, das die losen Glieder zu einer Einheit
zusammenfafet; er erst drückt der bisherigen Coordination gegenüber den
herrschenden Gedanken aus. Aber auch formell gibt er erst den Anstofs zur
Einheitlichkeit des Gedichts. Erst hier stellt sich nämlich ein objektives Mafe
für den Rhythmus fest. Zwar hat Talvj in ihrem höchst verdienstvollen
Buche „Versuch einer geschichtlichen Charakteristik der Volkslieder germ.
Nationen" S. 8 gemeint, das ursprüngliche wilde Geschrei habe zuerst durch
begleitende rohe Tänze ein gewisses rhythmisches Mafs bekommen. Doch
möchte ich glauben, die körperlichen Bewegungen seien zu unregelmäfsig und
ungleichmäfsig fiir solche Wirkung gewesen. Vor allem aber ist zu bedenken,
dafs der Tanz zunächst meist in die Pausen des Vortrags fiel und diesen fiiglich
nicht direkt beeinflussen konnte; von hier aus vermittelte vielmehr der Refrain
die rhythmische Begrenzung. Dafs auf diesen der Tanz Einflufe gewonnen habe,
soll allerdings nicht bestritten werden.
Der lautnachahmende Refrain hat nun gleich ein gegebenes absolutes
Mafs. Der Schall eines Beckens, der Ton einer Flöte sind nicht so willkürlich
zu verlängern wie die Erhebung der Stimme oder der Tanzschritt Aber
auch der in Worten ausgedrückte Refrain hat eine bestimmte Dauer: die
beste und schlagendste Umschreibung der ursprünglichen jüwezungen wird
typisch erstarren. Beide Formen des artikulierten Refrains aber werden nun
aus einem Gedicht in das andere übertragen, wofiir besonders der Kehr-
reim in skandinavischen Volksliedern zahlreiche Belege liefert; doch ist das-
selbe z. B. auch bei den altfranzösischen Romanzen und Pastourellen (Groeber
aaO. 15) beobachtet worden. Es kann nicht fehlen, dafe dieser allbekannte
Satz allmählich auf die loseren Sätze des Vorsängers wirkt. Es tritt wie vorher
progressive so jetzt regressive Assimilation ein: der Gedichtkörper wird dem
Refrain angeglichen und gewinnt so rhythmische Form.
Die Araber erzählen nach Frey tags Bericht (in seiner Arabischen Vers-
kunst S. 18), Chalil, der Erfinder der Metrik, sei einst durch die Strafeen von
Basra gegangen und habe aus einem Hause den Schlag der Hammer ,dak*,
aus einem andern ,dak dak', aus einem dritten ,dakak dakak' gehört. Dieser
abwechselnde Schall habe ihn zur Begründung seiner Wissenschaft geführt —
Ueber den Refrain. 43
Mit dieser Sage scheint das Volk, welches von allen am genauesten die Lehre
vom Versbau aufgestellt und sie bis ins Kleinste durchgeführt hat, eine dunkle
Erinnerung zu wahren an die Bedeutung, die diese Lautnachahmungen als erstes
Mafs der Rhj^hmik besitzen. —
Ueberall wiederholt sich auf dem Gebiet der Metrik die Erscheinung,
dafe die Endabschnitte zuerst eine feste Form gewinnen. Nur der Schlufs der
indogermanischen Versmafse, die Westphal entdeckt hat, ist fest, und noch in
der so fein entwickelten mhd. Metrik gelten verschiedene Licenzen, die am Vers-
ende ausgeschlossen sind. Es ist auch wohl verständlich, weshalb grade am
Schlufe der Rhythmus reingehalten werden mufe. Hier beginnt immerklich
die Aufmerksamkeit vom Sinn abzulassen imd der Klang wird um so kräftiger;
hier ist eine Grenze gegen die Prosa der Alltagsrede nötig; hier endlich mufs
die rhythmische und poetische Wirkung nachklingend auch die Pause füllen.
Wie begreiflich ist es daher, dafs von dem ständigen Schlufsteil die Anregung
zur rhythmischen Durchbildung des Ganzen ausging! —
Immerhin können wir die Bedeutung des Refrains für die Festigung des
Verses bis jetzt nicht im Einzelnen beweisen. Völlig sicher ist dagegen der
Einflufs der Kehrzeile auf die Bildung der Strophe.
In der ältesten Zeit artikulirter Poesie trennt, wie wir sahen, nur der
Refrain die Abschnitte. Es ist doch nun gewifs kein zufälliges Zusammen-
trefTen, wenn die Poesie fast aller Völker die noch unregelmäfsigen Abschnitte
ihrer Lieder durch eine angehängte kurze Zeile am Ende markirt. Wir können
vielmehr deutlich diese Form in ihrer Ausbildung verfolgen. — Bei den Mon-
golen trennt ein kurzer Kehrreim die unregelmäfsigen Abschnitte; dies allein
zeichnet die Gedichtstücke aus, die daher erst v. d. Gabelentz (Zs. f. Kunde
d. Morgenlandes I, 20 f.) als Poesie erkannte. Grade so markiert z. B. in den
pseudovergilischen Dirae nur der Refrain die strophische Gliederung (vgl.
TeufTel Gesch. d. röm. Lit. 200, 2) ebenso im Pervigilium Veneris und andern
jüngeren Stücken. Bei den E^ptern schliefst er schon jede Strophe, bei den
Negern aber steht er gar nach jedem Vers. Und wenn wir nun in noch
unreifer aber doch zivilisierter Poesie die altfranzösischen Tiraden genau in
derselben Weise wie es bei den mongolischen Gedichtstücken der Fall ist
durch kurze Schlufsverse ausgezeichnet sehen — können wir zweifeln, dafs
wir den alten Refrain vor uns haben, der hier völlig die Natur des umgebenden
Liedkörpers angenommen hat? Es wird doch niemandem einfallen, hier gelehrte
Nachahmung der Vergilischen Halbverse — die freilich -anderer Art sind — zu
vermuten! In der deutschen Poesie ist die verlängerte Schlufszeile (d. h. die
Schlufszeile mit kurzem Anhang) eine ungemein häufige Erscheinung, die
Scherer längst aus dem musikalischen Anhalten der Schlufszeile erklärt hat.
Ursprünglich aber ruhte dieser musikalische Anhang auf dem Refrain. Ja für
das System des mhd. Strophenbaues erscheint der Refrain mir entscheidend
1
44 Richard M. Meyer.
ZU sein. Hier hat nämlich J. Grimm das fast ausnahmslos befolgte Gesetz der
Dreiteiligkeit entdeckt, d. h. auf zwei gleiche Teile — die Stollen des Auf-
gesangs — folgt ein anders gebauter dritter — der Abgesang. Eine allgemeine
Betrachtung hat es daher nur mit dem Verhältnis dieser drei Teile zu einander
zu thun oder vielmehr, da das Verhältnis der Stollen zu einander eben das
der Gleichheit ist — mit dem Verhältnis des Aufgesangs zum Abgesang. Nun
war längst erkannt, dafe am Schluss des Abgesangs der Aufgesang uieder-
zuklingen pflegt. Nähere Betrachtung ergab, dafs hier immer der Aufgesang
wirklich wiederholt wird, doch mit mannigfachen Verkürzungen, die seine
minderbetonten Glieder zuweilen fast unkenntlich machen. Hauptfrage war
nun: was ist eigentlich der Bestandteil, der zwischen dem Aufgesang und
seiner Wiederholung steckt? Ich hielt ihn erst für ein künstliches Ueber-
fiihrungsglied , mufste diese Hypothese aber bald als gezwungen aufgeben.
Vielmehr ergab sich mit ziemlicher Sicherheit, dafs dies Stück nichts anderes
ist, als der ursprüngliche Refrain. Die musikalische Form hat somit- noch jene
uralte Gestaltung bewahrt, in der die Textstücke mehrmals wiederholt werden,
der Refrain aber zur Bezeichnung der Abschnitte nur einfach eingestreut ward.
Dieser nach J. Grimms Abteilung den Abgesang einleitende Teil ist also
eigentlich Anhang zum Aufgesang, und wird nicht wiederholt, eben weil er
Anhang ist. Hiemach ergaben sich leicht drei Hauptklassen, in die alle mhd.
Strophenformen zwangslos sich einzuordnen schienen und die oft den Aufbau,
wie ich glaube, erst verständlich machten.
Der Refrain ist also die Schutzwehr, die der Strophe zu fester Gliederung
Raum und Sicherheit gewährt. Ob Strophe oder Vers eher eine gewisse
Gleichförmigkeit gewannen, wird nicht so leicht auszumachen sein, ich meine
aber, doch wohl der Vers, weil er eben an dem Refrain ein leichtes nach-
zuahmendes, einfaches zu übernehmendes Vorbild besafs.
Sobald nun aber beide, Strophe und Vers, fest sind, ist es begreiflich,
wie sie ihres alten Meisters Herr wurden und wie vor der Uebermacht der
formell gleich gestellten, inhaltlich übergeordneten Teile der einfache alte
Refrain weichen mufste. Er verkümmerte und starb ab; nur das Volkslied
behielt ihn in alter Dankbarkeit in Ehren, und zuweilen machten Kunstdichter,
oft höchst wirksam, von ihm Gebrauch.
Doch diese späteren Veru^ertungen und Schicksale der Kehrzeilen, die
Systematik ihrer Verwendungen, die Entwicklung ihrer Nebenformen (wie
z. B. der Glosse) erforderte eine Abhandlung für sich. — Ich bleibe hier stehen,
um die Geschichte des Refrains als dominierenden Kunstmittels nochmals zu
überblicken. —
Der Refrain ist, meiner Auffassung nach, aus der ältesten vorhistorischen
Form der Poesie entstanden, oder richtiger ist das einzige Rudiment derselben,
das sich erhalten hat. Eben deshalb fehlt er keiner ursprünglichen Poesie. Sein
Ueber den Refrain. 45
Keim ist der rohe Empfindungslaut, der vorhistorischer Zeit als einziges Aus-
drucksmittel zu Gebote stand ; dieser Anfang der Sprache wird Anfang der Poesie,
sobald eine besonders heftige Empfindung jene Laute beseelt; denn Dichtung
ist, wie Mommsen seine Schilderung der altrömischen Poesie einleitet (Rom.
Gesch. I, 219) leidenschaftliche Rede. Diese Leidenschaft aber findet in dem
heftig bewegten Ton der Interjektion noch keine genügende Bestätigung; es
drängt sie, ihn in langer Reihe zu wiederholen. Mechanische Ursachen und
ein inneres künstlerisches Bedürfnis wirken zusammen, um dieser Reihe gleicher
Töne in einem andern Ton einen Abschlufs zu gewähren ; dies ist die höchste
Stufe, die dem vorhistorischen Refrain und zugleich der vorhistorischen Poesie
zuzutrauen ist.
In historischer Zeit ist das unartikulierte Geschrei überall schon artikulierte
Rede geworden. Auch die Poesie ist vom Empfindungslaut zu Worten auf-
gestiegen, doch nur in dem Vortrag des Vorsäi^ers; der Empfindungslaut
ist noch immer der einzige Anteil des Chors; den Vorträgen des Festleiters
angehängt ergibt er die Form des sogenannten „sinnlosen Refrains", die sich z. T.
bis auf die Gegenwart behauptet hat Solche Chorgesänge, in ältester Zeit nur
der unwillkürliche Ausdruck pathetischer Empfindung, werden jetzt schon mit
Bewufstsein als Feierlichkeiten bei bestimmten Gelegenheiten abgehalten ; diesen
Charakter sollen die begleitenden Kunstformen der Musik und des Tanzes
erhöhen. Diese Periode der Naturpoesie schildern z. B. für die altgriechische
Dichtung O. Müller (aaO. 31), für die altrömische Corssen (Origines poesis
Romanae 6) und Mommsen (Rom. Gesch. I, 220), für die altgermanische Müllen-
hoflf (de antiquissima Germanorum poesi chorica 3), welche sämtlich hervor-
heben, dass dies eine nirgends fehlende Stufe der poetischen E^ntwicklung ist.
Aus dem Leben unzivilisierter Völker läfst diese Stufe sich reichlich belegen.
Eigentliche Poesie im üblichen Sinne des Wortes ist erst auf der dritten
Stufe, der der eigentlichen Volksdichtung möglich. Hier durchdringen der
bedeutungstragende, stoffliche Anteil des Vorsängers und der symbolische,
formale des Chors sich gegenseitig. Der Refrain pafst sich dem Text an,
indem er artikuliert wird; der Text pafst sich dem Refrain an, indem er
rhytmisch gefestigt wird. Die Artikulation des bis dahin sinnlosen Refrains
aber ist von zweifacher Art: entweder geht der Refrain ganz in die Natur des
Textes über, indem ihm wirkliche Worte untergelegt werden oder er wird dieser
nur genähert, bleibt aber vorzugsweise unter dem Einflufs der Musik, indem
er den Klang der Instrumente der menschlichen Stimme beizulegen sucht.
Der musiknachahmende Refrain sowohl als der in Worten ausgedrückte sind
in aller Volksdichtung zu häufig, als dafs es hierfür der Belege bedürfte.
Viertens tritt dann endlich die Stufe der Kunstpoesie auf, neben der
natürlich die Volkspoesie, bis zu einem gewissen Grade sogar auch die Natur-
poesie fortdauern kann. Vom Standpunkt dieses Vortrages aus ist sie nur
46 Richard M. Meyer.
dahin zu charakterisieren, dafs unter dem Uebergewicht des stofflichen Elements,
des Textes, der Refrain hier völlig verkümmert und nur gelegentlich in Nach-
ahmung des Kehrreims der Volkspoesie mit be^\'ulster Absicht verwandt wird. —
Diese vier Stufen bilden somit eine fortlaufende Reihe von Siegen, die
das Bedürfnis nach deutlichem und spezifischem Ausdruck über die instinktiven
und symbolischen, mit der Zeit deshalb rein formal gewordenen Ausdrucks-
mittel der Urpoesie davonträgt. Insofern entsprechen diese Stufen völlig denen
der Sprachentwicklung, wie ja überhaupt ein diu-chgängiger Parallelismus in
der Entwicklung von Sprache und Poesie in ihrer innem Wesensgleichheit
begründet ist Nur darf man nicht aufeer Acht lassen, dafs in der Poesie die
Form denn doch eine ganz andere Rolle spielt als in der Sprache. Aber
auch für die Sprache hat man ja längst den fonnalen Elementen grössere
Bedeutung zuerteilt als es einst geschah: längst hat man auf dem Boden der
Sprachvergleichung mit jener Theorie gebrochen, der zufolge die Endungen
aus dem Wortstamm „organisch" hervorwuchsen. Man glaubt wohl allgemein
die Flexion aller Art aus Zusammensetzung bedeutungstragender und modi-
fizirender ursprünglich selbständiger Worte erklären zu müssen. Ich glaube,
dafs auch innerhalb der Poetik von entsprechenden Anschauungen ausgegangen
werden muss, so z. B. in der Lehre vom Strophenbau, wo man auf diese W^ise
vielleicht die noch vielfach verbreitete wilde Etymologie der Strophenformen
durch gesetzmäfsige Abwandlungen ersetzen kann. Aber nicht minder scheint
für die Entwicklung der poetischen Form im Ganzen diese Auffassung not-
wendig. Jener älteren Anschauung vom organischen Hervorblühen der Endungen
entspricht es nahezu, wenn z. B. F. Zimmer in einem Vortrag „Zur Charak-
teristik des deutschen Volksliedes der Gegenwart" die Kehrverse in den
deutschen Liedern für nichts anders hält als für „Sprossen, die die Melodie
hervorgetrieben hat** (aaO. 6), während er im selben Atem die Untrennbarkeit
von Text und Melodie behauptet. Die Melodie wie jede Kunstform schafft
nichts, 'sie modifiziert nur. — So liefse sich wirklich fiir die Epochen der
poetischen Form dieselbe Stufenleiter skizzieren, die Pott u. A. für diejenige der
Sprachentwicklung annehmen. Unartikulierte Rede wie unartikuliertes Geschrei
liegen voraus. Die Zeit aber, in der unvermittelt und gleichberechtigt der stoffliche
Teil, der Prosavortrag des Vorsängers, neben den Chorgesängen, dem formalen
Teil, steht, entspricht der Periode isolierender Sprachen. Wird der Refrain
artikuliert und damit dem Text untergeordnet, doch so, dafs er noch immer
kenntlich bleibt und bis zu einem gewissen Grade auch selbständig, so ist die
affigierende Periode erreicht. Geht endlich der Refrain aller Bedeutung ver-
lustig und erinnert nur noch gelegentlich in Resten an seine alte Stellung, so
haben wir die agglutinierende Periode. — Es versteht sich, dafs zeitlich die
Epochen der Sprachgeschichte und der poetischen Entwicklung nicht entfernt
sich decken sollen. —
Ueber den Refrain. 47
Es handelt sich eben ganz einfach um die natürlichen Stufen der Ent-
wicklung von der Coordination zur Subordination. Wenn wir aber für diese
Stufen einen Mafsstab gefunden hätten, der ablesen läfst, welche Höhe der
Ausbildung die einzelnen Volkslitteraturen in bestimmten Zeitpunkten erlangt
haben, so wäre das wohl nicht ohne Wert für die junge Wissenschaft der all-
gemeinen Litteraturgeschichte. Und ein solcher Mafestab scheint denn eben
der Refrain zu sein.
Somit würde ich vorschlagen, vier Epochen in der poetischen Entwick-
lungsgeschichte anzunehmen, unterschieden durch das verschiedenartige Ver-
hältnis des Inhalts zum Stoff, wie es durch den Refrain markiert wird: Urpoesie —
Naturpoesie — Volkspoesie — Kunstpoesie. Nur mufs man stets im Auge
behalten, was bei solchen Scheidungen gar zu oft aufser Acht gelassen wird,
dafs sich diese Perioden nicht mit mechanischer Regelmäfeigkeit und absoluter
Konsequenz ablösen. Das Aeltere dauert noch in die spätere, vielleicht selbst
noch in die späteste Epoche hinein, und nicht das Aussterben der älteren
Gattung bezeichnet eine neue Zeit, sondern allein das Auftreten der neuen,
über deren Siegeskraft man die Fortdauer überlebter Arten bald vergifst.
Berlin.
NEUE MITTEILUNGEN.
Die Abenteuer des Guru Paramärtan.
Von
Hermann Oesterley.
Einleitung.
Das Taniulische Volksbuch Paramarta Guruvin Kadei' ist eins der inter-
essantesten und witzigsten Produkte seiner Art. Es ist von dem bekannten
Jesuitenmissionar Constantin Ptenjamin B e s c h i zusammengestellt und redi-
giert, der 1680 im V^enetianischen geboren, um das Jahr 1700 als Mitglied der Ost-
indischen Mission in Avur, Distrikt Trichinopolis, sich niederliefs, und dort, um
seiner Mission erfolgreicher dienen zu können, vollständig nach der. Sitte des
indischen Südens lebte. Bald nach dem Regierungsantritte des Nabob von
Trichinopolis, Chanda Sahib (1736), wurde Beschi erster Minister desselben,
mufste aber schon 1740 flüchten, als sein Herr von der Mahrattischen Armee
unter Morary Rao angegriffen und gefangen genommen wurde, erhielt dann
eine Anstellung als Rektor in Manapar und starb dort einige Jahre später, wahr-
scheinlich 1 746. Er hat eine grofse Ajizahl von bedeutenden poetischen, theo-
logischen und linguistischen Werken sowohl im hohen wie im niedrigen Dia-
lekte des Tamulischen verfafst und dieselben zum Teile ins Lateinische über-
setzt; auch bei der Bearbeitung der folgenden Schwanke hatte er einen ernsteren
Zweck als den der blofsen Unterhaltung im Auge, er schrieb sie nieder, um
den europäischen Missionaren die Erlernung der Tamulischen Umgangssprache
zu erleichtern.
Die Abenteuer des Guru Paramärtan sind auch in Europa schon seit
längerer Zeit bekannt. Benjamin Babington gab 1822 in*London den Original-
text nebst englischer Uebersetzung heraus, und J. A. Dubois übersetzte sie ins
Französische (hinter der Uebersetzung des Pantschatantra, Paris I826), freilich
nicht zum ersten Male, wie er angibt, da aufser Babington schon Beschi selbst
eine (lateinische) Uebersetzung geliefert hatte. Babington hat, wie die Engländer
überhaupt pflegen, möglichst treu übersetzt, die Arbeit von Dubois dagegen
Die Abenteaer des Guru Paramärtan. 49
ist viel zu fliessend und voll, um treu sein zu können, sie ist eine Paraphrase,
die, obwohl ihr ein Stück ganz fehlt, doch fast den doppelten Umfang des
Originals hat. Ein grofser Teil der Erweiterungen mufs dem Französischen
Wortschwalle zugerechnet werden, ohne den Französisch nicht lesbar ist und
der namentlich bei der im Originale meist sehr losen logischen Verbindung
der einzelnen Sätze und Perioden hervortritt ; ein anderer Teil des Ueberschusses
liegt aber unzweifelhaft im Originale selbst, und Dubois mufs also nach einer
anderen als der von Babington veröffentlichten und zwar nach einer moderni-
sierten, in der Darstellung sogar vielfach outrierten Rezension gearbeitet haben:
es wird sich das aus den folgenden Vergleichungen ergeben. In deutscher
Sprache ist bis jetzt nur eine Analyse von H. Brockhaus in den Berichten der
Sachs. Akademie der Wissensch. 1850, S. 18 bekannt geworden, denn Grässe's
Verwässerung der Dubois'schen Fassung zu einem Kinderbuche unter dem
Titel: „Fahrten und Abenteuer Gimpels und Compagnie" gehört kaum hierher.
Neben der vortrefflichen Anlage des Ganzen und der musterhaften, fein
satirischen Darstellung des Einzelnen, deren Verdienst natürlich dem Pater
Beschi ausschliefslich gebührt, ist besonders interessant die Uebereinstimmung
der indischen Schwanke mit europäischen Volkserzählungen. Es ist mehrfach
darüber gestritten, ob Beschi die in seiner Komposition mit einander verfloch-
tenen Anekdoten aus europäischen Quellen geschöpft, oder ob er sie wirklich
indischen Traditionen entnommen habe. Im ersteren Falle würde das Werk nur
eine geschickte Bearbeitung und Uebertragung europäischer Erzählungsstoffe
nach Indien sein, es scheint indessen keinem Zweifel zu unterliegen, dafs Beschi
seine Stoffe zum gröfsten Teile aus dem Munde von Eingeborenen aufgefafst
hat, dafs diese Stoffe also zur Zeit des Bearbeiters in dem Volke des südlichen
Indiens lebendig gewesen sind. Zunächst ist nicht anzunehmen, dafs Beschi
bei dem Gange, welchen sein Studium, sein Beruf und sein ganzes Leben ge-
nommen hat, mit europäischen Traditionen bekannt geworden sein sollte, die zum
Teil erst später aufgezeichnet, zum Teil in ftir ihn unzugänglichen Schriften
enthalten sind, wenn ihm andere auch aus den Klassikern oder aus den älteren
Kirchenschriftstellem bekannt geworden sein konnten. Femer tragen die Er-
zählungen, mit Ausnahme natürlich der offenbar dem Occident entstanunenden,
ein so entschieden indisches Gepräge, dafs kaum daran gedacht werden kann,
Beschi habe die Uebertragung europäischer Stoffe auf orientalische Sitten und
Verhältnisse vorgenommen, so vollständig er auch selbst in dem indischen
Leben aufgegangen sein mag, denn die Geschichte wirklicher Volkserzählungen
beweist unwiderleglich, dafs zu ihrer Uebertragung und Belebung in einem
anderen Volke das Umschleifen durch vielfaches Erzählen und damit eine ver-
hältnismäfsig lange Zeit erforderlich ist Endlich aber und hauptsächlich kann
für die meisten der von Beschi gegebenen Erzählungen auch eine ältere orien-
talische Quelle nachgewiesen werden, wenn über ihre Verbreitung überhaupt
etwas bekannt geworden ist, und das Vorkommen eines reinen Sanskrit-Spruches
zu einer Zeit, wo weder die in Europa, noch selbst die in Südindien lebenden
Europäer an Sanskrit dachten, wiegt vielleicht schwerer als alle übrigen
Gründe. Die folgenden Vergleichungen werden die ausgesprochene Ansicht
im Einzelnen begründen.
Ztscfar. f. vgl. Lttt.-Gesch. I.
50 Hermann Oesterley.
Unter den Volkserzählungen, welche die Bewohner einer Landschaft oder
Stadt, die Mitglieder einzelner Stände oder Genofeenschaften, überhaupt eine
Gruppe von Personen zum Gegenstande einer harmlosen Satire machen und
welche sämtlich mehr oder weniger gemeinschaftliche Züge tragen, steht keine
den Abenteuern des Guru Paramartan näher, als die GescWchte von den sieben
Schwaben. Es korrespondiert der ganze Aufzug der beiden Gesellschaften, in
beiden ist eins der Abenteuer auf cfis plötzliche Aufspringen eines Hasen ge-
gründet und auch in dem Durchwaten des Flufses zeigt fich Paralleles; besonders
aber zeichnen sich beide durch die ganze Anlage vor den meisten Kompositionen
ähnlicher Richtung aus, welche den einzelnen Erzählungen einen innem, logischen
Zusammenhang gibt, wo jene meistens nur äuiserlich an einander gereiht sind.
Die bereits erwähnte Verschiedenheit der beiden bekannten Recensionen
tritt schon in dem ersten Abenteuer hervor. Statt mit der Cigarre den Span
anzuzünden, der zur Prüfung dienen soll, nimmt Stupide bei Dubois den Span,
mit dem er sich eben eine Cigarre angezündet hat Ferner ist die Beschreibung
des Durchwatens bei Dubois etwBs übertrieben, z. B. wenn . die Schüler den
einen Fufs niedergesetzt haben, heben fie den anderen mit beiden Händen
in die Höhe. Weiter verrichtet dort das zweite Zählen ebenfalls der Schüler,
nicht der Guru, und endlich spricht dort bei der Verwünschung des Flufees
jeder einen Fluch aus, wo in unserm Original der Fluch fortlaufend gegeben wird.
Ueber die Verbreitung der Fabel vom Hunde und Schatten, welche keine
wesentlichen Umwandlungen erfahren hat, verweise ich auf meine Ausgabe von
Pauli's Schimpf und Ernst Nr. 426.
Die Scene des Zählens wird mit überraschender Übereinstimmung erzählt
in dem englischen Schwankbuche „Merie tales of the mad men of Gotam**
(älteste datierte Ausgabe v. J. 161 3) cap. 10 : „Einst gingen zwölf Männer aus
Gotham auf den Fischfang ; einige wateten im Wasser, andere standen auf dem
trocknen Lande, und auf dem Heimwege sprachen sie zu einander: „Wir haben
heute Ausserordentliches im Waten geleistet, Gott gebe, dafe niemand von uns
ertrunken ist" „Bei Gott," sprachen sie, „lafst uns nachsehen, wir waren unser
zwölf, als wir auszogen." Da zählten sie sich, ein jeder zählte elf, aber niemand
zählte sich selbst „Wehe", klagten sie unter einander, „einer unter uns ist
ertrunken." Sie gingen zu dem Wasser zurück, an dem sie gefischt hatten,
suchten auf und ab nach dem Ertrunkenen und erhoben grofse Klage. Da ritt
ein Edelmann des Weges, der sie fragte was sie suchten und weshalb sie so
traurig wären. „Oh," sprachen sie „wir sind heute zu zwölfen ausgezogen, an
diesem Wasser zu fischen, und da ist einer ertrunken." „Wie", sprach der
Edelmann, „zählt, wie viele ihr eurer seid." Da zählte einer Elf und zählte
fich selbst nicht mit „Wohlan," sprach der Edelmann, „was wollt ihr mir
geben, wenn ich den zwölften kann ausfindig machen?"* „Herr," antworteten
sie, „alles Geld was wir besitzen." Da sprach jener: „Gebt mir das Geld;"
dann fing er bei dem Ersten an, gab ihm einen gehörigen Schlag über den
Rücken, dafs er aufheulte, und sprach: „Da ist der Erste." So machte er es
mit allen, dafs sie alle aufschrieen. Als die Reihe an den letzten kam, bediente
er diesen besonders gut und sprach : „Da ist der zu'ölfte Mann." „Gottes Segen
über euch" sagte die ganze Gesellschaft, „dass ihr unsem Nachbarn wiedei^e-
funden habt." — Der letzte Zug ist bei Dubois sogar noch schärfer ausgeprägt:
Der Letzte, als der, welcher gefehlt hatte, erhält einen so starken Schlag,
Die Abenteuer des Giirii Paramdrtan. 51
ilafs er zu Boden fallt. Sehr nahe mit dieser Fassung verwandt ist: Campbell,
Gälische Märchen, S. 576, vgl. Köhler in Orient und Occident II, 697.
Eine entfernter verwandte Erzählung findet sich bei Helmhack, 121, wo
ein Müller seine Esel zählt und denjenigen, auf welehem, er selbst reitet, nicht
mitzählt; wie denn ähnliche Fälle im wirklichen Leben gar nicht selten vorzu-
kommen scheinen.
Auch der zu Anfang des zweiten Abenteuers von einem alten Weibe
vorgeschlagene Zählungsmodus durch Eindrücken der Nase in einen Kuhfladen
ist bei uns bekannt. In den ,JH[istörchen von den Büsumern" von R. Kobisch
steckt man die Nase zwar nur in den Sand, aber bei Birlinger, Volkstümliches
aus Schwaben, i, No. 691, findet fich eine einschliefslich des Kuhfladens voll-
ständig übereinstimmende Fassung.
In dem zweiten Abenteuer zeigen die beiden Recensionen unseres Werkes
ebenfalls bedeutendere Abweichungen. Bei Dubois läfst sich Matti erst von
einem Arbeiter sagen, dafs die Kürbisse Pferde-Eier sind, wähFend er in
unserm Original selbst auf den Gedanken kommt und sich denselben von dem
Reisenden nur bestätigen läfst. Auch fehlt dort die Gröfsenbestimmung, dafs
die Eier mit beiden Armen kaum zu umspannen seien, vielmehr wird nur an-
gegeben, eins sei eine Last für einen kräftigen Mann, obwohl später auf jene
Bestimmung bezug genonrunen wird. Um den Einwurf Mudans in bezug auf
das Bebrüten gründlich zu überlegen, zieht sich bei Dubois der Guru auf drei
Stunden in die Einsamkeit zurück; als er sich zu dem Geschäfte des Brütens
erbietet, sagt er noch, er wolle allerlei scharf gewürzte Speisen essen, um den
nötigen Wärmegrad herzustellen. Bei dem Ankaufe des Eies läfst Dubois die
beiden Schüler behaupten, sie hätten solche Geschäfte schon oft gemacht und
wären daher mit dem Preise genau bekannt. Endlich geht bei Dubois die
Unterredung auf dem Wege ausdrücklich auf das citieren von Sprüchwörtem aus.
Die Spottgeschichte von dem Ausbrüten eines Pferde-Eies ist in Deutschland
weit verbreitet. In Meyer, Deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben,
No. 404, S. 362 mufs der Bürgermeister einen Kürbis bebrüten; als derselbe
faul fortgeworfen wird, springt ein Hase auf, und dieser wird als der erwartete
junge Esel betrachtet. Aehnliche Traditionen bei Birlinger, volkstümliches aus
Schwaben, Bd. i, S. 436, 443, 445, und im bayerischen Volksbüchlein, Bd. II,
S. 275. (In oberbayerischen Schnadahüpfln verkauft die Sennerin dem Berliner
Krautköpfe als Gemseneier.) In Schmitz, Sitten und Sagen des Eifler Volkes,
Bd. I, S. 104 gibt ein lustiger Kauz eine Runkelrübe für ein Eselei aus, läfst
sich während der Brütezeit reichlich mit Speise und Trank versorgen, bis er
einem bereit gehaltenen Hasen die Freiheit gibt. In etwas abweichender Gestalt
ist sie auch im Venetianischen bekannt, s. Widder und Wolf, venetianische
Märchen No. 18, im Jahrbuch für romanische Litteratur 1866, S. 278; sie steht
aber der indischen Darstellung zu fern, um die Annahme zu begründen, dafs
Beschi sie benutzt habe. Noch femer steht das englische Gedicht : The hunting
of the hare, in Weber, Metrical Romances, 11, S. 277.
Aus dem dritten Abenteuer ist nur eine Abweichung des Dubois'schen
Textes anzumerken, die sich in der Erzählung vom Bratendufte findet. Bei
Dubois wird nämlich das Reisbündel längere Zeit dem Bratendufte ausgesetzt,
sogar darin umgewendet, um es möglichst mit Bratenduft zu imprägnieren, und
dann, als der Braten vom Feuer genommen ist, in einem andern Winkel verzehrt.
52 Hermann Üesterley.
Offenbar ist dies nur eine Uebertreibung der einfachen und natürlichen Dar-
stellung unseres Textes.
Die Geschichte vom Schatten des Ochsen ist im Altertume so verbreitet
gewesen, dafs sie zum geläufcen Sprüchworte geworden ist, und hat sich von
Griechenland aus über ganz Europa verbreitet. So nahe nun die Vermutung
liegt, dafs sie von Griechenland aus ihren Weg auch zum Orient gefunden
habe, so glaube ich doch, dafe diese Vermutung unrichtig ist, und zwar aus
dem einfachen Grunde, weil die Geschichte im Oriente vollständig, naturgemäfs
abgeschlossen erzahlt wird, während der ganze Occident niemals über die erste
Hälfte hinausgekommen ist. Leider ist gerade von dieser Erzählung die ältere
orientalische Quelle noch nicht aufgefunden. Die Form, welche den meisten
europäischen Darstellungen zu Grunde liegt, gibt Plutarchs Vitae et Orat,
Demosthenes, am Ende: Eines Tages, da die Athener ihn in einer Volksver-
sammlung nicht wollten fortreden lassen, erklärte Demostenes, er habe ihnen
nur noch ein paar Worte zu sagen. Nach eingetretenem Stillschweigen begann
er: „Ein junger Mensch mietete einst einen Esel, um von Athen nach Megära
zu reisen. Um Mittag, als die Sonne glühend brannte, wollten beide, der
Jüngling wie der Eigentümer, sich in dem Schatten des Esels lagern, und
drängten einander fort, indem dieser erklärte, er habe nur den Esel, nicht aber
dessen Schatten vermietet, jener dagegen behauptete, der gemietete Esel stände
mit allem was zu demselben gehöre, zu seiner Verfiigung." Damit schweigt
Demosthenes und will die Bühne verlassen, die Athener aber bitten ihn, die
Erzählung zu Ende zu fuhren; da spricht Demosthenes: „Wie, ihr habt also
Lust mich anzuhören, wenn ich euch ein Märchen vom Eselsschatten erzähle,
nicht aber, wenn ich von wichtigen Angelegenheiten zu euch rede !" In genau
derselben, oder einer nur wenig abweichenden Fassung wird diese Geschichte
im Altertum sehr häufig erzählt, bis der „Eselsschatten" ein in Griechenland
allgemein geläufiges Sprüchwort wurde, und sie ist in derselben unvollständigen
Gestalt auch in spätere Schriften übergegangen, z. B. in Kirchhofs Wend-
unmut V, I20, in Ursinus, Acerra philologica 1670, i, 33, und breit ausgeführt
in Wielands Abderiten. Sie ist aber nur ein einzelnes Glied einer ganzen
Familie von Erzählungen, aus welcher gleich die nächste Einschaltung unserer
Abenteuer einen neuen Zweig darbietet, die Bezahlung mit dem Klange des
Geldes für den Duft des Bratens. Diese findet sich mit wenig bedeutenden
Abweichungen weit verbreitet, in den Cento novelle antiche No. 8 und der
Scelta di facetie, S. 140; in des Otomar Suscinius joci ac sales 1524, 66 und
Lange*s Democritus ridens, 1649, S. 143; im Eulenspiegel cap. 80, in Gerlachs
Eutragelien 1,944 und in Paulis Schimpf und Ernst, 48, wo weitere Nach-
weisungen zu finden sind. Eine nahe verwandte Erzählung ist die von der
Bezahlung der Musik mit Hoffnung, die in verschiedenen Fassungen vorkommt
Im Occident ist sie meines Wissens zuerst von Aristoteles erzählt, und zwar
in der Nicomach' sehen Ethik, IX, i, weitläufiger im Commentar des Eusthatius;
eine Andeutung auch in der Endemischen Ethik, VII, 10. Später, z. B. von
Plutarch (de auditione und de fortuna Alexandri orat. II) wird sie meistens auf
den Tyrannen Dionysius übertragen, der einst einem ausgezeichneten Zither-
spieler eine reiche Belohnung versprochen, auf dessen Erinnerung an sein
Versprechen aber erwidert haben soll: „So lange du mich durch deinen Ge-
sang ergötztest, habe ich dich durch die Hoffnung ergötzt, du hast also deine
Belohnung empfangen". Diese Fassung ist unter anderm wiedergegeben in
Die Abenteuer des Guru Paramärtan. 53
Gasts Convivales serones i, 46, Scherz mit Wahrheit, 8, Eutragelien III, 45, Acerra
Philologica von Ursinus VI, 83, von Lauremberg I V, 2 1 ; im Englischen Jack of
Dover cap. 8 mufe der Musiker mehrere Stunden warten, und so seinen Lohn
recht reichlich empfangen. An orientalischen Fassungen sind zwei anzugeben,
eine chinesische (Stan. Julien, Avodänas, No. 25, 1, S. 108), die der griechischen
sehr nahe steht, und eine persische im Tofet al Mujjaliss (bei Scott, tales,
S. 267), wo der Sänger nur durch einen Dichter ersetzt ist. Eine weitere,
vielleicht noch ältere Form ist die Bezahlung geträumten Genusses mit einem
imaginären Preise, dem Klange oder dem Schatten des Geldes, wie in Plutarchs
Demetrius, 27 (vergl. AUian, Var. hist. XII, 63), nacherzählt von Coguatus, 105,
Petr. Aerodius, rer. judicat. pandecta, X, 19, 8, der auch die Erzählung vom
Zitherspieler wiedei^bt und anderen, oder mit dem Spiegelbilde des Geldes,
wie in den türkischen Vierzig Vezieren, Nacht 38 und in den Nugae curiales
von Walter Map, II, 22 (vergl. Germania, V, 53). In einer anderen orientalischen
Darstellung, der Sammlung Uzzulleaut Ubbeed Zakkaunee (Scott, tales, 339)
wird ein verbrecherischer Traumgenufs mit Schlägen bestraft, die der Schatten
des Uebelthäters erhält, und dieses stimmt mit den verschiedenen Arten von
Scheinbufsen überein, welche in Grimms Rechtsaltertümem S. 677 eingehend
behandelt sind. Eine letzte, freilich schon ferner liegende Form ist die, dafs
die Absicht einer bösen That durch den Vorsatz der Bufse gesühnt wird, wie
sie in Waldis Esopus IV, 14, Paulis Schimpf und Ernst 298, Scherz mit der
Wahrheit 80 und vielen Nachahmungen dargestellt ist Ueber den ganzen Kreis
vergleiche man Benfays Pantschatantra i, 127.
Die dem fünften Abenteuer eingefügte Anekdote von Vespasian und Titus
ist natürlich occidentalischen Ursprunges; sie stammt aus Sueton, Vespas. 23,
oder Dio Cassius LXVI, 14; in der Uebersetzung von Dubois ist sie unterdrückt.
Das sechste Abenteuer erzählt die bei uns im Volksmunde wie in Schrift
und Bild weit verbreitete Geschichte vom Abhauen des Astes auf dem der
Hauende sitzt; dasselbe ist unstreitig aus dem Sanskritwerke Bharataka-dvätrinsati,
einer Sammlung von Spottgeschichten auf Bettelmönche, in das sechste Aben-
teuer aufgenommen. Sie ist in Aufrechts Cataloge der in der Bodleyschen
Bibliothek aufbewahrten Sanskrithandschriften abgedruckt und ich gebe sie nach
VV'ebers Uebersetzung in den Monatsberichten der Berliner Akademie der Wissen-
schaften, 1860, S. 71: In Eläkapura wohnten viele Bettelmönche. Einer von
ihnen namens Dandaka (Stock) ging einst, als die Regenzeit kam, in den Wald,
um für seine Zelle einen Pfosten zu holen, Dort sah er an einem Baume einen
weit hervorgebogenen Ast und stieg hinauf, um ihn abzuhauen; und zwar setzte
er sich auf diesen selben Ast und begann ihn an der Wurzel abzuschneiden.
Da kamen einige Wandersieute des Weges, sahen was er machte und sprachen:
„He, Mönch, erster aller Dummköpfe, du mufst doch nicht einen Ast abhauen,
auf dem du selbst sitzest! Denn wenn du es so machst, so wirst du, wenn der
Ast bricht, herunterfallen und sterben." Drauf gingen die Leute ihres Weges.
Der Mönch aber beachtete ihre Rede nicht, blieb sitzen, hieb den Ast ab,
und als derselbe zur Erde herabfiel, fiel er auch mit ihm nieder. Da dachte
er in seinem Geiste: „Jene Wandersieute waren in der That einsichtsvoll und
wahrheitsredend, weil alles so eingetroffen ist, wie sie es gesagt haben : folglich
mufs ich auch tot sein." Damit geht die Erzählung zu einem andern Kreise
über. Von abweichenden Darstellungen finde ich nur Hogarth's Parlamentswahl
54 Hermann Oesterley.
ZU erwähnen, in welcher ein Narr auf der äufsersten Spitze eines Wirtshaus-
schildes sitzt und die Stange desselben absägt, während das Schild von unten
mit einem Stricke herabgerissen wird.
Das sechste Abenteuer enthält ferner die Prophezeihung des Brähman,
auf welcher der weitere Verlauf und der Schlufs des ganzen Werkchens be-
gründet ist. Obwohl mit den gewöhnlichen tamulischen Buchstaben geschrieben^
ist dieser Spruch doch reines Sanskrit und lautet in europäischer Transkription:
asmain gitain jivananacam. Die Wichtigkeit dieses Spruches für die Entscheidung^
über den Ursprung der Sammlung ist schon oben hervorgehoben. Dafs der-
selbe, wenn auch in derberer Form, bei uns noch heutigen Tages im Volks-
munde lebendig ist, wird wohl bekannt sein.
Die den Kern des siebenten Abenteuers bildende Geschichte von dem
Notieren der Dienstpflichten auf einen Zettel findet sich im Occident zuerst
bei Felix Hemmer lin, De institutione novorum officiorum, und diese Fassung
steht der Darstellung Beschi's sehr nahe, obwohl dort wie in allen anderen
europäischen Parallelen das abschliefsende Nachtragen der verlangten Dienst-
leistung fehlt. Eine andere Form gibt die 74. Novelle Morlino's, in welcher
der Diener ebenfalls den Pakt zu lesen beginnt und der Herr von Vorüber-
gehenden herausgezogen wird. Sie ist zunächst von Straparola XIII, 7 verar-
beitet, dann von einer grofeen Anzahl Schwanksammlungen aufgenonunen, unter
denen ich nur Maulius, loci comm. 442, Nugae doctae 188, Sussinius 162, Ur-
sinus VI, 96, Helmhack iii, Schreger XVII, 11, Eutrapeliae II, 775, Memel 288
hervorhebe, und endlich auch dramatisch bearbeitet bei Violet le Duc in der
Farce nouvelle du cuvier i, 32 und von Ayrer in den beiden Fastnachtspielen
Jann Posset, Bl. 106. In Paulis Schimpf und Ernst 139 (wo weitere Nach-
weisungen gegeben sind) und von dort im Scherz mit der Wahrheit 34 ist der
Diener durch die Ehefrau ersetzt.
Die im achten Abenteuer erzählte Geschichte von dem Reisschläger-
Opfer wurde bei uns schon im Mittelalter vielfach bearbeitet, freilich in einer
den europäischen Verhältnissen angepafeten Form, die, wie es scheint, zuerst
in den französischen Fabliaux festgestellt wurde: eine naschhafte Magd oder
Frau verzehrt zwei für die Mahlzeit bestimmte Hühner und eröffnet dann dem
Gaste, ihr Herr wolle ihm die Ohren abschneiden; als der Herr erscheint, wird
ihm vorgespiegelt, der Gast habe die Hühner mitgenommen und der Herr
eilt ihm mit dem Vorlegemesser nach. Wegen den einzelnen Bearbeitungen
verweise ich auf Paulis Schimpf und Ernst 364.
Fast am Schlüsse des Ganzen zeigt sich wieder eine bedeutendere Ab-
weichung des Dubois*schen Textes, die wie gewöhnlich auf eine Verzerrung
unserer Darstellung hinausläuft: dort erholt der Guru sich im Bade von seiner
Ohnmacht, die Schüler bemerken die Lebenszeichen, sind aber sämtlich der
Meinung, dafs dieselben zu unpassender Zeit erscheinen und dafs der Meister
nicht daran denken dürfe zu leben, wenn die Stunde seines Todes gekommen
sei. In dieser Ueberzeugung stofsen sie ihm den Kopf unter das Wasser und
ersticken ihn.
Breslau.
Die Abenteuer des Guru Paramärtan. 55
Erstes Abenteuer.
Das Waten dnreh den Flnss.
Es war einmal ein Guru*) mit Namen Paramartan,**) welcher fünf Schüler
in seinen Diensten hatte, Matti, Madeiyan, Pedei, Mileichan und Mudan.***)
Einst hatten sie alle Sechs zu Fusse die umliegenden Dörfer besucht, um sich
nach andern Schülern zu erkundigen, und waren auf dem Rückwege zu ihrem
Mattam,i) als sie gegen Mittag an das Ufer eines Flufses gelangten.
Der Guru überlegte, dafs es ein grausamer Strom sei, den man nicht
passieren könne, so lange er wache, und schickte deshalb Mileichan mit dem
Auftrage ab, sich zu überzeugen, ob er schlafe. Dieser zündete mit seiner
Zigarre einen Span an, den er in der Hand trug, und tauchte ihn, ohne dem
Flufse zu nahe zu kommen, mit weit ausgestrecktem Arme in das Wasser.
Mileichan bemerkte, dafs das Wasser mit Zischen aufdampfte, sobald er den
Span eintauchte, rannte holpernd und stolpernd fort und schrie : „Meister, Meister
es ist jetzt nicht Zeit den Fluss zu passieren, er ist wach; sobald ich ihn an-
rührte, zischte er wie eine giftige Schlange, dampfte in wilder Wut und stürzte
auf mich zu ; es ist ein Wunder, dafs ich mit dem Leben davongekommen bin."
Der Guru erwiderte: „Was können wir gegen den Willen der Gottheit thun,
lafst uns eine Weile warten." So setzten sie sich in den dichten Schatten eines
nahen Gehölzes nieder, um dort die Zeit zu verbringen. Jeder erzählte von
dem Flufse, und Matti berichtete Folgendes:
Ich habe meinen Grofsvater viele, viele Male von der Grausamkeit und
Hinterlist dieses Stromes erzählen hören. Mein Grofsvater war ein bedeutender
Kaufmann. Eines Tages trieb er nebst einem Genossen zwei mit Salzsäcken
beladene Esel des Weges, und als sie bis zur Mitte des Flufses gekommen
waren, wollten sie in der drückenden Hitze sich ein wenig erfrischen, und badeten
in dem kühlen Wasser, das ihnen bis an die Brust reicnte ; dann hielten sie die
Elsel an und wuschen sie ebenfalls. Als die Beiden nun zum andern Ufer ge-
langten, bemerkten sie, dafs der Flufs nicht allein das sämtliche Salz verzehrt,
sondern dafs er es auch auf wunderbare Weise geraubt hatte, nämlich ohne
die festen Säcke, die gut genäht waren, zu öffnen oder im Geringsten zu ver-
letzen. Da sprachen sie voller Freude: „Ha, ha, ist es nicht ein grofses Glück,
dafs der Fluss uns verschonte, nachdem er dieses Salz verschlungen hatte?" So
sprach Matti.
Dann erzählte Pedei eine andere Geschichte? „Die Künste, Betrügereien
und Streiche dieses Flufses sind auch zu meiner Zeit zahlreich gewesen. Hört
Einst schwamm ein Hund mit einem gestohlenen Stück Hammelfleisch in der
Mitte des Stromes, als dieser betrügerischer Weise ein anderes Stück Fleisch
in seinem Wasser erscheinen liefs. Der Hund sah, dafs dieses gröfser war und
iiefs deshalb das gestohlene Stück fallen; als er aber untertauchte, um den
gröfseren Bissen zu erschnappen, verschwanden sie beide, und der Hund ging
leer nach Hause." So sprach er.
♦) Meister, geistlicher Lehrer, Priester.
♦*) Einfalt
*♦*) Dummkopf, Pinsel, Klotz, Tropf und Narr.
t) Die klosterähnlich abgeschlossene Wohnung des Guru und seiner Schüler.
56 Hermann Oesterley.
Während sie sich so unterhielten, sahen sie einen Reiter vom andern Ufer
her kommen. Da er nur eine Faust hoch Wasser im Flusse fand, blieb er
auf seinem Pferde und ritt eilig und ohne die geringste Besorgnis hindurch.
Bei diesem Anblicke riefen sie: „Ach, ach, wenn unser Guru auch ein Pferd
hätte, so könnten wir Alle ohne Furcht in den Flufs hinabsteigen. Meister, ihr
müfst unter jeder Bedingung ein Pferd kaufen." Der Guru Paramärtan indessen
erwiderte : „Wir wollen später davon reden", und da der Tag sich neigte und
es Abend wurde, liefs er nochmals untersuchen, ob der Flufs schliefe.
Madeiyan nahm also denselben Span und tauchte ihn prüfend in's Wasser;
als dieses nicht im geringsten aufzischte, weil das Feuer schon vorher verlöscht
war, rannte er hoch erfreut zurück und rief: „Jetzt ist es Zeit, jetzt ist es Zeit:
kommt schnell her, ohne den Mund zu öffnen und ohne einen Laut von euch
zu geben, der Flufs liegt in tiefem Schlafe und wir haben keinen Grund zu
Furcht oder Besorgnis."
Nach Verkündigung dieser guten Botschaft standen sie eilig auf und alle
Sechs stiegen lautlos und vorsichtig in den Strom hinab. Bei jedem Schritte
traten sie so leise auf, dafs selbst die Berührung der Wellen kein Geräusch
verursachte ; bei jedem Schritte hoben sie die Füfse über das Wasser, bewegten
sie vorsichtig weiter und setzten sie eben so leise nieder; auf diese Weise
wateten sie klopfenden Herzens Schritt vor Schritt durch den Flufs.
Sobald sie das Ufer erreicht und erstiegen hatten, waren sie eben so
vergnügt, wie sie vorher bekümmert gewesen waren; amd als sie fröhlich um-
hersprangen, zählte Mudan, im Hintergrunde stehend, die Uebrigen, ohne sich
selbst mitzuzählen. Da er bei seinem Zählen nur fünf Personen fand, rief er
laut: „Wehe, der Flufs hat Einen hinweggenommen. Seht, Meister, nur fünf
von uns stehen hier**. Der Guru stellte sie in Reihe und Glied auf, und zählte
selbst zwei, drei Mal, aber da er immer zählte, ohne sich mitzurechnen, erklärte
er ebenfalls, dafs nur fiinf anwesend wären. Dann zählten auch die Uebrigen,
aber Jeder liefs sich selbst aus und rechnete nur die Anderen zusammen, und
so wurde es zur Gewifsheit unter ihnen, dafs der Strom Einen verschlungen habe.
Sie weinten bitterlich, riefen Wehe, fielen sich in die Arme und klagten:
„O grausamer Flufs, hartherziger als ein Fels, wilder als ein Tiger; Elender,
hast du dich nicht im geringsten gescheut, einen Schüler des Guru Paramärtan
zu verschlingen, der begrüfst, geachtet verehrt und gepriesen wird von einem
Ende der Welt bis zum andern? Hast du ein so verwegenes Herz, du Sohn
eines schwarzen Bären, Sprofse eines grausamen Tigers? Wirst du in einer
künftigen Welt leben, wird auch in Zukunft dein kühles Wasser fliefsen? Möge
dein Quell gänzlich vertrocknen und verdorren, möge der Sonnenglanz auf den
Sand deines Bettes schiessen, möge Feuer deine Wellen verzeliren; möge dein
Bauch verbrennen und verwelken, mögen deine Tiefen mit Dornen sich füllen.
Ohne Feuchtigkeit, ohne Kühlung, ohne eine Spur deines Daseins mögest du
vernichtet werden."
So ergingen sie sich in Schimpfreden und Lästerungen, streckten die
Hände aus und knackten mit den Fingern.*) Gleichwohl wufste in ihrer vor-
eiligen Dummheit bis zu diesem Augenblicke niemand, welcher unter ihnen
von dem Flufse hinweggeführt war, und niemand fragte danach, welcher es
*) Die Indier pflegeYi beim Fluche die Hände zu falten und von sich zu stofsen, wobei
die Finger knacken.
Die Abenteuer des Guru Paramdrtan. 57
wäre. Da kam ein vernünftiger Mensch, ein Reisender, des Weges und fragte
teilnehmend: „Wie, Meister, wie? was für ein Unglück ist geschehen?** Sie
erzahlten ihm der Reihe nach was passiert war, er durchschaute ihre Einfaltig-
keit und erwiderte: „Was geschehen ist, ist geschehen; wenn ihr mir aber
eine angemessene Belohnung geben wollt, so werde ich den Verlorenen zurück-
rufen, denn ihr müist wissen, dafs ich ein grofeer 2^uberer bin." Der Guru
antwortete erfreut: „Wenn du es thust, fo wollen wir dir fiinfundvierzig
Fanams*) geben, die zu unserer Reise bestimmt waren." Da schwang jener
den Stock, den er in der Hand trug und sprach : „In diesem Stocke liegt meine
Kunst. Stellt euch in eine Reihe; jeder zählt und ruft seinen Namen, wenn
er einen Schlag auf den Rücken erhält, und ich will machen, dafe alle sechs
hier sind" Er stellte sie in Reihe und Glied und gab zuerst dem Guru einen
Schlag auf den Rücken. Dieser schrie: „Hier! ich bin es, der Guru." „Eins",
sagte der Reisende. In solcher Weise erhielt jeder einen Schlag, rief seinen
Namen aus und zählte, und so fanden sie, dafs keiner von ihnen fehlte. Da
gaben sie voll Bewunderung und Preis dem göttlichen Zauberer den verab-
redeten Lohn und gingen fort.
S
Zweites Abenteuer.
Der Ankauf des Pferde-Eies.
Nachdem der Guru Paramärtan und seine ftinf Schüler im Mattam an-
ekommen waren, gingen sie umher und erzählten die Verlegenheiten, in welche
der Flufs sie gebracht hatte.
Ein altes einäugiges Weib, welches den Mattam auszukehren pflegte und
welchem alles Geschehene ausfuhrlich erzählt war, sprach: „Ich bin der Meinung,
dafe ein Irrtum in der Weise des Zählens vorgekommen ist. W^enn man zählt
und sich oder einen andern ausläfet, so mufs das Resultat unrichtig sein; aber
für eine ähnliche Gelegenheit will ich euch einen Weg angeben, auf dem ihr
dergleichen Irrtümer vermeiden könnt. Sammelt den Mist,**) der auf der Weide
liegt, und wenn ihr ihn glatt getreten habt, so stellt euch herum, bückt euch
nieder und steckt die Nasenspitze in den Haufen. Dann zählt die Eindrücke
eurer Nasen und dadurch könnt ihr ohne Rechnungsfehler erfahren, wie viele
ihr seid. Auf diese Weise haben wir vor fünfzig oder sechzig Jahren eine
Anzahl***) von Weibern gezählt, die bei einander waren."
Sie erwiderten Alle: „Das ist wirklich ein vortrefflicher Vorschlag, der
kein Geld kostet; keiner von uns hat daran gedacht. Unter allen Umständen
wird es aber das beste sein, dafs wir ein Pferd kaufen; Meister, ihr müfst auf
jeden Fall ein Pferd anschaffen." Der Guru fragte, wie hoch der Preis eines
Pferdes sich belaufen würde, als sie aber auf eingezogene Erkundigung erfuhren,
dafe es mindestens fünfzig bis hundert Pagodas kosten würde, erklärte der
Guru, dafe er nicht im stände sei, eine solche Summe zu bezahlen.
*) Eine Silbermünze, deren fünfundyierzig einen Pagoda ausmachen; es gibt indessen auch
Gold -Fanams, die in Dubois' Uebersetzung ausschliesslich erwähnt werden.
••) Der Mist wird in der Sonne getrocknet und allgemein als Feuenmgsniaterial benutzt.
*) wörtlicli: zehn.
58 Hennann Oesterley.
So blieb die Saehe eine g^te Weile liegen, bis sie eines Tages bemerkten,
dafs ihre Milchkuh, die zur Weide getrieben war, abends nicht snirückehrte.
Sie suchten dieselbe im ganzen Dorfe; als sie aber trotz aller Nachforschungen
nicht zu finden war, ging Matti am andern Morgen aus, sie zu suchen.
Als er am dritten Tage in den Mattam zurückehrte, ohne eine Spur von
ihr entdeckt zu haben, rief er voll Entzücken aus: „Die Kuh, Meister, kann ich
nicht finden, aber das schadet nichts, denn ich habe zu einem sehr billigen
Preise ein Pferd für uns gefunden.** „Wie ist das zugegangen?" fragte eifrig der
Guru. Matti antwortete: „Nachdem ich von Dorf zu Dorf, von Weide 2ai
Weide, von Stück zu Stück gesucht hatte, um die Milchkuh zu finden, und auf
dem Rückwege war, bemerlcte ich vier oder fiinf Stuten, die am Ufer eines
grofsen Teiches weideten oder ruhten. Als ich weiter ging, fand ich an einem
benachbarten Orte eine Anzahl von Pferde -Eiern nach allen Richtungen hin
niederhängen, die man mit beiden Armen nicht umspannen konnte. Ich
erkundigte mich bei einem Vorübergehenden, und dieser bestätigte mir, dafs
es wirklich Pferde-Eier seien und dafs jedes nur vier oder fiinf Pagodas kostete.
Dies ist eine günstige Gelegenheit, Meister. Wir können für einen billigen
Preis ein edles Pferd erhalten, und was seine Gelehrigkeit anlangt, so wird
alles davon abhängen, wie wir es aufziehen und zureiten." Sie stimmten alle
diesem Vorschlage bei, gaben ihm Madeiyan zur Begleitung mit, händigten ihnen
fünf Pagodas ein und sandten sie unverweilt auf die Reise.
Als Matti und Madeiyan sich auf den Weg gemacht hatten, um das
erwähnte Pferde-Ei zu kaufen, warf Mudan folgendes Bedenken auf: „Ich gebe
zu, dafs wir das Ei eines edlen Renners erlangen; aber wenn es in unserm
Besitze ist, so kann es doch nur auskommen, nachdem es bebrütet ist; wer
aber in aller Welt es ausbrüten soll, das weifs ich nicht. Matti sagt, dafs man
es mit beiden Armen nicht umspannen kann; wenn wir also auch zehn Hennen
darauf setzten, so könnten sie es nicht einmal bedecken, viel weniger bebrüten;
sagt uns, wie wir das einrichten sollen." Bei diesem Ein^^aufe stierten sie be-
stürzt einander an, öffneten den Mund nicht und schwiegen. Nach einer langen
Pause richtete der Guru an jeden Einzelnen der drei Anwesenden das Wort
und sprach: „Ich sehe keinen andern Weg, als dafs einer von uns sich darauf
setzt". Das suchte jeder von sich abzulehnen. „Es ist mein Geschäft", sagte
der eine, „täglich zum Flufse zu gehen und das nötige Wasser zu holen, ebenso
in den Wald zu gehen und Brennholz zu sammeln, wie kann ich also brüten?*'
Der Andre sprach: „Wie kann ich das Brüten besorgen, wo ich Tag und Nacht
ohne Unterbrechung in der Küche bin, für Jedermann Reis bereite, allerlei
Arten Speise zurichte, Kuchen backe, Wasser koche, und mich so am Herde
aufreibe?" Der Dritte sprach: „Vor Tagesanbruch gehe ich zum Flufse, reinige
mir die Zähne, spüle mir den Mund aus, wasche mir Gesicht, Hände und Füfse
und verrichte der Vorschrift gemäfs alle Ceremonien; dann gehe ich in den
Blumengärten umher, sammle die jungen Knospen, bringe sie mit schuldiger
Ehrerbietung hierher, winde lange Kränze, streue Blumen auf verschiedene
Götterbilder, bete sie an und helfe täglich bei dem Opfer der Gottheit. Das
ist meine Beschäftigung, nichtwahr? Wie kann ich bei alle dem brüten?**
Darauf entgegnete der Guru: „Das ist alles vollkommen wahr und eben
so wenig können es die beiden anderen übernehmen, die fortgegangen sind,
denn der eine von ihnen hat mehr zu thun als er ausrichten kann; er mufs
Erkundigungen über die Leute einziehen, mit denen wir zu thun haben, die
Die Abenteuer des Guru Paramärtan. 59
Fragen beantworten, welche sie vorbringen, und die Streitigkeiten schlichten,
die ihm zur Entscheidung vorgelegt werden. Matti endlich ist der, welcher
bei allen Gelegenheiten, wo wir Geschäfte zu besorgen haben, zu den Laden,
auf die Jahrmärkte und in die Dörfer geht Ihr könnt euch also den Be-
schäftigungen nicht entziehen, die fortwährend eure Aufmerksamkeit in Anspruch
nehmen. Ich für meinen Teil aber habe hier nichts zu thun; ich will also das
Ei in meinen Schoss nehmen, es mit den Armen umfassen, mit dem Saume
meines Kleides bedecken, an die Brust drücken, mit Zärtlichkeit behüten und
auf diese Weise ausbrüten. Es ist genug, wenn wir nur das Pferd ausbringen,
und wir wollen die Mühe nicht ansehen, die es uns kostet.
Während im Mattam diese Beratung stattfand, wendeten Matti und Madeiyan,
die sich in der dritten Woche mit dem aufgehenden Monde aufgemacht hatten,
nach einer Reise von mehr als drittehalb Kädam*) ihre Schritte der Stelle zu,
welche sie schon von weitem erblickt und beobachtet hatten, und gelangten
an das Ufer des Teiches, wo sie einen Ueberflufs von Kürbisfrüchten fanden.
Sie gerieten beim Anblicke derselben in Entzücken, gingen zu dem Bauer,
der dort beschäftigt war, und sprachen bittend zu ihm: „Meister, wir beschwören
dich ernstlich, gib uns eins von diesen Eiern." Der Bauer sah ihre Dummheit
und antwortete: „Ho, ho! glaubt ihr, ihr könntet so edle Pferde-Eier kaufen,
wie diese sind?*' Sie en^'iderten: „Nun, nun, Meister, wifsen wir nicht, dafs
das Stück fünf Pagodas kostet? Seht hier, Freund, nehmt eure fünf Pagodas
und gebt uns ein gutes Ei." Er antwortete: „Ihr seid, meiner Treue, gute,
rechtschaffene Burschen. In anbetracht eurer guten Eigenschaften willige ich
ein, sie euch zu diesem Preise zu lassen; sucht euch also nach Gutdünken ein
Ei aus und geht eurer Wege; sprecht aber nicht darüber, dafs ihr es zu so
niedrigem Preise erhalten habt." Sie wählten also gemeinschaftlich eine Frucht
aus, die gröfser war, als alle Uebrigen, standen am nächsten Morgen früh auf
und begaben sich auf den Weg, als eben der Tag graute.
Matti nahm mit grofser Sorgfalt das Ei und hob es sich auf den Kopf;
der andere ging den Weg weisend voran. Während sie so vorwärts gingen,
fing Matti an zu sprechen: „Ja, ja, unsere Voreltern haben gesagt: ,W^er Bufse
thut, arbeitet an seinem Glücke*. Wir haben den Beweis davon jetzt mit eignen
Augen gesehen. Dies ist zuverläfsig der Segen, welcher aus der unabläfsigen
Bufsübung unseres Guru erwachsen ist. Ein edles Pferd, das hundert oder
hundert und fünfzig Pagodas wert ist, kaufen wir und bringen wir ihm für
fünf." Madeiyan erwiderte: „Bedarf das einer Ueberlegung? Hast du nicht
den Spruch gehört: ,Nur aus guten Werken entspringt Genufs, alles Andere
ist gleichgültig und des Lobes unwert*? Aus Tugend entsteht nicht allein
Vorteil, sondern auch Freude; und wo die Tugend fehlt, ist alles andere
Elend und Schande. Hat mein Vater nicht lange Zeit hindurch viele Tugenden
geübt? und er fand seinen Lohn und seine Lust am Ende, als ich ihm
geboren wurde." Der Andre versetzte: „Unterliegt das einem Zweifel?
Kann man einen Ebenbaum ziehen, wenn man Ricinus säet? Aus guten
Handlungen entsteht Gutes, aus bösen Handlungen Böses.**
Als sie unter solchen Gesprächen eine beträchtliche Strecke zurück-
gelegt hatten, stiefs der Kürbis gegen einen Baumast, der niedergebeugt
*j Ein Kädam = c. 50 engl. Meilen.
60 Hermann Oestcrley.
herabhing; er flog Matti aus den Händen, fiel auf das Gesträuch, das am
Boden wuchs, und brach in Stücke.
Darüber sprang ein Hase auf, der unter den Büschen gesessen hatte,
und rannte fort. Erschreckt riefen sie aus: „Sieh da! das Füllen läuft fort,
das in der Schale war", und rannten hinterher, um es zu fassen und zu fangen.
Unbekümmert um Berg oder Thal, Wald oder Weide, stürzten sie dahin,
ihre Kleider verwickelten sich in den dornigen Büschen, wo sie zerrissen
oder hängen blieben. Sie liefsen in der Verfolgung nicht nach, obgleich
ihnen das Fleisch von den Baumwurzeln zerfetzt wurde, auf welche sie traten,
obgleich ihr Blut flofs infolge der Dornen, die ihnen im Körper steckten;
ihr ganzer Leib strömte von Schweifs, das Herz schlug ihnen, ihre Ohren
hatten sich verstopft, sie keuchten und schnauften vor Anstrengung und ihr
Eingeweide schüttelte sich; aber trotz alledem fingen sie den Hasen nicht
und endlich fielen sie beide ermattet und erschöpft zu Boden. Indessen
rannte der Hase immer weiter, bis er ihnen zuletzt aus den Augen ent-
schwand und geborgen war. Da erhoben sie sich wieder und suchten ohne
Rücksicht auf ihre Ermüdung in allen Richtungen weiter, mit lahmen Beinen
und verwundet von Dornen, Steinen und Baumstümpfen. In diesem jammer-
vollen Zustande litten sie den ganzen Tag Hunger und Durst und kehrten
endlich nach Sonnenuntergang in den Mattam zurück.
Als sie in das Thor traten, schlugen sie sich auf den Mund, schrieen Wehe,
Wehe und stürzten unter ihren eignen Schlägen zu Boden. „Was ist? was
ist geschehen? welches Unglück ist euch begegnet?** fragten die übrigen,
indem sie hervortraten, sie bei der Hand fassten und aufhoben. Nachdem
die beiden ausfuhrlich alles berichtet hatten, was geschehen war, sprach
Matti: „O Meister! seit dem Tage meiner Geburt habe ich kein so schnelles
Pferd gesehen, wie dieses; es war von aschgrauer Farbe mit schwarz ver-
mischt, in Gestalt und Gröfse wie ein Hase und eine Elle lang. Obgleich
ein Füllen noch im Ei, spitzte es beide Ohren, hob den Schwanz in die
Höhe, der in der Länge von zwei Fingern aufrecht stand, streckte seine
vier Beine aus und rannte, den Leib dicht an der Erde, mit einer Schnellig-
keit und Heftigkeit, die sich weder beschreiben noch begreifen läfst"
Alle wehklagten über das Unglück, nur der Guru beruhigte sie und
sprach: „Die fünf Pagodas sind freilich verloren, aber gleichwohl ist es gut,
da(s das Füllen entlaufen ist, denn wenn ein Füllen auf solche Weise rennt,
wer wird im stände sein, darauf zu reiten, wenn es ein ausgewachsenes Pferd
geworden ist? Ich bin ein alter Mann; wenn mir ein Pferd von solcher
Beschaffenheit auch umsonst geboten \vürde, meine Freunde, ich würde es
nicht annehmen."
Drittes Abenteuer.
Die Reise auf gemietetem Ochsen.
Nach Verlauf einiger Zeit sahen sie sich genötigt, eine weite Reise zu
unternehmen. Da sie zu Fufse nicht so weit gehen konnten, kamen sie überein,
einen Ochsen mit abgesengten Hörnern zu mieten. Sie verabredeten einen
Mietpreis von drei Fanams für den Tag, und nachdem die erste Woche nach
Die Abenteuer des Guru Paramärtan. 61
Sonnenaufgang in verschiedenen Besorgungen hingegangen war, begaben
sie sich auf die Reise.
Es war eine entsetzlich heifse Jahreszeit, die Sonnenstrahlen schofsen
unterwegs gerade auf sie nieder, und dabei befanden sie sich auf einer offnen
Ebene, ohne einen einzigen Baum oder Busch, und ohne Schirm und Schatten.
Während sie so dahin schlichen, geriet der alte Guru, unfähig, die drückende
und unablässig^e Hitze zu ertragen, und gebeugt wie grünes Gras, in Gefahr
von dem Ochsen herabzufallen. Als seine Schüler die Gefahr bemerkten,
ergriffen sie ihn und hoben ihn herab; da aber kein anderer Schatten zu
finden war, setzten sie ihn in den Schatten des Ochsen, den sie anhielten,
und fächelten den Meister mit ihren Kleidern. Als er dadurch bedeutend ge-
stärkt war, und ein kühles Lüftchen sich erhob, bestieg er den Ochsen wieder,
und so zogen sie langsam weiter, bis sie, noch ehe der Tag sich geneigt
hatte, bei einem kleinen Dorfe anlangten, wo sie Halt machten.
Sobald sie die kleine Karawanserai des Dorfes betreten hatten, zahlten
sie dem Ochsentreiber seine drei Fanams aus, aber dieser behauptete, das
sei nicht genug. „Wie hängt das zusammen", entgegneten sie, „war dies nicht
der tägliche Mietpreis, den wir von vorn herein mit dir verabredet haben ^*
Jener aber wendete ein: „Es ist allerdings richtig, dafs für die Benutzung des
Ochsen als Transportmittels dieser Preis festgesetzt war; aber aufserdem hat
mein Ochse mitten auf dem Wege als Schirm gegen die Hitze gedient; mufs
ich dafür nicht ebenfalls Bezahlung erhalten?** Sie erklärten das für eine
Prellerei, gerieten in heftigen Zorn, widersprachen ihm und erhoben einen
lauten Streit Als der Zank lebhafter wurde, blieben alle Dorfbewohner,
Männer und Weiber, die ab und zu gingen, stehen und hörten zu. Indessen
hatte ein Padeipäschi,*) der das Amt des Richters bekleidete, die Streitenden
beschwichtigt, hörte beide Teile an und fragte sie, ob sie sich der Entscheidung
fugen wollten, welche er aussprechen, und dem Urteile unterwerfen, welches
er fallen würde; dann sprach er wie folgt:
„Ich reiste einst in meiner Heimat, und brachte die Nacht in einer grofsen
Karawanserai zu, wo man aufser der Wohnung für Geld auch Speisen und
Getränke erhalten konnte. Da ich indessen nicht Reisegeld genug besafs, so
sagte ich, dafs ich nichts bedürfte. Man steckte eine grofse Hammelkeule an
einen eisernen Bratspiefs, um sie für die, welche an jenem Tage angekommen
waren, durch Drehen über glühenden Kohlen zu rösten. Dabei dampfte der
Braten in der Hitze fortwährend, und weil der Geruch, den er ausströmen
liefs, sehr angenehm war, glaubte ich, es würde lecker sein, bei dem würzigen
Dufte meinen gekochten Reis zu efsen, den ich bei mir trug, und ich erbat
mir deshalb die Erlaubnis, den Spiefs für einige Zeit drehen zu dürfen. Ich
hielt also meinen Reis über den Dampf, drehte mit der einen Hand den
Bratspiefs, und afs mit der andern, den duftigen Bratengeruch zugleich mit-
geniefsend. Später, als ich abreisen wollte, forderte der Meister der Kara-
wanserai Bezahlung für den genofsenen Duft. Ich wies auf die Ungerechtig-
keit seines Verlangens hin, und wir begaben uns streitend zu dem Richter
des Dorfes. Dieser war ein grofser Schastri und ein höchst verständiger
Mann, tief gelehrt und sehr bewandert in der Kunst des Gesetzes. Hört die
Entscheidung, die er aussprach: Für den, der von dem Braten geniefst, ist
♦) Besondere Art Landbauern.
62 Hermann Oesterlcy.
Geld der Preis; aber für den Genufs des Duftes, der dem Braten ent-
strömt, ist der Geruch des Geldes der Preis: Das ist mein Bescheid. Mit
diesen Worten berief er den Meister der Karawanserai in seine Nähe, drückte
ihm einen Beutel mit Geld unter die Nase, und rieb und scheuerte sie damit
Dieser rief: ,Wehe, wehe! meine Nase fällt ab, ich habe hinreichende Be-
zahlung*. Hört ihr das? ist das nicht Gerechtigkeit, ist das nicht Gesetz?
dasselbe Urteil findet auf euch auch Anwendung. Für die Reise mit dem
Ochsen hierher ist Geld der angemessene Mietpreis, aber für das Sitzen im
Schatten des Ochsen ist der Schatten des Mietgeldes genügend."
Da indessen die Sonne bereits untergegangen war, bestimmte er den
Klang des Geldes als den Preis für den Schatten des Ochsen, ergriff plötzlich
den Ochsentreiber, schlug ihm den Beutel mit Geld wiederholt um die Ohren
und rief; ,, Hörst du?*' worauf dieser erwiderte: „Ach ja, Herr, ach ja, Herr,
ich habe es gehört, ich habe es gewifs gehört, mein Ohr ist wund; genug
Vater, genug der Miete?" Dann sprach der Guni: „Was ich bis jetzt erduldet
habe, genügt mir; ich kann diesen Aerger nicht ertragen. Nimm deinen
Ochsen fort, der Rest der Reise ist kurz, und morgen will ich gemütlich
zu Fufse gehen.** Mit diesen Worten schickte er ihn fort, dann gab er unter
Lob und Preis dem Richter seinen Segen, der den Streit so geschickt bei-
gelegt hatte, und entliefs ihn.
Viertes Abenteuer.
Das Fischen des Pferdes.
Aus Furcht vor der Hitze machte sich der Guru mit seinen Schülern am
folgenden Tage bereit, sobald der Hahn krähte, und sie begaben sich auf den
Weg. Da sie einen trägen Schritt gingen, so bemerkten sie, dafs die Hitze
anfing, sie auszudörren, noch ehe sie einen Kadam zurückgelegt hatten, und
machten deshalb in einem kühlen Wäldchen Halt. Während sie sich dort
erholten, schlug Millichan sich in die Büsche und ging dann in einem nahe-
liegenden Teiche, sich die Füfse zu waschen.
An dem Ufer desselben befand sich ein Tempel Apinars*), an welchem
ein Pferd von neugebranntem Thone stand, das infolge eines Gelübdes dorthin
gebracht und aufgestellt war. Da der Teich voll Wasser und das Wasser klar
war, erblickte Millichan das Bild dieses Thon- Pferdes im Wasser; er ver-
wunderte sich, ein Pferd im Wasser zu finden, aber als er bemerkte, dafs es
in Parbe, Gröfse und Gestalt dem Thon -Pferde ähnlich war, welches am Ufer
stand, stieg der Verdacht in ihm auf, dafs es vielleicht das Abbild desselben
wäre, welches sich unten zeigte.
In diesem Augenblicke indessen schaukelte und kräuselte ein Windhauch
das Wasser und dadurch wurde auch das Pferd darin bewegt; als er nun
bemerkte, dafs das Pferd am Ufer keinerlei Bewegung machte, kam er zu der
Ueberzeugiing, dafs das Pferd im Wasser ein anderes und lebendiges sei; er
schrie deshalb auf, um es fortzutreiben und warf mit einem Steine danach.
Das Wasser geriet dadurch in stärkere Bewegung, und auch das Pferd schien
*) Der Sohn Vischnus.
Die Abenteuer des Guru Paramartan. 63
den Kopf zu erheben, mit den Beinen auszuschlagen und am ganzen Körper
lebend aufzuspringen. Da lief er erschreckt zu den Uebrigen und erzählte
ihnen alles, was er gesehen hatte.
Infolge dessen standen sie augenblicklich auf und eilten zur Stelle, blickten
dort umher und erkannten, dafs Millichan die Wahrheit berichtet ' hatte. Dann
beratschlagten sie, wie das Pferd gefangen werden könnte, aber als keiner von
ihnen sich bereit fand in das Wasser hinabzusteigen und es zu holen, und nach-
dem verschiedene Vorschläge, die der eine und der andere machte, bekämpft
und zurückgewiesen waren, kamen sie überein, das es das beste sei, eine Angel
auszuwerfen, das Pferd zu fangen, wie man einen Fisch zu fangen pflegt, und
es dann ans Land zu ziehen.
Als Angel benutzten sie eine Sichel, die einer von ihnen mit sich fiihrte,
und als Köder brauchten sie ein Bündel Reis, welches sie bei sich trugen,
während sie als Leine den Turban des Guru verwendeten. Sie stachen also
die Sichel durch den Reis, banden den Turban daran, und warfen sie an der
Stelle aus, wo das Pferd sich zeigte. Durch die starke Wellenbewegung des
Wassers, hervorgebracht durch die Kraft, mit welcher die Angel hineingeworfen
wurde, schien das Pferd, welches sich darin zeigte, ebenfalls aufzuspringen, infolge
dessen sie alle vor Angst ergriffen fortliefen. Nur einer von ihnen, der, welcher
den Turban hielt, liefe nicht los, sondern behielt ihn fest in den Fäusten. Nach-
dem die Wellen des Teiches sich beruhigt hatten, ging er vorsichtig näher,
und da er fortu-ährend die Sichel ins Wasser hielt bifs ein grofser Fisch im
Teiche an das Zeug. Als er dies bemerkte, winkte er die anderen mit der
Hand herbei und rief: „Seht hier, das Pferd beifst an". Nach einiger Zeit zog
er den Turban herauf, aber Beutel und Reis waren fort, und infolge dessen
steckte die am Turban befestigte Sichel in einer grofsen Pflanze, die sich unter
dem Wasser ausgebreitet hatte. Da schrieen alle voll Entzücken: „Wenn die
Angel im Maule des Pferdes fest sitzt, ist es unser". Dann zogen sie mit ver-
einten Kräften an dem Turban; aber er war alt, gab nach und plötzlich fielen
sie alle auf den Rücken.
In dem Augenblicke als sie niederstürzten, kam ein gutmütiger Mensch
des Weges, und fragte, was geschehen sei. Sie berichteten ihm alles, wie es
gekonunen war, er erkannte ihre Einfaltigkeit, verschleierte das Thonpferd am
Ufer mit einem Tuche, zeigte ihnen, dafs das Pferd im Wasser auf dieselbe
Weise verdeckt war, und benahm ihnen so ihre Täuschung.
Sie zeigten dem Manne dann den Guru, erzählten ihm aufs Genaueste,
wie sie, ohne Mittel, ein Pferd zu kaufen, das ihnen bei der Altersschwäche
des Meisters unentbehrlich geworden wäre, ein Pferde -Ei gekauft hätten, wie
es zerbrochen sei, und welchen Aerger sie mit dem gemieteten Ochsen gehabt
hätten. Er sah, dafs sie gutgesinnt und Menschen ohne Falsch waren, hatte
Mitleid mit ihnen und sprach: „Ich besitze ein lahmes Pferd, es ist zwar alt,
aber es wird für Reisen, wie ihr sie macht, brauchbar sein ; Fanam und Kahu*)
sind unnötig, ich gebe es euch umsonst. Kommt alle zu meinem Hause".
So sprechend nahm er sie mit sich fort.
*) Engl. cash.
04 Hermann Ocsterley.
Fünftes Abenteuer.
Die Heimkehr zu Pferde.
Der gutmütige Mann brachte sie also zu dem Dorfe, in welchem er wohnte.
Eis war kein reicher Mann, er war sogar arm, aber er war wohlthätig; so setzte
er ihnen eine Mahlzeit vor, bei welcher weder Ghi, noch Milch, noch Tyer
fehlte, gab ihnen Betel -Blätter, Nüsse und Tabak und versah sie mit allem
Erforderlichen im Ueberflusse.
Am folgenden Morgen liefs er das Pferd holen, welches auf seinen Feldern
graste, stellte es vor den Guru und über^b es ihm als Geschenk. Neben
seinem Alter war das Tier auf einem Auge blind, eines Ohres beraubt, auf
einem Vorderbeine lahm und auf einem Hinterbeine hinkend, so dafs es zu
der Jammergestalt des Guru sehr gut pafste. Trotz dieser seiner Beschaffen-
heit waren sie alle hoch erfreut, dafs sie ein Pferd besafsen und dafs sie es
umsonst erhalten hatten. Sie umstanden es und überhäuften es mit Liebkosungen:
dieser klopfte es mit der Hand, jener ergriff ein Bein und umschlang es; der
eine erfafste es beim Schwanz und zog daran, der andere wischte ihm die
Augen aus, während der dritte es futterte und ihm Gras ins Maul zwängte.
Dann suchten sie nach dem Sattelzeuge, und der Geber des Pferdes
schenkte ihnen auch einen alten zerrissenen Sattel. Da indessen der Schwanz-
riemen fehlte, pchafflen sie Stengel von Pdleikodi*) herbei und banden sie
daran; und da ferner am Zaume kein Zügel war, ersetzten sie ihn durch
zusammengedrehtes Heu. Nachdem sie sich alle mögliche Mühe gegeben
hatten, einen Bauchriemen und Sattelgurt zu erhalten, aber keinen schaffen
konnten, ging Matti zu einem benachbarten Dorfe und kaufte beides nebst
einem Sprungriemen.
Als sie so ein vollständiges Reitzeug besafsen, waren die Tage des
Unglücks vorüber, und im glücklichen Zeitpunkte, den Regeln der Astrologie
gemäfe, begleitete sie das ganze Dorf rufend und schreiend hinaus, und der
Guru Paramärtan wurde zu Pferde an die Spitze des Zuges gestellt. Einer
von den fünf Schülern hatte den Zügel erfafst und zerrte das Tier von^'ärts,
ein anderer ging am Schwänze, schrie und trieb es an. Zwei andere gingen
zu beiden Seiten, hielten die Beine des Guru und stützten ihn, während der
letzte voraus ging, als Herold fungirte und ausrief: „Seht euch vor, seht euch
vor; nehmt euch in Acht"; und so zogen sie dahin.
Als sie vergnügt eine beträchtliche Strecke zurückgelegt hatten, kam
der Weggeld -Sammler hinter ihnen her gerannt, hiefs sie anhalten, und ver-
langte fiinf Fanams für das Pferd. Auf dieses Ansinnen erwiederten sie
schreiend: „Was! Zoll für ein Pferd, welches ein Guru reitet? Hat das irgend
etwas mit Geschäften zu thun? Dieses Pferd ist die milde Gabe eines Mannes,
der einsah, dafs der Guru nicht im stände war, zu Hause zu gehen: welchen
Zoll gibt es dafür? Es ist eine Ungerechtigkeit". Als er sie aber bis zum
späten Nachmittage nicht frei lassen wollte, sahen sie keinen andern Ausweg
und gaben ihm die fünf Fanams. Der Guru indessen überlegte, dafs dieser
Verdrufs nicht vorgekommen sein würde, wenn er ohne Pferd gewesen wäre,
und war in grofser Not.
*) Schmarotzer - Pflanze.
Die Abenteuer des Gum Paramärtan. 65
Sie gingen dann, sich in einer naheliegenden Karawanserai zu erfrischen,
und der üuru äufeerte sich in bitteren Klagen einem gutmütigen Manne
gegenüber, den er dort traf. „Seit dem Tage meiner Geburt", sprach er,
„habe ich kein Pferd bestiegen, und heute, wo ich zum erstenmale reite,
mufs ich eine solche Ungerechtigkeit erdulden. Kann das Geld ihnen Vorteil
bringen, welches sie auf so ungerechte Weise erlangen, wie Diebe, die ver-
brecherisch den Weg belagern? Wird das Geld, bei dessen Empfang mir
das Herz brennt, ihnen nicht zu Feuer werden?" Der Andere erwiderte:
„Das ist der Charakter der Zeit, Meister; heutzutage ist Geld der Guru,
Geld die Gottheit; wir kennen seit alfer Zeit den Spruch: Wo das Geld nur
erwähnt wird, da öffnet selbst eine Leiche den Mund. Heutzutage, Meister,
gibt es keine andre Sorge oder Liebe, als Geld". Der Guru erwiderte:
„Es gibt jetzt Menschen, die sich nicht bedenken würden, das Geld selbst
vom Miste aufzulecken*-. Jener versetzte: „Kann man daran zweifeln? und
selbst das, Meister, finden sie nicht stinkend; hört einen Beweis davon:
Ein gewisser König, der seinem Reiche schon alle Arten von Steuern
auferlegt hatte, die bis dahin nicht bekannt waren, erhob endlich auch auf
den Urin eine Steuer. Dies war selbst für seinen Sohn zu viel; er machte
seinem Vater Vorstellungen, und erklärte es fiir eine Schande, eine so
stinkende Steuer einzufordern. Der König entliefs indessen seinen Sohn ohne
Antwort. Es vergingen viele Tage, und nachdem das Geld für die neue
Steuer eingegangen war, liefs der König seinen Sohn kommen, forderte ihn
auf an das Geld zu riechen, und fragte: „Stinkt es?" Der Sohn dachte an
keinen geheimen Sinn und antwortete, es röche ganz gut, worauf der König
erwiderte: „Es ist das Geld von der Urinsteuer! Versteht ihr? es ist genug,
wenn das Geld nur kommt; gleichviel, woher es kommt".
Nachdem sie auf solche Weise den Tag in lebhafter Unterhaltung ver-
bracht hatten, bestieg der Guru abends wieder sein Pferd, und als sie eine
Strecke zurückgelegt hatten, machten sie in einem Weiler Halt. Sie banden
das Pferd nicht an, sondern liefsen es während der Nacht auf der Weide,
und als sie es am andern Morgen suchten, war es nicht zu finden. Sie gingen
suchend von Haus zu Haus, und erfuhren endlich, dafs ein Mann das Pferd
auf seinem Felde fest gebunden habe. Als sie diesen baten, es ihnen zurück-
zugeben, antwortete er: „Es hat die ganze Nacht von meinem Korn gefressen,
wodurch ich schweren Schaden erlitten habe, und ich werde es bestimmt
nicht hergeben". Infolge dessen ging der Richter des Dorfes selbst zu ihm,
aber obwohl dieser mit Bitten und Drohungen ihn umzustimmen versuchte,
erklärte er, er werde das Pferd nur unter der Bedingung hergeben, dafs er
seinen Schaden ersetzt bekomme. Es versammelte sich also eine Anzahl*) von
Leuten, die den Schaden untersuchten, der durch das Grasen entstancfen war;
sie schätzten ab, was niedergetreten und was abgeweidet war, und erklärten
endlich, dafs der Schaden zehn, oder zum mindesten acht Fanams betrage.
Schliefslich vereinigten sie sich zu einem Ersätze von vier Fanams, der Mann
erhielt sein Geld, und gab das Pferd zurück.
Was den Guru anlangt, so war er in grofser Not und sprach: „Wozu
besitze ich dieses Pferd? Wie viele Ausgaben, wieviel Verdrufs, wie viele Herab-
setzung ist aus seinem Besitze entstanden, und alles dieses, meine Freunde,
*) Wörtlich: vier.
Ztschr. f. vgl. Litt-Gesch. L
66 Hermann Oesterley.
vereinigt sich schlecht mit meiner Würde," dabei fafste er den festen Entschlufs,
za Fufse zu gehn. Aber sowohl seine Schüler wie die Dorfbewohner riefen:
„Pfui, pfui, das schickt sich schlecht für euch, und aufsedem seid ihr nicht im
Stande zu Fufse zu gehn." Dies alles hörte ein gewisser Nalluvan*) und sprach:
„Ihr braucht euch nicht zu sorgen, Meister. Ohne Zweifel ist all dieses Unglück
durch einen Zauber über euch gekommen, mit dem das Pferd behaftet ist
Wenn ihr eine Ausgabe ein für allemal nicht scheut und mir fünf Fanams
gebt, so will ich diesen Zauber beschwören und beseitigen. Sie dachten an
den Spruch: „Kein Geschäft kann gemacht werden, wenn man Ausgaben
scheut", willigten ein, ihm das Geld zu* geben, und sagten ihm, er möge den
Zauber austreiben.
Da verrichtete der Nalluvan, um sie zu tauschen, verschiedene Zere-
monien, pflückte einige grüne Blätter, streute sie über das Pferd und rief:
„Muna, muna! ach! oh!" Er ging dreimal rechts um das Pferd herum, be-
tastete und streichelte es vom Schwänze bis zum Kopfe, ergrif!" das übrig-
gebliebene Ohr und sprach: „In diesem Ohre sitzt der ganze Zauber. Um
einen ähnlichen Zauber auszutreiben, ist in früherer Zeit das andere Ohr ab-
geschnitten. Wenn wir nun dieses Ohr ebenfalls abschneiden, wird der gegen-
wärtige Zauber gelöst und beseitigt werden." Damit wetzte er sein Messer,
schnitt das Ohr ab und trug es schnell an einen entlegenen Ort, dafs der
Zauber niemand Schaden thäte. Dort gruben sie eine tiefe Grube, warfen es
hinein und bedeckten es mit Erde, bezeichneten den Ort und gingen fort
Als der Tag damit zu Ende war, reisten sie am andern Morgen ab und
kehrten nach ihren vielen Widerwärtigkeiten in den Mattam zurück.
Sechstes Abenteuer.
Die Prophezeihung des Brähman.
Nach seiner Ankunft im Mattam war der Guru in hohem Grade nieder-
geschlagen. Das geschenkte Pferd war freilich sehr mangelhaft, aber es war
doch ein sehr grofees Glück für ihn, dafs er es ohne Ankauf erhalten hatte;
er grübelte indessen den Widerwärtigkeiten und Unglücksfallen nach, die aus
dem Besitze des Pferdes entstanden, sie unterwegs heimgesucht hatten; er litt
schwer unter seinen Sorgen, versammelte deshalb seine Schüler um sich und
erteilte ihnen seinen weisen Rat „Ich erkenne täglich mehr und mehr, meine
Brüder, dafs die Freuden der Welt nur falsche Freuden sind. Gutes unver-
mischt mit Bösem, Süfses unvermischt mit Bitterm und Freude unvermischt
mit Kummer ist hier unerreichbar. Weh, weh! waren wir nicht hocherfreut,
als wir durch Mildthätigkeit ein Pferd erhalten hatten, ohne dafür zu bezahlen?
Ihr seid Zeugen der traurigen Vorkommnisse gewesen, welche an demselben
Tage unmittelbar diesem glücklichen Ereignisse folgten. Müssen wir solche
Bitterkeit schlucken, um einen einzigen Tropfen Honig zu lecken? Ach, selbst
das Reiskorn hat seine Hülse und alles Obst hat Schale und Stein. Das ist
freilich alles wahr; aber gleichwohl war es des Bösen, welches ich im Laufe
eines Tages erduldet habe, zu viel. Es ist sicherlich ungesund fiir mich, auf
*) Eine Art Parias, die sich auch mit Beschwören beschäftigen
Die Abenteuer des Guru Paramdrtan. 67
hinein Pferde reitend umherzuziehen. Soll ich die Kühnheit haben, mich wider
das Schicksal des Himmels aufzulehnen? Nein, nein. Es wird also angemessen
sein, das Pferd wieder zurückzuschicken." Diesen Worten widersprachen aber
alle Schüler aus einem Munde : „Das darf nicht sein, das darf nicht sein. Redet
nicht so, Meister. Ist dies ein Pfera, das wir gekauft haben? Ist es ein Pferd,
um welches \vir uns bemüht haben? Gewife nicht; es ist freiwillig gekommen,
als eine Hülfe der Vorsehung; ist es nicht so? Wenn wir es ziuückschicken,
werden wir im Widerspniche mit dem göttlichen Willen handeln; würde das
recht sein? Es würde im Gegenteil eine Sünde sein, Meister. Zudem haben
wir jetzt nichts mehr zu besorgen, wo der Nalluvan den Zauber ausgetrieben
hat, der das Pferd beherrschte."
Indem sie diese wie manche andere Gründe weitläufig auseinandersetzten,
fafete der Guru wieder guten Mut und sprach: „Sei es, wie ihr sagt. Damit
indessen für die Zukunft ein Unglück vermieden wird, wie es uns damals be-
troffen hat, wird es nicht angehen, das Pferd nachts auf die Weide zu schicken,
sondern wir müssen es entschieden im Hause festgebunden halten und ich
weifs dafür keinen Ort Da sprach P6dei : „Was bedarf es dabei langer Ueber-
legung? Ich will gleich gehen und einige Aeste abhauen und herbringen;
dann will ich in kurzer Zeit an der Ecke einen hübschen Stall aufbauen."
Er machte sich sofort auf den Weg, kletterte auf einen grofsen Pagoden-
baum, der am Wege stand, und begann mit der Axt einen gerade hervor-
stehenden Ast abzuhauen. Aber er safs dabei am Ende und hieb den Teil
zunächst am Stamme ab. Dies sah ein reisender Brähman, der des Weges
kam, und rief: „Höre, Bruder, setze dich nicht so, sonst wirst du mit dem
Aste herabfallen." Jener erwiderte: „Kommst du mir mit dieser bösen Pro-
phezeihimg?" Damit schleuderte er ein Messer auf den Brähman, welches er
im Kleide stecken hatte, der andre aber dachte: „Lafs den Narren durch
Schaden klug werden", ging fort und machte sich aus dem Staube.
Was P^dei anlangt, so hieb er weiter, blieb ebenso sitzen, wie er vorher
gesessen hatte und als der Ast halb durchgehauen war, brach er und Pedei
fiel mit ihm herab. „O weh, o weh!" klagte er, „der Brähman ist ein
grofser Schästri, ein mächtiger Prophet; es ist genau so gekommen, wie er
vorausgesagt hat" Mit diesen Worten stand er rasch auf und rannte dem
Brähman nach, um ihn einzuholen. Als dieser ihn plötzlich auf sich zueilen
sah, blieb er erschreckt stehen, ungewifs, was dieses sinnlose Geschöpf vor-
hätte. Pedei näherte sich, machte seine Verbeuguug und sprach: „Meister,
ihr seid ein g^rofser Schästri, ich bitte euch, prophezeit mir noch einmal;
ich bin der Schüler des Guru Paramärtan, für welchen ich tiefe Zuneigung
fühle. Da er alt und schwach ist, so befiirchte ich, dafs er in kurzer Zeit
sterben wird. Deshalb bitte ich nun, sagt mir zu meinem Tröste, wann sein
Ende kommen wird und welches die Zeichen sind, die vorher erscheinen
werden."
Der Brähman machte verschiedene Ausflüchte, um von ihm loszu-
kommen; als aber der andre ihn nicht verlassen wollte, sprach er endlich:
^.Asanam schitam jfvananäscham". „Was heifst das, bitte, sagt mir, was es
bedeutet," flehte der andre ungestüm. Der Brähman erwiderte: „Sobald
die Lenden deines Guru kalt werden, wirst du ein Zeichen haben, dafs sein
Tod herannaht."
5*
68 Hermann Ocstcrley.
Darauf machte Pedei seine Verbeugung und entfernte sich. Dann
schleppte er den Ast, den er abgehauen hatte, zum Mattam und berichtete
in allen Einzelnheiten, was geschehen war. Der Guru versank darüber in
tiefe Traurigkeit und sprach also: „My kann nicht behaupten, dafs der
Brähman nicht ein grofser Schästri ist, denn alles ist dir genau so begegnet,
wie er vorausgesagt hatte. Ebenso mufs die Prophezeihung unfehlbar sein,
die er ausgesprochen und mir zugeschickt hat. ,Asanam schitam jivana-
nascham^ ist ein wahres Wort. Für die Zukunft ist grofse Vorsicht nötig;
meine Füfse dürfen nie mehr gewaschen werden, und im übrigen geschehe
der Wille der Gottheit."
Siebentes Abenteuer.
Der Fall vom Pferde.
Nachdem die obenerwähnte Vorsicht eine Zeitlang geübt war, begaben
sie sich auf eine Reise durch die Dörfer, getrieben durch die Betrachtung,
dafs die Schüler ihr Geld sammeln könnten, wenn sie im Bezirke umher-
zögen, dafs sie aber im Mattam keine Einnahme zu erwarten hätten.
Auf ihrem Rückwege zum Mattam stiefs der Turban des Guru, der
auf seinem Pferde einherzottelte , an einen herabhängenden Baumast und
fiel zur Erde. Er glaubte, seine Schüler würden ihn aufheben, ritt eine gute
Strecke weiter und fragte dann: „Wo ist mein Turban? gebt ihn mir." Sie
antworteten: „Er ist dort und liegt vermutlich noch an der Stelle, wo er
niedergefallen ist." Der Guru wurde ärgerlich darüber und sprach: „Mufs
man nicht alles aufnehmen, was heruntergefallen ist?" Madeipan lief also
unverzüglich fort und als er den herabgefallenen Turban zurückbrachte, den
er aufgehoben hatte, legte er etwas dünnen Mist hinein, der von dem Pferde
ausgeleert war (denn es hatte Gras gefressen, welches infolge nächtlicher
Regenschauer ungesund geworden war) und übergab ihm dem Guru.
Dieser geriet darüber in heftigen Zorn und rief: „Pfui, pfui!" Sie
aber entgegneten einmütig: „Wieso, Meister? Habt ihr uns vorhin nicht an-
gewiesen und gesprochen, man müsse alles aufheben, was herabfalle? und
jetzt, wo Madeipan dieser Anweisung gemäfs handelt, geratet ihr in Zorn?
warum das?" Der Guru erwiderte: „Nicht also. Es gibt einige Dinge, die
man aufheben mufs, und andre, die man nicht aufheben mufs. Ihr solltet
mit einiger Einsicht handeln." Sie entgegneten darauf: „Dazu sind wir nicht
gescheut genug." Dann baten sie ihn, alles einzeln niederzuschreiben, was
sie aufzuheben hätten, und er schrieb es demgemäfs nieder.
So zogen sie weiter, und da der Boden feucht und schlüpfrig war,
stolperte das lahme Pferd, das bei jedem Schritte wankte, und fiel nieder.
Der Guru stürzte kopfüber in ein grofses Loch, schrie um Hilfe und brüllte:
„Lauft und hebt mich auf". Die Schüler eilten herbei. Einer von ihnen
zog den Kadjan*) hervor, den jener vorher beschrieben und ihnen gegeben
hatte, und begann folgendermafsen zu lesen: „Aufzuheben ein gefallener
Turban; aufzuheben ein gefallenes Brusttuch und Schultertuch; aufzuheben
*) Palmblatt, zum Schreiben benutzt.
Die Abenteuer des Guru Paramärtan. 69
gefallene Jacken und Hosen. Dabei nahmen sie ihm jedes Kleidungsstück
einzeln ab, wie es verlesen wurde, bis der Guru nackt dalag, und sie be-
harrten trotz all seiner Bitten und all seiner Wut bei ihrer Weigerung, weil
es auf dem Kadjan nicht geschrieben stände. „Meister", sprachen sie, „wo
steht es geschrieben, dafs ihr aufgehoben werden müfet? zeigt es uns; wir
wollen genau thun, wie es geschrieben steht, aber wir werden niemals ein-
willigen, etwas zu thun, was nicht niedergeschrieben ist." Da er bei ihrer
Halsstarrigkeit keinen anderen Weg zur Rettung fand, nahm er Kadjan und
Stift und schrieb auf der Stelle wo er lag: „Und wenn ich falle, so müfst
ihr mich aufheben."
Als die Schüler sahen, dafs es geschrieben stand, kamen sie einmütig
herbei und hoben ihn auf. Sein Körper war vollständig mit Schmutz be-
deckt, da das Loch, in welchem er gelegen hatte, voll Kot war, und sie
wuschen ihn deshalb in einem nahestehenden Wasser ab. Darauf legten sie
ihm seine Kleider wieder an, hoben ihn aufs Pferd und führten ihn zum
Mattam.
Achtes Abenteuer.
Der Tod des Guru.
In der grofsen Aufregung und Geschäftigkeit bei dem Falle des Guru
in das Loch dachte niemand an die Prophezeihung, welche der Brahman
früher ausgesprochen hatte. Erst als er wieder aufs Pferd gestiegen war und
die Kälte seiner Lenden bemerkte, erinnerte er sich derselben mit schwerer
Sorge. Gleichwohl sprach er nicht davon, bis sie in den Mattam zurück-
gekehrt waren.
Bei der Schwere des Falles in seinem hinfälligen Alter fand er während
der Nacht keinen Schlaf, sondern warf sich ruhelos umher und litt grofse Not
bei dem Gedanken an die erwähnte Prophezeihung. Er täuschte sich nicht
mit der Annahme, dafs die Schmerzen, die seinen Körper durchwühlten und
seine Schlaflosigkeit veranlafsten, in dem Sturze vom Pferde ihren Grund hätten,
er hegte vielmehr die feste Ueberzeugung, dafs alles von seinem herannahenden
Tode herrühre, herbeigeführt durch die Kälte seiner Lenden. Dieser Gedanke
entsetzte und peinigte ihn die ganze Nacht hindurch; und unfähig, auch nur
für einen Moment die Augen zu schliefsen, stöhnte er häufig, und liefs bei
Tagesanbruch, getrieben von den ruhelosen Zustande seines Innern, seine
Schüler herbeirufen.
Als sie kamen und ihn erblickten, bemerkten sie mit Schrecken, dafs
sein Aussehen sich verändert hatte : die beiden Augen waren in ihre Höhlen
eingesunken, sein Gesicht war verwelkt und susammengeschrumpft und hatte
eine blasse, mit braun untermischte Farbe angenommen, sein Mund war
trocken, seine Sprache verwirrt und er stierte wie ins Leere. Er ächzte tief
auf und sprach: „O meine Brüder, legt mich ins Grab, und verrichtet die
Begräbnis -Ceremonien über meiner Leiche". „Wie so, Meister?" fragten sie
entsetzt. „Wie so!" erwiederte der Guru, „habt ihr denn die Worte ver-
gessen: Asanam schitam jivananäscham? Das Loch, in welches ich gestern
fiel, war voll Schmutz und Wasser, und infolge dessen wurden meine Lenden
70 Hermann Ocstcrlcy.
nafs. In meinem Unglücke dachte ich nicht daran, später aber bemerkte
ich, dafs meine Lenden sehr kalt waren, und ich gedachte des Schäster,
welchen der Brähman ausgesprochen hatte. Daher habe ich die ganze Nacht
hindurch Schmerzen an Leib und Seele erduldet, habe nicht den geringsten
Schlaf gefunden, und also ist es mir völlig klar, dafs mein Tod herannaht
Weitere Ueberlegung ist unnütz, trefft schleunig Vorbereitungen zu meinem
Begräbnisse**.
Die Schüler waren bei dem Gedanken an jene Voraussagung ebenfalls
entsetzt, aber obwohl entsetzt, verrieten sie sich doch nicht, sondern unter-
drückten ihre innere Angst und wandten jede Art von Trost an, um die
Seele des Guru zu beruhigen. Als sie sahen, dafs trotz allem, was sie
sagten, die Not seines Herzens nicht nachliefs, liefsen sie Asangadan*), den
Sohn Aschedanamurtis**) holen, der früher der Wahrsager des Dorfes gewesen
war, und trugen ihn auf, den bösen Geist auszutreiben, von dem ihr Guru
besessen sei, und ihm Trost zu bringen. Nachdem Asangadan alles erfahren
hatte, was vorgegangen war, erschien er und fragte, Augen, Mund und Nase
verzerrend: „Was fehlt euch, Meister? Sprecht, welches Leiden ist über euch
gekommen, welcher Schmerz, welcher Kummer, welche Betrübnis? Mein
Guru! mein Meister! mein Vater?** Auf alles dieses hatte der Guru keine
andere Antwort, als den Spruch: Asanam schftam jivana nascham. Jener
erwiderte darauf: „Wohlan denn, der Brahmann hat erklärt, dafs die Kälte
der Lenden euer Tod sein werde und ich will machen, dafs die Hitze seines
Rückens sein Tod wird. Zeigt tnir jenen Brähman, ich will das Reisschläger-
Opfer auf ihm verrichten, und damit alles Uebel austreiben und beseitigen»
welches durch seine Schuld angerichtet ist: zeigt ihn mir, zeigt ihn mir augen-
blicklich**.
„Gibt es ein Opfer, welches das Reisschläger -Opfer heifst?** fragte der
Guru, „ich habe niemals von einem solchen Opfer gesehen oder gehört; sagt
mir was es ist**. Da antwortete Asangadan und sprach: „Diese Art des
Opfers ist freilich ein Opfer, welches unter den Udsamayams und Purrech-
chamayamsl) nicht gefunden wird; hört mir aufmerksam zu.
„Es lebte einst ein Kaufmann, der ein grofser Verehrer Schivans war,
und der in dem Wunsche, täglich an Pandärams++) Speise auszuteilen, sie zu
einer Mahlzeit einzuladen pflegte, wo er sie auch traf. Er besafs keine Kinder;
aber was die Frau anlangte, die er geheiratet hatte, so war es eine grofse
Plage für sie, auf solche Weise täglich einigen Pandärams Reis zu bereiten
und aufzutragen, und die Handlungsweise ihres Gatten war ihr durchaus nicht
angenehm. Da sie indessen wufste, dafs er es nicht dulden würde, wenn sie
ihm über diesen Gegenstand etwas sagte, so verfiel sie auf eine List Als
der Kaufmann eines Tages auf den Bazar war, rief er einen Pandarara an,
dem er begegnete und sprach: Meister, ich wünsche heute in meinem Hause
Almosen zu verteilen, und da dieser die Einladung annahm, fügte er hinzu i
Ich bin in diesem Augenblicke noch auf dem Bazar beschäftigt, geht in mein
*) Der Spötter.
**) Der Widersinnige.
t) Indisciie Secten.
tt) Eine Art Bettelmönche.
Die Abenteuer des Guru Paramärtan. 71
Haus, bringt meiner Frau Nachricht, und wartet bis ich komme. Der Pan-
däram ging fröhlich fort und überbrachte die Botschaft des Kaufmannes an
dessen Gattin. Diese sah, dafs er niemals vorher dagewesen war, und ant-
wortete: „Gut; ich bitte euch, bleibt hier". Mit diesen Worten bereitete sie
eine Matte auf der Bank des Hauses aus. Dann begann sie sofort den Vor-
platz gründlich zu reinigen, bestreute ihn überall mit gedörrtem Kuhmist,
wusch sich Füfse und Hände und ergriff dann mit grofser Feierlichkeit den
Reisschläger. Sie bestrich ihn überall mit Asche, rieb sich gleichfalls ein,
stellte ihn dann mitten in den Vorplatz, warf sich dreimal vor ihm nieder
und murmelte Zaubersprüche. Als sie diese vollendet hatte, wischte sie den
Reisschläger wieder ab und stellte ihn an seinen alten Ort. Der Pandäram,
der alles beobachtet hatte, sprach voll Erstaunen: „Ich bin eben Zeuge einer
Scene gewesen, die ich bis zu diesem Tage niemals gesehen habe. Bitte,
sagt mir, welche Art von Opfer dieses ist'*. Sie erwiderte: „Dieses Opfer
ist der Gottheit unserer Kaste eigentümlich, ihr werdet es nachher gut genug
verstehen". Indem sie ins Haus trat fugte sie, wie zu sich selbst sprechend,
leise hinzu: „Es wird auf eurem Kopfe zu Ende gebracht werden". Obwohl
sie leise sprach, erreichten doch ihre Worte, wie sie beabsichtigt hatte, das
Ohr des Pandäram. Dieser dachte: „Ich bin durch die Vorsehung dem Tode
entronnen", und machte sich geräuschlos aus dem Staube, sobald die Kauf-
mannsfrau ins Haus getreten war. Kaum war er fortgegangen, als der Kauf-
mann zurück kam und fragte: „Weib, wo ist der Pandäram, den ich her-
geschickt habe?" Sie erwiderte: „Das war ein schöner Pandäram, den ihr
diesmal hergeschickt habt, nicht wahr? Sobald er ankam, bat er mich, ich
möchte ihm den Reisschläger geben; ich antwortete, der Kaufmann würde
im Augenblicke hier sein, ich dürfe ihn ohne Erlaubnis nicht hergeben, er
möge ein Weilchen warten. Mit diesen Worten breitete ich die Matte für
ihn aus, wie ihr seht, aber er ging augenblicklich fort ohne auf meine
Worte zu hören". Der Kaufmann entgegnete: „Nicht also, Weib; du hast
die Erlaubnis, den Pandärams alles zu geben, was sie auch verlangen
mögen". Mit diesen Worten nahm er den Reisschläger in die Hand und
ging auf die Strafse um den Pandäram zu suchen und ihn ihm zu geben.
Der Pandäram hatte sich in der Strafse versteckt, um zu sehen, wie die
Sache ablaufen werde, und als er bemerkte, dafs der Kaufmann mit seinem
Reisschläger herankam, dachte er: „Sieh, sieh, er kommt, das Opfer auf
meinem Kopfe zu vollenden", und machte sich davon. Der Kaufmann rannte
hinter ihm her und rief: „Pandäram, Pandäram", während dieser immer eiliger
lief, bis endlich der Kaufmann seines vorgerückten Alters und seines dicken
Bauches wegen nicht mehr laufen konnte und nach Hause ging. Das ist das
Reisschläger -Opfer; und ihr, Meister, werdet eben so wenig sterben, wie der
Rücken des Brähman heifs werden wird, wenn ich dasselbe auf seinem
Hinterteile vollbringe."
Der Guru Paramärtan lachte darüber und sprach: „Mit Recht werdet
ihr Asangadan genannt, denn ihr treibt immer Späfse." Da der andere sah,
dafs der Guru lachte, liefs er den Scherz fallen, und nahm seine Rede wieder
auf. „Die Worte Meister, welche der Brähman gesprochen hat, sind freilich
der Wahrheit gemäfs; man mufs indessen die Bedeutung derselben richtig
verstehen. Es ist wahr, dafs es ein Zeichen des Todes ist, wenn man Kälte
in den hinteren Teilen bemerkt; aber nur dann wird geschehen, was jener
72 Die Abenteuer des Guru Paramärtan.
ausgesprochen hat, wenn eure Lenden ohne äufsere Ursache kalt geworden
sind. Ihr seid in Wasser und Schmutz gefallen; ist es ein grofses Wunder,
wenn infolge davon eure Lenden kalt wurden? Es würde vielmehr ein
Wunder sein, wenn ihr in diesem Falle nicht kalt geworden wäret. So lafet
nun diesen Kummer fahren. Wenn ihr in Zukunft, ohne euch in den Schmutz
zu setzen und ins Wasser zu fallen , oder ohne irgend eine andere äu&ere Veran-
lassung den Asanam schitam bemerkt, dann mögt ihr daraus schliefeen, dafs
der jirana näscham nahe ist. Alles weitere, Meister, ist Unsinn." Was Asan-
gadan sprach, leuchtete dem Guru ein und erschien ihm vernünftig; er
erholte sich daher einigermafsen, stand auf und begann wieder zu essen, zu
plaudern und umherzugehen.
Aber es waren nur wenige Tage auf diese Weise vergangen, als nachts,
während der Guru schlief, ein langer und heftiger Regenschauer fiel Infolge-
dessen träufelte das Wasser vom Dache herab auf das Bett des Guru, dicht
bei seinen Lenden; er bemerkte das indessen nicht, weil er schlief. Nachdem
nun der Regen, und damit auch das Tröpfeln aufgehört hatte, drehte er sich
im Schlafe herum und legte sich mit dem Rücken unmittelbar auf den nafsen
Fleck. Dadurch kalt geworden, erwachte er plötzlich, und als er bemerkte,
dafs seine Lenden vollständig kalt waren, gelangte er zu der Ueberzeugung,
dafe diesmal keinerlei äufeere Veranlafsung des Kaltwerdens vorläge, und dafe
die Stunde seines Todes gekommen sei.
Die Schüler, die ebenfalls keine äufsere Ursache für die Kälte entdeckten,
nahmen sog^r an, dafe die Kälte des Bettes von der Kälte der Lenden her-
rühre, und glaubten deshalb, die Zeit sei gekommen, in der die Prophezeihung
des Brahman sich erfüllen sollte. Auch die Genofeen seiner Kaste, welche ihn
zu besuchen kamen und die ungefähr eben so viel V^erstand hatten, wie er
selbst, stimmten mit allem überein, was ges*^ wurde, während der Guru keine
andere Ant\vort für die Besuchenden hatte, als: Jetzt, ohne Zweifel Asanam
schftam jivana näscham.
Unfähig, die zunehmende Niedergeschlagenheit und die fortwährende
Abnahme seiner Körperkräfte zu ertragen, die er von Tag zu Tag erdulden
mufste, fiel er eines Tages in Ohnmacht. Da begannen sie alle zu klagen,
legten sich die Hände auf den Kopf, weinten und heulten und riefen: Wehe,
wehe! er ist gestorben, er ist tot!** und nachdem sie die Totenzeremonien
verrichtet hatten, machten sie Anstalten, ihn zu baden.
Zu diesem Zwecke füllten sie einen grofsen Trog, den sie im Mattam
hatten, vollständig mit Wasser, stiefsen den vermeintlichen Leichnam hineia,
drückten ihn nieder, und einige von ihnen begannen ihn zu reiben und zu
waschen. Während dieser Waschung erwachte er aus seiner Ohnmacht, aber
da er unter dem Wasser keinen Athem schöpfen konnte, und unfähig war,
irgend welche Zeichen mit Händen oder Füfeen zu machen, welche die
Schüler zusammenprefsten, fand der Guru durch die Hand dieser Dumm-
köpfe seinen Tod.
Es versammelte sich dann eine grofse Menge Menschen, die ihn auf-
recht auf eine mit Blumen geschmückte Bahre setzten, ihn aufhoben und
sich vorn, hinten und von den Seiten zusammendrängten. Darauf kamen
seine Schüler und brachten ihn unter dem Gesänge „Asanam schftan jivana
näscham" fort, senkten ihn in die Grube und bestatteten ihn.
VERMISCHTES,
Beiträge zur Litteratur des Volksliedes.
Von
Otto Boeckel.
n meiner Sammlung „Deutsche Volkslieder aus Oberhessen" (Marburg 1885)
habe ich Lieder, wie sie gegenwärtig in bestimmten örtlichen Bezirken
gesungen werden, veröffentlicht. Ich teile hier noch weitere Lieder mit, die
ich als noch lebende aus dem Volksmund aufzeichnen konnte. Wenn es
meist auch allbekannte Texte sind, so ist es doch einerseits wichtig festzu-
stellen, wie viel, wir müssen leider sagen, wie wenig von dem alten uner-
mefslichen Reichtum sich heute noch lebendig im Besitze des Volkes erhalten
hat, andererseits zu sehen, welche Aenderungen mit dem Texte vor sich ge-
gangen, welche, sei es nun mehr oder weniger einschneidende Umgestaltung
das Lied erfahren hat. Wenn ich daran anknüpfend der internationalen
Verbreitung des einzelnen Volksliedes vergleichend nachgehe, so mag wie
für mich selbst so auch fiir manch anderen es doch einen eignen Reiz haben,
zu verfolgen, wie das in unseren Tagen noch von Bauern eines entlegenen
Dorfes gesungene echt deutsche Lied zugleich der Weltlitteratur angehört
Ich beginne mit einem der bekanntesten und schönsten Volkslieder, das ich
in der hier folgenden Form zu Lohra bei Frohnhausen aus dem Volksmunde
aufgezeichnet.
i) Liebesprobe.
i) Es stand eine Lind im tiefen Thal,
War oben breit und unten schmal.
2) Darunter zwei Verliebte safsen.
Die Freud' fiir Leid vergafsen.
3) „Feines Liebchen, wir müssen auseinander,
Ich mufs noch sieben Jahr wandern.*'
4) „Mufst du es noch sieben Jahr wandern,
Heirat* ich mir keinen andern."
74
Otto Boeckel.
5) Und ak nun sieben Jahr um waren,
Da ging sie in den Garten,
Feinsliebchen fein zu erwarten.
6) Ich ging wohl in das grüne Holz,
Da kam ein Reiter geritten, war stolz.
7) „Gott griifs' dich, du Hübsche und du Feine,
Was machst du hier alleine?**
8) Ist dir dein Vater oder Mutter gram,
Oder hast du es heimlich einen neuen Mann?**
9) „Mein Vater und Mutter sind mir nicht gram,
Und ich' hab' auch heimlich keinen Afann.
lo) Heut sinds drei Wochen über sieben Jahr',
Dafs mein Feinsliebchen gewandert war.
ii) Gestern bin ich geritten durch eine Stadt,
Dadrin Feinsliebchen Hochzeit hat.
12) Was thust du ihm denn wünschen all',
Dafs er seine Treu nicht gehalten hat?**
13) „Ich wünsche ihm all' das Beste,
So viel der Baum hat Aeste.
14) Ich wünsche ihm auch so viel gute Zeit,
So viel auch Stern am Himmel sein.
* 15) Ich wünsche ihm so viel Glück und Segen,
So viel als* Tropfen in das Meer 'nein regnen."
16) „Ich that dich wohl versuchen.
Ob du mir scheltest oder fluchest.
17) Hättest du einen Fluch oder Schwur gethan.
So war' ich von Stund' an geritten davon.**
18) Was zog er aus der Tasche,-
Ein Tuch, schneeweifs gewaschen.
19) „Trocken ab, trocken' ab die Aeugelein,
Du sollst hinfort mein eigen sein.**
20) Was zog er von dem Finger sein.
Ein Ring von Gold und Süber.
21) Er warf den Ring in ihren Schofs
Und sie weinte, dafs das Ringlein flofs.
Von dieser reizenden Ballade, eine der schönsten und fiir das deutsche
Gemüt charakteristischsten Schöpfung unserer Volksmuse besitzen wir bereits
Texte aus dem 16. Jahrhundert. Und zwar scheiden wir hier bereits in alter
Zeit deutlich zwei Gestaltungen des Liedes. (Der Kürze halber mit A und B
bezeichnet.)
A. Text in dem hessischen Liederbuche der Ottilie Fenchlerin von
Strafsburg 1592 (früher im Besitze des Freihern von Lafsberg, jetzt zu
Donaueschingen Bl. 59b; veröffentlicht in Birlingers Alemannia I, i ff.; wo-
selbst unser Lied Seite 55 also anhebt:
Es stett ein lindt in jenem thal,
ist oben breytt und unden schmal
darauff da sitzt frau nachtigall
une andere vogel vor dem wald.
Beiträge zur Litteratur des Volksliedes. 75
SO sing, so sing frau nachtigall
und andere v6gel vor dem waldt
so sing, so sing du schönes mein lieb,
wir beede müssen unss scheyden hie. ä 4 Z. 15 Str.
Vgl. dazu Liliencron, Deutsches Leben im Volkslied um 1530, S. 416 ff.
Nächst ältester Text ist ein fliegendes Blatt von 1677, 16 Str. von
Uhland (ebenso wie No. i) zu seinem Volkslied No. 116 benutzt. Sehr
ähnlich ist ein Text von 17 Strophen, der in dem zu Ulm 1690 erschie-
nenen „Tugendhaffter Jungfrauen und Junggesellen Zeit-Vertreiber" enthalten
und im Wunderhorn IV, 3, sowie bei Erk, Liederhort 3 abgedruckt ist.
Dieser Text schliefst:
Wer ist, der uns dies Liedlein sang
Das hat gethan ein Reitersmann;
Er singt uns das Lied noch vielmehr
Gott behüt allen Jungfrauen ihr Ehr!
Er hats so frei gesungen
Hat ihm ganz wohl gelungen;
Er hats seinem Buhlen zu Ehren gemacht;
Wünscht ihr darbei viel gute Nacht.
Erk Liederhort 3 verzeichnet auch ein fl. Bl. ums Jahr 1760. Böhme
(altd. Ldb. 1 16) hat eine Melodie zu dem alten Text selbst nicht finden können,
wohl aber eine alte niederländische Volksweise aus dem Sonterliederkens von
1540 ad Ps. 66 mit der Tonangabe „Daer springt een boom aen ghenem
dol*' hinzugesetzt. Ob er hiermit das Richtige getroffen, ist schwer zu ent-
scheiden, Bei Fischart findet sich in der Geschichte Klitterung (1575) Zeile
I und 2 in ähnlicher Form citiert. Ob damit unser Lied gemeint ist?
B. Zweiter alter Text, ebenfalls die Strophe zu 4 Zeilen, mit dem Anfang :
Es het ein meidlein ein reiter hold
für Silber und für rotes gold,
Dafs sie nit lassen wolt von im
sie bschied in unter ein linden, was grün.
aus: „Zehen Schöner Lieder, das erste: Es hatt ein Meidlein ein Reuter hold.
In seiner eygen Melodey. Gedr. zu Augspurg bey Mich. Manger o. f. (i 580
bis 1600), auf der Kgl. Bibl. zu Berlin, abgedr. in Hoffmann Findlingen I, 366
und Weimar Jahrbuch V, 255. Böhme (Ldb. 11 80) hat in Ermangelung der
alten deutschen Melodie dem Liede die Melodie beigesetzt, welche sich in
der Sonterliedekens von 1340 ad Ps. 63 mit der Zuschrift „Dat had een
meisken een ruyter wat lief.**
C. Niederländisch. Hoffmann, niederl. VolksL, 8 vierzeil. Str. Anfang.
Doar zon er den magetje vroeg opstaan
om haar zoetelief te zoeken gaan,
en zij zocht hem onder de linden
maar kon er haar liefje niet vinden.
(vgl. Willems, onde vi. liederen, 219 ff.) Der unerkannte Geliebte sucht das
Mädchen durch Angebot einer goldenen Kette zu verfuhren, wird aber abge-
wiesen und gerührt gibt er sich ihr zu erkennen.
76 Otto Boeckel.
D. Neuere Texte.
a) zweizeilig: Unbestimmt: Simrock, d. Volksl. 170 ff., Eric Liederhort 1,
Kretzschmer I, 62 ff., Büsching-Hagen 193, Wunderhom und Birlinger-Cre-
celius I, 60. Provinzielle Versionen: Preuss. Provinzialbl. XXVÜ, Afi6 (Sam-
land); Firmenich Völkerstimmen II, 236 (Gegend von Merseburg); Prutz,
Deutsches Museum 1857, 700 (Altmark und Herzogtum Magdeburg; Münste-
rische Geschichten 206—208 (Münster); Reifferscheid 26 (Westfalen); Hoff-
mann-Richter 41 (Schlesien); Pröhle 29 (Harz); Weimarer Jahrbuch HI (Thü-
ringen); Fiedler, Volksreime etc. 147 (Anhalt-Dessau); Köhler, Volksbrauch,
Aberglauben im Voigtlande 300 (Voigtland); Album fürs Er^ebirge 81
(Erzgebirge); Mittler 49 (Hessen); Meinert (Kuhländchen) 243 — 245; Ditfiirth
II, 22 (Franken). —
Unauffindbar ist nur geblieben die Version, welche Kriebitzsch in der
„Euterpe" 1865 No. 4 mitgeteilt hat.
b) vierzeilig: Simrock 172:
Es hatt ein Mädchen einen Pferdsknecht lieb
Viel lieber als sich selber
Sie bestellten sich an die grüne Linde, 'a Linde
Wo die beiden sich wollten finde.
(MdL aus Menzenberg). Hoffmann von Fallersleben zeichnete in seiner Stu-
dienzeit in Kessenich bei Bonn ein Lied auf mit dem Anfang (Alemannia
von Birlinger IV, 284):
Es hat ein Jungelein ein Mädelein lieb
Viel lieber als sich selber
Er hatt' es beschieden zu kommen
Unter den Lindenbaum grone.
Diese Version ist recht altertümlich, besonders folgende Strophe:
Der Reiter tat ab seinen eisernen Hut,
Dafs ihn das Mädchen kennen tut:
„ach Mädchen, du bist fromme,
Sonst war ich nicht zu dir kommen!"
Ohne Zweifel ist das vierzeilige Lied das ältere, merkwürdig ist, dafs
Simrock und Hoffmann beide dasselbe am Rhein aufzeichneten. Melodie ist
leider nicht aufgezeichnet, ein bedauerlicher Verlust, da wir nun nicht wissen,
ob die alte Melodie der neueren ähnlich ist oder nicht.
E. Wendisch-Deutsch. Haupt-Schmaler, Volkslieder der Wenden in
der Ober- und Niederlausitz I, 72 ff., 2 Strophen zu 2 und 3 Zeilen. Anfang:
Dort unten in dem Thal
Steht eine Linde schön und grüne.
Das Lied ist wie so viele der Wenden dem deutschen Volksgesange
entlehnt. Es schliefst sich ziemlich eng an die Versionen D an.
Lieder von erprobter Frauentreue besitzen fast alle Volkslitteraturen
Europas. Es sei hier gestattet, auf einige hervorragende Repräsentanten
kurz hinzuweisen:
i) Französisches Volkslied.
Hier unterscheiden wir zwei Versionen deutlich. Die erstere kurz betitelt
„La Porcheronne" besingt die treue Liebe einer Frau, die nach der Abreise
Beiträge zur Litteratur des Volksliedes. 77
ihres Gatten von der Schwiegermutter gedemütigt die Schweine hüten mufs,
aber trotz dieser Erniedrigung dem Geliebten treu bleibt, ja selbst dann, als
dieser unerkannt zurückkehrt, und die Schwiegermutter in schnöder Weise
die Ehre der Verstofeenen opfert, ihre Treue an den Fernen beweist
Ueberwältigt gibt sich der Gatte zu erkennen und bestraft die Schwiegermutter.
Die Ballade, welche zu den schönsten der ganzen französischen Volks-
poesie gehört, ist nicht sehr weit verbreitet, z. B. Romania I, und in Provenge
s. Artand, chants pp. de la Provence 92 ff. Die zweite ist kurzweg „Germine**
betitelt. (Champfleury) 195 (Ile de France) Lothringen (Pugmaigre 8 (Nor-
mandie (Beaurepoire 75), Campagne (Tarbe, romancers II, 221). Haute-Loire,
Romania I, 352, ist eine moderne Bearbeitung unter Weglassung des alter-
tümlichen Zuges, dafs die Schwiegermutter ihre junge Schwiegertochter zur.
Schweinehirtin degradiert. Mehrere andere weniger bedeutende französiche
Volkslieder behandeln ähnliche Themata z. B. Bajeand I, 237 „Le retour de
grenadier", ib. II, 84 ff. „En revenant de ma patrie'S ib. II, 215 „Le chant
Jousseaume".
2) Italienisches Volkslied.
In einem Liede aus Oberitalien (Bolza, conzoni comasche 674) erkennt
ein Mädchen den zurückkehrenden Liebsten nicht wieder und fällt in Ohn-
macht, als dieser von dem angeblichen Tod des Geliebten erzählt. Als sie
wieder erwacht, gibt er sich der Jungfrau zu erkennen. Wesentlich ähnlich
ist nun eine Reihe italienischer Versionen: eine venetianische (Wolf 71), mon-
ferrinische (Faroso 60), genuesische (Merwaldi, canti pop. ined. 151) römische
(Reifferscheidt, westf. Volksl. 1 56), sowie eine aus der Mark (Giananden 270).
In einem anderen Volksliede aus Venedig (Wolf 69, Bernoni canti IX, No. 7)
und Monferrat (Ferraro, canti pop. Monf. 33); Istrien (Ive, canti pop. Istriani
334) macht der Liebende in Pilgertracht seiner Erkorenen Anträge, um ihre
Liebe zu erproben. Als sie ihn mit Entrüstung abweist, gibt er sich ihr
durch einen Ring zu erkennen. Ein drittes italienisches Volkslied, welches
unseren Stoff behandelt, ist „La sposa del crociato" im Inhalt ähnlich der fran-
zösischen „La porcheronne". Es ist überliefert bei Ferraro, canti monferrini 5 1 .
3) Volkslied der iberischen Halbinsel.
a) Katalonisch. i. Briz, consons de la terra 161, „La porqueyrola'*
I, 173, Milo, p. Fontanols romanceillo catalan 200, ähnlich Wolf, Proben 145
La vulta de D. Guillermo. Gehört inhaltlich zur Gruppe „La Porcheronne".
— 2. „Biancaflor". Der Gatte der Dame kehrt zurück, ohne von ihr erkannt
zu werden, sie fragt ihn nach dem fernen Gemahl, imd er erzählt ihr, dafe
dieser die Tochter des Königs von Frankreich geheiratet habe und ihr be-
fehle, einen andern Mann zu nehmen. Sie wünscht ihm Glück und gelobt,
um sieben Jahr auf ihn zu warten, wenn er dann nicht zurückkehre, wolle
sie ins Kloster gehen. Der Gatte gibt sich ihr zu erkennen, gerührt durch
ihre Treue. (Text: Milä g. Fontanols, observacions iio; Briz II, 191).
b. spanisch. Eine alte Romanze, welche in zwei Varianten des 16.
ev. Anf. 17. Jhds. vorliegt. (Wolf y Hofmann, primavero y flor de romances
II, 87. 88. yl. Duran romancers general, I, 175. Depping, romancers castal-
lano n, 195) hat folgenden Inhalt: Eine verlassene Dame fragt einen des
Weges kommenden Ritter nach ihrem fernen Gatten. Sie trägt ihm Grüfse
auf und bittet dem Geliebten zu sagen, er möge doch bald zurückkehren.
78 Otto Boeckel.
Der Ritter erzählt nun, wie der Gatte erschlagen und längst begraben sei, sie
möge also nicht mehr auf ihn hoffen, sondern einen andern Gatten nehmen.
Die Dame erklärt, dafe sie niemals ihre Treue aufgeben, sondern ins Kloster
gehen werde. Da gibt sich der fremde Ritter zu erkennen als ihr Gatte.
c. portugiesisch. Hier haben wir mehrere Versionen, die im Ein-
zelnen stark von einander abweichen. Diese Romanzengruppe wird unter
dem Gesamttitel „Romances da Obella-Infanta" rubriciert Zwei vollständige
Texte sind uns von Almeida-Garrett (romancero port. 11, i ff.) überliefert
Leider sind die Texte, welche dieser portugiesische Dichter uns erhalten hat
nicht über den Verdacht erhaben, stark interpretiert zu sein. Besser, weil
kritische, sind die zwei Versionen, welche Theophil Braga (romana i — 7) aus
Portugal selbst und die Variante von den Azoren, welche derselbe Heraus-
geber überliefert hat (Cant. pop. do. Agor. 298 — 300), sowie ein Text von
der Insel Madeira in Azevedo's romanceiro do archivelago da Madeira 202).
Inhalt: Die Infantin ergeht sich im Garten und blickt hinauf aufs Meer, da
sieht sie ein Schiff kommen, dessen Kapitän sie nach ihrem fernen Gatten
fragt. Der Kapitän fragt sie, was sie ihm gebe, wenn er ihren Gatten zur
Stelle brächte. Gold und Silber, zuletzt ihre Töchter will sie ihm geben,
als er aber ihre Treue fordert, braust sie auf und ruft ihre Diener, um den
Frechen zu züchtigen, da gibt sich ihr Gatte, denn er war der Kapitain, zu
erkennen.
4) Slavische Volkspoesie.
Aehnlich dem deutschen Liede ist ein mährisches. (Wenzig, westslav.
Märchenschatz 248). Das Mädchen wünscht dem Geliebten, der ihr angeblich
treulos geworden , viel Glück und Segen, worauf dieser sich zu erkennen gibt.
Ein böhmisches Volkslied (Waldau, böhmische Granaten I, 60) gibt im
wesentlichen den Grundgedanken des deutschen Volksliedes wieder. Es lautet:
i) Soldat wurde der Geliebte
Sprach die Braut an die Betrübte.
2) „Deine Treu mir fest bewahre.
Harre auf mich sieben Jahre.
3) Heim kehr' ich nach sieben Jahren,
Will den Goldring treu bewahren." —
4) Als die sieben Jahre schwanden.
Mäht sie Gras in grünen Landen.
5) Und als das Geschäft beendet,
Sie die Blicke ringsum wendet
6) Und sie sieht, dafs in der Nähe
Einsam still ein Krieger steht.
7) „Herr, könnt ihr — so thut sie fragen —
Nichts von meinem Schatz mir sagen?"
8) „Gatte ist dein einstiger Freier,
Ich war bei der Hochzeitsfeier.
9) Nun, was lassest du ihm sagen,
Mädchen, ähnlich Rosenhagen r"
lo) „Dieses lasse ich ihm sagen:
Mag der Blitz in ihm einschlagen!*'
Heiträge zur Litteratiir des Volksliedes. 79
ii) Lächeln glänzt ihm am Gesicht,
Ringlein blitzt im Sonnenlicht.
12) „Ach, dies Ringlein, dies ist's eben,
Das ich scheidend ihm gegeben!"
13) „Was noch lassest du ihm sagen,
Mädchen, ähnlich Rosenhagen?''
14) „Lasse ihn so zahlreich grüfsen,
Als hier Gräserhalme spriefsen.
15) Send so oft ihm meinen Segen,
Als es Tröpflein gibt im Regen.*'
Das Lied ist lange nicht so fein empfunden als unser deutsches Volks-
lied. Der Schlufs, die Versöhnungsscene, welche im deutschen Volkslied
so unnachahmlich fein geschildert ist, fehlt hier ganz. Zu den slavischen
Bearbeitungen des Grundgedankens zählen wir auch ein selbständiges Lied
der Wenden in der Oberlausitz. (Die Uebersetzung des deutschen Volks-
liedes ins Wendische rubrizierten wir oben unter den deutschen Varianten.)
Dasselbe steht bei Haupt-Schmaler, Volkslied der Wenden I, 44 ff. Dieses
Lied ist hübsch und originell. Das Mädchen läuft über Berg und Thal und
sucht den Geliebten. Da kommt er geritten und fagtT wo sie hin wolle.
„Ich will meinen Liebsten suchen", spricht das Mädchen. „Ich kenne ihn,
er ist weit weg, sein Barthaar ist grau geworden, seine Wange bleich, zer-
rissen sein Hauskleid, doch willst du ihm Grüfse schicken, ich bringe sie
ihm.'' Da spricht sie:
So viel als es Riedgras nach Dresden hin gibt.
An jedem Riedgras es Blümelein gibt,
Auf jedem der Blümelein ein Tröpflein perlt.
So viele Mal grüfse den, den ich geliebt.
Mag er alt und grau geworden sein.
So will ich doch immerdar treu ihm sein.
Gleichwie in dem Wasser die Lilie rein."
Der Reiter gibt sich zu erkennen und sagt:
„So tritt nun, mein Mägdlein, auf mein Schwert,
Von meinem Schwert steig' auf mein Pferd.
Von meinem Schwerte steig' auf mein Pferd.
Denn nun sollst ewig mein eigen du sein." —
5) Bretonisches Volkslied.
Hier liegt uns eine vielfach entstellte und interpolierte Version vor bei
Vill^marque, Barzag-Breiz I, 241 „L'eponse du croise". Es ist dies Lied zu-
sammengeschmolzen aus den beiden Liedern „Le Chevalier et la bergere"
bei Luzel, Gwerzion Breiz-dezel I, 195 und „Les deux freres" (ib. I, 197).
Der Stoff gleicht dem französischen „La Porcheronne". Der zurückkehrende Ritter
findet seine Frau als Hirtin auf dem Felde, stellt sie auf die Probe, findet
sie aber treu und gibt sich ihr später zu kennen. Beide Lieder bei Luzel
sind nur Fragmente, weshalb der Gang der Erzählung nicht vollständig
klar ist.
80 Beiträge zur Litteratur des Volksliedes.
6) Albanesisch-neugriechisches Volkslied.
Ein albanesisches Volkslied hat de Rada. (rapsodie d'un poema albanese.
Firenze 1866, Buch III No. 12) uns überliefert. Derselbe erzählt, wie ein
junges Weib von ihrem in den Krieg ziehenden Gatten der Obhut seiner
Mutter anvertraut wird, wie letztere aber nach seinem Weggange alsbald
dieselbe mifehandelte , sie in Männertracht aufs Feld schickt, um Vieh zu
weiden. Der Krieger kehrt nach fünfzig Wochen zurück und erfahrt von
seiner Mutter, dafs seine Frau untreu geworden, von einem vorüberziehenden
Italiener entfuhrt worden sei. In diesem Moment tritt die Frau des Kriegers
herein und straft die Schwiegermutter Lügen, worauf diese zur Strafe aus
dem Hause gejagt wird (vgl. Liebrecht in G. G. A. 1867. 2207).
Die Neugriechen besitzen zwei Versionen unseres Stoffes, i. Fauriel II,
397, Marcellus chant pop. 155, Tommaseo conti greci 141, Passow carm
pop. 328. Eine Gattin klagt am Ufer über die Abwesenheit ihres Mannes,
der Kapitän eines vorüberfahrenden SchifTes gibt sich als solcher zu er-
kennen. 2. Passow 441 — 6. Jeannorakis Kretische Volkslieder No. 127
'0& JltQx^H'^i "j^yav^txov (die Heimat des Geliebten, und No. 261. *Ö Idi^uy-
vo)Qi(y/Mug und No. 300 *Ö XoqoC nQafjkfiarevr^c. (der Tod als Kaufmann).
In letzterem Lied klingt der Schlufs wesentlich anders. Der heimgekehrte
Gatte ist der Tod; als die Gattin am Morgen erwacht, findet sie statt des
Gemahls den Tod neben sich im Bette. Ein anderer Text stammt aus
Epirus (Chasiotis 89).
Der Inhalt dieser Versionen ist etwa folgender: Der Heimkehrende trifft
eine junge Frau in Thränen, er fragt sie, warum sie weine und sie erzählt,
dafs seit 10 Jahren ihr Gatte in der Ferne weile, dessen sie harre. Wenn
er nicht komme, werde sie in ein Kloster gehen. „Dein Mann ist tot", sagt
der Fremdling, „ich selbst habe den Priester bezahlt, der ihn zu Grabe
brachte." Einen Kufs, um den der Fremde bittet, verweigert sie ihn. Da
gibt er sich als ihr Gatte zu erkennen, mufs aber, um erkannt zu werden,
erst ein Examinatorium bestehen (übersetzt von Kind, Anthol. neugr. Volks-
lieder 127):
So sag' des Hauses Zeichen mir und will ich dann dir glauben-
„Ein Apfelbaum ist an der Thür, ein Weinstock steht im Hofe,
Auch ein Limonenbaum steht dort und hab' ihn selbst gepflanzet"
„Das hat dein böser Nachbar wohl gesagt dir und du weifst es.
Des Körpers Zeichen sag' mir an und will ich dann dir glauben."
An deiner Brust hast du ein Mal, ein Mal hast du am Halse,
Und mitten auf der Brust trägst du das Bildnifs deines Mannes."
„Ja, Fremdling, ja, du bist mein Mann, ja, du bist mein Geliebter."
Zum Schlüsse verdient noch bemerkt zu werden, dafs auch die Chinesen
unseren StofT von der Rückkehr des Geliebten bearbeitet haben. Liebrecht
(zur Volkskunde 213) weist die Bearbeitungen derselben nach, welche mitunter
in frappanter Weise an europäische Versionen anklingen.
Hiermit schliefsen wir die Rundschau über die Bearbeitungen dieses
Stoffes, dessen jüngsten Zweig wir in Hessen gepflückt haben.
Marburg i. H.
BESPRECHUNGEN.
— — ••«
Eine neue Quelle Miltons. Seit Vol-
taires flüchtig hingeworfener Bemerkung, Mil-
tOD habe während seines Aufenthalts in Italien
zu Florenz einer AufHihrung von Andreinis
„Adamo" beigewohnt und hieraus die erste
Anregung zur Abfassung seines groisen Epos
vom Sündenfalle geschöpft, ist die Frage nach
den prima stamina des „Verlorenen Paradieses*'
nie mehr von der Tagesordnung der litterar^
historischen Erörterung verschwunden. Mehr
als zwanzig Dichter vornehmen und niederen
Ranges sind namhaft gemacht worden, wel-
chen Milton entweder die allgemeine Idee
oder einzelne Episoden seines Dichtwerkes,
oder aber gewisse Ausdrücke, Bilder und
Gleichnisse entlehnt haben soll. Nichts ist
natürlicher als anzunehmen, dals Milton den
„Adamus Exul*' von Grotius (1601) gekannt,
dals er Giles Fletchers „Christ's Victory and
Triumph*' (1610) sowie Sylvesters Uebersetzung
des du Bartas gelesen habe. Ebensowohl
muste ihm durch seinen Freund Francis Junius
das unter dem Namen Caedmons gehende
angelsächsische Gedicht bekannt geworden
sein, in welchem die Verführung Evas als des
Satans Rache ftlr seine Vertreibung aus dem
Himmel zur Darstellung gebracht wird. Und
in der That lassen sich in Miltons Epos An-
klänge nicht nur an alle die genannten, son-
dern noch an eine ganze Reihe anderer alter
und neuer Dichter nachweisen. Was aber
auch die litteraturvergleichende Bergmannsar-
beit in bezug auf das „Verlorene Paradies'*
zu Tage fördern mag, es wird schliefslich immer
Ztschr. L vgl. Litt.-Gesch. I.
nur zur Erhärtung der Thatsache dienen, dafs
Milton sowohl durch seine eigene Geistesrichtung
als auch durch die seine Zeit bewegenden Ge-
danken mit einer Art von Naturnotwendigkeit
zur Wahl seines Vorwurfes getrieben wurde,
und dafs er alles was ihm im Bereiche seiner
weitausgedehnten Belesenheit an Schönem und
Brauchbarem begegnet war, in originaler
Weise für sein Dichtwerk zu verwerten wufste.
Einen Beleg dafür liefert ein neuerdings
erschienenes Buch*), welches sich die Aufgabe
stellt, zu der grossen Zahl von Dichtem,
welchen Milton zu Danke verpflichtet war,
noch einen neuen hinzuzugesellen; und zwar
handelt es sich dies Mal um den Holländer
Joost van den Vondel. Auf die That-
sache, dafs Milton mit den Werken dieses
hervorragenden Dichters bekannt gewesen sei,
war bereits 1854 in einem Aufsatze des Rev.
A. Fishel**) hingewiesen worden. Desgleichen
bemächtigte sich Edmund W. Gosse der Sache
in seinen Studies in the Literature of Northern
Europe.***) Aber er sowohl wie die wenigen
anderen, die seitdem darauf zurückgekommen
sind, begnügen sich damit, die Bekanntschaft
Miltons mit Vondels „Luisevaer** und den
Einfluis dieses letzteren auf das „Verlorene
Paradies** nachzuweisen. Dem gegenüber
*) Milton and Vondel: a Curiosity of
Literature. By GeorgeEdmundson. Lon-
don, Trübner & Co., 1885.
**) The Life and Writings of Joost van
den Vondel.
***) In dem Essay „Milton and Vondel**.
^2
Besprechungen.
ftucht nun Edmnnd«on darzuthun, daSs Milton
aü('*tj dem „Lutsevaer^ auch noch andere
Werke VondeU f1ei(»ig studiert habe und dats
.sich deren Spuren nicht nur im „Verlorenen
Paradie>e^, sondern ebensowohl aucli im
^^Wiedergewonnenen Paradiese" und in „Sam-
son Agonistes'' deutlich verfolgen lassen.
Wohl ist bekannt, da(s Milton nach seiner
Erblindung sich täglich von seinen Töchtern
aus hebräischen, oder griechischen, lateinischen,
italienischen, spanischen und französischen
BUchem vorlesen liels. Befremdlicherweise
tritt uns aber aus des Dichters Leben nirgends
der direkte Hinweis entgegen, da(s er auch
der holländischen Sprache mächtig gewesen
sei. Nichtsdestoweniger möchte man von vorn-
herein als sicher voraussetzen, dafs der sprachen-
kundige Sekretär des auswärtigen Amtes das
Holländische verstanden haben m ü s s e zu einer
Zeit, da England und Holland in hartem
Kampfe um die Oberhoheit zur See rangen,
und im Anschlüsse daran unausgesetzt die
wichtigsten Verhandlungen herüber und hinüber
gepflogen wurden. Zudem lag Milton gerade
damals mit seinen beiden in Holland ansässigen
Gegnern Morus und Salmasius in heftiger
litterarischer Fehde, bei welcher er sich nicht
nur über die gesamten öffentlichen Verhältnisse
Hollands, sondern selbst Über die Tagesge-
spräche der Hauptstadt und über persönliche
Streitigkeiten bi.s ins Kleinste unterrichtet zeigte.
Von anderer Seite her ist aber glücklicherweise
auch ein direktes 2Seugnifs dafUr beigebracht
worden, da& Milton der holländischen Sprache
kundig war, und zwar in Gestalt eines Briefes,
den Roger Williams, der berühmte Begründer
des Staates von Rhode Island, am 12. Juli
1654 an seinen Freund John Winthrop in
Pegnod geschrieben hat. Darin erzählt Wil-
liams, dafs er während seines mehrjährigen
Aufenthaltes im Mutterlande (1651 — 54) mit
Milton befreundet worden sei, und dafe dieser
ihm aus dem reichen Schatze seiner Sprach-
kenn tnisse gar vieles mitgeteilt habe. Als
Gegenleistung dafUr habe er seinerseits Milton
in der holländischen Sprache Unterweisung
gegeben.
Der Beweis für die äufsere Möglichkeit,
dafs Milton die Werke Vondel» gelesen haben
könne, muf^ somit für erbracht angesehen
werden ; der Beweis für die innere Notwendig-
keit, da& Milton sie gekannt haben müsse,
liegt fiir Edmondson in der geistigen Ver-
wandtschaft der in betracht kommenden bei-
derseitigen Werke. Auf Seiten Vondels sind
dies anfser dem „Luisevaer" (1654), „Samson,
of de heilige wraak" (1660), „Joannes Boet-
gezant*' (1661), „Bespiegelingen van God en
Godsdiensf * (i66t) und „Adam in Ballingschap"
(1664). Die Dichtungen Miltons, die den
Vondel'schen Einfluls verraten, sind, wie
bereits erwähnt, das „Verlorene Paradies"
(1667), das „Wiedergewonnene Paradies" (1670)
und „Samson Agonistes" (1670).
Der „Luisevaer" behandelt in dramatischer
Form denselben Stoff wie das grolse Epos
Miltons. Der stolze, ehrgeizige, blind selbst-
süchtige Erzengel Lucifer beneidet Gott um
seine anendliche Gröfse und den Menschen
um die ihm von Gott verliehene Macht über
das Erdreich. Sein Neid wird noch gesteigert,
da Gabriel ab Herold Gottes die Engel für
nur dienende Geister erklärt und ihnen die
Geheimnisse der künftigen Menschwerdung
Gottes offenbart, durch welche die Menschen-
natur über die der E^gel erhoben und unlös-
lich mit Gott verbunden werden soll. Dagegen
empört sich Lucifer und reizt ein unzähliges
Heer von Engeln gegen den göttlichen
Schöpfer auf. Im Kampfe von dem Erzengel
Michael niedergeworfen, schwört er dadurch
Rache nehmen zu wollen, dais er den Menschen
zum Ungehorsam gegen Gott verführt, wird
aber dafür samt seinen Schaaren der Hölle
und ewigen Verdammnis überantwortet —
Die Aehnlichkeit zwischen dem „Verlorenen
Paradiese" und „Luisevaer** findet ihre Erklä-
rung in dem Umstände, dals Milton, der, wie
bekannt, den Sündenfall ursprünglich als
Drama zu bearbeiten geplant hatte, in seinem
Epos zahlreiche dramatische Elemente ver-
wertet, während das Vondel'sche Drama bei
seiner rhetorischen Behandlung des Stoffes
mehr epische als dramatische Eigenschaften
aufweist. Die bei Milton ins Ungemessene
gehende Zeichnung der Charaktere mufs in
VondeLs „Luisevaer** natürlich soweit auf
das gewöhnliche Mals herabgemindert wer-
Besprechungen.
83
den, dals die einzelnen Gestalten sich in
den Rahmen des Dramas fugen. Im allge-
meinen jedoch ist die Auffassung der Charak-
tere bei beiden Dichtem dieselbe. Was die
Gestalt des Erzfeindes angeht, so scheint die-
selbe von beiden im Hinblick auf den „grolsen
Rebellen*^ entworfen worden zu sein, nur mit
dem 'Unterschiede, dafe Vondel den Lucifer-
Cromwell als warnendes Beispiel für alle
Undankbaren und Ehrgeizigen hinstellt, „die
da kühnlich wagen, sich gegen geheiligte Mächte
und Majestäten und gegen gesetzliche Autori-
täten aufzulehnen", während unter Miltons Hän-
den Satan sich zum gewaltigen, achtungsge-
bietenden Helden gestaltet.
Aber nicht nur in der Charakterzeichnimg,
sondern auch in Sprache und Ausdnicksweise
zeigt das „Verlorene Paradies" den Einflufs
Vondels. Bisher hat man denselben — wohl
zumeist auf Grund des Gosse'schen Aufsatzes
— nur im sechsten Buche wiedererkennen
wollen ; an zahlreichen nebeneinander gestellten,
Citaten weist ihn Edmundson indessen in jedem
der ersten neun Bücher, besonders aber im
ersten, zweiten, vierten und neunten Buche
nach. So wenig nun auch den Ergebnissen
der gründlichen Forschungen Edniundsons im
allgemeinen hier widersprochen werden soll,
so darf doch nicht verschwiegen werden, dals
der Verfasser in seinem Eifer hier und da zu
weit gegangen ist Denn einmal dürfte die
Gemeinsamkeit mancher Ausdrücke, Bilder
und Gedanken ihren Grund in der Gemein-
samkeit ihrer biblischen Quelle haben , und
dann ist nicht selten eine gröfsere Ueberein-
Stimmung dadurch erzielt worden, dafs Edmund-
son die gereimten Alexandriner Vondels imter
glücklicher Verwertung Milton'schen Sprach-
materials in Blankverse übertragen hat Die
Beibringung der holländischen Originalstellen
im Anhange des Ed^undson'schen Buches
kann an dieser Beeinflussung des Endergeb-
nisses nichts ändern.
Wenn es sich darum handelt, den Einwir-
kungen von „Joannes Boetgezant^S <^c° »Bc-
spiegelingen" und „Adam in Ballingschap"
auf das „Verlorene Paradies" nachzuspüren,
so muG» zuvörderst der Frage begegnet werden,
ob mit Rücksicht auf ihre späte Entstehungs-
zeit eine Einwirkung von ihrer Seite überhaupt
möglich war. Bekanntlich fallen die ersten
Anfange des „Vei'lorenen Paradieses" in das
Jahr I6SS. Der Tod Cromwells und das
nahende Ende der Republik führten Milton
aber wieder zurück auf den Kampfplatz der
politischen Tageslitteratur; und so vollständig
ging er in derselben auf, dafs er während der
ganzen 2^it bis zur Restauration unmöglich zu
der inneren Sammlung gelangen konnte, die
zu dichterischem Schaffen unentbehrlich ist.
Auch nach der Wiedereinsetzung des König-
tums liefs die beständige Besorgnis um seine
persönliche Sicherheit schwerlich eine poetische
Begeisterung in ihm aufkommen. Erst als er
durch Erlafs der Indemnitätsakte aller Unnihe
überhoben war, konnte er sein grolses Helden-
gedicht wieder aufnehmen. Nach dem Berichte
von des Dichters Neffen Edward Phillips soll
das Werk 1663 vollendet gewesen sein; That-
sache ist, dafs Milton das fertige Manuskript
im Herbste 1665 seinem jungen Freunde, dem
Quäker Ellwood, zur Einsicht und Beurteilung
überreichte. In die Zwischenzeit füllt nun
das Erscheinen der obengenannten Vondel'schen
Werke, mit welchen sich Milton sofort bekannt
gemacht haben mufs. Und wenn sich, wie
Edmundson darthut, nicht nur in den nach
der Restauration entstandenen, sondern auch
in den vor dieselbe fallenden Büchern des
„Verlorenen Paradieses" Anlehnungen an Von-
del finden, so können sie in die letzteren nur
durch nachträgliche Einschaltungen gekommen
sein. Gerade solche nachträgliche Zusätze
und Verbesserungen liegen aber ganz in dem
Wesen von Miltons Dichtvveise, wie dies aus
den noch erlialtenen Entwürfen seiner früheren
Gedichte deuüich hervorgeht Bei seinem aner-
kannt grofsartigen Gedäciitnisse verfügte Milton
vollständig frei über den Wortlaut des „Ver-
lorenen Paradieses", so weit dies jeweilen
gediehen war. So oft er nun sein Werk
wieder überdachte, verbesserte er hier einen
Ausdruck, fügte dort einzelne Zeilen und ganze
Stellen ein, wenn er dadurch die Schönheit
oder die Kraft des Ganzen heben oder einen
neuen, ihm in der Zwischenzeit zugekommenen
Gedanken verwerten konnte.
Für das „Wiedergewonnene Paradies" und
6*
84
Besprechungen.
„Samson AgonUtes*' kommt diese letztere Frage
überhaupt nicht, oder doch nur teilweise in
betracht. Denn die erstere Dichtung ist nach-
weislich nicht vor 1665, die letztere zwischen
1663 und 1667 entstanden, also zu einer Zeit,
da der Vondd'sche Samson schon seit Jahren
Milton bekannt sein konnte. Auf den Nach-
weis der näheren Beziehungen der einzelnen
Werke zu einander, sowie der zahlreichen
Stellen, an welchen der EinAuls Vondels in
den Dichtungen Miltons besonders stark her-
vortritt, müssen wir hier verzichten und den
Leser auf das Edmundson'sche Buch selbst
verweisen. Nach sorgfältiger Prüfung aller
darin angezogenen Parallelstellen wird die
Mehrzahl der Leser mit uns zu dem Urteile
gelangen, dafs der Verfasser in dem Nachweise
von Entlehnungen aus Vondel zwar vielfach
zu weit gegangen ist, dals er aber die Bekannt-
schaft Miltons mit dem groCsen holländischen
Dichter und dessen Einflufe auf die drei größten
der Milton'schen Dichtwerke ein fUr allemal
festgestellt haben dürfte. Wie Milton sprach-
liche und gedankliche Schönheiten aus Euri-
pides und Vergil, aus Dante und Tasso, aus
Spenser, Fletcher und Sylvester sich ange-
eignet, dem fremden Metalle aber stets seine
eigene Prägung gegeben hat, so hat er auch,
was die Vonderschen Werke ihm an glücklichen
Wendungen, Bildern und Gedanken darboten,
frei nach dem von ihm selbst aufgestellten
Grundsatze verwertet: „To borrow and better
in the borrowing, is no plagiarie".
Homburg v. d. H. Ludwig Proescholdt.
Jacoby, Daniel : Georg Macropedius.
Ein Beitrag zur Litteraturgeschichte des 16.
Jahrhunderts. Programm des Königstädtischen
Gymnasiums. Berlin 1886. 31 S. 4^
In richtiger Würdigung der hohen Be-
deutung, welche das lateinische Schauspiel des
16. Jahrhunderts nicht nur filr die Geschichte
des Humanismus, sondern ebenso sehr fUr die
Entwickelung des deutschen Dramas hat,
machen sich mehr und mehr die Forscher an
die Darstellung der Lebensverhältnisse und
der litterarischen Arbeiten einzelner dieser
lateinischen Dichter, unter denen Georg
Macropedius ohne Zweifel eine der ersten
Stellen einnimmt. Das Verdienstvolle solcher
Monographien liegt nicht nur darin, dass sie
minder gekannte Autoren und ihren litterari-
schen Einfluss beleuchten, sondern dafs sie
ak Abhandlungen, die mit Hingabe und nach
eigener Wahl geschrieben wurden, dem Ober-
flächlichen und Lückenhaften entgehen, das
mehr oder minder encyklopädischen Unter-
nehmungen anhaften muss. Erst auf solchen
gelegentlich, oft auch durch lokale Anregung
entstandenen Vorarbeiten vermag sich eine ge-
diegene und verlässige Gesamtarbeit aufzu-
bauen. Mit grofsem Fleifse hat Jacoby üb^
Leben und Schriften des Macropedius, sowie
über die Bibliographie Bericht erstattet Die
Abhandlung „Macropedius als Dramatiker*' gibt
uns eine ästhetische Beurteilung des Dichters,
dessen Asotus, Josephus und Petriscus
dann eingehender besprochen werden.
Macropedius, zunächst an Reuchlin heran-
gebildet, hat mit diesem zahlreiche Berührungs-
punkte; doch hat er in manchen Dingen sein
Vorbild schon weit überholt. Dafs auch Macro»
pedius 4cm Terenz den Vorzug vor dem
Plautus erteilt, hat er mit allen Zeitgenossen
gemeinsam ; denn ihnen galt als Grundsatz für
den Dichter:
„volvat perpetua manu Terenti
versus, quo melior poeta nullus*^
u. s. w. Und hatte ja auch Melanthon die
Komödien des Terenz über jene des Aristo-
phanes, wenigstens als „(»*ijTftif*xo;T*pa»" ge-
stellt Macropedius gehört in die Reihe jener
Männer, welche wie Boltz von Ruf&ch, Luther
u. a. die antiken Klassiker gegen den alku-
grossen Glaubenseifer verteidigten. Bei diesem
engen Anschlüsse an das Altertum übersieht
aber Macropedius nicht, dass eine andere
Moral als jene des Heidentums Gnmdlage
seiner Komödie wird, die er treffend „eine
Weckerin der Tugend, des täglichen Lebens
Spiegel, ein Bild der Wahrheit" nennt Und
nach dieser Hinsicht mag wohl Jacobys Urteil
angehen, dals Macropedius „an Tiefe der
Stimmung^* selbst den Terenz übertreffe. An
den genannten drei Stücken wird erschöpfend
die Art des Macropedius gekennzeichnet und
sein Verhältnis zu Terenz dargelegt Vor allem
wird richtig gezeigt, wie der Parasit bei unserm
Besprechungen.
85
Dichter schon einen Schritt weiter geht, als
in den römischen Vorbildern, und daCs man in
•dem Kolax des Asotus bereits „einen Hauch
von dem Geiste'* verspürt, y^mit welchem
Shakespeare seinen Falstaff geschaffen haf
In wohlgelungenen Uebersetsungsproben wer-
-den wir über die frische Schreibart des Macro-
pedius belehrt So ist ein Muster eines Trink-
liedes jenes des Galen im Petriscns (S. 25):
,,Und treibt der Feind die Herden fort*' u. s. w.,
das genau, auch inhaltlich, an einige der besten
Lieder dieser Art des Olivier Basselin
•erinnert.
Ohne Zweifel hat Macropedius verdient,
^,aus dem Staube der Bibliotheken gezogen
2U werden", und das Wort „für jetzt**, mit
dem Jacoby schliesst, berechtigt uns zu der
Hoffnung, dafs wir von ihm weiteres über
den „gröisten** lateinbchen Dramatiker des
16. Jahrhunderts bald hören werden.
Sachlich möchte ich zur Note 2, S. 19.
über die Einführung neuer Personen bei
Schonäus mit dem ständigen „set eccum,
ecce illum u. dgl.**, die Jacoby freilich mit
Recht „unaustehlich eintönig" nennt, nur be-
merken, dafs dies eben die sklavische Nach-
bildung des Terenz durch Schonäus beweist,
was u. a. Seuffert (Schnorrs Archiv VIII,
S. 361 ff.) auch in dem Jesuitendrama „Geno-
vefa** (1673) an ähnlichen Formeln (Et ecce . . .
alloquar) zeigt.
München. Karl v. Reinhardstöttner.
Reimann, A«: des Appulejus Märchen
von Amor und Psyche in der franzö-
sischen Litteratur des XVIL Jahrhun-
derts. Programm des Städtischen G3rmnasiums
zu Wohlau 1885. 18 S. 4 ". (Progr.-Nr. 191).
Der Verfasser begnügt sich, den Inhalt von
Lafontaines Roman „les Amours (im Programm
steht dafür der Druckfehler les Romans) de
Psycho et de Cupidon und Molieres Comädie-
Ballet Psycho zu erzählen, nebenbei noch kurz
die von Lulli komponierte Oper Psycho er-
wähnend. Er bietet damit nicht nur „nicht
den Kennern der Litteratur unserer westlichen
Nachbarn**, sondern Niemandem etwas Neues.
Dem Verfasser selbst freilich wird es neu sein
zu erfahren, dass die verlockende Aufgabe,
„das antike Märchen von Amor und Psyche
auf seinem Gange durch die Welditteratur zu
begleiten** bereits vor längerer Zeit in er-
schöpfender Weise von Gustav Meyer gelöst
worden ist, der seine Untersuchung „Amor
und Psyche** als ,, Beitrag zur vergleichenden
Märchenkunde** in der trefflichen Sammlung
seiner „Essays und Studien** (Berlin 1885) zu
neuem Abdrucke gebracht hat. Den von
Meyer erwähnten Behandlungen des alten
Stoffes kann noch ergänzend Carrieres Dich-
tung „Eros und Psyche** (Liebeslieder und
Gedankendichtungen**, Leipzig 1883) angereiht
werden. Goethe hat wenigstens einmal den
Plan gehabt, die Fabel von Amor und Psyche
zu behandeln (Kuno Fischer, „Erinnerungen
an Moritz Seebeck**, Heidelberg 1886. S. 135).
Marburg i. H. Max Koch.
Der Weinschwelg. Ein altdeutsches Ge-
dicht aus der zweiten Hälfte des 13. Jahr-
hunderts. Mit einer Uebersetzung von
Karl Lucae. Halle, Niemeyer, 1886. 59 S. 8 ^.
Das vortreffliche kleine Gedicht „Der Wein-
schwelg**, keine Satire auf das einsame Trinken,
wofUr es Gervinus hielt, sondern eine humo-
ristische Verherrlichung des Weines, die der
Ver£suser seinem unvergleichlichen Zecher in
den Mund legt, erscheint hier im Originaltext
mit daneben stehender Uebersetzung. Die Her-
stellung des ersteren ist mit Sorgfiilt geschehen
und hat, obwol das Gedichtchen schon mehr-
fach ediert ist, doch noch eine Reihe hübscher
Berichtigungen ergeben. Ausser der Wiener
Handschrift nach einer neuen Kollation ist
auch die kürzlich von Bartsch veröffentlichte
Karlsruher Handschrift benützt worden, die
allerdings für die Kritik von sehr geringem
Wert ist Man wird der Textgestaltung Lu-
caes in allem Wesentlichen beistimmen können.
Der Druckfehler V. 382 (l. du Hute) corrigiert
sich von selbst. V. 69 fehlt der Punkt.
Recht gelungen, stellenweise den Eindruck
einer Originaldichtnng machend, ist die Ueber-
setzung. Es ist doch möglich, mittelhoch-
deutsche Gedichte auch mit Beibehaltung des
Reims, der ohne Frage eine wesentliche Zierde
m
Besprechungen.
der mei&ten bildet*), glatt und charakteristisch
ins Neuhochdeutsche zu übertragen, wofür wir
leider noch so wenig mustergültige Beispiele
besitzen. Aber freilich: auch die treueste
poetische Uebersetzung ist in gewissem Grade
eine Nachdichtung des Originals, und das
Dichten ist nicht Jedermanns Sache. Lucaes
Uebersetzung ist stets geschmackvoll, die Reime
fügen sich ihm leicht und ungezwungen. Bis-
weilen scheint er ziemlich frei zu übersetzen,
wenn er z. B. den Ehrentitel Ungerwz^ den
sich V. 389 der Weinschwelg beilegt, nach
Goethes „Hans Ohnesorgen*' in einen „Hans
Ohnegleichen" umwandelt; wenn er V. 277
Horant nicht „halb so schön" singen lässt,
statt des im Original stehenden daz driiieil ;
wenn er V. 76 aus einer halben Mark sogar
25 nach unserer heutigen Währung macht,
u. a. m. . . . immer ist damit der Sinn des Ori-
ginals für uns treffender wiedergegeben, als
mit einer wörtlichen Uebertragung. Schade,
dafs in dem jeden Abschnitt beginnenden
Vers : do huob er üf ünde tranc, wo der mittel-
hochdeutsche Dichter zwischen zwei Hebungen
die Senkung auslassen konnte, in der Ueber-
setzung eine schleppende Wiederholung des
einen Wortes: „Da hub, da hub er auf und
trank** eintreten musste. Aehnlich V. 95: des
habe nun V%p immer danc — „wofür man Dank
mir zolle. Dank**.
Die Anmerkungen am Schluss der Aus-
gabe sind bald kritischer, bald texterklärender
Art, oder dazu bestimmt, die Uebersetzung zu
rechtfertigen. Zu V. 113 hätte viellieicht noch
auf Haupts Anm. zur Erzählung „Von dem
übelen Weibe** V. 163 und Martins zur „Kud-
run** 721, 3 verwiesen werden können. Zu V.
257 vgl. Haupt zum übelen Weibe V. i. —
Die hübsche Ausstattung des Büchleins ist
noch besonders hervorzuheben.
Marburg i. H. Joh. Stosch.
Lieder des Giovanni Meli von Palermo.
Aus dem Sicilianischen von Ferdinand Gre-
gor o vi us. Mit einer geschichtlichen Skizze
der poetischen Nationalliteratur Siciliens. Zweite
verbesserte Auflage. Leipzig. Brockhaus 1886.
■*) Anders freilich urteilt G. Rötticher im
Vorwort zu seiner Farzivalübersetzung S. VI.
Zum zweiten Male wandern diese Lieder
des grössten National poeten Siciliens in der
meisterhaften Uebersetzung Ferdinand Gregoro-
vius* in die Welt. Wir kennen Gregorovius als
gewandten Uebersetzer volkstümlicher Poesieen
schon aus seiner herrlichen Schilderung von
Korsika (1854), wo er die Klagegesänge der
Frauen geradezu unnachahmlich übersetzt hat
Auch seine Wanderjahre in Italien (5 Bde.) ent-
halten manches von Gr. anmuthig verdeutschte
italienische Volkslied. Als Uebersetzer im
engsten Sinne des Wortes zeigte sich Gregoro-
vius erst, als er Meli's bis dahin in Deutsch,
land wenig bekannte Poesieen der Lesewelt
vorführte. Herder und Goethe Itatten Meli ge-
kannt, ja der erstere hatte ein Lied Meli's
„Die Lippe** übersetzt und in die „Stimmen
der Völker** aufgenommen ; im vollen Umfange
lernte man Meli erst durcli Gregorovius' Ueber-
setzung, die zuerst im Jahre 1856 erschienen,
kennen. Karl Rosenkranz, dem das Werk
gewidmet wurde, begrüsste die Poesieen mit
lebhafter Freude, doch blieb das Büchlein,
des seltsamen fremdartigen Gehaltes wegen,
im Stillen und wurde bald, wie so manches
Gute, vergessen.
Erst nach 30 Jahren erlebte es eine Auf-
erstehung, der Burns Siciliens, wie man Meli
nicht mit Unrecht genannt hat, tritt aufs Neue
vor das deutsche Publikum.
Meli ist in erster Linie Anakreontiker. In
'tändelndem Tone besingt er Amor mit Pfeil
und Bogen, die Augen, den Mund, die Stimme
der Geliebten, alles recht niedlich, doch ohne
irgend wie tiefere Gefühle anklingen zu lassen.
Zu dieser Gattimg seiner Poesie gehört auch
das von Herder übersetzte Lied „Die Uppe"
(bei Gregorovius S. 160). Besser und eigen-
artiger sind die Lieder, in welchen Meli das
Glück der Zufriedenheit besingt, z. B. „Der
Frieden**, „Die Grille**. Hier pulsiert warmes
Leben und ist wirklich Poesie zu ftnden. Ein
merkwürdiges Sittenbild entrollt das Gedicht
„Leben und Treiben** (S. 76), noch toller, ja
in kraftgenialischen Sprüngen bewegt sich der
„Dithyrambus**, in dem Kneipscenen mit dem
grotesken Pinsel eines Fischart geschildert
werden.
Recht anmutig erzählt sind Meli's Fabeln,
Besprechungen.
87
deren Gregoiovius ungeßüir ein Dutzend über-
setzt hat
Das Wichtigste, was Meli geschaffen hat,
sind seine Idyllen, denen nuin plastische Schil-
derung, und poetischen Dufl nicht absprechen
kann. Es ist ein ganz merkwürdiges Faktum,
da£s in demselben Land, wo das Hirtengedicht
entstanden ist, nach anderthalb Tausend Jahren
wiederum ein Volksdichter theokritische Idyllen
geschaffen hat. Die Hirtenwelt Siciliens hat
das Altertum überdauert und ist bis auf unsere
Tage unverändert geblieben. „Wer die Thälcr
und Berge von Enna und Segesta oder die
Abhänge des Aetna durchstreift, sieht die
idyllischen Fluren mit Schafen und Rindern
bedeckt, und die Hirten in derselben Gestall
wieder, wie sie der griechische Dichter ge-
sehen hat Im Anblick antiker TempeltrUmraer
„schauend die wimmelnden Schaf und das
sikelische Meer'* wird man immer wieder an
Theokrit erinnert," sagt Gregorovius selbst
(S. XXXV.) Meli's Idyllen sind ungemein
lebensvoll und fein empfunden, durch die.
antiken Anspielungen und Namen blickt echtes
modernes Volksleben hindurch, sehr anmuthig
z, B. ist die Fischer -Idylle, (S. 193) ein Ge-
spräch zwischen drei Mädchen, die sich über
ihren Geliebten unterhalten, ein ganz dem
Volksleben abgelauschtes naives Stimmungsbild.
Leider bat Meli nicht immer aus der Poesie
des Lebens selbst geschöpft, nur zu oft hat
ihn die Nachahmung Theokrits verführt. —
Von weitgehender Bedeutung fUr die Welt-
litteratur ist Meli allerdings nicht Seine Grösse
und Bedeutimg besteht nur im Rahmen der
italienischen und speciell der sicilianischen
Litteratur. Als populärster Dichter der Insel,
dessen Gesänge das Volk kennt und liebt,
wird er stets Interesse und Wert behalten, von
irgend welchem höheren Werte muss man
absehen. Meli gehört nicht zu den Dichter-
fürsten, welche Zeiten und Litteraturgattungen
ihren Stempel aufdrucken. Er ist ein Sänger
für sein Volk, darin liegt ebenso wie sein
Wert auch die Begrenzung seines Talentes.
Immerhin schulden wir Gregorovius für die
Verdeutschung der Lieder Meli's grossen Dank,
er hat besonders den Freunden der Volks-
poesie eine hübsche Gabe geboten und auch
durch die geschichtliche Skizze der poetischen
Nationallitteratur Siciliens unsere Kenntnisse
bereichert Hoffen wir, dafs er uns recht bald
mit weitern Spenden italienischer Volkspoesie
erfreut, und das in Deutschland noch lange
nicht nach Gebühr gewürdigte Volkslied Italiens
zu verdienter Anerkennung bringt.
Marburg i. H. Otto Boeckel.
Goethes Faust in England und Amerika.
Bibliographische Zusammenstellung von W.
Heinemann. Berlin 1886 August Hettler.
VII, 32 S. M. 1,50.
Der Verfasser gibt in dieser kleinen Schiift
ein genaues Verzeichnis der in englischer
Sprache erschienenen Uebersetzungen des
Goetheschen Faust, zu denen sachliche Be-
merkungen, hinsichtlich der Art der Ueber-
setzungen, Weglassungen etc. meistens hinzu-
gefugt sind. Es ist immer ein erfreuliches
Zeichen des allgemeinen Interesses, welches
die Faustlitteratur erweckt, wenn derartige
Spezialarbeiten erscheinen, wodurch die genaue
Kenntnis dieser Litteratur wesentlich gefordert
wird und besonders muis man dieselben an-
erkennen, wenn sich Berufene finden, welche
diesen speziellen Forschungen sich widmen.
Die Arbeit von W. Heinemann zeigt ent-
schiedenen Fleifs und verdient um so mehr
Beachtung, da der Verfasser in London an-
sässig und wie aus seinen Bemerkungen zu
schliessen wohl meistens die besprochenen
Bücher selbst in Händen gehabt hat; ersteres
ist ein Vorteil den der auswärts lebende
Forscher wohl zu schätzen weiCs. Es durfte
also vorausgesetzt werden, dafs das kleine
Werk nur Richtiges, Begründetes darbietet,
was sich bei einer genaueren Prüfung denn
auch thatsächlich erwies. Wenn in dem Vor-
wort der Verfasser bemerkt, das Engel's
Bibliotheca Faustiana (Oldenburg 1885) in dem
Abschnitt der englischen Faustschriften einige
Ungenauigkeiten zeigt, so erklärt sich solches
dadurch, dafs dem Verfasser der B. F. die
betreffenden Schriften in fremden Sprachen
nicht immer zugänglich waren und er sich des-
halb oft nur auf Kataloge und Citate stützen
konnte, deren angegebene abgekürzte Titel
mit den vollständigen Originaltiteln manchmal
88
Besprechungen.
schwanken. Diese Ungenauigkeiten wie auch
etwaige Lücken, werden seiner Zeit in einem
Nachtrag zur Bibl. Faustiana ausgeglichen
werden. Dieser Nachtrag wird schon dadurch
zur Notwendigkeit, da(s besagtes Werk die
Aufzählung der Schriften mit Mitte 18S4 be-
schliefst, Heinemann beendigt die seinen mit
dem Jahre 1886, demnach die auf allen Ge-
bieten nachgefolgten Erscheinungen hinzugefügt
werden müssen.
Mögten sich noch mehr berufene Kräfte
finden, welche in speziellen Forschungen alle
Lücken ausfüllen, damit auf diese Weise mit
der Zeit eine tadellose Zusammenstellung der
gesamten Faustlitteratur erzielt wird.
Dresden. Karl Engel.
Im Anschluüs an die neueste bibliographische
Zusammenstellung Heinemanns, welche als ein
Beitrag zur Geschichte der deutschen Dichtung
in England erscheint, möchte ich auf eine
ältere, ebenfalls ins Gebiet der Faustlitteratur
gehörige Arbeit verweisen, deren weder Karl
Engel in seinem vortrefflichen grossen Werke,
noch die Bibliographie des Jahrbuchs der
deutschen Shakespearegesellschaft bisher ge-
dacht hat:
An essay towards a Bibliographie of
Marlowe'8 tragical history of Dr. Faustus.
CompUed by William Heinemann. London
1884. (Berlin, A. Hettler.) 30 S. 8«». M. 3.
Der bibliographische Versuch zählt 71
Nummern auf. Nach Vollständigkeit strebt
nur die erste Abteilung, welche die alten
Ausgaben des Marloweschen Faust verzeichnet
Die Anführung der angekündigten kritischen
Ausgabe von Breymann - Wagner für das Jahr
1884 hat freilich leider das von Heinemann
beigefügte Fragezeichen verdient Die Ueber-
setzungen verzeichnen aufser sechs deutschen
Ausgaben, — A. Boettger, Bodenstedt, van
der Velde imd (in drei Drucken vorliegend)
Wilhelm Müller — je eine französische, por-
tugiesische und schwedische üebertragung; die
portugiesische enthält allerdings nur ein Bruch-
stück und dieses nicht auf dem englischen
Texte sondern auf Victor Hugos Uebersetzung
beruhend. Aus der umfangreichen Litteratur
über Marlowes Faust strebte Heinemann nur
das wichtigste auszusuchen, dabei drei Gruppen
bildend : English and foreign Criticism on
Marlowes Doctor Faustus und wiebtigere
Untersuchungen und Aeufserungen über Mar-
lowe in Works on Goethes Faust. DaCs eine
solche Auswalil nicht durchweg Billigung
finden kann, liegt in der Natur der Sache,
doch wird man im grofsen und ganzen Heine-
manns Auswahl eine treffende nennen müssen.
Die ganze Arbeit aber ist ein schätzenswerter
Beitrag zur vergleichenden Geschichte der Faust-
dichtungen.
Marburg i. H. Max Koch.
Prancke, Otto: the life and death of
Doktor Faustus made into a Farce by Mr.
Mountford. Mit Einleitung und Anmerkungen
herausgegeben. (Englische Sprach- und Littera-
turdenknnale des t6., 17. und 18. Jahrhunderts
herausgegeben von Karl Vollmöller, 3. Heft.)
Heilbronn, Verlag von Gebrüder Henninger.
1886. XXXVm., 44 S. 8«. M. 1,20.
Wenn auch Mountford's Farce „life and
death of Doktor Faustus*' (zuerst gedr. 1697)
weder in ästhetischer noch in litterarhistorischer
Hinsicht als ein bedeutendes Werk bezeichnet
werden kann, so mufs es doch den zahlreichen
Gelehrten, die sich mit der Entwicklung der
Faustsage beschäftigen, willkommen sein, der
Vollständigkeit wegen auch von diesem Stücke
Kenntnis zu nehmen und da dasselbe nicht sehr
umfangreich ist, so wird diese Kenntnisnahme
doch wohl am bequemsten auf dem „nicht
mehr ungewöhnlichen Wege" eines Neudrucks
vermittelt Otto Francke gebührt für die Be-
sorgung dieses Neudrucks um so mehr unser
Dank, da er sich offenbar redlich bemüht hat,
durch eine ausführliche Einleitung und durch
Erklärung einzelner schwieriger Stellen das
Verständnis zu erleichtern. Im ersten Kapitel
der Einleitung „Mountfort als Schauspieler
und Dichter** orientiert er uns über Mountforts
Leben (1660 — 92) und über die Stellung, die
Mountfort im damaligen LondonerTheaterwesen
einnahm. Im zweiten Kapitel „Zur Geschichte
des Schauspiels Dr. Faust in England** nimmt der
Verfasser zunächst Stellung zu einigen der Streit-
fragen, die sich an Marlowes Faust anknüpfen.
Was er zur Begründung der Ansicht vorträgt,
dafs Marlowe nicht nach der englischen Ueber-
Besprechungen.
89
Setzung des Volksbuchs, sondern nach dem
deutschen Original gearbeitet habe, ist sehr
wenig überzeugend. Er weist auf die Ver-
mutung Wagner's hin, dals die Entziehung
der Spielerlaubnis, die 1589 über die Ad-
mirals-Truppe verhängt wurde, vielleicht damit
im Zusammenhang stehe, da(s diese Truppe
im Jahre zuvor den Faust des atheistischen
Marlowe aufgeführt habe. Und nun fahrt
Francke fort „Wäre dem so, dann müsste der
Faust im Jahre 1588 entstanden sein, eine An-
nahme, der nicht das geringste entgegensteht,
wenn man genau wü(ste, dafs Marlowe das
deutsche Faustbuch gekannt hat'* Aber selbst
wenn man die vage Vermutung Wagner's und
im Zusammenhang damit die Entstehung des
Marlowe'schen Faust im Jahre 1588 annimmt,
so folgt daraus doch noch lange nicht, dafis
Marlowe gerade das deutsche Original benutzt
habe, der undatierte Druck der englischen
Uebersetzung kann damals sehr wohl schon
existiert haben, da diese Uebersetzung nach
der editio princeps von 1587 abgedruckt ist
Wenigstens ist dies das Ergebnis der neuesten
bibliographischen Untersuchungen (vgl. Zamcke
im Braune'schen Neudruck S. X.) und wenn
der Herausgeber dem gegenüber die An-
sicht äulsert, da(s die englische Uebersetzung
,yhöchst wahrscheinlich** nach der deutschen
Ausgabe von 1590 angefertigt sei, so hätte er
doch hierfür eine ausführlichere Begründung
vorbringen müssen und sich nicht blos darauf
berufen dürfen, da(s im Jahre 1846 Düntzer
die Ausgabe von 1590 als die Vorlage be-
zeichnete. Im Zusammenhang damit citiert
der Herausgeber zwei Stellen aus der zeit-
genössischen Litteratur, die eine aus „Nash's
Martius Mouths minde** (1589), durch welche
die Annahme imterstützt werden soll, „daCs
der Faust wenigstens schon 1588 gespielt wor-
den ist*', die andere aus einer Schrift „four
letters and certain sonnets etc.** (1592) wegen
eines darin enthaltenen „bisher übersehenen
zwingenden Zeugnisses dafür, daCs Faust keines-
falls später als 1592 anzusetzen sei.** Die erste
Stelle, in welcher es heisst „vices make plaies
of Churche matters** beweist natürlich gar
nichts, in der zweiten Stelle werden die Worte
Fauste precor gelida citiert, die beiden
letzten Worte sollen einen „unverständlichen
Kabbalismus** enthalten, „unzweifelhaft aber**,
wie der Herausg. meint, „kann hier nur an den
damals allbekannten Marlowe'schen Helden
gedacht werden**. In Wirklichkeit haben die
Worte mit dem Magier Faust gar nichts zu
thun, es handelt sich hier vielmehr um ein
Citat aus einem damals weit verbreiteten, in
Schulen vielgelesenen Werke, nämlich den
Eclogen des Baptista Mantuanus; die erste
Ecloge beginnt mit den Worten:
Fauste precor gelida quendo pecus omne
sub umbra
Ruminat, antiquos paulum redtemus amores.
Der Anfang dieser Ecloge ist übrigens den
Freunden Shakespeares dadurch bekannt, dafs
der Pedant Holofemes in Love's Labour's lost
(Akt IV., Sc. 2) ihn citiert
Mannigfaches Interesse gewährt die Zu-
sammenstellung von Anspielungen auf Mar-
lowe's Drama und auf die Faustsage über-
haupt, die sich in der englischen Litteratur
bis um die Mitte des 18. Jahrhunderts fmden.
Hier wüIste Ref. wenig nachzutragen. Aus
den merry wives of Windsor wäre nicht nur
die bekannte Stelle Akt IV., Sc 5 von den
„three Doktor Faustuses** zu citieren gewesen,
sondern auch die für die vorliegende Einleitung
noch wichtigere Stelle Akt I., Sc i, wo Pistol
den Slender wegen seiner Magerkeit mit
Mephistopheles vergleicht, eine Stelle, die auch
für die Geschichte der traditionellen Theater-
maske des bösen Geistes von Bedeutung ist.
Ausserdem hätte noch auf das Auftreten des
Mephistopheles in Randolph's Komödie „tlie
Muse's looldng-glass** hingewiesen werden
müssen. Die Zusammenstellung ergibt übrigens,
wie gegen Ende des 17. Jahrhunderts das
Faust-Drama durch Zusätze und Umarbeitungen
immer mehr auf das Niveau eines gewöhn-
lichen Possenspiels herabgedrückt wurde. In
Kapitel III. „Zur Mountfort'schen Farce*,
(s. XXXV.— XXXVIII.) weist der Herausgeber
darauf hin, dafs Mountfort, indem er die
Masken des Harlekin und des Scaramoucbe
in seine Farce einführte, einer Geschmacks-
richtung folgte, die damals schon auf dem
Theater seiner Heimat eingebürgert war. Wir
fmden indess hier den Gesichtspunkt nicht be
90
B«sprechiiDgen.
rücksichtigt, von welchem aus die Mount-
fort'sche Farce gerade fiir die vergleichende
Litteraturgeschichte von besonderem Interesse
ii«t. Das Eindringen der italienischen Manier,
das wir um dieselbe Zeit auch auf dem Theater
anderer Nationen beobachten können, hat näm-
lich offenbar in England auf den Marlowe'schen
Faust in ganz ähnlicher Weise eingewirkt, wie
in Deutschland auf das Volksschauspiel, das
ja bekanntlich aus dem Marlowe'schen Faust
entstanden ist. Manche von den conventio-
nellen Harlekin-Spässen, die sich leicht und
ungezwungen an die überlieferte Fabel an-
schlössen, tinden wir im deutschen wie im
englischen Drama wieder, so z. B. Harlekin's
Versuche aus dem Zauberbuch zu buchstabieren.
Die Anmerkungen sind hauptsächlich der
Worterklärung gewidmet; „arsefetito" (vgl.
Anm. z. 525) ist offenbar eine burleske Ent-
stellung von assa foetida.
Krakau. Wilhelm Creizenach.
Sammlung spanischer Neudrucke des
XV. und XVI. Jahrhunderts. Herausgegeben
von Karl von Reinhardstöttner. Erstes
Bändchen: Der Amphitrion des Fernan Perez
de Oliva. München 1886. P. Zipperers Buch-
handlung. 75 S. 8*.
Ein Unternehmen, welches sich zur Auf-
gabe stellt, selten gewordene spanische Littera-
turdenkmäler in orthographisch völlig getreuen
Abdrücken und billigen Ausgaben zu reprodu-
zieren, kann nur bestens begrüfst werden, weil
es angethan ist, das Studium der spanischen
Sprache und Litteratur in mächtiger Weise zu
fördern, welches gerade durch die Schwierig-
keit der Anschaffung wichtiger Denkmäler bis-
her ungemein erschwert war. Dieses Unter-
nehmen gewinnt ferner noch dadurch an Be-
deutung, dafs auch solche spanische Litteratur-
werke, welche für die vergleichende Litteratur-
geschichte Stoff bieten, zur Ausgabe gelangen
werden. Da die Redaktion den bewährten
Händen Professors Dr. von Reinhardstöttner
anvertraut ist, so kann mit Fug und Recht
nur das Beste erwartet werden. Das bis jetzt
vorliegende erste Bändchen der Sammlung, von
dem oben genannten Gelehrten herausgegeben,
bietet uns eine Bearbeitung des Plautinischen
Amphitruo von Feraan Perez de Oliva unge-
fähr aus dem Jahre 1530, einer Zeit, deren
Bestrebungen auf dem Gebiete der dramatischeD
Poesie der berühmte spanische Dichter und
Litterarhistoriker Don Alberto Lista in seinen
„Lecciones de literatiura espanola mit folgen-
den Worten charakterisiert: „Tiempo era jra
de que se dilatase la esfera de la accion
dramätica. Conocianse en toda Europa, y eran
comunes en todas las librerias de los hombres
de gusto, las obras cldsicas de la antigüedad
en este g^nero. Söfocles, Euripides, Terencio,
S^neca y Planto empezaron d ser familiäres A
nuestros literatos. Era necesario, pues, para
llamar la atencion, 6 inspirar inter6s al publice,
dar mas complicacion A la fdbula, aamentar
el nümero des los personagcs, y las riquezas
de la escena. Procurdronse estos resultados
por dos caminos diferentes. Uno, que pareda
entonces el mas natural, la traducdon ö imi-
tacion de los antiguos: otro, mas dificil por
mas original, pero que logrö al fln la prefe-
rencia, la creacion de fdbulas novelescas**.
(3a leccion.) Der Amphitrion des Fernan
Perez de Oliva, gehört der ersteren der beiden
erwähnten Richtungen, dem „uso antiguo" an
und bietet uns ein instnictives , aber freilieb
kein erfreuliches Bild von der Art und Weise>
wie man in Spanien antike Meisterwerke be-
arbeitete. Der ästhetische Wert des spanischen
Amphitruo von Fernan Perez de Oliva ist
null und vermag auch die von Alberto Lista
als wunderbar bezeichnete Prosa desselben
keinerlei Ersatz zu bieten. Vom litterar-
historischen Standpunkt gewinnt die Sache
freilich ein anderes Aussehen und wird sowohl
der klassische wie der moderne Philologe mit
hohem Interesse die in Rede stehende Be-
arbeitung seinem Studium unterziehen. Und
so haben wir allen Grund zu wünschen, dafs
die uns versprochenen Farsas von Fernan
Lopez de Yanguas, Juan de Paris, Bartho-
lome Palau, Fernando Diaz sowie die Komö-
dien Tidea von Francisco de las Natas, The-
sorina von Jaime de Guete, Florisea von
Francisco de Avendano u. s. f. recht bald er-
scheinen und, wie wir nicht zweifeln, der Aus-
gabe des Amphitruo gleichwertig sein mögen
St. Johann i. P. A. Luber.
über Goethes Versuch,
zu Anfang unseres Jahrhunderts die römischen Komiker
Plautus und Terenz auf der weimarischen Bühne
heimisch zu machen.
Von
Otto Francke.
Ihr wilst, auf unsern deutschen Bühnen
Versucht ein jeder, was er mag.
Man kann unmöglich behaupten, dafs es eine blofse Redensart war,
wenn jüngst von berufener Seite die Behauptung aufgestellt wurde,
dafs durch die Eröffnung des Goethe- Archivs nicht nur, wie ja das durch
die letzten Ausgrabungen in Olympia und Pergamon ermöglicht ward,
unsere genaue Kenntnis einer g^ofsen Kulturströmung vergangener Zeit
sich erweitern oder abklären mufs, sondern dafs dadurch vielmehr das
rollende Rad der Civilisation einen beschleunigenden Anstois erhalten hat.
Goethes Wort: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es,
um es zu besitzen,** welches im vorigen Jahre Kuno Fischer in geweihter
Stunde den in Weimar versammelten Goethefreunden ins Gedächtnis
zurückrief, möge daher zur Wahrheit werden im weitesten Sinne und auf
allen Gebieten des menschlichen Wissens. Freilich mufs sich dann ein
jeder gewöhnen, auch das scheinbar Geringfügige in Wissenschaft und
Kunst nicht zu verachten; er mufs sich vielmehr den Naturforscher Goethe
zum Muster nehmen, dem auch das kleinste Stäubchen in der Gottes-
natur Anlafs zum Nachdenken bot. Und nicht möge man deshalb durch
Schillers Wort: „Wenn die Könige bau*n, haben die Kärrner zu thun*^ ein
falsches Schamgefühl der Röte in sich aufsteigen lassen. Es lohnt sich viel-
mehr, den Bau eines Königs zu untersuchen, nicht nur um die Zieraten der
Architektur der Fa9ade zu bewundem, sondern um einen Einblick zu
ZCtchr. f. ygt Litt-G«ach. I^ ^
92 Otto Francke.
gewinnen in das Gefuge des Ganzen, und dabei darf man sich gelegent-
lich einen Seitenweg nicht verdriefsen lassen.
Einen solchen Seitenweg im folgenden fuhren zu dürfen, dazu bitte
ich den gütigen Leser um seine geneigte Erlaubnis. Das Urteil der sach-
verständigen Kenner und der gebildeten Welt über die grofsartigen Ver-
dienste, welche Goethe in Gemeinschaft mit Schiller sich um Hebung
des weimarischen Theaters und somit der gesamten deutschen Bühne
erworben hat, ist ein feststehendes geworden, seit Männer, wie L. Devrient,
A. Scholl u. a. „das Thatsächliche von Goethes dramaturgischen Absichten
und Einflüssen achtsam zusammengestellt haben." Durch Goethes Führung
hat die deutsche Schauspielkunst, wie A. Scholl sich gelegentlich äufsert,
den erhabensten Aufschwung genommen, eine innere Veredelung, die
sie zu der Poesie und der Befriedigung der Gebildetsten in ein würdiges
Verhältnis brachte; und bekannt ist, dafs Goethe die Bühnenpraxis der
besten Schauspieldirektoren in einer Handhabung der Studien und Proben
zu vereinigen wufste, welche die Wirkungen bis an die Grenze des
Möglichen sicher stellte. Um sich eine lückenlose Vorstellung' vom
ganzen Umfange der wahrhaft sittlichen That, die Goethe am weimarischen
Theater verübt hat, zu machen, bedarf es allerdings eingehender Studien;
allein auch derjenige, dem sich die Möglichkeit verschliefst, selber forschend
zu den Quellen hinabzusteigen, wird eine im ganzen richtige Anschauung
der von Goethe in bezug auf das Theater verfolgten Ideale gewinnen
können, wenn er weiter nichts, als die gesammelten Prologe und Epiloge
oder die auf Personen vom weimarischen Theater bezüglichen Gedichte
des Meisters lesen wollte, wie z. B. das bekannte „auf Miedings Tod"
oder die wundervolle, dem Andenken der lieblichen Christiane Neumann
gewidmete Elegie „Euphrosyne^'.
Seit 1791 war in Weimar eine stehende Bühne errichtet worden,
deren Leitung Goethe bis zum Anfang des Jahres 181 7 oblag. Von
Anfang an war er um Verdrängung des Naturalistischen, um harmonisch
abgerundetes Zusammenspiel eifrig bemüht gewesen; an trefflichen Schau-
spielern, an talentvollen Künstlern fehlte es zwar damals nicht; allein die
meisten waren doch mehr oder weniger reine Naturkinder, ohne den
Vorteil einer gediegenen Künsderschule hinter sich zu haben.
Wie sah es dagegen um 1791 mit dem deutschen Drama aus?
Schiller und Goethe hatten zwar schon unsterbliche Meisterwerke geliefert;
doch bildeten neben denselben nur noch die Dramen Lessings die einzige
Quelle, von welcher aus der fast noch dürre Boden des damaligen
Theaters hätte befruchtet werden können. Leider war freilich der
Goethes Versuch, Plautus u. Terenz auf d, weimarischen Bühne heimisch zu machen. 93
herrschende Geschmack der achtziger Jahre durch Kotzebue und zum
Teil auch durch Ifflands Rührstücke bedeutend herabgesetzt worden.
An fruchtbaren und, was mehr ist, an gediegenen Dramendichtern war
grofser Mangel. So wird Goethes Klage begreiflich, die er in einem
Briefe an Schiller am 29. Dezember 1795 in die Worte kleidet: „Alles
will schreiben und schreibt, und wir leiden auf dem Theater die bitterste
Not."*) Darauf antwortete Schiller noch an demselben Tage: „Sie sprechen
von einer so grofsen Teuerung in der Theaterwelt. Ist Ihnen nicht schon
der Gedanke gekommen, ein Stück von Terenz fiir die neue Bühne zu
versuchen? Die Adelphi hat ein gewisser Romanus schon vor dreifsig
Jahren gut bearbeitet, wenigstens nach Lefsings Zeugnis. Es wäre doch
in der That des Versuches wert. Seit einiger Zeit lese ich wieder mehr
in den alten Lateinern und der Terenz ist mir zuerst in die Hände
gefallen. Ich übersetzte meiner Frau die Adelphi aus dem Stegreif, und
das grofse Interesse, das wir daran genommen, läfst mich eine gute
Wirkung erwarten. Gerade dieses Stück hat eine herrliche Wahrheit
und Natur, viel Leben im Gange, schnell decidirte und scharf bestimmte
Charaktere, und durchaus einen angenehmen Humor."
Allein Goethe, der bereits als Knabe, wie er in „Dichtung und
Wahrheit" erzählt, den Terenz nachzuahmen wagte, und den es dereinst,
•) Im Zusammenhange mit dieser Briefstelle gewinnt folgende Bemerkung ein ver-
stärktes Licht.
Im III. Bde. der „Propylaeen** (2. Stück) S. 169 ff. für 1801 war nämlich eine „ drama-
tische Preisaufgabe** ausgeschrieben, wobei es u. a. heilst: — ^Man g^ebt hierbei dem
Lustspiel den Vorzug vor dem Trauerspiel, weil an jenem überhaupt noch ein gröfserer
Mangel ist und das Neue darin am meisten gefordert wird. Denn ob wir gleich an guten
Tragödien vielleicht noch ärmer sind, so kann unsere Bühne sich hier weit mehr, als dort durch
das Ausland, ja selbst durch das Altertum bereichem jund das Vortreffliche in dieser
Gattung veraltet nie. — — Man klagt mit Recht, dais die reine Komödie, das lustige Lust-
spiel, bei uns Deutschen durch das sentimentalische zu sehr verdrängt worden und es ist
allerdings ein herrschender Fehler auf unserer komischen Bühne, dals das Interesse noch viel
zu sehr aus der Empfindung und sittlichen Rührung geschöpft wird. Das Sittliche aber sowie
das Pathetische macht immer ernsthaft und jene geistreiche Heiterkeit und Freiheit des
Gemüts, welche in uns hervorzubringen das schöne Ziel der Komödie ist, läfst sich nur
durch eine absolute moralische Gleichgültigkeit erreichen; es sei nun, dais der Gegenstand
selbst schon diese Eigenschaft habe, oder dais der Dichter die Kunst besitze, die moralische
Tendenz seines Stoffes durch die Behandlung zu überwinden."
Im folgenden wird auf die mangelnde Fähigkeit des Deutschen, eine Charakterkomödie
zu schaffen, hingewiesen; daher heilst es S. 171 weiter: „Es bleibt also nur das Feld der
Intriguenstücke offen, das Feld ist reich und nicht so leicht als das der Charakterstücke zu
erschöpfen. . . . Ein Preis von dreiisig Dukaten wird hiermit auf das beste Intriguenstück g^etzt.**
(Am 35. Dez. 1800 hatte Goethe Rochlitz aufgefordert, sich um diesen Preis zu bewerben).
7*
94 Otto Prancke.
wie er gleichfalls mitteilt, ,ygar sehr verdrofs, als er vernahm, Grotius
habe übermütig geäufsert, er lese den Terenz anders als die Knaben,"
mochte doch einen derartigen Versuch auf seinem Theater noch für ver-
früht halten. Freilich hatte er schon früher lebhaften Anteil an den
Wiederbelebungs- Versuchen genommen, welche Jacob Michael Rein-
hold Lenz im Anfang der siebziger Jahre an Plautus gemacht hatte;
man war sogar in folge der Bemerkung des Verlegers Weygand in
seinen Verlagskatalogen von 1774: „von Goethe und Lenz" lange
geneigt gewesen, die Urheberschaft der fünf „Lustspiele nach dem
Plautus fürs deutsche Theater" beiden Freunden gemeinsam zuzu-
sprechen. Es mag sein, dafs Goethe Lenz gelegentlich bei der Bearbeitung
mit seinem Rate zur Seite gestanden hat; wie sehr er sich aber im
Hinblick auf die Bühne für Lenzens Bestrebungen erwärmen konnte,
geht aus ein paar Briefen hervor, die er an den Aktuar Salzmann in
Strafsburg geschrieben hat. Eine bezeichnende Stelle im ersten Briefe
vom 6. März 1773 lautet so: „Die Komödien belangend geht ja alles
nach Wunsch, ein Autor der sich raten läfst, ist eine seltene Erscheinung,
und die Herren haben auch meist nicht Unrecht, jeder will sie auf seine
Art zu denken modeln. Also, lieber Freund, hier keine Kritik, sondern
nur die Seite, von der ich*s ansehe. Unser Theater, seit Hanswurst
verbannt ist, hat sich aus dem Gottschedianismus noch nicht losreifsen
können. Wir haben Sittlichkeit und lange Weile; denn an jeux d'esprit,
die bei den Franzosen Zoten und Possen ersetzen, haben wir keinen Sinn,
unsre Sozietät und Charakter bieten auch keine Modele dazu, also
ennuyiren wir uns regelmäfsig und willkommen wird jeder sein, der eine
Munterkeit, eine Bewegung aufs Theater bringt. Und ich hoflfe von
dieser Seite werden diese Lustspiele sehr Beifall haben. Nur wissen
Sie, um eine honette Gesellschaft zu entriren, bedarfs eines Kleids,
zugeschnitten nach dem Sinn des Publikums, dem ich mich produziren
will, und über dies Röckgen wollen wir ratschlagen. Zuvörderst keine
Singularität ohne Zweck. Das ist was gegen die lateinischen Namen
spricht. Leander, Leonora sind Geschöpfe, mit denen wir schon bekannt
sind, wir sehen sie als alte gute Freunde wieder auftreten. Besonders
da übrigens das Costüm neu ist, der König in Preufsen vorkommt und
der Teufel Denn was die innere Ausfuhrung betrifft, wie ich wünsche,
dafs er an einigen Stellen dem Plautus wieder näher, bei andern noch weiter
von ihm abrücken möchte, wie der Sprache, dem Ausdruck, dem
Ganzen der Szenen an Rundheit nachgeholfen werden köimte; darüber
möcht ich mich in kein Detail einlassen. Der Verfasser mufs das selbst
Goethes Versuch, Plautus u. Terenx auf d. weimarischen BOhne heimisch zu machen. 95
fühlen, und wenn er mir seine Gedanken über das Ganze mitzuteilen
beliebt, will ich auch die meinigen sagen; denn ohne das würd ich in
Wind schreiben. Was ihm alsdann an meiner Vorstellungsart beliebt,
dafs er's in sein Gefühl übertragen kann, und ob er nach einem neu
bearbeiteten Gefühl wieder den Mut hat, hier und da umzuarbeiten, das
mufs der Ausgang lehren. Ich hasse alle Spezialkritik von Stellen und
Worten. . . . Nur müssen wir bedenken, dafs wir diesmal mit dem
Publikum zu thun haben, und besonders alles anwenden müssen, den
Direktors der Truppen das Ding anschaulich und gefallig zu machen,
welches vorzüglich durch ein äufserlich honettes Kleid geschieht. Denn
gespielt machen sie ihr Glück. Nimmt man aber lebendige Stimmen,
Theaterglanz, Carikatur, Aktion und die Herrlichkeit weg, verlieren sie
gar viel; selbst im Original versetzen uns wenig Szenen in's gemeine
Leben; man sieht überall die Frazzen-Masquen, mit denen sie gespielt
wurden.*'
Ein paar Monate später schreibt Goethe gleichfalls an Salzmann
u. a. folgendes: „Sie haben lange nichts von mir selbst, wohl aber
gewils von Lenz und einigen Freunden allerlei von mir gehört. Ich
treibe immer das Getreibe; denn Plaut, (sie) Komödien fangen an sich
herauszumachen. Lenz soll mir doch schreiben. Ich habe was für ihn
aufm Herzen."
Noch in demselben Jahre, am 3. November, schickte Goethe an
Helene Elisabet Jacobi die ersten Bogen der Komödien mit dem Ver-
sprechen, die nächsten folgen zu lassen; und in dem Briefe von Anfang
Dezember 1773 abermals an Betty schrieb er: „Mit der fahrenden
kriegen Sie ein Allerlei, darinn die folgenden Bogen zum Väterchen,
davon Sie zum Tröste Jungs kristgläubiger Seele sagen können, dafs
ichs nicht gemacht habe. Ich habs nicht gemacht. Mamachen, aber
ein Junge, den ich liebe wie meine Seele, und der ein treflflicher
Junge ist."*) —
Die Kritik verhielt sich diesen Versuchen gegenüber entschieden
aufmunternd; sehr günstig wurde das neue Buch von Wieland im 7. Bande
des „Teutschen Merkur" 1774, S. 355 f. beurteilt;**) von anderer Seite
*) Vgl. S. Hirze], der junge Goethe, I, S. 351 ff; 385; 397.
**) Die Wielandscbe Kritik lautet so: „Lustspiele nach dem Plautus, fürs deutsche
Theater. Frankfurt und Leipzig, 23 Bogen 8/*
„Jetzt da man so geschäftig ist, die grolsen Geister der Alten wieder zu erwecken,
hat jemand hier auch den Plautus beschworen, der zwar schon oft in Deutschland als
Gespenst, aber noch nie so erschienen war, dafs die Deutschen seine wahre Physiognomie
96 Otto Francke.
hingegen, wie von Eschenburg (Allgemeine deutsche Bibliothek 1775
XXVI. Band 2, 470 — 474), wurde die erfolgreiche Wirkung einer Auf-
führung, falls eine solche gewagt werde, ernstlich angezweifelt. Soviel
man weifs, sind jedoch die Lenzschen Übersetzungen niemals irgendwo
aufgeführt worden. Auf sie wollte und konnte Goethe daher trotz
Schillers Anregung nicht zurückkommen, da es ihm vor allem darauf
ankam, zuvor die durch Schröder und IfFland begünstigte Richtung der
Schauspieler nach zu natürlicher Wiedergabe des dichterischen Gedankens
zu beseitigen. Goethe, der dem klassischen Altertum urverwandte Geist,
hatte schon längst in der Erkenntnis der antiken Kunst sein eigenes Ich
wiedergefunden und in Werken, wie Tasso und Iphigenie, seiner Gesinnung
den rechten Ausdruck verliehen. Und Schiller konnte hinter Goethe
nicht zurückbleiben; mit der Wallenstein-Trilogie ward für alle Zeiten der
dramatischen Kunst der Deutschen dir richtige Weg gewiesen.
Worin bestand aber vornehmlich die Neuerung, die durch die
genannten Meisterwerke für das deutsche Drama so einflufsreich wurde?
Mit einem Worte — man kann ohne eingehendes Studium der Urteile
der Freunde und zahlreichen Gegner der Neuerung die weittragende
Bedeutung der grofsen That Goethes und Schillers nicht hinlänglich
hätten kennen lernen. — Weder buchstabierende Übersetzung, noch freie Nachahmung,
sondern eine Art von Nachbildung erhalten wir hier, wie wir, so viel ich weifs, noch von
keinem alten Dichter besitzen. Treue war nur ein Gesetz des Verfassers in Ansehung des
Plans und der wesentlichen Gedanken; hingegen dichtete er sich in die Person seines Plautus
so sehr hinein, dafs er, gleich einem Schauspieler von Genie, ihm Ideen und Worte unter-
schieben konnte, die Plautus selbst billigen muiste. Nie suchte er ihn zu verschönern, sondern
er versteckte nur zuweilen einen Zug, damit er einleuchtender würde, rückte näher zusammen,
was zu weit entfernt stand, füllte kleine Lücken aus, die sonst ein gelehrter Kommentar
ausfüllen mufste. Die leichteste Arbeit war, neue Sitten mit alten zu vertauschen, weg-
zuwischen, was den letzteren zu sehr entgegen lief, Auswüchse wegzuschneiden, beschwerlichen
Überflufs zu tilgen und dergleichen. Da sich durch solche sorgfilltige Bemühungen und
durch die eigene komische Anlage des Übersetzers die Sprache zum Original umgebildet
hat, so könnte man wohl wünschen, da(s er sich auch in der Oekonomic der Stücke dieselbe
Freiheit erlaubt hätte. Ein verstärkteres Interesse, ausgearbeiteter e Charaktere, verbesserte
EntWickelungen, würden ihm noch grösseren Ruhm erworben haben. Nichts ist willkürlicher,
als die Titel des Plautus, und daher sind auch diese abgeändert worden. Die Asmarta
heifst das Väterchen, weil der Vater seinem Sohne in allen Ausschweifungen Gesellschaft
leistet, Auluiaria die Aussteuer, weil der Geizige doch zuletzt eine Mitgift geben muis,
At:x Miles gloriofus A\^ Entführungen, weil dem Prahler, der eine Frau zu entführen
meinte, seine Geliebte entfuhrt wird, Truculentas die Buhl Schwester, weil mehr die Sitten
dieser Gattung von Menschen den Inhalt ausmachen, als die Grobheiten eines Landjunkers,
der Curculio die Türkensklavin, weil die Erkennung und Befragung derselben das
Hauptinteresse ist,"
•
Goethes Versuch, Plautus u. Terenz auf d. weimarischen Bühne heimisch zu machen. 97
würdigen — mit einem Worte, es war die Einführung des funfFüfsigen
Jambus. Die weimarische Bühne, die Geburtsstätte des idealen Dramas,
sollte nunmehr auch die Wiege der idealen dramatischen Darstellung
werden. Die Schauspieler litten, wie Goethe es einmal nannte, an der
Rhythmophorbie, an der Vers- und Taktscheu; sie sudeln gern, sagte
Schiller, wenn sie nicht durch den Vers in Respekt erhalten werden.
Wie natürlich daher, dafs die beiden grofsen Dichter, je klarer sie sich
darüber wurden, dafs einzig das Versdrama und die durch den Vers
bedingte Idealität der Motive und Charaktere aus der Plattheit der
herrschenden Bühnendichtung herausfuhren könne, als eine ihrer dringend-
sten Pflichten erkannten, sich ein Schauspielergeschlecht zu erziehen, dem
wörtliches Memorieren, gehaltener Vortrag, gemessene Aktion eine zweite
Natur sei. Nun ist es geschichtlich nachweisbar, dafs in dieser unerläfs-
lichen Umbildung der Kunst dramatischer Darstellung vieles mit festem
Hinblick auf die französischen Bühnengewohnheiten geschah. Wilhelm
von Humboldt hatte in den „Propylaeen" eine sehr eingehende Schilderung
des Pariser Theaters und insbesondere des grofsen Schauspielers Talma
gegeben. Hier sind die tiefsinnigsten Gedanken über das Wesen der
Schauspielkunst und über den Unterschied der französischen und deutschen
Künstler in einer bis auf den heutigen Tag unübertroffenen Art aus-
einandergesetzt. Es lohnt sich daher die Mühe, an dieser Stelle ein paar
der gediegenen Äufserungen herauszugreifen, die für das Verständnis des
späteren Versuches, den Terenz und den Plautus zu neuem Leben zu
erwecken, nicht ohne Bedeutung sind. „Bei allem Kunstgenufs," sagt
Humboldt, „macht die Einbildungskraft allein die Unkosten; es ist nie
das Kunstwerk selbst und allein, was uns entzückt; es ist das Bild, das
wir durch dieselbe begeistert, vielleicht ebenso sehr in dasselbe hinein,
als aus demselben heraussehen." An einer anderen Stelle heifst es:
„Man hat oft geklagt, dafs es auf unserer Bühne an graziösem und feinem
Anstand fehle; es fehlt aber mehr: es fehlt das sinnliche Moment neben
dem ästhetischen vollständig. Denn für den Schauspieler bleibt immer
das Wesendiche das, dafs er das Dichterische und Malerische seiner Kunst
nicht trenne. Wir sind nicht sinnlich genug ausgebUdet, unser Ohr nicht
musikalisch, unser Auge nicht malerisch genug. Zudem denken unsere
deutschen Schauspieler gar nicht an den Zuschauer, sondern spielen ohne
Rücksicht auf die Umgebung, derentwegen si« spielen sollten." Goethe
zollte dem Aufsatze Humboldts den wärmsten Beifall und fühlte sich
durch denselben nach zwei Seiten hin angeregt; einmal hoffte er,
in Anlehnung an die hier ausgesprochenen Grundsätze, die durch
98 Otto Francke.
Begünstigung des einseitigsten Realismus verderbte Richtung der damaligen
Dramatiker zu beseitigen, und zum anderen — worauf nicht weniger
Gewicht zu legen ist — die durch jene Bestrebungen beeinflufste Kunst
des Schauspielers vollständig umzugestalten. So entstanden seine Über-
setzungen von Voltaires Mahomet und Tankred*), um, wie er selbst sagt,
die Schauspieler in der Ausübung rednerischer Deklamation und in der
Übung fester Gebundenheit in Schritt und Stellung zu fordern. Keines-
wegs war es Goethes Absicht, undankbar gegen die Schule Lessings^
die seichte Nachahmung, die geistlose Regelmäfsigkeit wieder aufzubringen,
welche einst die Wiege unserer dramatischen Kunst schwer drückte.
Schiller schlofs sich von ganzem Herzen auf der neueingeschlagenen
Bahn an (sein Prolog zu Goethes Mahometübersetzung); in kurzer* Zeit
lieferte er seine Bearbeitungen von Shakespeares „Makbeth", Gozzis
„Turandot" und Racines „Phaedra.*' Die weimarische Schauspielerschule,
die sich unter solchen Einflüssen bildete, war der Ausdruck der Epoche
des hohen klassischen Dramas; ihre künstlerische und geschichtliche Be-
deutung ist eine unvergefsliche. Allein Goethen genügte auch diese nie
wieder erreichte Höhe noch nicht; er, der eine ganze Welt in sich fühlte,
mufste in allumfassender Weise das Altertum auch auf dem Gebiete des
Dramas reproduzieren.
; : Nach zwei Richtungen hin versuchte er schon im Jahre 1800 mit
seinem Festspiele „Palaeophron und Neoterpe" eine Wiederbelebung
desselben; einmal wandte er hier zuerst den antiken jambischen Trimeter
an, allerdings in freier Behandlung, und zweitens führte er den Gebrauch
der alten Masken wieder ein, worin die plastische Seite des darzustellenden
Dramas gipfeln sollte. Es kam ihm vor allem darauf an, durch dieses
Mittel die Schauspielkunst nach allen Seiten hin zu vervollkommnen oder
vielmehr sie ganz auf die Bahn des Idealen hinzulenken. Zudem sollte
das Publikum, wenn auch erst im Scherz, d. h. in der Komödie, an diese
Darstellungsform gewöhnt werden, in der „die Persönlichkeit der
wohlbekannten Künstler vollkommen aufgehoben ist", indem
sie andere Personen darstellen und so wirklich als „fremde Männer"
erscheinen. Auch Lessing, der, um dies beiläufig zu erwähnen, den
Schauspielern seiner Zeit ein eingehendes Studium des Terenz mit Hilfe
des Donat dringend ans Herz legte,**) hatte gelegentlich die Abschaffung
der Masken bedauert. „Der Schauspieler" — so sagt er in der Hamburger
Dramaturgie (56. Stück, vom 13. November 1767) — „kann ohnstreitig unter
*) Vgl. Joh. Weiss, Goethes Tankredübersetzung. Eine literarische Studie, Troppau 1886.
**) Vgl. Hamburger Dramaturgie 72. Stück, vom S.Januar 1768.
Goethes Versuch, Plautus u. Terenz auf d. weimarischen Bfihne heimisch zu machen. 99
der Maske mehr Contenance halten; seine Person findet weniger Gelegen-
heit auszubrechen, und wenn sie ja ausbricht, so werden wir diesen
Ausbruch weniger gewahr." Von der Naturwahrheit also sollten so
Schauspieler, wie Publikum zur Kunstwahrheit erhoben werden, um einen
charakteristischen oder schönen Kunststil auf dem Theater begründen zu
helfen. Die Aufführung von „Palaeophron und Neoterpe" aber bereitete,
wie Goethe in den „Annalen oder Tag- und Jahresheften'* (von 1800)
schreibt, ,Jene Maskenkomödien vor, die in der Folge eine ganz neue
Unterhaltung Jahre lang gewährten."
Von den angedeuteten Grundsätzen geleitet, mochte sich Goethe
nunmehr der oben angeführten Briefetelle Schillers erinnern, und so
veranlafste er einen in dem weimarischen Hof- und Gelehrtenkreise mit
Recht aufserordentlich geachteten und ihm selbst nahe befreundeten
Mann, den Kammerherm Friedrich Hildebrand von Einsiedel, die
„Adelphi" des Terenz für die deutsche Bühne im Versmafs des Originals
zu bearbeiten. Die Wahl eben dieses Stückes mochte von Schiller
beeinflufst worden sein; sicher zeigte sie den verständigen Kenner.
Man weifs, dafs gerade „die Brüder" nach Anlage und Ausfuhrung das
am feinsten durchgeführte Lustspiel des alten Komikers ist. Das Stück
mit seinem Reichtum an feinen Motiven, mit seiner trefflichen Charakter-
zdchnung war zu einer Bearbeitung in deutscher Sprache durchaus
geeignet, daher man sicherlich viele Stellen, die der Kenner des Originals
sich zwar ungern entrissen sieht, bei der Aufführung gar nicht vermifst
haben mochte. Übrigens hatte sich Einsiedel die Sache nichts weniger
als leicht gemacht.*) Man kann, den Terenz in der Hand, der Über-
setzung Schritt für Schritt folgen, und wenn man hier etwas ausgelassen,
dort etwas zugesetzt findet, so entdeckt man doch zugleich auch, dafs
der Grund davon im regen Gefühl des für die moderne Zeit Schicklichen
und Ausfuhrbaren lag. Oft findet man den Ausdruck etwas verstärkt,
das Komische etwas freigebiger aufgetragen. Aber nur selten schreitet
dieses über die feine Linie des klassischen Altertums zum Modernen
herüber, und selbst dabei ist der passendste, gangbarste Ausdruck fast
überall glücklich gefunden worden.
Die erste Auflfuhrung war einem besonderen Festtage vorbehalten.
Sie erfolgte am 24. Oktober, am Geburtstage der verwitweten Herzogin
Amalie von Weimar; und Goethe schreibt davon in den „Tag- und Jahres-
heften" (zu i8ot): „Am 24. Oktober, als am Jahrestag des ersten Masken-
spiels, „Palaeophron und Neoterpe", wurden die „Brüder", nach
*) Vgl- „Zeitschrift för die eleg;ante Welt" vom la. November 1801, S. X096.
100 Otto Francke.
Terenz von Ein sie de 1 bearbeitet, aufgeführt, und so eine neue Folge
theatralischer Eigenheiten eingeleitet, die eine Zeit lang gelten, Mannig-
faltigkeit in die Vorstellungen bringen und zur Ausbildung gewisser
Fertigkeiten Anlafs geben sollten.'* Es sei mir gestattet, mit Benutzung
der zwei zuerst über dieses Ereignis erschienenen Berichte, wie sie sich
in der „Zeitung fiir die elegante Welt" vom lo. und t2. November des
Jahres 1801 (S. 1088 flf.) finden, eine Schilderung der theatralischen
Darstellung zu geben.
Die Direktion, die, wie es an einer Stelle wörtlich heifst, so gern
alles unterstützt, was den einfachen, geläuterten Geschmack der Alten
wiederherzustellen vermag, hatte von ihrer Seite nichts imterlassen, was
der Vorstellung die höchste Täuschung leihen konnte. Schon die
Dekoration war ganz dazu gemacht, in das Privadeben der Alten zu
versetzen. Die eine Hälfte des Hintergrundes nahm das Haus des Micio
ein, das durch geschmackvolle Zierlichkeit einen begüterten Bewohner
ankündigte, ohne durch seine Gröfse oder Pracht über eine einfache
und beschränkte Nettigkeit hinauszugehen. Im unteren Stockwerk waren
gar keine Fenster, sondern zu beiden Seiten über der Thüre zwei Ein-
senkungen in die Mauer über einander ; die untere mit Figuren, die obere
mit Zieraten in Basrelief gefüllt. Über der Thüre war gleichfalls eine
solche Einsenkung, und rechts und links eine Fensteröffnung, oben ein
breiter Sims, das Dach platt und also nicht zu sehen. Anstofsend an
dieses Haus war ein niedrigeres mit zwei heruntergehenden Dächern, die
Wohnung der armen Sostrata, welche demgemäfs gar keine Verzierungen,
sondern blofs eine sehr niedere Thüre hatte. Eine verständige Enthalt-
samkeit war es, keine Aussicht in die Ferne angebracht zu haben, wobei
sich, da der Schauplatz in Athen liegt, architektonische Pracht und
Gelehrsamkeit, nach Art der Meininger etwa, glänzend hätte anbringen
lassen. AUein Goethe hatte sich sicherlich mit seinem Freunde
Heinrich Meyer, nach dessen Angaben Dekorationen und Costüme
angefertigt worden waren, im voraus über die notwendig einzuhaltenden
Grenzen verständigt. Freilich wufste ein erbitterder Feind der Goethe-
schen Direktion in einem kuriosen Büchlein, das im Jahre 1808 unter dem
Titel erschien: „Saat von Goethe gesäet dem Tage der Garben zu
reifen" (Weimar und Leipzig)*), mancherlei daran auszusetzen; indessen,
*) Eine hierher gehörige Stelle aus dem seltenen Büchlein, welche auf die Auflfuhning
der „Brüder^* Bezug nimmt, ist charakteristisch genug, um hier mitgeteilt zu werden. Auf
S. 1 37 f. heilst es so : „Wahrlich diese Deutsch-Atheniensische Schauspielergesellschaft trotzt
recht auf die Milde des nachsichtigen Publikums. Kaum hat es sich in den Schlaf gegähnt,
Goethes Versuch, Plautus u. Terenz auf d. weimarischen BQhne heimisch zu machen. 101
da man aus jedem Worte dieser bissigen Kritik persönlichen Groll heraus-
zulesen vermag, so will ich mit Anfuhrung von Einzelheiten nicht
fortfahren. Mit gröfster Einsicht hatte man die Trachten und die ganze
Erscheinung der Personen angeordnet.
so soll es bei seinem Erwachen mit den ekelhaftesten Plattheiten bewirtet werden, welche
aber freilich das grofse Verdienst haben — antik zu sein. Der Raum dieser Blätter erlaubt
es ebenso wenig, als der Plan dieser Revision, ausfuhrlich darzuthun, welche eine Satire auf
den guten Geschmack und den gesunden Menschenverstand es ist, in unserm Zeitalter, wo
unsere dramatische Literatur Meisterstücke aufzuweisen hat, welche jedes Zeitalter ehren
würden, solche abgeschmackte zotenhafte Possen aufzutischen, welche höchstens beweisen,
auf welcher Stufe der Unvollkommenheit die dramatische Kunst bei den Alten stand
Ebenso wenig werde ich mich dabei aufhalten, die in die Sinne fallende Unzulänglichkeit
der Masken für die Bühne zu erweisen, welche beinahe den gröfsten Teil der Kunst, die
Mimik, gänzlich ausschlie&en, sondern einen flüchtigen Überblick auf die Darstellung selbst
werfen.** Auf diese allgemeiner gehaltenen Bemerkungen folgt eine hämische Kritik der
einzelnen Schauspieler; der Schlufs des Ganzen aber lautet (S. 141): „Ich schlieise die
Revision dieser über alle Begriffe elenden Masken-Darstellung mit dem Bemerken, dafs die
Dekorationen dem Übrigen angemessen waren. So z. 6. hat man auf der Strafse zu Athen
eine Haustüre, auf welcher Perücken mit Haarbeuteln gemalt waren.'* — Wie unwürdig
und boshaft, zum mindesten im Tone, die Kritiken über die weimarische Bühne vom Ver-
fasser dieses Pasquills gehalten sind, kann man am ehesten ermessen, wenn man damit etwa
nur Goethes Bemerkungen zu „einigen Szenen aus Mahomet'^ in den „Propylaeen" III, 1, S. 169 f.
oder Humboldts zitirten Aufsatz: „Über die gegenwärtige französische tragische Bühne,**
ebenda S. 66 ff. oder endlich die verschiedenen ästhetisch-kritischen Abhandlungen in der
„Zeitung für die elegante Welt" in den Jahren i8ox bis 1815, besonders vom Jahre 1807
die Nummer 113, S. 897 S. vergleicht. Gegen eine nur Einzelheiten tadelnde kritische Methode
mancher Gegner der neuen Unternehmungen Goethes richtet sich J. D. Falks Aufsatz:
„Ueber die Iphigenie von Göthe (sie!) auf dem Hoftheater zu Weimar" (in den „kleinen Ab-
handlungen", Weimar 1803), wo sich auf S. n6 die folgende Verteidigung der Goetheschen
Betrebungen fmdet: „Wer daher geneigt ist — und das sind die Meisten — am Einzelnen
zu hängen; wer ein Konzert nicht sowohl nach dem Wohllaut und Einklang des Ganzen, als
nach der Kostbarkeit der Instrumente, oder gar der Futterale, worin sie gesteckt sind, zu
beurteilen gewohnt ist: der wird hier notwendig sehr schlecht seine Rechnung finden," wozu
die Fulsnote gehört: „So z. B. wer bei Aufführung der „Brüder" vom Terenz aus kleinlichen
(sicl) Pedantisro, der unsere Kunstkenner noch immer chikanirt, an Seidenzeug oder Atlas
irre wird, und Anstols nimmt, gehört in diese Rubrik. Die hiesige Direktion, die sehr wohl
weifs, was antik ist, sucht dergleichen Albernheiten, aus reinem Wohlgefallen und a dessein
alle drei bis vier Wochen, förmlich einmal zu briskiren; denn Urteile dieser Art hängen
mit einer lächerlichen Buchstabenkritik, die, wo sie auf dem Theater gilt, alles Grofse der
Erscheinung vernichtet, nur zu genau zusammen." Eine abfertigende Anzeige von dem merk-
würdigen oben genannten Büchlein findet sich übrigens in der „Bibliothek der redenden und
bildenden Künste, vierten Bandes erstes Stück" Leipzig 1807, S. 397 f. Da heifst es u. a.:
„Wie schwankend in Deutschland überhaupt noch die Urteile über theatralische Vor-
stellungen sind, ergiebt sich aus einer soeben erschienenen Schrift, welche den sonderbaren
Titel fiihrt: „Saat von Goethe gesäet, den Tag der Aeren zu reifen" (sie II) . . . Dais ein
108 Otto Pranckc.
Von einigen derselben können wir uns das genaue Bild vergegen-
wärtigen, da in Einsiedeis Übersetzung der Lustspiele des Terenz, die in
Leipzig 1806 bei Göschen in zwei Bänden erschien, acht von den Haupt-
personen im bunten Kostüm abgebildet sind. Die Masken der edleren
Personen bestanden nur in Stirn und Nase, die mit dem Haarwuchs ver-
einigt und kunstlich an das Gesicht angefugt war, welches dadurch einen
griechischen Schnitt erhielt, ohne die belebte Bewegung der sprechenden
Züge einzubüfsen. Bei den Alten kam noch der Bart zu Hilfe, um dsis
Ganze in Harmonie zu bringen. So machte Graff als Hegio einen schönen
Greisenkopf; Herrn Vohs kam seine grofse Statur sehr zu statten, um
als Micio eine würdige Erscheinung darzubieten: der faltenreiche Mantel
von leichtem, wollenem Zeuge, gelblich, unten mit einem roten Streifen
und goldener Leiste verziert, und sein schöner Wurf über die linke
Schulter, so dafs der Arm ganz davon bedeckt war, pafst zu dem ruhigen
Geberdenspiel, welches die Rolle fordert. Weniger vorteilhaft waren
die beiden Jünglinge gekleidet, da ihre Chlamys zu kurz und nicht falten-
reich genug waren. Desto vortrefflicher waren dagegen Tracht und
Masken des Demea und der beiden karikirten Hauptrollen, des Kupplers
Sannis und des Sklaven Syrus nach den noch vorhandenen Reliefs in
der Villa Albani und den herkulaneischen Gemälden entsprechend kopirt
Demea hatte über einem violetten Leibrock von steifem Zeuge einen
weitläuftigen Mantel von roter Wolle, der in reichen Falten über die
Schultern zurückgeworfen war, und den Leib nebst beiden bekleideten
Armen freiliefs. Alles an ihm, die Art, wie er gegürtet war und den
Mantel trug, die Stiefeln, der grofse weifse, auf den Rücken zurück-
geschlagene Hut, der rohe Baumstamm, den er als Stab führte, zeigte
den ländlich arbeitsamen, jetzt zur Reise geschürzten Mann; sowie die
Maske mit grofser starkgebogener Nase, und nach innen zu herunter-
gezogenen und stärker werdenden Augenbrauen, durch Bart- und Haar-
wuchs und durch dasjenige, was von der Physiognomie des Schauspielers
Malcolmi zum Vorschein kam, unterstützt, seinen zornmutigen Charakter
offenbarte. Becker als Syrus, in echter Sklaventracht, hatte eine Maske,
die das Oberteil des Gesichtes freiliefs und sich dagegen mit breiten imd
kupferichten Backen unten herum anschlofs, jedoch ohne die Bewegungen
des Mundes im mindesten zu hemmen. Bei ihm stimmten Gang, Haltung,
Schüler von Engel im Einzelnen manches richtige Urteil fällt, ist natürlich: nur den Witt
seines Lehrers hat er sich nicht zu eigen gemacht, wie schon der Titel, und so auch jede
Seite seines Buches zeig^ das er, da er ein Mann von gesundem Verstände zu sein scheint,
in kurzem nicht geschrieben zu haben wünschen wird/*
Goethes Versuch, Plautus u. Terens auf d. weimarischen Bflhne heimisch zu machen. 103
breite Stellung der Beine, Geberdenspiel und Stimme auf das vorteil-
hafteste zusammen, um in erster Linie eine mit den Sitten der freien
Griechen stark kontrastirende Menschenart, und dann die bestimmte
Laune der Person zu verlebendigen. Die gegen das Parterre hinge-
wandten Lazzis, wenn es ihm gelang, den Demea zu betrügen oder bei
ähnlicher Gelegenheit, verbreiteten eine grofse Behaglichkeit, und ihrer
komischen Wirkung war nicht zu widerstehen. Kurz, wenn die Kunst
des Schauspielers zum Teil darin besteht, sich gänzlich, doch auf eine
in sich zusanmienhängende Art zu verwandeln, so mufs Becker dieselbe
an jenem Abende in einem hohen Grade ausgeübt haben.*)
Naturgemäfs muiste sich bei dieser Gelegenheit jedem nachdenkenden
Zuschauer die Frage aufdrängen, ob und warum Terenz gerade in Masken
aufgeführt werden mufs, da seine Komödien, ganz wie unser bürgerliches
Schauspiel, das häusliche Leben in seiner Wahrheit abbilden. Lassen
wir einen Augenzeugen, den Kritiker in der „Zeitung für die elegante Welt"
(i2. November 1801) die Antwort daraufgeben. Derselbe — möglicherweise
war es der bekannte Rektor des weimarischen» Gymnasiums C. A. Böttiger —
schreibt: „Die Notwendigkeit fühlte sich bei dem Anblicke überzeugend;
aber das Vergnügen, einmal fremde und zwar für dieses Mal griechische
Physiognomien zu sehen, möchte als Erklärungsgrund schwerlich aus-
reichen. Es liegt darin, dafs bei der komischen Darstellung einer
bestimmten Nationalität gewisse Charaktere unausbleiblich wieder kommen
müssen. Erkennt der Dichter dies nun an, setzt er den Charakter als
bekannt voraus, und wendet seinen ganzen Scharfsinn nur auf die sinn-
reichste Entwickelung desselben, so denkt er ihn schon in der Kom-
position als Maske. So verhielt es sich in der neueren attischen
Komödie, wie selbst die beständige Wiederkehr der Namen beim Plautus
und Terenz zeigt, so bei dem ebenfalls bürgerlichen Goldoni auf
andere Weise. Unsere bürgerlichen Schauspieldichter sind mit all-
gemeiner Wahrheit nicht zufrieden; sie wollen porträtmäfsige Wirklichkeit
aufstellen, und über diesem Haschen nach Individualität in den Teilen
fallt die Komposition des Ganzen schlecht aus. Und doch werden sie
von beständig wiederkehrenden Charakteren beschlichen, ohne es zu
wissen, noch zu wollen. So haben wir das muntere und schalkhafte,
und wiederum das zärtlich empfindsame Mädchen, auf ähnliche Weise
wie Goldoni sie zusammenstellt ; einen dritten Charakter von eigentümlich
*) Vgl. Ed. Genast, Aus dem Tagebuche eines alten Schauspielers, 2 Teile, Leipzig
1863, I, S. X2I f.
104 Otto Francke.
deutscher Empfindung, das naive oder gänzlich alberne Mädchen haben
wir hinzugefugt. Femer der aufbrausende, aber gutmütige Biedermann^
der schlichte ländliche Oekonom, der Hofrat, der Sekretär, — sie sind
sämmdich Masken. (Vgl. damit Schillers Gedicht „Shakespeares Schatten**).
Es wäre daher für einen grofsen Fortschritt zu rechnen, wenn unsere Schau-
spielschreiber und Schauspieler erst bis zum Bewufstsein der Maskencharak-
tere hindurchgedrungen wären: sie würden lernen, die Masken für sich
spielen zu lassen und wiederum genötigt sein, sich anzustrengen, um sie
gehörig auszufüllen; sie würden in ihrer Darstellung aus dem platten
Kopieren der Natürlichkeit heraustreten, und einen Styl gewinnen."
Und wieder auf die Aufführung der „Brüder" zurückommend, fahrt der
Kritiker fort: „Die Wiederholung dieses theatralischen Experiments auf
andern Bühnen mögte nicht anzuraten sein, da sich soetwas nicht ohne
gründliche Kenntnis des Altertums mit Geschmack vereinigt glücklich
anordnen läfst. Allein man freut sich, bei dem jetzigen Zustande unseres
Theaters, jeder Lebensregung; und der Grundsatz wenigstens, vermöge
dessen auf dem Weimarischea dergleichen Versuche am besten gelingen,
nehmlich die Unterordnung der Teile unter das Ganze, ohne welche
auch ein Reichtum isolirter Talente nichts vermag, die Gewöhnung der
Schauspieler, nicht ihre Personen, sondern das Stück als die Hauptsache
zu betrachten, das Zusammenspielen in einem gemeinschaftlichen Styl —
verdient als Muster für die allgemeine Nachfolge aufgestellt zu werden."
Übrigens möchte ich es mir nicht versagen, als Probe der Uber-
setzungskunst Einsiedeis nur den ersten Monolog des Micio, der seines
Bruders Dem ea ältesten Sohn Aeschinus an Kindesstatt angenommen,
hier mitzuteilen:*)
„Es bleibt ein wahres Wort: „vermissest du
Den Freund, der fem verweilt, so segne sein
Gestirn, wenn ihm nichts SchUmmVes widerfahrt,
Als was mit Groll die junge Gattin scheut:
Nicht, was die Sorge banger Eltern furchtet." —
Die Eifersüchtige sieht den Mann im Arm
Der Liebe; beim Bokal; im Rausch der Freude;
Indefs sie einsam harrt, und jede Lust
Entbehrt. — Doch vor des bangen Vaters Auge
Stehen tausend Schreckensbilder; überall
*) Die fiinf ersten Verse dieses Monologs finden sich in der gedruckten Übersetzung von
1 806 auf nur drei reduziert ; die obige, im übrigen mit der Originalausgabe übereinstimmende
Übersetzung ist ein wortgetreuer Abdruck aus der „Zeit. £ d. eleg. Welt", 1801, a. Teil,
Nr. 135 vom 10. November.
Goethes Versuch, Plautus u. Terenz auf d. weimarischen BQhne heimisch zu machen. 105
Schaut er in einen Abgrund von Gefahr.
Ein Sturz, ein Beinbruch — denkt er — hält den Sohn
Zurück! er schmachtet hülflos — liegt vom Frost
Erstarrt, auf abgelegnem Wege! — Ach!
Ich bin nicht besser dran als andre Väter!
Ein fremdes Kind, der Sohn des Bruders, macht
Mir gleichen Kummer. Mein ganzes Herz hängt an
Dem Knaben. Doch sein rauher Vater ist
Mir fremd und fern — wir stimmten nie zusammen.
Mein frühes Erbteil war ein milder Sinn;
Die Stadt gefiel mir; ich gesellte mich
Zu frohen Leuten, war der Freude hold.
Und fand es besser keine Frau zu haben.
Doch Er, der Bruder, nistet auf dem Lande,
Lebt karg und kümmerlich; hat volle Kasten
Und sorg^ und klagt! Er nahm ein Weib, bekam
Zwei Knaben, und der Erstgebor'ne ward
Mein Pflegesohn. Von Kindheit an erzieh'
Ich ihn; ich halte ihn; ich liebe ihn
Wie meinen Sohn — und lebe nur für ihn.
Ich schenke, dulde, schone — bin ihm nie
Ein strenger Vater. Ich gewinne ihn
Durch Freundlichkeit. Die Lüge ist ihm fremd.
Ich weifs um Alles, was er thut, und nichts
Verhehlt er mir. Ich öffne sein Gefühl
Für Schaam und Ehre; treib ihn nie durch Zwang
An seine Pflicht. — Die Sanftmut schilt mein Bruder;
Sie ärgert ihn; wir liegen oft im Streit.
Er überläuft mich oft und schnurrt mich an,
Dafs ich so mild mit seinem Sohn verfahre.
„Hast Du kein Auge?" frag^ er mürrisch; „merkst
Du nichts? Dein saub'rer Pflegling hält Mätressen.
„Er zecht! er spielt; ist kostbar angekleidet.
„Dem Allen siehst Du zu? und obendrein
„Schwelgt er aus deinem eigenen Beutel!" — So
Eifert sich der harte Mann. Er hält
Auf strenge Zucht; er zwingt Gehorsam. Ich
Will Liebe, Zuneigung. — Die Strenge ziemt
Dem Herrn — dem Vater nie. Der baut getrost
Auf seiner Kinder eigene Tugend — und
106 Otto Francke.
Fährt wohl dabei. Wer diesen Weg verschmäht,
Verfehlt das Ziel, und darf an Kinderzucht
Nie Anspruch machen." —
Man sieht, die Übersetzung ist echt deutsch, in Empfindung und
Ausdruck, ohne dafs der Charakter des Originals im mindesten wäre
geschädigt worden. Und die Aufführung war, wie gesagt, so vortrefflich,
dafs ein Kritiker, wie Aug. Wilhelm v. Schlegel sie als „einen wahr-
haft attischen Abend" bezeichnen konnte. *) Dafs auch das Publikum
an der Neuigkeit wirklichen, über den Reiz der Mode hinausgehenden
Geschmack fand, beweisen die vielen Wiederholungen des Stückes
innerhalb der Jahre 1801 bis 1807, in welcher Zeit die „Brüder" allein
vierzehnmal gespielt wurden, während von Goethes eigenen Dramen
inder gleichen Zeit, z.B. der „Clavigo" nur sechsmal, „die Geschwister"
siebenmal, „Iphigenie" (erste Aufführung am 15. Mai 1802) nur zehn-
mal (zuletzt am 26. Juni 1807) aufgeführt worden sind.**)
*) Aug. Wilh. y. Schlegel schreibt im I. Bd. seiner ^ Vorlesungen Über dramatische
Kunst und Litteratur** S. 247 (Böckings Gesammtausg., V. Bd.) zur Sache folgendes:
„Unter anderm haben die Masken im Lustspiel den Vorteil, bei der unvermeidlichen
Wiederkehr der Charaktere den Zuschauem gleich in's Klare zu setzen, was er zu erwarten
hat. Ich habe einer Vorstellung der „Brüder*' des Terenz, ganz im antiken Kostüm, in Weimar
beigewohnt, die unter Goethe*s Leitung einen wahrhaft attischen Abend gewährte.
Man bediente sich dabei partialer, an das wirkliche Gesicht geschickt angefügter Masken;
ich £and nicht, dafs sie ungeachtet der Kleinheit des Theaters der Lebendigkeit Abbruch
thäten. Besonders war die Maske der Spässe des verschmitzten Sklaven günstig: er wurde
durch seine barocke Physiognomie wie durch seine Tracht gleich zu einer eigenen Menschen-
art gestempelt, wie es die Sklaven ja der Abstammung nach zum Teil wirklich waren
und durfte daher auch anders sprechen, sich anders geberden, als die übrigen.**
**) Vgl. dazu Genast, Aus dem Tagebuche eines alten Schauspielers, LBd. s. 12 z. 123. 095.
Sonnabend, den 24. October 1801.
DIE BRÜDER.
Lustspiel in vier Aufzügen nach Terenz.
Micio Vohs.
Demea, dessen Bruder Malcolm!.
Aeschinus, Demeas ältester
Sohn, Micios Pflegesohn . . . Cordemann.
Ktesiphon, Aeschinus Bruder,
Demeas zweiter Sohn .... Haide.
Sostrata, die Mutter von
Aeschinus Geliebter Teller.
Canthara, Sostratas Vertraute . Malcolmi.
Eine Sklavin,KtesiphonsGeliebte Goetz.
Hegio, Sostratas Verwandter
und Freund Graff.
Sirus, Aeschinus Diener .... Becker.
Geta, Sostratas Diener Schall.
Sannio, ein Sklavenhändler . . Genast.
Strato 1 r Bender.
Dromo > Sklaven l Ehlers.
Parmeus j \ Eilenstein.
Das Stück spielt in Athen.
Darauf folgte ein pantomimisches Ballet in zwei Aufzügen; die Preise waren für Parket
und Balkon 12 Groschen, für Parterre 8 Groschen und für die Gallerie 4 Groschen. Das
Goethes Versuch^ Plautus u. Terenz auf d. weimarischen BQhne heimisch zu machen. 107
Was Wunder also, wenn Goethe an diesen ersten wohlgelungenen
Versuch die kühnsten Hoffnungen knüpfte, wenn er mit demselben
geradezu eine Epoche in der Entwickelung des weimarischen Theaters
bezeichnete? Daher schreibt er in seinen Memoiren: „Zur Geschichte des
weimarischen Theaters" (ii. Februar 1802), wie folgt: „Auf dem
weimarischen Hoftheater, das nunmehr bald eilf Jahre besteht, darf man
sich schmeicheln, in diesem Zeiträume solche Fortschritte gemacht zu
haben, wodurch es die Zufriedenheit der Einheimischen und die Auf-
merksamkeit der Fremden verdienen konnte; es möchte daher nicht
unschicklich sein, bei dem Berichte dessen, was auf demselben vorgeht,
auch der Mittel zu erwähnen, wodurch so manches, was andern Theatern
schwer, ja unmöglich fallt, bei uns nach und nach mit einer gewissen
Leichtigkeit hervorgebracht worden Die Geschichte des noch
bestehenden Hoftheaters möchte denn auch wieder in verschiedene
Perioden zerfallen. Die erste würden wir bis auf Ifflands Ankunft, die
zweite bis zur architektonischen Einrichtung des Schauspielhauses, die
dritte bis zur Aufführung der „Brüder nach Terenz** zählen, und so
möchten wir uns dermalen in der vierten Periode befinden." Welch
hohen Wert Goethe > auf die Wiedereinführung der Maske legfte, erhellt
u. a. aus seinem anmutigen Festspiel: „Was wir bringen", das er zur
Eröffnung des neuen Schauspielhauses in Lauchstädt bei Halle (am
Abonnement war aufgehoben und die Vorstellung begann ungewöhnlich V>^ ^^^- ^^
Montag darauf fand im Abonnement eine Wiederholung der Brüder und des Ballettes statt.
Zum dritten Male wurden „die Brüder^^ am 30. Nov. 1801, zum vierten Male am 21. Dez. 1801
zugleich mit dem darauf folgenden „Wallensteins Lager^^ und zum fünften Male ebenfalls
dem „Lager^* vorausgehend am 31. May 1802, zum sechsten Male in Lauchstädt, den
27. Juni 1802 mit vorausgehendem Vorspiel: „Was wir bringen" von Goethe, zum siebenten
Male in Lauchstädt mit darauffolgendem „Bürger-General^^ am 31. Juli 1802; zum achten
Male am 22. August 1802 in Rudolstadt mit darauf folgendem „Bürger -General". Zum
neunten Male in Weimar „den 16. October 1802" in Verbindung mit dem „Bürger-General",
zum zehnten Male in Weimar „den 8. November 1802", zum eilften Male in Lauchstädt
„den 7. Juli 1803", zum zwölften Male in Weimar, „den 16. November 1803," zum 13. Male
in Weimar, „den 22. Februar 1804"; zum 14. Male in Weimar, „den 6. Juni 1807", obgleich
auf dem Zettel vermerkt ist, „zum Erstenmale"; die Besetzung der Rollen ist zum Teil
eine andere, als die bisherige; überhaupt hatte schon vorher mancher Rollentausch statt-
gefunden, wie aus den verschiedenen Zetteln ersichtlich ist. Auch der Titel des Stückes ist
etwas ge&ndert, seit dem 6. Juni 1807 heisst er so: „Die Brüder, Lustspiel in vier Aufzügen,
nach Terenz, mit Masken". So kann man von 1 801 — 1807: 14 Aufführungen der Brüder
verfolgen, während von Goethes Dramen in der gleichen Zeit z.B. derClavigo nur sechs
mal, die Geschwister sieben mal, Iphigenie (erste Aufführung am 15. Mai 1802) zehn
mal, zuletzt am 26. Juni 1807) aufgeführt worden sind.
Ztschr. f. verg^l. Litt.-Gesch. I,. o
108 Otto Prancke.
27. Juni 1812) geschrieben hat. Es genügt ein Hinweis auf die bekannte
Stelle im neunzehnten Auftritt, wo der Reisende als Merkur die Aufgabe
des ungeduldigen Knaben mit der Maske, der die Nymphe, die Vertreterin
der naiven Sentimentalität, verfolgt, also kommentirt:
„Wohl billig kommt die Reihe nun an Dich,
Doch produzire Dich nur selbst! Frisch und beherzt
Hervor und sprich: „Der Jüngste bin ich dieses Chors,
Das maskenhafte Spiel, das ein gewandter Freund
Aus Roms verfallnem Schutte, ja was mehr.
Aus altem Schulstaub uns herangeführt."
Lafs Deine Maske sehen! Diese da!
Dies derbe, wunderliche Kunstgebild
Zeigt, mit gewalt*ger Form, das Fratzenhafte.
Doch dieses läfst vom Höheren und Schönen
Den allgemeinen, ernsten Abglanz ahnen.
Persönlichkeit der wohlbekannten Künstler
Ist aufgehoben; schnell erscheinet eine Schaar
Von fremden Männern, wie dem Dichter nur beliebt,
Zum mannigfaltigen Ergötzen, eu*rem Blick.
Daran gewöhnt euch, bitten wir, nur erst im Scherz;
Denn bald wird selbst das hohe Heldenspiel,
Der alten Kunst und Würde völlig eingedenk.
Von uns Kothurn und Masken willig leihen.
Ein Andres bleibt uns übrig, dieses holde Kind,
Das Dich so schüchtern floh, Dir zu versöhnen.
Drum heb* ich meinen Stab, den Seelenfiihrer,
Berühre dich und sie. Nun werdet ihr,
Natürliches und Künstliches, nicht mehr
Einander widerstreben, sondern stets vereint
Der Bühne Freuden mannigfaltig steigern."
Durch diese Rede wird die scheue Nymphe versöhnt und so beglückt,
dafs sie den kleinen Genius mit der Maske liebevoll umschlingt. Den
Gedanken aber von der soeben entstandenen Vereinigung der beiden
Gegensätze führte Goethe weiter aus in dem berühmten, an dieser Stelle
folgenden Sonett: „Natur und Kunst".
Lediglich im Dienste höherer Ziele stand also Goethes Versuch mit
den „Brüdern" nach Terenz, und die Erfahrung hatte gelehrt, wie es
an einer andern Stelle mit Bezug darauf heifst, „dafs das Publikum sich
Goethes Versuch, Plautus u. Terenz auf d. weimarischen Bühne heimisch zu machen. 109
an einer derben, charakteristischen und sinnlich künstlichen Darstellung
erfreuen könne. Sind wir so glücklich, noch mehrere antike Lustspiele
auf das Theater einzuführen, dringen unsere Schauspieler noch tiefer in
den Sinn des Maskenspiels, so werden wir auch in diesem Fache der
Erfüllung unserer Wünsche entgegengehen/* Dazu sollte sich bald
Gelegenheit finden. Als Goethe bei einem Gastspiele der Weimaraner
zu Lauchstädt, Ende des Jahres 1802, in Halle den Canzler Niemeyer
kennen lernte, veranlafste er auch diesen zur Bearbeitung eines Terenzischen
Stückes.*) Er hatte die Andria gewählt, welche unter dem Titel:
„Die Fremde aus Andros, Schauspiel in fünf Aufzügen, nach
dem Terenz** zum ersten Male in Weimar, den sechsten Juni 1803 auf-
geführt und zum ersten Male in Lauchstädt am 23. Juni desselben Jahres
wiederholt ward, worauf sich Goethes Bemerkung in den „Annalen**
bezieht: „Die „Andria** des Terenz, von Herrn Niemeyer bearbeitet,
ward ebenmäfsig wie die „Brüder** mit Annäherung ans Antike aufgeführt.
Auch von Leipzig fanden sich Zuschauer** u, s. w.**)
Wie es scheint, ist diese Bearbeitung nicht im Druck erschienen,
noch uns handschriftlich erhalten; sie mag auch wohl den Erwartungen
nicht ganz entsprochen haben, da später Einsiedel die „Andria** selbst in
Angriff nahm. Vorher jedoch sollte der „Eunuch** noch für die weimarische
Bühne gewonnen werden. Wer die Bearbeitung dieser Komödie durch
Congreve, den einflufsreichen Dichter der englischen Restaurationszeit
kennt, wird im Gegensatz zu dieser schmutzigen und widerwärtigen Um-
gestaltung die geschickte Veränderung, die Einsiedel mit dem Stücke
vorgenommen hat, billigen müssen. Er hatte den „Eunuch** in eine
Mohrensklavin verwandelt. Allein auch so mufste er kurz vor der Auf-
fuhrung noch einige Änderungen, die sich freilich nicht mehr verfolgen
lassen, anbringen, da Herzog Karl August, der sich die Handschrift von
der Direktion hatte geben lassen, sich gegen die unveränderte Dar-
stellung auf seiner Hofbühne erklärt hatte. ***) Hierauf nimmt Goethe in
*) In den „Annalen oder Tsig- und Jahresheften zu 1802*' heilst es von ihm: — f,der
so thätigen Teil unsem Bestrebung^en schenkte, dafs er die Andria zu bearbeiten unternahm,
wodurch wir denn die Summe unserer Maskenspiele zu erweitem und zu vermannigfaltigen
glücklichen Anlals fanden."
♦•) Vgl. hierzu Schillers Brief an Goethe vom 21. Mai 1803. Weitere Aufführungen
dieses Stückes fanden statt zu Rudolstadt am 7. September 1803, zu Weimar den
21. November 1803 und den 25. Januar 1804, dann muls dasselbe vom Repertoire ganz
verschwunden sein.
***) Nämlich in seinem Briefe an Einsiedel von Anfang Februar d. J., welcher lautet:
n Verzeih, alter Freund, wenn ich eine Bitte an Dich gelangen lasse, die beinahe ebenso
8*
110 Otto Prancke.
seinem Brief an Schiller vom 5. Februar 1803 (Nr. 883) Bezug, wenn er
schreibt: „Auch ich bin mit Einsiedeln, wegen der veränderten Mohren-
sklavin, völlig einig und erwarte nur die Ansicht von höheren Orten."
Und hierher gehört auch ein noch ungedruckter, in der Grofsherzoglich
weimarischen Bibliothek befindlicher Brief Goethes an Einsiedel, der von
Weimar aus den 1 2. Februar datirt ist und in welchem der Dichter seinem
„Freund und Bruder", wie er schreibt, davon „mit vielem Vergnügen
Nachricht giebt, dafs in der gestrigen Leseprobe die Mohrin
recht gut vorbereitet worden" u. s. w. „Im Ganzen," schreibt
Goethe am Schlüsse des Briefes,*) „bin ich überzeugt, dafs es einen
recht guten Effekt machen wird." Am Tage zuvor hatte Einsiedel
an Knebel von Weimar aus geschrieben: „Die ,Mohrensklavin* wird
vielleicht schon in der nächsten Woche gegeben. Ich habe sie ganz
und gar umgearbeitet: weil man Vieles noch sehr unsittlich fand — ich
glaube mit Recht, weil das Haus der Thais und ihr Verhältnifs zu
hetärenmäfsig ist, und Chäreas Triumph über die vidirte Pamphila zu
klar und zu laut. Der erste Akt ist ganz neu erfunden und der vierte
fast auch. Es hat mir Mühe gemacht: doch nun ist die Mohrensklavin
ganz weifs gewaschen! Ich spreche von dieser Arbeit, weil Du Dich
derselben so freundschaftlich erinnerst."**) Zum ersten Male wurde so
„die Mohrin, Lustspiel in fünf Aufzügen, nach Terenz" zu
Weimar am 19. Februar 1803 mit, wie es den Anschein hat, nur mäfsigem
Beifall aufgeführt, obwohl das Stück in demselben Jahre doch noch vier
unbescheiden ist wie die, welche Jehova an den Erzvater Abraham adversirte. Sie besteht
in nichts Wenigerem, als dafs Du mir zuliebe Deine „Mohrensklavin^^ nicht eher einstudiren
liefsest, bis dafs ich ausfuhrlich mit Dir über diesen Gegenstand gesprochen habe, was
baldigst erfolgen soll. Ich liefs mir das Stück heute Nachmittag von Kirmfsen holen, um
mir einen vergnügten Abend zu machen, und las es mit vieler Aufmerksamkeit durch. Ich
leugne nicht, dafs ich Deinen Kunstfleifs bewunderte, wie Du die grobe Antike zu einer
ziemlich honetten, schlüpfrigen Modernen gesittet hast; aber ich bekenne Dir aufrichtig, dafs
ich nicht begreife, wie mit unsem Gewohnheiten und Begriffen das Stück auf einem Hof-
theater wird gegeben werden können. Um gänzlich unbefangen zu sein, habe ich das Stück
alleweile meiner Frau gegeben, dafs sie^s lesen solle und ihre Meinung über die Ausführ-
berkeit desselben mir mitteile. Bis dahin gedulde Dich; lais Dir darum keine böse Nacht
werden; sondern schlafe wohl. C. A,"
*) Dieser Brief soll zugleich mit einem andern auf die Binsiedelsche Bearbeitung des
„Gespenst nach Plautus^^ vom 11. März. 1807 im nächsten Goethejahrbuch veröffentlicht werden.
**) Vgl. R. L. von Knebels „literar. Nachlafs und Briefwechsel**. Herausgegeben von
Varnhagen von Ense und Th. Mundt, 3 Bde., Leipzig 1835/36. I, S. a47.
Goethes Versuch, Plautus u. Terenz auf d. weimarischen BQhne heimisch zu machen. 11 1
Wiederholungen erlel^^e*) und die Schauspieler Hai de als Thraso und
Becker als Gnatho besonders gerühmt wurden. In dem Bericht über
den Erfolg dieses Stückes, welcher sich in der „Zeitung für die elegante
Welt" (Nr. 31 vom 12. März) findet, heifst es (S. 247) wörtlich so:
„Die ,Mohrensklavin' vom Kammerherrn v. Einsiedel, ist neulich
gegeben. Der geschmackvolle Verfasser, wie es sich erwarten liefs,
hat das Möglichste gethan; aber wie es nun so geht, und wie sich hier
Jemand darüber ausdrückte:
Heidnisch zerrissen und christlich geflickt
Ist noch niemals dem Verfasser geglückt.
Man müfste eben ein solches Stück, mit dessen Pivot, der Geschlechts-
liebe, alles Interesse steht oder fallt, entweder gar nicht geben, oder
dem Publikum über diesen Punkt etwas Herzhaftes zumuten. Das will
man aber nicht ; und in diesem Nichtwollen zeigt sich eine grofse Inkon-
sequenz Kurz, mit diesem Eunuchus iterum mutilatus wird, was
diesen Punkt betrifft, — denn, wie eingeräumt, hat die Bearbeitung
anderweitige Vorzüge — Niemand so leicht zufrieden sein, aufser viel-
leicht dem Herrn (sie!) v. Kotzebue, der sich neuerdings der zehn
Gebote, mit denen er sonst in seinen Schriften ziemlich brouillirt war,
wieder in etwas gegen die Schlegel angenommen." War es, weil Goethe
und Einsiedel von dem nur schwer zu verkennenden Mifserfolg der „Mohrin**
nicht vollauf überzeugt waren oder glaubten sie, denselben durch die
Bearbeitung eines anderen Stückes des Terenz wieder wett machen zu
können: kurz, Einsiedel war schon im nächsten Jahre mit einer neuen
Überraschung zur Hand: „Der Heautontimorumenos des Terenz.
Ein Lustspiel in fünf Aufzügen" wurde auf dem weimarischen Hof-
theater zum ersten Male am 30. April 1804 aufgeführt und ward bis zum
II. März des folgenden Jahres noch viermal wiederholt.**) Auf welche
Vorstellung die Bemerkung 'Einsiedeis in seinem Briefe an C. A. Böttiger
vom 2. Februar 1821: „Der Selbstpeiniger ist in Weimar aufgeführt
worden aber mit wenig Beifall" Bezug nimmt, ist nicht recht verständlicl^
da unter den Theaterzetteln vom Januar 1821 sich keiner findet, worauf
der Selbstpeiniger angekündigt ist Von den zwei übrigen Lust-
spielen des römischen Komikers, welche Einsiedel in der gedruckten
*) Zuerst am 23. Februar, dann am 7. März, am 27. März und schlieislich in Lauch-
städt am 25. Juli.
**) Zuerst in Weimar am 30. Mai, sodann zweimal in Lauchstädt während des Juli und
zum vierten Male wieder in Weimar den 11. März 1805.
112 Otto Francke.
Übersetzung*) herausgab, hat, wie die Zettel des weimarischen Theaters
aus den fraglichen Jahren ausweisen, keines auf der herzoglichen Bühne
eine Aufführung erfahren.**) Dagegen hat sich Einsiedel später mit
Glück auch in der Übertragung einiger Plautinischer Stücke versucht.***)
*) „Lustspiele des Terenz in freyer metrischer Übersetzung,** a Bde. Leipzig,
bey Georg Joachim Göschen, 1806.
**) Dals Einsiedel auch daran dachte, die zwei übrigen Stücke des Terenz auf die
weimarische Bühne zu bringen, geht aus seinem Briefwechsel mit C. A. Böttiger hervor, der
abgedruckt ist im zweiten Bäodchen der „Literarischen Zustände und Zeitgenossen. In
Schilderungen aus Carl August Böttigers handschriftlichem Nachlasse.** [Herausgegeben von
K. W. Böttiger, Leipzig, F. A. Brockhaus 1838.] Hier finden sich auf S. 228 ff. einige darauf
bezügliche Bemerkungen, wie z. B.: „Dafe „Phormio** auf dem hiesigen Theater gespielt wird,
ist mein Wunsch, auch habe ich schon von den Oberen die Versicherung darüt>er. Wenn
ich der Vorstellung zuhöre, giebt es mir immer Gelegenheit, dies und jenes zu bessern**, und
dann weiter: „Sie verwöhnen Ihre Freunde; das beweist die Beilage, die nicht ohne An-
sprüche an Sie erscheint. Viele moralische Sprüche und was auf den Hetärenständ sich auf-
fallend bezieht, habe ich übersprungen. Dies Bekenntnils mu(s ich über dies angeschlossene
Stück im Ganzen vorauschicken. Verzeihen Sie, dafs ich Sie so g^ewissenlos gleich beim
Wort nehme, indem Sie der „Hecyra** gedachten.**
***) Bereits Böttiger hatte im zweiten Bande des Neuen teutschen Mercur vom
Jahre 1801, S. 218 ff. «Übersetzungsproben aus dem Plautinlschen Trinummus**
veröffentlicht, die vorzüglich gelungen sind. Bei dieser Gelegenheit macht Böttiger folgende
beherzigenswerte Bemerkungen über die Kunst zu übersetzen, die dem Geschmacke des viel-
geschmähten Mannes ein ehrenvolles Zeugnis ausstellen. Er schreibt: nEine metrische
Übersetzung . . . muis das Alte neu machen, ohne es zu travestiren und ohne dem Alten
ganz moderne Begriffe aufzuheften. Der Leser muls zu ihrem Verstehen keiner tiefem Schul-
gelehrsamkeit bedürfen Den Plautinischen Text mit allen seinen Redundanzen,
Ueppigkeiten und Wortspielen wiederzugeben, wäre ebenso unausführbar als abgeschmackt.
Niemand unter uns könnte dies aushalten! Hier läfst sich nur durch Approximationen und
Compensationen zum Ziel kommen Verschiedene Veranlassungen, die hier nichts
zur Sache thun, bewogen mich, einige Proben vorzulegen. Man wird ihnen ihre schnelle
Entstehung ansehen, und nichts wird leichter sein, als sie zu übertreffen. Aber sie sind auch
nur dazu bestimmt, um meine Vorstellungen von den Pflichten eines Plautinischen Übersetzers
im Allgemeinen anschaulicher zu machen. Weiter bedarf es hier nichts. Denn der Zdi-
punkt ist da, wo sich von mehreren Seiten rüstige Wettkämpfer auch um diesen Preis in die
Schranken stellen. 'A/at^ip tw/j;.'* Es folgt dann die lebenswahre und in der That ganz
ausgezeichnete Übersetzung der ersten zwei Szenen des ersten Aktes, sowie der ersten
Szene des zweiten Aktes vom „Trinummus**. In dem dritten Band der Zeitschrift vom Jahre
1801, S. 250 — 255 lieferte Böttiger eine Übersetzung vom „ersten Akte aus der Aulularia
des Plautus"; und im ersten Bande der Zeitschrift des Jahres 1802, S. 7 ff. findet sich die
„Probe einer Übersetzung des Grofesprechers** von Danz (aus Jena). Angeregt von solchen
„rüstigen Wettkämpfern", wie Böttiger, Niemeyer und vor allen Einsiedel es waren, veröffent-
lichte J. D. Falk seinen „Amphitruon, Lustspiel in fünf Aufzügen**, Halle 1804 mit
höchst lesenswerter Vorrede.
Goethes Versuch, Plautus u. Tereos auf d. weiraarischen Bühne heimisch zu machen. 113
•
„Die Gefangenen, Lustspiel in fünf Aufzügen nach Plautus*'
wurde in Weimar zum ersten Male am 23. April 1806 aufgeführt, blieb
aber, wie Genast (a. a. O. S. 159) erzählt, „in seiner Wirkung weit hinter
den „Brüdern" des Terenz zurück und fand bei der Wiederholung —
ebenfalls keinen Beifall,"*) obwohl der jugendliche Lessing die „Captivi"
des Plautus bekaimtlich für das beste aller ihm bekannten Lustspiele
erklärt hatte. Noch weniger nachhaltig kann der Erfolg von Einsiedeis
Bearbeitung der Plautinischen „Mostellaria" gewesen sein, welche unter
dem Titel: „Das Gespenst, Lustspiel in fünf Aufzügen nach
Plautus" am 29. April 1807 zum ersten und soweit die von mir nach-
gesehenen Theaterzettel einen Schlufs gestatten, zugleich letzten Male
in Weimar aufgeführt wurde. Die Vorbereitungen zu der Aufluhning
waren schon seit Anfang des März im Gange, wie der oben erwähnte
ungedruckte Brief Goethes an Einsiedel vom 11« März 1807 beweist, der
mit den Worten anfangt: „Die Rollen Deines Stückes, mein lieber
Freund, sind ausgeschrieben. Hierbei folgt die Austeilung,
wenn Du sie billigst sie also abgehen" u. s. w. Darauf antwortete
Einsiedel wörtlich, wie folgt:**)
Die Austheilung der Rollen entspricht ganz meinem Wunsche: es
ist weit besser, dafs Genast den Wucherer spielt, statt der minder
bedeutenden Rolle des Grumio, die ich ihm zugedacht hatte.
Ich werde für die Toilette der Philematium glänzende Beyträge zu
verschaffen suchen; solche feine äufserliche Zucht ist der Bühne sehr
wohlthätig.
In der Leseprobe werde ich mich einfinden ; jede Stunde ist mir recht
Empfange, verehrtester Freund, meinen wärmsten Dank für Deine
Theilnahme) die Du meinem Stück zuwendest.
Donnerstags den 12 Merz. 1807. Einsiedel.
Aufser diesen zwei Stücken nach Plautus war auch der „Trinummus",
den Einsiedel schon am 4. September 1806 an Böttiger geschickt hatte,
zur Auf!uhrung in Aussicht genommen. Allein „das Genialische im
Plautus" machte ihn, wie er selbst in seinem Briefe an Böttiger vom
4. September 1806 sich ausdrückt, diesen dramatischen Dichter schwer
verstehen. „Er erinnert mich", schreibt er an den Allerweltsmann,
*) Die erste Wiederholung des Stückes erfolgte am 23. Juli 1806 in Lauchstädt; die
letzte AufiÜhrung fand statt am 27. Februar 1809 zu Weimar. Damach sind Genasts
Bemerkungen I, S. 159 und 297 zu berichtigen,
**) Ffir die gütige Mitteilung des im Besitze des Herrn Professor Dr. Ludwig Geiger
befindlichen Originalschreibens bin ich demselben zu yerbindlichstem Danke verpflichtet.
114 Otto Francke.
„oft an Shakespeare, der auch auf die ungewöhnlichsten Ausdrücke
und sehsamsten Ideen verfallt uncji seine komische Kraft dadurch
am vorzüglichsten äufsert. Ich habe mir den sogenannten grofsen
Scheller anschaffen müssen, der auf Plautus viel Rücksicht nimmt.
Doch finde ich überall Schwierigkeiten. Ihr freundschaftliches Wohl-
wollen hat mir allerdings den Weg zu einem hülfreichen Quell gebahnt,
wo ich meine Ohnmacht stärken kann. Erlauben Sie mir indefs, dafs ich
Ihnen aufrichtig bekenne: es dünkt mich gar zu unbescheiden, wenn ich
meine Autorschaft auf Unkosten Ihrer Zeit übe — so gern Sie sich
auch aus Freundschaft dafür interessiren und — um mit einem Worte
Alles zu sagen — wenn ich meinen Autorvorteil mit Verlust Ihrer
Zeit befördern soll. Dieser Gedanke beschäftigt mich um so mehr und
macht mich wirklich verlegen, wenn ich die 20 Lustspiele des Plautus die
ich übersetzen will, vor den Augen habe. Sie könnten mir, verehrtester
Freund, diese Sorge vom Herzen nehmen, wenn Sie an meinem Vorteil
— der vom Absatz abhängen und nächste Ostermesse klar werden wird
— einen Anteil anzunehmen, die mich sehr beruhigende Gewogenheit
hätten. — Darf ich noch mit einem Worte meiner Ansicht gedenken, mit
der ich den Plautus übersetzen will? Dielästigen Wiederholungen, das allzu-
viele Moralisiren, und alles Schlüpfrige lasse ich vorsätzlich weg. Auch
überspringe ich zuweilen einige Reden, wenn es mir unwahrscheinlich
scheint, sie vorzubringen — ich glaube, dafe Sie dies billigen." — —
Ferner dürfte folgende einem Briefe Einsiedeis an Böttiger vom 26. Dezember
1806 entnommene Stelle von Interesse sein: „Auch die gewohnten
Winterergötzlichkeiten haben wieder begonnen. Seit dem Weihnachts-
Feste ist das Theater wieder geöffnet. Ich könnte es in gleichem Sinne
auch eine Gewohnheit nennen, dafs ich mich wieder mit dem Plautus
beschäftige; er steht des Morgens mit mir auf und würde am Abend
mit mir schlafen gehen, wenn ich bei Licht nicht ein blinder Mann wäre.
Die Aulularia und Pseudolos sind nach und nach fertig geworden; wenn
ich nicht ein todter Mann werde, so hoffe ich den ganzen Plautus in
vier Jahren zu übersetzen. Sie sehen daraus, mein verehrter Freund,
welch eine Burg von Vertrauen ich auf Ihre grofsmütige Hülfe setze.**
Am 22. November des Jahres 1807 sandte Einsiedel den Rudens
und den Pseudolos an Böttiger und konnte ferner melden: „Aulularia,
Stich US, Curculio, Cistellaria sind vollendet und copirt, aber ich wage
es nicht, Alles mit Einemmale zu senden.** Und in dem letzten der im
„literarischen Nachlafs" abgedruckten Briefe an Böttiger (2. Februar 1821)
teilt Einsiedel ersterem den Gedanken mit, statt einer Gesammtausgabe
Goethes Versuch, Plautus u. Terenz auf d. weimarischen Bühne heimisch zu machen. 115
des verdeutschten Plautus nur etwa acht bis zehn Stücke davon unter
dem Titel: „Ausgewählte Lustspiele des Plautus" drucken zu lassen, ein
Plan, der jedoch niemals zur Ausfuhrung kam. Wir würden daher über
die letzten Versuche Einsiedeis, auch den Plautus für die deutsche
Bühne umzugestalten, kein Urteil gewinnen können, hätte uns der Zufall
nicht zwei handschriftlich überlieferte Stücke erhalten. Die Weimarische
Staatsbibliothek besitzt nämlich zwei, vermutlich von der Hand eines
Schreibers angefertigte Hefte, von denen das eine den Titel trägt: „Der
Geitzhals, ein Lustspiel in fünf Akten nach Plautus (Aulularia)", während
die Aufschrift des anderen lautet: „Der Schiffbruch ,Rudens' von Plautus".
Beide aber, deren genauere Prüfung ich einer späteren Mitteilung vorbe-
halte, sind die einzigen noch übrigen handschriftlichen Zeugnisse für
die Bestrebungen eines Mannes, die wohl verdienen, der Vergessenheit
entrissen zu werden. Der Grofsherzoglich sächsische Oberhofmeister
und Kammerherr Friedrich Hildebrand von Einsiedel*), ein Mann von
echt adliger Gesinnung hatte bereits durch die im Jahre 1797 anonym
erschienenen: „Grundlinien zu einer Theorie der Schauspielkunst,"
den ihn ehrenden Beifall Schillers erhalten, welcher mit Bezug darauf
an Goethe vom 12. Dezember 1797 schreibt: „Einsiedeis Schrift über das
Theater ' enthält doch manches Gutgedachte. Es ist mir unterhaltend,
wie diese Art von Dilettanten sich über gewisse Dinge, die nur aus der
Tiefe der Wissenschaft und der Betrachtung geschöpft werden können,
ausspricht, wie z. B. was er vom Stil und der Manier sagt u. s, f." Es
war daher nur natürlich, dafs Goethe ihn zur Bearbeitung der alten
Komödien heranzog; aber, wie es so häufig bei Dilettanten der Fall ist,
auch Einsiedel schofs schliefslich über das von dem grofsenFreund ins Auge
gefafste Ziel hinaus, wenn er noch mehr, als die bereits aufgeführten
Stücke des Terenz und des Plautus auf die Bühne zu bringen wünschte.
So wird es wohl Goethe selber gewesen sei, welcher schliefslich einer
weiteren Vermehrung des Repertoires durch die Antike Ende und Ziel
setzte; und Karoline von Herder hatte ohne Zweifel Recht, wenn sie an
Knebel von Goethe schrieb: „Dafs Goethe lebt, darüber wollen wir
Gott danken. Es möchte ohne ihn nicht gut in Weimar werden. Er ist
doch immer, welcher Schranken setzt, wenn es zu bunt werden will."**)
Jedenfalls hatte Goethe erkannt, dafs er auch mit dem Geschmacke
des Publikums rechnen mufste, das doch nicht aus lauter Kunstrichtern
*) Vgl. über ihn den Artikel von Fritzsches in „Weimars Album zur IV. Säkularfeier
der Buchdruckerkunst, am 34. Juni 1840,'^ S. 165 ff.
**) Caroline von Herder an Knebel, 21. Januar 1801.
116 Otto Francke.
bestand und zum grofsen Teil jedenfalls die IfFlandschen und Kotzebueschen
Rühr- und Intriguenstücke den in einer unbekannten Welt spielenden
Komödien der alten Lustspieldichter vorzog. Auch hatte er ja so ziemlich
erreicht, was er wollte. Man kennt Schillers absprechendes Urteil über
Ifflands Theaterstücke, welche Tieck mit dem Ausdruck: „rührende
Trivialitäten bezeichnete***) und mufs Wieland beipflichten, wenn er sich
darüber also ausläfst: „Die alten Schauspieler arbeiten nie auf Illusion.
Sie waren ze^viKot. Ihr Spiel sollte idealisirtes Kunstwerk sein. Daher
lassen sich Masken und all ihr Theaterpomp, in dem die Choragen sich
selbst zu übertreffen strebten erklären. Unsre neue Schauspielkunst
jagt dem leeren Phantome nach, sich mit der vorgestellten Person selbst
zu identifiziren; daher die höchst natürlichen Carikaturen derlfiland*schen
Schlafrockstücke, wobei man vor lauter Nachahmung der lieben einfaltigen
Natur unaussprechlich platt und fade wird und endlich ganz vergilst, da(s
dramatische Darstellung Kunstideal und Spiel dieser Stücke Kunst-
werk ist.****)
Es war daher bei Wiederbelebung der alten Maskenkomödie Goethes
Bestreben gewesen, wie wir bereits im Vorhergehenden mit Goethes
eigenen Worten es ausgesprochen haben, „die Persönlichkeit der
wohlbekannten Künstler vollkommen aufzuheben;** sie sollten,
indem sie „andere Personen** darstellten als „fremde Männer**
erscheinen und so „in ihrer Darstellung aus dem platten Copiren
der Natürlichkeit heraustreten**, um einen „Stil zu gewinnen**.
Dafs diese Goetheschen Bestrebungen lediglich von der reinsten Kunst-
begeisterung eingegeben und getragen waren, dafs sie also nicht mit
einem Schriftsteller***) Frankreichs, wo vor nicht langer Zeit Augier und
Ponsart die alte Komödie wieder zu beleben versuchten, kurzweg „comme
une chose extraordinaire** zu betrachten sind, dafs sie vielmehr das Büd
des genialen WoUens unseres gröfsten Dichters vervollkommnen und da(s
sie zum Heile der Schauspielkunst in jener Zeit nicht am wenigsten
beigetragen haben: ich denke, darüber kann für denjenigen, der offienen
Blickes eine vorurteilsfreie Untersuchung anstellen will, nicht der geringste
Zweifel obwalten.
*) Vgl. Schiller an Goethe, 31. August 1798.
♦*) Vgl. Böttigers „litterarischen Nachlafe" I, S. 146.
***) Vgl. F. Scholl, Histoire abrdg^e de la Litt^rature Romaine, Paris, Tome I
p. 135. Anm. I.
Weimar.
•••
Ästhetik, Philologie,
Vergleichende Litteratur-Geschichte.
Von
Josef Kohler.
§. I.
Dafs mein Werk über ^Shakespeare vor dem Forum der Jurispru-
denz" (Würzburg 1884) manchen Widerspruch hervorrufen mufste, war
vorauszusehen. War doch das von mir gestellte Problem, das Problem näm-
lich : nicht die wirklichen juristischen Kenntnisse des Dichters, sondern die
in seiner Intuition implicite enthaltenen Rechtsideen zu analysieren, das Pro-
blem, in seiner intuitiven Schöpfung die Entwicklungszüge der Weltge-
schichte aufzuweisen, ein ganz neues*) — ein neues für unsere Zeit; denn in
der klassischen Zeit war man diesen Problemen sehr nahe, und mit genialen
Worten hat es bereits Schiller ausgesprochen, dafs zwar jedes dichterische
Werk Charakter haben müsse, — „aber der vollkommene Dichter spricht
das Ganze der Menschheit aus;"**) — fürwahr, unserer Zeit thut nichts
nötiger, als auf die Ästhetik unserer grofsen Geister zurückzugreifen
und dort anzuknüpfen: man wird dann erfahren, dafs jedes wahre
künstlerische Schaffen ein unbewufstes, intuitives ist, dafs allem Technischen
eine „dunkle aber mächtige Totalidee" vorhergehen mufs und dafs es
eben die Sache des Dichters ist, diese Idee „in ein Objekt zu über-
tragen" d. h. zu individualisieren;***) man wird erfahren, dafs es nicht
das erste Ziel des Dichters ist, nach dem Effekte hin zu arbeiten und
*) Treffend ist diese Idee erfa&t von Girard, Noovelle Revue historique de droit
fran^ais et ^tranger x886 p., 238 f.
**) Briefwechsel mit Goethe, Brief vom 27. März i8ox. 4. Aufl. ü, 379.
***) Vergl. den erwähnten grofsartigen Brief Schillers a. a, O. II, 278.
118 Josef Kohler.
buhnenwirksame Szenen zu schaffen, sondern dafs vor allem Effekt,
welcher ja doch nur ein Äufserliches bildet, eine innere Idee walten
mufs, welche nichts anderes ist, als die Wiederspiegelung des in der
ewigen Schöpfung waltenden göttlichen Wesens; man wird erkennen
dafs eine solche Idee in dem Kunstwerk walten mufs, *) soll dieses nicht
zu ödem Flitter, hohlem Pathos oder humorloser Witzkomödie herabsinken.
§. 2.
War einmal diese ästhetische Grundwahrheit pointiert, so mufste
sofort ein Zwiespalt zu Tage treten, welcher zwar von jeher innerlich
bestand, aber täglich klaffender wird — der Zwiespalt zwischen
Ästhetik und Philologie.
Sache des Philologen ist es, die richtige Lesung des Autors her-
zustellen; seine Sache ist es, dem Autor und seiner Zeit nachzuforschen:
die Lebensschicksale des Autors, die charakteristischen Ereignisse jener
Zeit sind Sache seiner Behandlung; es steht daher auch ihm anheim, zu
erfassen, wie ein Dichter im Rechte seiner Zeit bewandert gewesen ist,
wobei ihm allenfalls ein tüchtiger Jurist behülflich sein kann. Von dieser
Forschung habe ich ziemlich abgesehen, weil meines Erachtens die zu-
fällige Konstellation, welche das Recht zur Zeit des Dichters hatte, auf
seine universalhistorische Richtung keinen grofsen Einflufs ausübte; sein
Geist erhob sich von der Zeitlichkeit der Erscheinung zu den ewigen
Ideen, welche in der Weltgeschichte walten; und ich halte es für ebenso
verfehlt, die Shakespeareschen Werke nach dem konkreten Recht seiner
Zeit zu messen, als sie zu messen nach einer speziellen Kirchen-
anschauung, welche in seinen Tagen herrschend war.
Eben in der Darstellung dieser ewigen Ideen, welche in dem Dichter
walten, liegt die Aufgabe des Ästhetikers; und wenn er diese Ideen nach
der Seite der Rechtsentwickelung hin verfolgt,**) wenn er verfolgt, wie
*) Wie vortrefFlich sag^ nicht Schiller in dem Briefe vom 23. August 17^4 (in der
cit. Ausgabe I, 5) über Goethe: „In Ihrer richtigen Intuition liegt alles und weit voll-
ständiger, was die Analysis mühsam sucht, und nur weil es als ein Ganzes in Ihnen liegt,
ist Ihnen Ihr eigener Reichtum verborgen ; denn leider wissen wir nur das, was wir scheiden.*^
Wie vortrefFlich ist nicht hier ausgedrückt, dafs das Genie die Welt, die Weltgeschichte mit
allen ihren Faktoren und damit auch die Rechtsentwicklung . unbewufst in sich trägt; wobei
es eines zweiten analytischen Verstandes bedarf, um, was intuitiv in jenem liegt, zu scheiden
und dadurch zur Erkenntnis zu bringen.
*) Denn „Gerechtigkeit ist die Seele der Welt, die das Weltall als Körper zusammen-
hält.^* Omar Chajjam, Lieder und Sprüche, von Bodenstedt. S. 42.
Ästhetik, Philologie, vergleichende Litteratur-Geschichte. 119
die Intuition des Dichters mit dem Menschenfortschritt auch den Rechtsfort-
schritt in Betracht zieht, so ist dies eine ästhetische Leistung, welche aller-
dings von der Forschungsphäre des Philologen abliegt, aber nicht nur in das
Gebiet der Jurisprudenz, sondern auch in das Gebiet der Ästhetik einschlägt.
Die Annahme, als ob nur dasjenige den Ästhetiker berühre, was
zugleich den Charakter philologischer Forschung an sich trägt, ist so
unrichtig, dafs sie einer besonderen Widerlegung nicht bedürfte, böte sie
uns nicht Gelegenheit, den Unterschied zwischen Ästhetik und Philologie
und ihre beiderseitige Berechtigung darzulegen. Wer es versucht, den
ästhetischen Gehalt eines grofsen Dichters, wenn auch nur nach einer
Seite hin zu zergliedern, und wer es mit einem seither wenig benutzten
Apparat von Hülfsmitteln thut, kann verlangen, dafs seine Forschungen
von Ästhetikern nach ästhetischen Grundsätzen berücksichtigt werden;
und diejenigen, welche das Gewicht ihrer Studien nicht in das ästhetische
Erfassen der Dichterprobleme, sondern in philologische Details verlegen,
mögen auf ihrem Gebiete zur ästhetischen Erkenntnis indirekt beitragen,
die ästhetische Würdigung des Dichters ist Sache ästhetischer Wissenschaft.
Dafs die Ästhetik als Wissenschaft in den Banden der Philologie
liegt, ist einer der Hauptfehler unserer deutschen wissenschaftlichen
Richtung, ein Fehler, welcher noch auf lange hinaus die wissenschaftliche
Fortbildung der Ästhetik unterbinden mufs. Denn wenn zwei Wissenschaften
einander Antipoden sind und in ihrer ganzen Arbeitsmethode einander
schroff gegenüber stehen, so sind es Ästhetik und Philologie. Die
Ästhetik geht von den Höhen der Philosophie aus; aus der Erkenntnis
des Unendlichen, welches im Endlichen sich in tausend Formen mani-
festirt, entwickelt sie den unendlichen Gehalt, der im Endlichen lieget, und sie
weist nach, wo derselbe in bedeutenden charakteristischen Manifestationen
hervortritt: die Allgewalt des Geistes, welcher die Welt durchleuchtet,
bricht in mehr oder minder getrübter Gestalt zu Tage; ihn in seiner Rein-
heit und seinem Glänze darzustellen, so dafs uns sein Wirken in entzündender,
erschütternder Weise vor die Seele tritt, dies ist Aufgabe der Kunst ; und
in dem Kunstwerke diese geistige Objektivation des Göttlichen nachzu-
weisen, dies ist Aufgabe des Ästhetikers. Die Ästhetik verlangt daher
vor allem Nachfühlen, Nachempfinden des Kunstwerkes; sie verlangt
aber weiter die Kraft des Geistes, welche diesem Gefühlsleben objektiv
entgegentritt und dasselbe in seiner Qualität und Quantität zu schätzen
weifs: erst eine solche Charakteristik des dem Werke innwohnenden und
in der Seele des Hörers resonierenden Empfindungsgehaltes eines Kunst-
werkes macht den Ästhetiker aus. Der Ästhetiker steht daher dem
120 Josef Kohler.
Kunstwerke nicht unmi^elbar gegenüber, er steht ihm gegenüber kraft
des durch das Kunstwerk erregten ästhetischen Hochempfindens, er steht
ihm gegenüber als einem Organismus, welcher Empfindungen in uns
erregt und in unserem Gefühlsleben eine dem Werke adäquate Stimmung
hinterläfst; nur die Empfindung ist im Stande, das Göttliche in sich auf-
zunehmen, ebenso wie nur des Dichters Intuition, nicht seine reflexive
Thätigkeit, Kunstwerke zu schaffen vermag. Je feiner und empfanglicher
das Gemütsleben angelegt ist, desto mehr wird es nachempfinden und
anempfinden können:
„Wer empfinden und sich unterwinden, zu sagen, ich glaub* ihn nicht?"
Nur durch das Medium der Empfindung hindurch gelangen wir zur
ästhetischen Erkenntnis. Allerdings ist mit dem Empfinden noch nicht
der Ästhetiker gegeben; sonst wäre der reproduktive Künstler, der
Schauspieler, der Musiker gerade der beste Ästhetiker, und dies ist
regelmäfsig gerade nicht der Fall. Das Empfindungsleben hat der
Ästhetiker mit dem reproducierenden Künsder gemein; von nun an scheiden
sich ihre Wege: der Künsder hat das Empfindangsieben in adäquater
Aufserung zur Darstellung zu bringen, der Ästhetiker hat es zu analysieren:
er hat die Art und Weise kundzugeben, wie das Göttliche in die spröde
Masse des Endlichen seinen Weg genommen hat, wie seine Lebenskraft
den öden Stoff ergriffen, ihn beherrscht, ihn veredelt, ihn vergeistigt hat,
wie dasselbe aus einer todten Masse etwas lebendes geschaffen hat, von Geist
zu Geist wirkendes; der Ästhetiker hat, soweit es unserer philosophischen
Reflexion möglich ist, die Gründe aufzuweisen, durch welche das Göttliche
in dem Endlichen wirkt; er hat nicht, wie der Blumenenthusiast, blofs
die Blumen zu be^yundern, sondern, wie der Botaniker, dieselben wissen-
schaftlich zu analysieren, er hat als Kunstwerkphysiologe des in dem
Kunstwerk waltende Leben zu erklären. Das ist seine Aufgabe — eine
Aufgabe, welche er nur erfüllen kann, wenn er das Kunstwerk zuerst in
sein Inneres aufgenommen hat — ebenso wie ein wissenschaftlicher Aufsatz
nur dann verstanden werden kann, wenn man seine Sprache versteht
und die Gedanken desselben in seinem Innern zu rekonstruieren vermag.
Daher kann selbstverständlich nur derjenige über die Ästhetik eines Ton-
werkes handeln, welcher selbst für Musik empfanglich ist, und nur der-
jenige ist in der Lage, eine Dichtung zu analysieren, welchem innigstes
Mitempfinden für die Poesie gegeben ist.
Aber auch das andere Extrem ist zu vermeiden. Ein Ästhetiker kann
selbst Dichter und Künstler sein, aber er braucht es nicht zu sein; oft
99
ist sogar gerade die Künsdernatur dem Ästhetiker hinderlich. Denn
Ästhetik, Philologie, vergleichende Litteratur-Geschichte. 121
einmal ist nicht jeder produzierende Künstler auch für die Schöpfungen
Anderer empfanglich; wer den eigenen Pegasus reitet, hat nicht immer
die Weite des Blickes, um auch dem Pegasus anderer zu folgen — das
hat oft ein Nichtdichter in höherem Grade, sobald er sich nur auf den
erhabenen Standpunkt gestellt hat, von welchem aus er den Zug Anderer
zu überschauen vermag. Aber auch wo dieser Mangel nicht zutrifft,
liegt meist ein zweiter noch wichtigerer Mangel vor: der Künstler
empfindet, er empfindet tief und voll, aber er ist nicht in der Lage,
diese Empfindung zu analysieren und wissenschaftlich zu erklären: er ist
Blumenerzeuger und Blumenenthusiast, aber er ist nicht Botaniker und
Fflanzenphysiologe. Nur wenigen Geistern ist es gegeben, eine solche
Vielseitigkeit zu erreichen, dafs ihnen auch dieses Gebiet offen steht.
Schiller war Ästhetiker und Dichter, er war sogar als Ästhetiker gröfser
denn als Dichter; Richard Wagner war Musiker, Dichter und Ästhetiker zu-
gleich. Diese Geister aber sind gezählt, und die Meinung, als ob ein
Dichteram besten einen andern Dichter ästhetisch erklären könnte, ist grund-
irrig; der gröfste deutsche Dichter hat in der Erklärung des Hamlet
bedeutend fehlgegriffen, — da kann es uns nicht wundem, dafs auch
manch* anderer fehlging, welcher noch kein Goethe ist.
Ist auf diese Weise festgestellt, was der Ästhetiker haben mufs, dafs
ihm nämlich zu gleicher Zeit künsderisches Nachempfinden und philoso-
phisches Reflexionsvermögen zu Gebote stehen mufs, so ist zugleich
ersichtlich, wieweit seine Studien von denen des Philologen verschieden
sind. Der Philologe ist vor allem Sprachkenner, und zwar zunächst
Sprachkenner überhaupt, sodann Kenher der Spracheigentümlichkeiten
eines bestimmten Autors, zu welcher Kenntnis auch die Kenntnis der
Lebensverhältnisse des Autors hinzutreten mufs, weil sie für die Auffassimg
seiner Sprachbildung mafsgebend sind. Ein solches Studium des Lebens
einzelner Autoren führt zur äufseren Litteratur-Geschichte, und diese ist
vöUig die Domaine des Philologen. Eine korrekte Ausgabe des Schrift-
stellers zu schaffen, die Zeit und Umstände der Abfassung festzusetzen,
die Werke des Autors sprachlich zu erklären, die für die individuelle
Auffassung des Autors mafsgebenden zeitgeschichtlichen Momente anzu-
merken, das ist vöUig die Sphäre des Philologen; diese philologische
Thätigkeit ist diu-chweg notwendig: denn sie ist die Grundlage eines
jeden ästhetischen Erfassens ; sie ist eine Thätigkeit, welcher der Ästhetiker
gewöhnlich nicht fähig ist: sie verlangt vor allem Sprachkenntnis, aber
nicht blols die gewöhnliche, sondern philologische Sprachkenntnis, sie
122 Josef Kohler.
verlangt vor allem Detailstudien auf dem Gebiete der Biographie und
Geschichte; sie verlangt vor allem Exaktheit, Promptitude und Akribie.
Dagegen verlangt sie kein philosophisches Versenken in den Geist des
Werkes — vielmehr verlangt sie grofse Enthaltsamkeit, um nicht in
wilde Hypothesen- und Konjekturensucht auszuarten. Gerade was den
Ästhetiker auszeichnet, dafs er die äufseren Formen hintansetzt und in
das Innere eindringt, das wäre dem Philologen zimi Verderben. Der
Philologe mufs, wie der Architekt, uns zuerst die zerfallenen, durch die Zeit
abgebröckelten Steine des Bauwerkes suchen und nach den statischen
Gesetzen zusammenfügen; dann beginnt die Tbätigkeit des Ästhetikers,
welcher über den Baustil zu philosophieren hat; nicht als ob nicht auch
umgekehrt der Ästhetiker dem Philologen zu Hülfe kommen könnte,
sofern die aus anderen Schriften geschöpfte ästhetische Auffassung auch
bei der Rekonstruktion des Textes forderlich sein kann; und auch das
ist möglich, ja es wäre der Gipfel des Erstrebbaren, dafs ein und der-
selbe Forscher zugleich Philologe und Ästhetiker wäre, wie es ja vor-
kommt, dafs ein Forscher ziugleich Philologe, Jurist und Historiker ist.
Aber das ifaufs festgehalten werden, dafs es sich um zwei verschiedene
Wissenschaften handelt, mit verschiedenen Ausgangspunkten, mit ver-
schiedener Methode und verschiedenen Zielen; um zwei Wissenschaften,
welche friedlich zusammenwirken und ineinandergreifen müssen, von welchen
jede ihre Sonderbestimmung und ihre Existenzberechtigung hat.
Nichts ist daher sonderbarer, als wenn Ästhetiker über die mühsame
und tüchtige Arbeit des Philologen gering denken, aber auch umgekehrt
ist es höchst seltsam, wenn Philologen mit ihrer spezifischen Thätigkeit
die ästhetische Arbeit bereits als vollzogen erachten oder die Ästhetik
als etwas unsolides oder unwissenschaftliches ansehen, welches dem
Laien, aber nicht dem Manne der Wissenschaft zukomme, oder wenn sie
annehmen, dafs die ästhetische Arbeit eines Shakespeareforschers nicht
ebenso bedeutsam sei, als die Arbeit des Philologen, welcher die Texte
rekonstruiert oder das Zeitalter der Schöpfungen des Dramatikers und
ihre historischen Schicksale erforscht. Erst wenn erkannt ist, dafs beide
Wissenschaften ihre selbständige Berechtigung haben, erst dann wird der
gegenseitige Streit, als ob die eine oder andere Methode die richtige
wäre, aufhören — beide sind richtig, jede hat eben nur ihre verschiedenen
Zwecke und Ziele.*) Der Philologe wird uns Plato oder Bhagavad-Gita
*) „Zwischen Philologie und Ästhetik** sagt W. Scherer am Schlüsse seiner Litteratur-
geschichte, „ist kein Streit, es sei denn, dafs die eine oder die andere oder dafs sie beide
auf falschen Wegen wandeln**. (Anm. d. Red.)
Ästhetik, Philologie, vergleichende Litteratur-Geschichte. 133
phSologisch nahelegen; aber nur der Philosophe hat die Aufgabe zu
erfüllen, die Philosophie der Inder und der Griechen zu rekonstruieren und
ihretiefenSchätze auszubeuten; ebenso istesaber auch Sache des Ästhetikers,
den unendlichen Gehalt in den Werken der Dichter darzulegen: er wird
dem Philologen für jede Hülfe dankbar sein, er wird sich aber nicht
daran kehren, wenn Philologen es mifskennen, dafs^ nachdem die philolo-
gische Arbeit gethan ist, die That des Ästhetikers beginnt, und dafs die
innere Zergliederung des geistigen Gehaltes der Dichtung dem Ästhetiker
und nur ihm obliegt, er wird sich nicht daran kehren, wenn etwa philo-
logische Forscher es verkennen, dafs erst mit der ästhetischen Erklärung
der Dichter verstanden ist, und dafs eine Erklärung, welche den universal-
historischen Gehalt der intuitiven Dichteridee darlegt, einen Beitrag liefert
zum Verständnis des Dichters. Nur wenn Philologie und Ästhetik sich
gegenseitig als gleichberechtigte Wissenschaften anerkennen, von welchen
jede ihren verschiedenen Beruf hat, ihre verschiedene Arbeitsmethode
verfolgt, nur wenn beide Wissenschaften ihre Pflege finden, können beide
gedeihlich fortschreiten. Seit den Tagen Schillers und Schlegels hat die
Ästhetik nicht diejenigen Fortschritte gemacht, welche man nach diesem
grofsartigen Beginne hätte erwarten sollen; dies hängt von vielen anderen
Umständen ab, zumeist aber davon, dafs man ihre richtige Beziehung zur
Philologie verkannt, dafs man übersehen hat, dafs die philologische und
die ästhetische Behandlung eines Dichters zwei Dinge sind, welche sich
gegenseitig beeinflussen, aber doch wieder beide selbständig gepflegt
i?rerden müssen. Je schärfer die verschiedenen Probleme erfafst werden,
um so sicherer können die verschiedenen Ziele — um so sicherer auch
das letzte gemeinsame Endziel erreicht werden.
§. 4.
Aus dem Obigen geht von selbst hervor, dafs, wie die Litteratur-
Geschichte überhaupt, so insbesondere die vergleichende Litteraturgeschichte
der Ästhetik in die Hände arbeitet: nur das Studium der Erzeugnisse
der verschiedensten Länder und Zeiten kann dem Ästhetiker die Viel-
seitigkeit und Tiefe geben, um aus den konkreten Manifestationen der
Kunst heraus zu den Grundgesetzen zu gelangen. Wir müssen Shakespeare
und Äschylus, Goethe und Byron, Aristophanes und Moliere, Walter
Scott, Turgenjew und SchefiFel zugleich in Betracht ziehen, Homer, Edda
und Kalewala zugleich wissenschaftlich erfassen, um zu einem ausgiebigen
Verständnisse der Probleme des Tragischen und des Humoristischen zu
gelangen, oder um die Grundzfige der ästhetischen Wahrheit im Gegen-
Ztschrft. f. vgl Lttt.-Geach. I,. ^
124 Josef Kohler.
satz zur prosaischen Wirklichkeit zeichnen zu können. Erst die Ver-
gleichung setzt uns in den Stand, entscheiden zu können, wo der wahre
Realismus aufhört und zum unkünsderischen Naturalismus wird und wo
der berechtigte Idealismus in vage Zerflossenheit, in schwächlichen
Quietismus oder in unwahre Phantastik übergeht.
So ist es uns ermöglicht, ohne in einseitigen Doktrinarismus zu ver-
fallen, die ewigen Prinzipien der Kunst zu zeichnen ; so ist uns ermöglicht
aufzuweisen, wie diese ewigen Prinzipien nicht zur doktrinären Erstarrung
der Kunst fuhren, sondern eine Fülle des reichsten Lebens in ihrem
Schofse bergen, wie sie nicht die Träger einer einförmigen Schablone,
sondern die Quelle sind, aus welcher ein überreiches stets wechselndes,
aber doch innerlich gesundes und wahres geistiges Leben entspriefst
Und so wird es endlich gelingen, neben der äufseren Litteraturgeschichte
eine innere Litteraturgeschichte, die Geschichte des menschlichen Greistes
in seiner ästhetischen Kunstentwickelung zu bieten.
Der Ästhetiker wird daher jede wahre Leistung des Litteratur-
Historikers willkommen heifsen, er wird aber insbesondere die vergleichende
Litteraturgeschichte begrüfsen; und wenn seine Bestrebungen von Seiten
des Litteraturhistorikers mit gleicher Gunst aufgenommen werden, so wird
das gedeihliche Zusammenwirken beider Teile es vermögen, dem grofsen
Ziele zuzustreben : der Erkenntnis des menschlichen Geistes und der Er-
kenntnis der in ihm waltenden göttlichen Macht
Würzburg.
f
..».-
Die ästhetische Naturbeseelung
in antiker und moderner Poesie.
Von
Alfred Biese.
I.
Der Mensch begreift niemals, wie anthropomorphisch er ist" sagt
Goethe einmal in seinen Sprüchen. Und in der That vermag der
Mensch bei Betrachtung des Höchsten wie des Geringsten niemals die
Grenzen seiner Menschlichkeit zu überschreiten; will er ein konkretes
Wesen, und wenn es auch das höchste ist, sich vorstellen oder begreifen,
nie kann er völlig von sich selber abstrahieren; für den Menschen ist
immer wieder nur der Mensch das Mafs aUer Dinge; im eigentlichen
Sinne versteht der Mensch aus dem Grunde — nur sich selbst. Alles
andere wird ihm erst verständlich, deutbar und erklärlich, indem er sich
selbst, sei es nun anthropopathisch in seiner Geistigkeit oder anthro-
pomorphisch in seiner Leiblichkeit, dem anderen aufser ihm anpafst oder
einfühlt, sein eigenes Wesen dem anderen leiht, um so sich selbst nur
immer in dem anderen wiederzufinden. Diese Fähigkeit oder vielmehr
diese immanente Nötigung, immer wieder nur sich selbst in die Aufsen-
dinge hineinzulegen, um sie völlig zu ergründen, — die also nicht blofs
eine Kraft, sondern zugleich eine Schranke menschlichen Wesens be-
zeichnet, — dieser Prozefs des Anpassens und Einfuhlens erstreckt sich
auf Personen wie auf leblose Dinge. Wie tiefen Sinn hat unser Wort
Mitleid! Wenn wir den Schmerz des Freundes nachempfinden, so ver-
setzen wir uns in ihn, denken uns ganz in seine Lage und Stimmung
hinein, d. h. eben leiden mit ihm.
Mitleid und Furcht bedingen die Wirkung der Tragödie, jene beruht
also wesentlich auf solcher Supponierung des eigenen Ichs in ein anderes.
Aber auch jedes Verständnis des Schönen überhaupt setzt solche Uber-
9*
126 Alfred Biese.
tragung voraus, die, wenn Verwandtes zu Verwandtem harmonisch sich
findet, zum ästhetischen Genufs fuhrt. — Das bekannte Wort der g^echischen
Philosophie tlfuoiov bfioup pp/afoxerat „Gleiches wird nur durch Gleiches
erkannt" bedeutete bei den Pythagoräern, dafs der mathematisch gebildete
Verstand das Organ der Erkenntnis des mathematisch geordneten Kosmos
sei. Aber er läfst sich auch zu einem Fundamentalsatz der Ästhetik
machen. Der Reiz auch des kleinsten lyrischen Liedes basiert auf der
Übertragung des eigenen Ichs in die vom Dichter gezeichnete Situation
oder Stimmung, auf diesem Widerspiel von Subjekt und Objekt, auf dem
geheimnisvollen Rapport zwischen dem Anschauenden und dem Ange-
schauten. Es beruht eben alles im Leben des Geistes auf Apperzeption.
Nur das reizt zum Schauen, zum Nachdenken, zum Nachempfinden, was
eine verwandte Saite in unserm Innern in Schwingung versetzt. ^Du
gleichst dem Geist, den Du begreifst!" An einem Kunstwerk, mag es
nun ein musikalisches, plastisches, poetisches oder malerisches sein, haben
wir nur dann echtes, rechtes, von nachfühlendem Verständnis getragenes
Wohlbehagen, wenn sich die goldene Brücke der Sympathie von unserer
Empfindung zu dem Gegenstande der Betrachtung hinüberbaut, wenn
der Schönheitsgehalt, den der Künstler in sein Werk gelegt hat, wie
ein elektrischer Strom hinübergeleitet wird in die eigene Seele und das
Heterogene sich in Einklang löst. Welche Wonne überrieselt den
Musikfreund beim Hören einer schönen Komposition, und wie durch-
schauert uns der Eindruck eines Dramas oder eines Liedes, wenn die
Saiten unsers Innern miterzittern und mitklingen — denn das Schaudern
ist der Menschheit bestes Teil, heifst es im Faust. Ist es die reinste
Freude für den sterblichen Menschen, zu produzieren — in welcher
Kunst oder Wissenschaft auch immer, — wenn ein höherer Geist ihn
erleuchtet, wenn die Natur selbst im Künstler unaufhaltsam schafft, mit
den regsten Impulsen, die ihm selber wie Offenbarungen erscheinen,
so ist auch das rezeptive Aufnehmen des Schönen schon eine Lust,
aber nur dann recht, wenn es kein passives Empfangen bleibt, sondern
aktiv die Gedanken des Künstlers nachdenkt, sein Werk nachschafft.
Selbst erfinden ist schön; doch glücklich von andern Gefundenes,
Fröhlich erkannt und g^chätzt, nennst du das weniger dein?
fragt Goethe in den „Vier Jahreszeiten", und in den Aphorismen lesen
wir zur Bestätigung des oben Angedeuteten: „Wir wissen von keiner
Welt als in Bezug auf den Menschen; wir wollen keine Kunst, als die
ein Abdruck dieses Bezuges ist*' und weiter: „Suchet in euch, so werdet
ihr alles finden, und erfreut euch, wenn da draufsen, wie ihr es immer
Die ästhetische Naturbeseelun^^ in antiker und moderner Poesie I. 127
heifsen möget, eine Natur lieget, die Ja und Amen zu allem sagt, was
ihr in euch selbst gefunden habt." — Und fürwahr, die Natur bringt dem
menschlichen Geiste zum nachempfindenden, nachschaffenden Verständnis
noch weit weniger entgegen als die Kunst; daher mufs der Mensch das
Meiste selbst hinzuthun. Der Zauber einer Landschaft besteht wesentlich
darin, dafs sie uns wiederzustrahlen scheint, was wir selbst an Geist,
Gemüt, Stimmung in sie hineingelegt haben.
Sich selbst nur sieht der Mensch im Spiegel der Natur,
Und was er sie befragt, das wiederholt sie nur,
sag^ Rückert, und Ebers mahnt:
Ja legt nur in die ewige Natur
Aus Geist und Herzen euer Bestes nieder,
Sie giebt euch alles, alles — wartet nur ^
Mit vollen Händen tausendfältig wieder.
Erst wirklich schön wird die Natur im Auge des Beschauers, in der
Seele des Menschen,*) der sein eigenes Empfindungsleben in die an und
für sich starre, tote Natur taucht. Und da dieses immer wechselt in den
Jahrhunderten, so hat auch jedes Zeitalter nicht blofs seine eigene Welt-
anschauung, sondern auch seine eigenartige Naturanschauung, sein eigenes
„landschaftliches Auge^^ wie Riehl es in seinen schönen Kulturstudien
nennt. Die Natur bleibt kalt, wenn nicht ein Strom seelischen Lebens
durch sie hindurchgleitet, sie belebt und beseelt
Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht,
Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht,
Das den grolsen Gedanken
Deiner Schöpfung noch einmal denkt.
Die Entwickelungsgeschichte antiken**) und modernen Naturgefiihls
lehrt, da£s immer ein hochentwickeltes Gedanken- und Empfindungsleben
erst der Natur eine Sprache leiht, dafs nur der in ihr ein Spiegelbild
*) Vischer sagt in seinen Krit. G. N. F. V, p. 183: So grofs ist auch das Grofsartigste
nicht in der Natur, dafs es wirken könnte, wo die Gemfltslage nicht darauf eingerichtet ist
**) Ich verweise auf mein Buch „Die Entwicklung des Naturgefühls bei den Griechen
und Römern", Teil I, Kiel, Lipsius & Tischer 1882 (£. d. N. bei d. Griechen. Erstes Kapitel:
Das naive Naturgeföhl in Mythologie und bei Homer; zweites Kapitel: Das sympathetische
Naturgef&hl in Lyrik und Drama; drittes Kapitel: Das sentimental-idyllische NaturgefQhl des
Hellenismus und der Kaiserzeit), Teil II, Kiel 1884 (E. d. N. bei d. Römern. Erstes Kapitel:
Das mythologische NaturgefQhl und die Poesie im ersten Zeitalter der Republik; zweites
Kapitel: Lucretius. Cicero. Catullus (sympathetisches Naturgefühl); drittes Kapitel: Das
elegisch-idyllische NaturgefÜhl im Augusteischen Zeitalter; viertes Kapitel: Die gesteigerte
Sentimentalität der Kaiserzeit).
1
128 Alfred Biese.
seines eigenen Ichs, einen mitfühlenden Freund sieht, in sie mit sympathe-
tischem Genufs sich versenkt, mit Andacht und Begeisterung sich in die
Anschauung derselben vertieft, der kraft seiner Geistes- und Herzens-
Bildung eben eine Welt von Ideen und Stimmungen zu der Welt der
Erscheinungen in Beziehung zu setzen vermag. Und vor allem unter
dem Zauberstabe der dichterischen Phantasie löst sich der Bann, der über
der Natur liegt, da beginnt sie zu erwarmen wie der Stein am Herzen
des Pygmalion —
Da lebte mir der Baum, die Rose,
Mir sang^ der Quellen Silberfall;
Es fühlte selbst das Seelenlose
Von meines Lebens Wiederhall.
In des Dichters Gesänge leben die Wälder, die reifsenden Ströme,
die schnellen Winde — willenlos fiigt sich die Natur dem gottbegnadeten
Sänger, wie es keine Sage schöner symbolisiert hat, als die von Orpheus,
der mit dem Schmeichelton der Saiten die horchenden Wälder, Flüsse
und Tiere mit sich führte. Und in wem nicht selbst etwas vom Künsder
steckt, der wird nie etwas anderes in der Natur sehen als Blätter, Bäume,
Berge, als Himmel, Wasser, Erde. Der einfache Naturmensch, der sich
seine Mythen schafft, ist unbewufst ein solcher Künstler, der alles Gegen-
ständliche in Poesie wandelt. Und wie unsere Sprache eine abgeblafste,
immer mehr im Abstrakten erstarrende Bildersprache ist und bei näherer
Betrachtung von mehr oder minder durchsichtigen Metaphern durchwirkt
ist, so kommt derjenige Dichter der sprachschöpferischen Phantasie
am nächsten, wie zugleich der mythenbildenden, der alle Anschauung
in lebensvolle Metapher umsetzt, der die Erscheinungswelt in konkrete
Gestalten mit individuellem Gefühlsinhalt umwandelt. Mythologie und
Poesie sind in ihrem Kern eins. —
Wie das Kind mit allen Gegenständen seiner kleinen Welt auf du
und du steht, zärtliche Dialoge mit Ball und Tisch und Stuhl führt, den
Stuhl schlägt, an den es sich gestofsen, und ihn streichelt, um ihn zu
trösten, wie es sein eigenes kleines Füfschen sogar als aufser ihm
befindlich, als fremd betrachtet und so, sein eigenes Begehren auf dieses
übertragend, ihm zu trinken und zu essen geben will, kurz: überhaupt
nur das begreift, was den kleinen Anschauungskreis nicht überschreitet
und in das es sich mit Wollen und Fühlen hineinversetzen kann: so
schafft auch der primitive kindliche Menschengeist seine Mythen, indem
er allenthalben das sich regende Leben oder die ein Leben voraussetzende
Bewegung in der Natur einem Wesen zuschreibt, das ihm ähnlich ist an
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und moderner Poesie. I. 129
Gestalt und an seelischem Empfinden. Alle Mythologie ist andachtsvolle,
von religiöser Scheu getragene Symbolik, welche die Aufsenwelt anthro-
pomorphisch oder anthropopathisch belebt und beseelt. So ward der
Götterglaube der Griechen zu jenem Pandämonismus, dessen duftiges,
poesievolles Gewebe die ganze Natur mit einer Fülle erhabener und
lieblicher Wesen umspann. Doch ein leicht erkennbarer Unterschied
waltet ob zwischen der mythologischen und der poetischen Phantasie.
Jene vertauscht die auf Grund des in der Natur sich manifestierenden
Lebens geahnten und geglaubten Wesen mit den Erscheinungen selbst:
die so sinnvollen Personifikationen werden zu Gottheiten, denen der
Mensch Verehrung weiht. Diese aber bleibt ketzerisch, ihre Gestalten
bleiben Gebilde freischaffender Einbildiuigskraft, bleiben freier, schöner
Schein. Der Grieche sah in den hurtig dahin eilenden, mit lustigem
Geplätscher sich überstürzenden WeUen schöne Mädchen {y6/i<pai) und
hörte ihr silberhelles Gekicher. Die Sonne war ihm nicht ein lohender
Feuerball, sondern ein herrlicher Jüngling auf glänzendem Wagen mit
der Strahlenkrone auf dem goldgelockten Haupte u. s. f. Jede Bewegung
in der Natur, jeden Ton deutete er menschlich um; in Wald und Feld,
in Meer und Seen waltete eine Fülle von Dämonen. „Überall in seinen
Wäldern und Grotten, seinen Bergen und Schluchten, seinen Quellen und
Wellen empfing er den Eindruck eines Lebens, eines anmutigen, üppigen
Lebens so lebendig, so innig, so hehr, dafs sich ihm die empfundene
Wirkung sogleich in göttliche Wirksamkeiten umsetzte,*) Der Himmel
mit seinen Wolken und Blitzen ward ihm zum Wolken sammelnden Zeus,
das Meer mit den roUenden und sich wild überschlagenden Wellen zum
Poseidon, der mit eilenden Rossen dahinfahrt, der Mond, die bleiche
Schwester des leuchtenden Sonnengottes, zur wald- und jagdfrohen Artemis,
indem, „die ahnungsvolle Wirkung der irrenden Mondstrahlen in Wald-
Einsamkeit, das Schlüpfende der Mondbeleuchtung, das Säuseln, Rascheln,
Hallen und Wiederhallen im Walde in seiner Phantasie zum Bilde der
schlanken, leichtfufsigen Jägerin wurde, die mit ihren Nymphen und ihrer
Meute durch die Wälder streift."**) So beseelte der Grieche die ganze
ihn umgebende Natur und bevölkerte sie mit den anmutigsten Gestalten;
und die Prägfstätte, aus welcher diese Wunderwelt hervorging, war der
plastische Sinn der Hellenen, der innere Trieb, den empfangenen Natur-
eindruck in eine klare, fest umrissene, der Idee und Form nach harmonische
*) Lehrs, Populäre Aufsätze aus dem Altertum, a. Auflage 1875, S. iio,
*♦) Vischer, Ästhetik, II, 448.
180 Alfred Biese.
d. h. schöne Gestalt auszuprägen. Alle diese dämonischen Wesen, wie
sie in Wald und Feld, im Strom und Meer ihr Wesen treiben, sind nichts
anderes als der ^plastisch-religiöse Ausdruck eines innigen Natur-
gefuhls."*) — Wie rührend sinnvoll ist namentlich in den schlichteren
Mythen, in den Naturmärchen,**) die Übertragung des Menschlichen —
des Körperlichen wie des Seelischen — bis in die Details der Natur-
erscheinung hinein! Ich erinnere nur an den Mythus von Narkissos,
dessen Kern nichts anderes ist als die Geschichte der Narzisse.***) Jene
Blume mit ihrem narkotisch betäubenden Dufte, ihrer kalten, starren
Schönheit senkt am Rande des Wassers ihren Kelch nach unten, ihr
Abbild zeigt der Wasserspiegel, sie scheint in Selbstbetrachtung ver-
sunken, allmählich verwelkt sie, und absterbend gleitet sie in die Flut
hinab. Ahnlich lassen sich die Mythen von Hyakinthos, von Endymionf)
und Hylas deuten. Kurz: Die seelischen Eigenschaften, die der Grieche
in der Natur den Gegenständen vindizierte und die wieder auf seine
eigene Seele wirkten, fafste er nicht auf als Eigenschaften an einem
Körper, sondern empfand sie als Lebensäufserungen, als göttliche
Wirksamkeiten, ff) —
Aber auch wenn der Mensch längst die Stufe naiver Mythenbildung^
überschritten hat, kann er es nimmer lassen, Gestalt und Seele der Natur
zu leihen,fff) denn die Metapher ist kein poetischer Tropus, kein fremd-
artiges Ornament, sondern eine notwendige Form der Anschauung und
des Denkens; aber sie ist nicht mehr frommer Glaube, sondern schöner
Schein. Es ist unmöglich, das Sehen und Hören der Farben-, Licht- und
Tonverhältnisse, das Schauen vom Beseelen zu trennen, der Akt, sagft
*) Lehrs a. a. O. Die Entwickelung des NaturgefÜhls bei den Griechen, S. 9.
**) Z. B. von der Kalyke vergl. Preller, Griech. Mythologie, I, p. 186, der Boline,
Britomartds und Psappha, vergl. Kock, Alcaeus und Sappho p. 93 ff., der Daphne, Leukothea u. a.
***) Vergl. Wieseler, Narkissos Goettingen 1856, bes. S. 81.
t) Welcker, Götterlehre I p. 557; in der Sage von Bndymion und Selene ist der
Monduntergang mit engem Anschlufs an die Lokalität des Latmos-Gebirges in Karien
symbolisiert. „E^ mufs ein reizender Anblick sein," sag^ derselbe, „wenn hinter der im tief-
blauen Äther scharf geschnittenen Linie des herrlichen Latmos, der das weite Flufstal wie
eine Mauer abschliefst, der Mond untergeht nnd die weiisgraue Felsenwand mit zartem
Schimmer übergiefst. Wenn je, so mufs dort die Sympathie, die uns der Natur Gefühle gleich
den unsrigen leihen läfst, sich regen.**
ff) Lehrs a. a. O., vergl. auch die schöne Deutung von dem Pan-Mythus p. 135, und
zu derjenigen von den Nymphen, speziell was die Grotten betrifft, Vischer, Erinnerungen
und Eindrücke aus Griechenland, Basel, 1857, p. 59: Grotte von Vari.
ttt) Vergl. auch Carriere, die Poesie, 2. Auflage, S. 41.
Die ästhetische Naturbeseeluflg in antiker und moderner Poesie I. 131
Vischer,*) wodurch wir in dem Unbeseelten unserem Seelenleben zu
begegnen glauben, ruht an sich ganz einfach anf einem Vergleichen.
Das physikalisch Helle vergleicht sich dem geistig Hellen. Das Trübe,
Düstere dem gemüdich Trüben und Düsteren, dann aber legen wir —
ohne gleichwie — geradezu die Seelenstimmung als Prädikat dem seelen-
losen Gegenstande bei und sagen: diese Gegend, Luft, dieser Farbenton
des Ganzen ist heiter, ist melancholisch u. s. f. Uns beseelt ein unent-
wickeltes, unbenutztes Bewufstsein darüber, dafs eigentlich nur verglichen
wird, während wir dem Scheine hingegeben doch verwechseln 1" — So
scheint der Fels voll Trotz in die Luft zu ragen — wir denken und
fühlen uns in ihn hinein, passen uns ihm an, und so scheint er nicht nur,
sondern er ragt voll Trotz in die Luft empor. So stürzt sich der Bach
in ausgelassenem Mutwillen den Berg hinab, streckt der Baum sehnsüchtig
die Arme gen Himmel oder senkt sie melancholisch zu Boden; der Regen
rinnt mit schwermütigem Weinen durch das Laub ; das Feuer breitet mit
wütigem Grimm sich über das Gebälk, und mit jauchzendem Jubel wälzen
die von Eis befreiten Wasser sich durch die duftigen, leuchtenden und
lachenden Frühlingsauen. — Aber die äufsere Natur würde nicht so zum
Symbol eines menschlichen Innern werden, wenn nicht eben ein innig
Verwandtes zwischen der menschlichen Innenwelt und der Aulsenwelt
bestände, wenn nicht geheimnisvoll ein Geist uns in der ganzen Natur
entgegenträte, vernehmlich zu uns redete, ahnungsvolle Bezüge in uns
weckte, der dem unseren innig vertraut ist. Ist alles Schöne ausdrucks-
volle, seelenvolle Form, so wird es das Naturschöne durch die Seele,
die der Beschauer selbst ihr leiht oder die er andachtsvoll in ihr ahnt
und verehrt. —
Die ästhetische Beseelung der Naturerscheinungen hat in antiker und
moderner Poesie ihre eigene Geschichte. Mit ihr thut sich ein immens
g^oises Beobachtungsfeld auf, wenn man die verschiedenen Völker-
Individualitäten der pantheistischen Inder, der theistischen Hebräer, der
pandämonistischen Griechen und der nicht minder mannigfaltige Denkart
offenbarenden modernen Völker betrachtet. Zu dieser hochinteressanten
Aufgabe aus dem Bereiche der Völkerpsychologie und der vergleichenden
Geschichte der Weltlitteratur können die folgenden Blätter nur skizzenhafte
Umrisse bieten. —
**) N. Kritische Gänge 5. Heft p. 142, vergl. Rob. Vischer, „Ober den optischen
Ponssinn**, bes. S. 20 £f., Carl du Prel, Psychologie der Lyrik, p. 94 ff.
182 Alfred Biese.
Während uns in den Veden der Inder ein tiefreligiöses Naturgefuhl
entgegentritt, zeigen uns die epischen Dichtungen derselben das herzlichste
Verhältnis der Menschen zu der Natur, besonders zu Pflanzen und Tieren.
Als Ausflufs desselben göttlichen Lebens sind Mensch und Aufsenwelt
eng miteinander verwandt und vertraut, so da(s jener diese sich eben&lls
empfindend und mitfühlend vorstellt und ihr sein Glück entgegenjubelt
oder sein Leid klagt; Naturschilderungen nehmen einen beträchtlichen,
selbständigen Raum ein ; auch im Drama spielt die Natur mit. Teilnahme
und Mitgefühl setzt der Mensch bei allen einzelnen Naturerscheinungen
voraus. Wenn Damajanti im Walde umherirrend den verlorenen Nalas
sucht und des Waldes erhöhte Warte, den König der Berge, ragen
sieht, fragt sie ihn nach ihrem König: „O seliger Berg, lusttauender,
Himmelgleich anzuschauender, Einsiedlerhort, o Beschützer, Grufs dir, du
Weltbaustützer! . . vom Glück geschieden. Den Gatten suchend ohne
Frieden, komm ich zu dir in die Einsamkeit — O umschauender weit und
breit, Mit deiner Gipfel Tausenden, Hast du den hierum hausenden,
Irgend, o höchster der Erdenvesten, Nala gesehn, der Männer besten?
Mich klagen hörend, ununterjochter. Was tröstest du mich nicht wie
deine Tochter Mit einem Worte väterlich. Wo ist mein Gatte, mein Nala,
sprich." Und als sie zu dem Baume Asoka, Kummerlos, kommt, fleht
sie : „Beglückter Baum in Waldesmitte, Der du ragest nach Königssitte,
Von vielen Kronen behangen, Von keinem Kummer umfangen, Kummer-
los, mach mich kummerlos! Hast du, o blühender Asoka, Hier nicht
gesehn den Punjasloka, Den Damajantigatten, Nal, Den Nischaderfürsten,
meinen Gemahl?". .
In dem Epos „der Tod des Sisupala" von Maghas treiben Pflanzen
und Tiere ein gleich üppiges Liebesleben wie die „vollbusigen, hüfte-
schweren Mädchen" mit den glühenden Männern. „Der Berg Raivataka
berührt mit tausend Häuptern den Äther, mit tausend Füfsen die Erde;
Sonne und Mond sind seine Augen; den nach dem Gekose mit den
eigenen Gattinnen lüsternen Vögeln, die vor Wonne beben und matt sind,
gewährt er Schatten mit den Lotossonnenschirmen . . . Wer in der Welt
erstaunt nicht, wenn er den Fürsten der Berge sieht, der die weithin-
gestreckten Weltgegenden und den Äther beschattet, der dasteht mit
emporragenden mächtigen Felszacken, nachdem er die hohe Erde be-
stiegen, auf dessen Spitze die Sichel des Mondes zittert." — Im „Urwasi"
des Kalidasa sucht der Verlassene sein Weib, fragt die Wasservögel,
den Bergrücken, ob sie sein Weibchen nicht gesehen; „Herrscher du
der blaugekehlten Pfauen, Solltest du, hier schwärmend in dem Walde,
Die ästhetische Naturbeseeluog in antiker und moderner Poesie I. 188
Ja mein liebes Weibchen schaun, O verkünd' es mir, ich flehe, balde,
baldel Höre zu, ich will sie dir jetzt nennen: Ihr Gesicht ist wie des
Mondes Angesicht . . . Sahst du im Thale mein Weibchen, das schlanke
nicht, Sage, breitrückiger Berg, die Entzückende, Ob du im Walde
erblicktest die Huldgestalt, Die wie das Weib des Ananga so schön von
Leib?". . Als er sich dann am Rande des Bergstromes niederläfst, fragt
er sich, woher das Entzücken stamme, das ihm der Strom gewähre.
Freilich,
Seine Wellen sind die Brauen, scheuer Vögel Schar der Gürtel,
Und der Schaum, der hochgeworfen, ist das flatternde Gewand,
Grade so wie die Geliebte, rauscht er krumm und strauchelnd fort,
Ja, sie ist in ihrem Zorne ganz gewife zum Fluis geworden I . . .
Lais doch dein Grollen, du Flfiischen, warum Auch die bekümmerten Vögel verscheuchen,
Warum denn mir zum Meere entweichen. Rauschend wie schwärmender Bienen Gesumm?
Schau, wie der Ozeansherr die von Winden geschaukelten Wellen als
Arme im heiteren Tänzchen umschlingt um den Wolkenhals.
Hansa, Rathanga und Muschel, die dienen zum goldenen Handgeschmeid,
Dunkler von Meeresgetieren durchwimmelter Lotos zum Panzerkleid,
So nach dem Takte, geschlagen vom Flutengebrause, den Himmelsraum
Füllt er, bis endlich ihn bändigt der gegenankämpfendc Regenschauer . . ."^
Weiter irrend erblickt er eine blütenlose Winde; wunderbares Ent-
zücken erfafst ihn, es zieht ihn seltsam hin, sie zu umarmen, die seiner
Geliebten so gleiche: „Siehe, mein Herz ist gebrochen, o Winde, Hat
das Geschick es doch also gewollt, Dafs ich anstatt der Geliebten Dich
finde. Sei denn auch du wie das Liebchen mir hold!" Die Winde ver-
wandelt sich dann in Urwasi. — Bekannt ist die reizende Scene in des-
selben Dichters Sakuntala, wo die schönen Mädchen die Bäume des
Gartens begiefsen, nicht blofs nach Vaters Geheifs, sondern, wie Sakuntala
sagt: „ich selbst fühle zu ihnen die Liebe einer Schwester." Und eine
gleiche Neigung auch zu ihr selbst bei dem Mangobaum voraussetzend,
ruft sie: „Mir scheint der Mangobaum durch seine Finger — ich meine
seine windbewegten Zweige — etwas zu sagen." Und das eigene Liebes-
sehnen verhehlt die jungfräuliche Scheu des Mädchens, indem sie das-
selbe den Pflanzen vindiziert: „Siehe doch diese Nawamalika, wie sie
selbst den Sahakara hier zum Gatten sich erwählt hat. Welch eine
liebliche Zeit, die diesem Baumpärchen sein Entzücken gewährt! Wie
ist so reizend doch der Bund von diesem Pflanzenpaar, o meine Freundin ;
mit neuem Blütenschmuck bedeckt steht sie in Jugendfiille, — er, der
Früchte ansetzt, ist fähig zum Geniefsen!" Die Freundin mahnt: „Sakuntala,
134 Alfred Biese.
die Madhaviliani hast du ganz vergessen!" „Thät* ich das, so würde
ich mich selber auch vergessen. Als meine Schwester gilt die Ranken-
pflanze mir" u. s, f.
Wolken,*) Vögel und Wellen sind auch dem Inder die Boten der
Liebesgrüfse; die ganze Natur trauert, wenn der Geliebte scheidet; so
heifst es, als Sakuntala sich von ihrem Walde trennt: „Betrachte doch
des Waldes Zustand nur, der im Begriff ist, sich von Dir zu scheiden:
das Antilopenweibchen läfst den Bissen von Dharba fallen, und ihr
Tanzen stellt die Pfauenhenne ein, man möchte meinen, es senkten ihre
Glieder, schlaff vor Gram, die Schlinggewächse, welche auf den Boden
die bleichgewordenen Blätter fallen lassen."
Diese überschwenglichen Beseelungen und Personifikationen, die
zugleich aber etwas rührend Ansprechendes in ihrer sinnigen und innigen
Sympathie des Menschen mit der gegenständlichen Welt haben, stehen
im engsten Kausalnexus mit der Naturanschauung der Inder überhaupt,
sowie mit ihrer auch sonst ins Ungemessene schweifenden Phantasie.
Vor allem die Gedichte, die lediglich der Naturbeschreibung gewidmet
sind, bieten zahllose kühne und groteske Beseelungen. Ich hebe nur
noch aus des Kalidasa Ritusanhare d. i. "die Versammlung der Jahres-
zeiten" die Schilderung der Regenzeit heraus: „Die Wolken ziehn mit
ihrer Last hernieder. Begleitet von der durst'gen Vogelschar; Mit ohr-
entzückendem Getöne spenden AUmälig sie den reichen Segen dar . .
Die wilden Ströme, gleich den losen Mädchen, Ergreifen liebelüstern wie
im Nu Die Uferbäume, welche ringsum taumeln, Und eilen rasch dem
Ozeane zu . . Der Zephyr nimmt gefangen des Wandernden Gemüt,
Wenn, von der Wolke gekühlet, er durch die Wälder zieht. Er schaukelt
wie ein Tänzer die Bäume von Blüten schwer Und streut der Ketaki
Düfte mit Blumenstaub einher. Es spricht die müde Wolke: hier oben
*) So redet eine nach dem fernen Gatten sich sehnende Frau in der Elegie Ghatakarparam
die Wolken an: Saget dem Pilger, ihr Wolken, den staubbedecket ihr antrefit, denn ihr
wandelt ja schnell hin auf der luftigen Bahn : Heute mufst du verlassen die Schönheit fremder
Gefilde, Hast du vernommen denn nicht, wie die Geliebte dort klagt? Jetzo ziehen, o Gatte!
die fröhlichen Reihen der Flamingos Dorthin, wo sie das Herz, zärtliche Liebe sie ruft,
Und der Chatakas (Kukuk) auch, er folget der rieselnden Quelle, Du vergissest allein,
Wandrer, dein trauriges Weib. Sieh, wie das liebliche Gras mit zartem Triebe hervorsprofst,
Und wie ambrosischer Trank jetzo den Chatakas letzt. Wie das Gejauchze der Plauen die
Wolken freudig begrüfset: Könntest du heute denn wohl ohne die Gattin dich freuen? . . .
Hielte deiner gedenk nicht einzig mich die ErinnVung, Längst in den Fluten des Grams
wäre versunken ich wohl . . . vgl. Das alte Indien v. Bohlen 11 S. 384, Cotta, Kommentar
zu Humboldts Kosmos^ II, 1850 p. 74.
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und neuer Poesie I. 135
find' ich Ruh! Und träufelt in linden Schauern den Windhyabergen zu,
Legt nieder die schwere Bürde, und wo sie ausgeruht. Erquickt sie das
Gebirge nach schwüler Sonnenglut." —
Der Pantheismus ist bei den Indern die Geburtsstätte dieses sympa-
thetischen Naturgefuhls, dieses herzlichen Verkehrs mit der Erscheinungs-
welt; ihre Naturanschauung bildet den Gegenpol der monotheistisch-
jüdischen. Wohl ist das Einzelwesen auch für den Inder dem AU-Einen,
Brahma, gegenüber nichts Dauerndes, aber das Göttliche durchdringt
immanent alle Dinge, heiligt sie und giebt ihnen somit doch wieder einen
gewissen Wert; dagegen vor dem Jehovah, dem allmächtigen Einen, ist
das All nichts; er thront erhaben über der Welt, und diese ist nichts
als Staub; der Inder versenkt sich mit stiller Beschaulichkeit in "das
Leben und Weben der Natur, schildert in seinen Dichtungen sie mit
aller Beschaulichkeit und Breite — um ihrer selbst willen, der Jude nur —
um des Schöpfers willen.
Sie hat keine selbständige Bedeutung, sondern nur in Bezug auf
Gott. Er sieht die Welt nur an sub specie aeterni dei, im Spiegel
des ewigen Gottes, vor dem alles Rauch, Asche, Traum ist. Die
Phantasie durchschweift mit den Flügeln der Morgenröte, mit den Fittichen
des Windes und der Wolken Himmel und Erde, Luft und Meer, aber
nirgend rastet der Blick, ins Ungemessene hastet der hohe Flug, nimmer
entrinnend dem Auge des Allwissenden, dessen Kleid das Licht ist,
dessen Gezelt der Himmel, dessen Schemel die Erde, dessen Boten die
Winde und die Blitze sind. Wohl weifs der lyrische Hymnensänger ein
Einzelbild scharf hinzustellen, aber sofort verdrängt dieses ein anderes;
wohl ist die Innerlichkeit eine riefe — es ist das Herz ein trotzig und
verzagt Ding, wer kann es ergründen? Jer. 17, 8, — aber das rein
individuell Menschliche kennt keinen anderen Ausdruck als in seiner
Beziehung zu dem auch in der Natur furchtbaren oder friedsamen Jehovah.
Die Phantasie des Psalmisten umspannt Himmel und Erde, Land und
Meer, die Berge mit dem Wild und ihren Wäldern, die Fläche mit ihrem
Fruchtbaum, die Blumen und das Gras. Aber alles legt er dem einen
Herrn zu Füfsen, vor dem die Erde bebet, die Berge hüpfen wie Widder,
die Hügel wie junge Lämmer. Die Himmel erzählen die Ehre Gottes,
und die Feste verkündiget seiner Hände Werk, ein Tag sagt es dem
andern, und eine Nacht thut es kund der andern (Ps. i9). Himmel freue
dich und Erde sei fröhlich, das Meer brause und was darinnen ist, das
Feld sei fröhlich und alles, was darauf ist, und lasset rühmen alle Bäume
im Walde vor dem Herrn, denn er kommt zu richten das Erdreich (96) ;
136 Alfred Biese.
das Meer brause und was darinnen ist, der Erdboden und die darauf
wohnen, die Wasserströme frohlocken, und alle Berge seien fröhlich vor
dem Herrn (98). Es erheben die Ströme, Ewiger, es erheben die Ströme
ihre Stinmie, Lafs erheben die Ströme ihre Stimme, ihr Brausen! Mehr
als die Stimme der weiten Gewässer Ist majestätisch der WeUensturz des
Meeres, — Majestätischer in der Höhe Gott! (93). — Wie der Mensch
furchtet auch die Natur Gott: Das Meer sah ihn und floh, der Jordan
wandte sich zurück, die Berge hüpften wie die Lämmer (114); die Wasser
sahen dich, Gott, die Wasser sahen dich und ängsteten sich, und die
Tiefen tobten (77). — Aber alle diese noch so erhabenen Beseelungen
der leblosen Natur charakterisieren die einzelnen Erscheinungen nidit
nach ihrem konkreten individuellen Wesen, nach ihrer Eigenart, sondern
nur in ihrem Verhältnis zu einem anderen — und nicht dem Menschen,
sondern dem -Höchsten, dem Schöpfer. Die Natur ist nur ein Buch, in
dem man von den Wunderthaten Gottes lesen kann; durch ihn hat alles
seine Grenze, seine Bestimmung, nichts ist Selbstzweck. Und daher
konnte der Jude sich auch nicht mit sympathetischem Empfinden in die
Natur versenken, sie um ihrer selbst willen suchen. Sie ist ihm nur eine
Offenbarung Gottes — aber mit welcher Glut der Empfindung deutet
er sie aus, welch Feuerstrom der Begeisterung wallt durch den Psalm 104,
durch Hiob Kap. 38 und Jesaias Kap. 40! — Doch nur ganz vereinzelt
wird die Natur zur Teilnahme am menschlichen Leid aufgefordert, wie
2. Sam. I, wo es heifst: „Ihr Berge zu Gilboa, es müsse weder tauen
noch regnen auf euch, noch Acker sein, von denen Hebopfer kommen,
denn daselbst ist den Helden ihr Schild zerschlagen, der Schild Saul's,
als wäre er nicht gesalbet mit Öl." — Die Naturanschauung der Hebräer
bleibt lieber beim Allgemeinen stehen oder irrt rastlos von Einzelnem zu
Einzelnem, um es aUes synthetisch unter den höchsten Begriff der Gottheit
zu steUen. Die Natur ist nur insofern da, als sie Gottes ist, und die
Phantasie des Menschen hebt sich empor zum Throne Jehovahs und
überblickt von dieser Höhe die Schöpfung. —
Ganz anders steht der Grieche der Natur gegenüber. Mit Wonne
weilt er auf der Erde, auf seinem heimatlichen Boden, inmitten einer
Landschaft, die in gleicher Weise zur Arbeit wie zum Geniefsen mahnt
Sein Blick haftet mit Liebe am Einzelnen, während er für das All als
Ganzes erst in einer späten Kulturepoche seinen Sinn öffnet. Seine
Mythologie ist aber der Niederschlag einer andachtsvollen, sinnigen Natur-
betrachtung. Doch vor dem Gott trat die Erscheinung selbst in den
Hintergrund, und die Natur gewann erst ihre Selbständigkeit wieder.
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und modemer Poesie I. 137
ak die Naturgötter zu ethischen wurden und die mythologfische Welt
durch die Reflexion zersetzt wurde. Erst die rein poetische Beseelung
abstrahiert von den göttlichen Wesen, die der Mythus geschaffen, und
pafst der freien Natur mit freiwaltender Phantasie das eigene Ich an.
Erst durch sie wird eine seelenvolle Naturauffassung möglich, sie ist
Vorstufe und Bedingung des sympathetischen Naturgefuhls.
Bei Homer begegnen uns erst die geringfügigsten Formen ästhetischer
Beseelung. Die Natursphäre ist nur ein dienendes Element dem in ihr
waltenden Gott gegenüber, ist selbst göttlich, heilig, wie die Erde, der
Flufs, der Äther u. s. f. Alles geschieht auf Gebot der Götter;*) freudig
trennt sich die Woge, da Poseidon seinen Wagen durch die Flut lenkt
(H. Xni, i'j)^ oder sie giebt Raum der trauernden Thetis pCVIII. 67), und
die Erde schmückt das Braudager des Zeus mit köstlichen Blumen (XIV, 346).
Nur in leisen Anfangen bricht die poetische Beseelung hhidurch, wenn
es n. XIX, 362 und Hymn. Cerer. 1 3 heifst : „Der weite Himmel und die
ganze Erde darunter lachte und die graue Flut des Meeres." Erst in der
lyrischen Poesie wird der Natur ein persönliches eigenes Leben verliehen.
Aber wir wandern über ein Trümmerfeld, wenn wir die griechischen
Lyriker durchgehen; es sind nur spärliche Reste, die uns von einer
Sappho oder einem Simonides überliefert sind, aber sie fuhren uns trotz-
dem weiter. So ist das schöne Nachdied des Alkman erhalten:
Schlummernd liegten die Gipfel der Berge und die Schluchten,
Hügel insgesammt und Klüfte,
All die Scharen, so kriechen umher auf dunkeler Erde,
Tiere des Hochwalds und der Bienen fleifsig Völklein,
Die Ungetüme in dem Schoofs des blauen Meeres,
Schlummernd auch der Vögel fittiggewandtes Geschlecht.**)
Höchst Stimmungsvoll schliefst das Schlummerlied, das Simonides
v. Keos der unglücklichen Danae, die auf sturmgepeitschtem Meere mit
dem kleinen Perseus umhertreibt, in den Mund legt, mit der schönen
Beseelung:
Schlafe, mein Kind, o schlafe du See, Schlafe mein unermefsliches Wehl
*) Vergl. die Entwickelung des NaturgeÄhls bei den Griechen S. 18.
♦*) So Teuffei. Brandes überseut moderner: Der Berge Häupter ruhn, es ruht das
Tal, Die Blätter in den Wäldern rings verstummen. Es schläft auch das Gewürm, das ohne
Zahl Die Erde nährt, es schweigt der Bienen Summen, Es schläft der Vogel müde in den
Zweigen, das Wild im Waldesgrunde, Es ruhn in tiefem Schweigen die Ungeheuer in des
Meeres Schlünde.
138 Alfred Biese.
In einem Fragment, dessen Zusammenhang nicht näher klar ist, heifst
es bei Pindar (fr. 113): „Auch die Gestirne, die Bäche, die Wogen des
Meeres beweinen dein frühzeitiges Sterben." Häufiger vindizieren die
Tragiker*) der Natur Teilnahme an dem Geschick der Menschen. Es
stöhnt die Tiefe der Salzflut, es stöhnen die Quellen der Flüsse über das
herbe Loos des Prometheus. Feuer und Wasser verschwören sich zur
Vernichtung der persischen Flotte; im Frühling sehnt der Himmel sich,
die Erde zu umfahen, — wie Äschylos höchst wirkungsvoll in dem
fr. 41 die Aphrodite ihre allbezwingende Macht schildern läfst:
Es sehnt der keusche Himmel sich, zu umfahn die Erd*
Sehnsucht ergreift die Erde, sich zu vermählen ihm;
Vom schlummerstillen Himmel strömt des Regens Gufs:
Die Erd* empfängt und gebiert dem Sterblichen
* Der Lämmer Grasung und Demeters milde Frucht)
Des Waldes blOhenden Frühling läfst die regnende
Brautnacht erwachen; alles das, es kommt von mir.
An Simonides erinnert die Beseelung Agam. 565 : „Wenn um Mittags-
zeit die See in wellenlos windstiller Ruh sich legend schlief . . **
Schlummerlos nennt Sophocles die Quellen im Oedipus Koloneus;
Elektra (v. 86) ruft das Licht und die Luft, die den Erdkreis rings
umflutet, zu Zeugen ihres Wehes an; Hafs vermutet der unselige Aias
auch bei den Fluren Trojas (459), und im Oedipus Tyrannus wird die
Natur als mitempfindende Zeugin menschlichen Leidens betrachtet, wie
in den rührenden Worten des Oedipus (v. 1398):
Ihr dreigespaltnen Pfade, du verborgnes Tal,
Du Wald, ihr engen Schluchten dort am Scheideweg,
Die meines Vaters Blut ihr einst, das meine Hand
Vergossen, tränket, denkt ihr noch, welch schwere That
Ich dort vor euch verübte, was, hierher gelangt, ich wiederum verbrochen?
Innige Sympathie zeigen Buchten und Felsen und Bergwild dem ein-
samen PhÜoktet, auf seiner Insel die einzigen Genossen des Grames ; und
die in den Tod Gehenden wie Aias und Antigone nehmen rührenden
Abschied von Tal und Wald und Luft und Meer, von denen sie sich
geliebt wissen und die sie wieder lieben. Doch wird das alles nur in
wenigen Ausrufen mit bündigen Worten ausgedrückt, die mehr ahnen
lassen, als sie aussprechen. Im geraden Gegensatze zu den über-
schwenglichen Indern.
*) Vergl. die Entw. des Naturgefllhls bei den Griechen S. 37 f., 44 f., 53 f, 57 f.
Die ästhetische Naturbeseelong in antiker und moderner Poesie I. 139
Mit Euripides steigert sich die Sentimentalität'*') auch der Besseelungen,
Wie modern ruft der Chor der Hiketiden (v. 79.): „Der Wehklagen un-
selig unersättliche Wollust ergreift uns, wie von erhabenem Fels der
Tropfen feucht dahinrinnt, unablässig in ewigem Klagen!" Wer dächte nicht
an Lenau*s „Bächlein, das die welken Blätter davonträgt mit halbersticktem
Weinen," oder an Platens Wort: „es scheint ein langes, ewiges Ach!
zu wohnen in diesen Lüften, die sich leise regen"?
Besonders die Anrufe der Naturerscheinungen fuhren zu Beseelungen,
so Herakliden 748, wo in raffinierter Uberschwenglichkeit Erde und Mond
und die Strahlen des Helios zugleich (!) aufgefordert werden, Kunde zu
bringen und hell aufzujauchzen in den Himmel, auf zu Zeus* Thron! In
den Bakchen wird auch die Natur von dionysischem Taumel ergriffen, das
Land hebt sich wirbelnd im Tanze; der Berg und das Wild stimmen ein
in den Jubel. Hafs wird der Natur, wie schon im Aias des Sophokles,
beigelegft, Ion 919: „Dich hafst Delos, die Zweige des Lorbeers hassen;
es hafst dich der Palmbaum, prangend in zartem Laub^^ Die Gestade
des Meeres jammern laut über den Fall Trojas, Troades 826. Der Friede
und die Stille in der Natur wird schön als Schweigen gedeutet Bakchen 1084:
Stumm schwieg der Äther, Schweigend hielt das Wiesental die Blätter,
Nirgend hörtest Du des Wildes Laut';
Ebenso Iphigenie in Aulis, v. 9: „Weitum schallt kein Vogelgesang,
kein Meeresgeräusch, und die Winde verstummt Ruhn rings um den Strand
des Euripos". Aristophanes**) läfst den Diener des dem Dichten müh-
selig obliegenden Agathon auch der Natur ein favete Unguis zurufen:
Lafs ruhn Dein Wehen, windschlummemde Luft!
Und brause Du nicht, blauschimmernder See Schaumflut!
Ihr Gattungen all der Befiederten ruhtl
Lais ruhen, des Wildes waldlaufend Geschlecht,
Unermüdlichen Fulsl
Das Rauschen der Blätter deutet er als ein Flüstern (Wolken 1006),
wenn er den Hain Akademos' schildert, „wo du wandeln wirst in des
Geisblatts Duft, in der Mufse Genufs, in der silbernen Pappeln Umlaubung,
in des blühenden Frühlings Lust, wenn sich still zuflüstert Platane und
Ulme*^ —
So wirkungs- und stimmungsvoll aber alle diese Beseelimgen auch
sind, so leuchtet doch schon jetzt ein, dafs sie sich nur auf einen geringen
•) Vgl. Die Entw. d. N., S. 46 f.
*♦) Vgl. a. a. O. S. 57, Thesmophoriazusen. 43.
Ztfchr. f. TergU Litt.-Geich. I,. 10
140 Alfred Biese.
Kreis von Anschauungen (Lachen, Weinen, Schlafen, Klagen, Schweigen)
beschränken.
Eine Sonderstellung nehmen in der vorhellenistischen Poesie die
Äsopischen Fabeln ein. Da denkt und handelt ja nicht blofs nach Menschen-
art das Tier, sondern auch die Pflanze ist mit Empfindung und Sprache
begabt. Eiche und Olive und Feige unterhalten sich da wie Kinder, ver-
lachen sich oder weinen; die Fichte brüstet sich stolz vor dem Dorn-
strauch; der gemifshandelte Nufsbaum klagt; Frühling und Winter streiten
sich — wie anmutig klingt das Eigenlob des ersteren: „Traun, von dir
wären gerne befreit die Menschen, während allein mein Name schon ihnen
schön erscheint, ja beim Zeus von allem der schönste; daher gedenken
sie meiner, wenn ich von ihnen ging, und jubeln vor Freude, wenn ich
wiederkehre." Solche Beseelungen sind in althellenischer Zeit ohne
fremden Einfiufs imdenkbar. Sind auch Mythus und Märchen nahe
verwandt und die Fabel, je naiver und freier von Didaktik, desto näher
dem Märchen, so ist doch die Fabelbeseelung eine andere als die mythische
und auch wieder als die poetische. Die Fabelwesen sind Zwitterwesen,
halb Tier oder Pflanze und halb Mensch; schalkig wird das menschliche
als ein fremdartiges Reis auf das Naturreich aufgepfropft und der Fabulist
stellt sich dem Kinde gleich, das mit allem und jedem auf du und du
steht. So steht aber der Grieche in der ältesten Zeit — und dieser
gehört Äsop an — der Natur nicht gegenüber, sondern nur der träiunerische
Orientale. So werden denn auf Windesflügeln der Volksüberlieferung
die Fabeln aus Indien, Ägypten über Assyrien zu den Phrygern und
und von da nach Griechenland gekommen sein, wo sie allmählich aufser-
ordentlich beliebt wurden. —
Der Hellenismus'*') mit seinem Individualismus, Kosmopolitentum und
Pantheismus zeitigt manche individuellere und tiefere Beseelung als die
frühere Zeit. Vor allem ist es die Liebesleidenschaft und Liebessehnsucht,
die in der Natur ein Widerspiel, ein Gegenbild findet. Der unglückliche
Liebhaber — wie Akontios in den Aitien des Kallimachos — irrt einsam
im Walde umher, klagt den tauben Winden sein Leid, begnügt sich nicht,
den Namen der Geliebten in die Baumrinde zu schneiden, sondern er
ruft: „O Bäume, warum ist euch nicht Verstand, nicht Stimme gegeben,
auf dafs ihr alle das eine riefet: „Schön ist Kydippel" O dafs ihr auf
jedem Blatt soviel Buchstaben eingegraben trüget, wie viele schön nennen
Kydippel" Und wie er in seinem Liebesgrübeln sich immer mehr in das
*) ^S^' IQ« Buch S. 64 S,y sowie meinen Aufsatz, die Naturanschauung des Hellenismus
und der Renaissance. Preuis. Jahrb. Juni-Heft 1886.
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und modemer Poesie I. 141
Stille Leben der Bäume hineindenkt, ruft er: ,,Kennt auch ihr etwa, meine
Bäume, gegenseitiges Verlangen? Ist etwa die Fichte sterblich verliebt in die
Kypresse? . . Doch ich glaube nicht, denn dann würdet ihr nicht nur die Blätter
verlieren und würde die Sehnsucht nicht nur eure Zweige des Haars und
des Blütenglanzes berauben, sondern bis ins Mark des Stammes, bis in
die Wurzel hinab würde sie mit ihrem verzehrenden Feuerbrande dringen!"
Diese sentimental phantastische Übertragung der eigenen Liebesglut auf
die stummen Zeugen des Sehnsuchtsschmerzes dürfte selbst in der modernen
Poesie ihresgleichen wenig finden. —
Auch bei Theokritos sind die Beseelungen individueller und charak-
teristischer als bei früheren Dichtem. Bäume, Sterne, Schluchten, Flüsse,
und Tiere werden oft als Zeugen angerufen oder wie mitempfindende
Wesen begrüfst; das Säuseln der Pinienblätter klingt ihm wie Liebes-
gekose; in der stillen Mondnacht klagt die unglücklich Liebende (id. II, 37):
„ Schau, wie schweiget das Meer, wie schweigen nun alle die Winde —
aber es schweigt nur nicht in dem innersten Busen der Kummer!" Bei
der Trauer um Daphnis werden nicht nur Schakale, Wölfe und Löwen
als mitfühlend gedacht, sondern auch die Eichen beweinen ihn; ja nach
seinem Tode mufs sich alles in sein Gegenteil verkehren. Mit dem
Frohen freut sich auch die Natur, selbst der Stein klingt freudig unter
dem Tritte des Heimkehrenden, und die Insel Kos jauchzt, als auf ihr
Ptolemaios geboren, und wiegt ihn mit segnenden Worten in ihren Armen.
Und gleich dem verschwiegenen Vögelein in dem reizenden Liede unseres
Walther v. d. Vogelweide „Unter der Linde an der Haide" sind in der
Pseudo-Theokriteischen ^oapiavk die Kypressen die einzigen Zeugen des
Liebesbundes: „nur sie erzählen sich deine Vermählung." —
Die späteren Bukoliker variieren und übertreiben das Mitempfinden
bis zum Aufsersten. So heifst es im Epitaphios auf Bion:
Gramvoll seufzt ihr, Täler, und du, o dorische Welle,
Und ihr Ströme, beweint den Sehnsucht weckenden Bion,
Tränen vergieist mir, Kräuter, und klagt, o schattige Haine I
Jetzt mit hängender Krone verhauchet den Odem, o Blumen,
Rosen, es werd* euch zur Trauer das Rot, und euch Anemonen:
Nun sprich aus, Hyakynthos, die Schrift, die du trägst, und des Wehes
Flüstern mehr mit den Blättern: dahin ist der liebliche Sänger!**
Bei Apollonios Rhodios begegnen uns weniger bezeichnende Be-
seelungen: die Wiese lächelt im Tau, der Wind wird vom Dunkel der
Nacht zur Ruhe gebettet, die Wiesen zittern beim Nahen der Hekate und
ihrer wilden Meute, und als Eos die Nacht mit ambrosischem Lichte ver-
10*
143 Alfred Biese.
drängt, lacht ringsum das Inselgestad' und auch fem die betauten P&de
in dem Gefilde.*) »
Bei den späteren griechischen Epigrammendichtem der Anthologie
finden sich recht moderne Beseelungen, doch sind sie in ihrer stereotypen
Wiederholung etwas monoton. Immer wieder klagen die Flüsse und
Täler, weinen die Blumen, lächeln die sich kräuselnden Wellen, plaudert
der Wind in den Zweigen; oder es sollen die Kranzesrosen Tränen auf
den Scheitel der Geliebten träufeln; schadenfroh lacht das Morgenlicht
die Kosenden an; selbst die Pflanzen kosen mit einander. Ein gewisses
Mafshalten ist auch in dieser späten Zeit noch Regel — wenigstens in
den lyrischen Dichtungen, der Epiker Nonnos übertreibt und outriert
allerdings weit über das Schönheitsmafs hinaus. —
Nur Einiges will ich aus der Anthologie herausgreifen.
Ein liebliches Frühlingslied des Leonidas von Tarent lautet: „Die
Fahrt ist günstig! Die geschwätzige Schwalbe hat sich aufgemacht, imd
der anmutige Zephyr; die Wiesen blühen, in Schweigen hat sich das
Meer gehüllt, das im Wogenschlag und im Windesbrausen rauschte.
Nun hebe die Anker, nun löse die Ketten, o Schiflferl" — Recht raffiniert
und refiektiert-sentimental ist die Beseelung in einem Meleager sehen
Gedichte, das Brandes so wieder giebt:
Mische, wenn du wieder Allst den^Becher,
Heliodoras Namen mit hinein I
Winde mir ums Haupt den Kranz, dem Zecher,
Den sie gestern mir gereicht beim Wein!
Doch die Ros* im Kranze scheint betaut,
Wie von Tränen. O sie hat Erbarmen,
Weinet, daüs sie heut' in meinen Armen
Nicht die sflise Heliodora schaut.
Rührend klagt er in einem andern Liede um die Tote und bittet die
Allmutter Erde:
Hab Erbarmen — Allen Wesen bist du mild gesinnt —
Mild* empfang' in deinen Mutterarmen,
Auch mein vielbeweintes sülses Kind.
Antiphilos deutet einmal das Versiegen einer Quelle als Folge der
Trauer um den Tod Agrikola's: „Hinschwanden wir", antworten die
Wellen auf die Frage des Dichters, „Tränen vergiefsend; Alles das
Wasser in uns schlürfte der durstende Staub." Satyrios findet für die
schlichtere Ausdrucksweise „das Meer ist schweigend eingeschlafen",
die individuellere: „es hat die Augen geschlossen, ist eingenickt" [fiifmxe).
*) Argon. I 880, n 729, ffl 1195, 1217, IV 1x68; m. B. S. 83.
Die ästhetische Natnrbeseelung in antiker und modemer Poesie I. 143
Nonnos *) erzählt immer wieder von Eichen, Felsen, Wäldern, Hügeln
u. s. f., dafs sie flüstern, brüllend erdröhnen, klagen, stöhnen« lachen,
jauchzen u. dgl. m. Besonders gern schildert er die Liebe der Pflanzen zu
einander. So erregt der Palmbaum, seine männlichen Blätter schüttelnd,
Sehnsucht der weiblichen Genossin, und der Birnbaum flüstert in
rauschenden Wipfeln mit der Gefährtin ; Narzisse und Anemone, Krokos
und Taxus liebeln miteinander, ja sogar eine Vermählung wird vom
Weinstock und der Tteuxri (Fichte) berichtet.**) —
Stimmungsvoll werden in des Musaios lieblicher Dichtung das Dunkel
der Nacht und das Schweigen . als die einzigen teilnehmenden Zeugen
des Bundes zwischen Hero und Leander also bezeichnet:
Hochzeit war, doch kein Tanz, und Brautnacht, aber kein Brautsang, ,
Nicht pries jauchzend ein Sänger die Ehestifterin Here —
Sondern es schlois, für der Hochzeit Stunden das Lager bereitend,
Schweigsamkeit das Gemach, und die Finsternis schmückte die Jungfrau;
Nacht war den Beiden des Brautfests RQsterin; aber der Tag sah
Nie auf dem festlich bereiteten Pfühl als Gatten Leander. —
Das modernste in späterer Zeit ist aber die Schilderung des Sommers
bei Longos, die in ihrer „romantischen" Färbung an Heines „klingende
Wälder", „liebende Bäume und Blumen", „lachend den Berg hinab-
hüpfende Flüsse erinnert", I, 23: „Der Frühling war zu Ende. Der
Sommer hatte begonnen, und alles stand in reichster Blüte. Die Bäume
waren mit Früchten, die Ebenen mit Saaten bedeckt. Lieblich war das
Schwirren der Kikaden, erfreulich das Blöken der Heerden, süfs auch
der Duft des Obstes. Schien es doch, als sängen die ruhig dahinziehen-
den Bäche, als flöteten die Lüfte, die in den Fichten rauschten, als
senkten die Äpfel sich voll Liebe gegen die Erde, als enthüllte die
Sonne, der Schönheit hold, alle Sterblichen. Daphnis, von alledem im
Innersten durchglüht, tauchte sich in die Flüsse." —
Wir sehen also, wie die Griechen hinsichdich der ästhetischen Natur-
beseelung erst allmählich die herzlichere und innigere Form, wie sie
uns bei den Indern begegnete, finden, ohne in deren Überschwenglich-
keiten lang ausmalender Schilderungen zu verfallen, wie sie die Hebräer
weit übertreffen an individualisierender Auffassung, ohne aber die Weite
und Tiefe des Himmel und Erde, die ganze Schöpfung umfassenden und
ausmessenden Blickes jener zu gewinnen. Aber eins leuchtet vor allem
hervor, wie selbst in der Beschränkung auf diese eine Seite poetischer
♦) Vcrgh d. Entw. d. N., S. 116. ff.
**) Vcrgl. Dionysiaka IE 142, XXXH 92» XLH 30a, XXXH 86, XVI 370, XH 133.
144 Alfred Biese.
Darstellung, jener wunderbare genetische Prozefs ihres Geisteslebens sich
offenbart, wie aus geringen Anfangen und Keimen sich immer seelen-
vollere und charakteristischere Beseelungen entwickelten, die, wenngleich
auf gewisse Seelenzustände sich meistenteils beschränkend, schließlich
zu Äufserungen führten, die von unsern modernen nur noch g^raduell
verschieden sind, —
Eine solche Wärme und Innigkeit der Naturbeseelung, wie wir bei
Indern und Griechen fanden, bieten die römischen Dichter nur selten.
Es hat nur einen echten Gefuhlslyriker der Römer gegeben, der wirklich
schon in der Anschauung dichtet, direkt im Drange eines übervollen
Herzens, — das ist der Veroneser CatuUus.*) Hierher gehört sein
reizendes Gedicht auf seine heimatliche Insel Sirmio, in dem Natur- und
Heimatgefühl harmonisch zusammenklingen (C. 31):
Von allen Inseln, Sirmio, und Halbinseln
Mein Augenstern, so viel in klaren Landseen
Und Meeres Weite rings der Wassergott hQtet,
Wie froh erblick' ich, wie zufrieden dich wieder! . .
Heil dir, o schönes Sirmio, sei dem Herrn freundlich;
Ihr alle freut euch, meine muntren Seewellen,
Und was daheim vor Wonne lächeln mag, lächle!
Bei den übrigen Dichtern kehren stereotyp wieder: die trügerischen
Lüfte, die zwieträchtigen Winde; es schweigen und rufen oder zittern
und stöhnen Winde, Wellen und Wälder u. dgL m. Bei Ennius lacht
der heitere Himmel und lachen die Lüfte beim Lachen des allmächtigen
Jupiter; bei Vergil**) beweinen der Hain und die krystallene Welle und
die klaren Seen den gefallenen Helden oder es wundern sich der Hain
und die Welle, es schweigen und rufen die Winde und die Gehölze;
wenn Jupiter spricht, schweigt die hohe Götterburg, erzittert die Erde,
und es schweigt der erhabene Äther, Zephyrn atmen kaum, und sanft
ruhn die Gewässer des Meeres (X^ 100). Die flammenden Blitze und der
Äther sind Zeugen der Minnestunde des Aeneas und der Dido (TV, 167).
Liebe vindiziert auch Ovid den Pflanzen an, 11, 16: „Liebt doch die
Ulme die Rebe, und die Rebe verläfst nicht den Ulmbaum: Weshalb
werde so oft ich von der Herrin getrennt? . ." In den Metamorphosen***)
sind häufig die primitiven Beseelungen wie: Der Zorn des Meeres, das
Schweigen der Nacht, die im Rohr klagenden Winde, die schmeichelnden
*) Vergl. die Entwicklung des Naturgefühls bei den Römern, S. 41 f.
**) Aen, Vn, 760 ; vergl. im übrigen die Entwicklimg des Naturgefühls bei den Römern, S.78
***) Vergl. o. Werk S. 114.
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und moderner Poesie I. 145
Wogen, die verstummenden Wellen ; vor allem ist schön die Schilderung
der Nachtstille VII, 184: ^Sobald im vollsten Glänze der Vollmond auf
die Erde herabschaute, wandelte Medea durch die mitternächtliche Stille,
Menschen und Vögel hatte tiefe Ruhe befallen: rings schweigt die Hecke
g^eräuschlos, rings das unbewegte Laub, es schweigt die tauige Luft,
nur die Sterne blinken." Dem Orpheus nahmen Eiche, Linde, Buche und
Lorbeer . . „auch du kamst, krummfufsiger Epheu, und du, weinlaubige
Rebe und von ihr umschlungen, du Ulme" . . . den Erschlagenen beweinen
die Vögel, die wilden Tiere, die starren Felsen, die Wälder, die vor
Trauer das Laub abwerfenden Bäume (XI, 44) u. s. f.
Besonders bei den späteren Dichtern zeigt sich, wie die römischen
Poeten weit ärmer an echten und zarten Beseelungen sind als die
Alexandriner; es ist immer wieder dieselbe Skala bei dem Tragiker
Seneca, bei Papinius Statins, Valerius Flaccus und Claudian. Staunen,
schaudern, klagen, schlafen, schweigen — ist die dürftige Tonleiter dieser
Beseelungen, die in ihrer Abtönung zu denen eines Vergil, Ovid etc.
sich ähnlich verhalten wie die des Nonnos und Lykophron zu denen der
hellenistischen Dichter. An die Stelle der poetischen Beseelung tritt
z, B. bei Claudian *) nur zu oft die frostige Allegorie, die tote Abstraktion.
Als der siegreiche Held sich lagert, kränzt die Erde freudig ihren Herrn,
und es heben sich die Kräuter (I, 1 1 5), Roma selbst steigt aus den Lüften
zu ihm nieder; mitwissend tönt der Fels und schauert der dunkle Hain
vor der Majestät der Erscheinung. Die Insel Delos leckt der Latona
freundschaftlich die Füfse, es lacht der Aegaeus und bezeugt seine Freude
mit sanftem Geplätscher. — So zeigt sich auch hierin der angeborene
Sinn der Römer für Abstraktion, das vorwiegend Verstandesmäfsige
und Reflektierende ihrer Geistesanlage. —
*) Vergl. die Entwicklung des Naturgefühls bei den Römern, S. 180.
Kiel.
■*•*"
NEUE MITTEILUNGEN.
-•••-
Sechs französische Briefe Gottscheds an
Baculard d'Arnaud in Dresden.
Von
Theodor SOpfle.
In dem weit ausgedehnten Briefwechsel Gottscheds nimmt die Korre*
spondenz, welche er mit französischen Schriftstellern in- und aufser-
halb ihres Landes führte, nicht die unbedeutendste Stelle ein. Während
aber die von Fontenelle, Riccoboni, d'Arnaud, Voltaire, Formey u. s. w.
an den Gesetzgeber des deutschen Parnasses gerichteten Schreiben fast
sämmtlich erhalten und teilweise sogar — in dem Werke von Danzel —
der Öffentlichkeit seit längerer Zeit übergeben worden sind, so war bis
vor ganz kurzem von keinem einzigen derjenigen Briefe, welche Gottsched
an seine französischen Korrespondenten gerichtet hatte, irgend eine Spur
aufgefunden worden.
Durch einen glücklichen Zufall, oder, richtiger gesagt, durch die
gütige Zuvorkommenheit des mir befreundeten Archäologen W. Fröhner
in Paris kamen mir im Herbste des Jahres 1881 wenigstens einige derselben
zu Gesichte, nämlich diejenigen, welche der Leipziger Diktator an Baculard
d'Arnaud innerhalb eines Zeitraumes von etwa dreizehn Monaten zwischen
dem Jahre 1751 und 1752 geschrieben hatte. Diese Briefe — sechs an
der Zahl — waren später mit dem Adressaten in die französische
Hauptstadt zurückgewandert, wo sie zuletzt in den Besitz des genannten
Gelehrten kamen, welcher mir in dankeswertester Weise gestattete, von
denselben eine Abschrift zu nehmen, sie zu benützen, teilweise oder ganz
zu veröflfentlichen,
Sechs französische Briefe Gottscheds an Baculard d'Amaud. 147
Obgleich ich nun manches aus diesen Briefen, gelegentlich der Fest-
stellung der vielseitigen Beziehungen Gottscheds zu Frankreich, schon
vor einiger Zeit mitzuteilen veranlafst war*), so ist doch das Interesse,
welches sich an diesen Fund knüpft, ein so mannigfaltiges, dafs ein
vollständiger Abdruck sämmtlicher Briefe als hinlänglich begründet
erscheinen wird. Abgesehen nämlich von dem Inhalte, welcher uns einen
näheren Einblick in mehrere auf die deutsche und französische Litteratur
bezügliche Punkte thun läfst, sind diese sechs aufgefundenen Briefe — wenn
man von dem an den Grafen Ernst Christoph von ManteufFel**) im Jahre
1737 gerichteten Schreiben absieht — die einzigen, welche man in
französischer Sprache von der Hand Gottscheds besitzt.
Zu leichterem Verständnis des Ganzen sowie mehrerer Einzelheiten
wollen wir als Erläuterung nicht blos einige sachliche Bemerkungen vor-
ausschicken, sondern auch die entsprechenden Briefe seines fi-anzösischen
Korrespondenten ganz oder im Auszuge mitteilen, von welchen Danzel
nur den ersten der zehn auf der Leipziger Universitätsbibliothek auf-
bewahrten veröffentlicht hat***). Hierbei spreche ich Herrn Professor
Dr. O. Knauer in Leipzig, welcher auf meine Bitte schon vor vier Jahren
die Güte hatte, von den übrigen neun Briefen d'Arnauds, welche meist
sehr nachlässig und undeutlich geschrieben sind, eine Abschrift für mich
anfertigen zu lassen und dieselbe sodann noch selbst einer genauen
Kollation unterzog, meinen lebhaftesten Dank auch öffentlich aus.
Dazu, dafs der in Paris geborene und in seinem tonangebenden
Vaterlande nicht blos als fruchtbarer, sondern auch warmfuhlender
Dichter sogar von J. J. Rousseau gefeierte Fran9ois Thomas Marie Baculard
d'Arnaud — auch d'Arnaud Baculard geschrieben — gewissermassen als
Bittender sich an den Leipziger Professor wandte, dazu bedurfte es
nichts weniger als der jähen Wendung, welche sein Glückstem plötzlich
genommen hatte.
Nachdem d'Arnaud als vielversprechender Knabe durch einige
Jugendarbeiten die Aufmerksamkeit und Gunst Voltaires auf sich
gelenkt hatte, wurde er späterhin durch dessen allmächtige Empfehlung
litterarischer Korrespondent für Friedrich den Grofsen, ähnlich wie Raynal
und ganz besonders Grimm es später für mehrere deutsche Höfe und
die Kaiserin von Rufsland wurde. Der königliche Dichterfreund berief
den noch jungen d'Arnaud einige Zeit darauf, im Jahre 1750, in
welchem er etwa 32 Jahre zählte, sogar nach Berlin, nahm ihn mit Aus-
zeichnung auf, veranlafste seine Aufnahme in die königliche Akademie,
nannte ihn seinen Ovid, und richtete einige Verse an ihn, in welchen er
ihn als den Nachfolger Voltaires bezeichnete, dessen Geistessonne schon
im Niedergange begriffen sei. Der lebhaft gereizte Voltaire rächte sich
*) Vgl. Th. SüpflCf Geschichte des deutschen Kultureinflusses auf Frankreich, mit
besonderer Berücksichtigung der litterarischen Einwirkung, Gotha x886, J. Bd. S. 286,
Anm. 298.
**) Vgl. Danzel, Gottsched . und seine Zeit, S. 18 — 19.
***) Vgl. Danzel, Gottsched und seine Zeit, S. 341.
148 Theodor Süpfle.
dafür an seinem früheren Schützling, welchen er für seinen gefährlichen
Nebenbuhler und Feind ansah, und betrieb bei dem Könige so nach-
drücklich dessen Entfernung vom Hofe, dafs letzterer nach einem Auf-
enthalt von etwa sechs Monaten die Weisung erhielt, Potsdam sofort
zu verlassen. Von diesem unerwarteten Schlage schwer getroffen und
über Verleumdungen klagend, zog sich d'Arnaud nach Dresden zurück,
wo er an dem Hofe des Kurfürsten einen Stützpunkt suchte und auch
fand. Von hier aus wandte sich der frühere Günstling Voltaires und
Friedrich des Grofsen am 20. Februar 1751 mit dem Ausdrucke der
Hochachtung und Bewunderung für die deutsche Litteratur überhaupt
und deren damaligen Hauptvertreter insbesondere an Gottsched, offenbar
um durch den einfiufsreichen Manne einen Anhalt oder wenigstens wirksame
Beachtung in litterarischen Kreisen zu gewinnen.
Gleichzeitig mit diesem Schreiben übersandte er ein Exemplar von
zwei dichterischen Episteln und vergafs dabei auch nicht Frau Gottsched,
für welche er in huldigender Weise seine Dichtung auf den Tod des
dem französischen Ruhme dienenden Moritz von Sachsen — „la Mort du
Marechal Comte de Saxe, poeme, Dresde" — beilegte, welche Gottsched
kurz zuvor in „das Neueste aus der anmutigen Gelehrsamkeit**, 1751,
S. 213 — 217, in lobender Weise besprochen hatte. Am Schlüsse seines
Briefes endlich hatte d'Arnaud seine baldige Reise nach Leipzig ange-
kündigt, um bei dieser Gelegenheit Gottsched seine Aufwartung zu
machen.
Auf dieses schmeichelhafte Schreiben antwortete Gottsched in der
möglichst verbindlichen Weise, und damit war der Briefwechsel zwischen
Dresden und Leipzig, zwischen den zwei der Nationalität und den schrift-
stellerischen Zielen nach so verschiedenen Männern eingeleitet, welcher,
obgleich mit einigen Unterbrechungen, längere Zeit hindurch einen leb-
haften Verlauf nahm.
Was nun die Sprache betrifft, in welcher die sechs Briefe Gottscheds
abgefafst sind, so sieht man leicht aus ihnen, dafs, abgesehen von
Germanismen und grammatischen Verstöfsen, der Verehrer der gallischen
Muse das Französische mit nicht zu unterschätzender Gewandtheit und
sogar mit einer gewissen Zierlichkeit zu handhaben verstand. Selbst
Franzosen haben diese Fähigkeit Gottscheds ausdrücklich und unzwei-
deutig anerkannt.*) Dieselbe ist umsomehr zu würdigen, als er nach
eigener Aussage vor seinem zwanzigsten Jahre kein Wort von dieser
Sprache gewufst hatte.
Wir lassen nunmehr den ersten der wieder aufgefimdenen Briefe
Gottscheds an d' Arnaud auf Grund der Originalhandschrift folgen, weldie
sehr leserlich und mit nur seltenen Korrekturen auf sechs einzelnen
Blättern in Grofsquart geschrieben sind. Die Orthographie ist von uns
unverändert beibehalten.
*) Vergl. Th. Süpfle, Geschichte des deutschen Kultureinflusses auf Frankreich, I,
S. 285, A. 294- 295.
Sechs französische Briefe Gottscheds an Baculard d'Arnaud. 149
Monsieur,
Apres quelques Lettres de la Part de Mr. de Fontenelle, et une
autre de la main de Mr. de Montcrif, que j'avois Thonneur de recevoir
il-y-a plus de dix ans, je n'en ai re^ü guere d'aussi flateuses que celle,
dorn il Vous a plü, Monsieur, de m'honorer. La piece heroique, dont
Vous venez de chanter un Heros, egalement eher ä la Saxe et a la
France, augmente de beaucoup' la Gloire, dont Vous etiez deja en
Possession, par tant d*Ouvrages excellens, et connus dans toute TAllemagne.
Je Tai lue avec un plaisir extreme; charme de ce destin heureux, qui
a s^u reunir dans un seul Homme tant de Qualites exceUentes, et qui
l'a rendu THonneur de ce Tems, et de deux Pais tant eloignez Tun de
Tautre.
n meritoit, sans doute d'etre celebre d'un Poete comme Vous,
Monsieur, dont le Genie eleve promet a la France, tout ce qu'eUe peut
avoir perdüe dans plusieurs grands Hommes du Siecle de Louis le grand.
Vous pourrez toujours compter sur mes applaudissemens ; en Vous
voyant luttÄr si heureusement contre la decadence du bon Gout, qui
semble menacer la France depuis quelque Tems; selon Tavis meme de
plusieurs de Vos Compatriotes. Rien ne me sera plus agreable, que de
jouir de THonneur de Votre Presence, dont Vous promettez de favoriser
notre Ville, et de Vous assurer de bouche, comme je fais par ecrit, que
je suis avec une consideration parfaite,
Monsieur
Votre tres humble et tres obeiss. Serv.
Gottsched.
A Leipsic le s/m« du Fevr. 1751.
Apostille. Mme. Gottsched Vous assure, Monsieur« de son estime
et de sa Reconnoissance toute particuliere. Elle ne manqueroit pas de
Vous en assurer de sa Main, si eile n*esperait pas, de le pouvoir faire
de vive voix, en peu de tems, quand Vous passerez par ici; ayant ete
fort sensible ä Thonneur, que Vous venez de lui faire.
La Piece cy-jointe est une faible echantillon de notre Poesie heroique,
comme de TArt Typographie de Leipsic. II me semble, Monsieur, que
je gagne beaucoup, quand je pense, que Vous n'entendez pas assez notre
Langue, pour Vous pouvoir appercevoir des foiblesses de ma Muse.
Die im Nachworte dieses Briefes erwähnte, aber nicht näher bezeichnete
Dichtung von Gottsched, von welcher er ein Exemplar an den des
Deutschen etwas kundigen d'Amaud sandte, ist wahrscheinlich das Lob-
gedicht, welches jener imter der Aufschrift „Das erhöhte Preufsen oder
Friedrich der Weise" am 18. Januar 1751 hatte erscheinen lassen, und
welches dann noch in demselben Jahre in dem zweiten Teile seiner
Gedichte (Leipzig, Breitkopf, 1751, S. 345 — 370) unter der Abteilung
„Heroische Gedichte" aufgenommen wurde.
Statt einer Antwort auf dieses Schreiben kam, wie aus dem Brief-
wechsel hervorgeht, d'Arnaud in eigener Person nach Leipzig und
160 Theodor Söpfle.
Stattete Gottsched seinen in Aussicht gestellten Besuch ab. Bei dieser
Gelegenheit liefs der französische Gast einige seiner neuesten, noch nicht
gedruckten Dichtungen mit der Bitte oder wenigstens dem Wunsche
zurück, dafs jener dieselben in seiner schon vielgelesenen neuen Zeitschrift
erscheinen lassen möge. Dies wurde zugesagt, und das Versprechen
wurde, worauf auch der zweite Brief, gleich im Anfang, Bezug nimmt,
fiir alle drei gehalten. So erschienen diese Erzeugnisse der d'Arnaud'schen
Muse zuerst in einer deutschen, nicht in einer französischen Zeitschrift.
Zuerst nun liefs Gottsched das umfangreichste derselben einrücken,*)
welches eine Beleuchtung der Zustände bei den Landsleuten des franzö-
sischen Dichters darbietet und welches letzterer unter der Bezeichnung
als „Epitre", unter der Aufschrift „L'Heraclite moderne", verfafst hatte.
Gottsched aber bezeichnete diese Dichtung in seiner Zeitschrift als
Satire (L'Heraclite moderne, satire de M. d'Arnaud, membre de TAcademie
royale de Berlin), woran dann d'Arnaud einigen Anstofs nahm, wie wir
aus dessen Brief sehen werden.
Bei der Veröffentlichung dieser Dichtung kamen trotz der Bemühungen
Gottscheds und seiner Frau mehrere Drucfiehler und Versehen zu Tage.
Hinsichdich letzterer hatte Gottsched die Textesworte „la sage gaiete"
in „la sagacite" umgeändert, da er aus ungenügender Kenntnis der
französischen Versmessung das Wort gaiete für dreisilbig ansah und so
den Vers, in welchem es stand, um eine Silbe zu lang hielt. Die
Berichtigung erfolgte dann durch d*Arnaud.
In demselben Briefe bespricht Gottsched die Übertragung in das
Französische von zwei deutschen Theaterstücken, von denen das eine
ein Lustspiel aus der Feder von Frau Gottsched, das andere ein Trauer-
spiel von Derschau war. Zunächst hatte von beiden ein gewisser Frauen-
dorf eine Übersetzung, aber nur eine ganz wörtliche, anzufertigen unter-
nommen. Von dem nie mit seinem Namen angeführten Lustspiele hatte
d'Arnaud, gelegentlich seines Besuches, den ersten Akt — sei es aus
eigenem Antrieb, sei jss auf Wunsch seiner Gastfreunde — in der vor-
läufigen französischen Übersetzung zur Umarbeitung in g^tes Französisch
mit nach Dresden genommen. Später wurden ihm zu demselben Zwecke
die noch fehlenden Akte, sowie die fünf Akte von „Orestes und Pylades"
zugeschickt. Diese Sache, welche der Familie Gottsched weit mehr als
dem französischen Dichter am Herzen lag, wird in dem Verlaufe des
Briefwechsels wiederholt, zum Teil unter freundlicher Mahnung, berührt,
ohne dafs letzterer trotz mehrmaliger Zusage die französische Bearbeitungen
vollendet zu haben scheint.
Wir lassen nunmehr den zweiten Brief von Gottsched im Wortlaute
folgen.
Monsieur,
Voici Taccomplissement de ma promesse. Des belles pieces, que
Vous me confiates, avant votre Depart d*ici, j*ai choisi la plus bdle.
^) Vergl. „das Neueste aus der anmutigen Gelehrsamkeit'', 1751» S. 450—460.
Sechs französische Briefe Gottscheds an Baculard d^Amaud. 151
c'est a dire la plus longue, pour la mettre dans mon Journal. Les autres
suivront dans les mois de Juillet et d'Aout.
Mr. Frauendorf, qui s*est Charge de la Traduction litterale d*une
Comedie Allemande, dont Vous aves dejä, Monsieur, le premier Acte
aupres de Vous, vient d'achever le dnquieme. Mais je n*ose pas Vous
envoyer ce reste de quatre Actes, avant d*en avoir obtenu la Permission:
ne sachant encore si Vous le trouverez ä propos de rendre ä cette
piece le tour comique dans l'expression (vis comica) qu'elle a quasi
perdue tout ä fait par la Translation. II travaille actuellement a traduire
la Tragedie d'Oreste et Pylade de Mr. de Derschau.
Si Vous trouvez Monsieur, que dans Votre Heraclite il se soit
glissee quelque faute d'Impression, Vous aurez la bonte de me la marquer,
pour en avertir les Lecteurs dans le Mois qui vient. II est certain
pourtant, que le nombre en seroit de venu plus considerable, si mon amie
ne s*etoit donnee la peine de copier Votre Mst. Cependant nous nous
doutons fort, si a la page 452116 yers la fin, nous avons bien attrape
la veritable fa9on de lire; ayant fait imprimer, Ou ce Railleur, dont la
Sagacite. Votre Mst. portoit assez distinctement la sage gaiete.
Mais le Vers en devenant trop long d*une Syllabe, nous preferämes la
Sagacite, qui au moins ne gäte pas la mesure.
J'ai rhonneur d'etre avec beaucoup de Consideration, et d attachement
Monsieur
Votre tres h. et tres ob. Serviteur
Gottsched.
A Leipsic le 3>»e du Juin 1751.
P. S. Mes tres humbles Complimens k Madame Schubb.
Beinahe drei Wochen erst hierauf kam ein Antwortschreiben von
d'Arnaud, in welchem er an die von Gottsched berührten Punkte ein-
gehend anknüpft, hinsichdich seiner persönlichen Verhältnisse die Nachricht
mitteilt, dafs er durch die Gnade des Königs zur Würde eines kur-
sächsischen Legationsrates erhoben worden sei, und am Schlüsse dank-
erfüllt um die gütigejBewahrung der Freundschaft Gottscheds angelegentlich
bittet. Wir lassen den Brief, welcher vom 22. Juni 1751 datiert ist, mit
einigen wenigen hinsichtlich der Orthographie und Interpunktion für das
Verständnis nötigen Ergänzungen nachstehend folgen.
Monsieur
je vous suis infiniment oblige d^avoir bien voulu inserer une piece aussi
mediocre, que Test la mienne, dans votre recueil en faveur de mon
amour pour la verite; vous m'aves bien passe des fautes, je souhaite
que mes lecteurs partagent votre indulgence.
Votre premier acte est presque fait; sans des affaires que j'ai eües,
il seroit acheve; j'attends avec impaüence les 4 autres; vous ne doutes
pas que je n'employe tous mes soins a rendre supportable la copie d'un
excellent originad.
152 Theodor Süpfle.
Je ne scaurois trop remercier Madame d^avoir pousse la complaisance
jusqu a s*etre charge de copier mon manuscrit. Voici les petites fantes
qui se sont glissees dans rimprime.
lo D'abord sage gaiete doit etre mis ä la place de sagadte;
gaiete quoiqu'il paroisse y avoir une de trop, n'est que
d'une siUabe.
2o riambe vengeur et non Lycambe.
30 Nessus et non Clessus.
U y a encore ce mot de satire qui meffi-ayait: celui d'epitre me
paroissoit moins preceptoral; dire aux hommes qu'on va les decrier, ce
n^est pas lä le moyen de les seduire, car il faut dans tout un peu de
seduction.
D^ailleurs la piece est tres bien imprimee, je ne scaurois trop vous
marquer ma reconnoissance.
Je serai charme de voir cet Oreste et Pilade; tout ce que je puis
dire, c*est que le sujet m*en paroit beau et, traite habilement, il foumit
beaucoup.
Vous aures donc dans peu la comedie; sans doute que vous n'ignorez
pas les bontes du roi pour moi, il m'a cree conseiller de legation, aussi
me yoÜa au moins des trois carts Saxon.
Continues moi, je vous prie, votre amitie; je ferai tout pour la
meriter, j'assure Madame de mes respects; je vous prie d'inserer les autres
poesies dans les feuilles de votre Journal. Mettes moi ä meme de vous
donner des preuves de mon estime et de ma consideration, et je saisirai
les occasions avec empressement. — Dans peu de jours vous aves votre
I«" acte.
Je suis avec beaucoup d'attachement et de consideration
Monsieur
Votre tres humble et tres obeissant serviteur
D'Amaud.
Nur wenige Tage später erfolgte eine Antwort Gottscheds, in welcher
er unter anderem die zwei anderen ihm eingehändigten Dichtungen
d'Amauds erwähnt. Die erstere „Clitus mourant ä Alexandre le Grand**
wurde in „das Neueste aus der anmutigen Gelehrsamkeit", 1751, S. 537 bfa
540, veröffentlicht. Hinsichtlich des bald erfolgenden Erscheinens der
anderen Dichtung, „Le Bel-Esprit," bietet Gottsched an, er wolle den von
dem Könige von Polen verliehenen Titel dem Namen des Dichters in
seiner Zeitschrift beifügen, damit diese Auszeichnung weiterhin, besonders
auch in Berlin, bekannt würde. In der That wurde bei der Veröffent-
lichung dieser Dichtung in „das Neueste aus der anmutigen Gelehrsam-
keit" 1751, S. 681 — ^688 der Angabe des Verfassers der Titel „Conseiller
de Legation du Roi de Pologne" in erster Linie beigefügt.
Dagegen finden wir von der im nachstehenden Briefe Gottscheds im
Nachworte in Aussicht gestellten Erwähnung der deutschen Übertragung,
welche von dem schon genannten Gedichte d'Amaud's auf den Tod von
Sechs französische Briefe Gottscheds an Baculard d*Arnaud. 158
Moritz von Sachsen unterdessen erschienen war, weder im Monate August
noch in einem anderen Monate der Gottschedschen Zeitschrift irgend
eine Spur.
Monsieur.
C*est avec un plaisir infini, que j'apprends, que le Roi Vous a fait
la justice de Vous declarer son Conseiller de Legation. Vous voila
donc devenu le Notre, Monsieur, et peutetre pour toujours, comme je
le souhaite pour le bien des beUes Lettres, et au profit meme de nos
Muses Allemandes; aux quelles Vous promettez Votre assistance, pour
les tirer de Tobscurite, dans la quelle elles sont par rapport aux Etrangers,
qui ne connoissent pas notre Langue. Ayant obtenu la Permission, de
Vous envoyer les demiers Actes de la Comedie en question, j'ai Thonneur
Monsieur, de les envoyer. J'y joins les trois premiers Actes de la
Tragedie, de Mr. de Derschau; et ü me semble que le Traducteur a assez
conserve Tesprit tragique de la piece. Sous Votre plume eile ne perdra
rien; au contraire efle gagnera infailliblement. Et quant a la piece
comique, TAuteur Vous prie, d'y mettre toujours quelque chose de
Votre esprit, pour suppleer a maint tour comique qu'elle a necessairement
du perdre, en passant par les mains du Traducteur, qui n*entendoit
meme toutes les finesses de Texpression, ayant ete assez longtemps hors
de l'Allemagne.
Je suis fort fache qu'il s'est glisse quelque fautes d'impression dans
Votre excellente piece. Mais il sera facile d*y remedier, par un errata,
que je mettrai ä la fin de la troisieme; en y ajoutant Celles, qui se
pourront etre glissees dans le discours de Clitus mourant, qui paroitra
en peu de jours, dans le mois de Juillet, et qui est deja imprimee.
Pour ce qui regarde Tinscription de Satire, que j'ai mise dessus THera-
clite moderne; il me semble, que rien ne lui convenoit mieux, que
cptte Rubrique: le Nom d'Epitre suppossant, qu'elle fut adressee a
quelque Ami, ou feint, ou veritable; ce qui ne paroissoit pas dans la
piece. Devant la troisieme, je ne manquerai pas, si Vous le trouvez
apropos, Monsieur, de mettre Votre nouveau Caractere, pour le rendre
un peu plus connu, sur tout a Berlin.
Ayez la bonte Monsieur, de me conserver toujours Votre amitie,
comme je tacherai de la meriter de plus en plus, etant avec une Con-
sideration parfaite
Monsieur
Votre tres humble et tres ob. Serviteur
Gottsched.
A Leipzic 26 m« du Juin 1751.
J*ai re^ü la traduction ou translation allemande de Votre Poeme sur
le Marechal de Saxe. Elle est tres bien faite, et je ne manquerai pas
d'en &ire mention dans le Mois d*Aout, de mon Journal. Si Vous
connoissez TAuteur, je Vous prie Monsieur, de lui faire mon Compliment
la dessus.
154 Theodor Sfipfle.
Nach einer Lücke oder Unterbrechung im Briefwechsel, welche etwa
sechs Wochen umfafst, finden wir einen von d'Arnaud am 9. August 1751
geschriebenen Brief, in welchem derselbe lebhafte Besorgnis über das
Befinden der FamiUe Gottsched ausspricht, von welcher er seit längerer Zeit
keine Nachricht erhalten habe. Das Interessanteste in diesem nachstehend
mitgeteilten Schreiben ist die bezeichnende Äufserung d'Amauds über die
nach seiner Ansicht erlaubte Beimischung einer „pincee de libertinage"
zu den Schöpfungen der Dichtkunst.
Monsieur
Je suis extremement inquiet de Tetat de votre sante et de celle de
Madame. Je me flatois que vous me donneries de vos nouvelles et que
vous auries la bonte de menvoyer la brochure ou sont les vers sur
Clitus, je suis veritablement chagrin de votre silence.
Dans peu vous aures la comedie ou je trouve un excellent fond de
comique et digne de la plume qui l'a composee. Pour la tragedie, je
n'ai pu encore y mettre la main, mais je ne la perds point de vüe.
Je serai toujours charme de vous raontrer le cas singulier que je fais
de votre genre et de ceux qui vous imitent.
Je ne saurois trop vous marquer ma reconnoissance sur la bonte
que vous aves d'inserer mes faibles ouvrages dans votre excellent Journal;
ä propos de mes ouvrages, j'apprends qu'ils sont enfin imprimes a part
en 3 volumes (j'entends mes pieces fugitives, car je garde encore dans
mon porteieuille Celles qui sont un peu de longue Haieine, je me souviens
du precepte d*horace nonumque prematur in annum). Sitot que les
exemplaires me seront pervenus, et j'en aurai tres peu, je vous en ferai
part, persuade que vous aures quelque indulgence pour des bagatelles
qui sont les fruits, si je puis parier ainsi, de mon enfance, vous y verres
respirer Tamour du vrai et de Thumanite, quelquefois aussi celui du
plaisir, vous n'ignores pas que la poesie admet une pincee de
libertinage qui la rend plus brillante, quand cela ne va pas jusqua
la corruption des moeurs ou la detractation de la religion.
Daignes donc me donner de vos nouvelles et me tirer d'inquietude.
Je brule de vous revoir et de jouir de vos solides conservations, j'assure
la Madame Dacier ou plustot les graces unies ä la science meme de mes
tres humbles respects, mille compliments a toutes les personnes qui
daignent se ressouvenir de moi. J'ai l'honneur d*etre avec les sentiments
de Testime la plus parfaite et de la consideration la plus distinguee
Monsieur
Votre tres humble et tres obeissant Serviteur
D^amaud.
Le 9me aout 1751 a Dresde.
Auf diesen Brief antwortete Gottsched mit folgendem Schreibeq,
welches in der Hauptsache über schon wiederholt besprochene Gegen-
stande sich verbreitet
Sechs französische Briefe Gottscheds aa Baculard d*Arnaud. 155
Monsieur
Par Malheur nous avons ete dans le meme cas: Vous, attendant la
nouvelle piece de mon Journal, et moi an attendant un mot de reponse
de Votre part; et ne sachant, ce que Vous eties devenu, ou si ma
Lettre Vous n'etait peutetre point rendüe? Enfin cette crainte etant
dissipee par Votre chere Lettre, j*ai l*honneur, de Vous envoyer Texcellente
harangue de Clitus; pour savoir au premier jour, si par hazard ils s*y
seront glissees des fautes d*Imprimerie ; pour etre remarquees dails le
Mois de Septembre, qui s'imprime actuellement, et qui contiendra entre
autres pieces, Votre troisieme piece de Poesie.
Je suis fort charme d TEsperance de Voir arriver Vos Ouvrages,
Monsieur, qui viennent d*etre imprimees a Paris. Mademoiselle de Belleville
s'en informoit il y a huit jours, quand j'eus Thonneur de la voir, se
plaignant aussi de n*avoir point de Vos Nouvelles. Je lui ai communique
les pieces- de Votre fapon imprimees icL
Voici le Vme Acte da la Tragedie d*Oreste. Je suis fort curieux,
d'en voir quelque echantillon de Votre plume, qui certainement en fera
augmenter les beautes. Ce que Vous avez la bonte de marquer touchant
la piece de mon Amie, est trop flatteur, pour ne pas ressembler ä la
Complaisance, si ordinaire ä Votre Nation pour le Sexe. Si pourtant
eUe est susceptible dans Votre Langue de quelques beautes, c'est assure-
ment sous Vos mains Monsieur, qui lui pretera un peu de ces graces
comiques, qui fönt valoir aujourd'hui les Ouvrages du Theatre Franpois.
Ma Femme Vous remercie humblement des sentiments, que Vous venez
de marquer sur son sujet, en Vous assurant de sa Consideration parfaite.
Ayez la grace, Monsieur, de faire rendre la Lettre incluse a Mr. le
Conseiller de Cour Richter, Antiquaire de S. A. R. le Prince Electoral.
J'ai Thonneur d'etre avec un zele parfait et d'une Estime toute
particuliere
Monsieur
Votre tres h. et tres ob. Servit.
Gottsched.
A Leipsic le i5me d'Aout 1751.
Schon zwei Tage darauf, 17. August 1751, antwortete d*Arnaud mit
einem längeren Briefe, in welchem er um das Urteil Gottscheds über den
in Dresden viel gelesenen „Hermann" von H. v. Schönaich bittet, wieder-
holt von dem baldigen Erscheinen seiner gesammelten pieces fugitives
spricht, im Anschlüsse an das der Frau Gottsched im vorhergegangenen
Schreiben gespendete Lob erklärt, dafs er nunmehr an die Möglichkeit
einer Vereinigung der Bescheidenheit mit dem Talente fest glaube, die
MUe. de Belleville zu grüfsen ersucht und lebhafte Sehnsucht nach Leipzig,
besonders der anregenden und belehrenden Unterhaltung Gottscheds äufsert.
Dieses Schreiben wurde von dem mit Arbeit überhäuften Gottsched
einige Zeit darauf mit folgendem ganz kurzem Briefe beantwortet, in
welchem er eine Gelegenheit geschickt benutzte, um ihn auf die ungemeine
Schwierigkeit, seine Schriftzüge zu entziffern, aufmerksam zu machen.
Ztachr. f. vgl Litt-Gesch. I^ j[l
156 Theodor Süpfle.
Monsieur.
Voici la derniere piece de Votre excellente Muse, dans le Mois de
Sept qui vient de paroitre. J*ai profite de Vos Corrections des Errata
de la premiere, comme Vous verrez a la fin du Mois: mais pour les
fautes que Vous me communicates dernierement, il ne m'a pas ete possible
de les trouver, dans le Clitus mourant. Ayez donc la bonte Monsieur,
si elles s'y trouvent effecrivement, de m'en marquer les pages, et le
Nombre des Lignes; et d*y ajouter Celles, qui se pourront etre glissees
dans cette derniere, comme je craint fort. Car il m'a ete impossible
de dechiffrer toutes les paroles et Syllabes, de Votre chere
Plume, qui ne peint gueres si bien qu'elle n'ecrit.
Etant presse par des occupations differentes, qui ne me permettc&t
pas le plaisir de Vous entretenir plus long temps ; je me vois oblige de
Vous marquer seulement le Remerciment de Mademoiselle de Belleville,
sur Vos Complimens, et de la part de mon Amie de meme. etant avec
une Estime parfaite
A Leipsic le agme d'Aout 1751.
Monsieur
Votre tres h. et tres ob. Serviteur
Gottsched.
In seiner schon am 2. September erfolgten Antwort beteuert
d'Arnaud seine Dankbarkeit für die vielfachen Aufmerksamkeiten Gott-
scheds, verbessert einige Druckfehler, welche sich in die Veröffentlichung
seines „Clitus" und den übersandten Druckbogen seines ^Bel-Esprit''
eingeschlichen hatten, äufsert wiederholt seine Sehnsucht nach Leipzig,
verspricht baldige Einhändigung des Lustspieles an Frau Gottsched,
stellt von neuem ein Exemplar der nun erschienenen Ausgabe seiner
Gedichte in Aussicht und bittet Gottsched zugleich, die Entrüstung des
Verfassers über die unverzeihlichen Druckfehler derselben zur öffentlichen
Kenntnis zu bringen. In seinem Ärger entfahrt ihm die Aufserung:
„les libraires sont de grands fripons; pourvu qu'ils vendent du papier,
ils sont Contents.'*
Die Antwort Gottscheds auf diesen Brief d'Arnauds sowie auf
mehrere folgende scheint verloren gegangen zu sein. Jedenfalls findet
sich in den uns vorliegenden Briefen kein weiteres Schreiben Gottscheds
mehr bis zum 4. März 1752. Wir teilen als Ersatz für diese längere
Lücke einiges aus den Briefen d*Arnauds mit.
Am 29. November 1751 überschickte letzterer an seinen Leipziger
Gönner ein Exemplar einer von ihm gedichteten Ode, mit der Bitte,
dieselbe in seiner Zeitschrift gerade so abdrucken zu lassen, wie sie in
der in Berlin erscheinenden „AbeiUe** mitgeteUt worden war. Diese nicht
näher bezeichnete Ode ist höchst wahrscheinlich diejenige, welche er
auf die Geburt des Herzogs von Burgund, dessen Mutter eine sächsisch^
Prinzessin war, gedichtet hatte. Dem Wunsche des Verfassers entsprach
aber Gottsched jedenfalls nur insoweit, dafs er gelegentlich einer neuen
j
Sechs französische Briefe Gottscheds an Baculard d*Arnaud. 157
Auflage dieser französischen Dichtung unter der Aufschrift ^La naissance
de monseigneur le Duc de Bourgogne, Ode, etc. par Mr. D'Arnaud etc." (a
Berlin chez Etienne de Bourdeaux) in der „Anmutigen Gelehrsamkeit,**
1752, S. 79 — 80, eingehend anzeigte, ohne den Text selbst zu bieten.
Übrigens hatte früher schon Gottsched selbst die Geburt desselben
Prinzen, besungen und seine Ode in der genannten Zeitschrift 1751,
S. 818 — 824, veröffentlicht
Von gröfserem Interesse ist der am 8. Januar des folgenden Jahres
geschriebene Brief, in welchem d Arnaud unserem Gottsched mit Beziehung
auf dessen ihm übersandten Oden die gröfsten Lobeserhebungen macht
und sich in übertriebener Bescheidenheit als dessen Schüler bezeichnet.
Zugleich überschickt er ihm die neueste seiner eigenen Dichtungen, eine
Ode auf das Geburtsfest des Prinzen Friedrich August von Sachsen,
durch welche der französische Dichter seine Dankbarkeit gegen das
sachsische Fürstenhaus und seine Achtung für das ganze sächsische
Volk öffendich aussprechen wölke.
Le 8 Jan. 1 752 a Dresde.
Monsieur
n y a longtems que j*aurois eu l'honneur de vous repondre si une
maladie asses longue ne m'en eut empeche; ä peine recus je vos ödes,
que je les remis entre les mains des personnes que vous m'aves indiquees.
Je ne sui ici que Techo du public, mais je puis vous assurrer, que c'est
avec un plaisir bien sincere que je vous dis que tout le monde est
content de cet ouvrage. Autant que j'en puis juger par la traduction
que m'en a faite en courant M<Je Schubb, j'aurois tout lieu de vous
porter envie, mais on est force d'aimer et d'estimer des rivaux tels que
vous. Ma vanite trouve son compte a repeter les eloges que tout
Dresde vous a donnes; c*est ä vous ä me servir de modele, et non a
m'imiter. Je ne suis point la dupe de cette modesde dissimulee, c^est
moi qui suis Tecolier. C*est ä ce titre que je vous ofFre une nouvelle
ode que je viens de composer, on en paroit asses content ä la cour, je
souhaitte meriter votre suflFrage, cette piece est une espece de temoignage
public de mon estime pour la nation et en meme tems de ma reconnaissance,
je n*en ai fait imprimer que 50 exemplairs, si vous souhaittes la faire
reimprimer a leipsUc en la donnant a quelque libraire, vous etes bien le
. maitre, ou je vous prie d*avoir la bonte de Tinserer dans Votre excellent
Journal; mon ode sur le Duc de bourgogne y est eile? je vous serai
bien oblige de m'envoyer le Journal qui la renferme.
Voyes vous mdelle de belleville? c'est une paresseuse, dont on ne
scauroit arracher un mot de reponse, malgre tout cela je n'en suis pas
moins son serviteur et je Tassure de mes respects.
Jattends toujours mes ouvrages avec impatience pour vous en offrir
i;n exemplair, toute miserable que soit Tedition. Mde. Schubb vous
remercie infintment de votre politesse; eile vient de perdre Mr. son pere
qui est mort il y a deux jours. Je vous prie d'assurer de mes tres
ir
158 Theodor SQpfle.
humbles respects Madame, vous etes bien heureux dans vos travaux
litteraires d*avoir une pareUle rivale, eile est digne de yo.us.
Daignes me donner de vos nouvelles et de Celles de Madame et
me continuer vos bons sentiments, je ne scache rien de nouveau dans
notre litterature fraacoise que je puisse vous mander; tous nos auteurs
sont silentieux, peutetre que le public gagne a ce siience. Vous verres
dans mon ode ce que je pense de Leipsik, c^est un hommage que j*ai
cru vous devoir ä vous et ä vos illustres compatriotes.
Je suis avec la plus gfrande consideration
Monsieur
Votre tres humble etc.
Da Gottsched diesen Brief nicht rasch beantwortete, so fragt d*Aniaud
unter dem ii. Februar 1752 an, ob ersterer seine ihm übersandte und
im vorigen Briefe besprochene „Ode sur Taniversaire de la oaissance
du prince Frederic Auguste" erhalten habe.
Hierauf nun antwortete Gottsched endlich nach weiterem längerem
Schweigen mit nachfolgendem Briefe, welcher der letzte der sechs wieder-
aufgefundenen ist. Er teilt darin d'Arnaud mit, dafs er dessen Ode auf
das erste Geburtsfest des Erbprinzen August von Sachsen in seiner Zeit-
schrift, vgl. „Anmutige Gelehrsamkeit", Februar, 1752, S. 152 — 155
„L*Aimiversaire de la naissance de son Altesse, Monseigneur le Prince
Frederik Auguste, Ode, etc., par Mons. d*Amaud, Cons. de Leg. de
S. M., Membre de TAcad. roy. des Sei. de Prusse, ä Dresde in-4 im
Auszuge vorgelegt habe. Die gleichzeitig erwähnte Ode sur la naissance
du Duc de Bourgogne war, wie schon berichtet im Januarmonate derselben
Zeitschrift (1752, S. 70—80) anerkennend besprodien worden.
Ob Gottsched zuletzt wirklich ein Exemplar der oft versprochenen
Gesanuntausgabe der leichteren Dichtungen d*Arnauds (oeuvres diverses,
Paris, 1851, 3 vol. in -12), welche er wegen der vielen Druckfehler bald
desavöuirte, erhalten hat, können wir nicht angeben. Wahrscheinlich erhiek
er keines zugeschickt. Denn sonst würde er wohl das in dem nach-
folgenden Briefe gemachte Anerbieten, dieselben in seiner Zeitschrift zu
besprechen, verwirklicht haben.
Monsieur,
Une infinite d'Occupations m*a empeche plus de dix fois de repondre
ä Votre chere derniere ; et ce pourquoi j*espere que Vous me pardonnerex
gracieusement ce delai involontaire. Cependant j'ai lü avec beaucoup
de plaisir Votre exellente piece, et j'en ai fait un Extrait dans le mois
de Fevrier, comme Vous verrez dans le Jan vier la premiere de Vos
Ödes. II ne m'a pas ete possible d'en donner des copies entieres: nos
Lecteurs allemands n^entendant pas assez de fran9ois, pour ne pas etre
rebutes, quand je leur donne trop de ces delices.
J'attend avec impatience un Exemplaire de Vos ouvrages, pour en
donner un Extrait. Faites en faire, Monsieur, par Mr. Walther ä Dresde,
Sechs französische Briefe Gottscheds an Baculard d'Arnaud. 159
qui fait imprimcr Voltaire, Mauperdus dans une Edition nouvelle, augmentee,
corrigee, etc. pour braver les Libraires Parisiens. Ma compagne Vous
salGe tres humblement, et moi je suis avec toute cordialite
Monsieur
Votre tres h. et tres ob. Serviteur
Gottsched.
A Leipsic le 4^6 du Mars 1752.
Auf diesen Brief antwortete ihm d*Amaud mit einem längeren
Schreiben, in welchem besonders seine freie Äufserung über einige
Mängel der französischen Dichtersprache bemerkenswert ist. Die von ihm
erwähnten, in Deutschland gedruckten, Lamentations de Jeremie, welche
in das Gebiet der ödes sacrees gehören, erschienen etwas später, als
der Dichter beabsichtigte, im Jahre 1757 in einer besseren Ausgabe in
Paris; vgl. Annee litteraire, 1757, t. V, p. 169. Obgleich diese Dichtung
d'Amauds wiederholt aufgelegft wurde, ist sie doch sehr mittelmäfsig, und
Voltaire machte sich über sie in dem bekannten quatrain lustig:
Savez-vous pourquoi Jeremie
A tant pleure pendant sa vie?
Cest qu'en prophete il prevoyait
Que Baculard le traduirait.
Späterhin setzte Voltaire den Namen Pompignan an die Stelle des-
jenigen von Baculard.
Wir lassen nunmehr dessen Brief an Gottsched folgen:
«
Monsieur
Je ne scaurois trop vous temoigner ma reconnoissance sur les
procedes estimables que vous aves avec moi, vous aves daigne parier
de mes ödes dans vos deux excellents joumaux, je vous en ai mille
vraies obligations. Voici un nouvel ouvrage de ma fa^on que je vous
pric d'accepter, je souhaitte qu'il soit de votre gout; la reine ainsi que
l*auguste famille roiale Ta re9u avec bonte; vous aves bien raison de
xne recommander de faire une edition ches Walter, car celle de Paris
est affreuse, je ne Tai point encore repüe, je compte Tannee prochaine
donner une nouvelle edition de mes lamentations de Jeremie avec des
notes, c'est un des ouvrages qui m*a coute le plus de peine et en meme
tems de plaisir. il y a un sublime dans Toriginal que notre langue
franpaise n*atteint qu avec peine. Car je suis persuade plus que jamais
que ma langue est bien au dessous de la grecque et de la latine, je
dirai meme de Titalienne pour la grande poesie. Cest une servitude
continuelle, d*ailleurs les metaphores qui fönt Tornement du Stile poetique
demandent beaucoup de menagement dans notre langue. je ne scais si
Tallemand est aussi ingrat pour la poesie, je vous laisse decider cette
question, vos lumieres la dessus sont si generalement connues que vous
pouves prononcer en maitre.
160 Theodor Süpfle.
Mille respects ä Madame, je compte avoir l'honneur de vous voir
fa foire prochaine.
je suis avec la plus haute consideration
Monsieur Votre etc.
Le 8 av. 1753 ä Dresden.
Nun folgt eine Lücke von etwa vier Monaten in dem Briefwechsel.
Wie d*Amaud der erste gewesen war, welcher ihn einleitete, so ist auch
sein Brief vom 14. August derjenige, welcher ihn abschliefst, jedenfalls
der letzte, welcher auf der Leipziger Universitätsbibliothek aufbewahrt ist.
Durch die in diesem Schreiben erwähnte Ode, welche die Aufschrift
„La Convalescence de Son A. R. Mons. le Prince Charles" trägt, wollte
d'Arnaud dem Kurfürsten von Sachsen seine anhängliche und dankbare
Gesinnung gleichfalls bezeugen. Sie wurde später in der ^Anmutigen
Gelehrsamkeit", 1752, S. 421— 424, vollständig mitgeteilt.
Der letzte Brief d'Arnauds lautet folgendermafsen:
Monsieur
Series vous indispose? je suis inquiet de ne recevoir aucune de vos
nouvelles. j*ai par hasard lu mon ode dans votre Journal qui est tombc
entre mes mains, je vous en ai mille obligations, je suis bien fache de
ne vous avoir pas encore envoye votre comedie, je Tavois commence.
Des maladies continuelles m'empechent de me livrer ä mes travaux et
me forcent pour quelque tems de les suspendre. je compte profiter de
Tabsence de la cour pour aller faire un voyage en Dannemarck. Si je
puis vous etre bon ä quelque chose en ce pays, parles, je suis pret a
vous servire, je reviens ä Dresden au mois de janvier prochain. Mes
respects ä Madame votre epouse, je suis avec la plus haute consideration
Monsieur
Votre tres humble etc.
A Dresden ce 14 aout.
Ob der Dichter seine Reise nach Dänemark wirklich ausgeführt hat,
wissen wir nicht. Jedenfalls aber verliefs er nach einiger Zeit Dresden
für immer, um nach Paris zurückzukehren, wohin ihn zunächst das Heim-
weh, zugleich aber auch eine Einladung des Grafen von Friesen zog,
welcher bekanntlich ein Neffe des von Baculard besungenen Grafen Moritz
von Sachsen war. In seiner Heimat und bei den vollständig veränderten
Verhältnissen scheint er aber den vordem eifrig umworbenen Gottsched
vollständig vergessen zu haben. Jedenfalls finden wir seinen Namen und
seine Erzeugnisse in des letzteren Zeitschrift nie mehr erwähnt.
-.•.■
VERMISCHTES.
■ ••••
Hans Sachsens Fastnachtspiel von dem gestohhien
Fachen = Boccaccio, Dekameron VIII, 6.
Von
Fritz Neumann.
In seiner Ausgabe der Hans Sachsischen Fastnachtspiele (Sämmtliche Fast-
nachtspiele von H. S. in chronolog. Ordnung nach den Originalen heraus-
gegeben vonE.Goetze; Halle, Niemey er = Neudrucke deutscher Litteratur-
werke des XVL u. XVII. Jahrhunderts. 26/27, 3^/3^1 39/40» 4^/431
51/52, 60/61) hat der verdiente Herausgeber, so weit es möglich war,
auch stets kurz über die Quellen des Dichters Aufschlufs gegeben.
Ein solcher Aufschlufs fehlt jedoch für das 41. Fastnachtspiel von dem
gestohlnen Fachen (IV. Bändchen S. 36 fF. ; vgl. ebenda S. VII, der Einl.; in
der Keller-Goetzeschen Ausgabe für den Stuttgarter Lit. Verein Bd. XIV,
5. 220 ff.); es heifst vielmehr in der Einleitung der erstgenannten Ausgabe:
„Der Meistergesang in Frauenlobs Zug weise mit dem Anfange: Ein
karger pawer het ein Saw gestochen. . . ., der denselben Stoff behandelt,
giebt über die Quelle, der der Dichter folgte, auch keine Auskunft."
Da es nun, wie der Herausgeber a. a. O. S. XXI mit Recht bemerkt,
„von grofser Wichtigkeit ist, zu wissen, woher der Dichter die Fabel
zu seinen Geschichten genommen," so möge hier in Kürze der Nachweis
der Goetze noch unbekannt gewesenen Quelle für das in Frage stehende
Fastnachtspiel folgen. Die Fabel stammt auch hier, wie in so vielen
andern Fastnachtspielen des Hans Sachs aus Boccaccios Dekameron; es
ist die Geschichte von Calandrinos gestohlenem Schwein (Dek. VIII. Tag,
6. Novelle; bei Steinhöwel in der Kellerschen Ausgabe S. 489 ff.),
die H. Sachs in seinem Spiel dramatisiert hat. Der wesentliche Erzählungs-
inhalt — auf denselben hier näher einzugehen, wird nicht nötig sein, da
wohl jeder H. Sachs und Boccaccio zur Hand hat, und nachlesen kann —
ist bis zu einem solchen Grade übereinstimmend, dafs ein Abhängig-
keitsverhältnis, sei es nun ein direktes oder indirektes, zwischen H. Sachs
162 Fritx Neumann.
und Boccaccio unbedingt angenommen werden mufs. Nur hat H. Sachs
mit dem ihm überkommenen Stoff frei geschaltet und sich eine Reihe
Änderungen erlaubt, die jedoch den Kern der Erzählung in keiner Weise
treff^en. Vor allem ist aus der „Künstleranekdote"*) des Boccaccio bei
Hans Sachs ein derber Bauemscherz geworden. Aus den beiden Künstlern
Bruno und Buifalmacco sind die zwei Bauern Heintz Knol und Cuntz
Drol geworden, aus Calandrino Herman Doli; letzterer aber sowohl bei
H. Sachs wie bei Boccaccio der Geizhals (der karg pawr, filtz — avaro),
der wegen seines Geizes von den zwei Freunden um sein Schwein
geprellt wird. Der Pfarrer tritt bei beiden Dichtern auf, nur hat H. Sachs
seine Rolle zu einer Hauptrolle erweitert, während derselbe bei Boccaccio
völlig Nebenfigur ist. Bei H. Sachs ist der Pfarrer weit mehr aktiv am
Verlauf der Handlung beteiligt: er ist es hier, der den scherzhaften
Betrug mit den Ingwer- und Aloe-Pillen, wodurch Herman Doli selbst
als der Dieb des Schweines hingestellt wird, ins Werk setzt, während
bei Boccaccio dem Bruno diese Rolle zufallt. Derartiger kleiner Änderungen
sind noch manche zu verzeichnen. * So ist vor allem der Eingang der
Boccaccioschen Erzählung von H. Sachs ganz weggelassen. Dort wird
erzählt, wie die beiden Freunde den Calandrino bereden wollen, er möge
das Schwein verkaufen und dann das Geld mit ihnen vertrinken, wogegen
er seiner Frau vorlügen solle, das Schwein sei ihm gestohlen; Calandrino
geht jedoch aus Furcht vor seiner Frau auf diesen Vorschlag nicht
ein; die Freunde, unterstützt vom Pfarrer, machen Calandrino dann
betrunken, und dieser läfst in der Betrunkenheit das Haus offnen, so dafs
jene das Schwein ohne Schwierigkeiten ausfuhren können. Anders
bei Hans Sachs. Das Stück beginnt gleich mit einem Zwiegespräch
zwischen Heintz Knol und Cuntz Drol, worin dieselben beschliefsen,
dem filzigen Herman Doli sein Schwein zu stehlen. Sie machen ihn aber
nicht, wie bei Boccaccio geschieht, zu diesem Zwecke betrunken, sondern
brauchen für Ausfuhrung ihres Diebstahls eine besondere List. Die
Umgestaltung dieses Eingangs und die erweiterte Rolle, die Hans Sachs
dem Pfarrer zuteilt, sind übrigens die zwei bedeutendsten Abweichungen,
die der Dichter gegenüber Boccaccio aufweist. Die übrigen Unterschiede
betreffen Einzelheiten und Nebensächliches. So hat Hans Sachs einiges
weggelassen; bei Boccaccio findet das Manöver mit den Aloe-PiUen
zweimal statt, bei Hans Sachs nur einmal; die bei Boccaccio statt der
Aloe-Pillen zuerst vorgeschlagene Probe mit geweihtem Brot und Käse
fehlt ganz bei Hans Sachs u. dgl. m. Auf der anderen Seite jedoch
sehen wir Hans Sachs selbst kleine Nebenzüge aus seiner Vorlage hin-
übernehmen, wenn er sie auch bisweilen anders verwendet und an anderer
Stelle anbringt, als bei Boccaccio geschieht. Wenn Heintz Knol zu
Beginn des Fastnachtspiels (Vers 12) sagt:
Ich zecht nechten mit vnserm Pfaffen,
so erinnert das sofort an die schon vorhin erwähnte Zeche, zu der sich
*) S. Marcus Landau, Die Quellen des Dekameron, 3. Aufl., Stuttgart 1884, S. 335£
j
Hans Sachsens Fastnachtspiel von dem grestohlenen Fachen. 163
bei Boccaccio Bruno, Buffalmacco und Calandrino mit dem PfafFen vereinen,
nur dafs bei dem italienischen Dichter diese Zeche eine weitere, tiefere Be-
deutung für den Gang der Erzählung hat, während sie bei Hans Sachs
nichts zu bedeuten hat. Die Angst vor der Frau ist ein öfters hervor-
gehobener gemeinsamer Charakterzug des Herman Doli und Calandrino.
Das gestohlene Schwein tragen Bruno und BufFalmacco bei Boccaccio zum
Pfarren der sich schon vorher in Bezug auf den dem Calandrino zu spielen-
den Streich gern einverstanden erklärt hat. Man vergleiche damit die
Verse in ff. bei Hans Sachs:
Cuntz Drol: Wo wöl wir mit dem bachen naufs?
Heintz Knol: Wir wollen zu dem Pfarrer tragen,
Ich thet jm heut frü daruan sagen.
Ach, wie lacht sein der frölich Man!
Bei Haps Sachs fordert der Pfarrer den Herman Doli auf, er soUe
^die Nachtbawm allhie her in die KirchhoflF mawrn" zusammenfordem,
um dort das Mittel mit den Ingwerpillen an ihnen zu versuchen (V. 185);
bei Boccaccio versammeln sich die Nachbaren ebenfalls „dinanzi sdla
chiesa intomo all' olmo." Weiterhin (V. 198) läfst Hans Sachs die zum
Betrug zu verwendenden Pillen „von Aloe vnd Huntzdreck gemacht"
sein; es ist das ein Misverständnis der Stelle bei Boccaccio, wo es heifst:
y,Bruno .... comperö una libbra di belle galle di gengiovo, e fecene
far due di quelle del cane, le quali egli fece confettare in uno aloe
patico fresco"; vgl. auch Steinhöwel, der in gleicher Weise von „zwu
fallen von aloe vnd hunczkote" spricht, (a. a. O. S. 492). Bei Boccaccio
ist vom Einsegnen (benedire) des Ingwer die Rede; Hans Sachs läfst im
Anschlufs daran den Pfarrer einen „starcken Segen" über den Ingwer
sprechen (V. 220 ff.). Auch die Stellen bei Hans Sachs
V. 132 ff. Cuntz Drol spricht:
Du hast jn (den bachen) etwan selb verholen,
Weil niemandt kundt hat in dein Haufs,
Hast du jn selber tragen aufs.
Wirst jn der Strigel Christen schenken.
V. 270 ff. Heintz Knol . . . spricht:
Nein, Cuntz, das thu ich euch verneinen.
Wir wollen jn wol herter hawen.
Wir wöllens sagen seiner Frawen,
Er hab den bachn aufstragen eben
Vnd den der Strigel Christen geben.
haben ihr Vorbild bei Boccaccio in jener Stelle gegen Ende der Er-
zählung, wo Bruno zum Calandrino sagt: ' „Intendi sanamente, Calandrino,
che egli fu tale nella brigata che con noi mangiö e bevve, che mi disse
che tu avevi quind su una giovinetta che tu tenevi a tua posta, e davile
ciö che tu potevi rimedire, e che egli aveva per certo che tu Tavevi
mandato questo porco, nur dafs Hans Sachs seiner Gewohnheit gemäfs
164 Johannes Bolte.
der bei Boccaccio unbestimmt gelassenen ^giovinetta" einen bestimmten
Namen lieh. Als Bufse legen die zwei Bauern dem Herman Doli bei
Hans Sachs auf, ihnen einen Gulden zum Vertrinken, dazu 20 Bratwürste
zu geben; eine ähnliche Buise legen Bruno und Buffalmacco zum SchluCs
auch Calandrino auf, nur besteht die Bufse hier in zwei Kapaunen.
Diese Einzelheiten, zusammen genommen mit der völligen Überein-
stimmung im Haupterzählimgsinhalt werden den engen Zusammenhang
zwischen Hans Sachsens Fastnachtspiel von dem gestohlnen Fachen und
der Boccacdo'schen Erzählung von Calandrinos gestohlenem Schwein
wohl als aufser Zweifel stehend erscheinen lassen.
Freiburg i. Br.
••••-
Ein deutsches Urteil
über Dante aus dem 17. Jahrhundert,
Von
Johannes Bolte.
Der Fürst Ludwig von Anhalt-Cöthen (1579 — 1650), den die
Litteraturgeschichte als den Begründer und langjährigen Vorstand der
fruchtbringenden Gesellschaft kennt, erzählt in der gereimten Beschreibung
seiner 1599 nach Italien unternommenen Reise (Beckmann, Accessiones
historiae Anhaltinae, Zerbst 17 16, S. 288) von seinem Aufenthalte zu
Neapel:
Nun wir Pozzuolo einst zur lust noch solten sehen,
Dar die Malteser dan mit uns hin wolten gehen,
Mehr zur erlustigung da dan bey ihnen war
Ein mann von Napoli von der nicht klugen schar,
Diensthaftig er sich zeigt, und Dante ward geheissen.
Er redte Beyrisch deutsch, kont manchen Possen reissen,
Mit Pommerantzen dicht gar oflft geworffen ward.
Und an sich hatte doch stets sein hochsteigend* art
Ihm zwen Sprichwörter auch im zorne waren eigen,
Die er, wan er gerührt, mit heftigkeit thet zeigen,
Das eine war, das er Bier Esel einen nent.
Im andern schmäht er auch, und schrie: heraus Hans Bend.
Die Ritter ihre zeit mit ihme wol vertrieben.
Bin deutsches Urteil über Dante aus dem 1 7. Jahrhundert. 165
Und gute freund* iedoch by g^ter kurtzweil blieben,
Er von der freündschaft sich aus den Poeten gab,
Der aus Florentz sehr wol gefuhrt den dichterstab*)
Drey schöne Bücher hat Reimweise wol geschrieben,
In reiner Tuscier sprach*, und die sehr hoch getrieben,
Vom Fegefeür, der Hell* und von dem Paradies*,
Die letzten deren zwey gar klar sind und gewis.
Das fegefeür allein von Pfa£fen ist erfunden,
So die gewissen dran nur alzu steif gebunden,
Und halten solche stets damit in harten zwang,
Als wan nach ihrem tod sie blieben alzulang*
In solcher feüerqual, wan sie nicht geld hergeben
Und guter, darvon dan die Herren wolzuleben:
Insonderheit der Papst ihr Herr die oberhand
Behelt in eitler weit, und seinem höchsten stand.
Sonst die erfindung ist hoch dieses Manns zu preisen.
Der sehr viel gutes dings hat drinnen wollen weisen.
Wiewol die spräche wird gehalten etwas schwer,
Und g^ter lehren vol sein buch ist doch noch mehr
Zu achten, weil darbey viel kunst hat angeleget
Und mühe dieser Mann, der immer darvon treget
Den nachruhm mit dem lob*, in dem ihm niemand gleicht,
Viel münder, als man sagt, das wasser keiner reicht
Dass der Fürst wirklich eine aufsergewöhnliche Kenntnis der
italienischen Litteratur besafs, zeigt seine Aufnahme in die Florentiner
Accademia della Crusca, deren Einrichtungen ihm als Muster für die
fruchtbringende Gesellschaft dienten, und seine 1643 gedruckte Über-
setzung der Trionfi Petracas. Auch sonst ist seine wohl in höherem
Alter nach früheren Aufzeichnungen abgefafste Reisebeschreibung für
die Verbreitung des italienischen Geschmackes in Deutschland von
Wert. Gleich bei der Ankunft in Neapel heifst es (S. 253):
Comoedjen wurden dar und trauerspiel gespielt,
Der Schauplatz öfters auch von leuten sehr gefült.
Der Narr hiefs Pasquarel, der gar viel possen risse.
Dem Napoltaner nach zuthun er sich befliesse:
Da dan Spavento must auch kommen auf die bahn.
Und wie so hoch verliebt er sich erzeigen kan.
In Florenz sieht er im Turme des Palazzo vecchio zwei gfrofse Säle,
von denen der eine viele Marmorstatuen enthält (S. 236):
Im andern grofser höh* auch werden oft gehalten
Viel freudenspiele, die man nimmet aus den alten
Poeten, dan sie wol einrichtet nach der zeit.
Das man zu sagen weis von ihnen weit und breit,
Geredet oder auch wol in Musick gesungen,
*) am Rande: Dante Alg^hieri. In Lingua Toscana Dal Purj^atorio, Inferno. Paradiso.
16ß Johannes Bolte.
Wie das ist hergebracht von Griechen auf die jungen,
Die dieses orts jetzt seind, und tragen weg den preüs,
Das ihnen nachzuthun so leichtlich man nicht weUs.
Der Schauplatz oftermals wird gäntzlich ümgekehret,
Mit Wasser, bald mit wald, und Häusern dan vermehret,
So nach durchsichtig* art das äuge füllet wol,
Wie solches nach der kunst gefertigt werden soll.*)
Bekannt ist sein Bericht über die 1595 ^^° ^^ besuchten Londoner
Theater (S. 172):
Hier besieht man vier spielhäuser,
Darinnen man fiirstelt die Fürsten Könge, Keyser
In rechter lebens gröfs\ in schöner Kleider pracht,
Es wird der thaten auch, wie sie geschehn, gedacht**)
Ebenso erzählt er S. 204 von den im Hotel de Bourgogne in Paris
aufgeführten Freud- und Trauerspielen. Interessant ist endUch die Be-
merkung über den Unterschied der deutschen und der französischen
Sprache (S. 181, Orleans, den 3. Oktober 1596):
— Die Zeit nun zuvertreiben,
Und von dem müfsiggang gantz ferne weg zubleiben,
So suchten wir den Mann, der gar kein deutsch verstund,
Der solt uns ihre sprach' eintrichtern aus dem Grund,
Er war von Priester art, nicht alzuhoch gelehret,
Doch wies* er uns, wie wir gantz rein und unversehret
Aussprechen solten, so wie ein Frantzose thut
Dem seine Zunge leicht\ und so leuft wie sein mut
Eilfertig immer fort, man mufs das Wort nicht zwingen,
Nur sprechen fein gelind, es wird sonst herbe klingen:
Wie unsre Deutsche sprach' helt ihren Heldenstand,
Wen ihr der rechte thon reicht gleichsam seine band,
Es lefst das urtheil sich von beyden nicht schlecht feilen;
*) Der Einfluis der italienischen BQbnenarchitektur auf die Entwicklung der höfischen
Prachtvorstellunf^en und Opern ist noch nicht genügend herrorgehoben. Der Augsburger
Joseph Purtenbach folgt in seinem Itinerarium Italiae, seiner Architectura civilis, Archi-
tectura recreationis (1640), seinem Mannhafften Kunst-Spiegel (1663) überall italienischen
Vorbildern, die sich wiederum an Vitruvs Vorschriften und die antiken Baureste hielten.
In Preiburg wurde 1628 „eine Comoedi gehalten auff einer Schawbrucken , so jeden
Act in einem Augenblick umbgedröhet und verändert werden könden^\ wie zu Florenz und
Mantua (Überlinger Chronik in Birlingers Alemannia 10, 264). In Dan zig wurde am
6./ 16.. Februar 1646 bei der Hochzeit des Königs von Polen „die königliche gro&e und kost-
bare Comoedia aus dem Apulejo, von der Venere, Cupidine und Psyche, bei Uecht
gehalten, worüber man gantzer 17 Wochen lang gearbeitet und ein grosses Geld auffgang:ea,
weil sehr ofit und vielmals das Theatrum sich darbey verändert, und mehrentheils Kleider
von gülden- und silbernen Stücken gebraucht werden musten. Dieser Actus hat sich bej
einem unglaublichen Geträng des Volks über fünf Stunde verzogen , darbey dann auff die
jetzige Italiänische Application und Sprache aufifs beste musiciret worden/^ (Theatrum
Europaeum 5,806 a). In Wien und Regensburg baute 1651 und 1663 der Italiener
Bumacini Komödienhäuser (Sitzungsberichte der Wiener Akademie VI, 161. 1851).
**) Vgl. W. Brenchley Rye, England as seen by Foreigners in the Days of Elizabeth
and James the First, Lond. 1865. S. ai6.
1
Der Verfasser des deutschen Volksbuchs von den Heymonskindern. 167
Fährt man nur obenhin, man wird sich überschnellen.
Wie unsre voller Pracht, und in der hoheit steht,
Auch mit der Zierligkeit im rechten schritte geht,
So fleufst die andre fort, das sie oft überschreitet
Das mais\ und ihre leut* im reden auch verleitet:
Es kan nicht anders sein, geschwindigkdt die macht,
Das man in solcher hast nicht alles wolbedacht.
Auch die verenderung ist bey ihr nicht zuloben.
Die durch der fremden art noch keine sprach* erhoben :
Sonst ist sie lieblich, fein, und hübscher reden voll.
Spricht man sie nur recht aus, sie lautet treflich wol.*)
Berlin.
■•••-
Der Verfasser des deutschen Volksbuchs von den
Heymonskindern.
Von
Fridrich Pfaff.
Die beiden ältesten Drucke des deutschen Volksbuchs von den Heymons-
kindern a und ^**) haben auf dem Titel ganz gegen den Brauch
ähnlicher Romane eine Andeutung des Namens des Verfassers oder
Übersetzers: ^Allen Gottliebenden Christen zugefallen aufs dem Ni-||der
Teutschs in vnser gemein Teutschs vbergesetzt vnd in|!Truck ver-
fertigt durch P. V. D. AE**. Es ist hier ganz interessant schon im
Jahre 1604 vnser gemein Teutschs im Gegensatz zimi Nider
Teutschs gestellt zu sehen. Da aber die Heymonskinder als Volks-
buch eine ungeheure Verbreitung bei uns gefunden haben und heute
noch als eine der beliebtesten Geschichten ihrer Art gelten, ist es auch
nicht ganz unwichtig, wenn es gelingt den Verfasser wirklich festzustellen.
In meiner Reinoltausgabe habe ich bereits auf den Liedersammler
Paul von der Aelst hingewiesen, dessen 1602 zu Deventer erschienene
Liedersammlung mir aus Uhlands alten hoch- und niederdeutschen Volks-
liedern I, 2, 977 bekannt war. Durch Goedekes Grundriss, 2. Auflage,
n, 42 werde ich nun auf einen Aufsatz von Hofifmann von Fallersleben
*) Vgl. noch G. Krause, Ludwig Purst zu Anhalt-Cöthen und sein Land, 1877—79.
^ Collen 1604 und 1618* Vgl. Reinolt yon Montelban S. 549 f.
168 Fridrich Pfafil
hingewiesen, in welchem Pauls Liedersammlung eingehend besprochen ist."^)
Darnach war Paul von der Aelst ein Buchdrucker in Deventer, der Haupt-
stadt der holländischen Provinz Overijssel. Er besafs einige Bildung und
dichtete selbst. 1602 also gab er eine Liedersammlung heraus unter dem
Titel: „Bläm vnd Aufsbund Allerhandt Aufserlesener Weltlicher,
Züchtiger Lieder vnd Reimen"**). Nach der Vorrede stellte er
diese Lieder „sowol aus französischen als hoch- vnd uider-
teutschen Gesang- vnd Liederbüchlein" zusammen. Er arbeitete
die Lieder beliebig um und setzte am Ende einiger von ihnen „etliche
schöne Reime" hinzu, wie er selbst sagt. In diesen Schlufsstrophen
nennt er sich einige Male selbst, seinen Namen auf Fels reimend. So in
Nr. 10. Die Nummern 194, 178 und das Namenlied 15 (Pavlvs von
der Aelst) sind von Paul selbst gedichtet. Am Schlüsse der Vorrede
unterzeichnet er mit P. V. D. AE., genau so wie auf dem Titel der
Heymonskinder.
1602 gab er ebenfalls zu Deventer eine Übersetzung von Ovids Ars
amandi heraus. Am Schlüsse der Vorrede nennt er sich wieder
P. V. D. Ae. „Diese Buchstaben kommen auch noch S. 11, 109 und
III vor" sagt Hoffmann.
Es ist nach allem diesem kaum zweifelhaft, dafs Paul - von der Aelst
als der Verfasser des deutschen Volksbuchs von den Heymonskindem
angesehen werden mufs. Als Niederländer mufste Paul das zu Anfang
des 17. Jahrhunderts gewifs landläufige Volksbuch von den Heems-
kinderen kennen. Wie er zu der kölnischen Historie van sent
Reinolt***) kam, welche ihm neben der niederländischen Prosa als Quelle
gedient hat, ist freilich dunkel. Ebenso bleibt unklar, warum Paul seine
Bearbeitung der Heymonskinder nicht selbst druckte und verlegne.
Vielleicht stand er in persönlichen Beziehungen zu dem Kölner Drucker
Peter von Brache 1. Nachrichten über sein Leben, aufser dem wenigen
was Hoffmann bietet, habe ich nicht. Köln, die Stätte des Martertodes
des heiligen Reinolt, war freilich der beste Absatzort für das Buch. Oder
sollte die älteste Kölner Ausgabe von 1604 nur Nachdruck eines von
Paul selbst gedruckten und verlegten Originals sein? Dies ist nicht wahr-
scheinlich. Die niederländischen Eigendiümlichkeiten, die a noch auf-
weist f), deuten zu unmittelbar auf den niederländischen Verfasser und
das niederländische Original. Auch dafs a und ß noch die Anfangsbuch-
staben des Namens des Verfassers auf dem Titel tragen, spricht dafür,
diese beiden Drucke als rechtmäfsige Ausgaben und a als das Original
anzusehen; zudem werden wir durch das Druckjahr 1604 unmittelbar in
die Zeit von Pauls Thätigkeit versetzt. Nachrichten von irgend einem
*) Weimarisches Jahrbuch n (1855), 320 — 356.
*•) Ähnliche Titel sieh bei Goedeke, Grundr. 2 II, 341 im ersten Absatz.
•**) Herausgegeben von A. Rdfferscheid, Zeitschr. f. deutsche Phil. V. (1874), »71 bis
393' Vgl. darüber meinen Reinolt, S. 521 — 548 und 568 f.
t) Vgl. Reinolt, S. 559.
Der Verfasser des deutschen Volksbuchs von den Heymonskindern. 169
älteren Drucke fehlen gänzlich,*) ja der von 1604 scheint nur noch in
zwei Exemplaren, dem Dresdener und dem Wolfenbütteler, vorhanden
zu sein.
In unserm Volksbuch ist ein grofses Gewicht auf Reinolts Heiligen-
geschichte gelegt. In diesem Teile der Erzählung schliefst es sich genau
an die kölnische Historie an. Nun ist es gewöhnlich, dafs Neudrucke
solcher Heiligengeschichten bei Gelegenheit einer Säkularfeier des Heiligen
veranstaltet wurden. Bei den Heymonskindern ist jedoch nichts der Art
nachweisbar. Die Datirung von Reinolts Leben ist ja auch ganz unsicher.
Dafs der Mann, dessen Gebeine zuerst in Köln und dann in Dortmund
bis ins Ende des vorigen Jahrhunderts aufbewahrt wurden, den man den
heiligen Reinolt nennt, gelebt hat, ist ja wohl sicher; was diese jedoch
mit dem gleichnamigen sagenhaften Neffen eines fränkischen Fürsten Karl
zu thun gehabt, ist einstweilen noch unklar. Die erhaltenen Datierungen,
alle aus späterer Zeit stammend, weichen sehr stark von einander ab.
Um nur einige anzuführen, setzt die Koelhoffsche Chronik Reinolts
Tod in das Jahr 697**); das deutsche Volksbuch sagt genau (a 243):
„Solcher mordt geschähe in dem Jahr 810 den 4. May", die Über-
fOhrung nach Dortmund läfst es bereits den 7. Januar 811 (S. 244) ge-
schehn***), während andere Quellen sie mit dem heiligen Erzbischof Anno
(i I. Jahrhundert) in Verbindung bringen. Petrus Mersseus Cratepolius
endlich in seinem Electorum ecclesiasticorum . . . catalogus (Col. Agr.
1580. 8°) S. 79 sagt gar von Reinolt: „Fuit circiter annum Domini
1239", während Hugo Menard in seinem Martyrologium sanctorum
ordinis Divi Benedicti (Parisiis 1629, 8®) S. 174 ehrlich genug ist einzu-
gestehn: «Quis sit, et quando vixerit hie Reinaldus martyr
obscurum est** Ich werde demnächst über den heiligen Reinolt in
dieser Zeitschrift ausfuhrlich handeln und die Datierungsfrage zu klären
suchen. Unter der Menge von Jahreszahlen, die genannt werden, ist
jedoch keine, die sich mit dem Druckjahre von a 1604 in Beziehungen
bringen liefse.
In Köln war die Geschichte Reinolts, wie es scheint, bis auf eine
ganz dunkle Sage völlig verklungen, da erweckte sie das deutsche Volks-
buch zu neuem Leben. Was dem grofsen Prosaromane des Jheronimus
Rodler von 1535 nicht gelang, gelang dem anspruchslosen Büchlein des
Paul von der Aelst.f)
Freiburg i. Br.
*) Der Prosaroman von 1535, der von der fraiuösischen Prosa ahh&ngig ist, darf
nicht mit unserm Volksbuch verwechselt werden.
**) Die Chroniken der deutschen Städte, XIII, (Köln II), 399, 4.
***) a fuist an beiden Stellen auf der Historie, vgl. diese S. 289, 292.
f) Meine neue Ausgabe desselben ist bereits unter der Presse.
-••.-
170 W. U Holland.
Nachtrag zum Heiratsversprechen.
Von
W. L. Holland.
ZU der im ersten Hefte vorgelegten gelehrten Abhandlung von
M. Landau und zwar zu Seite 24, 25 derselben mag die Bemerkung
gestattet sein, dafs Franz Freiherr von Gaudy die dort mitgeteilte Ge-
schichte in seiner in die venetianischen NoveUen eingereihten Erzählung
„Frau Venus" verarbeitet hat
Tübingen,
BESPRECHUNGEN.
-•••-
Carriere, Moritz.: Die Kunst im Zu-
sammenhang der Kulturentwickelung
und die Ideale der Menschheit. 5. Band:
Das Weltalter des Geistes im Aufgange.
Dritte neu durchgesehene Auflage. Leipzig,
F. A. Brockhaus 1886. XXII, 734 S. 8».
Mit dem 5. Bande ist die 3. Auflage des
Carriereschen Werkes über die Kunst im
Zusanmienhange der Kulturentwickelung voll-
endet Die Veränderungen gegen die zweite
Auflage sind gering. Einige durch neue Ent-
deckungen und Forschungen nötig gemachte
Nachträge zum i. und 2. Bande über die
ägyptische und griechische Künsten t Wicklung
sind vorausgeschickt; neu hinzugekommen ist
im 5. Bande ein Abschnitt über das Erwachen
des Slaventums, dessen Kunst und Litteratur,
angetrieben durch eine nachhaltige nationale
Bewegung, in den Wettkampf der anderen
Kulturvölker Europas einzutreten strebt.
Urteile über bedeutsame Erscheinungen der
neuesten Zeit sind angefügt, ohne den früheren
Rahmen zu sprengen oder nur zu erweitern:
es ist das alte wohlbekannte Werk geblieben.
In frischer Jugend geplant, begonnen im besten
Mannesaiter, forderte dies Buch, das umfang-
reichste des Verfassers und neben der „Ästhe-
tik" sein Hauptwerk, eine Reihe von Jahren ;
als 1873 der Schlufsband zum ersten Male
erschien, betrachtete Carriere die Vollendung
eines so weit angelegten Werkes als eine
Gunst des Schicksals; aber mit seinem Dank-
gefühle mischte sich die Wehmut des einsamer
werdenden Alters. Seitdem hat der greise
Zttchr. f. vergl. Litt.-Gesch. I,.
Verfasser noch zwei Auflagen dieses Lebens-
werkes erlebt. Zu bekannt ist es nun, als
dafs wir über seinen Inhalt, seine Einrichtungen
ins Einzelne eingehend berichten sollten ; auch
abweichende Meinungen oder Wünsche zu
äussern wäre unthunlich einem Buche gegen-
über, das seit zwei Jahrzehnten wirkt, und
gegen einen Denker, der abgeschlossen hat.
Der Blick richtet sich von seinem Werke weg
auf den Verfasser selbst, dessen Eigenart es
uns lebendig darstellt.
Ein freundliches Schicksal hat ihm ver-
gönnt, sich auszuleben und in der thätigen
Ruhe eines gesegneten Alters die Früchte
seiner Arbeit in der stattlichen Reihe seiner
„Gesammelten Werke" vor sich und die
Nation gestellt zu sehen, der seine Arbeit
galt. Seine Begabung wies ihn auf die über-
schauende Darstellung geistiger Gedanken-
kreise, die in grofsen Zügen zeigen, wie gewisse
leitende Ideen durch eine Jahrhunderte lange
Entwicklung und weitverzweigte Lebens- und
Kunstgebiete sich hindurchziehen. Er besitzt
in hohem Grade die Kunst des in grofsen,
klaren, formenscharfen Linien ansteigenden
Aufbaues und verliert sich nirgends in Einzel-
heiten, die höchst anziehend an sich, doch
den Blick von der Überschau des Ganzen ab-
lenken. Oft übt er jene weise Beschränkung,
welche an Stellen abbricht und zusammen-
drängend sich kurz fafst, an denen verweilendes
Eindringen manchem nach persönlicherer
Kenntnis Verlangenden erwünscht wäre.
Selbstentsagend übt er sie auch dort, wo er
12
172
Besprechungen.
Ergebnisse eigner Forschung einzufügen hätte ;
deutscher Gelebrtengewohnheit zuwider läfst
er, durch keine persönliche Vorliebe verleitet,
nirgends Einzelheiten über die durch das Ganze
gesteckten Grenzen anschwellen. Desgleichen
stellt er nur dar, was als lebendig weiterwirken-
des Glied einer lebendigen Entwicklung sich zu
einem Ganzen fügt, und geht vorüber an dem,
das einzeln zerbröckelt, in sich abgeschlossen
für die Folgezeit tot ist. Einzelforschung ist
nicht sein Ziel in Werken, welche an dJe
wahrhaft Gebildeten unseres Volkes sich
wendend, nicht forschen, sondern darstellen
und darum auch wissenschaftliche Nachweise
bei Seite lassen. Dem Kundigen bleiben
gleichwohl die Quellen und Vorgänger, aus
denen der Verfasser dankbar schöpft, nicht
verborgen. Er sieht leicht, dafs auf genauer
Kenntnis der besten und neuesten Einzel -
forschungen in den einzelnen Lebens- und
Kunstgebieten sich sein Gesamtbau sicher
erhebt.
Carrieres Welt- und Kunstbetrachtung ruht
mit warmem Gefühl liebevoll auf dem idealen
Gehalt der Entwicklung, sein Urteil ist ruhig
und mafsvoll, überall auf den Kern der Per-
sonen und Erscheinungen gerichtet, und hält
mit mehr Liebe das Grofse und Bleibende fest,
als es das Fehlerhafte und Vergängliche mit
Schärfe verurteilt. Andere Kritiker und Ge-
schichtschreiber überragen ihn durch Tiefe,
Kraft und Strenge der Gedankenentwicklung,
durch psychologische Schärfe persönlicher
Beobachtungen, sein Vorzug ist die inniges
Gefuhlsverständnis mit gprofszügiger Ideeent-
wicklung verbindende, allseitig gerechte Dar-
stellung, die schartigen Urteilen aus dem Wege
geht und der heut vielberOhmten, eigensüch-
tigen Kunst, alte Erscheinungen um jeden Preis
neu, aber verzerrt zu zeigen. Alles Einseitige,
Übertriebene ist seinem nach Versöhnung
strebenden Wesen zuwider. Dasselbe friedlich
mafsvolle Wesen prägt sich in seinem Stil
aus, dessen rund rollende, langgezogene Sätze,
anziehend durch Ruhe des Tones, Weichheit
und Reinheit der Sprache ohne Ecken und
persönliche Eigenheiten hingleiten.
Es ist von besonderer Bedeutung, dafs
wir in einem der ersten Hefte dieser Zeit-
schrift Gelegenheit haben, auf Carriere hin-
zuweisen. Sein Buch von der Poesie enthält
im Anschluüs an ihr Wesen und ihre Formen
Grundzüge der vergleichenden Litterator-
geschichte, deren Ziele die Vorrede angiebt,
und die fünf Bände des Kunstbuches charak-
terisieren im Lichte der vergleichenden Litte-
raturbetrachtung die Meisterwerke der Poesie
bei den verschiedenen Völkern, in noch tieferer
Betrachtung, welche ihren Zusammenhang out
den letzten Fragen des Wissens und der
Kultur verfolgt. In wie nahen Beziehungen
diese Betrachtungsweise Carrieres, dessen
Augenmerk auf die junge Wissenschaft der
vergleichenden Litteraturgeschichte seit lange
gerichtet ist, zu den Zielen dieser Zeitschrift
steht, leuchtet ein. Sein Weg allerdings, der
ein über die Gipfel schreitender Gang ist,
weicht ab von den verschlungenen Pfaden
einer Zeitschrift, die es mit der Erforschung
des Einzelnen und Einzelnsten zu thun hat: sie
sucht auch die versteckten Thäler auf^ weil
von ihnen aus die Lage, Gröfse und Ver-
zweigung jener Gipfel klarer wird. Aber als
Ziel der Forschung, die sich im Einzelnen
leicht verliert, ist uns Carrieres Buch wert,
das in grofsen Umrissen den Bau vorzeichnet,
den auszuführen einem Späteren vergönnt sein
wird, wenn die Einzelforschung alle klaffenden
Lücken ausgefüllt und alle noch dunklen
Strecken durchmessen hat. Dies aller litterar-
historischen Arbeit gemeinsame Ziel nimmt
kühnen Geistes Carriere vorweg. So wenig
wir meinen, dafs durch diese vielfach mehr
ahnende als wissende Vorwegnahme die müh-
sam geduldige Einzelforschung bei Seite ge-
schoben sei, so sehr ist gerade hier zu betonen,
dafs neben der Erforschung des Besonderen
die Darstellung eines grofsen Ganzen, welche
die leitenden Ideen einer vielverzweigten Ent-
wicklung angiebt, auch wissenschaftlich ist,
sofern sie in wissenschaftlichem Geiste unter-
nommen wird und geistige Kraft in der
Verarbeitung des überquellenden Stoffes zeigL
Zu betonen ist gleicherweise, dais neben der
quellenmäfsigen Erforschung des Thatsäch-
liehen, welche für die vergleichende Betrach-
Besprecbungeü.
m
tung die Stoffe zusammenträgt, als letztes Ziel
jene Darstellung bestehen bleibt, wo neben
Pleifs und Gelehrsamkeit auch das ästhetische
Urteil sein Recht behauptet In diesem
Sinne kann Carrieres Darstellung als Muster
gelten.
In einer anderen Hinsicht noch berührt sich
das vorliegende Werk mit den Zielen dieser
Zeitschrift. Bin Werk, welches Litteratur und
Kunst behandelt im Zusammenhange mit der
gesamten Kulturentwicklung, mufs mehr, als
die „Ästhetik** und die „Poesie" das konn-
ten, den Zusammenhang der litterarischen Ent-
wicklung mit dem geschichtlichen Gange des
Volkslebens aufdecken. So miislich jene Be-
trachtungsweise ist, welche, die künstlerische
Form aufser Acht lassend, über Werke der
Kunst nach politischen Zeitstömungen von
aufsen her, meist ungerecht, aburteilt, so not-
wendig mufs doch neben der rein ästhetischen
Analyse jene, bisher ungebührlich vernach-
lässigte geschichtliche Betrachtung zu ihrem
Rechte kommen, der es darum zu thun ist,
die Entstehung der Kunstwerke aus dem
Zusanomenhang der Zeitumstände zu erklären,
und nachzuweisen, wie sie emporwachsen aus
den bewegenden Lebensfragen und sich be-
rühren mit allen Gebieten der Kulturentwick-
lung. Auch hierin darf Carrieres Buch als
Muster gelten. Gerechter als gewifse ein-
seitige Betrachter der modernen Entwicklung
wägt er den Anteil ab, den die politischen
Tagesströmungen, die herrschenden Wissen-
schaften und der materielle Fortschritt zur
Kunstentfaltung beisteuern. Aus dem Gange
der bisherigen Entwicklung, deren Grundlinien
er durch drei Hauptstufen, Natur, Gemüt und
Geist, fortschreiten läfst, gewinnt er das trost-
reiche Bild eines Emporganges der Mensch-
heit. Unser Zeitalter, in dem Grundlage und
Bedingung der Kunst die Wissenschaft ist,
wie es früher Mythologie und geoffenbarte
Religion waren, dessen weltgeschichtlicher
Charakterzug Naturbeherrschung durch die
Kraft des Geistes, dessen tonangebende Kunst
die Poesie ist, die Kunst des Geistes, dies
„Zeitalter des Geistes im Aufgang** hält er
hoffend und weissagend für bestimmt, aus
sich durch die Kämpfe des Realismus und
Idealismus in der Versöhnung von Bildung
und Christentum eine wissenschaftlich und
sittlich religiöse Weltanschauung zu erringen,
welche neue herrliche Werke der Kunst und
Dichtung, Blüten des Idealrealismus erzeugen
werde.
Rudolstadt. Fritz Koegel.
Dehlen, A.: Die Theorie des Aristo-
teles und die Tragödie der antiken,
christlichen, naturwissenschaftlichen
Weltanschauung. Göttingen, Vandenhoeck
& Ruprecht. 1885.
Der Verfasser leitet seine im Übrigen sorg-
fältig geführten und in würdiger Form gege-
benen Untersuchungen mit dem bedenklichen
Satz ein: „Es ist eine auffallende Thatsache,
da& seit Schillers Tod keinem Dichter eine
Tragödie gelungen ist, kein Kridker den
Wert oder den Erfolg einer Tragödie im
Voraus zu bestinunen vermocht hat** Er
deutet damit schon an, dals er aus dem
grofeen Kreise der Tragödien aller Zeiten
und Völker eine ganze Reihe ausscheidet,
weil sie in eine bestimmte ästhetisch-kritische
Formel nicht taugen, und läfst durchblicken,
dafs er selbst eine solche unter allen Umständen
stichhaltige Formel gefunden zu haben glaubt.
Diese Formel giebt ihm die bekannte Aristo-
telische Definition, deren richtige, bislang
aber noch nicht gefundene Deutung seines
Erachtens eine befriedigende Theorie der
Tragödie und folgeweise wieder eine wahre
Tragödie ins Leben rufen müfste. An der
Hand des Stagiriten gelangt er dann dazu,
den vielumfochtenen Satz von der Katharsis
in moderner Weise dahin zu umschreiben:
„Die Tragödie bringt zur Erscheinung die
Reinigung von Leidenschaften und durch
Identifikation bewirkt sie Solches auch bei
uns.** Man kann dieser Art der Auslegung
vollkommen zustimmen und doch der Ansicht
sein, dafs der Aristotelische Satz nicht aus-
reicht, um für die Tragödie so schlechtweg
die Regel aufzustellen, wie denn die Konse-
quenzen des Verfassers in vielen wichtigen
Fällen vor seiner Theorie mehr warnen, als
174
Besprechungen.
dafs sie ihm Recht gäben. Denn er f&hrt
zwar sehr richtig aus, dafs wir ^Mitleid und
Furcht** nur empfinden können, wenn wir unter
derselben Weltanschauung, wie der Held,
stehen, dafs also die griechische Tragödie
in ihrer vollen Wirkung mit der griechischen,
die christliche mit der christlichen Weltan-
schauung fällt; während er gleichwohl aber
mit Hülfe des Aristoteles «sius den verschie-
denen Weltanschauungen die Tragödie der
verschiedenen Zeiten konstruiert** (pag. 33)
und als oberste Forderung aufstellt, dafs in
der Tragödie selbst die Reinigung der Leiden-
schaften (seil, am oder im Helden) dargestellt
werde, gelangt er zu den anfechtbarsten
Schlüssen und Behauptungen, von denen hier
nur einige namhaft gemacht sein mögen.
Im Sophoklßischen Ajas findet nach Dehlen
die Katharsis nach dem Tode des Helden
statt und hat demnach „ein persönliches
Empfinden nach dem Tode zur Voraussetzung" ;
das Fürwort des Odysseus ist es, das die
Seele des Helden versöhnt. Im Egmont soll
die (wie Dehlen zugiebt, willkürliche)
Katharsis eine doppelte sein ; die des Menschen
(durch Ferdinand), die des Staatsmannes
(durch die Erscheinung Klärchens). Da wir
uns im Wallenstein nur auf die Seite der
Gesetze, nicht aber auf die des Helden, stellen
können, der diese Gesetze zertrümmert, eine
Identifikation mit ihm also unmöglich ist, hat
Schiller „mit seinem Wallenstein das Buch-
Drama inauguriert** und „das Konfliktsdrama
ist keine Tragödie.** In Kleists Käthchen
soll durch die für mein Gefühl das ganze
wundervolle Stück schändende kaiserliche
Abstammung der Heilbronnerin , im Prinzen
von Homburg durch den Somnambulismus
des Helden die Katharsis bewirkt sein (p. 64);
denn Käthchens Liebe müiste andernfalls an
dem Standesvorurteil (dem Gesetz) zu Grunde
gehen und Homburg verfiele, wäre er kein
Nachtwandler, ohne Gnade dem Gericht Hat
aber Kleist wirklich darauf des Prinzen
Begnadigung gebaut? Man lese das Stück
doch mit unbefangenen Augen I Endlich führt
Dehlen unter Benutzung der Darwinschen
Theorie für die Tragödie (daher das Titel wort
n naturwissenschaftliche Weltanschauung**) ans,
dais heutzutage die ^Faktoren der Bildung*
das Schicksal sind und dafs der moderne
Dichter weder einen völlig reifen und har-
monischen, noch einen völlig unfertigen und
bösen, sondern einen «labilen** Helden dar-
zustellen habe, dessen Harmonie gefilhrdet
wird. Es muis aber in der «Tragödie schliefs-
lich ein Sieg der guten Faktoren Qber die
schlechten stattfinden, der Held muis die
Harmonie im Guten erreichen.** Grofse Dichter
haben diesen naturwissenschaftlichen Werde-
Prozels voraus empfunden, ehe sie sein Gesetz
kannten, und Hamlet, Maria Stuart, Koriolan,
Karl Moor sind in seinem Sinne des Ver&ssers
Ideale, auch Posa (um seines für mein Gef&hl
ganz zwecklosen, unnotwendigen und uu-
tragischen Opfertodes willen), auch Wilhelm
Teil, für dessen Verhalten Dehlen das Zu-
sammentreffen mit Geisler auf dem schmalen
Felsgrat in ganz besonderer, leider aber ganz
unstichhaltiger Weise zum Motiv macht Es
fällt mir nicht ein, hier mit einem leichten
Wort an diesen grofsen Schöpfungen m
rütteln, und es soll dem Verfasser nicht
bestritten werden, dafs auf dem zuletzt von
ihm angedeuteten Wege die stärksten tragischen
Wirkungen erzielt werden können. Nur sind
sie gewiis nicht die einzig möglichen. Seiner
Theorie an dieser Stelle eine neue gegen-
überzustellen, wäre müisig. Wer sich über-
haupt mit diesen Fragen beschäftigt, wird
immer mehr zu der Ansicht kommen, dafs
das Gesetz nur langsam auf induktivem W^e
gewonnen werden kann und dais eine Formel,
die Dichter und Kritiker für alle Zeiten auf
den richtigen Weg weist, wahrscheinlich nie-
mals gefunden werden wirdi Aber dem
Fleiis und der Noblesse des Verfassers wird
man ebenso wenig die Anerkennung, wie
vielen seiner trefflichen Bemerkungen die
Zustimmung versagen.
Bremen. Heinrich Bulthaupt
Waldberg, Max, Freiherr von: Die
galante Lyrik. Beiträge zu ihrer Geschichte
und Charakteristik. Q. F. 56. Heft Straisburg,
Trübner 1885. IX. u. 152 S. 8»
1
Besprechungen.
175
Wer dieses Buch lediglich vom Standpunkt
der deutschen Litteratur-Geschichtsschreibung
aus betrachtet und seinen Wert, wie dies
jetzt meist geschieht, nur oder vornehmlich
nach der Masse des darin enthaltenen Materials
sowie der geschickten und übersichtlichen
Zusammenstellung desselben bemifst, wird
ihm zweifelsohne und mit Recht Lob spenden
und es als eine ebenso fleifsige als
methodische wie gut geschriebene Arbeit
bezeichnen. Auch wir gestehen dem Verfasser,
wenn wir seine Schrift blos von dieser Seite
beurteilen, gern und voll diese Anerkennung
zu. Aber zugleich drängt uns eine durch
reifliches Nachdenken und eigene wissen-
schaftliche Bethätigung gewonnene Über-
zeugung zu der Frage, ob der angegebene
nationale Standpunkt der richtige sei zur
Beurteilung eines solchen Stofif- Gebietes und
seiner Darstellung und ob der Mafsstab rein
fonneller litterarischer Kritik ausreiche bei
der Untersuchung einer so tief im Leben
wurzelnden künstlerischen Erscheinung. Wir
glauben diese Frage verneinen zu müssen
und wollen versuchen, in Kürze unsere Gründe
hierfür klarzulegen. Die streng philologische
und statistische Methode, welche zur Zeit den
Vorzug geniefst, bei den Litterarhistorikem
Mode zu sein, kann ohne Zweifel zu guten
und sicheren Ergebnissen führen, wo es sich
um Erscheinungen handelt, deren^kfinstlerische
Form an sich ein wesentliches und volles
Interesse fordern kann. Wo das aber nicht
der Fall ist, wie in dem vorliegenden Stoffe,
dessen Bedeutung für die Sittengeschichte
ungleich grösser ist als für die Litteratur-
Geschichte und Ästhetik, ist diese Ober-
herrschaft der Philologie nicht am Platze,
denn hieF mufs die Betrachtung von der
äusseren Form, von Sprache, Versbau, Reim
und Bild, zum Kern, zum Gedanken und
Gefühlsinhalt selbst durchdringen, um zu einer
klaren Anschauung und wissenschaftlichen histo-
rischen Erkenntnis zu gelangen. Die Art und
Weise der wissenschaftlichen Behandlung
muis im Einklang stehen mit Wesen und
Charakter des zu behandelnden Stoffes und
der Geschichtsschreiber demgemäfs je nach
Umständen sein Augenmerk mehr der Form
oder dem Inhalt der Dichtungen einer Epoche
zuwenden. So wird man z. B. bei den Dichtem
der französischen Plejade, sowie bei Opitz
und seinen Getreuen stets in erster Linie das
formale Moment zu beachten und zu würdigen
haben, denn diesen Männern war die Kunst-
form ein wesentlicher Zweck, wogegen man
bei den Vertretern der französischen Salon-
und Boudoir-Poesie und unserer sogenannten
galanten Dichtung, denen die Form nur Mittel
war, vor allem den Inhalt, ihre Welt- und
Lebens -Anschauung, ihre psychologischen An-
sichten und ihre Empfindungsweise in Betracht
zu ziehen hat; denn darin ruht ihr Anteil an
der Geistesgeschichte der Menschheit. Und
Geistesgeschichte, nicht blos Formenhistorie,
soll die Litteraturgeschichte sein.
Eben darum aber, weil dieser Abschnitt
der Litteraturgeschichte in der Gesammtent-
wickelung nicht die Bedeutung einer muster-
gebenden, vorbildlichen Epoche hat, sondern
wesentlich nur als Umgestaltung und Ver-
bildung einer gemeineuropäischen Formen-
welt sich darstellt, mufs auch die litterar-
historische Behandlung eine durchaus ver-
gleichende, allgemeine und den Zustand aller
gleichzeitigen europäischen Litteraturen in
Betracht ziehende sein. Nur auf diese Weise
kann das Wesen der galanten Poesie, ihre
Bedeutung und Stellung in der allgemeinen
wie in der nationalen Litteraturgeschichte
richtig erkannt werden', denn sie ist nichts
anderes, als eine Erscheinungsform jener
grossen europäischen Stilkrankheit, welche
in Italien als Marinismus, in Spanien als Gon-
gorismus, in England als Euphuismus und
in Frankreich als Preziosität bekannt ist.
Waldberg hat versucht, sich auf diesen
Standpunkt zu stellen und aus der franzö-
sischen und italienischen Litteratur auch Einiges
zur Erläuterung beigebracht, so z. B. die
hübsche Darleg^ung des wesentlichsten Unter-
schiedes zwischen der französischen Boudoir-
Poesie und der galanten Lyrik der Deutschen,
den er sehr richtig darin findet, dais dem
Franzosen, dank der gesellschaftlichen Ver-
hältnisse zumeist doch ein leibhaftiges Objekt
176
Be8prechuns;eii.
für seine Liebesklage vor Augen stand)
während bei dem Deutschen gewöhnlich auch
der besungene Gegenstand ein blosses Spiel-
werk der Phantasie war, so femer die feine
Bemerkung über das Fehlen des bei den
Franzosen sehr häufigen Eifersuchtsmotiv in
unserer galanten Lyrik und der Hinweis auf
den groisen Einflufs des Ren^ Le Pays (1634
bis 1690), einer von Boileau (Satire m) ver-
spotteten Provinz-Dichtergrösse; doch ist die
Heranziehung fremder Litteraturwerke seitens
des Verfassers — namentlich mflssten von
Franzosen Maynard und Gombault, von den
Italienern Marini und Achillini in den Kreis
der Betrachtung gezogen werden — nicht
ausreichend, um ein richtiges Urteil über den
Anteil der fremdländischen Dichtungen und
des heimischen Geisteslebens an der „galanten
Lyrik** zu ermöglichen. Dabei laufen dem
Verfasser, wo er mit der ihm weniger bekannten
französischen Litteratur zu thun hat, einige
Unrichtigkeiten unter, die wir im Interesse
der Sache uns zu verbessern erlauben wollen,
ohne deshalb dem sonst von grofser Sorg-
falt und Genauigkeit zeugenden Buche einen
besonders schweren Vorwurf machen zu wollen.
Die Gattin des Marquis de Rambouillet heisst
Catherine de Vivonne, nicht de Vivon (p. 5),
deren Tochter Julie-Lucine, nicht Luden (p. 63).
Ganz ungenau ist die Bemerkung aber den
«Mercure galant** und völlig falsch die in der
Fufsnote versuchte Erläuterung (p. 7). Diese
berühmte Zeitschrift wurde 1 671 von Donneau
de Vize begründet, verschwand während der
Jahre 1675 und 1676 vom litterarischen BAarkte
und nahm 1677 den Titel „Nouveau Mercure
galant** an, unter dem sie bis zum Jahre 1724
fortlebte. Ebenso unrichtig imd zudem irre-
leitend ist in ihrer Allgemeinheit die Bemerkung,
die galanten Poeten oder besser gesagt das
Hotel de Rambouillet sei es gewesen, das
dem am Beginne des Jahrhunderts verbreiteten
Gongorismus und Marinismus mit aller Macht
zu verdrängen suchte. Dieser Salon, in dem
Marini, der 16 15 nach Paris gekommen war,
persönlich verkehrte, war es vielmehr, von
dem aus sich der Geschmack an überfeiner
und gezierter Redeweise weiter verbreitete.
Das Hotel de Rambouillet ist sogar recht
eigentlich der Seuchenherd des Marinismus
in Frankreich und es verliert um eben die-
selbe Zeit an Bedeutung und Einflufs, als
dieser Stil sich überlebt hatte. Den Antrieb
zu dieser Wandelung der Mode gab aber nicht
der seit der Mitte der vierziger Jahre mehr
und mehr seine Herrscherstellung einbüfsende
Schöngeister -Kreis der berühmten „chambre
bleue,** sondern der Hof des Sonnenkönigs.
Wie hierin, so verrät sich auch in der
Behauptung „die Schilderung der Frauen-
Schönheit, aufgelöst in die genaueste Be-
schreibung der einzelnen Körperteile** sei
eine Errungenschaft der galanten Dichtung,
eine für die Behandlung dieser Litteratur-
Epoche unzureichende Kenntnis der franzö-
sischen Litteratur. Solche Beschreibungen
des weiblichen Körpers in der Form bald
schildernder, bald witzelnder Aufzählung der
einzelnen Reize sind in Frankreich schon seit
dem Ende des 15. Jahrhunderts bekamit und
seit Clement Marots „Blason du beau tetin"
(1534) sehr im Schwange. Maurice Sceve,
Myelin de Saint-Gelais, Estienne Forcadel,
Bonaventure des Furiers und viele andere
schrieben damals solche anatomisirende
Gedichte. Da gab es: blason du sourcil, des
cheveux, de la cuisse, blason de la femme,
blason des dames selon les pays, blason des
cinq contentements en amours und schon um
1550 konnte ein später weitverbreitetes
Sammelwerk „blasons anatomiques du corps
feminin** erscheinen. Und welcher Art diese
Schilderungen waren, das besagt uns deutlich
Gilles Corrozet (15 10 — 1568) in seinem
Gedichte „contre les blasonneurs des
membres*"* (1539), aus dem wir folgende
Stellen herausheben:
L^un s'entremect de descripre un tetin
Et Taultre un ventre aussi blanc que satin ;
L*un peinct les yeulx, Taultre les cheveuz
blondz,
L^aultre le nez, Taultre les genoulx rondz;
Mais plus cela tend ä concupiscence
Qu^ä demonstrer de beaulte Texcellence.
Les noms sont beaulx qu'approbria nature
Besprechungen.
177
Aux membres bas de toute creature;
Mais blasonner ces membres veneriques
Les exaltant alnsi que d^ffiques,
C'est une crreur et unc ydolatrie
De quoy la terre ä Dieu vengeance crie."
Diese in Einzeldrucken und Sammlungen
oft aufgelegten erotischen Beschreibungen sind
Quelle und Vorbild filr die verschiedenen
^Jungfern -Anatomien** unserer Litteratur.
Im zweiten Kapitel seines überaus klar
und übersichtlich geordneten Buches zieht
Waldberg einen Vergleich zwischen der
galanten Poesie und der Minnedichtung. Zu
diesem Vergleich glaubt er sich berechtigt,
weil die beiden litterarischen Epochen die
gleichen gesellschaftlichen Voraussetzungen
haben und die Dichtung in beiden Perioden
wesentlich Konversationspoesie sei. Obwohl
wir nun dies ohne Weiteres zugestehen wollen,
müssen wir doch gegen diese Gegenüber-
Stellung als Einwand erheben, dafs das
Geistes- und Seelenleben des Mittelalters
denn doch wesentlich verschieden ist von
dem des 17. Jahrhunderts und dafs selbst in
der Konversationspoesie, zumal der des
Mittelalters, der Zug dieses Zeitgeistes sich
so fühlbar macht, dafs man vor einer näheren
Vergleichung sich hüten sollte. Ritterdienst
und Galanterie verhalten sich zu einander
wie Wahrheit und Schein, der erstere beruht
auf voller Achtung des Weibes, die letztere ist
nur Surrogat für diese Achtung. Wenn nun
vollends der Verfasser die Verwandtschaft
der beiden Epochen durch die Gemeinsamkeit
gewisser poetischer Motive und Bilder zu
erhärten versucht, vermögen wir. ihm nicht
mehr zuzustimmen. Die meisten der pagina
53 — 61 angeführten Metaphern, Vergleiche u.
s. w. sind poetisches Gemeingut aller Zeiten
und Völker und finden sich beispielsweise
bei den Anakreontikem gerade so wie bei
den galanten Dichtem. Sie stammen aller-
dings zum grossen Teil aus der poetischen
Schatzkammer des Mittelalters, aber sie sind
von der Troubadour- und Minne -Dichtung
nicht unmittelbar auf die galante L3rrik über-
gegangen, sondern dieser als ein altes Erbe
von Petrarca und der Renaissance-Poesie zu
eigen geworden. Datnit ist auch ein erster
und gewichtiger Einwurf erhoben gegen die
in der Vorrede mitgeteilte und verfochtene
Meinung Scherers: die Kenntnifs und der
Finflufs der mittelhochdeutschen Litteratur im
17. Jahrhundert sei tiefer gewesen, als man
bisher anzunehmen geneigt war; jedenfalls
müssen zur Stützung dieser These stärkere
Beweise erbracht werden als Entlehnungen
aus der allgemeinen poetischen Bildersprache.
Zum Schlufs freuen wir uns, bestätigen
zu können, dafs der Verfasser in seinem Buche
so viele Bausteine zur deutschen Litteratur-
Geschichte mit Fleifs und Geschick aus dem
wenig bekannten Gebiete der galanten
Dichtung zusammengetragen und geordnet hat,
dafs seine Schrift immer eine wertvolle Fund-
grube bleiben und künftigen, weiter aus-
greifenden Darstellern dieser Epoche von
grossem Nutzen sein wird.
München. Heinrich Welti.
Söderhjelnii W.: Petrarca in der deut-
schen Dichtung. Abdruck aus „Acta socie-
tatis scientiarum Fennicae, tom. XV." Helsing-
fors, Druckerei der finnischen Litteraturgesell-
schaft, 1 886. 44 Seiten 4^
Schon in seiner ersten, vor zwei Jahren
in schwedischer Sprache erschienenen Schrift
bewegte sich Werner Söderhjelm auf dem
Gebiete der vergleichenden Litteraturge-
schichte: er untersuchte die Lustspiele Johann
Elias Schlegels vorwiegend nach ihren Be-
ziehungen zur ausländischen (fiimzösischen,
englischen, dänischen) Dichtung und förderte
dabei im einzelnen manches schätzbare Er-
gebnis zu Tage. Einen ähnlichen Charakter
trägt seine neueste Abhandlung über die Nach-
bildungen und Uebersetzungen Petrarcas in
der deutschen Litteratur. Söderhjelm, der sich
auch hier wieder als tüchtigen Kenner der-
selben bewährt, verzeichnet kurz die Versuche
jener Art aus älterer Zeit, verweilt etwas
länger bei Meinhard und den durch ihn her-
vorgerufenen Beschäftigungen anderer Ver-
fasser mit Petrarca und betrachtet endlich
sorgfältig August Wilhelm Schlegels Über-
setzungen aus dem italienischen Lyriker, die
178
Besprechungen.
beiden Formen derselben (in Musenalmanachen
und Taschenbüchern 1 790 — 1 795 und in den
,,Blumensträussen der italienischen, spanischen
und portugiesischen Poesie** 1804) Stück für
Stück kritisch mit einander vergleichend.
Neben der philologischen Genauigkeit Söder-
hjelms beweist dieser Teil der Untersuchung
namentlich sein für einen Ausländer Staunens*
wertes feines Verständnis der deutschen Dichter-
sprache, wie andererseits die fliessende, un*
gerwungene und bis auf ganz wenige Kleinig-
keiten sprachlich reine Darstellung die Ge-
wandtheit des Verfassers in der Behandlung
des deutschen Ausdrucks zeigt. Zur sachlichen
Ergänzung der Arbeit ist zu bemerken, dass
auch in dem Jahrhundert von etwa 1660 bis
1763, in welchem nach Söderhjelm die Er-
innerung an Petrarca den deutschen Dichtem
ganz entschwunden sein soll, wenigstens sein
Name dann und wann genannt, sein Verhält-
nis zu Laura hie und da erwähnt wird; die
bekannteste Äusserung aus dieser Zeit ist die
Ode des jungen Klopstock „Petrarcha und
Laura,** womit einige Anspielungen auf das-
selbe Thema in gleichzeitigen Briefen Klop-
stocks und in der Elegie auf die künftige
Geliebte in Zusammenhang zu bringen sind.
Schliesslich sei noch der Irrtum Söderhjelms
berichtigt, als ob die Geschichte Boccaccios
in der deutschen Litteratur durch die Auf-
zählung einiger Uebersetzungen nahezu er-
schöpft wäre (S. 1). Allein schon das Beispiel
des Hans Sachs, auf dessen dramatische
Dichtung kein ausländischer Schriftsteller be-
deutender und vorteilhafter eingewirkt hat
als Boccaccio, beweist die Irrigkeit dieser
Ansicht.
Bayreuth. Franz Muncker.
Gufithner, Engelbert : C a 1 d e r o n s D r a m e n
aus der spanischen Geschichte, mit
einer Einleitung über das Leben und die
Werke des Dichters. Programm des Königl.
Gymnasiums in Rottweil. 1885.
Der Verfasser wollte in dieser Schrift,
zu der, wie zu so vielen andern, die Feier
von Calderons zweihundertjährigem Todes-
tage die Anregung gab, ursprünglich die
sämtlichen geschichtlichen Dramen des Dich-
ters behandeln, äussere Rücksichten veran-
lassten ihn jedoch, sich auf „die anerkannt
vorzüglichen Schauspiele aus der spanischen
Geschichte** zu beschränken. Es war zunächst
sehr fraglich, ob die nach F. W. V. Schmidts
Vorgange („Die Schauspiele Calderons**) in
dieser Gruppe einbegriffenen zehn Stücke
einen fruchtbaren Gesichtspunkt für eine
zusammenfassende Besprechung darbieten
würden. „Der Arzt seiner Ehre** und die
„Belagerung von Breda,** der „Richter von
Zalamea** und „Luis Perez der Galicier'*
berühren sich nur in dem rein äusserlichen
Punkte, dass in]^ihnen geschichtliche Personen
aufbreten oder auf geschichtliche Ereignisse
hingedeutet wird. Die hohe künstlerische
Bedeutung, die diese Dramen grosseoteils
auszeichnet, kommt ihnen nicht zu in ihrer
Eigenschaft als dramatische Gestaltungen
historischer Vorgänge, sondern beruht auf
anderen, hiervon völlig unabhängigen Ur-
sachen. Im historischen Drama reicht Calderon
nicht entfernt an Lope de V^;a heran, ja
er wird bisweilen selbst von minder grossen
Dichtern, wie Guillen de Castro, übertroffen,
welcher in dem Schlussakte seiner „Jugend-
thaten des Cid** einen öffentlichen Zweikampf
unendlich wirksamer dramatisch zu verwertoi
wusste, als dies unserm Dichter in dem „letzten
öffentlichen Zweikampf in Spanien*' gelang:
dieser giebt den blossen äussern Vorgang
mit Genauigkeit wieder, jener verwandelt ihn
in dramatische Handlung, indem er ihn schil-
dert in den Reflexen, welche die Wechsel-
fälle des Kampfes in den Gemütern der Zu-
schauer werfen, in den widersprechenden
Empfindungen, mit denen man auf beiden
Seiten dessen Gang begleitet.
Das historische Element ist in den von
Günthner behandelten Stücken beinahe aus-
schliesslich episodischer Art. Die Könige,
die in eine hochgesteigerte Verwicklung
schlichtend eingreifen oder das Richtschwert
der Vergeltung fahren, sind in ihrer Rolle
eines Gottes aus der Maschine eigentlich nor
für die Schlussentwicklung von Wichtigkeit,
die historischen Ereignisse, welche in das
Besprechungen.
179
Drama hereingezogen werden, sollen oft genug
bloss die ausserordentlichen Zustände erklären
helfen, in welchen sich allein die romantische,
aus dem Alltäglichen heraustretende Begeben-
heit abspielen konnte. In zwei Werken:
„Gefallen und Misfallen beruht nur in der
Einbildung'* und „Wohl und Weh kennen",
ist allerdings ein spanischer Fürst in stärkerem
Mafse an der Handlung beteiligt. Allein
beide sind die Dramatisirungen blosser histo-
rischer Anekdoten, und gerade das Anekdo-
tische bat Calderon an diesen Stoffen gelockt.
Der einzige Unterschied von zahlreichen andern,
ähnliche Probleme behandelnden Dramen, die
meist auch unter der Bezeichnung von hero-
ischen oder romantischen Schauspielen gehen,
besteht darin, dass die Personen keine fremd-
ländischen oder erdichteten Namen, sondern
solche aus der nationalen Geschichte tragen.
Nirgends jedoch geht der Dichter darauf aus,
den historischen Gehalt der Stoffe herauszu-
arbeiten, Charaktere, Gesinnungen, Zustände
und Ereig^nisse einer vergangenen Epoche uns
nahe zu bringen. Das Historische ist so bei-
läufig und obenhin behandelt, so ganz allge-
mein gehalten, dass man wenig mehr als die
Namen abzuändern hätte, damit die Hand-
lung in Italien oder sonstwo spielen könnte.
„Lieben bis über den Tod hinaus," dem der
Moriskenaufetand unter Philipp II. den Stoff
lieferte, lässt sich in seinem Beg^inne noch
am meisten wie ein historisches Drama grossen
Stiles an : wenn auch erst eine Privatstreitig-
keit den Ausbruch der Empörung bewirkt,
so bildet sie doch bloss deren nächsten An-
lass, nicht deren letzten Beweggrund. Über-
dies atmen einzelne Reden das energische
Pathos einer unterdrückten und in politischer
wie in religiöser Hinsicht geknechteten Nation,
während Calderon sonst beinahe immer sich
begnügt mit dem Ausmalen rein persönlicher
Verhältnisse und der spitzfindigen Dialektik
der mancherlei Konfliktslagen, durch welche
dieselben gestört erscheinen. Mehr und mehr
jedoch tritt auch in diesem Stücke das poli-
tische Moment zurück, und in dem letzten
Akte konzentriert sich das ganze Interesse
auf die herrliche Gestalt des ritterlichen Tuzani
und die kühn durchgeführte Rache, welche
er für die heilsgeliebte Gattin an deren Mörder
nimmt. Dauernd im Vordergrund stehen histo-
rische Personen und Ereignisse eigentlich nur
in einem Werke — und dies ist das auf
höhern Befehl angefertigte Gelegenheitsstück
„Die Belagerung von Breda." Wir brauchen
in betreff desselben bloss anzuführen, dass
noch Niemand hier poetische Eigenschaften
hat suchen wollen, und dass der Dichter selber
sich zu der entschuldigenden Erklärung ver-
anlasst sah, dass er unter dem Zwange der
vielen Vorschriften sich nicht mehr habe zeigen
können.
Es geht aus dem Gesagten klar hervor,
dass Calderon als dramatischer Bearbeiter
seiner Landesgeschichte einen möglichst un-
glücklich gewählten Stoff für eine Einzel-
behandlung darstellen musste, und dass auch
die gedachten zehn Schauspiele am wenigsten
geeignet waren, uns Anschlüsse über das
Wesen des nationalgeschichtlichen Dramas
bei den Spaniern zu gewähren — das, was
wir unter dem Begriffe historisches Drama
verstehen, existiert eben bei Calderon gar
nicht — und eine solche Annahme schien
doch der Titel der Schrift zu rechtfertigen.
Aber auch nicht einmal für eine blofs ästhe-
tisierende Betrachtungsweise, welche Calderons
Eigenart als Dramatiker oder eine bestimmte
Seite seines dichterischen Schaffens schärfer
zu erkennen gesucht hätte, konnten die hier-
hergehörigen Werke sich günstig erweisen.
Dem stand entgegen, dass ein rein zufälliger
Umstand ihre Wahl bestimmt hatte, und dass
sie, so wesentlich verschieden sie ihrem inner-
sten Kerne nach sind, einzelne besonders
wichtige Seiten von Calderons dichterischem
Charakter gar nicht einmal erkennen lassen.
Grosse Ausbeute wird man nach alledem von
GünthnersSchrift nicht haben erwarten können —
sie brauchte darum aber doch nicht so völlig
ergebnislos zu sein, wie sie es thatsächlich
ist. Der Verfasser hat sich nämlich damit
begnügt, das, was andere vor ihm gesagt,
zusammenzustellen, zu verschmelzen und zu
erweitern; das, was er von seinem Eigenen
geliefert hat, ist verschwindend wenig.
180
Besprechungen.
Am dankenswertesten ist noch das voraus-
g^eschickte Leben des Dichters, in welchem
unter Benutzung der neuesten spanischen
Forschungen etliche Berichtigungen und Zu-
sätze zu den Darstellungen, wie wir sie in
den gangbaren Werken finden, gegeben werden.
Demnächst folgt, grossenteils in engem An-
schlüsse an V. Schmidt, eine Klassifikation
und Aufzählung der io8 weltlichen Bühnen-
stücke, dazu knappe Bemerkungen stofflicher,
ästhetischer, historischer und bibliographischer
Art. Wem mit diesem Abschnitte gedient sein
soll, ist nicht einzusehen. Der mit Calderon
Unbekannte — und für diesen scheint doch
in erster Linie eine orientierende Einleitung
bestimmt zu sein — wird aus dieser unüber-
sehbaren Menge von Komödientiteln doch nur
die sprüchwörtliche Fruchtbarkeit und Viel-
seitigkeit ihres Verfassers entnehmen können.
Mehr hätte es sich für die Bedürfnisse solcher
Leser sicherlich empfohlen, eine allgemeine
Charakteristik des spanischen Dramas, und
insbesondere Calderons, vorauszuschicken, so-
wie zu entwickeln, welche Stelle er in der
Geschichte desselben einnimmt, wobei die
Eigentümlichkeiten der Hauptgattungen seiner
Dramen sich bequem hätten zur Sprache bringen
lassen. Geschickter erscheint uns das bei
den geistlichen Festspielen eingeschlagene
Verfahren. Nach etlichen allgemeinen Sätzen
giebt uns der Verlasser die Analyse des
„göttlichen Orpheus*^ mit Einfügung kleiner
Bruchstücke, die wir gerne gröfser und zahl-
reicher gesehen hätten, und klärt uns dadurch
über das Wesen der Autos fraglos besser
auf als durch die Aneinanderreihung noch so
vieler Titel und buntscheckigen Notizen. Nun
etwa eine Seite Vorbemerkungen über die
Dramen aus der spanischen Geschichte im
Ganzen, zur Hälfte aus wörtlichen Anfüh-
rungen, zur Hälfte aus freien Umschreibungen
einzelner Stellen aus vSchacks und V. Schmidts
grossen Werken bestehend. Alsdann folgt
eine Wiedergabe des Inhaltes der einzelnen
Stücke, oder genauer, eine Paraphrase der
Schmidtschen Analysen, aus denen Worte
und Wendungen, ja ganze Sätze herüberge-
nomroen werden. Auch jede sonstwie ver-
wertbare Bemerkung Schmidts hat ein ähn-
liches Schicksal gehabt Statt unzähliger
Beispiele, die wir anführen könnten, hier
aufs Geratewohl zwei, welche ims die „Bela-
gerung von Breda^^ liefern möge:
Schmidt: S. 198.
Spanisches Lager. Die Holländer nahen.
Spinola giebt den gemessenen Befehl, kein
Soldat solle seinen Posten verlassen und
gegen den Feind fechten. Nur die an-
gegriffene Schanze darf sich verteidigen.
Die Italiener werden von den Holländern
angegrifiOfen und weichen anfangs. Un-
geduld und Sehnsucht nach Kampf bei den
Spaniern. Cordova erinnert sie:
Der Gehorsam
Legt im Felde dem Soldaten
An die allerstärkste Fessel.
Grossem Ruhm und grossem Namen
Als mit Mut den Wall erstürmen
Bringt es, willig sich zu beugen.
Der Italiener Roma stellt die Ordnung
bei seinen Landsleuten wieder her, die
Holländer weichen und das Unternehmen
des Heinrich von Nassau ist gescheitert.
Er zieht sich zurück und lälst dem Gou-
verneur von Breda sagen, er solle kapi-
tulieren.
Günthner: S. 40.
Das holländische Heer, 30,000 Mann
stark, rückt heran und greift die Ver-
schanzungen der Italiener an, welche an-
fangs zurückweichen. So sehr die Spanier
vor Begierde brennen, sich in den Kampf
zu stürzen: der streng^ Befehl Espinolas,
kein Soldat dürfe seinen Posten verlassen
und nur die angegriffene Schanze sich ver-
teidigen, hält sie zurück. „Der Gehorsam,
so ruft Gonzalo dem kampflustigen Alonso
zu, legt im Felde dem Soldaten an die
allerstärkste Fessel. Grossem Ruhm und
grossem Namen, als mit Mut den Wall
erstürmen, bringt es, willig sich zu beugen*^
Endlich stellt der Italiener Carlos Roma
die Ordnung unter den Italienern wieder
her, die Holländer weichen und damit ist
auch Heinrichs Plan, der Entsatz Bredas,
gescheitert. Er zieht sich zurillck und ruft
Besprechungen.
181
dem Gouverneur Bredas zu, die Festung
zu Übergeben.
Schmidt: S. 199.
Hier mufs Spinola den Spaniern den
plumpsten Lobspruch erteilen, der je einer
Nation ins Gesicht gesagt worden. . . .
Sehr auffallend ist das angesponnene Lie-
besverhältnis, dessen nachher gar nicht
weiter Erwähnung geschieht: ein Fehler,
dessen sich Calderon sonst nie schuldig
gemacht bat.
Gfinthner: S. 42.
.... den plumpen Lobspruch, den
Spinola der spanischen Nation erteilt ....
und endlich den angefangenen, aber nicht
zu Ende geführten Liebesroman der Flora
und des Don Fadrique: ein Fehler, dessen
sich sonst Calderon nie schuldig gemacht hat.
Nach Schmidt werden am öftesten Schack,
dann die Verfasser einzelner Monographien,
schliesslich die französischen und deutschen
Übersetzer herangezogen, jedoch, wie wir
nicht unterlassen wollen hervorzuheben, unter
gewissenhafter AnfÜhrungder benutzten Stellen;
am freiesten steht noch der Verßisser seinen
Vorgängern in der Besprechung des „Richters
von Zalamea" gegenüber, die weit umfang-
reicher als die Übrigen ausgefallen ist und
auch weniger an der Oberfläche haftet Nir-
gends finden wir neue Gesichtspunkte oder
auch nur neue Forschungen, wo solche doch
öfters geboten waren. Schmidt hatte für eine
Rede der Flora auf die „Numancia^^ des Cer-
vantes als ein Vorbild für die „Belagerung
von Breda** verwiesen. Statt, was nicht schwer
gewesen, weitere Belege hierfür beizubringen,
geht Gfinthner auf die Frage der Nachahmung gar
nicht ein. Beiläufig erscheint uns unberechtigt
das Lob, welches Verfasser der Schilderung
der Stadt Breda und der Belagerungswerke
durch Spinola — in dem ebengenannten
Stücke — spendet. Und doch ist sie die
reinste Prosa und mutet uns an wie der in
Verse gesetzte Artikel eines geographischen
oder militärgeschichtlichen Lexikons. £s
fällt uns schwer, den grofsen Feldherrn
uns zu denken, wie er, obendrein vor
dem als kriegskundig bezeichneten polnischen
Prinzen, seinen Vortrag damit eröffnet, dass
Breda in den Niederlanden und auf dem 5 1 ^
nördlicher Breite liege. Es unterliegt für uns
keinem Zweifel, dass dieser lange Bericht
einem bestimmten praktischen Zwecke dienen
sollte: entweder galt es, Massregeln des Be-
lagerungsheeres, die eine Kritik erfahren
hatten, durch genaueste Darlegung des Sach-
verhaltes zu rechtfertigen, oder auch nur das
Verdienst derselben möglichst glänzend er-
scheinen zu lassen. Aber wir sind hier tausend
und tausend Meilen entfernt von aller Poesie.
Auch in betreff der Ausdehnung der ein-
zelnen Analysen wird man schwerlich mit
dem Verfasser einverstanden sein. Werke,
die, wie „die Belagerung von Breda,** in
Deutschland so gut wie unbekannt sind, ver-
langten eine weit ausführlichere Wiedergabe,
während bei mehrfach übersetzten und be-
sprochenen Dramen ohne Schaden für die
Sache gröfsere Knappheit hätte walten können.
„Luis Perez der Galicier", der durch eine
Komplikation der Verhältnisse zum Räuber-
hauptmann gewordene Ehrenmann, der wegen
mancher Charakterzüge, welche ihm mit Götz
von Berlichingen gemein sind, uns Deutsche
eigenthfimlich vertraut anmutet, ist mit einer
Inhaltsangabe von wenigen Zeilen bedacht
worden — Schmidt hat überhaupt keine
solche — während dies merkwürdige Drama
eine eingehende und sorgfältige Würdigung
verdient hätte. Der Mangel an dramatischer
Einheit, den Verfasser mit Schmidt auszustellen
hat, bietet keine genügende Entschuldigung
dar. Überdies ist dieser Vorwurf gar nicht
einmal begründet. Diese Reihe von Szenen
und Situationen aus dem Leben des Luis
Perez entwickelt sich mit Notwendigkeit
und ist aufserdem unerläfslich, um den Cha-
rakter des Helden allseitig klar zu legen.
Ein Mann von diesem ausgesprochenen Rechts-
und Ehrgefühl, das überdies durch spanische
Anschauungen eine ganz eigene Richtung
erhält, wird sich immer Lagen wie die dar-
gestellten schaffen ; wenn nun der Dichter die
Situationen häufte oder zuspitzte, so machte
er nur von einem ihm zustehenden Rechte Ge-
brauch, das keine Kritik ihm verkömmern darf.
182
Besprechungen.
Aulfallenderweise werden die Anspielungen
auf die Zeitgeschichte, die wir in den mytho-
logischen Festspielen und sonst gelegentlich
finden, sowie andere Beziehungen, die eine
Verwandtschaft mit dem Thema unserer Arbeit
darbieten — man hat z. B. in den ,, Locken Ab-
salons** eine Rechtfertigfung des Verhaltens
von Philipp II. gegen seinen Sohn Don Carlos er-
blicken wollen — von Günthner gar nicht berQhrt.
Dieser Punkt mufste, sei es auch nur bei-
läufig in der allgemeinen oder der speziellen
Einleitung, auf jeden Fall erörtert und unter
Bezugnahme auf die bis jetzt vorgebrachten
Meinungen beistimmend oder ablehnend zu
diesen Stellung genommen werden.
Das Feld der spanischen Litteratur-
Geschichte wird in Deutschland nicht so
eifrig bebaut, dafs wir Jemanden, der, wie
der Verfasser, Fleifs, Gewissenhaftigkeit und
Liebe zur Sache mitbringt, von weiterer
Thätigkeit auf diesem Gebiete abschrecken
sollten. Nur raten wir ihm, sich einen
weniger bearbeiteten Dramatiker als Calderon
zu wählen. Sorgfältige Analysen einzelner
Hauptwerke — ähnlich der des „Richters von
Zalamea** — neben summarischei Besprechung
minder wichtiger oder minder charakteristischer
Stücke, würden nach Schack, Grillparzer und
Klein noch nützlich sein und Dank verdienen,
während wir einer ähnlichen Arbeit über Calde-
ron, die etwa dieDramen aus der nichtspanischen
Geschichte abhandeln würde, den Dank der
Leser nicht zu versprechen wagen.
W. Wetz.
Baumgartner, Alexander S. J.: Zur Be-
urteilung Goethes.
Motto: •'Wie wenige sie auch nur ahnen, in
welcher unzugänglichen Burg d^r Mensch
wohnt, dem es nur immer Ernst um sich
und die Sachen ist *
Goethe an Schüler. 5. Desember 1796-
1. Goethe und Schiller. Weimars
Glanzperiode. Freiburg L Br. Herdersche
Verlagshandlung. 1886. 393 S. 8«.
2. Der Alte von Weimar. Goethes
Leben und Werke etc. 296 S. (Ergänzungs-
hefte zu den „Stimmen aus Maria-Laach").
Nach den Schriften desselben Verfassers;
Goethes Jugend und Goethes Lehr-
und Wanderjahre, liegen nun die oben-
genannten beiden, ziemlich umfangreichen
Veröfifentlichungen vor. — Ich mufs bekennen,
dafs ich die genannten vorhergegangenen
Schriften gesehen, dafs ich mich aber nicht
angezogen fühlte, auf sie näher einzugehen;
die vorliegenden zu lesen bin ich durch eine
freundliche Zuschrift des Herausgebers dieser
Blätter veranlafst, der über dieselben einen
Bericht wünscht. —
Beide neueren Schriften waren nicht im
Stande, meine Voraussetzungen zu erschüttern
und mich zu veranlassen, zu den früheren
Heften etwa nachträglich zurückzugreifen. Ich
hatte Recht, die Buchstaben hinter dem Namen
des Verfassers S. J. als ein Zeugnis für eine
Würdigung Goethes nicht ansehen zu können.
Sie schienen mir ein Lasciate ogni speranza,
voi ch^entrate. Ich kann nun auch bezeugen,
dafs Herr B. in diesen Schriften weder an
Thatsachen, noch Anschauungen Neues bietet,
dafs vielmehr oft Behauptetes, längst Ab-
gethanenes bis zur Ermüdung immer wieder
belanglos wiederholt wird. Der Eindruck,
den sie hervorbringen, ist nur unser Staunen
darüber, wie man soviel über einen Gegen-
stand lesen und soviel über ihn schreiben
kann, ohne ihm näher zu kommen; wie man
selbst soviel Anerkennung über eine Persön-
lichkeit aussprechen kann, der man im Urteil
so lieblos gegenübersteht?
Unter diesen Umständen mufste ich mich
wohl fragen, ob es einen Zweck haben kann,
über derlei Schriften zu berichten.
4ch glaube doch kaum, dafis unsere Leser
Verlangen tragen werden nach einer Ausein-
andersetzung mit den Anschauungen jenes
Ordens, der, eine Welt für sich, aus g^uer
Vorzeit in unsere Welt herein rag^, aber, wenn
auch immer noch mächtig und einflufsreich,
an dem grofsen Entwicklungsgange unserer
Ideenwelt doch schon lange nicht mehr mit-
beteiligt ist.
Nicht die Anschauungen aus jener Welt
sind es, die mich zu einem Berichte veranlassen
können. Bei näherem Eingehen erg^ebt sich
Besprechungen.
183
aber die Thatsache, dafs die Angriffe gegen
Goethe, die wir hier wie einen Wassergu£s
über sein ganzes Leben und Wirken, bei
allen Versicherungen der Anerkennung, aus-
gegossen sehen, g2aiz dieselben sind, wie wir
sie leider noch vielfach weit und breit bei
Katholiken und Protestanten, bei Frommen
und Ungläubigen, gerade so, in erweiterten
Variationen immer wieder antreffen. Was
einem beim Lesen schreckhaft klar wird, ist
die Wahrnehmung, wie verheerend halbe
Erkenntnis wirkt Es haben selbst Namen
von gutem Klang an Goethe gesündigt. Auf
ihre Misverständnisse, mitunter Flachheiten
und Oberflächlichkeiten beruft sich B. Jedes
leicht hingeworfene Wort, das dem sittlichen
Ernst des Dichters gemgeglaubte Zweifel
gegenüberstellt, das ihm, wenn auch mit
nachsichtigem Verzeihen, gemeine Motive
unterschiebt, ist ihm hochwillkommen!
Mit der grölsten Gelassenheit wird der gröiste
Dichter Deutschlands, unter scheinbar völliger
Würdigung seiner Kunst, zerpflückt und die-
jenigen, die sich von seiner sittlichen Kraft
gehoben fühlen, müssen sichs gefallen lassen,
mit allen möglichen Fratzen dep Zeit, mit
Atheisten, Anarchisten, Materialisten, Nihilisten,
Pessimisten, fiivolen Wüstlingen aller Farben
ohne Weiteres zusammengeworfen zu werden.
Er, der auf den höchsten Höhen der Bildung
durch seine tiefen Blicke in die Natur gelehrt,
dafs es mehr Dinge giebt im Himmel und
auf Erden, als Hor^tio in seiner Philosophie
sich träumt, er, der in der Liebe sein ganzes
Leben hindurch ein Preisein empfindet*),
dessen milde, liebevolle Natur alles Gewalt-
same bekämpfte, soll als ein sündhaft böser
Geist und leichtsinniger Egoist, vor dem zu
warnen sei, hingestellt werden dürfen! Das
ist die Aufgabe, die der Verfasser sich stellt
und es gelingt ihm, man braucht nur zu über-
sehen die grofse Einheit in Goethes Natur,
aus der das Einzelne erst verstanden wird!
— So verfuhr ja auch Du Bois-Reymond. —
*) Ich darf vielleicht der Kürze wegen
über diesen Punkt auf meine Schrift : Goethe
und die Liebe (1884) hinweisen«
Man wird überall an Mephisto erinnert, der
das Nichts sieht, wo Faust das All findet.
Den Musenhof in Weimar gründete, wie
B. nachweist, „nicht Goethe, sondern —
Wieland und Herder [i, 5*)].** Wieland ist
Herrn B. überhaupt viel lieber, wie es scheint,
als Goethe. Er ist durch zwanzig Jahre eine
litterarische Macht für ganz Deutschland.
Er leidet nicht an Lessings „galliger Professo-
ren-Unfehlbarkeit Auch wenn er tadelt, zeigt
er noch immer ein freundliches, gemütliches
Herz."* An philosophischer Schulung ist er
Goethe „weit voraus" (i, 6, 8 ff.), dann findet
er aber docti, dafs Wieland allem Hohen in
der Litteratur aus dem Wege geht, dafs sich
sein Klassizismus „an dem Schmutze der
antiken Welt hält** (x, xo). Das sei aber
überhaupt bei den „Weimarer Gröfsen" der
Fall, was sie nur mit philosophischer G^heim-
thuerei zu verhüllen strebten (i, 12)!
Herder tritt in den Schatten gegen „den
Schwindel, den Goethe in den Naturwissen-
schaften trieb** (1, X4). Bei einem solchen
Worte des geistlichen Herrn fragt man sich
denn wirklich, ob man weiter lesen soll. —
Eingedenk unserer Bemerkung, von der wir
ausgehen, überwinden wir uns doch und
halten uns auch nicht auf dabei, dafs der
böse Geist Luthers manchmal in Herder
hineingefahren sei (i, 22). Der 3. Abschnitt
handelt von Schiller. „Die ebenso beliebte,
als wohlfeile Distinktion subjektiv und
objektiv deutet weder den Charaktergegen-
satz der beiden Dichter selbst noch deren
Poesie an. Weit mehr ist gesagt, wenn man
den Einen einen Idealisten, einen Dramatiker,
einen Strebenden nennt, den Anderen einen
Realisten, einen Lyriker und Epiker, einen
Besitzenden^^ (i, 30 ff.). Wie aber, wenn der
Dichter des Faust doch ein Idealist wäre?
wenn es einen objektiven Idealismus gäbe?
was Schiller selbst ahnte, indem er Goethe
den intuitiven Geist nannte, der in den
Empirischen den Charakter des Notwendigen,
das Ideal sieht? — Leider steht B. mit solcher
*) Ich bezeichne beide obengenannten
Schriften mit i und 3.
184
Besprechungen.
Verwirrung klarer und notwendiger Unter-
scheidungen nicht allein! — Ergötzlich liest
sich (i, 39) dafs Schiller höher steht als
Goethe, indem er mit übersinnlichen Idealen,
der Geschichte, hingegen Goethe, der
„behagliche Hofdichter** mit sinnlichen
Farben und Formen von Pflanzen und
Tieren zu thun habe! Dafs Goethe «den
Triumph der Empfindsamkeit ** gefeiert (sie!)
habe, indem Schiller den Don Carlos schrieb
(i* 39) 40) m — Dann schrieb Goethe den
„Eg^ont" „Er war etwas leichtsinnig, lieder-
lich, dieser Held*' (i, 41). Egmont ist eine
n Zierpuppe,"* die aus Goethes „schwammigem
Gefühlsleben" herrührt
Indem es dem Unterrichteten immer klarer
wird, dafs Goethes wissenschaftliche Arbeiten
aus seinem glänzen Wesen herauswachsen,
findet B., er habe sich dazu künstlich hinauf-
geschraubt, wohl um seine Inferiorität zu
bemänteln (i, 67, 69). Ohne Mathematik
studiert zu haben, sei Goethe gegen Newton
aufgetreten (1,71). Das ist ja die landläufige
Phrase, die einer dem anderen immer noch
nachredet, ohne zu fragen: ob der Punkt,
darauf es hier ankommt, mit Hilfe der Mathe-
matik auch zu erledigen ist!? Die Krone
setzt der Verfasser seiner Darstellung des
Verhältnisses Schillers und Goethes aber auf,
indem er beweist, dafs man sich irrt, wenn
man sie für wahre Freunde hält (i, 358).
„Jeder kannte die Schwächen des Anderen,
hatte damit rechnen gelernt. Niemand kam
so gut aus, wie die Beiden und so galten
sie denn zuletzt als Freunde.** So niedrige
Untersteilungen sind doch wohl nur für den
Urheber derselben bezeichnend. Was ihr
Verkehr einbrachte, das sind lojährige Rodo-
montaden über klassische Kunst (i, 304). Zu
Goethes herrlichem Epilog zu Schillers Glocke,
jenem „denn er war unser" bemerkt B.:
„Er war unser." — „Es war ein feiner Staats-
streich. Schiller war damit sin den Triumph-
wagen seines einstigen Rivalen für immer
festgebannt.** Wir fürchten unsere Leser zu
ermüden, indem wir dergleichen Plattheiten
der Erwähnung würdigen. Leider kann der
Verfasser für seine Gesinnung einen Namen
guten Klanges anführen, den er zu den
erwähnten Versen zitiert. Wir wollen diesen,
weil wir ihn sonst achten und weil er tot
ist, hier nicht nennen.
Goethe erzählt in den Annalen von dem
Besuch Professor Wolfs in Weimar, den 3o.Mai
1805, und bemerkt dazu, dafs Wolf leider
den weimarischen Kreis „um ein edles Mit-
glied verminderte und uns alle in tiefer
Herzenstrauer um Schiller fand." B. findet
nun, Goethe habe Wolf sogleich „an die
erledigte „Freundes" - Stelle (sie!) treten
lassen. Tiefes Gefühl verrät das nicht, aber
kluge Berechnung, denn in Wolf zog er
die deutsche Philologie huldigend an seine
Seite — — " (i, 349). „Goethe selbst —
hing nicht an den grofsen idealen Zielen der
Kunst, sondern an seiner eigenen kleinlichen
Individualität, mit all ihren gegenwärtigen
Schwächen und früheren Jugendsünden**
(h 351)-
Um den Schluis des Bandes recht wirk-
sam zu machen, erzählt der Verfasser noch
(i, 382 ff.) die Zerwürfiaisse Goethes mit dem
Herzoge 1808. Daran knüpft sich denn das
Fabula docet: Das war der Welt Lohn! —
Er konnte damit sogleich die Geschichte
verknüpfen, wie Goethe 181 7 die Theater-
leitung aufgab, die dann in „Der Alte von
Weimar** (3, 124 fi^) erzählt wird. Dort sagt
Herr B. „Goethe hatte den edlen Stolz
eines freien Mannes nicht — und schleppte
die höfischen Ketten weiter, die seine Genuss-
sucht sich selbst geschmiedet!** Wir sind
über alle diese Dinge sehr lückenhaft unter-
richtet, dafs es wohl besser ist, zu schweigen
bis auf Weiteres, dafs Goethe den edlen
Stolz eines freien Mannes aber besafs, das
konnte Herr B. aus den Theaterakten von
1 808 (O. Jahn, Briefe an Voigt, S. 52a) wissen,
wo Goethe erklärt: „Ich werde kein Haar-
breit weichen** und aus der ganzen Sache
auch dem Herzog gegenüber siegreich hervor-
ging.
Wenn man alle die von B. gesammelten
Beispiele von geradezu gemeiner Denkungs-
art und tiefinnerlichster Unsittlichkeit in
seiner Darstellung auf Goethes Wesen zurück-
Besprechungen.
185
g^efuhrt sieht, so fraget man sich billig, wie
man denn von einer solchen Persönlichkeit
sich erhoben fühlen kann, ohne sich ähnlicher
Verlästerung auszusetzen ? Dies trifit mit uns
nach B/s Hindeutungen ebenso Schiller, wie
Fichte, Schelling, Hegel, die Humboldt und
Rosenkranz, ebenso die protestantisch -theo-
logische Fakultät von Jena, wie den ehe-
maligen Unterrichtsmintster Falk! •— Es mufs
unsere deutsche Welt eine von Grund aus
verdorbene sein, deren hoch emporragende,
geehrte Gestalten in solchem Licht erscheinen I
Aus diesen Schlufsfolgerungen kommen wir
nicht heraus, wenji wir einzelne Thatsachen
in feindseliger Darstellung aufhäuften, ohne
uns zu VemunftbegTififen erheben zu können,
aus denen sie zu erklären sind.. Wie in der
Liebe zwischen beiden Geschlechtem es sich
darum handelt, ob sie vom Geiste ausgeht
oder von der Tierheit, wie sie im ersteren
Falle frei von Selbstsucht ist, im letzteren
eine Abscheu erregende Erscheinung, das habe
ich anderweitig bereits dargelegt, und, wie
ich mehrseitig versichert bin, überzeugend
nachgewiesen, dafs Goethe sein ganzes Leben
hindurch von einer Liebe ersterer Art getragen
war. Er stellte sie in allen Lagen dar, ver-
barg auch bei seiner beispiellosen Wahrheit
ihre sinnliche Seite nicht, verhüllte nichts, ver-
schönfärbte nichts, verehrte aber ihren geistigen
Gehalt wie kein zweiter liebevoll auch dort,
wo die Sinnlichkeit ganz ausgeschlossen ist.
So im Werther, so in der sehnsuchtskranken
Mignon, die sich nach dem Himmel sehnt:
Und jene himmlischen Gestalten,
Sie fragen nicht nach Mann und Weib!
Er verklärte die Liebe zur Schwester
in den herrlichsten bedeutsamsten Dichtungen.
Die Grundlage dieser Richtung bildete wohl
das Verhältnis zu seiner Schwester Cornelia,
der er Liebe und Freuden mitzuteilen gewohnt
war. Als sie selbst heiratete, wandte er sich
Auguste Stolberg zu, die er Schwester
nannte und der er all sein inneres Leben
mitzuteilen liebte. Er hat sie nie von An-
gesicht gesehen. Sichtbar trat ihm als
Schwester Frau von Stein entgegen. Das
Verhältnis erscheint uns aus den Briefen ganz
ähnlich dem zu Augusten. Schon Augusten
gegenüber erschien er sich als Arztw Jetzt,
gegenüber der Frau von Stein erscheint sie
ihm als Schwester Iphigenie. Achtung
bewahrten ihm ihr Leben lang Friederike und
Lili, so wie er ihnen eine freundliche, achtungs-
volle Gesinnung bewahrte. Und wenn er
gegenüber der schönen Mailänderin, gegen-
über Minna Herzlieb, Silvine von Ziegesar,
Marianne Willemer, Ulrike von Levezow
vorübergehend in einem poetischen Liebes-
rausch hingerissen wurde und ihn in Dichtungen
verwandelte, so blickt doch hier überall deut-
lich genug durch, dafs das poetische Träume
waren, die den Boden der Wirklichkeit kaum
berührten, von denen die Gefeierten selbst
zum Teil kaum eine Ahnung hatten! Wie
seine Liebe aber immer im Bunde mit seiner
Gutheit, seinem selbstlosen Anteil erscheint,
so ist seine Sittlichkeit überhaupt deshalb
höherer Art, weil er Überall vom Geiste aus-
geht von der Teilnahme am Objekt, so dais
er auch im Leben überall selbstlos erscheint,
nie vom gemeinen Interesse seines persön-
lichen Vorteils, überall von der Idee geleitet.
nWer könnte der Uneigennützigkeit dieses
Menschen widerstehen?"* so hiefs es von ihm
in Weimar. Wer in sein innerstes Wesen
einen Einblick bekommen, von der Güte und
dem Seelenadel Goethes eine Ahnung haben
will, lese seine Briefe an Kraft (1778— 1783)
von denen wir nie erfahren hätten, hätte ein
Zufall sie uns nicht erhalten. Nun denken
wir aber auch noch der Darstellung einer
Liebe, wie die der Prinzessin im Tasso ist.
Kein Dichter hat je eine so warm empfundene
Liebe geschildert, die so durchaus geistig,
frei von jedem irdischen Verlangen und in
dieser Geistigkeit befriedigt ist. Und man
muis sagen, die Darstellung wirkt über-
zeugend, so dals man ihre Wahrheit erkennt:
giebt es ja gewifs solche Verhältnisse unter
edeln Menschen mehr als man denkt — Den
Sänger einer solchen Liebe durfte man mit
Recht mit Rosenkranz keusch nennen, was
B. nicht begreifen kann, was er so wenig
begreift, dais er den prinzipiellen Gegensatz
der Liebe Goethes und der Wielands und
186
Besprechungen.
Heines nicht einmal wahrnimmt, so dais er
beide in eine Reihe stellt (3, 91). Nicht ver-
schweigen wollen wir die schon berOhrte Un-
verhuUtheit mit der Goethe auch die sinnliche
Liebe darstellt So wie eine üppig blühende
Blume, als ein Bild freiwirkender Natarkraft,
schildert er sie in den römischen Elegien,
und wenn der Philosoph auch hier in der
Darstellung Keuschheit erkennt, so mufs ihm
das wohl gestattet sein, gegenüber der
Schilderung eines Schönen, so frei von jedem
lüsternen Überreiz, nichts weiter als das herr-
liche Leben, Weben und Walten der Natur.
— Was der ganzen Menschheit zugeteilt ist,
bringt der universale Dichter in seinem langen
Leben zur Anschauung, unverschleiert und da
isfs dann wahrhaft erstaunlich wie mächtig
überall das Vorwalten des Geistes ist.
Wer in der Fülle der Beispiele mit lüsterner
Voraussetzung die verhältnismälsig wenigen
Ausnahmsfälle heraussucht, in denen die
Rechte der Sinnenwelt zur Geltung kommen,
wie sie bei einer kräftigen Natur, wie die
Goethes voraus zu setzen sind, und daraus
eine Inferiore Organisation des Dichters ab-
leiten wollte, der erinnert an viele Maler, die
seine äufsere Erscheinung darstellen wollten
und doch nur ein Zerrbild ihrer selbst, ihrer
eigenen kleinlichen Voraussetzungen zur Er-
scheinung brachten! Dies zu erkennen, ver-
langen wir von Herrn B. nicht, wir be-
sprechen es nur, weil wir auf das Tiefste und
Schmerzlichste berührt sind davon, dafs sich
Herr B. auf Anschauungen geistig hoch-
stehender Männer berufen kann. —
Das Goethejahrbuch brachte IV, 37 einen
geistvollen wahrhaft künstlerisch sich ab-
rundenden Aufsatz Friedrich Vischers, der
bares Gold enthält. Herr B. beruft sich auf
denselben und wir müssen gestehen, es konnte
ihm nichts gelegener kommen um seiner
Darstellung Goethes zu dienen ! Gegen diesen
Anlafs, den Vischers Aufsatz bietet, müssen
wir unsem Widerspruch erheben. Zuerst sei
gestattet eine ganz herrliche Stelle Vischers
(a. a. O. 37) voraus zu schicken: »Wenn
im Faust die Bitte um die erste Nacht und
Grethchens Zusage einmal vorkommen
kann es reiner geschehen als es vom Dichter
geschehen ist! Und reiner vorbereitet sein,
als in Grethchens Sehnsuchtslied? Nur Ein
unreiner Faden im Dichter und was itfSre
ans dem Bilde des heiisen Verlangens ge-
worden, das hier in den letzten Versen durch-
bricht? Er durfte dennoch nicht vergessen,
dais diese ganze Hingebung auch schuldhaft
ist, und wie straft und zermalmt die furcht-
bare Schlufsszene im Kerker jedes verdorbene
Denken, das an jenen heifsen Bildern sich
weiden möchte, wie es sich an einer lüsternen
Wielandszene weidet I** Dieser Stelle geht
aber voraus eine andere (a. a. O., S. 30) in
der ein Wort der Mutter in Hermann und
Dorothea philinenhaft gefunden und dasselbe
als subjektiv aus des Dichters Natur zu er-
klären versucht wird. Nach unserer An-
schauung ist sie dies durchaus nicht, sondern
verrät nur den Einfluls des Zeitalters der
Frivolität, in dem Wieland der Liebling der
ehrbarsten Frauen warl Wenn wir uns einer
gewissen Stelle in einem Briefe der wackem
Frau Rat an ihren Sohn erinnern, so glauben
wir nicht fehl zu gehen mit der Annahme,
dafs die Stelle nichts weniger als aus der
Subjektivität des Dichters abzuleiten ist, in-
dem sie aus dem Leben genommen ist, die
Frau Rat steht hierin io ihrer Zeit nicht allein.
Die Stelle wirkt auf uns heutzutage noch
weit verletzender als die in Hermann und
Dorothea. Ist nun aber hiermit Goethes
Wesen in ein schiefes Licht gestellt, so wird
dem noch die Krone aufgesetzt mit der Be-
sprechung der Erläuterungen zu dem Aufsatz:
die Natur (a. a. O., S. 35 f.) Der Dichter
sagt: die Krone der Natur ist die Liebe. —
— Durch ein paar Züge aus dem Becher der
Liebe hält sie für ein Leben von Mühe schad-
los."* Dazu sagt Vischer: „Wir setzen nichts
hinzu, man wird es — lächelnd — verstehen.*
Das ist ein böser Zusatz. Es liegt in dem-
selben dasselbe Missverstehen das uns bei B.
förmlich erschreckt, wenn er den Schluis des
Faust mit den Worten paraphrasiert : «die
ewige Liebe, als das Ewigweibliche ge-
fafst ist nur dazu da eine sündige Welt-
liebe endlich im Himmel zur ewigen Ehe zu
B«st>rechun0«tt.
187
l
rcvaiidieren.* Das Ewigweibliche ist dem-
nach nicht das Ewige, das sich im weiblichen
Wesen offenbart, sondern eben nichts anders
als das Ziel des Geschlechtstriebes. Bin sonst
sehr wackerer Jesuit hat einmal in einem
mystischen Llede der Seele an ihren Gespons
Jesu — ich habe das Lied nicht zur Hand
und muls aus dem Gedächtnis xitiren — die
Verse: ,,Lieb hat aus seinen Aeuglein rund
viel tausend Pfeil verschossen.'^ Ob der-
gleichen Anschauungen der Mysdker nicht
auf irdischerer Grundlage ruhen, als der
Schluüs des Paust? —
Nicht aber um solche Anschauungen ist
uns zu thun. Was meint Vischer damit, wenn
er sagt: man wird es lächelnd verstehen? —
Er meint offenbar wie B., ^&aßs Göthes altes
immerwährendes Geständnis (hier zu erkennen
sei), dass er Kunst, Poesie, Schönheit nur in
einem sinnlichen Liebesransch zu finden weiss
(R 3, 31).** Das Lächeln will hier die Wahr-
nehmung andeuten, dass in dem naturphUo-
sophischen Aufsatze Goethes etwas wie eine
Satyrnatur durchblicke, und dem muss wieder-
sprochen werden! Eine ein langes Leben
hindurch bis zur Todesstunde sich als geist-
beherrscht und gegenständlich darstellende
Natur, die eben durch ihren angeborenen
Idealismus, durch ihre selbstlose Objektivität
gross ist, gestattet ein zweideutiges überle-
genes Lächeln denn doch nicht •—
Goethes Milde, seine Abneigung gegen
jeden Zelotismus, seine schon in seiner Jugend
auftretende Skepsis gegen schnelles Urteil
Aber Bös und Gut, sein Streben den Fehlenden
lieber zu retten als zu strafen, möchten wir
nicht auf Weichlichkeit zurfickführen, eher
auf Weisheit
Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis.
Wie er die Liebe in ihrer Beziehung zum
Weltall auffasste, wissen wir aus seinen Ge-
dichten Weltseele u. v. a. und wenn in jenem
Aufsatz gesagt ist, dass die Krone der Natur
die Liebe sei, aus deren Becher ein paar
Zflge fOr ein Leben voll Mflhe schadlos halten,
so wird der, der in Goethes Sione liest, sich
bei dem Gleichnis erhoben f&hlen und dabei
d^r Kämpfe in der Natur, wie in der sittlichen
Zctchr. f. vsri. Litt* Gesch. i.
Welt gedenken, die der Dichter so oft ge-
schildert und aus denen er selbstlose Liebe
siegreich hervorgehen sah. Zu einer Anwand-
lung von Cynismus sehe ich hier keinen
Anlass. —
Goethe Im Ganzen zu erkennen, seine
von einer gewaltigen geistigen Initiative g^
haltene Natur, darauf kommt Alles an. Wttr
zwischen dieser und der eines Wieland oder
eines Heine die prinzipielle Verschiedenheit
nicht sieht, vermag ihn nie zu erkennen. ICit
dem Vorwalten des göttlichen Geistes im
Menschen geht Hand in Hand der Glaube
an diesen Geist, an das Ideal, sowie alle
UnSittlichkeit, alle Frivolität darin liegt,
dass ihnen dieser Glaube abgeht.
Er geht Herrn B. völlig ab, daher er so
geneigt ist, die Frivolität mit Goethes Wesen
auf eine Linie zu stellen, wo nicht seinem
Wesen vorziehen.
Die Farbenlehre Goethes ist ihm (s, 33)
ein Buch, ähnlich anderen, die unter wissen-
schaftlicher Flagge Unglauben und religiöse
Flachheit in der Welt herum kolportlren!
Dies schreibt Herr B. gelassen hin, ohne zu
ahnen, wie treffend seine Schriften über
Goethe damit bezeichnet werden, von welch
flach rationalistischen Schlussfolgerungen sie
ausgehen. Solchen guten Christen gegenüber
durfte Goethe wohl sagen (3, 157): „wer ist
denn noch heut zu Tage ein Christ, wie
Christus ihn haben wollte? Ich allein vid-
leicht, ob ihr mich gleich ftkr einen Heiden
haltet" — Einmal findet B. bei Goethe einen
unbegrenzten Optimismus, dem Christen, Mo-
haunedaner, Helden gleich recht sind (3, 163),
dann wieder trifit er ihn beim vollen pessi^
mistischen Bankerott an (3, 174). Für Ge-
schichte hatte Goethe keinen Sinn (3, 64):
der alles Gewordene aus dem Werden er-
kennen lehrte I Die italienische Reise ist „ nichts
weniger als klassisch". — Sie ist heute von
GselKFels, Bädeker etc. „längst überholt**
(«1 73)^ ^ • — ßioe beherzte Vereinigung
aller katholischen Kräfte gegen Göthe wünscht
Herr B. (s, 103). Ist sie ja doch vorhanden !
Herr B. mit seinen Schriften, in denen er so
viele Mitstreiter nennt, ist ein glänzendes
13
188
Besprechungen.
Zeugnis dai^r: es fehlt denselben leider nur
am Besten, an Goethes Geist, an dem sie
zerschellt. —
Wir haben einen Goethischen Spruch
unserm Bericht vorangestellt; mög ihn ein
anderer beschliessen : n^2LS Beste ist, dass
er nichts verliert wenn das Wahre wahr ist,
da so viele sich nur dem Echten deshalb
wiedersetzen, weil sie zu Grunde gehen würden
wenn sie es anerkennten." An Schiller i i.März
x8oi. Diese Dissonanz löst sich zu einem
herrlichen Schlussakkord in dem bekannten
Satze Schillers (an Goethe a. Juli 1796):
„Dass es dem Vortrefflichen gegenüber keine
Freiheit giebt als die Liebe** den Goethe in
den Wahlverwandtschaften zu dem Spruch ab-
rundet: „Gegen grosse Vorzüge eines anderen
giebt es kein Rettungsmittel als die Liebe**.
Wien. K. J. Schröer.
Biedermann, Woldemar Freiherr von:
Goethe-Forschungen. Neue Folge. Mit
zwei Bildnissen und zwei Facsimiies.
Leipzig, F. W. von Biedermann. 1886. X,
480 S. 8<*. M. 12.
Aus dem reichen Inhalte des Buches, mit
welchem v. Biedermann seine (Frankfurt 1879
erschienenen) „Goethe -Forschungen" zu er-
gänzen und weiterzuführen erfolgreich anstrebt,
können hier nur diejenigen Abschnitte zur
Betrachtung herangezogen ,j werden , welche,
Goethes Beziehungen zu fremden Dichtungen
verfolgend, das Gebiet der vergleichenden
Litteraturgeschichte berühren. Und bei welchem
Dichter wären diese Berührungen mannig-
faltiger als bei Goethe, der in seinem Alter
den Begriff der Weltlitteratur aufgestellt und
erläutert hat! Mit der gröfsten Empfänglich-
keit für fremde Dichterwerke ging bei Goethe
das Bestreben Hand in Hand durch eigene
Produktion sich des überwältigenden Ein-
druckes der fremden zu erwehren, indem er
die Vorzüge derselben sich anzueignen suchte;
V. Biedermann hat schon 1879 ebenso geist-
voll als überzeugend dies in einem bestimmten
Falle nachgewiesen, indem er die Fragmente
des „Trauerspiels in der Christenheit" als
produktive Nachwirkung von Goethes Cal-
deronstudien erklärte. Die ..neuen Goethe-
»»'
Forschungen" bringen als eben nicht wichtige
Ergänzung einige früher Übersehene Aus-
sprüche Goethes über Calderon. Wenn
V. Biedermann klag^, dafs gelegentlich des
Calderonjubiläums Goethes Verhältnis zu dem
spanischen Dramatiker mit unfasslicher Ober-
flächlichkeit behandelt worden sei, so trifft
dieser Vorwurf doch nicht £. Dorers „Gedenk-
blätter zur Calderonfeier: Goethe und Cal-
deron" (Leipzig 1881) und H. Schuchardts
ausführliche Kritik von Dorers Schrift, nun
in Schuchardts gesammelten Au&ätzen (Berlin
1886) neu abgedruckt, die beide von Bieder-
mann nicht erwähnt werden.*) Wenn
V. Biedermann für die ungefähr gleichzeitig
mit dem Goetz geplante Tragödie Caesar
Shakespeares Julius Caesar als Ausgangs-
punkt bezeichnet, ist er gewiis im Rechte;
irreführend aber erscheint Biedermanns Be-
hauptung aus den Prosareden des Goctheschec
Caesar werde die formelle Nachahmung
Shakespeares sichtbar. Goethe behielt hier
nicht „die Darstellungsformen des Urbilds
bei wie im Trauerspiel in der Christenheit,^^
in welchem er Calderons vlerfÜssige Trochäen
nachbildete; im Gegensatze zu dem mit Prosa
gemischten aber entschieden vorherrschendem
Blankverse Shakespeares bestimmte er fi&r
Caesar wie für den Goetz ausschliefslich
Prosa. Shakespeare setzt, zum Teil der Ge-
schlossenheit der Handlung wegen, unmittel-
bar vor dem Tode Caesars ein; Goethe er-
scheint damit unzufrieden und will die „Ge-
schichte Caesars dramatisiert" geben; die Frag-
mente zeigen uns Caesar im Gegensatze zu
Sulla und zu Pompejus. Offenbar war der
*) Ich darf in diesem Zusammenhange
wol an den (Goethejahrbuch V, 319) von
mir geführten, von Biedermann gleichfalls
unbeachtet gelassenen Nachweis erinnern, daüs
in der klassischen Walpurgisnacht (Loeper
V. 1909 u. folg.) Goethe von Reminiscenzen
an Calderons Drama „über allen Zauber
Liebe" (übersetzt von A. W. Schlegel, Berlin
1803), von dem er auch Schelling gegenüber
mit Entzücken sprach, geleitet wurde.
BesprecbuDge&J
1*89
junge Goethe von Shakespeares Darstellung
des Imperators, einer Leistung höchster künst-
lerischer Einsicht, unbefriedigt; der Stürmer
und Dränger wollte Caesar als einen ^^Saker-
mentskerl*^ sehen und glaubte hier einmal
seinen Orestes verbessern zu können. Daraus
erklärt sich dann zur Genfige, dais bei fort-
geschrittener Erkenntnis Shakespeares Goethe
den alten Plan, an dessen Ausfuhrung er noch
nach der Obersiedlung nach Weimar gedacht
hatte, fallen liels. Biedermanns Vermutung,
dais uns im Egmont Anklänge an den nicht
vollendeten Caesar erhalten sind, erscheint
höchst ansprechend«
Ausfuhrlicher behandelt v. Biedermann ein
anderes Dramenfragment Goethes in der
Untersuchung: „Elpenor und Iphigenie von
Delphi.'^ In den älteren Goetheforschungen
glaubte Biedermann „die Annahme, dafs
Goethe nach griechischem Vorbild Elpenor
entwarf, abweisen** und „unbedenklich in den
fernsten Kreisen den Ursprung des ,Elpenor<
suchen" zu müssen. Er gab eine interessante
Zusammenstellung der Äufserungen, welche
Goethes Interesse für chinesische Litteratur-
werke bezeugen und glaubte in Goethe zu-
gänglichen chinesischen Werken die Quelle
des Elpenor gefunden zu haben. Wenn er in
seiner neuen Behandlung dieser Frage gegen
Ellinger polemisiert, der im Goethejahrbuch II,
270 im Elpenor eine von Shakespeare an-
geregte Behandlung des Hamletthemas sehen
will, müssen wir ihm beistimmen. Ellinger
bebt als das Charakteristische der Hamlet-
tragödie hervor, eine grofse That werde auf
zu schwache Schultern gewälzt; aber woher
weüs er denn, dafs der kräftige Ephebe
Elpenor, (er gemahnt an Lessings Philotas),
solcher That nicht gewachsen sei, welche Ähn-
lichkeit ist zwischen dem von allem Anfang tief-
sinnigen, schwerfälligen Hamlet und dem jugend-
kräftig frohen, von Thatenlust schäumenden
Heldenjüngling? Gegen Ellinger hätte Bieder-
mann immer Recht behalten können, nicht aber
gegen Fr. Zarncke, der 1882 in der Festschrift zu
Fr. Hases 5ojährigem Jubiläum „über Goethes
Elpenor", eine Untersuchung veröfifentlichte.
Biedermann selbst gesteht in seiner neuen Ab-
handlung Zamckes Überlegenheit zu, sodais
man etwas überrascht ist im Schlusswort zu*
lesen: „Der im Wesentlichen einem chinesischen
Schauspiel entlehnte Stoff des Elpenor erfuhr
Wandlungen durch griechische Tragödien-
stoffe.** Ob Goethe die in Betracht kommenden
chinesischen Quellen gekannt hat, bleibt zweifel-
haft, und selbst wenn er sie gekannt hat, so
hat er die Idee doch nicht aus ihnen ent-
nommen, sondern aus griechischen, ihm wohf
vertrauten Quellen (Hygin, Euripides). Be-
sonders wichtig erscheint dabei die von Euri-
pides, Maffei, Voltaire behandelte Merope;
Lessings berühmte Untersuchung dieses Stoffes
und seiner Bearbeitungen im 36. — 50. Stücke
der Hamburg. Dramaturgie konnte zu einer
neuen Bearbeitung reizen. Der glückliche
Ausgang der Meropefabel spricht dafür, dafs
Goethe gerade sie als Vorlage für sein zur
nachträglichen Feter der Geburt des Erb-
prinzen bestimmtes Drama, das er so gut wie
Euripides und Voltaire es gethan hatten, eine
Tragödie nennen durfte, wählte. Wenn aber
im Elpenor die Verwechslung der Söhne und
der Racheschwur gegen den vermeintlichen
Vater das Thema des Stückes bildet, so hätte
man doch dn älteres deutsches Drama,
welches sich auf denselben Motiven aufbaut
nicht unerwähnt lassen sollen, ich meine
Brawes Brutus 1758. Im 9. Abschnitte seiner
musterhaften Monographie über Brawe (Strass-
burg 1878) hat August Sauer dieses Motiv
und seine verschiedene Verwertung eingehend
behandelt.
Beziehungen Goethes zur chinesischen
Litteratur hat v. Biederipann noch gelegent-
lich einer andern Dichtung nachzuweisen ver-
sucht. Die „chinesisch-deutschen Jahres- und
Tageszeiten** (1827) sollen dem 1824 in eng-
lischer Übersetzung erschienenen Buche
«Chinese Courtship" ihren Ursprung verdanken,
eine Entdeckung Biedermanns, gegen die sich
Düntzer in seiner Ausgabe der Goetheschen
Gedichte (Kürschners deutsche Nat.-Litt. 84,
I, 906) aufs entschiedenste ausgesprochen hat,
ohne dafs die Frage in einem oder dem
andern Sinne damit bereits entschieden wäre.
— Wenn Loeper schon früher in seiner Aus-
13*
190
BMproTHimycB»
gäbe von Goethes Sprfichen in Prosa, neuer-
dings (Berlin 1884) in seiner ganz vortreff- j
liehen Kommentirung der tahmen Xenien und
gereimten SprfichwÖrter durch den Nachweis
von Goethes, oft recht entlegenen Quellen
Beiträge cur vergleichenden Litteraturge-
schichte geliefert hat, so gibt Biedermann
(S. 455) auch hierzu einige Nachträge.
Im Vorworte zu seiner Ausgabe des
n. Faust (Heilbronn 1881) hat K. J. Schrder
die fruchtbare Bemerkung gemacht, bei Be-
urteilung Goethescher Konzeptionen sei seine
„immer von Anschauungen, von Bildern aus-
gehende Dichtematur^^ zu berQcksichtigen ;
ftkr den Erklärer komme es darauf an, das
Bild von dem Goethe bei seinen Schöpfungen
ausging zu finden. Dachte Schröer dabei
auch zunächst an Goethes Geist vorschwebende
ideelle Bilder, so mulste in der Folge doch
auch der Binflufs von'thatsächlich vorhandenen
Werken der bildenden Kunst auf Goethes
Dichtung gröisere Berücksichtigung finden.
Die Vergleichung der Künste, die Unter-
suchung wie weit die bildende Kunst auf die
Poesie herüber gewirkt hat, muiste damit (Ür
die litterarhistorische Forschung eine be-
sondere Bedeutung erbalten. So hat im letzten
(VH.) Bande des Goethejahrbuchs G. Dehk>
„altitalienische Gemälde als Quelle zum Faust*'
nachzuweisen versucht, nachdem schon V, 319
der Zusammenhang zwischen Galateens Auftre-
ten am Schlüsse der klassischen Walpurgisnacht
und Gemälden Philostrats, Rafaels, der Caracci
hervorgehoben worden war. v. Biedermann
macht auf ein Bild in Gottfiied Winklers
Gemäldesammlung zu Leipzig und seine 1768
erschienene Beschreibung aufmerksam, an
welche Goethe möglicherweise bei Fausts
. Beschreibung des verwünschten dumpfen
Mauerlochs (I V. 46 u. folg.) gedacht haben
könnte. Vielleicht noch von . grö&erem Inter-
. esse erscheinen v. Biedermanns Nachweise,
dafs für einzelne Situationen in dem viel be-
sprochenen Satyrosdrama Goethe aus antiken
Kunstwerken und niederländischen Gemälden
die Anregung geschöpft habe. Wenn Bieder-
mann sagt: „die antiken Vorstellungen des
Satyrwesens im Drama durch gleich Perlen
an eine Schnor anfgcreihte Bildwerke cur
Erscheinung zu bringen, eine Folge lebender
Satyrbilder vorzuftUiren, bekundet Goethes
tiefe künstlerische Einsicht,*' so gibt er mit
einem solchen Ausspruche freilich Düntzer
(Abhandlungen zu Goethes Leben und Werken
II, 383) Anlass zu wohl gegrfkndeter Polemik.
V. Biedermanns Vermutung, Goethe könne bei
seinem Satyros an ein oder das andere Werk
bildender Kunst gedacht haben, ist an-
sprechend; Biedermanns Verwertung seiner
Entdeckung aber muis entschiedensten Wkier-
Spruch erwecken.
Von den hier zu erwähnenden Forschungen
Biedermanns erscheint als die weitaus er-
freulichste die Abhandlung, «Goethe und
das Volkslied*". Biedermann bebt im Ein-
gange Goethes Vorliebe für die Natur und
den natürlichen Zustand der unteren Volk&-
klassen hervor, Belegstellen aus dem Werther
und einzelnen Aufsätzen zitierend. Die
schönsten derartigen Geständnisse finden sich
freilich in Briefen an Schönbom vom i. Juni
1774 und an Frau von Stein vom 4. Dezember
177 7* »Wie sehr ich wieder, auf diesem dunkeln
Zug Liebe zu der Klasse von Menschen
gekriegt habe! die man die niedere nennt!
die aber gewiss für Gott die höchste ist.
Da sind doch alle Tugenden beisammen,
Beschränktheit, Genügsamkeit, grader Sinn,
Treue, Freude über das leidlichste Gute, Harm-
losigkeit, Dulden — Dulden — Ausharren.*
Die hier gerühmten Tugenden sind fast ebenso
viele charakteristische Züge des deutschen
Volksliedes. Biedermann gibt zunächst über
Goethes Bemühungen um Verständnis und
Aneignung fremder Volkslieder einen Ober-
blick, der allerdings keineswegs erschöpfend
ist. So bleibt bei Besprechung von Goethes
Verhältnis zu Percy die Ballade »the friar of
Orders gray** unerwähnt, der doch eine ganz
besondere Bedeutung zukommt. Anklänge an
sie treffen wir bei Shakespeare, eine von Percy
stark abweichende Gestalt im 8. Kap. von
Oliver Goldsmith^s Vicar of Wakefield.
Durch Bürgers Bearbeitung, „der Bruder
Graurock und die Pilgerin** wurde sie In
Deutschland allgemein bekannt; Goethe hat
Besprechungco.
m
sie in seinem Singspiel Erwin und Elmire,
Tiek im 6. Akte seiner Litteraturkomödie
Zerbino, den Goethe auf die BQhne bringen
wollte, dramatisirt, und noch in Goethes
Ballade „der MflUerin Reue** werden wir an
Motive der altengliscfaen Ballade erinnert.
Bei Erwähnung des «Klagesangs von der
edlen Frauen des Asan Aga** hätte Biedermann
auch hier die Studie von Frans Miklosich
(Wien 1883)*) erwähnen sollen, eine der
anziehendsten Untersuchungen, welche ein
Thema der vergleichenden Litteraturgeschichte
an einem einzelnen Gedichte verfolgen. Als
Mitarbeiter Herders wird Goethe gerühmt
wegen seiner philologischen Einsicht von dem
„Werte treuer Wiedergabe des Oberlieferten,
cn welchem Standpunkte erst viel über ein
Menschenalter nachher die Wissenschaft sich
emporarbeitete, um darin ihre notwendige
Grundlage zu suchen.** Die von Goethe im
Elsals gesammelten Volkslieder hat £. Martin
im 14. Hefte der ^deutschen Litteratur-
denkmale (Heilbronn 1883) nach der Hand-
schrift zum Abdruck gebracht. Von Goethes
eigenen Lieder bezeichnet Biedermann dreizehn
(untreue Knabe; vor Gericht; Haidenrösldn;
Epiphanias; Schäfers Klagelied; Frühlings-
orakel; Trost in Tränen; Liebhaber in
allen Gestalten ; Freibeuter; Schneiderkourage;
Schweizerlied; Gegenseitig; März) als solche,
denen ein älteres deutsches Volkslied zu
Grunde liegt Man wird zweifeln dürfen, ob
V. Biedermann hier überall schon ab-
schliefsende Ergebnisse erreicht hat, aber
jedenfalls bat er das Verdienst, eine bisher
eigentlich auffallend vernachlässigte, wichtige
Untersuchung durch seinen Aufsatz „Goethe
and das Volkslied" fruchtbar angeregt zu haben.
In seiner Abhandlung über „ Goethes Vers-
kunsf, der einzigen früher noch nicht ver-
öffentlichten Arbeit Biedermanns, hat der ver-
diente Forscher dagegen mehr bekanntes
fibersichtlich und anziehend zusammengestellt
*) Auch der Aufsatz von K. Bartsch
^Goethe und das serbische Versmais in
Nr. 41 der Gegenwart 1883 wäre hier zu
berücksichtigen gewesen.
Auch beim Hinblick auf die Metrik erscheint
Goethe wieder als der vielseitige, alluni-
fassende; eine eingehende Untersuchung von
Goethes Formen müfste sich von selbst zu
einem Kapitel vergleichender Poetik erweitern.
Marburg i. H. Max Koch.
Ellinger, Georg: Aikeste in der mo-
dernen Litteratur. Halle a.S. Verlag der
Buchhandlung des Waisenhauses. 1885. 578.8^
Die vorliegende kleine Monographie giSt
einen Oberblick über die Behandlung^ d^
Alkeste-Stoffes im modernen Drama von
Hans Sachs (1555, Keller XII.-Lit Ver. CXU
403, 6; der Verfasser giebt 1551 an) bis auf
Herder (1803). Das Thema der Untersuchung
ist dankbar: denn gerade ein so wiederholt
behandelter Stoff bietet interessante und nach
verschiedenen Seiten hin lehrreiche Ver-
gleichungspunkte dar. Und es wäre aller-
dings nzu wünschen, da& man diese ver-
gleichende Untersuchung eines Stoffes, welche
man bis jetzt fast nur bei dem deutschen
Drama des 16. Jahrhunderts angestellt hat,
häufiger durchführte." Aber freilich, sollen
die erwarteten „ interessanten und lehrreichen
Resultate** für die vergleichende Litteratur-
geschichte wirklich erzielt werden, so mü&te
die Untersuchung vor allem den Zusammen-
hang zwischen den Veränderungen der Zelt-
anschauungen, den verschiedenen Völker-
individualitäten und Geschmacksrichtungen
und den dadurch bedingten Wandlungen der
Gesamtauffassung des Themas und der ein-
zelnen Motive ins Auge fassen; die fleifsige
auf möglichste Vollständigkeit ausgehende
Nachweisung der Einzelbearbeitungen und
kritische Inhaltsangaben, und wären sie noch
SO' klar und anschaulich, sowie die Aufdeckung
von Quellen und Einfluisnahme einer Bear-
beitung auf andere allein thun es nicht, so
dankenswert, namentlich bei schwerer zu-
gänglichen Stüken, auch erstere, so lehrreich
die letztere für den Litterarhistoriker unter
allen Umständen sein mögen.
Dafs nun das Verdienst der vorliegenden
Arbeit doch mehr nach diesen letzteren
sekundären Richtungen als nach jenen
192
Besprechungen.
wichtigeren liegt, verhehlt sich der Verfasser
selbst kaum; denn unter den „Mängeln"
welche nach seiner eigenen Oberzeugung
einer so skizzenhaften Darstellung, wie sie
ihm durch äuisere Verhältnisse scheint aufge-
drungen worden zu sein, nnotwendigerweise
anhaften müssen**, kann er schwerlich etwas
anderes verstehen. £r hofft seine ursprüng-
liche Absicht später noch auszuführen und
„das Buch im einzelnen zu ergänzen und zu
erweitem**. Aber auch eine Skizze konnte
immerhin schon etwas mehr bieten.
Gleich die an die Spitze der ganzen
Monographie gestellte Erörterung der Euri-
pideischen Alkestis bedarf nicht nur in mehr
als einem Punkte der Einschränkung — ins-
besondere geht der Verfasser in Bezug auf
die aus ihrer Stellung als viertes S)ück „an
Stelle des Satyrdramas** gefolgerten nmannig-
faltigen komischen Elemente** zu weit: in
dem Gespräch zwischen Pheres und Admet
habe Ich wenigstens nie „ einen komischen
Effekt" finden können, und selbst in dem
Streit des Thanatos mit Apollon wird es mir
schwer — ; sie ist überhaupt, mag man auch
das „modern" im Titel noch so sehr betonen,
viel zu kurz und nichtssagend als dals einer-
seits die Abhängigkeit der modernen Bear-
beitungen von Euripides, andererseits die
grundsätzliche Verschiedenheit in der Auf-
fassung des Problems ins rechte Licht treten
könnte; die wenigen an verschiedenen Orten
verzettelten Bemerkungen über den letzten
Punkt wird der Verfisisser selbst nicht als aus-
reichend ansehen.
Auch die Anordnung des Materials ist
nicht eben glücklich. Anfangs scheint es, als
sollte das chronologische, dann wieder als
sollte das ethnographische Prinzip mafsgebend
sein, schlielsHch ist keines konsequent durch-
geführt Und die Entwicklungsgeschichte des
Stoffes, wie, abgesehen von den Obersetzungen
des Euripides, erst vom i6. bis tief ins
x8. Jahrhundert Verquickungen mit fremden
meist antiken (Hans Sachs, Herder, Quin au It,
Ducis) aber auch modernen Zuthaten (Aureli
und die Puppenspiele) angestellt werden, wie
man aber dann im i8. Jahrhundert auf die reinere
Gestalt zurückgreift und an Euripides sich an-
lehnend teils geradezu modernisierend (Mar-
tello, Thomson) teils auch vereinfachend
(Calsabigi, Wieland, Milon, Herder) oder auch
modifizierend (Alfieri) dem Sujet beizukommen
versucht, während es andererseits zur Allegorie
misbraucht (Saint-Foix) oder gar durch Satire
und Spass dem Gelächter preisgegeben
wird (Ayrenhoff, Perinel) :*) das wird so wenig
wie die Wandlungen der Motive im Einzelnen
bequem anschaulich und, um die letzteren
selbst zu verfolgen, reichen doch auch, so
weit man nicht die Originale selbst zur Hand
hat, die Inhaltsangaben nicht recht aus.
In diesen Punkten wäre also bei einer
zweiten Bearbeitung vor allem Abhülfe und
Verbesserung notwendig. Im einzelnen will
ich nur Folgendes anmerken. S. 3, Z. 8 v. u.
die Berufung des Hans Sachs auf Ovid ist
nicht so ausschliefslich als es nach den Worten
des Verfassers scheinen könnte: Hans Sachs
sagt (387,6 f., Keller) ein tragedi . . . welche
beschreiben uns die alten, Ovidius
und ander. Zu S. 9: Wenn der Verfasser
in den episodischen Liebeshändeln Cephisens
und ihrer Warnung vor der Ehe den Geist
erkennen will, der das ganze Stück des
Quinault beherrscht und durchdringt, so Ist
das mindestens insofern schief, als die leicht-
fertige Cephise doch wohl vielmehr als Folie
für die getreue Alkeste gedacht und aus ihren
Worten also gar nichts zu folgern ist
Andererseits scheint mir Ellingers Urteil über
Quinaults Alkeste doch wieder zu günstig.
Alle von ihm hervorgehobenen Vorzüge zu-
gegeben, bleibt sie doch ein kaltes Produkt,
dessen tändelnde Zierlichkeit gerade bei diesem
Stoffe am wenigsten am Platze ist. Und
diesen triumphirenden Aleiden, ein Zwitter-
geschöpf von seufzendem Liebhaber und sich
*) Ich berücksichtige hierbei auch gleich
die wenigen Ergänzungen, die schon Minor
(Anz. Xn, 245 f.) zu dem von Ellinger g-e-
sammelten Material nachtrug. Das S. 30 f.
besprochene Puppenspiel hat dieser selbst
mittlerweile herausgegeben: Zeitschrift für
deutsche Philol., XVIII, 257 S.
Besprechung^en.
198
selbst bezwingenden Heros, dem der galante
Pluto übrigens seinen Sieg über den Tod so
leicht macht, da er im Namen der Liebe und
zwar höchst manierlich seine Forderung stellt,
braucht man auch nicht erst mit der Antike
zu vergleichen, um ihn unschmackhaft zu
finden. S. 36 fil : Die Kritik der Wieland'schen
Briefe ist nicht ganz freizusprechen von einer
gewissen Flßchtigkeit. Die Zurückweisung
des Tadels gegen das Auftreten des Euri-
pideischen Herakles, den auch ich nicht
unterschreiben möchte, läfst wenigstens einen
wesentlichen Punkt unbeachtet. Wieland kehrt
sich (Merkur 1773 I, 46 f) nicht so sehr gegen
dessen Zechen an sich, als dagegen, dafs er
es thut, wiewohl er ^ kömmt unwissend** zwar
„dais Alkeste schon 'gestorben ist, aber wohl
unterrichtet, dafe sie für ihren Gemahl sterben
wird — man sollte denken, dies liefe auf
eines hinaus" — sodafs er, „da ihn alles
überzeugen sollte, dafs Alkeste der Gegen-
stand der tiefen Trauer ist, worin er das
ganze Haus findet," sich von Admet bereden
UUst, „dais man um eine Sklavin trauere."
Und der von EUinger ganz übergangene Tadel
gegen die Wieder bringungsszene (a. a. O. 48 f.)
die auf die modernen Bearbeitungen nicht
ohne Nachwirkung geblieben ist, gehört doch
auch nicht zu den so ganz „unbedeutenden"
,,andem kleinen Ausstellungen" Wielands,
deren Ellinger nur summarisch gedenkt. Dais
auch bezüglich des Admet sich noch mehr und
tieferes sagen lieise, wurde oben schon an-
g^edeutet (vgL Ellinger selbst S. 45). Die
von Wieland schon bei Alkeste so richtig
betonte „Einfalt der imverfälschten Natur"
(a. a. O. S. 65) scheint mir hier ebenso in Be-
tracht zu kommen als der Unterschied des
männlichen und weiblichen Charakters, und
Euripides dürfte wohl auch gewulst haben,
warum er sein Drama erst mit dem eintreten-
den Tode der Heldin beginnen läist und so
das Bedenkliche der Zustimmung des Gatten
den Augen des Zuschauers entrückt, dafür
aber um so mehr dessen Schmerz uns vor-
Itthrt bis zu seiner allerdings herbsten
Steigerung im Gespräch mit Pheres, über das
Ellinger hier entschieden richtiger urteilt als
im Eingang seiner Monographie. S. 40: Dais
Goethe mit seiner Iphigenie die „Ungerechtig-
keit seines Urteils" über Wieland „durch die
That wieder g^t zu machen" gedacht habe,
halte ich für keinen glücklichen Gedanken.
Trotz allen Einflusses, den Wielands Alkeste
auf die Iphigenie genommen haben mag, (Ellin-
ger fügt S.36 dem schon von seinen Vorgangem
Gesagten noch eine Parallele hinzu), bleibt der
Abstand zwischen beiden Dichtungen noch
immer grols genug. S. 53 f.: Zu den wie
mir scheint gesicherten Ergebnissen Ellingers
gehört die Abhängigkeit Herders vonCalsabigi.
Damit werden aber andere Einflüsse, auf die
er g^r nicht eingeht, auch nicht hinfällig, nur
die von mir in meiner Einleitung (Kürschners
Nat. Litt. Bd. 75. S. 340} vermerkte Einflulis-
nahme der zweiten Version der Sage wird
entbehrlich. Auf Euripides ist in den Anmerk-
ungen meiner Herderausgabe im Einzelnen
Bezug genommen. Aber auch Wieland scheint
nicht ohne Einwirkung geblieben zu sein.
Auf einige Anklänge ist auch schon in meinen
Anmerkungen aufmerksam gemacht; ich hätte
aber vielleicht noch zwei Stellen der Briefe
heranziehen sollen: in der ersten (a. a. O. S. 51)
bespricht Wieland die Wirkung des Wieder-
sehens zwischen Admet und Alkeste und ihre
Abhängigkeit von der Überredung der Zu-
schauer, dafs diese wirklich gestorben sei,
und im Zusammenhang damit seine Szene V, 5,
besonders die erste der Alkeste, in denen sie
ihren „aufserordentlichen" Zustand schildert,
in der zweiten (V, 6) die Wiedervereinigung
der aus dem Elysium zurückgebrachten Seele
mit ihrem vorigen Leibe. Man vergleiche
damit die 1 1 , Szene Herders, wo zunächst diese
Wiedervereinigung auch so, wie dort ausge-
führt ist, vor sich geht, ehe Alkestens „Leib
auch zerstört ist", dem auch diese Worte in
den Mund gelegt sind (533 fif. u. bes. 546 ff.),
in denen sie ihrem Staunen und ihren Er-
innerungen an das eben wieder verlassene
Jenseits Ausdruck giebt. Bei aller Ver-
schiedenheit der Ausfilhrung wird man die
Ähnlichkeit im Grundgedanken kaum ver-
kennen können. Dais Alkeste bei Wieland
wie Herder (V. 544, 546) von einem „Traum*'
194
Besprechungen.
redet, will ich dabei nicht betonen. S. 56
bringt EUinger ein die Einwilligung des Admet
in das Opfer der Alkestis misblUigendes Wort
aus dem Altertum, bei Valerius Maximus, bei
und quält sich vergebens mit der Erklärung
des crudelis et duri facti crimen ab:
sollte darunter nicht eben jene Einwilligung
cu verstehen sein?
Prag. Hans Lambel.
Armenische Bibliothek. Herausgegeben
von Abgar Joannissiany. Leipzig,
Verlag von Wilh. Friedrich, 1886.
I. Drei Erzählungen von Rafael
Patkanian. Aus dem Armenischen
übersetzt von Arthur Leist
IV, 164 S. 8».
U. Litterarische Skizzen von Arthur
Leist, 173 S. 8».
Ober den Zweck dieser Publikation spricht
sich der Herausgeber kurz und bündig dahin
aus, dafs es «die Absicht sei, die Kenntnis
der neueren armenischen Litteratur wenigstens
einigermafsen zu verbreiten**. Sehen wir nun
zu, inwieweit ihm dies durch die ersten zwei
Bändchen gelungen ist.
Das erste bietet uns als Proben der
modernen armenischen Novellistik drei kurze
^Erzählungen** eines der hervorragendsten
Schriftsteiler des heutigen Armeniens. Rafael
Patkanian, besonders unter dem Pseudonym
Achta,merkean bekannt, studierte an der
Universität Dorpat und somit gehört er zum
Kreise derjenigen armenischen Schriftsteller,
die unter dem Einflufse der deutschen
Litteratur und Wissenschaft stehen. Trotzdem
ist er echt national sowohl in seinen Dichtungen
als auch in den volkstümlichen| Erzählungen,
die von ihm verfafst wurden. Seine Lyrik
ist vor allem der Heimat, sowie den Freuden
und Leiden des armenischen Volkes gewidmet,
und viele seiner Lieder werden vom Volke
gesungen. Einige Proben derselben werden
uns von A. Leist im II. Bändchen S. 2g — 40
mitgeteilt. In seinen Novellen und Erzählungen
schildert er meistens das innere Leben der
armenischen Bevölkerung von Nachitschevan am
Don, indem er sogar im Dialekt dieser Ort-
schaft schreibt Zu solchen gehören die zwd
ersten Erzählungen des I. Bändchens, während
die dritte aus dem Leben der armenischen
Studenten in Petersburg herausgegriffen ist
^Mein Nachbar**, die Muhme Hripsimd, sowie
der Student Wajeltschian sind lauter typische
Gestalten, die uns sehr sympathisch berühren.
Wenn an ihnen etwas auszusetzen wäre, so
ist meistens nicht der Verfasser, sondern der
Obersetzer schuld daran, welcher denselben
manchmal seine eigenen Sympathien oder
Antipathien aufbürden wollte. So z. B. scheint
uns merkwürdig zu sein, dass der alte, brave
Mekr schon in seinen ersten Worten (S. 4)
die erste Kulturnation Westeuropas, mit der
er gewifs nie in Berührung war, als „Kerle*
schimpft Patkanian weifs nichts davon, denn
er schreibt nur öch thö la,*) was Leist
ganz willkürlich durch: „Ach das ist dem
Kerl ganz recht** wiedergiebt Dass dadurch
das Bild eines Armeniers gar nichts gewinnt,
im Gegenteil an Wahrheit sehr viel verliert,
versteht sich von selbst. Sonst scheint die
Übersetzung ganz wörtlich zu sein, daher
lesen sich auch diese Erzählungen im deutschen
Gewände ziemlich schwer. Trotzdem fehlen
z. B. bei der Aufzählung des Obstes S. 9 die
Weichsein (fischnä). S. xa. (Zeile 4 — 5 von
unten) ist ein ganzer Satz umgeändert und
das dorten vorkommende Sprichwort**) aus-
gelassen. Im armenischen Worte Raz S. 37
ist wohl ein Druckfehler für Pa^ (resp. Ba^).
Das zweite Bändchen enthält zehn nlitte-
rarische Skizzen** aus Neu-Armenien. Obwohl
dieselben in keinem direkten Zusammenhang
und nur ganz willkürlich an einander gereiht
sind, lafsen sie sich bequem und nicht ohne
Nutzen lesen. Zuerst spricht der Verfasser
über die armenischen Volkssänger und spexiell
*) Vergl. M. Achtamerkeani patmacaer
I Nor-Nachidscheani otschov (Materialy dlja
I izutschenija armjanskich naretschij. I. Govor
nachitschevanskij , izdal K. P. Patkanov)
] S. Petersburg. 1875. S. 50 ff.
' **) Am^ marth ir^n tün\ havin (kh. ir€n
pün'). Ich schreibe nach der ostarmenischen
Aussprache.
Besprechung;«!!.
195
über den vor hundert Jahren g^estorbenen
Sajatnowa aus Tiflis. Die zweite Skizze
ist dem oberwifanten Rafael Patkanian.
diedritte dem Dichter und Gelehrten, Pater Leo
Alischan gfewidmet Weiter lernen wir den
angeblichen armenischen Musset, Mkrtitsch
Beschiktaschlian aus Konstantinopel,
sowie den Freund Bodenstedts, Abowian
aus Transkaukasien, den angesehenen Päda-
gogen und Schriftsteller, kennen. — In dem
umiangreichsten Artikel Ober die Entstehung
und Wirksamkeit der Mechitharisten-Con-
gregation kommt der abgeschmackte Chau-
vinismus des Verfassers zu sehr zum Ausdruck.
Die Wiener Congregation verdient gewife
mehr Anerkennung und Achtung, als dies von
Seiten des Verfassers S. 108—9 geschieht.
Kennt er denn nicht die gröfste und beste
Grammatik der armenischen Vulgär-Sprache
von Dr. Aidynian, dem jetzigen General-
Abte dieser Congregation? Derselbe hat vor
Kurzem auch eine vorzügliche Grammatik
der klassisch-armenischen Sprache geschrieben
unc^ seit zwei Jahren erscheint in Wien das
umfangreiche deutsch-armenische Wörterbuch
von Dr. Goilavian. Was sonst die Wiener
Congregation auch nach Asarians Tode
g^chaffen hat, kann man sich leicht fiber-
zeugen aus dem Kataloge*) der von ihr
gedruckten armenischen Werke. —
Weiter folgen die Bilder des Erzbischofs
G.Aiwasowski, welcher aus einer polnisch -
armenischen Familie stammend, ein hervor-
ragender Philologe war, und des G. Sun du-
kianz aus Tiflis, der richtig als Schöpfer
des armenischen Lustspiels zu betrachten ist.
Aus der kurzen Geschichte des armenischen
Zeit ungs Wesens erfahren wir, dafs die
Gesammtzahl der von 1795 — 1885 bei ver-
schiedener Dauer erschienenen armenischen
Zeitungen und Zeitschriften sich auf 141 be-
lauft. Eine Skizze des früheren Konstantl-
nopeler Patriarchen Chrimian Hairik,
welcher mit Recht „der Vater seines Volkes**
genannt wird, schliefst die Reihe dieser Bilder,
*) ^ü^ak gro^ Mchitharean tparani i
Thriest eu i ViÄnna 1776- 1881.
aus welchen jeder gebildete europäische Leser
nicht wenig lernen kann. Man sieht hier
das geistige Leben des armenischen Volkes,
wie es sich sowohl in Grossarmenien, als auch
in den zahlreichen Kolonien — von Calcutta
bis nach Paris — manifestirt In diesem
Sinne kann die „Armenische Bibliothek**
nicht nur für die allgemeine Bildung, sondern
auch für eine Wissenschaft, wie die ver-
gleichende Litteraturgeschichte, von grossem
Nutzen sein.
Wien. J. Hanusz.
Digenl« Akritts. Nach dem byzantinischen
Epos wiedererzählt von Dr. A. Luber.
Separatabdruck aus dem 35. Jahresberichte
des k. k. Staatsgymnasiums in Salzburg,
1885 2g. S. 8«.
Digenis, mit dem Beinamen Akritas (von
äxpa also — Grenzverteidiger, ähnlich dem
deutschen „Markgrafen**) ist der Held eines
mittelgriechischen Volksepos. Die Erzählung
spielt an der Ostgrenze des byzantinischen
Reiches und spiegelt die Kämpfe wieder,
welche die Rhomäer gegen die mit jugend-
licher Kraft anstürmenden Sarazenen zu
führen hatten. Ein eigenartiges Interesse
erhält unser Gedicht dadurch, dafs sich das
Andenken an jenen mittelalterlichen Helden
Digenis in Ortsnamen und Liedern bis auf
den heutigen Tag erhalten hat. Das Epos
wurde zuerst bekannt durch eine in Trapezunt
gefundene Handschrift, welche Sathas und
Legrand herausgaben, Collection de monu-
ments pour servir ä T^tude de la langue
n^o-hell^ique, nouv. s^e vol. VI. (1875).
Später fanden sich noch drei andere Versionen :
Die eine, eine gereimte Bearbeitung des
chiotischen Mönches Ignaz Petrizis, ist von
Sp. Lambros ediert, Collection de romans
Grecs. Paris. 1880. S. iii — 237. Eine dritte,
die in einem Codex des Klosters Grotta-
Ferrata überliefert ist, wird von Lambros
a. a. O. S. XCI im Auszuge mitgeteilt; endlich
wurde eine vierte Bearbeitung des Stoffes
aus einer auf der Insel Andres entdeckten
Handschrift von Ant. Miliarakis, Athen 1881,
publiziert Indem Herr Dr. A. Luber in der
1«6
▼orliefeodeo Schrift den Inlialt der suent
^cnaaaCen Version des Epos in deutKber
NflcherzähluDgi einsehie Partien in metrischer
Übersetzung, Termittelt, verdient er sich den
Dank derer, die das etwas langwierige
Werk nicht selbst lesen und doch mit demselben
siuD Behufe literarhistorischer Forschung ^
es spielt unter anderem eine Rolle in der
Lenorenirage — - bekannt werden wollen.
Die metrisch abersetcten Partien zeugen
von dem Geschmacke und der poetischen Be-
gabung des Obersetzers, der schon früher durch
eine Übertragung neugriechischer Liebes-
distichen («Brotas.'« Salzburg. H. Kerber. 1883)
den Freuaden der VoUcspoesie eine will-
kommene Gabe gespendet hat Zum SchluTs
eine Berichtigung: Die S. 9 gegebene Er-
klärung des Wortes dTxXdrT^^: « Räuberbanden,
welche sich aus verbannten, vertriebenen
I^euten gebildet haben — dmlaujino*^ beruht
auf einem Irrtume; dis^'n^c beseichnet nicht
den „Vertriebenen**, sondern ist aktiv zu fassen;
es bedeutet ursprünglich den «Vtehwegtreiber**.
dann überhaupt den Räuber, Freibeuter und
entspricht also genau dem latetnischen abigeus,
abigeator, abactor (S. Archiv für lateinische
Lexikographie I, 438). Dieselbe unrichtige
Deutung des Wortes («banni*^) findet sich
übrigens auch in den erwähnten Ausgaben,
bei Sathas-Legrand S. «86, bei Lambros S. 338,
auch bei A. Eberhard „Über Digenis Akritas«*
Verhandlungen der 34. Phflologenversammlung
zu Trier, S. a. Auch das von dmXdnff^
gebildete Wort dTtBlarixt «Räuberkeule'' hatte
das Schicksal &lsch verstanden zu werden:
Jakob Grimm, Sendschreiben an Karl Lacb-
mann über Reinhart Fuchs, Leipzig 1840, er-
klärt im Glossar dneJiarbu aus einem wegen des
französischen pel^ (geschält) vorausgesetzten
italienischen pelato, so dais das Wort an*
Anglidi einen „geschälten** Stock bedeutet
haben solll
München. Karl Krumbacher.
-•••-
Berichtigung.
In Hsrm Prof. H. OestsrUys Anfissts im erstsn Hefts sind dnroh ein Vsraehen, das wir m
entsohuldigen hitten, folgende Drackfehler stehen geblieben:
S.60 Z.9v. n. L: Mann f. kann. 8. BO Z. 9 v. tl 1.: mache f. machen. 8.61 Z.9 L: Kopisoh
f Kobisoh. S. 61 Z. 10 V. u. L: Widterf Widder. 8. 6fi Z. 12 L: Z. f. et. 8.eaZ. U L: Demosthenes
f. Demostenes. S. 62 Z. 14 ▼. u. n. S. 6i Z. 21 1.: Lnsoinins £ Sosoinins. 8. 62 Z. 12 v. o. u. oft. 1.:
Entrapelienf. Eutragelien. 8. 68 Z.H.: sermonesf. seronee. &68Z. 6 L: Avadänasf. Avodftn«k
8.68Z.10L:Aelianf. AUian. a68Z.10L: Oognatusf. Oognatos. S.68Z.9B1.: Benfey f. Benfay
8. 64 Z. 8 Der 8pmch heiset: äianam ^tam jlvananä^am. 8. 64 Z. 21 l: Hanlins £ Kaolins. 8. S4
Z. 9 V. n- 1.: Er et f. Fast. 8. 69 Z. 12 1.: Wache f. Woche, a 59 Z. 47 |1 .- 10 f. 6a 8 dl Z.26 L-
PadeiyiBohi f. Padeip4MhL 8. 62 Z. 17 v. n. o. 6ft. L: Mileichan f. Milliohan. 8. 62 Z. 16 v n. 1*
Ayinar f. Apinar. S. 68 Z. 19 1.: von f. vor. a 66 Z. 4 n. 6ft. L: V all nv an f. NaUnv»n. 8. 66 Z. 21
V. n. n. oft. ].: Madeiyan f. Madeipan. aTOZ. Uv. n. 1.: Udeamelyams Udsamayams. S. 70Z.H
▼. u. 1 : Pnrrachohameiyanis f. Pnrreohohamayams.
Druck von A. Haack, Berlin NW., Doroüieeoetr. 55.
Die ästhetische Naturbeseelung
in antiker und moderner Poesie.
Von
Alfred Biese.
II.
Im Mittelalter wirkte das Christentum unleugbar einem lebhaften Natur-
gefuhl, einer Freude an der Natur um ihrer selbst willen, entgegen.
Das Christentum verschärfte noch den Gegensatz zwischen Gott und Welt,
Schöpfer und Schöpfung, den das Judentum aufgestellt hatte. „Habt
nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist; so jemand die Welt lieb
hat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters" mahnt Johannes. Es gilt,
die Blicke nach oben richten zu dem himmlischen Vater, der über den
Sternen tront: „lafs was irdisch ist, dahinten, schwing dich über die
Natur," predigt der gläubige Sänger. Heiter genofs der Grieche sein
Leben; Daseinsfreude durchdringt ihn bis in die Zeiten des Verfalls; im
Christentum ward „alle Erdengegenwart zur Himmelszukunft verflüchtigt,
und das Reich des Unendlichen blühte über der Brandstätte der Endlich-
keit auf (Jean Paul), ja es wird die schöne Welt wie ein verlockendes
Zaubermittel des Satans, wie ein verführerischer, gleifsnerischer Schein,
unter dem, wie der Wurm in der Frucht, sich die Sünde birgt, geflohen.
Die antike Mythologie baute über die Erscheinungswelt eine zweite auf,
die jene verhüllte wie ein duftiges Gewebe; der antike Mensch sah in
allen Natur-Phänomenen die Stätten göttlichen Wirkens, er ahnte und
träumte in allem und jedem von einem göttlichen Wesen, das ihm ver-
wandt sei; das Landschaftliche ward so zunächst [vom Göttlichen aufge-
sogen. Judentum und Christentum trennten aufs Schärfste Gott und
Natur — diese steht jenem gegenüber wie ein abgefallener Engel. Es
gfiebt nur eine Welt, und das ist die Welt des Geistes, und es giebt nur
eine Sphäre des Geistes, und das ist die der Religion, des Verhältnisses
Ztschr. f. T^l. Litt.-Geach. I. |^
198 Alfred Biese.
zwischen Mensch und Gott Alles Sinnliche ist ein Blendwerk des Teufels.
War der Götterglaube der Hellenen pandämonistisch und kosmisch, so
war das Christentum in seiner ursprünglichen Tendenz antikosmisch,
naturfeindlich; denn die Welt, die Natur existiert nur in Bezug auf den
Schöpfer, sie ist nicht mehr „die erhabene Mutter der Dinge," sondern
nur ein Mittel in der Hand der Vorsehung. „Ästhetischen Gestaltungs-
trieben konnte solche Sinnesweise, für die nichts mehr auf sich beruhte,
alles auf anderes hindeutete oder bezogen war, nicht förderlich sein"
(Lotze). Aber wenn so alles sich nur in die Tiefe des Geistes senkte
und die Welt gleichsam unterging in dem Spiritualismus, wenn so das
Geistige die Alleinherrschaft führte, so mufste auch die Unendlichkeit des
individuellen Ichs weit schärfer hervorspringen, als es in der Welt-
geschichte bis dahin möglich war. Und dieser christliche Individualismus
fand seine volle Vertiefung durch die Verschmelzung mit dem germanischen.
Die rauhe nordische Natur mit dem grauen Himmel, dem langsamen
Erwachen neuen Lebens im Frühling, der Sehnsucht im Winter nach
Licht und Wärme, wies den Germanen in sein Inneres zurück. Und diese
tiefinnerliche Anlage bot den fruchtbarsten Boden dar für die neuen
Keime der überreifen antiken Kultur und vor allem des lebenskräftigen
Christentums. — Aber dem deutschen Gemüt war von Anfang an ein
inniger Sinn für die Natur, ein herzliches Naturgefuhl angeboren; des ist
ihre Religion, sind ihre Mythen, Sagen und Märchen beredte Zeugen.
Heilige Schauer der Andacht durchwehten sie im Dunkel des Hains, im
Schatten der Wälder, da spürten sie im Rauschen der Baumkronen,
im Wehen des Windes, im Geflüster der Blätter die Nähe der Götter.
So beseelten auch sie Himmel und Erde, Flüsse und Meer, Klüfte und
Schluchten mit freundlichen und feindlichen Mächten, mit Göttern, Riesen,
Zwergen und Alben. Besonders vertraulich steht der Germane der
Mythenzeit den Tieren gegenüber; aber auch zu Sonne und Mond ist
das Verhältnis ein vertrautes: „Herr Mond und Frau Sonne" sind gäng
und gäbe in der Sage. Der Sommer hält Einzug wie ein Held; sein
Gefolge ist der grünende Mai, während das des Winters Reif und Schnee
ist u. s. f. Als nun aber das Christentum die heidnische Religion ver-
drängte, fand der daseinsfrische und genufsfrohe Natursinn der Germanen
am Christentum, dieser Religion des Transzendenten, zunächst eine Fessel,
wenn auch zugleich an der tiefen Innerlichkeit desselben eine Stütze, an
der er sich mit gesteigerter Innigkeit emporranken konnte. — Allerdings
aber vollzog sich der Prozefs, in welchem die Natur selbständig los-
gelöst wurde von rein religiösen Motiven, weit langsamer im Mittelalter
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und moderner Poesie, II. 199
als mutatis mutandis in der heiteren Griechenwelt. Die ästhetische Be-
seelung, diese Vorstufe sympathetischen Naturgefuhls, begegnet in der
rein christlichen Litteratur nur sehr selten. Bewufste, ausgesprochene
Freude an der Natur ist aber durchaus nicht fremd den griechischen
Kirchenvätern, ja in manchen Schilderungen mischt sich in dieselbe eine
gewisse Weichheit der Empfindung, ja schwermütige Sentimentalität
Basilius bewundert die Schönheit des Meeres in seiner wechselnden
Färbung und bekennt*) : „Ein lieblicher Anblick ist das glänzende Meer,
wenn die unbewegliche Stille es fesselt, lieblich aber auch ist es, wenn
es vom Hauch der Lüfte sanft bewegt auf der Oberfläche sich kräuselt,
bald purpurnes, bald weifses, bald blaues Licht zurückwirft, wenn es
nicht gewaltig das Festland peitscht, sondern mit friedlicher Umarmung
liebkost.** Tiefe Melancholie atmen die Zeilen des Gregor v. Nazianz in
seinem Gedicht von der Natur des Menschen**), in denen er die Stimmung
in der Natur und in seiner Seele in Kontrast setzt nicht ohne poetische
Beseelung: „Von meinem Kummer gepeinigt safs ich allein im schattigen
Hain, mein Herz in Gram verzehrend; denn ich liebe dies Heilmittel im
Leiden, selbst mit mir im Geiste zu reden, schweigend: die Lüfte flüsterten
zugleich mit den sangreichen Vögeln, von den Zweigen herab süfsen
Schlummer spendend dem so sehr danach verlangenden Gemüte; von
den Bäumen herab durchtönten hellsingend die Cikaden, die Freundinnen
der Sonne, mit ihrem Gesumme den ganzen Hain, und daneben bespülte
kühles Wasser die Füfse, ruhig fliefsend durch die tauige Flur — ich
aber blieb fest bei meinem Schmerz, da der Sinn, wenn er von Kummer
gefesselt ist, nicht teilnehmen mag an der Freude." — Besonders Gregorius
von Nyssa erhebt sich oft zu hohem, pathetischem Schwung, der an die
Psalmen und Hiob gemahnt,***) und keiner giebt dem sentimental schwer-
mütigen Naturgefiihl tieferen Ausdruck als dieser Gregorius. Es sind in
der That überraschende Bekenntoisse, f) die a priori niemand in jenem
Zeitalter vermuten möchte, wenn wir bei ihm lesen, wieder nicht ohne
stimmungsvolle Beseelung: „Wenn ich jeden Felsenrücken, jeden Tal-
grund, jede Ebene mit neuentsprossenem Grase bedeckt sehe, dann den
mannigfaltigen Schmuck der Bäume und zu meinen Füfsen die Lilien,
doppelt Von der Natur ausgestattet mit Wohlgeruch und mit Farbenreiz;
*) Homilien IV, p. 45 (op. I, Paris 1638).
**) Tom. n, p. 468, c. 14, Paris 1840.
***) Vgl. Txpl <l'^x^i'^ '^^ äva<TTdffeü}<; 188 B; irtpl xaTa<TX£u^<; dv^pwTmo, Xoy. a\i, ß 'j%6 C
t) Vgl. ed. Paris 1615 I p. 149 C, aio C, 780 C, II p. 860 B. 619 B, D, 324 D.
Humboldt Kosmos II 29.
200 Alfred Biese.
wenn ich in der Ferne sehe das Meer, zu dem hin die wandehide Wolke
fiihrt: so wird mein Gemüt von Schwermut ergriffen, die nicht ohne
Wonne ist;*) verschwinden dann im Herbste die Früchte, fallen die
Blätter, starren die Äste des Baumes ihres Schmuckes beraubt, so ver-
senken wir uns in den Einklang der Wunderkräfte der Natur. Wer
diese mit dem sinnigen Auge der Seele durchschaut, fühlt des Menschen
Kleinheit bei der Gröfse des Weltalls." —
Solche Gedankentiefe und Gemütsschwere begegnet uns bei den
römischen christlichen Schriftstellern nicht; aber auch die lateinische
Hymnenpoesie ist durchweht von inniger Naturandacht, d. h. in dem
Sinne, dafs sie die Natur preist als die Dienerin des Schöpfers oder sie
zum Sinnbild sittlicher Ideen macht, wie die leuchtende Sonne zum
Symbol Christi, des wahren Lichtbringers. Für Beseelungen ist da wenig
Raum. Hilarius bekennt (h. 2), nicht würdig zu sein, die sündigen
Augen zu den hellen Sternen des Himmels zu erheben, und fordert alle
Kreaturen auf, Himmel und Erde und Meer und Flüsse und Hügel und
Felder, Rosen und Lilien und die blitzenden Sterne, mit ihm zu weinen
und zu klagen über die Sündhaftigkeit der Menschen! Ambrosius singt
in der neunten Hymne: „Ebbe und Flut im Wellenschlage und der
sturmumbrauste Strand, Regen, Schnee und Frost und Hitze, Luft und
Wald und Nacht und Tag von Jahrhundert zu Jahrhundert feiern preisend
alle dich!" — In einer schwungvoll gehobenen Stelle seiner Bekenntnisse
(v. 9) läfst August in die ganze Natur mit lauter Stimme Zeugnis ablegen
von dem Dasein Gottes: Was ist Gott? Ich habe die Erde gefragt und
sie hat gesagt: „ich bin es nicht ^, und alles, was auf derselben ist, hat
dasselbe bekannt; ich habe das Meer gefragt und die Abgründe und
alles, was da kriecht unter den lebenden Wesen, und sie haben geant-
wortet: „wir sind nicht dein Gott, suche über uns!" Ich habe die
säuselnden Winde gefragt, und die gesamte Luft mit allem, was in ihr
lebt, sagte: „es irrte sich Anaximenes, ich bin nicht Gott." Ich habe
den Himmel, die Sonne, den Mond, die Sterne gefragt. „Auch wir sind
nicht der Gott, den du suchest", riefen sie. Und ich habe sie alle zu-
sammen gefragt^ die meine Sinne umgeben: „Ihr habt mir gesagt von
meinem Gott, dafs ihr es nicht seid! Sagt mir nun etwas von jenem!"
Und sie haben mit lauter Stimme gerufen: „Er hat uns gemacht!" —
Aug^stin hat in harten Seelenkämpfen sich aus dem Heidentum zum
*) /c^ec jroatv nannte diese Wonne Euripides — Petrarca später: dolendi voluptas.
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und moderner Poesie, II. 201
Christentum durchgerungen; eine höchst bemerkenswerte Mischung beider
Elemente zeigen uns die Briefe des Ausonius, des Dichters der Mosella,*)
an den Bischof Paulinus. Ausonius weist mit seiner sentimentalen Natur-
betrachtung, mit seinen Schilderungen derselben um ihrer selbst willen,
mit dem feinen Sinn für das eigentlich Malerische in der Natur bereits
ins christlich germanische Zeitalter weit hinein, obgleich er noch fest im
heidnischen Römertum wurzelt. Höchst stimmungsvoll sind manche
Partieen seiner poetischen Episteln, aus denen wir ersehen, wie zum
Briefstil damaliger Zeit bereits eine längere Betrachtung über Stimmung
der Landschaft und des Wetters als Einleitung gehörte. Sympathetische
Naturanschauung und Freundesliebe verweben sich zu echt poetischem
Gefühlsausdruck in der ep. XXIV, wo Ausonius klag^, dafs Paulinus ihn
keiner Antwort würdige, sondern sich in Schweigen hülle: „Selbst der
feindliche Barbar erwiedert den Grufs, und mitten unter den Waffen
ertönt das Salve. Auch die Felsen antworten dem Menschen, und das
anschlagende Wort kehrt von den Grotten zurück; die Felsengestade
des Meeres rufen, es murmeln die Bäche, es surrt der Zaun, von
hybläischen Bienen umschwärmt, auch an den rohrreichen Ufern tönt
melodisches Rauschen; zitternd flüstert im Winde das Laub der Pinie,
und sobald in die spitzen Blätter der leichte Eurus fallt, antworten
dindymische Gesänge im gargarischen Hain; die ganze Natur redeTt, nicht
der Vogel der Luft, nicht die Tiere schweigen; es hat ihr Zischen die
Schlange, selbst die Wesen der Meerestiefe schnappen mit feiner
Stimme" u. s. f. Sinniger kann wohl niemand zur Briefantwort gemahnt
werden — und wie zart werden im Einzelnen die Laute in der Natur
gedeutet, das Echo der Berge, das Flüstern des Laubes, das Rauschen
des Windes, das Murmeln der Quellen, das melodische Schwanken des
Rohres. Und den Leser muten diese Schilderungen an wie der Nach-
hall der verklungenen antik-klassischen Poesie. —
Das Leben von Heiligen und die Paraphrase der Schöpfungsgeschichte
bilden das Hauptthema der christlichen Dichter des 4. und 5. Jahrhunderts ;
oft genug werden Sterne, Hagel imd Stürme, Erde und Meer und Flüsse
und Quellen aufgeboten, um das Lob Gottes zu singen, dem Schöpfer ent-
gegenzujubeln; doch führen alle diese Beseelungen uns nicht weiter, da
sie mehr dogmatisch als ästhetisch sind. Doch an des Theokritos
flüsternde Kypressen, die einzigen Zeugen der Liebeslust, an des CatuUus
*) Vgl, fiber dieselbe, die Entw, des Naturgefühls bei den RömerD, S. 183 £
202 Alfred Biese.
auf die stille nächtliche Liebe der Sterblichen herabschauende Sterne
(c. 8) erinnert des Avitus*) glühende Schilderung des ersten Ehebundes:
„Der Engel Chöre sangen der keuschen Liebe das Hochzeitslied, das
Ehebett war das Paradies, die Mitgift war die Welt, und mit fröhlichem
Leuchten strahlten auf sie herab die Sterne." Auch die sonst ffir die
allgemeine Entwicklung des Naturgefiihls recht bedeutsamen Schriftsteller
Apollinaris Sidonius**) und Cassiodorus***) bieten ' nichts von Belang.
Wie auf den Dichtungen des Ausonius, so liegt auch auf ;denen
des Venantius Fortunatus der letzte Abendschein einer untergehenden
Litteratur. Er ist in der dumpfen, schweren Zeit des 6. Jahrhunderts die
lichteste Persönlichkeit; im Verkehr mit einer deutschen Frau, der un-
glücklichen Thüringer Fürstentochter Radegunde, vertieft sich sein Gemüts-
leben in seltener Weise; oft versteht er die Töne des CatuUus und
TibuUus zu treffen, wenn auch dann wieder schwülstige Rhetorik die
Empfindung überwuchert. Reizvoll sind besonders die kleineren Episteln
an Radegunde und Agnes, die als Begleitschreiben von Blumen dienen,
welche mit Farbe und Duft beredt zeugen sollen von seiner Freundschaft
und Liebe. In dem gröfseren Gedichte „über den Untergang Thüringens",
das Leof) mit Recht das letzte hervorragende Erzeugnis der römischen
Elegie nennt, legt er der Sehnsüchtigen die innigen Worte in den Mund:
Du, (o Aroalafried, o Bruder) der Verwaisten warst du an Vaters Statt, des erschlagenen.
Mutter sah ich in dir, Schwester und Bruder in dir;
Nahmst in den Arm mich schmeichelnd, ich hingf am Kusse des Bruders,
Und dein kosendes Wort rührte mein kindisches Herz. . .
Wüfst* ich den Ort nur! Umsonst die säuselnden Lüfte befrag* ich,
Frage das leichte Gewölk, fährt es am Himmel daher.
Hielte mich nicht in Banden des Klosters heilige Mauer,
Glaube mir, wo du auch weilst, plötzlich erschien ich vor dir. . . .
Wie Ausonius den Paulinus zum Schreiben mahnt mit dem Hinweis
auf die Natur, die, stumm, doch mit tausend Zungen rede, so heifst es
bei Fortunatus (VI, v. 303, Monum. Germ. IV): „Ich rufe dich, Gelesvintha!
Quellen, Wellen, Flufs und Feld rufen dich; du schweigst, Gelesvintha?
Antworte, wie deiner Schwester die schweigende Natur antwortet: die
*) Migrne Patrol. LIX, 163.
**) In seinen Villenschilderungen erinnert er an den j. Plinius, c. XXU (Migne LVIl)
epist. n. 2 und 9.
***) Vgl. ganz besonders die herrliche Schilderung des Komer-Sees Var. XI, 14 Lug-
duni 1677.
f) In dem schönen Aufsatze Venantius Fortunatus, d. letzte röm. Dichter. D.Rundsch. 1883.
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und moderner Poesie, II. 203
Steine, der Berg, der Hain, die Welle, der Himmel;" angsterfüllt fragt
sie die Lüfte, aber, „über der Schwester Ergehen schweigt alles!"
Virtuos ist Fortunat in ausgeführten Schilderungen der Natur, wie
des Frühlings VI praef. oder HI., wo sich die schöne Zeile findet: „die
Blumen auf dem Rasen schlagen lachend die leuchtenden Augen auf,
und jeder Baum rauscht Beifall mit seinem Laube." Auch in den umfang-
reichen Mosel- und Rheingedichten begegnet manche hübsche Beseelung,
wie in dem Briefe „an den Bischof Villicus": „Kosend bespült das
Gestad*, duftreich von sprossendem Grase, Hier das Gewog' und benetzt
linde den Kräutern das Haupt . . Frachtvoll lacht das Gefild' im Grün
aufsprossender Saaten,'' und in seiner „Moselreise von Metz bis Ander-
nach": „Höher im engeren Thal hebt da die Welle das Haupt . . All-
wärts siehst du die Höhn umkleidet mit grünenden Reben, Und sanft
fächelnde Luft spielet der Rank' im Gelock, Dicht in Zeilen gepflanzt in
das Schiefergestein ist der Rebstock, Und an die Brauen des Bergs ziehn
sich begrenzte Geländ', Anbau lacht aus starrendem Felsschmuck Pflegern
entgegen. Selbst in der Blässe des Steins rötet die Traube sich hold" . . .
u. s. f. —
Wie es in der römischen Litteratur eine sehr charakteristische Er-
scheinung ist, dafs nicht blofs ihre Heroen, sondern auch die minder-
wertigen Nachahmer derselben doch noch immer wieder begeisterte oder
geistlose Nachbeter finden, so zehrt noch mehr die lateinische Poesie
des Mittelalters an den Erinnerungen der Vergangenheit oder sucht sich
an ihr aufzurichten, und dann kommt eine Zeit, in der selbst Spädinge
wie Fortunatus angestaunt, nachgebildet^und bei weitem nicht — erreicht
werden. Ein Naso Muadovinus*) sucht mit Calpumius und Nemesianus,
den kümmerlichen Nachtretern Virgils, zu wetteifern, Theodulf v. Orleans
mit den Ausonius und Fortunatus, am sinnigsten trifft noch Walahfried den
rechten Ton der Idylle in seinem vielgerühmten Hortulus — doch für
unser Thema erblüht auch in diesem nichts Hervorstechendes oder
Bedeutsames. —
In unseren deutschen Nationalepen, dem Nibelungen- und Gudrun-
liede tritt die Natur völlig vor den Menschen zurück; es giebt kaum in der
Weltlitteratur ein Epos, das so karg in Zeit- und Ortschüderung wäre
wie das Nibelungenlied. So hart und markig die Charakteristik der
Helden und die Darstellung ihres Handelns und Leidens, so sparsam, ja
*) Bequem zugänglich sind diese späten lateinischen Dichter jetzt in den Monum.
German. histor. poet. lat. medii aevi Berlin x88i ed, Dümmler.
204 Alfred Biese.
arm ist die Erzählung an bildlichem Ausdruck und an Vergleichen.
Welche sinnliche Schönheit, welche plastische Kraft wohnt in der Fülle
von Gleichnissen bei Homer sowie in den das Ornament bildenden
Schilderungen der Tages- und Jahreszeiten! Auch das homerische Epos
kennt noch nicht — wenigstens nur in leisestem Ansatz, wie wir sahen
— die sympathetische Naturbeseelung, sondern objektiv tritt in der
Form des epischen Gleichnisses das Naturbild dem Geschilderten zur
Seite, aber welche Innigkeit, welche Beobachtungsschärfe und welche
reiche, Himmel und Erde und Meer umfassende Abwechslung! Dagegen
wäre es schwer, „das gemütliche Naturgefuhl der Deutschen" an den
Nibelungen nachzuweisen. Inder und Griechen machen sämtliche Er-
scheinungen der Natur zum Gegenbilde menschlicher Handlungen und
Zustände und flechten die lieblichsten, wie ein selbständiges Ganzes
dastehenden Genrebilder aus dem Naturleben, aus Pflanzen- und Tierwelt
in die Erzählung ein — und der Deutsche in seinen volkstümlichen Epenl? —
Die Naturumgebung dient nicht einmal als Rahmen, Zeit- und Ort-
bezeichnungen sind so dürftig wie möglich; vollends nach ästhetischen
Naturbeseelungen suchen wir durchaus vergebens. Siegfried soll er-
mordet werden. Da heifst es: „An einem kalten Brunnen verlor er
bald das Leben . . Da ritten sie von dannen in einen tiefen Tann . •
Da liefs man herbergen bei dem Walde grün, Wo sie da jagen wollten
auf breitem Angergrund . . Der Brunnen war lauter, kühl und auch
gut . . Da fiel in die Blumen der Kriemhilde Mann . . Die Blumen
allenthalben wurden vom Blute nafs" — keine Spur von Mitgefühl der
Natur, wie der Inder und der Grieche (Adonis, Daphnis!) bei derlei
Schilderungen nicht versäumen pathetisch zu schildern. Über geringe
Beispiele von Gleichnissen (Kriemhilde wird mit dem Morgenrot und
dem Vollmond verglichen) kommt das Nibelungenlied nicht hinaus. —
Als den ersten Ansatz einer sympathetischen Naturauffassung haben wir
im Gudrunliede die Schilderung des Zaubers, den der Gesang Horands
ausübt, zu verzeichnen.
Allerdings zieht dieser nordische Orpheus nicht die ganze Natur in
seinen Bann, sondern eigentlich nur die kleine Vogelwelt und
die Tiere: „Er sang mit so herrlicher Stimme: davon geschwieg der
kleinen Vöglein Schallen", und „wieder hub er an zu singen, dafs ringsum
in den Hängen alle Vögel schwiegen vor seinem süfsen Sänge . . Die
Tier' im Walde liefsen ihre Weiden stehn, Die Würmer, die da sollten
in dem Grase gehn, Die Fische, die da sollten in dem Wasser fliefsen,
Verliefsen ihre Fährte: wohl durften seine Kunst' ihn nicht verdriefsen."
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und moderner Poesie, II. 205
Romantisch-phantastisch, wie das höfische Ritterepos überhaupt ist,
— läfst Lamprecht in seiner Alexandersage liebliche Mädchen den auf-
geschlossenen Knospen der Wunderblumen entspringen, rot wie das
Morgenrot und weifs wie der lichte Tag, Kinder der grünen Schatten
und der stillen Waldeinsamkeit — und luiter den glühenden Strahlen
der Sonne welken sie hin und sterben, die Blumenkinder.*) Wohl ist
diese Übertragung seelischen Lebens auf die duftenden und dann ver-
gehenden Blumen, diese Umdeutung derselben in liebliche Mädchen hoch-
poetisch, aber auch sie kann nur als eine der ersten Vorstufen ästhetischer
Naturbeseelung gelten. Über der Wunderwelt, die sie in ihrer Phantasie
sich aufbauen, vergessen diese höfischen Epiker die Welt, die vor ihren
Augen liegt — so Hartmann, so Wolfram.
In einer Frühlingsschilderung Meister Gottfrieds aber lesen wir
„Die lichten Blumen lachten aus dem betauten Grase; Des Maien Freund,
der grüne Rase, Hatte aus Blumen sich gemacht So wonnigliche Sommer-
tracht . . . Da hatten sie sich gelagert in das grüne Gras, Die wilden
Waldvögelein, die hiefsen sie willkommen sein; Der kühle Brunnen
raunte gar süfse Gegen sie seine Grüfse, Und alles, das da blühte, das Sah
ihnen lachend ins Angesicht; Auch grüfste sie funkelnd im Morgenlicht, Der
Tau mit seiner Süfse, Der kühlte ihre Füfse Und sänftete ihre Herzen gar."
Gottfried bietet also schon deutlichere Ansätze der Beseelung; und
wie Longos die Nacht und das Schweigen zu Ehezeugen macht, so macht
jener zu Mannen und Gefolge der einsam in der Minnegrotte der Liebes-
lust Huldigenden den Baum und die Sonne und das Gras und die Vögel:
nSle hielten Hof, sie hatten Gut, Darauf die Freude all beruht;
Ihr stetes Ingesinde, Das war die grüne Linde,
Der Schatten und die Sonne, die Aue und der Bronne,
Blumen und Gras, Laub und BlOt*, Was tröstet Augen und GemQt
Ihr Dienst das war der Vogelschall: Die kleine reine Nachtigal,
Drossel und Amsel obendrein, Und andere Waldvögelein . .
Dies Gesinde diente zu aller Zeit Ihrem Ohr und ihrem Sinne,
Ihre Hochzeit war die Minne.**
Wir sehen, Meister Gottfried versteht es, Liebesleben und Naturleben
in eins zu weben, das Leblose zu beseelen und auch die starre Natur in
den Bann der Minne zu ziehen, und so ist die Liebe der fruchtbare Boden
geworden, auf dem die ersten Blütenkeime sinnigen Naturgefiihls auf-
sprossen. Aber der Minnesang selbst, die Liebeslyrik des dreizehnten
*) An diesen alten lieblichen Sagenzug knüpft Richard Wagner im Parsi^ wieder an
in seiner einzig schönen Darstellung der „Blumenmädchen** (Anm. d. Red.).
206 Alfred Biese.
Jahrhunderts, bringt trotzdem die Keime nicht zur Entfaltung. Wohl
spielen Sommerfreude, Frühlingssehnen im Winter, Wiesengrün, Baches-
rauschen und Windeswehen keine geringe Rolle, wohl sprechen die
Sänger direkt ihre Wonne aus, wenn der Mai wieder mit Lerchenschall
eingezogen, wenn der Wald wieder grünt, aber von einer sympathetischen
Durchdringung des Naturbildes mit der Seelenstimmung begegnet kaum
eine Spur. Das Landschaftliche ist doch nur Arabeske, und da immer
wieder dieselben Gedanken wiederkehren, ' wirken sie monoton. Mögen
manche Dichter auch ihre Empfindung in Harmonie oder Kontrast mit
der Naturumgebung setzen, zu einer beides verquickenden Beseelung der
Natur kommt es selten oder jedenfalls halten sich diese in ganz engen
von Gottfried schon gezogenen Grenzen — wie wenn Walther von der
Vogelweide singt: „Wenn die Blumen aus dem Grase dringen, Gleich
als lachten sie hinauf zur Sonne;" die Perle seiner Lieder ist das vom
Zauberlichte der Unschuld umstrahlte und doch von sinnlich frischester
Liebe durchglühte „Unter den Linden an der Haide" mit dem reizenden
Schlufs: „Wie mich der Gute herzte, keiner erfahre das, als er und ich, Und
ein kleines Vögelein, Tandaradei! Das wird wohl verschwiegen sein!" —
Ziehen wir das Resultat unserer Untersuchung der deutschen Poesie
bis ins 13. Jahrhundert hinein, so hat sich ergeben, dafe die ästhetische
Naturbeseelung nur in geringen Ansätzen zu finden ist, und da wir in
ihr die Vorbedingung eines Naturgefühls, das sich auf die Natur um
ihrer selbst willen erstreckt, gefunden haben, so ist zu bekennen, dafs
die mittelalterliche deutsche Lyrik noch nicht jene Höhe erreicht, auf der
wir die Naturanschauung des Hellenismus fanden. —
Erst die i|tal,ienische Renaissance spinnt die Fäden weiter, die der
Hellenismus angesponnen; Es giebt kaum Kulturepochen, die, trotzdem
eine so grofse Reihe von Jahrhunderten sie trennt, so viele nicht blofe
Vergleichungs- sondern auch Berührungspunkte bieten wie Hellenismus
und Renaissance.*) In sozialer, politischer, wie künstlerischer und wissen-
schaftlicher Hinsicht. Was speziell die Empfindungsweise betrifft, so ist
deren Grundzug in beiden Epochen die Sentimentalität, das absichtliche
Schwelgen in Gefühlen, gepaart mit Schwermut und Melancholie, und
was die darstellende Kunst und die Wissenschaft anlangt, so bildet
den Grundzug das Bestreben, die Dinge in ihrer Realität zu erfassen.
Das Naturgefühl wird immer individueller — die Sehnsucht und Empfind-
*) Des Näheren habe ich dies dargethan in dem schon S. 140 a. Aufsatze „die Natur-
anschauung des Hellenismus und der Renaissance^* Preufs. Jahrb., Bd. LVU, Heft 6, S. 527 ff.
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und moderner Poesie, IL 307
samkeit des Grofsstädters giebt ihm den Charakter des Sentimental-
Idyllischen, womit sich als drittes Moment die Erotik verbindet. Die
Natur wird im Hellenismus um ihrer selbst willen gesucht und geschildert,
so auch in der Renaissance. Innige Sympathie waltet ob zwischen dem
Menschen und der Natur. Er preist ihr sein Glück, sie scheint es ihm
wiederzustrahlen, oder er klagt ihr sein Leid xmd sucht Trost in ihrem
stillen Frieden. Die ästhetische Naturbeseelung ergiebt sich damit von
selbst. Kommen wir von den national-griechischen Werken der Künstler
und Dichter, von Homer, Sophokles und Phidias zu den Alexandrinern
Theokritos und Kallimachos und zu den pergamenischen Darstellungen,
so fühlen wir uns in eine neue Welt versetzt, in der alles und jedes den
Stempel der Umwandlung trägt, in eine neue Welt der Anschauungs-
und Empfindungsweise. Ein nicht geringerer Abstand macht sich be-
merklich, wenn wir uns von dem Nibelungen- und Gudrunliede und den
Minnesängern zu Dante und Petrarca wenden. Wie karg und knapp
und monoton dort alles (Gleichnisse, Metaphern, Beseelungen) und welche
Fülle und Abwechslung bei diesen! Allen Sphären des Naturlebens
entnimmt Dante seine Gleichnisse — Blumen und Vögel, Meer und Sturm,
Himmel und Sterne werden als Gegenbilder verwandt, und manche Be-
seelung flicht er den gröfseren Schilderungen ein. So in der hoch-
poetischen des irdischen Paradieses (Purg. XXVIII): . . „Von einem
Lufthauch, einem steten, linden. Ward leiser Zug an meiner Stirn erregt.
Nicht schärfer als von leisen Frühlingswinden. Er zwang das Laub, zum
Zittern leicht bewegt, Sich ganz nach jener Seite hinzuneigen, Wohin der
Berg den ersten Schatten schlägt. Doch nicht so heftig wühlt er in den
Zweigen, Dafs es die Vögel hindert, im Gesang Aus grünen Höhen alle
ihre Kunst zu zeigen. Nein, wie der Lüfte Hauch ins Dickicht drang,
Frohlockten sie ihr Morgenlied entgegen. Wozu begleitend Laubgeflüster
klang. Wie Zweig' um Zweige flüsternd sich bewegen Im hohen Fichten-
wald an Chiassi's Strand, Wenn frei sich des Siroccos Schwingen regen". .
Mehr bietet uns Petrarca, den man mit vollem Recht einen der ersten
wirklich modernen Menschen nennen kann. Er ist modern in seiner
ganzen Denkweise, in seiner Sentimentalität, seiner Melancholie. Jedes
leise Gekräusel seiner Seele belauscht er, er hätschelt sein Herz wie
ein krankes Kind. Mit Wonne giebt er sich dem Schmerz, der Wehmut
hin — und vor allem mit seinem ganz sentimentalen Liebesleben ver-
quickt sich aufs Innigste das intimste Mitleben mit der Natur. Seine
Gedichte sind durchflochten von Bildern und Vergleichen aus Pflanzen-
und Tierwelt. Die Empfindung, die er in seiner Brust trägt, setzt er
?08 Alfred Biese.
auch bei den Naturerscheioungen voraus; er beneidet die Blumen, auf
denen die Geliebte ruht,dieLuft, die ihre Wangen umfächelt (Canz.CXXVIII):
Glückselige Blumen ihr, die oftmalen Madonna sinnend drückt, o lichte Sprossen,
Ihr Höhn, wo sich ihr süises Wort ergossen Und schönen Fufses Spuren noch sich malen, . .
Du Schattenwald, von Sonnenlicht durchflössen; Wie neidet' ich so holde Nähe Euch! . .
Theokritos läfst einmal (VIII, 41) die reizende Nais die Natur in den
Bann ihrer Schönheit ziehen, so dafs die LebensfuUe des Mädchens hinüber-
quillt in die Natur und sie neu belebt: „Wo sie weilt, da ist allwärts
Frühling und üppige Weide, und allwärts füllen die Euter sich mit köst-
licher Milch, trefflich gedeihet die Zucht . . doch scheidet sie wieder,
welket der hütende Hirt, welken die Kühe dahin." Ein ähnliches rühmt
Petrarca an seiner Geliebten. Schon von dem kleinen Kinde strömt neues
Leben und Schönheit auf die umgebende Natur über. Ganz. XXV, Str. 6:
Kriechend und schwanken Schrittes schon liefs Reben sie grünen, Steine umwehen
Mit Irischer Klarheit, Wasser leuchten; Wiesen gab Glanz und Stolz mit Händchen sie
und FQisen;
Mit Blumen rings die Flur ihr Auge schönte; Ruhe gebot sie Wind und Stürmen allen
Mit ungefügem Lallen der Zunge — die sich kaum der Milch entwöhnte (!).
ÄhnUch GXXXI:
So oft ihr weifser Fufs durch frische Wiesen die sQfeen Füfse ehrbarlich beweget,
Scheint, was in Blumen sich und Gräsern reget, Ring^ zu entströmen ihren Füfsen. —
Ist die Geliebte fern von ihm, so redet und giebt Zeugnis von ihr
alles Weben und Leben in der Natur:
Ich höre sie, wenn Zweig' und Weste flüstern
Und Blätter, wenn der Vögel Klagen steigen
Und Wellen murmelnd ziehen durch die Matten.
Der Öde' Schauer und einsames Schweigen
Gefielen so mir nie in Waldes Schatten,
Nur meine Sonne darf sich nicht verdüstern. (Ganz. CXLII).
Und als die Sonne seines Glückes niedergegangen, da kontrastiert .
die lachende klingende Frühlingswelt mit seiner traurigen Gemüts-
stimmung, Son. 268:
Der Zephyr kehrt, die schöne Zeit zu bringen Und Gras und Blumen seine süfsen Kleinen;
Und Prokne schwatzt und Nachtigallen weinen; In Weifs und Rot will sich der Lenz verjüngen;
Die Wiese lacht, in Lüften tönt ein Klingen; Zeus freut der Tochter sich, der klaren, reinen;
Luft, Erd' und Flut der Liebe voll erscheinen Und Liebestriebe jeglich Tier durchdringen —
Doch mir ach! kehren Seufzer nur und Klagen —
Der Vöglein Singen und der Blumen Reigen Und schöner Frauen ehrbarhold Betragen
Wie Wüste nur und reifsend Wild sich zeigen.
Die Tote umschwebt ihn stets; sein Leid klagt er der Natur immer
wieder ; in seiner Einsamkeit ist diese seine trostreiche Freundin.
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und moderner Poesie, IT. 209
„O Hügel, Täler, Wälder, Fluren, Bäche, die Zeugen meines Januners ihr gewesen.
Wie oft habt ihr den Tod mich rufen sehen I" Ganz. I, VIII, XHI u. s. f.
Dann mahnt ihn die Natur auch wieder, sich seinem Schmerze nicht
zu sehr hinzugeben. Son. 238:
Von Liebe spricht zu mir, was ich da sehe,
Quell, Luft, Zweig, Vogel, Fisch und Gras und Blumen, —
Allbittendy dafs ich liebe noch wie ehe. —
Doch sonnenlos scheint ihm nun die Welt; „du liefsest ohne Sonne,
Tod, die Erde . . Wohl sollten Luft und Meer und Erde klagen!" Son. 293.
Wir sehen, es ist ein ganz moderner Mensch, der hier spricht und
sein Empfinden der Natur mitteilt. So sympathetische Beseelungen be-
gegneten uns in der christlichen Welt vordem noch nicht. Und unsere These
bewahrheitet sich: Die ästhetische Naturbeseelung ist die Vorstufe zum
reinen Naturgefuhl, das von allem anderen abstrahierend sich an die
Natur wendet um ihrer selbst willen. Petrarca ist der Erste seit dem
Hellenismus, der die Natur sucht und liebt um ihrer selbst willen. Mit
vollen Zügen geniefst er die Schauer der Einsamkeit iiÄ Waldesgrunde
oder auf schneebedecktem Berge. Er flieht die Menschen und findet
Trost in der Natur. Doch dies weiter auszuführen gehört nicht hierher.
Auf dem Wege Petrarca's wandelten auch die italienischen Lyriker
der folgenden Jahrhunderte weiter: so klagt Bojardo der Natur die Härte
seiner Geliebten und bittet sie, ihr Zeugnis zu geben von seinem herben
Leiden, Son. 89:
O schattenreiche Wälder, die mein Klagen
So oft, von Seufzern unterbrochen, sahn,
O lichte Sonne, die von ewger Bahn
Du meine Trauer schaust seit manchen Tagen;
O bunte Vögel, scheues Wild, die Plagen,
Die mich zerfleischen, dürfen Euch nicht nahn,
O flüchtger Bach, an dem ich meinen Wahn
Zum öden Felsental schon oft getragen;
Ihr steten Zeugen meiner düstren Sorgen,
Gebt jener Stolzen dann wahrhafte Kunde
Von meiner Qual, Euch ist sie nicht verborgen.
Doch fruchtet Zeugnis wohl aus eurem Munde?
Wenn täglich sie mein herbes Leiden schaut
Und schauend nicht den eignen Augen traut
Während uns die grofsen Epen Ariosto*s und Tasso*s nicht wesent-
lich weiter fuhren, können wir die in folgenden Jahrhunderten mit grofsem
Fleifs gepflegte Idyllendichtung nicht übergehen, die sich an die bukolischen
210 Alfred Biese.
Poesien Theokrits oder auch an Lx^ngos anschliefsen. Typisch ist in
dieser Hinsicht Tasso's Aminta; ja wir werden an die sentimentalsten
Ergüsse bei Kallimachos und Nonnos erinnert, wenn der ganzen Natur
Liebesregungen vindiziert werden in den Worten Daphne's Akt. I, Sz. i :
„Hältst du (Silvia) den Frühling, der jetzt die Welt und die Tiere, den
Mann und das Weib zur Liebe ermuntert, für eine feindselige zürnende
Jahreszeit? Siehst du nicht, wie alles von wonne voller Liebe beseelt ist?
Betrachte den Tauber, mit welch lieblichem Girren er seine Gattin
schmeichelnd küfst? Höre die Nachtigall, die von Zweig zu Zweig
hüpfend singt: Ich liebe, ich liebe. Sogar die Bäume lieben. Du kannst
sehen, mit welcher Zuneigung, mit welchen wiederholten Umarmungen
die Rebe an ihren Gatten sich schmiegt; die Tanne liebt die Tanne, die
Fichte die Fichte, die Esche brennt und seufzt für die Esche, die Weide
für die Weide und eine Buche für die andere. Die Eiche, die so rauh
und wild scheint, auch sie empfindet die Macht der Liebesglut, und
hättest du Gefühl und Sinn für Liebe, so würdest du ihre stillen Seufzer
hören. Um nicht Liebhaberin zu sein, willst du denn weniger sein als
die Pflanzen?"
Wir sehen, würdig reiht sich diese Pflanzenbeseelung der indischen
und griechischen an, wir glauben wieder die Sakuntala oder den Akontios
oder den Daphnis reden zu hören. — Guarini, der glücklichste Nachbildner
des Aminta, führt den von Tasso angeregten Gedanken in seinem pastor
fido noch weiter (I, i): «O Kind, blick um dich, sieh, die Schönheit
dieser Welt Ist Amors Werk! Es liebt das weite Meer; Dort jener
Stern, den von Aurorens Strahlen Du glänzen siehst, auch er fühlt Liebes-
qualen, Er kommt vielleicht von der Geliebten her. Sieh, wie er blinkt
und seine Strahlen funkeln! Es fühlt der Liebe Lust der wilde Leu In
seinen Wäldern; der Delphin, der Hai In ihren Meeren sind der Liebe
Sklaven, Und jener Vogel, der so lieblich singt. So unruhvoll von Baum
zu Baum sich schwingt. Er würde sagen, könnt* er unsre Sprache: Ich
lieb', ich liebe! Er klagt es nur in seinen eignen Tönen, Wie es sein
Herz im süfsen heifsen Sehnen Ihn lehrt."
Akt ni, Sz. 3 klagt der Unglückliche: „Weifst du's noch nicht, o
Grausame, (wie ich dich liebe), o, so frage dort jene Wälder, frag das
Wild, den Busch, Die Felsen, alle werden Dir es sagen Auf jenen hoch-
getürmten Bergen dort, Die ich so oft mit meinen Klagen rührte." —
Doch kehren wir zur deutschen Poesie zurück!
Inniger als im Epos und im Minneliede spricht sich die Naturfreude
im Volksliede aus. Dieses wurzelt noch in jenem altgermanischen herz-
Die ästhetische Naturbeseelung: in antiker und moderner Poesie, 11. 211
liehen Verhältnis zur Natur, so dafs die Naturanschauung und somit auch
die Naturbeseelung vielfach noch auf der Grenze zwischen der mythischen
resp. allegorischen und der poetischen steht Wie bei einem lateinischen
Dichter des 8. oder 9. Jahrhunderts der Frühling mit Blumenkränzen und
der alte Winter mit struppigen Haaren einen grofsen Streit auffuhren
und den lenzkündenden Kuckuck preisen resp. schelten, so giebt es aus
dem 14. Jahrhundert ein Lied, wahrscheinlich vom Niederrhein.*) Der
Sommer klagt Mannen und Freunden, dafs ein Herr mit grofser Kraft
ihn vertreiben wolle; dies ist der Winter, der nun das Wort ergreift und
dem Sommer droht, dafs der nahende Frost (her van Scoenvorst) ihn
fangen, schätzen und schlagen werde; Eis und Hagelstein stimmen dem
Winter bei, Sturm (her Storm), Regen, Schnee und scharfe Winde nennt
er sein Gesinde u. s. f.
Der allegorische Wettstreit der Jahreszeiten belebt sich noch weiter
durch die Symbolisierung der Pflanzen. In einem englischen Liede**)
vertritt die dunkle Epheuranke das winterliche Wesen, der glänzend
grüne Hülst (holy) das sommerliche. Hülst steht in der Halle,, lieblich
anzusehen, Epheu steht vor der Thür und friert; Hülst und seine lustigen
Leute tanzen und singen, Epheu und ihre Mägde weinen und ringen die
Hände u. s. f. Im deutschen Volkslied***) sind es der wintergrüne
Buchs und der frühlingsmäfsige Fahlweidenbaum, der Felbinger, die ihre
Vorzüge einander vorhalten. —
Der lieben kleinen Vogelwelt wird in sinnigster Weise menschliches
Empfinden, Mitgefühl und Teilnahme vindiziert. So klagt das Käuzlein:
„Ich armes Käuzlein kleine. Heut soll ich fliegen aufs. Bei der Nacht so
gar aUeine Ganz traurig durch den Walde. Der Ast ist mir entwichen,
Darauf ich ruhen soll, Die Leublein sein all erblichen, Mein Herz ist
alles traurens voll" u. dgl. m.
Der Kuckuck wird als Bringer guter Botschaft, als Ansinger des
Frühlings gefeiert oder man treibt seinen Spafs mit ihm, „dem Gutz-
gauch" : „Ein Guckguck wollte ausfliegen zu seiner Herzenlieben" u. s. w.
Voll Humor sind die „Fabellieder" f) von Tierhochzeiten. Ich hebe
nur ein recht charakteristisches lettisches heraus, welches dem Fuchse
*) Vgl. Uhland, Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage 3. Bd. Stuttg. 1866,
p. 21 ff. Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder in 5 BQchern, Stuttgart und Tübingen
1844-45» S- 23.
♦♦) Uhland Sehr. 3, S. 26.
***) Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder S. 30,
t) Uhland Sehr. 3, S. 52 flf.
212 Alfred Biese.
die Hochzeit bestellt „Lustig auf, ihr kleinen Vögel! ich will eine Braut
mir nehmen; der Staar soll uns die Pferde satteln, denn er hat einen
grauen Mantel; der Biber mit der MardermGtze mufs unser Fuhrmann
sein; der Hase mit den leichten Füisen, der mufs den Vorreiter machen;
die Nachtigall mit heller Stimme mufs die Lieder singen; die Elster, die
beständig hüpft, mufs uns die Tänze ordnen" u. s. w. Vor allen Be-
schwingten ist die tönereiche Nachtigall beliebt und hochgehalten; sie
wird bald innig und zutraulich die liebe, viel Hebe Nachtigall geheifsen,
bald erhält sie den Ehrennamen Frau Nachtigall und wird mit Ihr ange-
redet. Das kleine liebe Waldvöglein ist der Liebe Bote ebenso wie
Wolken und Winde; Volksl. S. 47: „Du bist ein kleines Waldvöglein,
du fleugst den grünen Wald aufs und ein, Frau Nachtigall, du kleines
Waldvöglein, du sollst mein Bote sein" u. s. f. Sie warnt das Mädchen
vor falscher Liebe, oder sie ist die einzige verschwiegene Zeugin des
Liebesgekoses. Die Blumen*) werden auch bei den Begegnungen im
Grünen in Mitschuld gezogen, dafs sie das verstohlene Glück beifallig
beg^üfsen. Sie sind nicht blofs Symbol der Liebe und der Schönheit —
am schönsten, wie Nithard sie schildert, wenn ihnen der Tau in die
Augen fallt — , sondern wo zwei Liebende sich umarmen, da spriefsen
Knospen aus dem Grase,**) da lachen die Rosen, lachen Blumen und
Gras, krachen die Bäume, singen die Vögel. So lesen wir in der
Heidelb. Handschr. 341:***)
Die boum begonden krachen,
die r6seo s^re lachen,
Die vog^lin von den Sachen
hegenden doene machen.
Dö diu vrouwe nider seic
und der ritter nach neic.
Von der rechten minne gruoz
wart dem ritter sorgen buoz.
Vil rösen uz dem grase gienc,
dd liep mit te armen liep enphienc.
Dö daz spil ergangen was
dö lachten bluomen unde gras.
Am rührendsten ist aber die Vorstellung, die wir in den Volksliedern
aller Nationen finden, nach welcher aus dem Grabe zweier Liebenden
*) Uhland a. a. O. S. 420.
*♦) Wie beim Upö^ j'dfio^ des Zeus und der Hera.
•**) Uhland a. a. O. S. 511.
Die ästhetische Naturbeseelang in antiker und moderner Poesie, II. 213
Blumen aufwachsen, Rose und Lilie, oder Pflanzen, die sich umschlingen,
so dafs in ihnen die Liebe, den Tod überdauernd, fordebt. —
Doch die Subjektivität, wie sie im Altertum die griechische Sophistik
anbahnte, der Hellenismus, soweit es in der antiken Welt möglich war,
zur Reife brachte, sehen wir am Ende des Mittelalters in der italienischen
Renaissance immer mehr dem Charakter des spezifisch Modernen sich
nähern. Die deutsche Litteratur zeigt davon noch geringe Spuren; in
England ersteht der gfröfste Dichter, den die Zeit vor Goethe kennt,
Shakespeare. Alles Grofse basiert aber in der Welt des Geistes und der
Kunst auf dem Individuellen, dem Subjektiven. Stehen Genius und Zeit
auch im Wechselverhältnis, vermag der erstere auch die letztere nie zu ver-
leugnen, er vermag auch jener den Stempel aufzudrücken oder ihr
wenigstens die Bahnen zu weisen, welche Gleichzeitige zu wandeln noch
nicht im Stande sind und erst Spätergeborene weiter zu verfolgen vermögen.
Shakespeare ist ein solcher Genius. An Gedankenfülle, an Bilder-
reichtum übertrifft ihn kaum jemand der Späteren. Ein unerschöpflicher
Quell sprudeln ihm immer neue Ideenkombinationen zu, Belebtes und Leb-
loses rinnt zusammen und verwebt und verschmilzt sich in dieser wahr-
haft genialen Phantasie. Bald rollt er vor uns Bilder auf, die in ihrer
Erhabenheit an die grofsartigsten Mythen der Vorzeit erinnern, bald ver-
rät das kleinste Gleichnis die Gedankentiefe und Innerlichkeit des
Modernen. Wie sich nun in der Entwicklung einer Empfindungsweise
die gesamte Geistesentwicklung eines Volkes widerspiegeln kann, gleich
dem Tautropfen, der das Bild der Sonne zurückstrahlt, so zeigt uns
auch die ästhetische Naturbeseelung bei Shakespeare, welche Kraft
poetischen Gestaltens in ihm wohnt und welch bedeutenden Schritt wir
auch in dieser Hinsicht mit ihm thun auf der Bahn zum Modernen hin. —
Kiel.
-••*■
Zttchr. f. Tgl. Litt.-G«0ch. I, ^5
Ein Problem der vergleichenden Sagenkunde und
Litteraturgeschichte.
(Die Lenorentage.)
Von
Karl Krumbacher.
Burjger erhielt die Anregung zu seiner berühmten Ballade aus einem
Volksliede; von einer Magd oder einer Bäuerin hörte er den Refrain
singen: „Der Mond, der scheint so helle, die Todten reiten schnelle**
und das Zwiegespräch: ^Graut Liebchen auch? — Wie soUte mir grauen?
Ich bin ja bei Dir."*) Dafs er aber hier einen Stoff wählte, der über
ganz Europa in Liedern und Sagen verbreitet ist, ahnte er sicherlich
nicht. Erst in einer spätem Zeit lernte man, die naiven Aufserungen,
welche ferne von der litterarischen Überlieferung als dauerhaftestes Be-
sitztum der Völker fortleben, im Lichte einer vergleichenden Betrachtungs-
weise zu erforschen. Divinatorische Geister wie Herder wirkten vor-
bereitend; einen festeren Boden gewann die vergleichende Mythologie
erst, als die Linguistik ihr Licht auf die verwandtschaftlichen Beziehungen
der Nationen ausbreitete. Wie beide Wissenschaften in ihrer äufseren
Lebensgeschichte enge verbunden sind, so zeigen sie auch in ihrem
inneren Entwickelungsgange eine gewisse Ähnlichkeit. Sowohl in der
Sprachwissenschaft als in der Sagenkunde fiel anfangs das Hauptinteresse
auf die ältesten Epochen, obschon die Gefahr subjektiver Hypothese und
phantastischer Verwirrung immer gröfser wird, je mehr sich die Forschung
von den historischen Zeiten entfernt. Aber gerade das Unbestimmte,
*) W. Wackemag:el und H. Hofibiann in den ^ Altdeutschen Blättern**, herausgegreben
von M. Haupt und H. Hoffmann, I 174—204 (wiederholt in Wackernagels kleineren Schriften,
II| 399 — 4^7) und „Briefe von und an Bürger"*, herausgegeben von A. Strodtmann, I loi.^
Ein Problem der verg^leichenden Sag^enkunde und Litteraturgeschichte. 215
Geheimnisvolle, wenn auch Nebelhafte, übte lange den mächtigsten Reiz;
nur unter schweren Kämpfen gelang es, den Thatsachen der Gegenwart
und der mit genügender Klarheit wahrnehmbaren Vergangenheit ihr Recht
zu verschaffen. In der Linguistik war es bekanntlich die sogenannte
junggframmatische Schule, welche die Bedeutung der lautlichen und
morphologischen Untersuchung der uns am genauesten bekannten Sprachen,
d. h. der Sprachen unserer Zeitgenossen, prinzipiell betonte und hierdurch
die Forschung vielfach in neue Bahnen lenkte. Ähnlich wie die Glottik
gewinnt die Schwesterdisziplin der vergleichenden Mythologfie an Hellig-
keit, je mehr sie ihre Bestrebungen Zeitläuften zuwendet, welche durch
reichere und getreuere Überlieferung den thatsächlichen Bestand der
Mythen besser erkennen lassen. Zu den Themen, welche sie neuerdings
mit Erfolg in den Bereich ihrer Untersuchung gezogen hat, gehört der
Lenorenmythus. Indem ich einen kurzen Überblick über den gegen-
wärtigen Stand der Frage gebe, möchte ich zu einer erneuten Unter-
suchung des Gegenstandes anregen.
Zum ersten Male lenkte W. Wackernagel den Blick auf die weite
Verbreitung der Lenorensage. Mit reicher Gelehrsamkeit zog er (a. a. O).
eine Menge fremder Versionen herbei und schuf hierdurch die Grundlage
für alle folgenden Untersuchungen. Auf Wackernagel stützte sich im
Wesentlichen Heinrich Pröhle „Gottfried August Bürger", Leipzig,
Gust. Mayer, 1856, S. 77 — 115. Doch konnte er mit Hülfe der inzwischen
veröffentlichten Sammlungen von Volksliedern die vergleichende Be-
trachtung weiter ausdehnen; so werden von ihm zum ersten Male die
schottischen Balladen planmäfsig mit Bürgers Lenore verglichen. Er
wurde hierzu namentlich durch die häufig erhobene Anklage veranlafst,
Bürger habe sein Werk aus der Ballade von Wilhelm und Margret ent-
lehnt. Im Übrigen beschränken sich die Untersuchungen Fröhles, dem
Zwecke seines Buches gemäfs, auf die Erforschung des deutschen Sagen-
komplexes, der „als ein schöner belaubter und mit Liederfrüchten be-
hangener Baum seine Aste bis dicht über des Dichters Haupt ausstreckte,
so dafs er zu Altengleichen leicht nach seinen goldenen Früchten greifen
mochte" (S. 103). Nach Pröhle gab Vilmar „Handbüchlein für Freunde
des deutschen Volksliedes", Marburg 1867, S. 144 — 161, (3. Aufl. 1886,
S. 152 — 167)*) eine summarische Erörterung des Themas, soweit es die
germanischen Sagen und Lieder betrifft.
*) Vergl. auch Otto Boeckels kulturhistorisch- ethnographische Einleitung cu den
„deutschen Volksliedern aus Oberhessen*". Bfarburg 1885. S. LXXü^-LXXXU.
216 Karl Krumbacher.
Die genannten Arbeiten tragen einen wesentlich litterarbistorischen
Charakter; sie gehen von Bürgers Lenore aus und betrachten die ver-
wandten Lieder mit steter Rücksicht auf die genannte Ballade. Es ist
das Verdienst des bekannten Slavisten W. Wollner zuerst den Lenore n-
stoff als solchen einer vergleichenden Betrachtung unterzogen zuhaben.
Seine Abhandlung „der Lenorenstoff in der slavischen Volkspoesie**,
Archiv für slavische Philologie VI (1882) 239 — 269, betrifit zwar
zunächst nur die Verbreitung auf slavischem Gebiete, scheidet sich aber
von den früheren Arbeiten dadurch, dafs sie das genealogische Ver-
hältnis der verschiedenen Versionen mit allen Hülfsmitteln einer geläuterten
Kritik festzustellen sucht. Die slavischen Bearbeitungen des Stoffes unter-
scheiden sich von den germanischen durch ein wichtiges Moment Auch
bei den Slaven wird der Liebhaber durch die Tränen des Mädchens
aus seiner Grabesruhe aufgestört und sucht dann die Geliebte mit sich
ins Grab zu ziehen. Dann aber — dieses Motiv findet sich in der Mehr-
zahl der slavischen Versionen — flieht das Mädchen in ein Haus, das
sich als Totenkammer herausstellt, und riegelt sich ein. In der Kammer
liegt ein Leichnam, von dem der Verfolger die Herausgabe der Braut
zu erlangen sucht. In den meisten Fällen zeigt sich der Tote willfährig;
ehe ihm aber die Auslieferung der Geflüchteten gelingt, kräht der Hahn
und das Mädchen ist gerettet. Wollner betrachtet die Lieder der Klein-
russen, Polen, Litauer, Cechen und anderer, in denen sich dieses Motiv
findet, als Varianten einer Erzählung. Die Grundlage derselben sei, dafs
der Tote (überall der Bräutigam) der Überlebenden feindlich gegenüber-
steht und sie aus Rache für die Störung seiner Grabesruhe zu verderben
sucht; der Untergang des Mädchens als Strafe des Himmels in der Lenore
und in der Mickiewicz*schen Ballade entstamme der Reflexion des Dichters.
Dieser nordslavischen Gruppe steht eine zweite abweichende
Erzählung gegenüber, die sich bei vier Völkern der Balkanhalbinsel
fiundet, nämlich bei den Serben, Bulgaren, Griechen und Albanesen.
In dieser Version ist es der tote Bruder, der seine in der Feme ver-
heiratete Schwester der vereinsamten Mutter zurückfuhrt. Die Stelle von
Braut und Bräutigam vertreten also Bruder und Schwester, deren besonders
zärtliches Verhältnis in der slavischen Volkspoesie so vielfach besungen
wird. Hier treibt kein Rachebedürfnis den Toten, die Überlebende mit
sich zu nehmen. Entweder ist es Gott selbst, der ihn belebt, um die in
fernem Lande nach den Ihrigen Verlangende zu trösten, oder es ist die
alleinstehende Mutter, die den toten Sohn an sein Versprechen mahnt,
ihr die Tochter zu holen, mit der sie vereint sterben will.
Ein Problem der vergleichenden Sagenl^nde und Litteraturgeschichte. 217
Der Aufsatz von Wollner veranlafste in kurzer Zeit drei nicht minder
scharfsinnige Untersuchungen, welche unsere Frage bedeutend forderten
und für alle künftige Forschung grundlegend sind. Unmittelbar an
Wollner knüpfte J. Psicharis an, indem er in einer durch kritische*
Methode und geschmackvolle Darstellung ausgezeichneten Abhandlung
„La ballade de Lenore en Grece"*) die Form des Mythus besonders
bei den Albanesen und Griechen erörterte. Während Wollner (S. 269)
die Frage offen gelassen hatte, ob das griechische Lied seinen Ursprung
dem slavischen verdanke oder ob derselbe Stoff sich gleichmäfsig bei
den Slaven und Griechen selbständig entwickelt habe, kam Psicharis
zu folgendem Ergebnis: der Ursprung des Mythus ist zu suchen bei den
Kleinrussen; von hier wanderte er zu den Serben und Bulgaren, wo er
sich verhältnismäfsig rein erhielt; sehr bedeutend umgestaltet ist er bei
den Deutschen ; völlig degeneriert erscheint der Kern der Sage bei den
Albanesen und Griechen.
Gegen Wollner und Psicharis wandte sich der auf dem Gebiete der
vergleichenden Mythologie wohl bewanderte und durch eine Reihe von
Schriften über neugriechische Volkskunde bekannte N. Politis (gegen-
wärtig Sektionschef im griechischen Kultusministerium) in seiner Ab-
handlung: To Srjfwxtxbv iöfia Trspe rot) vexpou ädeXfoOy JeXrlov r^c Itrcoptxrj^
xcu ^i&voXoxtx^^ kratpta^ t^c ^EXXddo^. vol. 11. 1885. Die Vertreter der
Hypothese vom slavischen Ursprünge der oben erwähnten südlichen
Gruppe hatten ein g^ofses Gewicht darauf gelegt, dafs in diesen Versionen
die Bruderliebe, eine angeblich slavische Eigentümlichkeit, stark hervor-
tritt; Wollner fafste die Bruderliebe sogar als Grundidee des Gedichtes
auf und stellte dasselbe in die Reihe der slavischen Lieder, welche die
Geschwisterliebe preisen. Politis weist zwar nach, dafs das Gefühl der
Geschwisterliebe auch in der griechischen Volkspoesie eine Rolle spielt
und dafs man nicht berechtigt ist, auf diesen Grund hin den Stoff als
einen slavischen zu bezeichnen; seine weiteren Ausfuhrungen aber, in
denen die patriotische Tendenz durchblickt, vermögen nicht genug zu
überzeugen. An Stelle der bekämpften Genealogie setzt er seine eigene.
Während Wollner die Bruderliebe, Psicharis die Belästigung eines Toten
durch die Tränen der Lebenden für die Grundidee erklärt hatte, ist nach
Politis der ursprüngliche Gedanke die Rückkehr eines toten Liebhabers
zur Geliebten; schon in der Protesilaossage erscheine diese Idee, die
später von den Griechen selbst mifsverständlich umgestaltet und von ihnen
*) Revue de Thistoire des religions 9 (1884) 17 — 64.
218 Karl Krambacher.
ZU den Slaven übergegangen sei. Hier ist Politis offenbar auf einen
sehr schlüpfrigen Boden geraten; die direkte Beziehung jenes alt-
griechischen Mythus zu dem unserigen ist nicht erweislich. Das letzte
Wort kann in der ganzen Frage schon deshalb nicht gesprochen sein,
weil Politis wie auch Wollner und Psicharis, den Rahmen der Unter-
suchung zu enge zieht und die Frage fast ausschlielslich als eine slavisch-
griechische behandelt.
Wie wenig die Kontroverse zum Abschlufs gelangt ist, geht daraus
hervor, dafs Politis von zwei Gelehrten, die seine Abhandlung besprachen,
ziemlich entschiedenen Widerspruch erfuhr. Der erste Gegner ist Jules
Girard; er erörtert, Journal des savants, 1886 (Mars), 143 — 152, die drei
verschiedenen von Wollner, Psicharis und Politis aufgestellten Stamm-
bäume, giebt bezüglich der albanesischen Version neue Gesichtspunkte
und bemerkt schliefslich mit Recht, dafs die Beweisführung von Politis
weit weniger bezüglich der „inneren" Gründe (der Gefühle und Gedanken
der Lieder) als bezüglich der äufseren befriedige. Nach Girard erklärte
sich noch der Züricher Romanist W. Meyer gegen Politis, deutsche
Litteraturzeitung, 1886 S. 11 97 — 1199. Er erkennt zwar im serbischen
Liede Spuren von Unursprünglichkeit, hält aber trotzdem mit Wollner
und Psicharis die Entlehnung aus dem Slavischen für wahrscheinlicher.
„Dafs Braut und Bräutigam durch Bruder und Schwester ersetzt werden,
hat gerade in Serbien nichts Auffallendes und erklärt sich viel leichter,
als der Verlust des für Griechenland charakteristischen Mutterfluches,
wie ihn Politis anzunehmen genötigt ist." Von den für die Endehnung
des griechischen Liedes aus Serbien angeführten Beweisgfründen habe
Politis keinen einzigen entkräftet. Von gröfster Wichtigkeit erscheint
mir die noch nicht gestellte prinzipielle Frage, ob die südslavische Version
überhaupt eine so enge Verwandtschaft mit der nordslavischen und
germanischen besitzt, wie gemeinhin angenommen wurde, ob nicht etwa
beide Sagen völlig zu trennen und als selbständige Produkte
zu betrachten sind.
Im engsten Zusammenhang mit der genealogischen Untersuchung der
„südslavischen" Versionen steht die Frage, ob das Lied vom toten
Bruder mit dem Akritenkyklus verknüpft werden dürfe. Wollner und
Psicharis weisen die Verbindung als eine erzwungene und auf Aufser-
lichkeiten beruhende zurück, während Politis nach dem Vorgange von
Sathas-Legrand, coUection de monuments, nouv. serie VI, p. 50 — 52
der Einleitung, den Zusammenhang als zweifellos erklärt und elf ver-
scbiedene Punkte der Übereinstimmung aufzuzählen weifs. Aber auch
Ein Problem der vergleichenden Sagenkande und Litteraturgeschichte. 219
dieses Ergebnis wird von Girard und Meyer wiederum in Zweifel
gezogen.
Wenn wir die bisherigen Leistungen im Zusammenhange überblicken,
so bemerken wir eine bedeutende Verschiedenheit der Meinungen, die
auf wenigen Punkten zu einem Verständnis gelangt ist. Die Frage ist
durch Wollner, Psicharis, Politis und Girard gefördert und durch Herbei-
ziehung eines entlegenen Materials vertieft; dafs sie aber zu irgend einem
Abschlüsse gelangt sei, wird selbst von den genannten Forschern keiner
behaupten wollen. HofFendich findet sich bald Jemand, der das inter-
essante Thema von neuem auffafst und weiterführt. Hierbei ist vor
allem eine Erweiterung des geographischen Bezirkes notwendig; bisher
bückte die Forschung fast ausschliefslich auf die östliche und südöstliche
Gruppe, auf die nord- und südslavischen, g^echischen und albanesischen
Versionen. Wer für das Thema neue Gesichtspunkte finden will, wird
sich eine weitere Umschau in dem gesamten Landergebiete Europas
nicht ersparen dürfen. Es mangelt noch an einer übersichtlichen Ordnung
des massenhaft zuströmenden Stoffes und es wäre vielleicht für eine
künftige Monographie zu empfehlen, sämtliche Versionen in deutscher
Übersetzung neben einander zu stellen; selbst Wollner beklagt sich
(S. 242), dafs ihm manches aus der einschlägigen Litteratur nicht zugäng-
lich gewesen sei. So wenig die Sache durch die blofse Nebeneinander-
stellung der Texte und das mechanische Aufsuchen äufserlicher Ähnlich-
keiten gefordert wird, so wird es doch nur durch eine solche Zusammen-
stellung möglich, die Vergleichung in wahrhaft wissenschaftlicher Weise
durchzufuhren und den inneren Zusammenhängen nachzugehen. Um die
AufEndung des zerstreuten Materials braucht jetzt Niemand verlegen zu
sein. Dr. Ulrich Jahn giebt in seinen „Volkssagen aus Pommern und
Rügen" (Stettin 1886), S. Vffl f , ein von Prof. E. Kuhn in München mit-
geteiltes Verzeichnis der ganzen Litteratur. Aufser dem Buche von Jahn
welches S. 404 ff. zwei Lenorensagen enthält, und den dortselbst ange-
führten Werken sind noch zu verwerten die der Schrift von Politis ge-
widmeten Besprechungen von Girard und Meyer (s. oben), der Passus
in Legfrands collection de monuments, nouv. serie, VI 50 — 52 (Einl.),
A. Wesselofsky, Russische Revue, Petersburg, 4. Jahrg. (1875, S. 559),
A. Rambaud „La Russie epique", Paris 1876, S. 421 ff. Zu den von
Politis a. a. O. mitgeteilten 17 neugriechischen Liedern kommen noch drei
kappadokische in der Abhandlung „Neugriechisches aus Kleinasien^ mit-
geteilt von Paul de Lagarde, Abh. der k. Gesellschaft der Wissen-
schaften zu Göttingen, 39. Band, 1886 (No. 15. 25. 36).
220 Karl Knimbacher.
Kurz vor Abdruck dieses Aufsatzes erschienen zwei neue auf unsere
Frage bezugliche Publikationen: Erich Schmidt beschert uns in seinen
Charakteristiken (Berlin, Weidmann, 1886) S. 199 — 348 eine aus-
gezeichnete Abhandlung über „Bürgers Lenore". Obschon der Ver&sser
wesentlich vom litterarhistorischen Standpunkte ausgeht, g^iebt er uns
doch auch eine Menge wertvoller Mitteilungen über die volksmafsige
Verbreitung der Sage, besonders über die volkstümlichen Impulse von
Bürgers Lenore. Auch zu den Litteraturangaben, die in dem (von Schmidt
nicht erwähnten) Buche U. Jahns gesammelt sind, finden wir wichtige
Ergänzungen. — Der zweite Beitrag steht an einem etwas verborgenen
Orte, nämlich in der Südsteirischen Post (Marburg i. Steyermark) vom
20. November 1886; Bogomil Krek giebt dortselbst zwei schon früher in
der Zeitschrift „Ljubljanski zvon^ abgedruckte slovenische Lenorenmärchen
in deutscher Übersetzung.
München.
-••-
Untersuchungen zu dem mittelenglischen Fabliau
„Dame Siriz."
Von
Walther EUner.
Um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts tritt in die englische Litteratur
eine neue Gattung der Poesie ein, das Fabliau. Ihr ältester
Vertreter ist „Dame Siriz". Da das Entstehen dieser Dichtung etwa zu-
sammenfallt mit dem erneuten, aber breiteren Einströmen französischer,
namentlich epischer Litteratur in die englische und da ihr Stoff auch in
französischen Versen bearbeitet worden, so lag die Vermutung nahe, dafe
das englische Fabliau einer französischen Quelle entstamme.*)
Dem wurde entgegengehalten, dafs der Ursprung der Fabel zu
suchen sei in den damals in England verbreiteten lateinischen Novellen-
sanunlungen, wie die Gesta Romanorum und die Disciplina Clericalis. Das
englische Fabliau trage kein französisches Gewand ; der Wortschatz sei im
Ganzen frei von französischen Elementen. Eine ältere Meinung**) be-
zeichnete geradezu die Gesta Romanorum als Quelle, eine jüngere***) wollte
die Erzählung, direkt oder indirekt, aus der Disciplina Clericalis herleiten.
Da keine von diesen einander gegenüberstehenden Meinungen ge-
nügend begründet ist, so erschien es wünschenswert, sie nochmals zu
prüfen und die Frage nach den Quellen des englischen Fabliaus end-
gültig zu entscheiden.
Während der Untersuchung ergab sich, dafs eine bisher ganz un-
bekannte lateinische Version als Quelle anzunehmen sei, welche in direkter
*) Diese Vermutung äufserte Th. Wrightin den Anecdota literaria. Lond. 1844, p. 3.
**) vgl. Mätziier*s Altengl. Sprachproben. Berlin 1867, p. 106. Dort wird nebenbei
bemerkt, dafs die Erzählung sich auch in den in England entstandenen Gesta Romanorum
(ed. Sir Frederick Madden) finde, die von Charles SWan übersetzt sind. Das ist nicht
richtig. Die Erzählung findet sich nicht in den englischen Gesta; auch übersetzte Swan nicht
diese, sondern einen lateinischen Druck mit der Jahreszahl 1508.
***) vkI« ten Brink, Geschichte der englischen Litteratur. I., p. 319.
222 Walther Etsner.
Beziehung zu den orientalischen „sieben weisen Meistern" steht Es war
interessant, zu erforschen, auf welchem Boden die vielen Versionen dieses
Stoffes gewachsen waren.
Zum leichteren Verständnis der verwickelten Verhältnisse schien es
erforderlich, vorwiegend synthetisch zu verfahren, ab ovo das Wachsen
dieses Baumes zu beobachten, der immer neue Aste, Zweige und Blüten
trieb, als deren Früchte gleichsam die occidentalischen Versionen er-
scheinen.
In Indien sind zwei Bearbeitungen*) des Stoffes verbreitet ge-
wesen. Die eine findet sich in der Märchensammlung des Somadeva
Bhatta, „Meer der Segenströme" genannt, welche zwar erst im zwölften
Jahrhundert, aber aus bedeutend älteren Quellen zusammengestellt wurde.
Die Geschichte hat hier folgenden Inhalt**):
Ein reicher Kaufmannssohn, Guhasena, hatte eine schöne Frau,
Devasmita, die er sehr liebte; auch sie hatte ihn lieb, denn sie war mit
ihm aus ihrer Heimat entflohen. Nach einiger Zeit starb sein Vater und
Guhasena wurde von seinen Verwandten aufgefordert, zur Besorgung
der Handelsgeschäfte, nach dem Lande Katäha zu reisen. Devasmita
aber wollte dies durchaus nicht zugeben, da sie eifersüchtig war, und
fürchtete, er werde ihr bei anderen Frauen untreu werden. In Verlegenheit,
ob er reisen oder bleiben sollte, bat er Gott Siva um eine Entscheidung.
Derselbe erschien den beiden Gatten im Traum, gab jedem einen roten
Lotos und verkündete, so lange jedes dem anderen treu bleibe, werde
der Lotos in der Hand des letzeren frisch und blühend***) sein. Guha-
sena reiste beruhigt ab. Im fremden Lande aber wurde seine stets
blühende Blume sehr bald bemerkt, und beim Weine erzählte er vier
jungen Kaufleuten, was es damit für eine Bewandnis habe. Sofort be-
schlossen die vier jungen Leute, Devasmita zu verfuhren und reisten
heimlich nach der Stadt ab, in der sie wohnte.f ) Dort suchten sie eine
*) Genauer drei Versionen; über die dritte giebt, durch gütige Vermittlung Herrn
Prof. NöldekeSf Herr Prof. Bühler folgende Auskunft: ^von der Geschichte kenne ich nur
noch die Somadevas genau entsprechende Version Kshemendras, der auch die Brihatkathi
des uralten Präkrit- Dichters Annädhy übersetzt hat. Dieselbe würde aber nichts helfen, da
sie nur etwas kürser gefiiist ist^*
**) Nach der Übersetzung von H. Brockhaus (Somadeva Bhatta. Leipzig 1839) p. 56 ff.
***) Vergl. hiezu ReinholdKöhler im Jahrbuch für roman. und engl. Litt. Bd. VIII p. 44 £
t) Die Verwandtschaft dieses Motivs mit den von Shakespeare im Cymbelin benutsten
vielverbreiteten Novellenzuge fällt von selbst in die Augen. (Anm. d. Red^
Untersuchuflg^en zu dem mittelenglischen Fabliau ,,Dame Siriz". 393
Kupplerin auf, die Priesterin des Buddha, Yogakarandikä, und baten sie
unter Geldversprechungen, ihnen die Gunst der Gemahlin des Guhasena
zu verschaffen.
Geld lehnte die Alte zwar ab, doch zu jenem Dienste war sie so-
gleich bereit Sie überliefs den jungen Leuten ihr Haus zum Wohnen
und ging zu Devasmita, machte sich deren Dienerschaft durch ein Ge-
schenk von Efswaaren gewogen und wollte dann das Haus betreten.
Doch eine Hündin, die an der Kette lag und sonst niemals einen Be-
sucher belästigte, hinderte sie daran, die Schwelle zu überschreiten. Als
Devasmita das sah , schickte sie ihr eine Dienerin . entgegen, die sie
hereinführen sollte, im Stillen bei sich denkend: „weswegen mag diese
Frau wohl kommen?" Die Priesterin trat nun ein, gab der tugendhaften
Devasmita ihren Segen, die auch mit verstellter Höflichkeit ihr dankte,
und sagte dann : „Immer schon habe ich lebhaft gewünscht, dich zu sehen;
heute habe ich dich sogar im Traum erblickt, es erfafste mich daher
eine wahre Sehnsucht und so bin ich hergekommen, dich zu besuchen.
Mein Herz thut mir wahrhaft wehe, dafs ich dich so von deinem Gemahl
getrennt weifs; denn Jugend und Schönheit tragen nicht ihre Früchte,
wenn sie des Genusses mit dem Geliebten entbehren." Mit diesen und
ähnlichen Reden suchte die Priesterin die treue Frau erst vertrauensvoll
zu machen, empfahl sich ihr aber schon nach kurzer Zeit und kehrte in
ihre Wohnung zurück. Am andern Tage ging sie wieder in das Haus
Devasmitas, nahm aber diesmal ein Stück Fleisch mit, das tüchtig mit
zerstofsenem Pfeffer bestreut war; ehe sie eintrat, gab sie es an der Thür
der Hündin, die es auch verzehrte. Der zugleich damit reichlich ge-
nossene Pfeffer hatte aber zur Folge, dafs dem Tiere ununterbrochen
Tränen aus den Augen und der Nase flössen. Jetzt ging die Priesterin
zu Devasmita hinein , von der sie gastfreundlich empfangen wurde,
und fing an heftig zu weinen. Besorgt fragte diese, was ihr fehle;
da antwortete sie mit Anstrengung : „Ach , meine Freundin , sieh
doch diese Hündin , wie sie jetzt da draufsen weint , denn soeben
erkannte sie mich als Lebensgefährtin in einem früheren Dasein, und
deswegen begann sie zu weinen, aus Mitleid fliefsen daher auch meine
Tränen." Nach diesen Worten sah Devasmita draufsen nach der Hündin
und bemerkte, dafs sie fast zu weinen schien, aber zugleich dachte sie
bei sich: „Was mag das Wunder bedeuten?" Die Priesterin fuhr fort:
„Mein Töchterchen, in einem frühern Dasein waren ich und jene die
beiden Gemahlinnen eines Brahmanen. Unser Gemahl mufste oft auf
Befehl des Königs, hierhin und dorthin weit in ferne Länder reisen.
2H Walther EUner.
Während er nun abwesend war, lebte ich nach freier Lust mit andern
Männern, sodafs dieser Leib nicht um seine Genüsse betrogen wurde;
denn mit Recht nennt man es das höchste Gesetz, an den zu einem
Körper vereinigten Sinnen und Elementen nicht zum Verräter zu werden.
Aus diesem Grunde, mein Töchterchen, bin ich hier auf dieser Erde
wiedergeboren worden, als eine solche, die sich ihres früheren Daseins
erinnert Die andre Gemahlin aber bewahrte ihrem Gatten, obgleich er
von alle dem nichts erfuhr, die Treue, deswegen ist sie als Hündin
wiedergeboren worden, doch erinnert auch sie sich ihres früheren Da-
seins." „Welch ein Gesetz ist das? Sicher hat diese Priesterin hier eine
Betrügerei vorgenommen," also dachte Devasmita bei sich selbst, aber
verständig sag^e sie zu der Priesterin: „Ehrwürdige Frau, ich habe bis
dahin diese Pflicht nicht gekannt, sei daher so gütig und verschaffe mir
eine Zusammenkunft mit irgend einem liebenswürdigen Manne/^ Erfreut
erzählte ihr die Priesterin von den vier jungen Kaufleuten, die von fern
hergekommen wären, und eilte heim, um einen nach dem andern zu ihr
zu fahren. Devasmita aber hatte den Zusammenhang erraten, und es
gelang ihr, nicht nur die jungen Leute, sondern auch die Kupplerin
empfindlich zu bestrafen. Indem sie sich darauf, als Mann verkleidet, zu
ihrem Gatten begab, enthüllte sie den schlechten Streich, den jene Kauf-
leute ihr und ihm hatten spielen woUen und erhielt Lob und Ruhm für
ihre Klugheit und Treue.
Nach der Erzählung der alten Priesterin ist es also ein höchstes
Gesetz, das sie selbst in einem früheren Leben befolgt, jene zur Hündin
gewordene Gemahlin aber verletzt habe, imd es lautet: man solle an den
zu einem Körper vereinigten Elementen und Sinnen nicht zum Verräter
werden. Erinnerung an den früheren Zustand ist beiden verliehen, der
Hündin aber offenbar zur Qual, der Alten zum Lohn.
Überraschend ist diese Erzählung gewifs und somit gerade genügend
für orientalischen Geschmack; ein ernsterer Zuhörer aber konnte doch
eine Lücke in der Darstellung der Alten finden. Indem Devasmita über
die Erzählung nachdachte, hätte es ihr einfallen können, ihren eigenen
Zustand in diesem Leben mit dem der beiden anderen in der Erzählung
der Alten genannten Frauen zu vergleichen, und sich zu fragen: Was
bin ich denn in diesem Leben? Bin ich belohnt oder bin ich bestraft?
Was war ich früher? Hätte ich jenem Gesetze gemäfs gelebt, so müfste
ich mich jetzt daran erinnern. Oder habe ich dagegen gesündigt? Müfste
ich denn nicht jetzt ebenfalls Hündin sein?
Untersuchungen zu dem mittelenglischen Fabliau „Dame Siriz". 2S5
Diese Fragen zu beantworten, war vielleicht eine andere indische
Geschichte geschrieben worden. Sie steht in der zweiten Nacht der
Sukasaptati und lautet,'^) wie folgt:
„In der Stadt Nandana lebte ein König Nandanas, der einen Sohn,
Namens Razasekaras, hatte. Dessen Weib, Sasseprabba, sah ein junger
Mann, welcher Beras hiefs, und sein Herz wurde von Liebe zu ihr ent-
zündet; infolgedessen afs und trank er nicht. Befragt von seiner
Mutter Jassodebe gestand er ihr den Grund seines Leidens. Als diese
alles gehört hatte, ersann sie folgende List, um das Leben ihres Sohnes
zu erhalten.
Nachdem sie eine Hündin mit Speise und Trank für sich gewonnen
und sie geputzt hatte, kam sie mit ihr zu der Königin Sasseprabba, und
sprach zu ihr: Ich und du und diese Hündin, wir waren Schwestern in
einem frühern Dasein, und nachdem ich und du mit fremden Männern
zwanglos verkehrt hatten, sind wir in diesem Leben Menschen geworden.
Diese hier aber, welche Scham und Furcht hatte, ihre Geburt zu beflecken
und auch Enthaltsamkeit besafs, versagte sich den Umgang mit fremden
Männern und gerade deshalb wurde sie zur Hündin. Mir ist, weil ich
furchtlos und unverhohlen mich dem Genüsse hingegeben, Erinnerung an
den früheren Zustand verliehen, dir dagegen, die zaghaft und mit Mafsen
genofs, ist sie vorenthalten worden. Ich bin gekommen, um dir zu raten,
was die Verlangenden lieben; denn wer das Verlangte andern giebt, der
erlebt selber die Erfüllung aller seiner Wünsche. [Denn die Bettler
gehen von Tür zu Tür, in der Hand ein Gefafs; dadurch zeigen sie
den Leuten versteckt an, dergestalt werde der künftige Zustand dessen
sein, der nicht giebt.] Als Sasseprabba dies gehört hatte, beschwor sie
Jassodebe unter Tränen: „Rette mich schnell, und vereinige mich mit
einem andern Manne." Jassodebe aber voll Hoffnung und Freude, führte
sie in ihr Haus zu ihrem Sohne. Indem aber Razasekaras glaubte, dafs
Jassodebe eine Freundin der Königin sei, beschenkte er sie und ver-
weigerte ihr den Zutritt nicht So erlangte Jassodebe durch grofsen
Scharfsinn das Ersehnte."
Die Antwort auf die obigenFragen ist also folgendermafsen ausgefallen:
*) Nach der griechischen Übersetzung von Galan os, Athen 1851, p. 51. Vergl. auch
Pertsch in der Zeitschrift der deutschen morgenländ. Gesellschaft, Bd. XXI, p. 505, der drei
Handschriften aufzählt: i) Ms. Petersburg. 2) Ms. Royal Society London. 3) Ms. Oxford.
Die £ntstehungszeit ist unbekannt Vergl. femer M. Landau: Quellen des Dekamerone 2,
p. 90, und Zeitschrift der Folk Lore Society IX 43 ff.
286 Walther Eisner.
Die Frau hat deswegen keine Erinnerung an den früheren Zustand,
weil sie ehedem zu mafsvoll gelebt, zu wenig frei mit fremden Männern
verkehrt habe. Die Menschengestalt hat sie allerdings wiedererhalten;
aber eine Strafe ist dennoch über sie verhängt worden: ohne es zu
wissen, schwebt sie in beständiger Gefahr, dem Verderben zu verfallen.
Dieses ist nicht dasselbe wie in der Erzählung bei Somadeva; denn die
Hündin weint nicht, sie hat eben keine Erinnerung an ihr früheres
Leben.
Das Fehlen dieser Wendung in der Darstellung der Sukasaptati
mufs wie ein grofser Mangel an Phantasie erscheinen. Denn der Einfall,
die unglückliche Hündin weinen zu lassen, ist ein so genialer, dafs
niemand, der davon einmal gehört, ihn hätte vergessen können. Wenn
er trotzdem nicht in der Sukasaptati auftritt, welcher doch der Besitz
jener Antwort ein jüngeres Gepräge verleiht, als die Form hat, welche
Somadeva überliefert, so läfst es sich wohl nur dadurch erklären, dafs
hier von der Sukasaptati ein ursprünglicher Zug bewahrt worden
ist, und zwar ein solcher, welchen die älteste Fassung der Erzählung
besafs.
Wir denken uns diese ursprüngliche Form so:
Zu der tugendhaften Frau kommt eine Alte mit dem Hündchen,
und erzählt ihr, dieses Tier sei früher eine keusche, jenes höchste Gesetz
verachtende Frau gewesen, die deshalb als Hündin wiedergeboren; sie
selbst aber habe jenem Gebote sich gefugt, und sei darum als Mensch
mit der Erinnerung an den früheren Zustand wiedergeboren.
Aus dieser Form ist diejenige, welche Somadeva aufgenommen,
dadurch entstanden, dafs das Weinen des Hündchens hinzugefugt wurde,
nicht so sehr, um die Qual des Tierzustandes gesteigert erscheinen zu
lassen, als um bei der Frau den Eindruck zu erhöhen, dafs die Erzählung
der Alten wahr sei.
Die Sukasaptati erfand aus ähnlichen Motiven, vielleicht um einem
Bedenken gegenüber es zu rechtfertigen, wie allein die Alte von der
Angelegenheit etwas wissen konnte, die Geschichte von dem Vorleben
der Frau hinzu.
Des verschiedenen Ausgangs beider indischen Versionen mufs noch
erwähnt werden. In der Sukasaptati triumphiert die List der alten
Kupplerin; dagegen verherrlicht Somadeva in dem Siege der klugen
Devasmitä die Treue der Ehefrau. Dieser moralische Schlufs ist wahr-
scheinlich nicht ursprünglich. Vielmehr halten wir jenen der Sukasaptati
Untersuchungen zu dem mittelenglischen Pabliau „Dame Siriz**. 297
dafür; der Erzähler wollte also ein neues Beispiel von der teuflischen
Schlauheit alter Weiber*) geben.
Folgende Zvige charakterisieren die beiden Erzählungen:
Der Gemahl der Frau ist nach Somadevas Bericht, ein Kaufmann
und, als die Alte ihr Werk beginnt, auf Reisen; in der Sukasaptati
erscheint er als Königssohn und ist zu Hause. Die Kupplerin Somadevas
ist Priesterin, jene der Sukasaptati aber Mutter des Liebhabers. Wohl
infolge dieses Verwandtschaftsverhältnisses, erbietet sie sich hier freiwillig
zur Hilfe; die Priesterin wird dazu aufgefordert. Somadeva hat der
Liebhaber vier gegen einen bei der Sukasaptati; jene kommen mit der
Absicht zu verfuhren, dieser wird von Liebe entzündet und erkrankt.
Das Hündchen gehört der Devasmita; in der Sukasaptati scheint eines
jener herrenlosen Tiere gemeint zu sein, das die Alte für ihren Zweck
an sich gewöhnt hat.
Das Band, welches diese Erzählungen zusammenhält, ist das von der
Alten erfundene Gesetz. Dieses enthält nach der Sukasaptati folgenden
Gedanken: man solle thun, was der Liebhaber wünscht; wer das nicht
thue, werde erniedrigt werden.
Ganz ähnlich lautet das Gesetz in dem Roman von den „sieben weisen
Meistern:" ein Weib, das den Liebhaber abweist, wird von Gott bestraft.
Die erhaltenen Texte dieses Romans äufsern sich darüber allerdings
verschieden. Am deutlichsten sprechen zwei: der älteste, der syrische
Sindban,**) und der ebräische Sendebar.***)
Syr: er rief Gott gegen sie an, und sie wurde eine Hündin.
Ebrä: er rief zu seinem Gott um ihretwegen und dieser verwandelte sie.
Anders heifst es in dem griechischen,!) spanischenff) und per-
sischenfff) Text:
*) Ein dankbares Unternehmen. In allen Litteraturen ist von den bösen Künsten dieser
,,Meisterinnen des Betrug^es** die Rede. Vgl. auch das türkische Tutinäme, übersetzt von
G. Rosen I i6, 112, 11 17, 179, und Düringsfeld, die Frau im Sprüchwort (p. aoo), der Be-
lege aus dem Slavischen und Czechischen bringt.
**) Obers, und herausg. von Fr. Baethgen, Berlin 1879, p. 34; verbessert in einer
Privatmitteilung von H. Prof. Nöldeke.
***) Miscble Sendebar, übers, von H. Sengelmann, Halle 1873, p. 47.
t) Syntipas, ed. F. W. Val. Schmidt!, d. A. d. Disciplina clericalis p. 133; krit ed.
von Eberhard i. d. Fabulae romanenses graece conscriptae I p. 39. Leipzig 1879, verglichen
mit einer Straisbgr. Handschr. von H. Prof. Nöldeke ; übers, von H. Sengelmann. p. 108.
It) Hrsg. von Comparetti i. d. Ricerche intomo al libro di Sindibad 1869, p. 44;
Obers, in Publ. of the Folk Lore-Society a. a. o.
ttt) Stndibadnäme, übrs. v. Clouston in „the Book of Sindibad*'. London 1884, p. 61,
838 Walther EUner.
Griech. u. Span: er verfluchte sie und sie wurde verwandelt.
Pers.: das Weib wurde zur Strafe dafür, dafs sie eines Mannes Liebe
verschmähte, verwandelt.
Am weitesten entfernen sich die jüngeren arabischen Texte der
Tausendundeinen Nacht i'^)
Bengalen: er (der Liebhaber) verwandelte sie.
Tunis: er (der Liebhaber) verzauberte sie und machte sie zu einer
Hündin.
Bulak: sie veranstalteten einen Zauber und verwandelten sie.
Da alle diese Versionen auf einen arabischen Text "*"*") zurückgehen,
so dürfen die Ausdrücke „anrufen gegen Einen", „fluchen^' im Sinne des
arabischen Aberglaubens gedeutet werden, sie sind einander gleich.**^)
*) X. Bengalen-Text: abersetzt von Scott, bei Clouston p. i6a.
2. Tunis-Text, a. ed. Habicht-Fleischer, Bd. XU. p. 393, aberseut in Priratmit-
teilung von Herrn Prof. Nöldeke. b. fibers., scheinbar nach einer anderen
Redaktion, v. Habicht: loox Nacht. Breslau 1840. Bd. XV. p. 137.
3. Text von Bulak, Bd. m, p. 89, Übersetzt von Herrn Prof. Nöldeke.
**) Dieser arabische Text aus dem achten Jahrhundert wird durch die syrische und
spanische Version treuer als durch die bis jetzt bekannten arabischen der «sieben Veziere**
(in Tausendundeine Nacht) wiedergfeg^eben. Die griechische ist Ende des elften Jahr-
hunderts aus der syrischen Version übersetzt Jener arabische Grundtext aber ist aus dem
Indischen durch Vermittlung eines jetzt verlorenen Pehlewi-Textes entstanden. Der Stamm-
baum ist also der folgende:
Wt4f.
Vergl. Nöldeke in der Zeitschrift der deutsch, morgenländ. Ges. Bd. XXXm. p. 520 bis
539 f. Ahnl. Landau 2 aao. 37.
***) Im Arabischen ist « anrufen gegen Einen** es „fluchen**, ob Gott dabei erwähnt
wird (=s Gott anrufen gegen — ) oder nicht, gilt gleich: Gott ist doch zu ergänzen. (Th. Nöldeke,)
Untersuchung^en zu dem mittel englischen Fabliau ,,Dame Siriz'^ 229
Die Beziehung aber zwischen den syrischen, spanischen, ebräischen
und persischen Texten einerseits und den jüngeren arabischen anderer-
seits wird klar mit Hilfe der Deutung, welche der deutsche Aberglaube
dem Fluche gfiebt: der „dem EinzelwiUen des Menschen anheimgegebene
Fluch" besitzt eine „magische Wirkung" und bezieht sich auf „Voll-
bringung des persönlichen Hasses."*) „Diese Anschauung ist eben nicht
nur deutsch; eine Polemik dagegen findet sich schon im alten Testament."**)
Mögen aber diese Versionen der „sieben weisen Meister" über die
Erklärung, wie die Verwandlung zu Stande kommt, scheinbar oder wirk-
lich uneinig sein, — völlige Einigkeit herrscht unter ihnen in der Auf-
fassung vom Wesen der Verwandlung: bei Lebzeiten wird der Mensch
in das Tier verwandelt. Hier zuerst tritt diese Anschauung hervor. —
Diese Versionen sind in drei Abteilungen näher zu betrachten:***)
Die I. zeigt den Typus Somadeva und enthält das Sindibadnäme.
Merkmale: der Liebhaber wirbt nicht persönlich; die Kupplerin besucht
die Frau mehrere Male.
Die n. Abteilung zeigt den Typus „sieben weise Meister" und ent-
hält den syrischen, griechischen und spanischen Text; ihre Merkmale
sind: die persönliche Werbung, und der einmalige Besuch der
Kupplerin.
In der HI. Abteilung mischen sich die Merkmale der beiden vor-
hergehenden; sie enthält
a. die vier Versionen der „sieben Veziere", welche von I die mehr-
maligen Besuche der Alten, von II die persönliche Werbung
entlehnen,
b. Sendebar, der von I die nicht persönliche Werbung und von II
den einmaligen Besuch der Kupplerin entnimmt.
I. Die Erzählung im Sindibadnäme lautet nach der englischen Über-
setzung, wie folgt:
In der Stadt Schustar (in Khusistan in Fersien) sieht ein lebens-
lustiger junger Galan, als er eines Tages auf die Jagd reitet, an einem
Gitterfenster ein Weib, schön wie eine Peri, und verliebt sich in sie. Er
überredet eine listige Alte, bei jener sein Fürsprech zu sein; ihre Sendung
hat aber durchaus keinen Erfolg, denn jene lehnt es mit Unwillen ab.
*) Wuttke, deutscher Volksaberglaube, p. 153.
**) Prov. Salonu 26, 2 : „Wie ein Vogel dahin fährt und eine Schwalbe fleugt, also
ein unverdienter Fluch triflft nicht" (Th. N.)
*♦*) Im Folgenden werde ich gelegentlich mit den Namen „Syntlpas**, „Sendebar** etc.
^ die Geschichte von der weinenden Hündin in dem betreffenden Buche benennen.
Ztichr. f. vgl. Litt.*Geach. I. ^6
230 Walther Eisner.
einen Liebhaber zu unterhalten. Nach wenigen Tagen verkleidet sich
die Alte als Priesterin (devotee) und versucht so, nochmals Zutritt zu
dem Hause der schönen Frau zu erhalten, gewinnt sich auch bald das
Zutrauen der Dienerschaft und wird schliefslich die vertraute Gefährtin
(companion) der Hausfrau selbst. Eines Tages nun futtert dieses ränke-
volle, heuchlerische, alte Scheusal deren Hündin mit stark gewürzten
Kuchen, welche ihr die Tränen in die Augen treiben, sodafs es aus-
sieht, als weine sie. Sobald die Frau es bemerkt, drückt sie ihre Über-
raschung darüber aus und fragt die Alte, ob sie die Ursache wisse.
Zuerst stellt sich diese aber, als gebe sie ungern Auskunft, jedoch nach
längeren Bitten, erzählt sie, dafs das Hündchen einst ein schönes Weib*)
war, welches zur Strafe dafür, dafs es eines Mannes Liebe verschmähte,
in diese Gestalt verwandelt sei.
Beim Anhören dieser Geschichte mit Unruhe erfüllt, bekennt die
Frau, dafs auch sie die Bewerbung eines Jünglings, die von einer Alten
überbracht worden sei, zurückgewiesen; jetzt aber wolle sie ihm
eine Zusammenkunft gewähren, damit sie nicht auch verwandelt werde.
Sogleich eilt die Kupplerin zu dem Verliebten und benachrichtigt
ihn von dem Gelingen ihres Anschlags; bald sind die Frau und er
bei einander.
Diese Geschichte ist offenbar mit Somadevas Erzählung verwandt.
Wahrscheinlich geht sie mit ihr auf eine gemeinschaftliche Quelle zurück.
Wieviel Mittelglieder aber anzunehmen sein werden, mufs wohl dahin-
gestellt bleiben. Vielleicht war es Somadeva selbst, der die Geschichte
vom weinenden Hündchen mit jener vom roten Lotos**) verschmolz; zu
letzterer würde die Mehrzahl der Liebhaber, welche von fem herkommen,
und der moralische Schlufs gehören. Der Verfasser des Sindibadnäme
aber oder der seiner Vorlage überliefert sein Vorbild mit ziemlicher
Nachlässigkeit. Er erzählt vielleicht aus dem Gedächtnis. Den Gemahl
der Frau, welcher in der Geschichte selbst nicht mitspielt, läfst er ganz
bei Seite; daher bleibt es fortwährend ungewifs, ob das Weib Frau
oder Mädchen ist. Ebensowenig hat er behalten, woraus das gewürzte
Futter bestand; er nennt es ganz allgemein Kuchen; er weifs nicht, ob
es aus Fleisch oder Teig bereitet war. Ungenau berichtet er auch, die
Kupplerin habe sich als Priesterin nur verkleidet; er hat sie nämlich bei
dem ersten Besuche als Kupplerin, die aus ihrem Gewerbe kein Hehl
*) Im englischen Text steht bald damsel, bald lady.
**) Vgl. über deren Verbreitung R, Köhler a. a. O.
Untersuchung^en zu dem mittelenglischen Fabliau ^^Dame Siri7/^ 231
macht, bei der Frau eintreten lassen. — Abgesehen hiervon, verläuft aber
die Geschichte wie bei Somadeva. Der Liebhaber wendet sich an die
Kupplerin; diese gewinnt zuerst die Dienerschaft, dann das Vertrauen
der Herrin. Sie füttert das Hündchen der Frau und erzählt, scheinbar
widerwillig, seine Geschichte.
IL Diese Abteilung enthält die der Zeit nach ältesten Versionen
der „sieben weisen Meister"; wie in Somadeva und Sindibadname fordert
der Liebhaber die Kupplerin auf, ihm zu helfen.
Der syrische Text*) hat am Anfang eine Lücke und erzählt
folgendermafsen :
festgesetzte Zeit.
Und als die Zeit, die ihr Mann festgesetzt hatte, vorübergegangen
war, ging sie hinaus, um auf den Weg zu sehen. Da erblickte sie ein
Mann, gewann sie lieb, und wollte mit ihr Umgang haben. Sie aber
willfahrte ihm nicht. Da gfing der Mann zu einer alten Frau, die neben
jener wohnte und erzählte ihr die ganze Geschichte. Die Alte sprach:
„Ich will dir schon zur Erfüllung deines Wunsches behilflich sein und
sie dir ergeben machen." Dann stand sie auf, knetete einen Teig mit
Sauerteig, that viel Pfeffer hinein und bück ihn. Darauf nahm sie ihre
Hündin und kam so an die Tür jener Frau. Als sie in das Haus ge-
treten war, warf sie der Hündin ein Stück von dem Brote hin, und als
die Hündin das gefressen hatte, traten ihr in Folge des vielen Pfeffers
die Tränen in die Augen. Die Alte setzte sich nun zu der Frau und
fing auch an zu weinen. Da fragte jene Frau die Alte: „Was hast du
denn, dafs du weinst und ebenso deine Hündin?** Die Alte erwiderte:
„Diese Hündin war meine Nachbarin ; sie war sehr schön und ein junger
Mann liebte sie; sie aber wollte nichts von ihm wissen. Weil er nun
von Liebe zu ihr entbrannt war, rief er Gott gegen sie an und sie wurde
eine Hündin, wie du siehst; als sie sah, dafs ich zu dir ging, kam sie
mit mir, und aus Kummer über sie weine ich." Als die junge Frau
diese Worte der Alten vernahm, sprach sie: „Auch mir läuft ein junger
Mann nach und verlangt sehr nach mir; ich aber verlangte nicht nach
ihm. Nun aber, da ich deine Hündin sehe, furchte ich mich sehr wegen
dessen, was du von dem in eine Hündin verwandelten jimgen Mädchen
sagst, er möchte nun Gott gegen mich anrufen, und ich eine Hündin
werden. Mach dich auf, geh zu dem Manne und bringe ihn mir, und
*) Baethgens Übersetzung ist von Herrn Prof. NAldeke mit dem Text genau verglichen
und nur da geändert worden, wo es wirklich von Belang war.
16*
232 Walther Elsaer.
was du wünschest, will ich dir geben." Die Alte erwiderte: „Wohlan,
schmücke dich und sei vergnügt, bis ich wiederkomme."
Diesen Text übersetzt Syntipas weitschweifig und geschmacklos
überladend, aber im Ganzen getreu. „Wir müssen daher annehmen, dafs
die in der syrischen Handschrift verlorenen Stellen in dieser wesentlich
so standen, wie sie Syntipas giebt."*)
Syntipas berichtet:
Es war ein Weib, das mit einem Manne in rechtmäfsiger Ehe lebte.
Als dieser einst auf Reisen gehen wollte und sein Haus verlassen, bat
sie ihn um Gelöbnisse und Versprechungen; desgleichen er auch sie.
Und beide versprachen einander, dafs sie das Ehebündnis unbefleckt
erhalten und in Ehrbarkeit verharren wollten bis zu des Mannes Rück-
kehr. Dann setzte der Mann dem Weibe eine bestimmte Zahl von Tagen
fest; „nach diesen", sagte er „werde ich nach Hause zurückkehren."
Darum als dieser Tage Anzahl abgelaufen war, trat das Weib an den
Weg, sie spähte, ob ihr Mann schon zu sehen wäre; aber sie sah ihn
nicht. Da wurde ein Jüngling, der sie sah, von Liebe zu ihr ergriffen
und begann darüber sich mit ihr zu unterhalten. Sie aber war durchaus
auf keine Weise für die Liebes worte empfänglich. Der Jüngling, von
Liebe zum Weibe stark verwundet, ging hin zu einer Alten, die nahe
dem Hause der Geliebten wohnte und sprach zu ihr also : „Als ich deine
Nachbarin sah, wurde ich plötzlich von Liebe zu ihr ergriffen, und strebte
begierig nach Liebesumgang mit ihr ; sie aber will mich auf keine Weise
hören, sondern nimmt noch dazu meine Reden übel auf. Wenn du nun,
o Mutter, diese beredest, dafs sie meinen Wünschen Folge leiste, so will
ich dir schenken, was immer du begehren mögst." Als die Alte diese
*) Herr Prof. Nöldeke, der mir noch folgende Mitteilung macht: ^Ich habe einige Kleinig-
keiten in der, übrigens recht steifen, Sengelmannschen Übersetzung nach Eberhards Ausgabe
korrigiert. Freilich ist es sehr unwahrscheinlich, dafs wir uns auf letzteren im Detail ver-
lassen können, z. B. ob Präsens, histor. oder Aorist, u. dgl. Quisquilien.
Die Straisburger Handschrift, die ich mit Eberhards Text verglichen habe, bietet im
Ausdruck zahllose Varianten, keine Zeile ist wie im Druck. Durchweg ist die Sprache
viel korrekter und nähert sich der klassischen mehr als in der Ausgabe. Aber, wenn nicht
Alles täuscht, steht letztere dem ursprünglichen Text des Andreopulos weit näher und ist die
bessere Ausdrucksweise unseres Übersetzers das Resultat einer Bearbeitung [nicht aber
etwa von Seiten des Kopisten, der Fehler macht, sondern eines Früheren], So halte ich
auch die Tilgfung der albernen Epitheta f&r die Frau (welche dazu mit dem Sinn der Ge-
schichte streiten, da die Frau an sich ja nicht zur Untreue Neigung hat) für eine allerdings
gute Korrektur; Andreopulos hat diesen Unsinn gewifs auf seinem Gewissen. Übrigens ist
dies die einzige sachliche Abweichung des Codex von der Ausgabe."
Untersuchungen zu dem mittelenglischen Fabliau ,,Dame Siriz*'. 233
Worte hörte, sagte sie zum Jüngling: „Ich werde die junge Frau
bewegen, deinen Willen zu erfüllen." Sowie sie dieses gesagt, steht sie
eilends auf, und ordnet mit Schlauheit an, was zu thun ist; sie nimmt
nämlich Gerste, bereitet dieselbe mit Wasser zu einem Teige, thut hernach
viel Pfeffer in den Teig und macht so einen Brodaib daraus. Dann backt
sie ihn, nimmt das Brot und eine Hündin, die sie besafs, mit sich und
geht zu der jungen Frau. Die Hündin lief aber der Alten immer nach.
Sobald sie sich der Wohnung der Geliebten nähert, wirft sie dem Hünd-
lein ein Stück von jenem Brote vor; der Hündin aber flössen beim Essen
von dem Pfeflfer die Augen über, und mit tränenden Augen folgte sie
der Alten. Da diese zu der Geliebten hineingeht, sieht die Frau, wie
der Hund weint und Tränen ihm aus den Augen fliefsen ; sie spricht zu
der Alten: „Was ist die Ursache von der Hündin Tränen?" Die Alte ant-
wortete weinend der liebvernarrter Weise schönfrisierten und in Sehn-
suchtsschmachten reichgeschmückten Jungfrau: „Diese Hündin, die du
siehst, o Grauaugenwimprige mit gefärbten Lippen, sie war, wehe! meine
Tochter; ein Jüngling hatte sie lieb gewonnen und wollte sie zum Liebes-
umgang zwingen; sie aber wollte in keiner Weise ihm Gehör schenken.
Der junge Mann nun voll Unmuts verwünschte sie mit gekränktem Herzen
und alsbald, wehe! wurde sie in eine Hündin verwandelt. So oft ich
nun von Hause fortgehen wUl, beginnt sie bitterlich zu weinen und läuft
mir nach." So sprach das kupplerische Weib unter Tränen. Die junge
Frau aber, bestürzt von dem, was sie hörte und sah, geriet in Furcht und
sprach mit pochendem Herzen zu der Alten: „Ich bin durch deine Er-
zählung sehr beängstigt worden, denn ein Jüngling, der mich sah, als ich
zur Tür mich hinausbog, wurde von Liebe zu mir gefesselt, und dem nach
Liebesumgang mit mir stark verlangenden, schenkte ich nicht Gehör.
So ängstige ich mich nun, dafs ich von seiner Verwünschung Gleiches
erdulden möge wie deine Tochter. Mache dich deshalb jetzt auf, gehe
hin und wenn du ihn findest, so führe ihn zu mir, so will ich dich ehren-
voll belohnen. Die Alte erwiderte: „Ich will, so ich ihn finde, nach
deinem Willen ihn zu dir fuhren."
Im syrischen Text sind demnach zwei Lücken, die grofse am
Eingang, worin von dem Treueversprechen der Ehegatten die Rede
gewesen, und weiterhin eine kleinere, welche mit der an die Alte ge-
richteten Bitte des Liebhabers, ihm zu helfen, auszufüllen wäre. — An
Somadeva erinnert es, dafs die Kupplerin dem Hündchen die PfefFer-
speise erst in oder vor der Wohnung der Frau reicht. Diese (Speise)
234 Walther Eisner.
bereitete sie dort aus Fleisch, hier nimmt sie dazu Brot. Dort nannte
sie das Hundchen Freundin, im Syrer heifst sie es Nachbarin, im Syntipas
Tochter. — Ein hübscher Zug des Syrers ist von Syntipas scheinbar ver-
loren worden. In jenem tritt die Alte schon weinend bei der Frau ein,
so dafs diese mitleidig fragt: „warum weinst du und deine Hündin?^*
Im Syntipas kann die Frau nur Neugier zeigen, denn die Alte weint
erst in Folge von deren Frage: warum weint das Hündchen?
Fast völlige Übereinstimmung mit diesen Versionen zeigt der Spanier.
Nicht immer tritt sie jedoch deutlich hervor. Die spanische Erzählung
lautet nach Comparettis Text des Libro de los Enganos:
Herr, ich hörte sagen, dafs ein Mann und seine Frau einen Vertrag
schlössen und sich Treue gelobten, und der Gatte setzte einen Termin
fest, an dem er wiederkommen wolle, und er kam nicht Und es geschah,
dafs sie an den Weg ging; während sie dort stand, kam ein Mann
daher, sah sie und verliebte sich in sie und bat sie um ihre Gegen-
liebe; sie aber wollte in keiner Weise ihm willfahren. Hierauf begab er
sich zu einer Alten, welche in der Nähe jener Frau wohnte und erzählte
ihr alles, was ihm mit jener Frau begegnet war und bat sie, ihm zu deren
Liebe zu verhelfen; er werde ihr geben, was sie verlange. Und die
Alte versprach ihm ihre Hilfe. Sie begab sich in ihr Haus, nahm Honig,
Teig und Pfeffer, mengte alles zusammen und bück es. Darauf ging sie
in das Haus der Frau, lockte ihre Hündin und gab ihr von dem Brote,
doch so, dafs die Frau es nicht gewahr wurde. Sobald die Hündin es
gefressen hatte, lief sie zu der Alten und schmeichelte ihr, dafs sie ihr
noch mehr gebe, und Tränen flössen wegen des Pfeffers aus ihren
Augen, der in dem Brot gewesen war. Als die Frau dies sah, wunderte
sie sich darüber und sagte zu der Alten : „Meine liebe Freundin, sahst du
jemals eine andere Hündin weinen, wie diese?" Die Alte erwiderte:
„Du hast Recht; die Hündin war ein sehr schönes Weib und sie wohnte
hier bei mir, und ein Mann verliebte sich in sie, doch sie kümmerte sich
nicht um ihn; da verwünschte dieser Mann sie, die er liebte, und sie ver-
wandelte sich sogleich in diese Hündin, und wenn sie mich sieht, erinnert
sie sich noch daran und beginnt zu weinen". Darauf sagte die Frau:
„Oh, ich Arme! was soll ich thun? Neulich sah mich ein Mann auf der
Strafse und bat mich um meine Liebe, doch ich wollte nicht. Daher
habe ich jetzt Furcht, dafs ich mich in eine Hündin verwandele, wenn
er mich verfluchte; darum geh und bitte ihn an meiner Statt; ich werde
ihm geben, was er wünscht." Die Alte erwiderte: „Ich will ihn zu dir bringen."
Untersuchungen zu dem mittelenglischen Fabliau ,,Dame Sirix*'. • 235
Diese Geschichte ist recht ungeschickt erzählt Aber auch auf die
Rechnung des Abschreibers sind einige Fehler zu setzen. So steht am
Eingange: „et el marido puso plaso ä que viniese et non vino ä el,"
wo es heifsen soll: „der Gatte setzte einen Termin fest, an dem er
wiederkommen wollte, und er kam nicht/^
Dagegen fallt ein andrer Fehler dem Erzähler zur Last. Beim An«
hören der folgenden Erzählung: „eston^e fue ä una vieja que
morava cerca della et contögelo todo como le conteciera con
aquella muger et rrogole que gela fisiese aver et quel, daria quanto
quisiese. Et la vieja dixo queP plasie et que gela faria aven Et la
vieja fuese ä su casa . . .", werden wir verwundert fragen, wo denn
die Alte war, als der Liebhaber zu ihr kam. Ebenso bleibt unklar, wem
die Hündin gehört; es heifst: „eston^e fuese para su casa daquella muger;
et llamö una periUa que tenie et echöle d'aquel pan en guisa que non
lo viese la muger/'
Merkwürdig ist ein Zusatz des Spaniers; er allein bereitet die Kuchen,
welche das Hündchen fressen mufs, mit Honig. 0£fenbar und mit Recht
empfand er Bedenken, ob der Leser seiner Geschichte glauben würde,
dafs der Hund einfaches Pfefferbrod gefressen hätte; deshalb stellte er
einen regelrechten Pfefferkuchen her. Wir werden sehen, wie spätere
Bearbeiter sich über diesen Punkt hinweghelfen.
Die Hündin selbst ist wie bei dem Syrer eine schöne Nachbarin
gewesen; Syntipas* „Tochter" dürfte also wohl eigene Erfindung sein.
Dagegen schildert auch der Spanier die Frau nur neugierig; sie ist nicht
auch mitleidig wie beim Syrer.
In der IIL Abteilung sollen zuerst die drei Versionen der „sieben
Veziere" betrachtet werden.
Mit den Abteilungen I und II vereinigt sie dasselbe Motiv, das diese
beiden aneinander fesselt.'^)
Mit n haben sie jenes Motiv der persönlichen Werbung gemein;
scheinbar fehlt es in einer der Versionen,**) doch ist entweder deren
Text verderbt oder deren Darstellung des Verlaufes der Geschichte
fehlerhaft. Diese lautet, wie folgt:
Es war einmal eines Kaufmanns Sohn, welcher ein schönes Weib
hatte, und es geschah, dals ein Wüstling, der sie zufallig sah, sich in sie
*) Vgl. p. 231.
**) Es ist der Bengralen-Tezt, vergl. p. 338 Anmerk. i.
236 Waltber Eisner.
verliebte. Während der Gatte auf einer Geschäftsreise fern von Hause
war, begab sich der Liebhaber zu einer Alten aus der Nachbarschaft,
welche jene Frau gut kannte, und erzählte ihr von seiner Leidenschaft,
indem er für ihre Hilfe zehn Dinare bot Das listige alte Weib besuchte
darauf mehrmals die Kaufmannsfrau und nahm stets eine kleine Hündin
mit. Eines Tages ersann sie folgende List. Sie knetete Mehl und zer-
hacktes Fleisch mit einer tüchtigen Menge PfefiFer in einen Teig, und
drückte ihn in den Schlund der Hündin herab, welche, sobald der Pfeffer
ihre Eingeweide erhitzte, nasse Augen bekam, wie von Tränen. Als
die Kaufmannsfrau dies bemerkte, sagte sie zu der Alten: „Gute Mutter,
diese Hündin folgt dir immer und sieht aus,, als ob sie weint. Wie
kommt das?** Jene erwiderte: „Teure Herrin, mit dieser Hündin ist es
eine eigene Sache; sie war nämlich früher ein schönes Mädchen, gerade
wie der Buchstabe Aleph, und beschämte die Sonne mit ihrer strahlenden
Schönheit. Ein jüdischer Zauberer verliebte sich in sie, den sie ver-
schmähte; als er daran verzweifelte sie zu gewinnen, war er zornig und
verzauberte sie in eine Hündin wie du siehst. Sie war meine Freundin,
und ich liebte sie, sodafs sie in ihrer neuen Gestalt mir überall zu folgen
pflegt, denn ich habe sie stets gefuttert und Sorge für sie getragen um
unserer Freundschaft willen. Sie weint oft, wenn sie über ihr unglück-
liches Loos nachdenkt.** Als die Kaufmannsfrau dies hörte, zitterte sie
für sich selbst und sagte: „Ein Mensch hat mir seine Liebe gestanden,
und ich wollte seine verbrecherische Leidenschaft nicht befriedigen, du
aber hast mir bange gemacht mit der Geschichte von diesem unglück-
lichen Mädchen, sodafs ich fürchte, er möchte mich auch verwandeln.*'
„Liebe Tochter** versetzte die Alte, „ich bin deine Freundin und rate
dir, dafs du, wenn irgend jemand dir seine Liebe gesteht, ihn erhörest."
Darauf fragte die Frau: „Wie soll ich meinen Liebhaber finden?** worauf
die Alte antwortete: „Um deines Friedens und der Liebe willen, die ich
für dich empfinde, wie aus Furcht, dafs du verwandelt werden könntest,
will ich mich aufmachen, ihn zu suchen.** —
Diese Geschichte ist lückenhaft überliefert. Eingangs wird nur davon
berichtet, dafs der Liebhaber die Frau gesehen und sich in sie verliebt
habe. Weiterhin aber erzählt die junge Frau der Kupplerin, einen Jüng-
ling, der ihr seine Liebe gestanden, habe sie abgewiesen. Demnach fehlt
am Eingange offenbar ein Satz, welcher die Erzählung von der vergeb-
lichen Werbung des Liebhabers enthielt.
Der Verlust von zwei weiteren Bindegliedern ist nicht minder bemerk-
Uch. Einerseits fehlt die Vermittlung zwischen: „the youth went to an old
Untersuchungen zu dem mittelenglischen Fabliau ,)Dame Siriz*'. 237
woman of the neighbourhood and disciosed to her bis passion, offering
ber ten dinars for ber assistance, . . .'* und „tbe cunning old woman went
several times to visit tbe mercbant's wife". Man vermifst eine Wendung,
mit welcber die Alte ibre Hilfe zusagt.
Im Verlaufe der folgenden Erzäblung feblt die Angabe, dafs die Alte,
sobald sie das Hündcben gefuttert bat, die junge Frau besucbt. Es stebt
nur: „sbe forced tbe cake down tbe animal's tbroat and wben tbe pepper
began to beat ber stomacb, ber eyes became wet as if witb tears. Tbe
mercbant*s wife observing tbis, said: „My good motber, tbis dog daily
follows you and seems as if sbe wept. Wbat can be tbe cause?"
Durcb diese Lücken giebt sieb der vorliegende Bengalen -Text als
eine scblecbt besorgte Abschrift zu erkennen; in der Tbat ist seine Vor-
lage vorbanden. Es ist der von Habicht und Fleischer herausgegebene
Text von Tunis, der obige Fehler vermeidet. Dieser ist gleichfalls die
Quelle für den von Bulak, der, soweit die Übersetzung in die moderne
Sprache ein Urteil darüber zuläfst, ihm, mit bedeutenden eigen-
mächtigen Erweiterungen, treu folgt. Der Bengalen -Text sondert
sich aber von diesen beiden Versionen dadurch, dafs die Frau
genau so wie bei Somadeva Gattin eines Kaufmanns ist, der eine
Geschäftsreise macht, und die Alte ähnlich wie bei Somadeva dem
Hündchen Fleisch reicht. Der Liebhaber^ von dem sie erzählt, ist
ein jüdischer Zauberer.
Der folgende Text ist der, welchen Habicht und Fleischer ediert
haben; in Parenthesen sind an ihrer Stelle die Erweiterungen des Textes
von Bulak beigefugt.
Es war einmal eine überaus schöne Frau; die liebte ein Wüstling,
da er sie einmal gesehen hatte , sein Herz hing an ihr und er begehrte
ihrer. Die Frau aber hatte keine Lust dazu, Unrecht zu begehen. Als
nun ihr Gatte einst zu irgend einem Zweck verreiste, suchte der Wüstling
ein altes Weib auf, das nahe beim Hause jener jungen Frau wohnte. Er
trat dann zu ihr ein und klagte ihr, wie es ihm gebe, wie es ihm die
Schönheit der jungen Frau antbue, und dafs er begehre, sich ihr zu nahen.
Da sagte ihm die Alte: „ich verbürge dir's, dafs du dich ihr nahen wirst,
und will dir zur Erfüllung deines Wunsches verhelfen [so Gott will! Bul.]."
Darauf gab ihr der Wüstling viel Silbergeld [ein Goldstück. Bul.] und ging
seiner Wege. Sofort stand die Alte auf, ging zu der jungen Frau und
erneuerte die Bekanntschaft mit ihr. [Die Alte besuchte sie jeden Tag,
afs zu Morgen und Abend bei ihr und nahm sich von ihr etwas zu essen
S38 Walther Blsner.
für ihre Kinder mit. Die Alte betörte sie so, dafs sie sie endlich ganz
verdarb und sie keinen Augenblick ohne sie leben konnte. Nachdem
nun die Alte eines Tages von der Frau fortgegangen war,*) — sie pflegte
Brot zu nehmen, dahinein Pfeffer und Fett zu thun und das längere Zeit
einer Hündin zu fressen zu geben; die Hündin lief ihr da wegen der zärt-
lichen Fürsorge und Wohlthat nach; da nahm sie eines Tages**) viel
Pfeffer und Fett und gab's ihr zu fressen. Als sie es gefressen, tränten
ihr die Augen von der Hitze des Pfeffers. Dann folgte ihr die Hündin
weinend: da wunderte sich die junge Frau über sie gar sehr und sprach:
O, Mutter, . . etc.]
Nun war in dem Quartier eine Hündin, der pflegte die Alte Liebes-
werke zu thun, indem sie sie mit den Resten der Brotstücke fütterte,
sodafs sie sich an sie gewöhnte, sie kannte und ihr nachlief. Da wandte
die Alte eine List an. Sie nahm Sauerteig, that Fett und viel Pfeffer
hinein und gab das der Hündin zu fressen. Dann ging sie nach der
Wohnung der jungen Frau; die Hündin folgte ihr, während ihr die Augen
von dem Pfeffer tränten, den sie gefressen hatte. Die Alte ging, bis
sie in der Wohnung der jungen Frau war: die Hündin folgte ihr. Als
nun die junge Frau sah, wie der Hündin die Tränen aus den Augen
flössen, wunderte sie sich darob und sprach: „Mutter, wie kommt's, dals
dir diese Hündin immer folgt, und, wie ich sehe, dabei weint und ihre
Tränen fliefsen?" Sie sprach: „Wisse', o Herzliebchen,***) dafe es mit
dieser Hündin eine eigene Sache ist; willst du*s, so erzähle ich's dir."
„Ja wohl,** antwortete sie und beschwor sie darum. So sagte denn die
Alte: „Wisse, dafs diese Hündin eine junge Frauf) war, schön wie die
strahlende Sonne; ein Christ [ein Jüngling in der Straise. Bul.] liebte sie
[Bul. (führt weitläufiger seine Liebesnot aus, durch die er ans Bett gefesselt
ward). — Da sprach ich: „o, meine Tochter, folge ihm in Allem, was
er dir sagt, erbarme dich seiner und sei zärtlich gegen ihn.^ Sie aber
nahm meinen Rat nicht an. Als dann die Geduld des Jünglings zu Ende
war, klagte er es einigen seiner Genossen, die veranstalteten einen Zauber
und verwandelten sie. ff)] und trachtete nach ihr, sie aber wies ihn ab.
*) Hier g^erät der Text io Verwirrung.
**) Hier wird das obere „^nes Tages "^ wieder aufgenominen ; zwischenein ist geseigt
worden, dals der Hund nach und nach an die Pfefferkost gewöhnt wurde.
•*♦) Wörtlich „Begehr des Herzens«.
f) Ob Frau oder ein junges Mädchen, ist nicht genau zu unterscheiden.
ft) Hier wird noch erzählt, wie sich die Hflndin der Alten anhängt; diese hält ihr
vor, dafs sie ihrem Rat nicht gefolgt sei.
Untersuchungen zu dem mittelenglischen Fabliau ,,Dame Siriz**. 239
/■ ■ ■ —
Als er nun die Hofihung, sie zu erhalten aufgab, verzauberte er sie und
machte sie zu einer Hündin, wie du siehst. Sie war meine Bekannte
und Freundin, so liebe ich sie denn und futtere sie dessentwegen, und
wenn sie mich sieht, weint sie, als ob sie mir ihren Zustand klagte."
Da sprach die junge Frau: „O Tante, ein Mann liebt mich; ich will
und kann kein Unrecht begehen; aber nun hast du mich durch die Er-
zählimg der Geschichte von dieser jungen Frau bange gemacht; ich
furchte, er möchte mich verzaubern." „O, Tochter," sprach die Alte,
„ich rate dir gut und bin zärtlich gesinnt gegen dich; so Einer das von
dir will, so wehre dich nicht gegen ihn, denn der ist verständig, welcher
sich durch das Schicksal Anderer warnen läfst. [Wenn du seine Wohnung
nicht kennst, so beschreibe ihn mir wenigstens, dann hole ich ihn dir;
lafs ja nicht das Herz eines Andern sich um deinetwillen aufreiben."
Da beschrieb sie ihn ihr; die aber that ganz so, als kennte sie ihn nicht
und sprach dann: „Ich will au&tehen und nach ihm fragen." Als sie die
Frau verlassen hatte, ging sie zu dem Jüngling und sprach zu ihm: „Sei
getrost und guter Dinge; ich habe den Verstand der jungen Frau betört.
Morgen Mittag bist du da und wartest auf mich am Eingang der Strafse,
dann nehme ich dich nach ihrer Wohnung und du vergnügst dich bei
ihr den Rest des Tages und die ganze Nacht hindurch." Da freute sich
der Jüngling gar sehr und gab ihr zwei Goldstücke, dann sagte er zu
ihr: „Wenn ich meinen Zweck erreiche, geb* ich dir zehn Goldstücke."
Darauf kehrte sie zu der jungen Frau zurück und sprach zu ihr: „Ich
hab' ihn erkannt und mit ihm über die Sache gesprochen; da fand ich
ihn aber sehr zornig auf dich und Willens dir zu schaden; jedoch habe
ich ihn endlich begütigt und dazu vermocht, dafs er morgen ums Mittags-
gebet da sein wül." Da freute sich die junge Frau gar sehr und sprach:
„O, Mutter, wenn er begütigt ist und am Mittag zu mir kommt, geb* ich
dir zehn Goldstücke." Da sprach die Alte: „Wisse, dafs nur ich die
Ursache bin, dafs er kommt." Am andern Morgen sagte die Alte: „Nun
besorge das Essen, schmücke dich und kleide dich, so schön du kannst,
dann gehe ich zu ihm und hole ihn dir." Da schmückte sie sich sofort,
und bereitete das Mahl. Die Alte aber ging aus, den Jüngling zu er-
warten.] Da sagte die junge Frau: „so will ich heute Abend ein Mahl
zurichten und Wein besorgen und ich mache dich zu meiner Botin an
ihn." Und als die Alte sagte : „Ich kenne den Mann aber nicht," beschrieb
sie ihr ihn, während jene that, als kannte sie ihn nicht. Als sie dann
endlich sagte: „Ja, nun kenne ich ihn," sprach die junge Frau: „So
240 Walther Eisner.
geh hinaus und suche ihn," Darauf verliefs sie sie, froh darüber, ihren
Zweck erreicht zu haben.
Die Erzählung in Habichts Übersetzung weicht von der in seiner
Ausgabe des tunesischen Textes so bedeutend ab, dafs die irrige Ver-
mutung entsteht, die Übersetzung beruhe auf einer anderen Redaktion
des Textes und diese sei, wie eine Unklarheit in der Darstellung der
Szene zwischen der Frau und der das Hündchen mitbringenden Kupplerin
beweise, aus derjenigen, welche in Habichts Ausgabe steht, abgeleitet.
Versicherte Habicht doch, dafs es eine treue Übersetzung wäre. Er
hat aber die Erzählung verkürzt und dabei Änderungen vorgenommen.
Denn der Liebhaber geht noch vor der Abreise des Gemahls zu der
Kupplerin und diese knüpft mit der Frau Bekanntschaft erst an, statt sie
zu erneuern. Die Geschichte lautet in Habichts Übersetzung:
Ein junger Mann sah eine Frau von aufserordentlicher Schönheit. Da
er indes bemerkte, dafs die Frau von ihm nichts hören wollte, so wandte
er sich an eine alte Frau, der er alles entdeckte und die ihm sogleich
versprach, seinen Wünschen behilflich zu sein. Eines Tages verreiste
der Mann dieser schönen Frau und diesen Zeitpunkt benutzte die Alte,
um zu ihr zu gehen und mit ihr Bekanntschaft anzuknüpfen. Sie hatte
eine Hündin an sich gewöhnt, und zwar dadurch, dafs sie ihr oft etwas
zu fressen gab. Diese Hündin nahm sie jedesmal mit sich zu der schönen
Frau. Eines Tages aber hatte diese Alte einen Teig bereitet, worin sie
Fett und sehr viel Pfeffer gethan hatte, und gab diesen der Hündin zu
fressen. Hierauf ging sie zu der jungen Frau, wohin ihr die Hündin wie
gewöhnlich folgte. Da nun aber der viele Pfeffer seine Wirkung that
und ihr die Augen von Tränen überliefen, so fragte sie die Alte, woher
es käme, dafs die Hündin ihr immer nachliefe und immer weinte. „Ach,**
sagte die Alte, „es hat sich mit jener Hündin etwas Sonderbares zuge-
tragen. Sie war nämlich einst eine sehr schöne Frau und ein Christ
wurde in sie verliebt und hielt um sie an. Sie verweigerte ihm aber ihre
Hand, und da er alle Hoflfnung verlor, sie zu besitzen, verwandelte er
sie, wie du siehst in eine Hündin. Sie war meine vertraute Freundin,
daher liebe und pflege ich sie jetzt; sie kann mich nicht sehen, ohne zu
weinen, wodurch sie mir gleichsam ihren Zustand klagt/' „Ach," sagte
die junge Frau, „liebe Alte, ich kenne auch einen jungen Mann, der mich
liebte; ich habe ihn aber nicht erhören wollen. Du aber machst mir vor
ihm Furcht, dafs er mich auch wohl bezaubern könnte." „Du hast ganz
Recht," erwiderte die Alte, „es ist sehr möglich, dafs er es thun könnte.
Untersuchungen zu dem ooittelenglischen Pabliau „Dame Siriz.*^ 341
Ich rate es dir als Freundin, wenn dich jemand um deine Liebe bittet, sie
ihm nicht abzuschlagen. Kennst du nicht das Sprüchwort: der Vernünftige
nimmt sich ein Beispiel am Andern?" „Wohl," sagte die junge Frau, „ich
werde jetzt sogleich Speise und Trank zurecht machen und dich bitten,
ihn zu holen." Da sich aber die Alte stellte, als ob sie ihn nicht kenne, so
mufste sie ihr vorher genau seine Wohnung beschreiben. Die Alte begab
sich nunmehr auf den Weg und suchte den Mann auf. —
Der ebräische Text der Geschichte im Sendebar, nimmt sich
wie ein buntes Gemisch von Motiven aller bisher besprochenen Versionen
aus. Die Geschichte lautet hier:
Es war ein Kaufmann, der hatte ein schönes und bescheidenes Weib,
das liebte er sehr und er sprach zu demselben : „Siehe, ich gehe auf eine
weite Reise; so schwöre mir denn nun, dafs, wenn ich sterben sollte, du
nicht wieder heiraten willst, und wenn du stirbst, so will auch ich kein
ander Weib nehmen." So schwuren Mann und Weib und es ging der
Mann auf seine Reise. Sie aber salbte und badete sich nicht von diesem
Tage an, trat auch nicht einmal vor ihres Hauses Tür. Da ging eines
Tages eine Braut durch die Strafse der Stadt unter Gesang und Spiel;
das Weib aber sah hinaus durchs Fenster. So sah sie ein Jüngling und
verliebte sich in sie und verfiel in eine Krankheit vor grofser Liebessehn-
sucht. Zu ihm kam eine Alte, ihn zu besuchen; die sprach zu ihm: „Sage
mir, was fehlt dir? Vielleicht kannst du durch meine Hilfe genesen." Er
antwortete: „Ein Weib liebe ich, verhilf mir zum Besitze desselben, so sollst
du Geschenke von mir haben." „Das übernehme ich," erwiderte die Alte,
ging hin und fing mit List es an; denn sie wufste, dafs sie sonst über
den Willen jener nichts vermochte. Sie nahm einen Teig, knetete
Knoblauch, Pfeffer und Butter hinein und setzte ihn ihrer Hündin vor.
Die Hündin frafs und es gefiel ihr und sie folgte der Alten nach. Diese
ging in das Haus jener jungen Frau mit der Hündin hinter sich. Das
Weib aber erhob sich, nahm die Alte ehrenvoll auf und setzte ihr zu
essen vor. Die Hündin aber stand ihr zur Seite und sah mit Begier zur
Alten hinauf, dafs sie ihr wieder etwas von dem Teige gäbe; ihre Augen
aber tränten von des Knoblauchs und des Pfeffers Hitze. Die Alte fing
an zu weinen und die junge Frau fragfte sie: „Warum weinst du?"
„Meine Tochter," erwiderte jene, „sieh! diese Hündin war eine sehr
schöne Maid; sie liebte ein Jüngling. Da diesem das Mädchen kein Gehör
schenkte, so sank er vor Liebe zu ihr aufs Krankenlager und rief zu
seinem Gott um ihretwegen und dieser verwandelte das Mädchen in eine
Hündin. Jedes Mal nun, wenn sie mich sieht, läuft sie unter Weinen mir
242 Walther Elsner.
nach, ich kann jedoch nichts dazu thun, sie weint aber deshalb, weil sie
jenem seinen Willen nicht erfüllt hat." Da sprach jene: „Liebe Frau,
auch mich liebt ein Jüngling, und ist um meinetwillen aufs Lager gesunken,
thue mir nur den Gefallen, führe ihn zu mir, dafs ich ihm seinen Wunsch
erfülle; ich will dir auch Geschenke geben, dafs es mir nur nicht ergehe
wie dieser Hündin." —
Am bemerkenswertesten scheint es, dafs diese Geschichte wie die
des Bengalen -Textes die Lücke am Eingange besitzt (in welcher die Ab-
weisung der Liebeswerbung gestanden hat) und den Gatten als Kaufmann
bezeichnet. Vielleicht nicht ganz zufallig nennt die Alte im Bengalen -Text
den Liebhaber ihrer Tochter einen jüdischen Zauberer; der Text be-
nutzte wohl eine ebräische Version des Sendebar.
Zu Abteilung 11 stellt sich die Geschichte aufser durch das (Seite
229 erwähnte) Merkmal des einmaligen Besuches der Kupplerin, durch
den Besitz des Treuversprechens der Ehegatten beim Abschied von ein-
ander, und durch die Art des Fluches, den der Liebhaber, der Erzählung
der Alten zufolge, ausspricht
Nur eine Vermittlung wäre denkbar; die soeben genannten Motive
sind nicht Eigentum der II. Abteilung allein, sondern der ursprünglichen
Version der „sieben weisen Meister**. Aus dieser stammt nunmehr aufser
dem Syrer, Spanier und den „sieben Vezieren" ein heute verlorener Text,
gleichsam ein, vielleicht arabischer, „älterer Sendebar", der obige Motive
und das der persönlichen Werbung besafs. Auf diesen Text geht der über-
lieferte ebräische Sendebar zurück, der vielleicht zu der Version des
Bengalen-Textes in einer gewissen Beziehung steht.
Indes der „ältere Sendebar" hatte sich noch mit anderem Blute ver-
mischt Darauf deuten die Motive, nach welchen der Liebhaber in über-
grofser Liebessehnsucht erkrankt, die Kupplerin zu ihm kommt und ihre
Hilfe selber anbietet. Es sind Merkmale der Sukasaptati, an die man
damit erinnert wird. Allerdings war hier die Kupplerin die Mutter des
Erkrankten und dadurch das Interesse, welches sie an ihm nahm, aufs
Beste erklärt.
An eine Beziehung zum Sindibadnäme zu denken, welches wie der
Sendebar erzählt, der Liebhaber habe das Weib zuerst am Fenster ge-
sehen, liegt zu fern; sind doch auch die begleitenden Umstände andere
und Sendebar hat sonst nichts mit Sindibadnäme gemein.
Hier wäre aber vielleicht der Ort, auf die verschieden zusammen-
gesetzte Pfefferkost zurückzukommen, die ja gelegentlich schon be-
sprochen ist
J
Untersuchungen zu dem mittelengllscben Pabliau „Dame Siriz". 243
Somadeyas Fleisch mit Pfeffer ist das natürlichste Mittel ; die „sieben
weisen Meister" haben Brot dafür verwendet. Nur einmal kommt Fleisch
wieder vor, im Bengalen -Text, doch dient es nur, wie beim Spanier der
Honig, im Tunesischen das Fett und im Sendebar Butter und Knoblauch,
dazu, den Brotteig schmackhafter zu machen.
Auf S, 226 wurde der Versuch gewagt, mit Hilfe der erhaltenen
indischen Redaktionen in Umrissen das Bild der Urform der Erzählung
zu entwerfen. Jetzt wird es an der Zeit sein, dieses Bild zu vollenden.
Die Erzählung mag folgende gewesen sein:
Ein Jüngling sieht .eine schöne tugendhafte Frau, deren Mann verreist
ist, und verliebt sich in sie. Auf seine Bitten geht eine Alte zu ihr mit
einer Hündin, und erzählt ihr, dieses Tier sei früher eine keusche, das
höchste Gesetz verachtende, Frau gewesen, die deshalb als Tier wieder-
geboren worden; sie selbst aber habe jenem Gebote sich gefugt und sei
dafür als Mensch mit der Erinnerung an den früheren Zustand wieder-
geboren worden. Erschreckt ist die Frau bereit, sich dem vermeintlichen
Gesetze zu unterwerfen, und bittet die Alte, ihr einen Liebhaber herbei-
zubringen.
Aus dieser indischen Wurzel erwuchsen zwei Stämme. Einerseits
die Sukasaptati (b), welche den Jüngling liebeskrank werden und die
Alte, seine Mutter, ihm ihre Dienste anbieten läfst; andererseits eine
Redaktion (c), welche ein ganz neues Modv einführt, indem sie das
Hündchen über sein früheres Leben weinen läfst.^ Diese Redaktion (c)
ruft zwei weitere hervor. Die eine (e*) setzt die Geschichte als ersten
Teil einer fremden*) vor und nimmt beide als eine Erzählung in das
indische Buch von den „sieben weisen Meistern^* auf. Hierin hat dieser
erste Teil folgende Gestalt:
Ein Mann, der auf Reisen gehen wollte, und sein Weib verpflichteten
sich durch Gelöbnisse, einander treu zu bleiben. Doch als an dem Tage,
auf den der Mann seine Rückkehr festgesetzt hatte, sein Weib auf den
Weg hinausgegangen war, den er kommen mufste, erschien er nicht.
Ein Jüngling sah sie dort und sie gefiel ihm; er redete sie an und bat
um ihre Liebe. Die Frau aber wollte nichts davon hören. Da eilte
dieser Abgewiesene zu einer Alten, die in der Nachbarschaft wohnte,
erzählte ihr alles und verhiefs hohen Lohn, wenn sie ihm die Gunst des
Weibes verschaflfen würde. Die Alte versprach seinen Wunsch zu er-
füllen. Sie bück ein Stück Brot aus einem mit Pfeffer gewürztem Teige,
*) Vgl. Comparetti a. a. O. p. 25, 36. Clouston p. 341.
244 Walther £lsner.
nahm dieses und ihre Hündin mit, und ging zu dem Weibe. Ehe sie die
Schwelle überschritt, warf sie dem Hündchen das Brod vor. Sehr bald
flössen ihm die Tränen aus den Augen wegen der Schärfe des Pfeffers.
Jetzt trat die Alte zu der Frau, die sofort das weinende Tier bemerkte
und nach der Ursache des Weinens sich erkundigte. Unter Tränen er-
zählte die Alte: „Die Hündin war ein schönes Weib, meine Nachbarin, die
einem verliebten Jüngling kein Gehör schenkte. Deshalb verfluchte er
sie, und Gott verwandelte sie in eine Hündin**. Als die Frau dies gehört
hatte, lieis sie den Liebhaber rufen.
Durch Vermittlung des Pehlewi gelangt diese parstellung der „sieben
weisen Meister" in das Arabische und von da in das Syrische, Griechische,
und Spanische, welche die ursprüngliche Form im Ganzen treu bewahren,
in das Ebräische und jüngere Arabische der „sieben Veziere", welche
sich mehrfache, zum Teil recht bedeutende Änderungen erlauben. Aber
das zu dieser Familie gehörende noch nicht wiedergefundene persische
Prosabuch, oder sein Spröfsling, das persische Sindibadnäme, spaltet die
Geschichte wieder in ihre Teile und ersetzt den ersten Teil durch eine
ihm wohl aus dem Persischen bekannte Nachbildung der Redaktion e,*)
welche, wie e\ aus c entstanden, von Somadeva mit einer fremden Er-
zählung zusammengeschweifst und in sein „Meer der Sagenströme" auf-
genommen wird. Die ebräische Redaktion der „sieben weisen Meister",
Sendebar, erhielt einige ihrer Züg^^ wohl durch Vermittlung des Arabischen
und Persischen, aus dem Indischen der Sukasaptati; andere kündigen ihre
Verwandtschaft mit den arabischen „sieben Vezieren" an. — Die griechische
Redaktion, Syntipas, kann als ein getreues Abbild des arabischen, also
auch indischen Buches der „sieben weisen Meister" betrachtet werden. —
In den abendländischen Versionen der „sieben weisen Meister" tritt
die Geschichte nicht mehr auf; ihre im Occident älteste Form scheint die
von Petrus Alfonsi in der Disciplina Clericalis überlieferte**) zu sein.
Petrus sagt, er habe arabische Schriftsteller benützt. Wenn man bemerkt,
dafs seine Darstellung der Erzählung auffallende Ähnlichkeit mit dem
Sendebar hat, — weil auch hier der Liebhaber in Folge der Abweisung
erkrankt, die Alte ihre Dienste anbietet und die Frau dann ein Mal
*) Vgl. die folgende Tabelle.
**) Fab. XI. ed. Soc. des Bibliophiles. Paris 1824; Cap. XIV. d. A. v. F. W. Val. Schmidt.
Berlin 1827.
Untersuchungen zu dem mittelenglischen Fabliau ,,Dame Siriz".
245
besucht — so liegt es nahe, an den (Seite 242 genannten) „älteren Sendebar"
als seine Vorlage zu denken, der alle diese Motive, aber noch nicht die
Lücke besafs, welche in dem ebräischen Buche zu treflfen ist.
Eigentümlich ist die Art, wie Petrus die Kupplerin die Verwandlung
rechtfertigen läfst Im Sendebar wurde sie, wie in dem syrischen und
/
'stTCUn^iJiii
MamsJFüi^
spanischen Text, durch den Fluch des Verschmähten hervorgerufen;
nebenbei erzählte Sendebar, dafs der Fluch auf dem Krankenlager aus-
gestofsen worden. Dieses für die ebräische Version folgenlose Moment
wird nun in der Disciplina geschickt ausgebeutet. Denn die der Ge-
schichte der Alten zur Voraussetzung dienende Idee, dafs Gott ein treues
Weib um ihrer Keuschheit willen bestraft, vertrug sich nicht mit dem
Geschmack des Publikums, welchem Petrus Alfonsi die Erzählung vor-
Ztrchr. f. vgl. Liti.-Gctch. I.
17
246 Walther Eisner.
tragen wollte; es war ein christliches Publikum und der frühere Jude
Petrus, der Christ geworden war, mufste darauf bedacht sein, das
christliche Gefühl nicht zu verletzen. Er legte daher mehr Gewicht auf
die Krankheit des Liebhabers, betonte sein Leiden und liefe danach die
alte. Kupplerin sagen, die Frau habe sich eines Vergehens schuldig
gemacht, indem sie die Krankheit eines Mitmenschen verursachte*); (ur
diese Schuld habe Gott sie bestrafen wollen.
Diese sophistische Begründung hat vielen Beifall gefunden.
Neben diesen Beziehungen zum Sendebar gehen andere einher, die
aber wohl keine Verwandtschaft begründen. Man erinnere sich, wie im
Sindibadnäme die Heuchelei der Kupplerin gut dadurch geschildert wurde,
dafs sie sich lange bitten liefs, ehe sie ihre Geschichte vortrug; wie sie,
im Syntipas, die unglückliche Hündin, welche sie mitbrachte, zärtlich
ihre eigene Tochter nannte; wie sie, im Bengalen -Text, gleichsam aus
bester "Erfahrung sprechend, die weise Lehre erteilte, einen Liebhaber
müsse man stets erhören ; wie im Syntipas, Syrer und Spanier der Jüng-
ling die Frau auf der Strafse trifft. Das sind Ausstattungsstücke, die
der einzelne Erzähler erfinden konnte, oder die er, aus ähnlichen Er-
zählungen, im Gedächtnis behalten hatte. —
In folgenden Werken findet sich die Erzählung der Disciplina clericalis
übersetzt oder bearbeitet wieder:
1. Übersetzungen der Disciplina.
a. Eine spanische, in Bibl. autor. esp., T. 51, p. 505.
b. Eine französische, des XV. Jahrhunderts in der Ausgabe der
Bibliophiles cf S. 244 Anm. II.
c. Eine isländische, in Islendzk aeventyri, herausg. v. H. Gering
(Halle 1882, L, p. 181) aus dem Cod. Holm, chart. 66, foL,
im 17. Jahrhundert geschrieben.
2. Bearbeitungen der Disciplina.
a. Gotscaldus Hollen: Preceptorium. Colon. 1484 fol. CXCV c.
b. Alexander de Haies: Destructorium vitiorum, Colon. 1485
m, X c.
c. Gesta Romanorum
a. ed. Keller, Stuttgart 1842, I; bezeichnet mit K,
ß. ed. Österley, Berlin 1871, p. 325; bezeichnet mit ö,
X. Ms. Colmar Issenheim 10, fol. Nr. 32; bezeichnet mit Colm.
^) Vielleicht hat Petrus in dieser Weise nur einen verbreiteten Aberglauben venfi-ertct.
Untersuchungen zu dem mittelenglischen Fabliau ,,Dame Siriz". 247
3. Übersetzung der Gesta, K.
Le Vidier des Histoires Romaines ed. M. G. Brunet, Par. 1848, p. 78.
4. Bearbeitungen der Gesta.
A.»
a. Le Grand Parangon des Nouvelles Nouvelles par Nicolas de
Troys. H. vol., fol. XXIXb = Vme nouv. (Ms. a. N.-B.
zu Paris.)
b. P. Gringoire: Les Fantaisies de Mere Sötte. K. I flf. Ms. a. d.
National-Bibl. zu Paris.
c. Hans Sachs: Fastnachtspiele, Ausg. 1578, fol. Bd. IV T. 3.
Bl. 28 b flf.
d. Steinhöwers Esop, ed. Österley f. d. Bibl. d. lit. Ver., Stuttg.
Nr. 117, p. 324.
e. Joh. Junior: Scala celi, Ulm 1480, fol. 85 (Femina).
C Metrical Tales of Adolfus, in Bd. VIU p. 178 der Percy Society,
g. Joh. Herolt: Promtuarium exemplorum. Nuremberg i486. V 12.
h. Vinc. Bellovacencis: Speculum morale, Venetiis 1591. Lib. III,
dist. V, IX.
B. Bearbeitungen, welche fremden Einflufs erkennen lassen.
i. Latin Stories, XIII, in Bd. VHI, p. 16, der Percy Society,
k. Castoiement d'un Pere a son fils in Barbazan-Meon: Fabliaux
ou Contes 11 92. Conte XI.
1. Pierre Anfors (cf. Jhb. f. rom. u. engl. Phil. XI, 151 Anmerkg.) in
Bd. n, 63 der Ausg. d. Soc. des Biblph. (Disc. cl.) Paris 1824.
5. Christiern Hansen's Komedier ed. S. Birket Smith, Kjöbenhavn
1874, p. 60.
In diesen Versionen,*) unter welchen allein Hansen s Lustspiel eine
abgesonderte Stellung hat, die dazu zwingt, es vorläufig bei Seite zu
lassen, wird die Geschichte vom „weinenden Hündchen" mit folgenden
allgemeinen Zügen erzählt:
Ein Edelmann, der eine überaus schöne und züchtige Frau hatte,
unternahm eine Pilgerfahrt. Während seiner Abwesenheit lebte die Frau
anfanglich, wie es sich geziemte. Eines Tages ward ihrer ein Jüngling
ansichtig, verliebte sich in sie und liefs durch Boten um Erhörung bitten.
Aber sie wies alle Anträge ab und beharrte dabei, selbst als der Jüngling
*) Ihr Verhältnis zu einander ergflebt sich aus dem Stammbaum p. 245, Vgl. da£u
die AbkQrzungen auf p. 249.
17*
1^48 Walther Eisner.
heftig erkrankte. Elend schlich er seitdem umher, um sie wenigstens
zu sehen. Da begegnete ihm eine Alte, welche nach der Ursache seines
Leids fragte und darauf ihre Dienste anbot. Sie liefs ihre kleine Hündin
eine Zeit lang hungern, gab ihr dann Senfbrod zu fressen und nahm sie
mit zu der Ehefrau. Des guten Rufes wegen, welcher ihr vorausging,
fand sie daselbst ehrenvolle Aufnahme und bald Gelegenheit zu erzählen,
dafs diese weinende Hündin ihre Tochter sei, welche verwandelt wurde,
weil sie durch Hartherzigkeit einen Liebhaber elend gemacht hatte.
Diese Erzählung verfehlte ihre Wirkung nicht. Die Frau zitterte, eben-
falls verwandelt zu werden, und bat daher die Alte, den Liebhaber
zu holen.
In dem Detail weichen die Erzählungen stark von einander ab. Eines
Motivs ist gleich hier zu gedenken, weil es die Mehrzahl besitzt, welche
durch die Gesta Romanorum am besten repräsentiert scheint. In ihr
erzählt nämlich die Alte, der Anbeter ihrer Tochter sei an Liebesgram
gestorben. Das Motiv fehlt den Texten, die als Mitglieder der Familie
Disciplina (in engern Sinne) bezeichnet werden sollen.
Wahrscheinlich hat es auch in der Urform der abendländischen
Versionen nicht gestanden, welche am treuesten durch den Text der
Disciplina, wie er in den bekannten Ausgaben vorliegt, überliefert wird.
F. W, Val. Schmidt glaubte anders entscheiden zu müssen; er hielt
dafür, dafs „der Tod des Jünglings" sich weit besser eignete „die Frau
zu bewegen als seine Krankheit".*) Das ist richtig, eben darum aber
kann der Tod des Liebhabers eine jüngere Erfindung sein. Das gerade
genügende Kunstmittel ist, wenn nicht besondere Gründe dagegen
zeugen,**) das ältere. Dafs aber die Krankheit des Liebhabers gerade
genügt, um die Frau zu rühren, bestreitet selbst Schmidt nicht. Dafs
Gott den bestraft, der dem Nebenmenschen Leid zugefugt hat, ist doch
durchaus glaubwürdig. Andererseits ist bekannt, woher Petrus das Motiv
der Krankheit bezog — es ist also in jedem Falle ein älteres Motiv —
und wie er es verwertete. Keineswegs scheint darum glaublich, dafs
schon er es modifiziert hätte.
Diejenigen Versionen, welche es bewahrt haben, sind Span.^ eine
Übersetzung, der man nicht ansehen kann, ob sie nach Schmidts oder
*) Schmidt nahm deshalb an, im Text der Disciplina sei an betreffender Stelle ein Satz
ausgefallen, der von dem Todesfalle berichtete. Vergl. s. Ausgabe der D., p. 136.
**) Diese Gründe könnten z. B. in dem Charakter einer Litteratur liegen.
Ufitersuchun£^en zu dem mittelenglischen Fabllau ,,Dame Siriz".
249
der Bibliophilen Text gefertigt ist; Franz., eine Übersetzung von Bibl.;*)
Isl., eine Übersetzung von Schmidt, die aber noch Fremdes enthält;
schliefslich die einander verwandten Destr. und HoU.
Die abendländische Urform war vermutlich folgende:
Man erzählt von einem Edelmann, der eine schöne und allzu züchtige
Frau hatte. Einst kam ihm in den Sinn, nach Rom zu pilgern, um dort
zu beten; bei seiner Frau aber gedachte er keinen Wächter als sie selbst
zurückzulassen. Sobald die Vorbereitungen beendet waren, reiste er ab.
Die Frau bewährte sich; sie verhielt sich klug und sittsam. Eines Tages
nun war sie eines Geschäftes halber genötigt auszugehen und eine Nach-
barin zu besuchen; auf dem Heimwege erblickte sie ein Jüngling, der
sogleich von Leidenschaft für sie erfafst wurde und durch Boten ihr
sagen liefs, wie sehr er mit ihr, um derenwillen er so in Liebe entbrannt
sei, vereinigt zu sein wünschte. Sie aber wies sein Ansinnen entschieden
zurück. Da erkrankte der Jüngling heftig, raffte sich aber dennoch auf
und ging öfters dorthin, wo er sie zuerst hatte herauskommen sehen;
doch es gelang ihm nicht, sie wieder zu treffen. Dafür begegnete ihm
eine würdiggekleidete Alte, welche ihn anhielt und um die Ursache
seines leidenden Aussehens befragte. Wollte er anfangs sein Geheimnis
nicht preis geben, so widerstand er schliefslich doch nicht ihren Vor-
stellungen: der werde um so kränker werden, welcher stets zögere, sein
Leiden dem Arzte zu offenbaren. Nun erzählte der junge Mann sein
Erlebnis, worauf die Alte sich erbot, ihn mit Gottes Hilfe zu heilen ; sie
verliefs ihn und kehrte in ihre Wohnung zurück. Dort hatte sie eine
*) Es sd gestattet, folgende Abkürzungen gelegentlich zu verwenden, (welche sich
teils schon bei Osterley, Gesta Romanonim p. 716 Toriinden), wobei wir auf das Verzeichnis
auf pp. 246. 347 verweisen:
Isl. .
K. .
Lat .
M. S.
N. Tr.
o. .
P. H.
Prom.
Sc. C.
Schm.
Steinh.
Span.'
Viol.
Adolf.
. = 4 f.
Belv.
. SS 4 h.
Bibl. .
. =: Ausgabe der Soc. des Biblio-
philes.
Gast.
. = 4k.
Colm.
, s=z 2 c jr.
Dan.
. = 5.
Destr.
. = 3 b.
Disc, wenn Bibl. u. Schmidt fibereinstlmmen.
Franz.
. = I b.
G. R.
. = 3 c.
Holl.
. ^ 3 a.
H. S.
. = 4 e.
1
e.
tas
3
c a.
=
4
i.
=s
4
b.
=s=
4
a.
:
3
c^.
r=
4
1.
«
4
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isgs
4
ibe
e.
t d.
=
4
d.
=
I
a.
s
3'
250 Walther Eisner.
kleine Hündin, sie liefs dieselbe zwei Tage lan'g hungern, gab ihr am
dritten in Senf getauchtes Brod zu fressen und 'führte sie als ihre Augen
tränten, zu der Frau, welche der Jüngling liebte. Um ihres vertrauen-
erweckenden Äufsern willen, wurde die Alte daselbst ehrenvoll empfangen
und als die Frau das weinende Tier erblickt hatte, fragte sie sogleich,
was es hätte und warum es weinte. Aber die Alte flehte: ^Liebste
Freundin, frage mich danach nicht, weil der Schmerz so grofs ist, dals
ich es nicht sagen kann.^ Dennoch drängte die Frau hartnäckig ihr
alles zu erzählen.
„Diese Hündin, welche du hier siehst," antwortete darauf jene, „war
meine schöne und allzu züchtige Tochter, welche ein junger Mann liebte.
Aber sie war so keusch, dafs sie ihn gänzlich verachtete und seine Liebe
verschmähte. Vor Schmerz darüber erkrankte er heftig. Daran war
meine Tochter schuld und wurde deshalb in eine Hündin verwandelt."
Bei diesen Worten brach die Alte in Tränen aus. Aber die Frau rief:
„Was soll deim ich, die ich ähnlichen Fehls mir bewufst bin, thun?
Auch mir nämlich hat ein junger Mann seine Liebe gestanden und ich
habe ihn aus Liebe zur Keuschheit abgewiesen ; ich weifs, dafs er leidet."
„Da rate ich dir," sagte die Alte, „dafs du dich sobald als möglich seiner
erbarmst und thust, um was er dich gebeten. Hätte ich nämlich von der
Liebe jenes Jünglings zu meiner Tochter gewufst, so wäre sie nicht ver-
wandelt worden." Ihr entgegnete die Frau: „Dann gieb mir, bitte, einen
guten Rat, damit ich nicht verwandelt werde." „Gern," sagte die Alte,
„will ich um Gottes und meines Seelenheiles willen dir den Jüngling
holen."
Verglichen mit den orientalischen Formen der Erzählung, ist in dieser
Darstellung gar manches neu. Wie andere es sich nicht haben entgehen
lassen, hat auch Petrus sich das Recht genommen, selbständig auszu-
schmücken, was er vorfand. So ist es wohl seine Erfindung, dafs der
Gemahl seiner Frau völliges Vertrauen schenkt; dafs der Liebhaber, ob-
wohl er krank ist, ausgeht, wobei ihm die Kupplerin begegnet; dafs der-
selbe sich anfanglich sträubt, ihr alles zu entdecken und selbst, als er es
endlich thut, die Bitte um Hilfe zurückhält; dafs die Alte ihre Hündin
durch Hunger für die Senfspeise gefügig macht; dafs sie endlich dem Rat,
den sie der Frau giebt, listig hinzufugt: „hätte ich um die Liebe jenes
Mannes zu meiner Tochter gewufst, so wäre letztere nicht verwandelt
worden."
Durch diese geschickt aufgesetzten Lichter gewinnen die Bilder der
Persona der kleinen Geschichte bedeutend an Leben.
Untersuchungen zu dem mittelenglischen Fabliau ,,Dame Siriz^S 251
Die Versionen Bibl.* und Schm.*) sind nur im Ausdruck verschieden,
dem Gedanken nach durchaus einig. Auch die Übersetzungen weichen
wenig ab; in der spanischen geht die Frau Geschäfte halber aus; in der
isländischen, um Freunde zu besuchen; die hungernde Hündin wird, in
letzterer, zur Vermehrung ihrer Qual, in einen Stall gesperrt. Isl. und
Span, aber, aufserdem auch Franz. und das Destructorium fassen die
Worte der Kupplerin, mit denen sie die neugierige Frau scheinbar ver-
anlassen will, sie mit Fragen nach dem Schicksal des Hündchens förder
zu verschonen, in persönlicherem Sinne, wenn sie setzen: „mein Schmerz
ist so grofs, daSs ich es nicht sagen kann,^^ wogegen die Disciplina ganz
unentschieden liefs, wer gemeint war; denn sie schrieb: ne quaeras quid
sit, quod adeo magnus est dolor quod nequeo dicere. — Auch sonst
noch stimmen diese vier Versionen zusammen.
Destr. steht auch zu Hollen in enger Beziehung. Beide sagen nichts
über das Verhältnis zwischen den Ehegatten; der Mann geht nicht nach
Rom; sie vergessen zu erwähnen, dafs die Frau ihr Haus verläfst. —
Die Wiedergabe der Stelle der Disc:
quod adeo magnus dolor est
in den Gesta Romanorum, liefert den Beweis, dafs letztere Version aus
der ersteren entstanden ist. G. R. interpretiert nämlich diese Worte mit
quia tantum dolorem habet,
versteht sie also derart, als habe die Alte sagen wollen: „frage mich nicht
liebe Freundin, warum diese Hündin weint; denn sie empfindet so grofsen
Schmerz, dafs ich es dir unmöglich sagen kann.^*
Eine andere Stelle der Gesta, an welcher in der Disciplina Bibl. von
Schm. abweicht, scheint zu verraten, dafs die G. R. aus einer Vereinigung
beider entstanden ist.
Bibl. hat: plurimos direxit ad eam nuneios, cupiens ab illa,
quantum amabat amari.
Schm. liest: . . . cupiens conjungere se illi per quam tanto ardebat
amore.
G. R. aber vereinigt: . . . cupiens ab illa quantum ardebat amari.
Von den genannten Texten**) der Gesta Romanorum ist weder der
desColmarerManuscripts aus dem TextK. oder Ö., noch umgekehrt K. oder
*) Vgl. p. 349 Anmerkung.
**) Die Erzählung findet sich, nach Österleys Verzeichnis, noch in folgenden Hand-
schriften der Gesta, welche ich nicht habe einsehen können:
Cod. Ratisb. 47, cap. 39; Cod. Wirceb. M. eh. 89. 4^ No. 19; Cod. Tub. (Wilhst) X,
14, fd. Bl. I und 66. No. 18; Cod. Stuttg. theol. und philos. No. 184. 4^ No, 18; Cod,
252 Walthcr Elsncr.
Ö. aus Colm. entstanden. Aber Colm. ist eine 'recht fehlerhafte Copie,
und aus Ö. dürfte K. geflossen sein, von dem eine ft-anzösische Prosa-
übersetzung im Violier vorzuliegen scheint.
Durch geringe Erweiterung von Ö. ist ferner eine Form entstanden,
die sich in den französischen Versionen der Mere Sötte und des
Nicolas de Troys wiederspiegelt; sie weichen ganz unwesentlich von
einander ab.
Den G. R. gehören, aufser der Idee vom Tode des Liebhabers,
folgende Änderungen an der Form der Geschichte: die Frau geht aus
infolge einer Einladung zum Essen, die sie von einer Nachbarin erhält.
Der Liebhaber begegnet der Alten auf dem Wege zur Kirche; in M. S.
und N. Tr. erst in der Kirche. Hier erzählte die Disc, der Liebhaber
wäre ausgegangen, um die Spröde zu sehen, — ein Zug, den gemeinsam
mit Steinhöwel und Pierre Anfors, Hans Sachs bewahrt hat, welcher
übrigens in dem Besitz der Todesidee zu G. R. stimmt. Jedenfalls
hat er letztere stark ausgebeutet, denn er hält an der Hungerfrist von
zwei Tagen fest; und da dort nicht gesagt wird, wohin der Edelmann
pilgert, so dachte H. S. wahrscheinlich, er wollte zum heiligen Grabe.
Noch zwei Mal stimmt er zu Steinhöwel und Piere Anfors: der Lieb-
haber sendet der Frau Geschenke, und die Alte begegnet ihrer Frage
nach der Ursache der Tränen des Hündchens mit den Worten: „ihr
wollet mir vernewen nit mein innigliches Herzeleid zu geben von dem
Hündlein Bescheid, warum es also traurig sein'S — eine Antwort, die
Destr., Franz., Span., Isl. ebenfalls besitzen.
Eigene Erfindung von H. S. ist es aber wohl, dafs der Liebhaber
der Frau begegnet, als sie zur Kirche geht, und nicht die schlechteste,
dafs die Alte erzählt, die Göttin Venus habe die Strafe an der sündigen,
hartherzigen Frau vollstreckt.
Steinhöwel und P. A., die schon oben als Verwandte auftraten,
haben noch andere gemeinsame Kennzeichen.
Sie bewahren den alten Zug der Disciplina: der Edelmann pilgert
nach Rom; sie verändern aber deren Anzahl von Fasttagen, welche dem
Hündchen auferlegt wird; nicht zwei, sondern drei Tage hindurch muis
es hungern. In der zwischen beiden Versionen verschiedenen Bestimmung
Fuldens. B. 12, fol. No. 15; Cod. Wallerst. II. lat 8, 4^ No. 18; Cod. Monac. lat. 447, 4*
und 4691, fol. No. 61 sowie ib. 7841 a fol. und 8497. 4^ No. 25; ebenso 8968. 4®. No. 5
und 9094. 8^ No. 19; womit 18786, 4^, und 8484, 4*^, übereinstimmen. — Auch in den
deutschen Gesta, nämlich: Cod. Turin. C. 113, fol. No. 82 und Cod. Berol. Grimm 81, 4®, No. 37.
Die genannten Mss. sind aus dem XV. Jahrhundert, nur Cod. Monac. lat. 9094, 8* ist aus
dem XVII. Jahrhundert.
Untersuchungfen zu dem mittelenglischen Fabliau „Dame Siriz^^ 253
des Zeitpunktes aber, wo es nun das Senfbrod erhält, scheint die That-
sache angedeutet, als ob der Ausdruck des Pierre Anfors; „am vierten
Tage'' ein Deutungsversuch des unbestimmten Ausdrucks von Steinh.
(„darauf'), P. A. also jünger als Steinh. sei.
Nur von drei Fasttagen sprechen Adolfus, Scala Celi und der
weiter unten zu behandelnde Text der Latin Stories (Lat.); alle drei sind
Angehörige der Gesta -Familie, weil sie die Todesidee besitzen; die
beiden ersteren aber Verwandte von Steinh., H. S., P. A., weil der Lieb-
haber zur Unterstützung seiner Werbung Geschenke sendet. Nur in der
Wahl des Mittels, durch welches die Hündin zum Weinen gebracht wird,
weichen sie, wie untereinander, so von allen übrigen ab; Adolf, ver-
wendet eine Zwiebel, Sc. c. merkwürdigerweise ein granum sinapis cum
pane confectum.
Hier wäre der Eigentümlichkeit der isländischen Übersetzung der
Disciplina zu gedenken: sie bemifst die Zeit der Hungerkur des Hündchens
ebenso lang wie P. A. es that. Der Zufall mufs wohl seine Hand im,
Spiele gehabt haben, denn Isl. hat sonst nichts mit P. A. und den ihm
Verwandten, dagegen (vergl. p. 251) alles mit der Disciplina -Familie
gemein.
Drei Versionen nehmen jede eine besondere Stellung ein: Lat.,
Castoiement und P. A.
Lat. hat, wie erwähnt, die Dreizahl der Hungertage ohne jeden
Zusatz, ebenso die Todesidee, wodurch es sich eng an Sc. C. anschliefst.
Indem jedoch die Liebesbotschaft bereits von derselben Alten besorgt
wird, welche später die Kuppelei übernimmt, erhält Lat. den Charakterzug
des mehrmaligen Besuches, der ja in den orientalischen Versionen eine
bedeutende Rolle spielt, besonders in der des Sindibadnäme. Dazu
kommt, dafs die Hündin nicht „Tochter", sondern „ein gewisses Weib"
genannt wird, und der abgewiesene zu Tode erkrankte Liebhaber die
Geliebte verzaubert, was Gott geschehen läfst.
Hier liegt somit eine Mischung von orientalischen und abendländischen
Zügen vor; besonders kommt sie bei der Verwandlung zum Ausdruck:
der Liebhaber zaubert wie in den „sieb. Vez.", und Gott straft wie in
der Disciplina. Ganz neu aber ist das Motiv, wonach die Alte dem
Liebhaber rät, sich krank zu stellen, und so sich der Frau zu zeigen.
— Nur ein Fehler fallt in dieser Geschichte auf; sehr wenig glaublich
ist^ dafs diese Alte, da sie beim ersten Besuche der Frau deutlich zu
erkennen gegeben, was ihr am Herzen liegt, beim zweiten ohne Mifstrauen
empfangen wird. Sindibadnäme hat sich in ähnlichem Falle gut aus-
geholfen: die Alte erscheint bei dem zweiten Besuche in einer Verkleidung.
254 Walther EUner.
Castoiement ist gleichfalls ein Halbblut, jedoch aus rein abend-
ländischem Geschlechte. Es vereint die Dreizahl der Fastentage mit dem
bedeutungsvollen dritten Tage, welcher aus Disc, G. R., Holl., Destr. etc.
bekannt ist. Dieses Motiv fand es in einem Text, den auch Hollen
benützt hat; aus demselben stammt sein Ausdruck:
der Gatte (v. 2) voloit en oroisons aler,
welchen Holl. mit
orationis gfratia ire
wiedergiebt. Das Ziel dieser Pilgerfahrt aber verschweigen beide. Gast,
wie Hollen; auch erfahrt man hier nicht, wo der Liebhaber die Frau sieht.
Dafs übrigens Gast, nicht aus Holl. geflossen ist, erhellt daraus, dafs
Gast, sich näher an die Grundform anschliefst, als jener, indem es auch von
dem Vertrauen des Gatten auf seine Frau erzählt, Holl. sagt nichts darüber.
Andererseits ist Holl. nicht aus Gast, abzuleiten. Ersterer hat eine
Lücke im Text, welche Gast., aller jÜberlieferung entgegen, ausgefüllt
hat; es fand dieselbe wahrscheinlich in der Version vor, welche Hollen
gedankenlos wiedergab; auch sonst nämlich ist Hollens Text verderbt.
Das Motiv der drei Fastentage fand Gastoiement in einem Text, den
auch Steinhöwel indirekt ausnützte. Aus demselben stammte femer die
Todesidee und jener Gedanke, wonach der Jüngling, obwohl er siech
ist, ausgeht, um die Geliebte zu sehen. Gast, besitzt aber auch einen
Gedanken ganz allein: ausdrücklich wird die Hündin als Tochter der
Kupplerin ein Mädchen genannt. Alle übrigen Versionen lassen, wie die
Mehrzahl der orientalischen, diesen Punkt im Unklaren.
Pierre Anfors ist schon mehrfach im Zusammenhange mit anderen
Texten besprochen worden; doch er besitzt ein Modv, wodurch er sich
vor allen bisher erwähnten abendländischen besonders auszeichnet, —
das Motiv der persönlichen Werbung.
Allerdings besitzen es auch Bellovacensis und Promtuarium; aber
ersterer scheint aus dem letzteren abgeschrieben, und dieser nimmt sich
wie ein Auszug aus P« A. oder dessen Vorlage aus.
Woher hat demnach P. A. oder seine Vorlage das Motiv? Aus der
Disciplina, soweit sie bisher besprochen worden, doch gewüs nicht.
Hier mu(s des dänischen Fastnachtsspiels gedacht werden; es hat in
Kürze folgenden Inhalt:*)
Ein Mann, welcher mit seiner Frau glücklich lebt, will eine Pilger-
fahrt unternehmen. Die Frau läfst ihn ungern ziehen. Kaum ist er fort,
•) Vgl. Pfeiffers Germania, Bd. XXI. p. 98 (F. Liebrecht).
Untersuchungen zu dem mittelenglischen Fabliau „Dame Siriz". 256
SO erscheinen bei ihr nacheinander drei Liebhaber, die sie alle abweist.
Der letzte aber, ein Hofmann, gewinnt die Hilfeleistung einer Alten,
welche zuerst einen Teufel absendet; doch auch ihm gelingt die Ver-
führung nicht. Da ersinnt die Alte ein anderes Mittel; in Gestalt einer
weinenden Bettlerin geht sie mit einer weinenden Hündin zu der Frau
und erklärt, auf die Frage derselben nach der Ursache ihrer Tränen,
die Hündin sei ihre Tochter, welche zur Strafe, dafs sie einen Liebhaber
abgewiesen, verwandelt worden wäre. Dieses Mittel hilft, die Frau läfst
den Hofmann herbeiholen.
Neu in dieser Version ist die Mehrzahl der Liebhaber und der Ver-
führungsversuch, den der Teufel unternimmt. Die Idee der persönlichen
Werbung aber, auf welche es gerade ankommt, scheint nicht vor dem
Zweifel geschützt, ob sie in einer Vorlage des Stückes vorhanden, oder
vielmehr, im Interesse einer energischen Handlung, von dem Dichter in
das Drama hineingetragen ist.
Die Idee, einen Teufel handelnd einzufuhren, kann uns vielleicht auf
die Spur helfen.
Am Schlüsse der Geschichte in dem Destructorium (vgl. p. 251)
steht: Et sie infelix domina que per diabolum superari non potuit per
maledictam pronubam decepta in nequidam deducitur adulterinam.
Destr. stimmt gut mit den Hauptzügen des Dan. überein, aber es
fehlen dort die drei Liebhaber, es fehlt dort auch die Idee der persön-
lichen Werbung. So scheint es denn, als ob Hansen in der That —
vorausgesetzt, dafs er aus Destr. die Anregung zu seinem Stück empfing
— das persönliche Auftreten der Liebhaber bei der Umworbenen im
Interesse dramatischer Wirkung erfunden hat. Man vergleiche nur hierzu
H. S., wo jenes Moment fehlt; wie schleppend ist seine Handlung! In
demselben Interesse machte Dan. aus einem Liebhaber mehrere, und
liefs sie alle bei der Frau in rascher Folge erscheinen.
Somit bliebe die Frage noch offen, woher F. A. oder seine Vorlage
die Idee der persönlichen Werbung bezog.
Gerade diese Idee aber besitzt die Erzählung, die dem Ausgangs-
punkt dieser Untersuchung bildete: das mittelenglische Fabliau von der
„Frau Siriz".*)
Ihr Inhalt ist in knappen Zügen der folgende:
Ein Klerk, Mamens WiUekin, ist in die Frau eines Kaufmanns heim-
lich verliebt und benutzt dessen Abwesenheit zu einem Besuch und
*) Oberliefert in d. Ms. Digby No. 86 fbl. 165 £ Bodl. Oxf.; herausgegeben zuerst
von Thos. Wrigbt p. 2 — 13 Anecdota literaria, London 1844, und danach von Mätzner in
256 Walther Eisner.
zur Werbung. Er wird] zurückgewiesen, kehrt niedergeschlagen heim,
begiebt sich aber auf den Rat eines Freundes zu einer Kupplerin, der
Frau Siriz, die er durch Versprechungen bewegt, ihm zu helfen. Ohne
Verzug reicht sie ihrer kleinen Hündin Pfeffer und Senf zu fressen
und besucht mit ihr Frau Margeri. Weil sie vortrefflich die Rolle einer
weinenden Bettlerin spielt, wird sie von der mitleidigen Frau gut
empfangen und nach ihrem I^eid gefragft. Sie erzählt unter Klagen, die
Hündin sei ihre Tochter gewesen, eine glückliche Gattin, welche
von einem rachsüchtigen Klerk verzaubert wurde, weil sie seine Liebes-
werbung nicht beachtet hatte. Erschreckt und von Furcht ergriffen, dafs
ihr, die Gleiches erlebte. Gleiches wie jener Frau widerfahren möchte,
sendet Margeri die Frau Siriz zu Willekin und läfst ihn kommen.
Mit Pierre Anfors, geschweige mit der Disciplina, hat diese Erzählung
nicht viel gemein.
Die Idee, welche in P. A. nur angedeutet ist, wird im mittelengl. Fabliau
voll ausgeführt; es gelingt dem Liebhaber des Franzosen nicht, wie dem
des Engländers, eine lange Unterredung mit der Geliebten zu fuhren,
denn diese vermeidet es, mit ihm allein zu bleiben (P. A. v. 132). Auch
eine andere Idee des Fabliaus wird in P. A. nur ganz unentschieden aus-
gesprochen. Hier sagt die Alte: ihre Tochter habe nur den Gatten
lieben wollen. Sie hat aber unterlassen, ausdrücklich festzustellen, ob
ihre Tochter verheiratet war oder nicht, (cf w. 277, 279.) Es kann also
bei P. A. vielleicht nur dies bedeuten sollen: die Tochter habe nur in
rechtmäfsiger Ehe leben wollen. In' der mittelengl. Version ist aber, wie in
den ältesten Erzählungen (cf. den orientalischen Teil), die Tochter der
Kupplerin eine verheiratete Frau und somit die Situation derselben ganz
gleich der, in welcher sich Margeri befindet. Jetzt konnte die Erzählung
der Alten um so eindringlicher wirken.
Spuren einer gleichen Tendenz konnte der mittelenglischen Dichter
übrigens bei P. A. selbst erkennen.
Dort heifst es in der Erzählung selbst:
plusors mesages i tramist
und in der Erzählung der Kupplerin
prier' la fist.
Dort an erster Stelle ferner weiter:
il meismes i alla
den ,,ae. Sprachproben**, p. 105 — 113, Berlin 1867. Diese Ausgaben sind zwei Mal mit der
Handschrift kollationiert worden: i) von Stengel; cf. Cod. M. S. Digby 86. ed. St. Halis
1871, p. 68. 2) Von Kölbing cf. Engl. Stud. V. (-1883).
Untersuchungen zu dem mittelenglischen Pabliau ,,Dame Siris". 257
und hier entsprechend, in der Erzählung der Kupplerin:
preia la.
Ferner dort:
ne bei prier, ne plorer ne prametre, n'aveir doner
konnten ihren Willen ändern; und hier:
mes ne doner, ne bei preier
ne la pourent amoleier.
Dort schleicht der Liebhaber oft durch die Gassen, um die Frau zu
sehen oder zu sprechen; doch . . .
rien ne valeit
quer nule pitie n'en aveit.
Und hier entsprechend:
ne ja en place n'arestast
ou nus hom de ce Taparlast
Aus alledem geht hervor, dafs Dame Siriz und Pierre Anfors Ver-
wandte sind. Vielleicht stammen sie aus einer gemeinschaftlichen Quelle.
Eine viel außalligere Übereinstimmung besteht zwischen Dame
Siriz und der griechischen Prosa des Syntipas.
Der Jüngling benimmt sich hier gerade so, wie in der englischen
Dichtung; er erholt sich bald von seinem Unheil, und sucht die Kupplerin
auf; er wird durch die Abweisung seines Antrages nicht krank und
unfähig selbst zu handeln.
Frau Siriz begiebt sich ohne Verzug an das Werk; im Syntipas
heifst es ebenso: „eilends steht sie auf^, der Liebhaber hatte ihr erzählt:
„Als ich Deine Nachbarin sah, wurde ich von Liebe zu ihr ergriffen,
und strebte begierig nach Liebeseinigung mit ihr. Sie aber will mich
durchaus nicht erhören und nimmt noch dazu meine Reden übel
auf." Man vergleiche damit, wie böse Margeri den Willekin abfertigt:
vv. IIS— 117 und J33— ^35-
Eine andere Übereinstimmung hat schon Mätzner*) bemerkt: die
Alte giebt dem Hündchen Pfeffer.
Die Verwandlung endlich ward, in der Disciplina, von Gott zur
Strafe verhängt; in Syntipas und Dame Siriz aber, wird sie von dem
Liebhaber veranla&t, der sich rächt; der Eine verwünscht, der Andere
zaubert.
Aus der vorliegenden Untersuchung ergiebt sich:
I. dafs die Meinung, als stamme das Fabliau aus einer französischen
Quelle, völlig unrichtig ist;
*) Sprachproben, p. iii, Anmerkung zu v. 375.
268
Walther Eisner.
II. dafs die Ansicht, als entspringe die Erzählung aus den Gesta
Romanorum, nicht zutrifft; dafs wohl aber eine Beziehung zur
Disciplina Clericalis besteht, indem die zu letzterer Familie
gehörende Darstellung des Pierre Anfors von der Quelle des
englischen Fabliaus beeinflufst ist;
m. dafs diese Quelle eine unbekannte, wohl lateinische, dem
griechischen Syntipas zunächstkommende Version des Stoffes ist.
Die folgende Tabelle wird das Verhältnis des englischen Fabliaus
zu dem Syntipas, Pierre Anfors und zu der Disciplina besser als jede
Beschreibung veranschaulichen:
Disc. Cler.
P. A.
Dame Siriz.
Syntip.
do.
do.
do.
do.
do.
do.
Der Liebhaber wirbt persönlich
Abgewiesener Liebhaber wird nicht krank ....
Liebhaber ruft die Hilfe der Kupplerin an ... .
Die Kupplerin geht sogleich ans Werk
Die Kupplerin giebt dem Hündchen Senf
und Pfeflfer . .
Sic erzählt, die Hündin sei ihre Tochter ....
Diese Tochter habe nur Gatten lieben wollen . .
Der verschmähte Liebhaber habe sich gerächt . .
do.
do.
do.
do.
do.
do.
do.
do.
Wenngleich sonach die Untersuchung der Quellen des englischen
Fabliaus ihr Ende erreicht hat, soll doch ein zweites Auftreten desselben
Stoffes in England besprochen werden. Es ist das Fragment eines
Dramas, betitelt: Interludium de Clerico etPuella,*) aus dem vierzehnten
Jahrhundert. Die Lösung der Frage nach den Quellen dieses Werkes
versprach nämlich Licht zu verbreiten auf die Quellen des englischen
Fabliaus; vorläufig ist das Versprechen nicht erfüllt worden. Immerbin
möchte es nicht unerwünscht sein, die Verbreitung des Stoffes in England
weiter zu verfolgen und auf eine Lücke in unserer Kenntnis der damaligen
Beziehungen zwischen englischen und französischen Dichtern hinzuweisen.
Das Interludium hat folgenden Inhalt: Ein Klerk kommt zu einem
Mädchen, dessen Eltern ausgegangen sind, und wirbt um ihre Gunst;
trotz seiner Beteuerungen, dafs er es ernsthaft meine und sie treu liebe,
weist jene, deren Name Malkyn ist, ihn ab; sie wisse, was sie von
seinen Worten zu halten habe, gar manchem Weibe habe er bereits
Schande angethan. — Der Klerk verläfst sie und tritt bei einer Alten ein.
•) Vgl. Reliquiae Antiquae (ed. Wright und HaUiwell) I, 145—147.
Untersuchungen zu dem mittelenglischen Fabliau „Dame Siriz*^ 259
genannt Muhme Elwis. Er begrüfst sie und erzählt ihr seinen Kummer,
der durch die Absage jenes Mädchens veranlafst sei,; er bitte um Rat
und Beistand, und wolle gern sie für ihre Mühe belohnen. Die Alte aber
stellt sich durch seine Worte beleidigt, nie habe sie zu solch' einem Unter-
nehmen die Hand geliehen.
So bricht dieses Stück ab.
Die Ähnlichkeit zwischen diesem Drama, das fortan „Muhme Elwis"
genannt werden wird, und der „Frau Siriz" mufs jeder Leser der beiden
Gedichte bemerken.*) Konnte man von der lebendigen Erzählung des
Fabliaus sagen : es sei ein im Werden befindliches Drama, so taucht bei
der Betrachtung der „Muhme Elwis" der Gedanke auf: hier ist dies
Drama vollendet. Die erste Szene fällt, wie dort, die Werbung des
Klerks; die zweite spielt bei der Kupplerin. Nur, was in „Frau Siriz**
der Dichter ausplauderte, mufs man hier sich selbst meist erklären; doch
zum Teil sagen es auch hier, wie dort, die handelnden Personen.
Fernere Übereinstimmung zwischen beiden Stücken offenbart der
Ideengang in der zweiten Szene.
In Frau Siriz v. 173— 1 75, wie hier in v. 42 — 44 beginnt der Klerk
mit seiner Klage über das elende Leben, welches er führe. Dann giebt
er dafür, in v. 176 — 179 der „Frau Siriz", wie in v. 45 — 50 der „Muhme
Elwis", die Ursache an, und bezeichnet, dort v. 179 — 184, hier v. 51/5^
die möglichen Folgen derselben. V. 185 — 190 in jenem Stücke, wie im
Interludium v. 53 — 54 erwähnt er des Rates, der ihn veranlafste, zu ihr
zu kommen und schliefst v. 1 91/192 in jenem, v. 55—62 in diesem Gedicht
mit Bitte und Versprechen. Ebenso genau stimmt die Antwort der
heuchlerischen Alten in beiden überein, welche leider in und mit dem
Interludium so bald abbricht.
Noch ein dritter Beweis indessen — und das ist der Hauptbeweis —
findet sich in diesem dafür, dafs es mit Benutzung der „Frau Siriz" entstanden
ist. Der Verfasser des Interludiums schreibt seine Vorlage oft wörtlich aus.
Man vergleiche folgende Verse:
V. 5: Wel wor suüc a man to life,
That suilc a may mithe have to wife?
entspricht v. 82/83 der „Frau Siriz":
Him burth to liken wel his lif,
That miftte weide selc a wif.
*) Schipper teilt diese Ansicht nicht. In der Wiener N. Fr. Pr. Nr. 6467 (Morgenblatt)
sagt er: «Der Dramatiker ist seinem ihm offenbar unbekannten epischen Vorgänger
an Talent in keiner Weise ebenbürtig.**
260 Walther BIsner.
Deutlicher v. 12, und 11 gleich v. 134/135:
For her hastu losye al thi wile,
Go forth thi way, god sire.
und V. 130: Her thou lesest al thi swinke;
Thou mut gon hom, leve brother.
Femer v. 23 : Ah, suithe mayden, reu ef me.
und V. 114: and rew on me.
Unmittelbar zuvor v. 113 hatte er gebeten: amend thi mod; dem
entspricht in „Frau Elwis" v. 26: thu mend thi mode.
Bei der Kupplerin eintretend, grüfst sie der Klerk mit den Worten:
V. 37: God te bliss, Mome Helwis,
und y. 161: God the iblessi, dame SirizI
Die Kupplerin antwortet:
V. 38: Son, welcum, by san Dinis,
V. 167: Welcomen art thou, leve sone.
Hierauf beginnt der Klerk sein Leid und Anliegen vorzutragen:
V. 39: Hie am comin to the Mome,
und V. 162: Ich am icom to speke the wiz.
dort 42: I hidy my lif wit mikel dole,
hier 174: I lede mi lyf
und schildert die Folgen, die dieser Zustand für ihn haben werde:
dort V. 51: Bot if tho wU hir mod amende
Neuly Crist my ded me send.
worauf er erklärt, warum er hergekommen:
V. 53: Men send me hyder, wyt uten fayle,
To haf thi help anty cunsayle.
Ebenso heifst es in „Frau Siriz"
V. 181: Bote if hoe wende hire mod /
For serewe mon ich wakese wod.
187: He Saide me, withouten faille,
That thou me couthest helpe and vaile.
Besonders deutlich wird diese Übereinstimmung in der Antwort der
Kupplerin; vv. 63 — 67 in dem Interludium entsprechen im Sinne den
Versen 195, 198, 199 in der „Frau Siriz":
V. 163: A, son, wat saystu? benedicite
Lift hup thi hand, and blis the;
Untersuchung^ zu dem mittelenglischen Pabliau ,,Dame Siriz". 261
For it es boyt syn and scam,
That thu on me hafs layt thys blam,
For hie am an old quyne and a lam.
V. 193: Benedicite! be herinnel
Her havest thou, sone, mikel sinne.
Loverd, for bis suete nome,
Lete the therfore haven no shome.
198: Wen thou seist on me silk blame,
For ich am old, and sek, and lame.
Auch die Kupplerin in beiden Dichtungen giebt vor nichts anders
zu thun, als (v. 209): (i) bidde my pater-noster and crede —
V. 71 : (bot) my pater-noster and crede.
Bei aller Übereinstimmung ergiebt sich aber doch eine Abweichung.
In „Frau Siriz" wirbt der Klerk um die Gunst einer verheirateten Frau,
deren Gatte verreist ist; im Interludium dagegen um die Liebe eines
Mädchens, dessen Eltern ausgegangen sind.
Ob diese Verschiedenheit einfach mit einer Dichterlaune oder mit
einem Fehler in der dem Dichter vorliegenden Copie des Epos zu er-
klären sei, läfst sich nicht entscheiden. Vielleicht schöpfte er das Motiv aus
einer fremden Quelle; war diese etwa ein französisches Fabliau, so würden
daher wohl auch die Flüche : „by Saint Michel" (v. 2) und „by San Dinis"
(v. 38) zu leiten sein, welche bei dem Engländer' sehr befremden.
Vielleicht ist sonach das engUsche Interludium aus einem — nicht
mehr vorhandenen — französischen Fabliau entstanden, bei dessen Dramati-
sirung das mittelenglische Fabliau von der „Frau Siriz'* benutzt wurde.*)
Strafsburg i. E.
*) In Gott Gel. Anz. v. J. 1869 p. 13581 und später in s. Ausgabe der Gesta giebt
Österley einige Litteratumachweise, die ich nicht habe verwerten können. In Pauli 1570.
Bl. 150 und Renner: Frankfurt 1549) 66 findeich die Gesch. nicht Jsopo 1644, col. 11.,
Bl. 169 und Äsops fables 1658 sind mir nicht zugänglich gewesen. Cod. apocr. a. T. Fabric.
168, u. Bvang. Tischend. 183/183 erzählen von der Verwandlung eines Mannes in einen
Maulesel. Bocc. V, 8 bespricht M. Landau s 1. c. im Zusammenhange mit Ovid. Metamorph.
XIV, 698. Vgl. dazu M. Haupts Ausgabe, II, 233 Anm: „Die Erzählung findet sich auch
bei Antoninus Liberalis 39, der sie nach dem zweiten Buche von Hermesianax Leontion, je-
doch mit andern Namen der handelnden Personen erzählt/
-•••-
Zttchr. f. vgl. Litt.-GMch. i, 1 a
Germanische Sagenmotive im Tristan-Roman.
Von
Gregor Sarrazin.
Durch die Untersuchungen R. Heinzeis,*) F. Lichtensteins,**) E. K61-
bings,***) Fr. Vetters, f) W. Böttigers,ff) ist das Verhältnis der
verschiedenen Versionen der Tristansage zu einander klargestellt. Es
unterliegt nunmehr kaum einem Zweifel mehr, dafs sämtliche Fassungen
auf zwei verschiedene altfranzösische Dichtungen zurückzufuhren sind,
von denen nur Fragmente noch vorliegen. Trotzdem kennen wir den
Inhalt jeder dieser beiden Dichtungen vollständig und genau, wir können
ihn aus den abgeleiteten Fassungen rekonstruieren; und zwar den der
einen: Thomas' Version, (vermutlich in England von einem Normannen
gedichtet) aus der Bearbeitung Gottfrieds von Strafsburg, aus dem eng-
lischen Sir Tristran, und besonders aus der isländischen Saga, die sich
als ziemlich wortgetreue Übersetzung des altfranzösischen Romans er-
wiesen hat; die andere: Berols Version, (wohl in der Normandie verfafst)
aus der Bearbeitung Eilharts von Oberge, aus Ulrichs von Türheim
Tristan und Heinrichs von Freiberg Fortsetzung der unvollendeten
Dichtung Gottfrieds von Strafsburg. Aus der Vergleichung der beiden alt-
französischen (normannischen) Versionen läfst sich weiter mit einiger
Sicherheit auf den Inhalt der alten normannischen Sage schliefsen;
doch darüber hinaus ist bisher die Geschichte derselben nicht verfolgt
*) Gottfrieds von Strafsburg Tristan und seine Quelle in der Zeitschr. £ deutsch.
Altert. N. F. II, 472 ff.
♦*) Einleitung zu seiner Ausgabe des Eilhart von Oberge, Strafsburg 1877, S. CXIV. ff.
**♦) Einleitung zu seiner Ausgabe der Tristrams Saga. Heilbronn 1878.
t) La Ugende de Tristran. Marburg L H. 1882.
tt) Der Tristan des Thomas. Göttingen 1883.
Germanische Sagenmotive im Tristan-Roman. 363
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worden, da sie sich im Dunkel der Bretonischen Volkspoesie zu ver-
lieren schien.
In dieses einzudringen soll auch hier nicht versucht werden. Nur
einige mit germanischen Sagen merkwürdig übereinstimmende Züge, auf
die zum Teil schon früher von anderen aufmerksam gemacht worden ist,
seien zusammengestellt. Vielleicht, dafs ihre Betrachtung dazu fuhrt, die
gewöhnliche Anschauung über die Entstehung des Epos etwas zu modi-
fizieren.
Zuvor möchte ich daran erinnern, dafs wenigstens einige Namen des
Tristan-Romans germanischen Ursprungs zu sein scheinen. Tristans
Pflegevater (Freund) heifst nach Gottfried von Strafsburg Rual, nach dem
englischen Sir Tristran Rohand, nach der isländischen Saga Roaldr = altnd.
Hroaldr; der Gegner, den er im ersten Kampfe überwindet Morolt
(Morhold, Morold frz. Morhout), welcher Name der mhd. Spielmanns-
dichtung bekanntlich schon vor Eflhart und Gottfried von Strafsburg
geläufig ist. Der Name Isold (Isalte, französisch Yseut, Ysolt) ist ebenso
der einheimischen mittelhochdeutschen Dichtung bekannt und von Förste-
mano (Altdeutsch. Namenb. I, 804) aus einer Urkunde des VIII. Jahrhunderts
belegt. Sodann scheinen einige Züge der Dichtung mehr skandinavischen,
germanischen als keltischen, romanischen Sitten zu entsprechen. Tristans
Zweikampf mit Morolt ist ein skandinavischer Holmgang. Das Gottes-
urteil, dem Isolde unterworfen wird (Gottfr. 15728 ff., Tristr. Saga
Kap. LVL, LDC.) ist deudich die altnordische Eisenprobe (K. Maurer,
German. XIX, 140). Die Trennung zweier Liebenden durch ein blofses,
auf das Lager gelegtes Schwert (Berol. 1769, Michel L, S. 224) ist be-
kanntlich ein der germanischen Sage ganz geläufiges Motiv, das wohl
im altgermanischen Recht beg^ndet ist.
Es liegt daher schon aus diesen Gründen nahe, Einflufs germanischer,
skandinavischer Dichtung auf die Ausbildung des wohl in der Normandie
gedichteten Romans anzunehmen, wie bereits G. Brynjulfson in den Annal.
f. nord. Oldkynd. 1851, S. 89 ff. gethan.
Ein bemerkenswertes, allen alten Versionen gemeinsames Motiv
bietet die Erzählung von Tristans Drachenkampf. Während Tristan
totwund vom Kampfe dagelegen, heifst es, habe ein feiger und ver-
räterischer Mann, der Truchsefs am Hofe von Isoldens Vater war, den
Ruhm, den Drachen erlegt zu haben, für sich in Anspruch genommen
und daraufhin als Lohn die Hand der Königstochter begehrt, obgleich
diese um verschmähte; da sei Tristan zum Vorschein gekommen, habe
die Drachenzunge, welche er gleich nach dem Kampfe dem Ungetüm
18*
264 Gregor Sarrazin.
aus dem Rachen geschnitten, vorgezeigt und so den Truchsefs seines
Betruges überfuhrt. Genau dieselbe Geschichte findet sich, wie von anderer
Seite schon früher bemerkt*), in der mittelhochdeutschen Sage von Wolf-
dietrich (Wolfd. A. Dresdener Hs. V. 305 ff., Wolfd. B. 781, Wolfd. D.
VIII, 188 ff.) und in mehreren deutschen Märchen, wovon besonders das
von den zwei Brüdern**) (Grimm, Kinder- und Hausmärchen No. 60)
und „der kühne Sergeant" (Wolf, Deutsche Märchen und Sagen Nr. ^i)
bemerkenswert sind. Bei dem Alter und der Verbreitung dieses Sagen-
motivs in Deutschland ist es nicht wahrscheinlich, dafs dasselbe etwa aus
der französischen Sage übernommen sein sollte, zumal da Drachenkämpfe
überhaupt in keltisch-französischen Sagen ungewöhnlich sind. Noch
weniger kann umgekehrt das Motiv aus deutscher Sage nach Frankreich
gelangt sein. Wir haben also nur die Wahl, das Zusammentreffen als
zufallig anzusehen, was bei einer so auffälligen und weitgehenden Über-
einstimmung nicht recht glaublich ist, oder eine gemeinsame Quelle an-
zunehmen, aus der beide Darstellungen geflossen sind. Das letztere ist
um so wahrscheinlicher, als auch sonst die Wolfdietrich- und die Tristan-
Sage manche ähnliche Züge aufweisen. Die Liebesgeschichte von Wolf-
dietrichs Eltern (nach Wolfd. B.) entspricht der von Tristans Eltern.
Wolfdietrich ist wie Tristan ein aufserehelich erzeugtes Kind, fiüh ver-
waist, wird von einem treuen Vasallen, Berchtung von Meran, der ihn
mehr liebt wie seine eigenen Söhne, erzogen (Wolfd. B. 263 vgl. Trist.
Saga Kap. 1 7), ebenso wie Tristan von Roald (Rual, Kurvenal, Guvernal).
Dafs Drachen- und Riesenkämpfe in beiden Sagen vorkommen, ist nicht
sehr charakteristisch, mehr das Verhältnis Wolfdietrichs zu zwei Frauen,
Sigeminne und Liebgart, welche sich den beiden Isolden vergleichen
lassen. Die eng mit der Wolfdietrichsage verwachsene Ortnitsage liefert
aufserdem in König Ortnits Brautfahrt über Meer eine Parallele zu
Tristans Brautwerbung.
*) Jänicke in der Einleitung su Wolfdietrich C. und D. (Deutsches Heldenbuch IV.
S. XLni; W. MfiUer, Mythol. d. d. Heldensag^e S. 74, wo derselbe Zug auch aus deutschen
norwegischen und isländischen Märchen nachgewiesen wird; vgl. K. Breul, in der Einleitung
£u Gowther S. 128.
**) Dieses Märchen gehört ofifenbar zu dem Sagenkreise von Ortnit und Wolfilietrich,
den Müllenho£f in der Ztschr. f. d. A. XII, 350 auf einen Dioskurenmythus zurQckgeföhrt hat.
Die rwei Brüder lassen sich Ortnit und Wolfdietrich vergleichen. Wenn im Märchen der
Drachentöter von einer Hexe durch Zauberei in Stein verwandelt, aber durch seinen Bruder
erlöst wird, so erinnert das an Wolfdietrichs Verzauberung durch die rauhe Else (Wolf-
dietrich B. Str. 311). Ahnlich ist auch der Umstand, dafs dem Drachenkämpfer ein Löwe
beisteht (vgl. Wolfd. B. Str 667 flf.; Thidreks S. C. 418).
Germanische Sagenmotive im Tristan-Roman. 265
Da nun die Tristansage vermutlich in der Normandie ihre Ausbildung
fand, wäre es nicht unmöglich, dafs altnordische Sagenmotive in die
Darstellung verwoben wurden. Andererseits weisen manche Umstände
daraufhin, dafs auch die Sagen von Ortnit und Wolfdietrich skandinavischen
Ursprungs sind. Auf skandinavischem und slavischem Boden sind mehrere
nahverwandte Sagen nachgewiesen worden (MüUenhofF Zeitschr. f d.
A. XII, 347 ff.),' welche zum Teil den mythischen Ursprung deutlicher
zeigen als die süddeutschen Lieder. Ferner geht aus den Orts- und Völker-
namen derselben, obgleich hier der Schauplatz nach Oberitalien und
Griechenland, der Türkei und Kleinasien verlegt ist, doch noch hervor,
dafs die Sage ursprünglich im Nordosten Europas lokalisiert war; denn
Ortnits Oheim wird Yljas (= Ilija) von Riuzen (Russland) genannt, unter
welcher Person nach Müllenhoff (Zeitschr. f d. A. XII, 353) Ilija von
Murom der russischen Sage zu verstehen ist; und der Name von Ortnits
Königsburg Garda, der wahrscheinlich die Veranlassung zur Lokalisierung
in Oberitalien war, dürfte, wie schon Müllenhoff wahrscheinlich gemacht,
(Zeitschr. f. d. A. XII, 352) nur durch Mifsverständnis aus Naugarden
(Nowgorod) oder vielleicht aus der altnordischen Bezeichnung Garda
riki, 1 Gördum für Russland entstanden sein.
Ein indirekter Zusammenhang zwischen der Tristan-Sage und der
von Ortnit und Wolfdietrich wäre also nicht unmöglich.
Der letzteren am jiächsten verwandt ist die Episode von Hertnids
und Thidreks Drachenkampf in der aus deutscher Sage geschöpften
skandinavischen Thidrekssaga C. 417 ff.: Müllenhoff, a. a. O. S. 348 ff.
W. Müller, Mythol. d. d. Heldens. S. 206» A. Edzardi, Germania XXV,
(Jahrgang 1880) S. 51 ff. Der zuerst erwähnte charakteristische, mit
dem Tristanroman übereinstimmende Zug fehlt allerdings in dieser Sage
(statt von einem lästigen Freier wird hier die Fürstin durch Räuber be-
drängt, von denen der Drachentöter sie befreit); aber ein merkwürdiges
Zusammentreffen ist es, dafs Hertnids (= Ortnits) Witwe und Thidreks
(ss Wolfdietrichs) spätere Gemahlin (= Liebgart) Isold heifst, gerade wie
Tristans Geliebte und Gattin. Zunächst könnte man versucht sein, den
Namen für endehnt aus dem französischen Roman zu halten. Aber da-
gegen spricht die Altertümlichkeit der Sagenüberlieferung. Wenn auch
die Thidrekssage selbst nicht älter als das XIII. Jahrhundert ist, so
stammt doch der norddeutsche Bericht, aus dem sie schöpft, sicher aus
der Mitte des XII. Jahrhunderts, als der Tristanroman in Deutschland
noch unbekannt war (vgl. Müllenhoff, Zeitschr. f. d. A. XII, 354). Dafs
266 Gregor Sarrazin.
aber etwa der isländische Bearbeiter, der allerdings den Tristanroman
kannte, den Namen eingesetzt, ist bei der sonstigen Treue mit der er die
deutschen Erzählungen wiedergiebt, nicht wohl anzunehmen. Auch ist
nicht recht einzusehen, was eine solche Namensvertauschung veranlafst
haben sollte, da im Inhalt bis auf den Drachenkampf keine besondere
Ähnlichkeit hervortritt. Der Name von Tristans Geliebten lautete
übrigens in der isländischen Tristansage, aus welcher der Verfasser der
Thidrekssaga ihn doch entnommen haben müfste, Ysond, nicht Isold, wie
die letztere den Namen giebt.
Da nun der Name Isolde ein echt germanischer ist (=« Is-walda, ESs-
herrscherin) möchte ich eher glauben, dafs derselbe in der Tristan- wie
in der Hertnid-Thidrekssage aus der gemeinsamen altnordischen Quelle
herrührt. In der Thidrekssaga wird noch von einem anderen Hertnid
erzählt, der von dem Drachenkämpfer unterschieden wird, ursprünglich
aber mit ihm identisch gewesen sein mufs (Müllenhoff a. a. O. S. 351);
es heifst, dafs dieser mit Isung und seinen Söhnen um ein Weib gekämpft,
und es ist anzunehmen, dafs nach der alten Sage das erstrittene Weib
dem Geschlecht der Isunge angehörte (S. 352), daher würde der Name
Isolde sehr gut für sie passen, wenn wir in Betracht riehen, dafs die
altgermanische Sage es hebt, Gliedern desselben Geschlechts ähnliche
Namen zu geben. Falls aber doch die Isolde der Thidreksage aus dem alt-
französischen Roman herrühren sollte, würde jlieser Umstand dafür
sprechen, dafs in einer früheren Fassung der Sage eine gröisere Ähnlich-
keit mit dem Tristanroman vorhanden war, welche die Namensvertauschung
veranlafste.
Müllenhofis geniale Kombination hat die altnordische Sage von den
Haddingen (in der Hervarar-Saga und Orvar Odds-Saga überliefert) als
der deutschen Ortnit- und 'Wolfdietrichsage verwandt erkannt. Wenn
also unsere bisherige Zusammenstellung richtig ist, müssen wir erwarten
auch hier Beziehungen zu dem Tristan zu finden. Und in der That
zeigt der Schlufs der Haddingensage eine auffallende Ähnlichkeit mit
dem Schlufs des Tristanromans. Thomas' Version (Manuscr. Douce
V. 885. ff., Michel II, 43 ff. vgl. Tristrams Saga Kap. XCIV. ff.) erzählt,
Tristan habe einem anderen Ritter, der merkwürdigerweise auch Tristan
(der Zwerg) hiefs, im Kampf gegen acht riesenstarke Brüder beigestanden
von denen der eine die Gemahlin jenes Tristan, des Zwerges, geraubt
hatte. Die beiden Tristan erschlugen sieben der Brüder, aber Isoldens
Geliebter wurde tödtlich verwundet, dafs er sich nur mit Mühe nach
Germanische Sagenmotive im Tristan-Roman. 267
Hause schleppen konnte. Dort bat er seinen Freund und Schwager
Kaherdin, zu seiner Geliebten, Isolde über das Meer zu fahren, ihr einen
Ring als Wahrzeichen zu übergeben und sie zu bewegen, dafs sie zu
ihm eile, um ihn durch ihr zauberkräftiges Mittel zu heilen. Kaherdin
richtet seinen Auftrag aus, aber Isolde findet den Geliebten tot, und
stirbt neben der Leiche.
Die Örvar Odds Saga (FAS. II, 22^ flf.) erzählt von zwei Freunden,
Örvar Odd und Hjalmar. Die kämpften mit zwölf riesenstarken Brüdern
(von denen nach der Darstellung der Hervararsaga Kap. 4 S. 16 ff. der
eine sich vermessen hatte, Ingeborg, eine Tochter des Schwedenkönigs
Ingvi, zu entfuhren. Orvar Odd und Hjalmar erschlugen das feindliche
Geschlecht. Aber Hjalmar, Ingeborgs Geliebter, wurde selbst zum Tode
verwundet. Da bat er seinen Gefährten: Jetzt sollst du mir den Ring
von der Hand ziehen und Ingeborg aufsuchen und ihr sagen, dafs ich ihr
ihn sende am Todestage." Dann starb er. Da brachte Odd die Leiche
zu Schiff nach Hause. Vor den Türen der Königsburg legte er sie
nieder. Dann ging er hinein zu Ingeborg und brachte ihr den Ring, mit
Hjalmars Gruss. Sie nahm ihn, blickte ihn an und antwortete nicht,*)
sondern sank sogleich tot nieder.
Die Ähnlichkeit dieser beiden Geschichten kann nicht zufallig sein.
Unmöglich ist es auch, dafs etwa der Schlufs der Örvar Odds Saga dem
Tristanroman nachgebildet sei, denn die eingestreuten Verse der ersteren
bezeugen das höhere Alter dieser Episode. Wir brauchen auch nur an
Balders und Nannas, Sigurds und Brynhilds Tod zu denken, um zu er-
kennen, dafs wir es hier mit einem Motiv zu thun haben, welches ganz
im Charakter der skandinavischen Dichtung ist. Der Schlufs des Tristan-
romans ist also höchst wahrscheinlich ebenfalls skandinavischen Ursprungs.
Zum Sagenkreise von Ortnit und Wolfdietrich gehört nun femer,
wie ich Angl. IX, 203 glaube nachgewiesen zu haben, auch die ursprünglich
dänische Sage von Beowulf (Bödvar). Der Drachenkämpfer Beowulf
und der Drachenkämpfer Tristan sind einander sonst allerdings wenig
ähnlich. Indessen sind doch die folgenden übereinstimmenden Züge be-
achtenswert: Beowulf lebt als Jüngling auch am Hofe eines Fürsten, der
*) Vgl, Thomas Tristan (Ms. Douce) V. 1799 (Michel II, S. 84):
Tresque Ysolt la novele ot
De dolor ne puet suner mot
Auch Wolfdietrich bringt der Uebgart, Ortnits Witwe, einen Ring von ihrem toten Gemahl.
(Wolfd. B. Str. 771 flf.)
268 Gregor Sarraiin.
der Bruder seiner Mutter ist. Er befreit ebenfalls einen alten Konig aus
grofser Bedrängnis, indem er einen Menschenopfer fordernden Moorriesen
(vgl. den Riesen Morolt) bekämpft und erschlägt. Die nahverwandte
Sage von Bödvar Biarki (FAS. I, 47 ff.) bietet aufserdem die Ähnlich-
keiten, dafs nach Bödvars Kampf mit dem Ungeheuer ein Anderer das
Verdienst es erlegt zu haben für sich in Anspruch nimmt, (FAS. I, 72),
ferner, dafs Bödvar die fremde Königstochter zur Gattin erhält, nachdem
er einen Nebenbuhler besiegt (FAS. I, 76, Saxo I, S. 87); endlich, dafs
auch Bödvar vereint mit einem Freunde gegen übermächtige Feinde
kämpft und fallt (FAS. I, 105 ff., Saxo I S. 90 ff.).
Danach scheint auch Tristans Jugendgeschichte skandinavisch zu sein.
Der Vollständigkeit halber seien endlich noch die übrigen dänischen
Drachenkämpfersagen herbeigezogen, welche W. Müller in der Zeitschr.
f. d. A. III, 43 ff. zusammengestellt hat, da dieselben wahrscheinlich
ebenso wie das Beowulfepos auf den Mythus von Frey zurückgehen.
Analoga bietet die Erzählung von Fridlevus (Saxo S. 265 ff.), der um
die spröde Frögertha wirbt, und die Sage von Regner Lodbrok (Saxo
I, 441 ff.), dessen Liebe zwischen Lathgertha und Thora geteilt ist.
Doch sind die Ähnlichkeiten in beiden Fällen nicht bedeutend.
Aus den vorstehenden Ausfuhrungen wird hervorgegangen sein,
dafs die Fabel des Tristanromans mit jeder der angeführten, unter ein-
ander verwandten Sagen, mehrere, zum Teü sehr markante Züge gemein
hat. Die altnormannische Dichtung scheint also ihren Rahmen einer
skandinavischen Sage entlehnt zu haben, derselben, auf welche die ver-
glichenen germanischen zurückzuführen sind. Germanischen, altnordischen
Ursprungs dürften die folgenden Züge sein:
Der Held ist dunkeler Herkunft, als Kind früh verwaist. Ej- wächst
in der Obhut eines Mannes von niederem Stande heran. &
kommt an den Hof eines (verwandten oder befreundeten) Königs.
Er erlegt einen Drachen, schlägt einen Nebenbuhler aus dem Felde. Er
besiegt einen Riesen, der das Land bedrängt. Er unternimmt eine
Brautfahrt über See. Er gewinnt die Liebe eines stolzen Weibes aus
riesischem Geschlecht, das eines anderen Gattin ist. Er ruht bei ihr,
aber ein blosses Schwert liegt zwischen den Liebenden. Er vermählt
sich mit einer anderen, der sein Herz gleichwohl nicht gehört. Im
Kampf gegen ein feindliches Geschlecht fallt er, von einem Speer tödlich
getroffen. Sein Waffenbruder bringt der Geliebten die Trauernachricht.
Sie stirbt, die Gattin klag^ über seiner Leiche.
GermaDische Sagenmotive im Tristan-Roman. 269
Wenn nun unsere bisherige Untersuchung das Richtige getroffen
hat, so mufs es eine germanische Sage gegeben haben, in der alle
diese Züge vereinigt waren. Und in der Tat läfst sich eine solche
nachweisen: die Siegfriedsage ^enthält genau dieselben sagenhaften
ZügQ und zwar fast in derselben Reihenfolge. Ja, es kommen noch
andere auffallende Übereinstimmungen hinzu.
Sigiird ist in Unfreiheit geboren, (Völs. S. Cap. 12, Fafnism, 7).
Sein Vater Sigmund ist vor seiner Geburt gestorben (Sinfiötlalok, Völs.
S. Cap. 12) ebenso wie der Tristans (Saga Cap. 15). Er wächst bei dem
Schmied Mimir (Regin), auf.*) Er tötet den Drachen Fafnir und erschlägt
den Unhold Regin. Er kommt an den Hof des Königs Gunnar. Von
einer Nebenbuhlerschaft zwischen ihm und Högni (Hagen) ist allerdings
weder in der altnordischen, noch in der deutschen Sage mehr die Rede.
In der ersteren ist vielmehr Högni zu einem Bruder der Gudrun gemacht,
was offenbar nicht ursprünglich ist, denn die deutsche Sage kennt nur ein
entferntes Verwandtschaftsverhältnis, und Hödur (Hotherus), das mythische
Vorbild Högnis ist nach Saxo (S. iio ff.) nur der Pflegebruder Nannas
und Balders Nebenbuhler. Dafs aber ein näheres Verhältnis zwischen
Gudrun (Kriemhild) und Högni (Hagen) bestanden haben mufs, geht
eben aus dem Mythus von Hotherus und Balderus, sowie auch aus dem
Gespräch zwischen Hagen und Kriemhild im Niebelungenliede (Lachm.
Str. 834, Zamcke 135) hervor. Im Nibelungenliede (Lachm. Str. 121 ff.)
ist auch von einem Streite zwischen Hagen und Siegfried die Rede,
offenbar ein altertümlicher, nur sehr abgeschwächter Zug, wenn wir die
Kämpfe zwischen Hotherus und Balderus vergleichen. An die Stelle
des Riesenkampfes, in dem der Held dem bedrängten Landesfursten
beisteht, ist in der Darstellung des Niebelungenliedes der Sachsenkrieg
und der Zweikampf Siegfrieds mit Lüdegast getreten. Siegfrieds Braut-
fahrt über Meer entspricht dann der Tristans um so mehr, als auch hier
der Held für den befreundeten König wirbt, obgleich er selbst die stolze
Jungfrau liebt und für sich erkämpft hat. Brunhild von Island auf
Isenstein ist also der Isolde von Irland (aus dem Geschlechte der Isunge)
gleichzusetzen. Der Liebestrank, mit welchem Isoldens Mutter, ohne es
zu wollen, das Herz Tristans und ihrer Tochter betört (Gottfr. 1 1439 ff.
Eilh. 2264 ff.), erinnert an den Zaubertrank, welchen nach der Völs.
*) Im Märchen yon den zwei Brüdern (Grimm Nr. 60) wachsen die Khaben in der
Obhut eines Goldschmieds, ihres Oheims, auf.
270 Gregor Sarrazin.
Saga (Cap. 36 vgl. Gudrunarkv. II, 21) Grimhüd, Gudruns Mutter, dem
Sig^rd mischt, damit er der Brynhild vergesse und ihrer Tochter geneigt
werde. Ein übereinstimmendes Motiv ist weiter der Betrug in der
Brautnacht. Der uralte mythische Zug, dafs Sig^rd ein Schwert zwischen
sich und die Geliebte, die Gattin des Freundes legte, (Sig^rdarkv. IE,
4, 65 findet wie schon erwähnt, in mehreren Versionen der Tristan-
sage (Berol. 1769, 1965, Eilh. 4588, Gottfr. V. 17417, Saga Cap. LXV)
eine Parallele.
Gudrun (Kriemhild) entspricht femer offenbar der weifshändigen
Isolde, auch in ihrem ursprünglich sanften, hingebenden Charakter.
Bedeutsam ist die Rolle, welche in beiden Sagen ein Ring spielt. Siegfried
hat der Brunhild einen Ring abgenommen, den er nachher seiner Gatdn
Kriemhild giebt (Nibel. Lachm. Str. 627 ff., 790 Völs. S. Cap. 28). Auch
Tristan hat von der blonden Isolde einen Ring erhalten, den er noch
am Finger trägst, da er in der Hochzeitsnacht neben seiner Gattin, der
anderen Isolde ruht (Thomas Version, Ms. Sneyd a, Michel III, V.
392 ff., Tristrams Saga Cap. LXX); aber er giebt ihn nicht fort, sondern
sendet ihn vor dem Tode der Geliebten zurück. Aber in beiden Sagen
steht der Ring in Verbindung mit dem Ende des Helden; im Siegfried-
Mythus knüpft sich an ihn die Eifersucht der Geliebten (Völs. S. Cap.
28), im Tristanroman die der Gattin (Tristr. S. Cap. XCVI, Thomas
Version Mscr. Douce V. 1248, Michel II S. 58), welche die Ursache
seines Todes wird. Auch Siegfrieds Tod bietet Parallelen zu den sagen-
haften Zügen im Schlüsse des Tristanromans. Von drei Brüdern wird
Siegfried ermordet, Tristan fällt im Kampf gegen acht. Siegfiied wird
ebenso wie Tristan*) nach der vermutlich altertümlichsten Fassung der
Sage durch einen Speer zu Tode getroffen (Nibel. Lachm. Str. 922 Thidr.
a^
5. Cap. 322, 324 vgl. W. Grinun, Heldens**) S. 36). Übereinstimmend
ist es femer, wenn auch vielleicht eine zufallige Übereinstimmung, dafs
der Waffenbruder und Schwager Siegfrieds, der allerdings hier gerade
der Anstifter des Mordes ist, dessen Gattin und Geliebten die Trauer-
*) Trist Thom. B 11 altre Tristran nayrez
Par mi la luigne d*un espe
Ki de venim fiit entuscbe
Espe bedeutet nicht etwa Schwert (esp^e) wie die altnordische Saga mifsverstanden hat,
sondern Spiefs, Speer, wie Böttiger, (der Tristan des Thomas S. la) seigt
**) W. Müller (Myth. d. d. Heldens. S. 75) kommt auf anderem Wege ebenfalls ra
der Oberzeugung von einer ursprfinglichen Nebenbuhlerschaft zwischen Siegfried und Hagen.
Germanische Sagenmotive im Tristan-Roman. 371
botschaft überbringt (Sigurdarkv. III, 30 flF., Gudrunarkv. II, 7, vgl.
Völs. S. Cap. 30).
Ganz übereinstimmend sind femer die Rollen, die beide Frauen nach
dem Tode Siegfrieds und Tristans spielen.
Schon W. Müller hat in seiner Schrift über die Nibelungensage
S- 55» 59i 76 die Tristansage in ihrer ursprünglichen Gestaltung eine
Siegfriedsage genannt; die eben gezogene Parallele wird gezeigt haben,
wie treflfend die Vergleichung war.
Aber auch der von Fr. Neumann (Germ. XXVIII, 350) angenommene
Zusammenhang zwischen der Ortnit- Wolfdietrich- und der Siegfriedsage,
sowie die von mir vermutete Verwandtschaft zwischen dem Beowulf-
und dem Siegfriedmythus (Angl. IX, 204) werden jetzt eine Stütze er-
halten haben.
AUen diesen Sagen liegen dieselben Mythen zu Grunde. Zwei
Göttergestalten sind es, die uns aus ihnen besonders deutlich hervortreten:
Frey und Bälden Freys Werbung um die stolze spröde Gerd, die
Riesentochter, Haiders Kampf mit seinem Nebenbuhler Hödur um die
schöne Nanna, Haiders Ermordung durch Hödur und Nannas Tod —
diese altnordischen Mythen, welche uns die Eddalieder und Saxo
Grammaticus überliefern, spiegeln sich deutlich in den Sagen von
Tristan, von Ortnit und Wolfdietrich, von Siegfried wieder.
Wir brauchen nur die entsprechenden Personen nebeneinander zu
stellen, um den Zusammenhang zu veranschaulichen.
Haider (Skimir) Siegfried Tristan
Frey Günther Marke, Kaherdin
Gerd Hrunhild Isolde, die blonde
Nanna Kriemhild (Gudrun) Isolde, die weifshändige
Hödur Hagen Der falsche Truchsefs,
Estult rOrgUUus.
Die Sagenvergleichung fuhrt zu dem Resultat, dafs Skimir, der
Freund und Jugendgespiele Freys, nur eine Hypostase des Lichtgottes
Halder ist, was ja auch aus dem Namen: Skimir: der Aulheller, hervor-
geht. Weiter zeigt sie, dafs Balder-Skimir und nicht Frey der ursprüng-
liche Riesentödter (bani Helja) ist, was ja auch die Worte Gerds in der
Skimisför 16 ausdrücklich bezeugen. Sodann erhellt daraus, dafs nach
dem alten Mythus der Lichtgott Halder als Drachentödter galt, ebenso
wie Apollo. Ferner ergiebt sich, dafs der Frey- und Haidermythus
von Alters her zU^jammengehörten, wie schon früher (von Ferd. Vetter
S72 Gregor Sarradn.
in der Germ. XIX, 196 flF. und von mir Angl. IX, 203) vermutet wurde. Es
wird wahrscheinlich, dafs diese beiden urgermanischen Göttergestalten
dieselben sind, wie die von Tadtus mit den Dioskuren Castor und
PoUux verglichenen. Wenn endlich in den verwandten Sagen die spröde
Jungfirau, welche der Gerd des Mythus entspricht, Isolde (Eisherrscherin)
heifst, dem Geschlecht der Isunge angehört, in Island wohnt, so scheint
in diesen Namen noch deutlich eine Erinnerung an den alten Naturmythus
fortzuleben, welcher Gerd dem Geschlecht der Reifiiesen zuwies und in
ihr wohl die winterlich starre Erde personfizierte, die erst durch die
Werbung des Sonnengottes erweicht und einer Verbindung mit dem
Gott der Fruchtbarkeit geneigt gemacht werden mufste.
Die ursprüngliche Sage von Tristan und Isolde geht also ebenso
wie die von Siegfried und Brunhild . auf einen einfachen Naturmythus
zurück.
Kiel.
-•••-
Vergleichende Studien zu Heinrich von Kleist.
Von
Richard WeissenfeU.
I.
* Der Tod der Penthesilea.
Heinrich von Kleists Trauerspiel „Penthesilea" ist trotz der gewaltigen
Dichterkraft, die es besonders in seiner kühnen, glänzenden Bilder-
sprache atmet, heutzutage aufserhalb des Kreises der Litterarhistoriker
wenig bekannt. Der Grund liegt in dem mancherlei Unwahrscheinlichen
und Verletzenden, das die Dichtung für den modernen Lreser enthält und
das seine Erklärung einerseits in den Verhältnissen, der Stimmung, unter
deren Einflufs das Werk entstand, anderseits in dem Charakter und der
Manier seines Verfassers überhaupt findet. Die allgemeinen Umstände
und Eigentümlichkeiten, welche hier in Frage kommen, sind schon oft,
wenn auch vielleicht noch nicht erschöpfend erörtert worden, ich will
jetzt zunächst speziell an den Schlufs der Tragödie, welcher nicht am
wenigsten befremdet, einige Bemerkungen knüpfen, die nicht nur auf
Kleists Wesen und seine Art dichterischen Schaffens, sondern auch auf
seinen Zusammenhang mit früheren imd gleichzeitigen Schriftstellern, einen
Punkt, welcher noch eingehender Untersuchungen bedarf, etwas Licht
werfen.
Penthesilea giebt sich, nachdem ihr die Waffen entwunden sind, allein
vermöge ihres bis zum Extrem erregten Gefühles den Tod mit den
Worten (Vers 3024 ff.):*)
Denn jetzt steig* ich in meinen Busen nieder,
Gleich einem Schacht, und grabe, kalt wie Erz,
BÜr ein vernichtendes Gefühl hervor.
*) Ich zitiere nach ZoUings Ausgabe in Kürschners National-Litteratur Bd. 149 — 150.
d74 Richard Wdssenfels.
Dies Ers, dies läutr' ich in der Glat des Jammers
Hart mir zu Stahl, tränk' es mit Gift sodann,
HeÜsätsendem, der Reue durch und durch,
Trag* es der Hoffnung ew*gem Ambos zu
Und schärf und spitz* es mir zu einem Dolch,
Und diesem Dolch jetzt reich' ich meine Brust:
Sol Sol Sol Sol Und wiederl -— Nun ist's gut
(Sie fällt und stirbt)
Diese Art, die Katastrophe des tragischen Helden herbeizufuhren,
ist eine so ungewöhnliche, originelle, dafs man sich unwillkürlich fraget:
wie kam der Dichter dazu? wo liegen die Anknüpfungspunkte für solch
ein dramatisches Wagnis in ihm oder im Gedankenschatz der Zeit? oder
hatte er etwa ein bestimmtes litterarisches Vorbild?
Was zunächst das letztere betrifft, so läfst sich die Möglichkeit
dafür nachweisen. Etwas anderes will ich nicht behaupten, als dafs eine
Erinnerung an frühere Lektüre nicht ausgeschlossen sei. Ob sie wirk-
lich stattgefunden hat und ob sie dann im Augenblick des Schaffens eine
bewufste oder unbewufste gewesen ist, könnte nur beim Vorhandensein
ergiebigerer Quellen, als sie für unsern Fall bis jetzt wenigstens fliefsen,
entschieden werden.
Ich weifs in der mir bekannten Litteratur nur zwei Katastrophen,
welche mit dem Tod der Penthesilea Ähnlichkeit haben. Die eine
erzählt Boccaccio im Dekameron IV, 8: Girolamo schleicht sich in das
Schlafzimmer der Salvestra, die er von Kindheit an geliebt und die sich
während seiner Abwesenheit mit einem andern verheiratet hat, und bittet
sie unter dem Versprechen, sie nicht zu berühren, ihn für eine Weile in
ihr Bett aufzunehmen. Da heifst es nun weiter: Coricossi adunque il
giovane allato a lei senza toccarla: e raccolto in un pensiere il lungo
amor portatole, e la presente durezza di lei, e la perduta speranza,
diliberö di piü non vivere; e ristretti in si gli spiriti, senza alcun motto
fare, chiuse le pugna, allato a lei si mori. Salvestra stirbt dann in ganz
gleicher Weise, allein am Übermafse ihres Schmerzes, in der Kirche über
der Leiche ihres Geliebten. Der seelische Prozefs, durch welchen sich
Girolamo und Salvestra töten, ist derselbe, wie bei der Penthesilea, nämlich
energische Versenkung, Konzentration aller Gedanken und Gefühle in
die eine Empfindung ihres Unglücks, der Unterschied ist nur, dafs dieser
innere Vorgang bei Boccaccio objektiv erzählt, bei Kleist von der Heldin
selbst gewissermafsen mit erläuterndem Text versehen wird. Ob Kleist
den italienischen Novellisten gelesen hat, das mufs bei dem hartnäckigen
Schweigen, das er über seine Lektüre beobachtet, eine offene Frage
Vergleichende Studien xu Heinrich von Kleist, f. 375
bleiben, doch macht es der grofse Einflufs, den Boccaccio im allgemeinen
auf die Dichter jener Zeit übte, sehr wahrscheinlich.*)
Etwas sicherere Anhaltspunkte bieten sich bei dem zweiten Fall,
den ich im Sinne habe. In Radnes „Thebaide" sagt Creon nach dem
Selbstmord der Antigone, als ihm, wie der Penthesilea, von seinem be-
sorgrten Vertrauten die WaflFe entrissen ist:
Ah I c*est m*assassiner que me sauver la vie I
Amour, rage, transports, venez k mon secours,
Venec, et lerminei mes d^testables joursf
De ces cruels amis trompez tous les obstaclesi
Dann, nachdem er die Götter vergebens um einen vernichtenden Blitz-
strahl angefleht hat, fahrt er fort:
Mais en Tain je vous presse, et mes propres for&its
Me fönt d^j^ sentir tous les maux que j'ai faits.
Polynice, £t^ocle, Jocaste, Antigone,
Mes fils, que j^ai perdus, pour m'^lever au trdne,
Tant d'autres malheureuz dont j^ai caus^ les mauz,
Font d^ä dans mon coeur Toffice des bourreauz.
ArrMez — Mon tr6pas va venger votre perte.
La foudre va tomber, la terre est entr'ouverte;
Je ressens k la fois mille tourments divers,
£t je m'en vais chercher du repos auz enfers.
(II tombe entre les malus des g^des.)
Brahm meint in seiner Biographie Kleists S. 147 doch wohl nur, dafs
Racines Dramen der Natur des deutschen Dichters nicht zugesagt haben,
denn dafs ihm dieselben bekannt gewesen, daran scheint mir sein wieder-
holter längerer Aufenthalt in Paris und die sonst erwiesene starke Ein-
wirkung französischer Schriftsteller auf seine Dichtung**) keinen Zweifel
zu gestatten. Ich möchte auch aus der eben zitierten Rede Creons noch
eine Stelle, die ich vorher weggelassen, hervorheben und mit einem be-
rühmten Worte Kleists vergleichen, das in seiner Form vielleicht eben-
falls nicht ganz unbeeinflufst ist von jener und damit die Bekanntschaft
Kleists mit der „Thebaide" noch wahrscheinlicher macht, als sie schon
an sich ist. Der oft angeführte Ausspruch Kleists steht in den Briefen
*) Es acheint mir sicher, dafs ein Einfluss des Boccaccio auf Kleists Novellenstil an-
zunehmen ist und femer auf seine bekannte Vorliebe für die Schilderung des Mysteriums
der Liebe, wenn die letztere auch ihre tiefsten Wurzeln in seiner eigenen Natur hatte.
**) Vgl. z. R Brahm; H. v. Kleist S. 146 ff. 163 ff., Erich Schmidt, Richardson
Rousseau u. Goethe S. 329 ff., ZoUing^ biogr. Einl. zu Kleists Werken, 149. Bd. v. KOrschnert
deutscher Nat.-Litt S. LXXXV. Anm. u. a.
876 Richard Weissenfeis.
an seine Schwester Ulrike (herausgegeben von Koberstein) S. Sa: »Der
Himmel versaget mir. den Ruhm, das gröfste der Güter der Erde, ich
werfe ihm, wie ein eigensinniges Kind, alle übrigen hin.***) Und mit
ganz ähnlichem Ausdruck sagt Creon von seiner Situation, die abgesehen
vom Gegenstand des vergeblichen Strebens ganz dieselbe ist: Vous
(d. h. die Gotter) m*6tez Antigone, ötez-moi tout le reste. Mit diesen
Worten sind anderseits wieder drei Stellen gerade in der „Penthesilea**
zu vergleichen, die gewöhnlich in der Entstehungsgeschichte dieser
Tragödie mit jenem Bekenntnis des Dichters an Ulrike in Verbindung
gebracht werden. Prothoe fragt die Penthesilea V. 668 S:
Willst du — ,
Weil unerftllt ein Wunsch, ich weils nicht welcher,
Dir im geheimen Herzen blieb, den Segen,
Gleich einem übellaunigen Kind, hinweg,
Der deines Volks Gebete krönte, werfen?
Dieselbe sagt V. 1287 fF. von ihrer Fürstin:
Des Lebens höchstes Gut erstrebte sie,
Sie streift*, ergriff es schon: die Hand Tersagt ihr,
Nach einem andern noch sich auszustrecken.
Und Penthesilea selbst fragt V. 11 99 fF.:
Warum auch wie ein Kind gleich.
Weil sich ein flüchtiger Wunsch mir nicht gewährt,
Mit meinen Göttern brechen?
Hier in der „Penthesüea^ handelt es sich bei dem versagten höchsten
Gut auch nicht, wie in Kleists Leben, lun den Ruhm allein, sondern zu-
gleich, wie in der „Thebaide" um einen geliebten Menschen.
Die Erinnerung an ein litterarisches Vorbild kann aber bei einem
so subjektiven Dichter, wie Heinrich von Kleist, nur als hinzutretendes
Element für die Gestaltung eines Gedankens aufgefafst werden, der
Keim dieses Gedankens selbst ist im Leben und Wesen des Dichters
und der ganzen Richtung seiner Zeit zu suchen.
Dafs die eigentümliche Todesart der Penthesilea an Kleists eigenen
moralischen und physischen Zusammenbruch nach seiner Verzweiflung
am „Guiskard" erinnere, will wohl Brahm bei der Gelegenheit, wo er
den Grundgedanken der „Penthesilea" überhaupt mit dem vergeblichen
Ringen ihres Dichters um sein Tragödienideal in Verbindung bringt
(S. 198 seiner Biographie), in seiner knappen Weise andeuten, und eine
*) Man beachte für die versuchte Anknüpfung dieses Ausspruches an Racine, dais
der Brief, in welchem er vorkommt, in Franlcreich geschrieben ist, unmittelbv nach Kleists
Flucht aus Paris im Jahre 1803. ^
«
1_
Vergleichende Studien zu Heinrich von Kleist L 277
solche Beziehung zwisdien dem Leben des Dichters und der Katastrophe
seiner Tragödie ist jedenfalls anzuerkennen, aber ich meine nur als erstes
Stadium in dem verwickelten Gedankenprozess, dessen Endergebnis der
befremdende Schlufs der „Penthesilea" war. Es ist doch noch ein weiter
Schritt von der lebensgefahrlichen Krankheit, die sich Kleist durch eine
nervöse Erregung höchsten Grades unfreiwillig zuzog, bis zu dem über-
legften Selbstmord vermöge zielbewufster energischer Steigerung aller
schmerzlichen Gefühle, wie ihn die Amazonenkönigin verübt. Die
fehlenden Mittelglieder gilt es noch zu finden, und der Weg, auf dem
ich sie suchen will, ist kein ganz kurzer und direkter und führt zunächst
durch einige allgemeinere Betrachtungen.
Es ist bekannt, dafs Kleist schon früh nicht nur an Selbstmord im
allgemeinen, sondern in der besonderen Form des Zusammensterbens
mit einem andern, einem Freund oder einer Freundin, gedacht Und dafs
er eine solche, die dazu bereit war, auch schliefslich in Henriette Vogel
gefunden hat. Eine Spur dieses krankhaften Gedankens erkennen wir
in Penthesilea wieder, wenn sie in der Meinung, den Achilles erkämpft
zu haben, dieses höchste Glück in die Worte fafst (V. 1682): „Zum
Tode war ich nie so reif als jetzt." Wenn sie dann nach dem Tode
des Geliebten sagt (V. 3012): „Ich folge diesem Jüngling hier" und bei
Betrachtung des Pfeiles, mit dem sie ihn getötet hat, in den Worten
(V. 3020) „Zwar reizend wär*s von Einer Seite" der flüchtige Einfall
aufblitzt, mit derselben Wa£Fe sich selbst das Lreben zu nehmen, so sind
das Gedanken, die ebenfalls in das Bereich jener fixen Idee Kleists
gehören und ihm also zu dichterischer Behandlung sehr nahe
lagen*).
Vielleicht darf man noch einen Schritt weiter gehen in dieser
Richtung, wenn man sich damit auch auf das Gebiet der Vermutungen
wag^. Man hat bisher immer angenommen, dafs Kleist in dem Charakter
der Penthesilea nur seine eigne Stimmung verkörpert habe in der Zeit
des vergeblichen leidenschaftlichen Ringens nach einem poetischen Ideal.
Dafs eine solche Gedankenverbindung existiert, leugne ich nicht, aber
ich meine, sie genügt nicht, um zu erklären, wie Kleist gerade auf diesen
Stofif, dessen Trägerin doch eine Frau ist, verfallen sei, und auch die
Heranziehung der „Jungfrau von Orleans" vermag diese erste Frage
des ganzen Problems nicht zu lösen, obwohl der Einflufs der Schillerschen
*) Nach ZolÜDg, biogr. £inl. S. XCm Anm. hat Kleist seine Freundin Henriette und
sich mit derselben Pistole erschossen.
Ztochr. f. Tgl Litt-Geach. L I9
278 Richard Weisaenfels.
Tragödie auf Einzelheiten in Kleists Dichtung, wie ihn Brahm S. 213
entwickelt, als erwiesen gelten kann.
Die eben aufgeworfene Frage läfst sich in zwei zerlegen: erstens: wie
kam Kleist dazu, seine eigene Stimmung auf ein weibliches Wesen zu
übertragen? zweitens: wie geriet er gerade auf den antiken Penthesilea-
StoflF? Ich lafse die zweite Frage hier (vgl. S. 290), vorläufig bei Seite.*)
Was die erste betrifft, so bin ich der Ansicht, dafs aufser Kleists
eignem seelischen Erlebnis die Gestalt seiner Schwester Ulrike auf
die Entstehung der Penthesilea -Tragödie und auf die Ausbildung
des Charakters der Hauptheldin eingewirkt hat. Der Gedanke, Züge
von Ulrikes Wesen in die Dichtung hineinzuarbeiten, konnte Kleist so
fern nicht liegen, denn wenn auch die Stelle seiner Briefe an sie, in
welcher er von „Guiskard" sagt, dieses Gedicht solle der Welt ihre
Liebe zu ihm erklären (Koberstein S. 78), nur die allgemeinere Bedeutung
hat, welche ihr Erich Schmidt in dem Kleistaufsatz seiner ^Charakteristiken''
zuweist, so kann doch nicht geleugnet werden, und auch Erich Schmidt
thut das nicht, dafs der Dichter in Guiskards Tochter Helena Eigen-
schaften seiner Schwester Ulrike poetisch hat verherrlichen wollen.
Brahm vergleicht S. 123 die Helena in dem Verhältnis zu ihrem Vater
mit der Antigone, welche an der Seite des Oedipus ausharrt, auch da
alles ihn verlässt, und ebenso steht Ulrike treu zu ihrem Bruder, während
seine übrigen Verwandten ihn bereits als unverbesserlich aufgegeben
haben. Auf solche bedingungslose Verherrlichung war es nun freilich
in der „Penthesilea", wenn auch bei dieser dem Dichter das Bild seiner
Schwester vorschwebte**), nicht abgesehen, vielmehr auf eine Darstellung
des ganzen Charakters mit den gleich grofsen Vorzügen und Schwächen,
zwischen denen er beständig hin und herschwankte und vermöge deren
*) Neben dem litterarischen Eiofluss, den ich im folgenden nachzuweisen suchen
werde, kann der persönliche der Ulrike nicht nur ganz gut bestehen, sondern
beide stützen sich gegenseitig. Die Konzeption einer Dichtung ist selten ein einfacher
Prozeis, kommt meist unter dem Zusammenwirken verschiedener Einflüsse zu Stande. Diese
gilt es, so weit möglich, zusammenzustellen, die Art, wie sie im einzelnen Fall in der
Phantasie des Dichters auf- oder neben einander gewirkt haben, wird sich freilich nur aus-
nahmsweise bestimmt angeben lassen.
**) Man beachte für meine Vermutung die Ideenverbindung, welche erwiesenennaisea
zwischen „Guiskard** und „ Penthesilea** in Kleists Seele bestand (vgl. S.393 ff. dieses Aufsatzes).
Das Wesen der Ulrike in beiden Tragödien poetisch gestaltet -- das giebt ein neues Binde-
glied zwischen beiden und anderseits stärkt die sonst erwiesene Beziehung zwischen ihnen
die Wahrscheinlichkeit meiner Vermutung. \
V
Vergleichende Studien zu Heinrich von Kleist. I. 979
er Kleist bald anzog bald abstiefs. Brahm macht S. 204 darauf
aufmerksam^ dafs unsere Tragödie eine freilich nicht streng durchgeführte
Tendenz gegen die Frauenemanzipation enthalte. Und wie Penthesilea
so strebte auch Ulrike über die Grenzen, welche die Natur ihrem
Geschlecht gezogen hat, rücksichtslos hinaus. Das beweist schon der
eine Zug, dafs sie es liebte, in Männerklddem zu gehen, und Kleist selbst
hat dieses Extravagante, Unweibliche ihres Wesens oft genug gerügt,
man vergleiche Brahm S. 52 — 53. Zu den Stellen, die dort zitiert sind,
füge ich einige weitere aus dem Briefwechsel des Dichters mit seiner
Schwester: S. 18: „Nie sehe ich Dich gegen wahren, echten Wohlstand
anstofsen, und doch bildest Du oft Wünsche und Pläne, die mit ihm
durchaus unvereinbar sind", S. 20: „Dein Geschlecht sei unauflöslich an
die Verhältnisse der Meinung und des Rufs geknüpft — Aber ist es aus
Deinem Munde, dafs ich dies höre?" S. 24: „Kannst Du Dich dem all-
gemeinen Schicksal Deines Geschlechts entziehen, das nun einmal seiner
Natur nach die zweite Stelle in der Reihe der Wesen bekleidet?" über-
haupt S. 21 — 24. In der „Penthesilea" werden ähnliche Gedanken, wie
die eben zitierten, durch den Charakter einzelner Szenen, z. B. den Streit
zwischen der Amazonenfurstin und Achilles (V. 2280 ff.), in welchem
jene das natürliche und gewöhnliche Verhältnis beider Geschlechter gerade
umkehrt, sowie durch den ganzen Verlauf des Stückes im Leser geweckt,
sie sind eben die Tendenz des Ganzen, daher gegen den Schlufs die
Worte der gebeugten Penthesilea:
Und — im Vertraun ein Wort, das niemand höre,
Der Tanais Asche, streut sie in die LuftI
und noch deutlicher V. 301 1 :
Ich ssLge vom Gesetz der Fraun (d. h. des unnatürlichen Frauenstaates) mich los.
Aber auch einige direkte Anklänge an die oben angeführten Aufserungen
des Dichters über seine Schwester, Ähnlichkeiten auch im Ausdruck
finden sich in der grofsen Szene zwischen Penthesilea und Achilles
(15. Auftritt). Dieser fragt dort V. 1902 ff:
Und woher quillt, von wannen ein Gesetz,
Unweiblich, du verg^ebst mir, unnatflrlich,
Dem übrigen Geschlecht der Menschen fremd?
Und wenn man die Stelle liest, wo sich derselbe über die Busen-
beraubung der Amazonen entsetzt (V. 2006 — 2013), so könnte man sogar,
natürlich ohne die Parallele über das Gebiet der blofsen, unbewussten
Ideenkombination hinaus ziehen zu wollen, speziell an die Aufserung
Kleists über seine Schwester erinnert werden: „Vieles mag sie besitzen,
19*
^
9S0 Richard Weissenfeis.
vieles geben können, aber es läfst sich, wie Goethe sagt, nicht an ihrem
Busen ruhen^ (Briefe an seine Braut S. 191). Denselben Ausdruck
gebraucht der Dichter noch einmal von Ulrike in einem Brief an
Karoline von Schlieben und fahrt dann fort: „Sie ist eine weibliche
Heldenseele, die von ihrem Geschlecht nichts hat, als die Hüften. Doch
still davon. Auch der leiseste Tadel ist zu bitter für ein Wesen, das
keinen Fehler hat, als diesen, zu grofs zu sein für ihr Geschlecht"
(vgl. Zolling, biogr. Einl. S. XXVIII ff.). Diese Worte Uefsen sich
direkt für eine Charakteristik der Penthesilea verwenden. Man vergleiche
damit das Bild, welches Achilles von der Amazonenkönigin entwirft
V. 2456: „Dies wunderbare Weib, halb Furie, halb Grazie", man gehe
sein ganzes Betragen gegen sie durch: es ist in seiner Seele ein ewiges
Schwanken zwischen Bewunderung, Liebe einerseits und Verstandnis-
losigkeit, Mifsbilligung, ja Hafs anderseits gegenüber dem Wesen seiner
Feindin, ganz ähnlich, wie wir es in dem Benehmen Kleists gegen seine
Schwester, in seinen Urteilen über sie durch sein ganzes Leben verfolgen
können und wie er es selbst in einem Brief an sie (Koberstein S. 61)
mit treffendem Bild veranschaulicht: „Sind wir nicht wie Körper und
und Seele, die auch oft in Widerspruch stehen und doch ungern
scheiden?"*)
Ich mufs mich hier ausdrücklich gegen eine mögliche falsche Auf-
fassung verwahren. Ich weifs, dafs es riskant ist, solche Parallelen, wie
die obigen, zu ziehen, wie leicht man dabei in die Gefahr gerät, allzu
scharfsinnig sein, zu viel finden zu wollen. Es liegt mir fem zu behaupten,
Kleist habe in allen Stellen, die ich eben aus der „Penthesilea^ zitiert
habe, die bestimmten Züge von Ulrikes Charakter vor Augen gehabt
oder gar an spezielle eigne Aufserungen über dieselbe, wie ich sie zur
Vergleichung herangezogen habe, gedacht. Bis zu Parallelen solcher
Art kann und darf sich die vergleichende Methode nur in seltenen Fällen
erheben, sonst schlägst sie sich mit ihren eigenen Waffen. Ich wollte
nur zeigen, dafs Beziehungen, Wechselwirkungen oder, wie man es sonst
nennen will, zwischen den Bildern der Ulrike und der Penthesilea in des
Dichters Seele, in seiner Phantasie bestanden haben, jene feine Ideen-
verbindung, die man vergröbert und dann unwahrscheinlich macht, wenn
man sie in Worte zu fassen sucht, die man besser fühlen, als aus-
drücken kann.
*) Vgl. auch Kldsts Briefe an seine Braut S. 188, wo er erzählt, wie er in erregter
Stimmung HebebedOrfdg Ulrikes Hand fa&t und durch ihre Kälte zurflckgeschreckt wird.
\
Vergleichende Studien zu Heinrich von Kleist. I. 981
Diese Verbindung nun, an die ich glaube, gewinnt mir Wichtigkeit
für das Thema des vorliegenden Aufsatzes, zu dem ich endlich zurück-
kehre. Bei der innigen Freundschaft, die Kleist mit Ulrike verband,
der innigsten seines ganzen .Lebens, ist es glaubhaft, dafs der Gedanke,
der ihn so unwiderstehlich beherrschte, mit einem befreundeten Wesen
zusammen in den Tod zu gehen, ihm zuweilen auch in Beziehung auf
seine Schwester gekommen sei. Ausgesprochen finden wir denselben
ihr gegenüber nicht, wie gegen Pfuel (vgl. Brahm S. io8), Rühle (vgl.
Brahm S. 224), Marie von Kleist (vgl. ZoUing, biogr. Einl. zu den Werken
S. LXXXVI), Fouque (vgl. Erich Schmidt, Charakteristiken S. 356)
und bedingungsweise auch gegen Karoline v. Schlieben (vgl. ZoUing,
biog^. Einl. S. XLII). Etwas Unausgesprochenes liegt allerdings Kleists
Briefen aus den letzten Jahren zu Grunde, die Veranlassung der Entfremdung
zwischen den beiden Geschwistern, die Ursache der wiederholten Weigerung
Ulrikes, mit dem Bruder wieder in dieselbe Stadt oder gar dieselbe Wohnung
zusammenzuziehen (vgl. z. B. Brahm. S. 231), wird nicht ganz klar, denn
was Brahm S. 379 ff. und Zolling, biogr Einl. S. LXXXIV ff. beibringen,
scheint mir nicht zu genügen, auch besteht die Verstimmung schon vor
Kleists letztem Aufenthalt in Frankfurt, beginnt bereits 1801 in Paris und
erneuert sich 1805 in Königsberg. Der Dichter selbst giebt nur An-
spielungen, die alle möglichen Deutungen zulassen, und man mufs daraus
fast schliefsen, es sei ein so delikater Punkt, dafs er eine schriftliche
Auseinandersetzung kaum vertrage, und man könnte so endlich gestützt
auf die anderen ähnlichen Beispiele zu der Vermutung kommen, Kleist
habe auch von seiner Schwester verlanget, sie solle gemeinsam mit ihm
sterben. Und wenn man liest, was er kurz vor seinem Tode an Marie
V. Kleist über die Schwester schreibt: „Sie hat, dünkt mich, die Kunst
nicht verstanden, sich aufzuopfern, ganz, für das, was man liebt, in Grund
und Boden zu gehen: das Seligste, was sich auf Erden erdenken läfst,
ja worin der Himmel bestehen mufs, wenn es wahr ist, dafs man darin
vergnügt und glücklich ist", wenn man, sage ich, diese leidenschaftlichen
Vorwürfe liest, so wird man an die Stimmung Kleists erinnert, in der
er Pfuels Weigerung, mit ihm zusammen den Tod zu suchen, als einen
Verrat an der Freundschaft aufiafst.
Indes das ist eine zu unsichere Hypothese, um darauf noch andere
zu bauen, und diejenige, welche ich hier aufstellen will, bedarf auch
solches Untergrundes gar nicht. Kleist braucht den Gedanken, mit
Ulrike gemeinsam zu sterben, gar nicht gegen sie ausgesprochen zu
haben, schon die Wahrscheinlichkeit, |dafs [er ihm nahe gelegen habe.
1
282 Richard Weissenfeis.
die ich aus seinem Verhältnis zur Schwester einerseits und dem Benehmen
gegen seine übrigen Freunde anderseits herleite, schon diese Wahr-
spheinlichkeit genügt, um die behauptete Beziehung zwischen der Gestalt
der Penthesüea und der Ulrike in noch hellere Beleuchtung zu rücken.
Das Zusammensterben des Achilles und der Penthesilea, welches dem
Dichter in der Form, wie er es behandelt, durch die Sage nicht gegeben
war (vgl. Brahm S. 200 — 201), wird dann ein Zug, den er aus seiner
eigenen inneren Erfahrung schöpft. Man darf hier nicht zu scharfsinnig
verfahren, nicht etwa einwenden, es sei in der Tragödie ein Nacheinander-
kein Zusammensterben oder es sei ja hier die Frau, nicht der Mann, die
sich nach dem gemeinschaftlichen Tode sehne. Dem Nacheinandersterben
liegt jedenfalls, wie schon die oben angeführten Aussprüche der Pen-
thesilea beweisen, die Kleist'sche Idee des Zusammensterbens zu Grunde
und der Penthesüea hat der Dichter ebenso viel oder noch mehr Züge
als von der Ulrike, von seinem eigenen Wesen geliehen. Es ist nur
eine allgemeine, feine Ideenverbindung, die ich behaupte, da mufs man
das scharfe Seziermesser der Kritik bei Seite lassen, sonst zerschneidet
man das ganze Gewebe und behält lauter einzelne, nicht wieder zu ver-
knüpfende Fäden.
Wenn nun wirklich eine Beziehung zwischen Penthesilea und Ulrike
besteht, so erklärt sich auch der bekannte Ausspruch Kleists: „Sie ist
tot", den er nach Beendigung der Tragödie seinem Freunde Pfuel
schluchzend entgegenrief, und die ganze leidenschafdiche Teflnahme am
Charakter und Geschick der Heldin, die er selbst bezeugt hat, noch
befriedigender, als es bisher geschehen ist. Erich Schmidt (Richardson,
Rousseau und Goethe S. 92) führt jenen Ausruf nur als Beleg dafür an,
wie weit eine lebhafte Einbildungskraft in dem Interesse an ihren eigenen
Geschöpfen gehen könne, Brahm (S. 197) sieht darin nur einen Beweis,
dafs der Dichter seinen eigenen Charakter und eigene seelische Erlebnisse
in die Figur der Penthesüea hineingearbeitet habe. Beides unleugbar
richtige Argumente und zur psychologischen Erklärung jener leiden-
schaftlichen Szene heranzuziehen, aber um wie viel tiefer noch wird
dieselbe begründet, wie viel natürlicher erscheint sie, wenn Kleist, be-
wufst oder unbewufst, auch Züge von der geliebten Schwester in das
Büd der Amazonenkönig^n hineinwob, wenn die beiden Gestalten in seiner
Phantasie in Wechselwirkung traten und mit einander verschmolzen, wie
viel mächtiger mufste ihn dann der tragische Ausgang seiner Dichtung
erschüttern in Verbindung mit der nie wieder ganz beseitigten Spannung
\
^.»
Vergleichende Studien zu Heinrich von Kleist. I. 287
zwischen ihm und der Schwester, die gerade während der Zeit avan
Abschlufses seiner Tragödie wohl den Dichter doppelt gequält han^.
weil kurz zuvor Ulrike die ganze Energie ihrer inuner wieder hervor^
brechenden Liebe für seine Befreiung aus der französischen Gefangenschaft
eingesetzt hatte.
Kleists eigenes Leben giebt uns aber noch immer keinen festen
Anknüpfungspunkt fiir das Eigentümlichste in Penthesüeas Tod, für
ihren Selbstmord ohne Waffe, allein durch das Ubermafs ihrer seelischen
Erregung. Hier bleibt uns als Mittel zur Erklärung nur die Gedanken-
richtung der ganzen Generation von Dichtern und Philosophen zu Anfang
unseres Jahrhunderts.
Zunächst erinnere ich an zwei Fakta aus jener Zeit, von denen aus
sich zu der Todesart der Penthesilea Verbindungsfaden ziehen lassen,
das erste ein litterarisches, das zweite ein biographisches. Zwei Jahre
nach der Vollendung der „Penthesilea" (1807) erschienen Goethes „Wahl-
verwandtschaften". Der Tod der Ottilie (wie auch Eduards) ist nicht allein
eine Folge der Enthaltung von Speise und Trank, sondern ebenso sehr der
Energie, mit der das Mädchen sich in das Gefühl ihres verfehlten Lebens ver-
senkt, also ein ähnlicher Willensakt, wie bei der Penthesilea. Man darf hier
nicht etwa eine Beeinflussung Goethes durch Kleist annehmen, dazu
sind die beiden Vorgänge trotz der ähnlichen Grundstimmung zu ver-
schieden und aufserdem ist ja Goethes ungünstiges Urteü über die
„Penthesilea" bekannt genug (vgl. z. B. Kleists Werke II S. 277 ff.).
Wenn er trotzdem hier auf ähnlichen Pfaden wandelt, wie der Dichter
des von ihm getadelten Stückes, so weist uns das eben auf eine Stimmung
der ganzen Zeit als gemeinsame Quelle beider. Und von dieser Stimmung
legt noch gültigeres Zeugnis das zweite der hier zu erwähnenden Fakta
ab, das Verhalten des Dichters Novalis nach dem Tode seiner ersten
Braut Sophie. Er sehnt sich ihr zu folgen, wie Penthesilea dem Achilles,
eine hohe Todesbegeisterung erfüllt ihn, die in den „Hymnen an die
Nacht" ihren poetischen Ausdruck findet und deren Verwandtschaft mit
Kleists Phantasien vom Tode unleugbar ist und noch näher erörtert
werden wird*). Das Tagebuch, das Novalis in dieser Zeit führte,
(Schriften**) III S. 49 flF.) malt noch treuer, als die Hymnen, seine wunder-
*) In einem folgenden Abschnitt dieser Studien.
**) Herausgegeben von Tieck und Fr. Schlegel, IH. Teil yon Tiek und Bülow.
Ten I. H zitiere ich nach der 5. Aufl.
noQ Richard Weissenfeis.
i.me Stimmung. Er spricht darin fortwährend von dem „Entschlufs"
a sterben und bietet all seine Energie auf, ihn nicht wieder wankend
iverden zu lassen, sondern sich mit seinem ganzen Wesen immer tiefer
in ihn zu versenken. So schreibt er S. 59: „Bei meinem Entschlufs darf
ich nur nicht zu vernünfteln anfangen. Jeder Vernunftg^nd, jede Vor-
spiegelung des Herzens ist schon Zweifel, Schwanken und Untreue."
Er sieht seinen Tod bestimmt im Laufe des Jahres voraus, vgl. Tage-
buch S. 65: „Auf den Herbst freue ich mich ungeduldig. Gegen Ängst-
lichkeit d. h. gegen willkürliche WahnbegrifFe mufs ich auf meiner Hut
sein. Ich will fröhlich wie ein junger Dichter sterben." Aber „in tiefer,
heiterer Ruh* will ich den Augenblick erwarten, der mich ruft" (eben&lls
S. 65), er braucht keine andere Waffe, als eben den energischen Willen
zu sterben, und lebhaft werden wir an Penthesilea erinnert, wenn er an
Sophies Gouvernante schreibt: „Seien Sie ruhig, ich habe weder Dolch
noch Gift, aber ich fühle es, dafs ich bald sterbe" (Friedr. v. Harden-
berg, eine Nachlese S. 141). Es blieb allerdings bei dem Entschlufs,
die Lebensmächte gewannen bald wieder Gewalt über die Todessehnsucht,
aber darauf kommt es hier nicht an, sondern allein auf die Stimmung
und auf die Auffassung des Sterbens als eines einfachen Willensaktes.
Welches war nun der Gedankengang, der bis zu diesem Extrem
führte, und wo hat er seinen Ursprung? Haym (Die romantische Schule
S. 335) hat schon auf die Fichtesche Philosophie hingewiesen, die
Lehre von der unendlichen Macht des Willens habe in Novalis die
Überzeugung geweckt, dafs er seiner Braut nachsterben könne einfach
durch den energischen Entschlufs dazu. Damit haben wir Anfang und
Ende des Ideenganges, aber die Mittelglieder fehlen, und um sie her-
zustellen, will ich eine Folge von Aussprüchen der Romantiker, vor-
nehmlich des Novalis aneinander reihen.
Allmacht des Willens also ist der Ausgangspunkt. Von Novalis
selbst wird sie mit Fichtes Philosophie zusammengebracht Sehr. II S. 115:
„Fichtes Ausfuhrung seiner Idee ist wohl der beste Beweis des Idealismus.
Was ich will, das kann ich. Bei dem Menschen ist kein Ding unmöglich."
Metaphysisch gewandt erscheint derselbe Idealismus bei Novalis Sehr. III
S. 77: „Währ ich nicht alle meine Schicksale seit Ewigkeiten selbst?"
oder Sehr. III S. 298: „Im Willen ist der Grund der Schöpfung", bei
Fr. Schlegel in den „Ideen" Athenaeum III S. 27: „Die Vernunft ist
frei und selbst nichts anderes, als ein ewiges Selbstbestimmen ins Un-
endliche", in den „Fragmenten" Athenaeum I, 2, S. 43: „Und welche
Philosophie bleibt dem Dichter übrig? die schaffende, die von der
Vergleichende Studien zu Heinrich von Kleist. I. 287
Freiheit und dem Glauben an sie ausgeht und dann zeigt, wie aan
menschliche Geist sein Gesetz allem aufprägt und wie die Welt sei«-
Kunstwerk ist." In denselben „Fragmenten" lautet ein Glaubensartikels
des Katechismus edler Frauen, der von Schleiermacher herrührt (S. 109):
„Ich glaube an die Macht des Willens".
Der absolute Wille erscheint in dieser Philosophie als Schöpfer der
Welt, der menschliche als Schöpfer des menschlichen Schicksals. Als
solcher hat der letztere unbedingte Macht, auf das Seelenleben zu wirken,
und um die vollkoijunene Bildung zu erlangen, ist es Aufgabe jedes
Menschen, alles Unwillkürliche in seiner psychischen Natur willkürlich
zu gestalten. Dies ist Novalis' Hauptlehre, die in den „Fragmenten" auf
die mannigfaltigste Weise zum Ausdruck kommt. Z. B. Sehr. III, S. 276:
„Alles Unwillkürliche soll in Willkürliches verwandelt werden", II, S. 242:
„Ein Charakter ist ein vollkommen gebildeter Wille", S. 266: „Man
sollte sich schämen, wenn man es nicht mit den Gedanken dahin bringen
könnte, zu denken was man wollte" und eine Phantasie über ein Mittel
dazu S. 143: „Vielleicht kann man mittelst eines dem Schachspiel ähnlichen
Spiels Gedankenkonstruktionen zu Stande bringen." Wie Novalis an sich
selbst in dieser Richtung arbeitete, verrät das Tagebuch Sehr. III, S. 60:
„Wie ich mich zum bessern Denken nötige, durch Streben und gewisse
Mittel auch bestimmte Stimmungen nach Willkür in mir zu erregen suche:
so mufs ich arbeiten können, wenn ich will, so mufs ich mich mit an-
fanglicher Anstrengung in einen gewissen Zustand zu versetzen lernen".
Das Ideal, das zu erstreben ist, spricht er am klarsten aus Sehr. II, S. 155:
„Jetzt ist der Geist aus Instinkt Geist, ein Naturgeist; er soll ein Vemunft-
geist, aus Besonnenheit und durch Kunst Geist sein".
Nun besteht aber ein unlöslicher Zusammenhang und deshalb eine
Wechselwirkung zwischen Seele und Körper des Menschen, auch eine
Lieblingsbeobachtung des Novalis (wie Heinrichs v. Kleist*), in vielen
Sätzen seiner „Fragmente" ausgesprochen, aus denen ich nur drei heraus-
greife: Sehr. II, S. 133: „Wir haben zwei Systeme von Sinnen, die, so
verschieden sie auch erscheinen, doch auf das innigste mit einander
verwebt sind. Ein System heifst der Körper, eins die Seele. Gewöhnlich
wird dieses letztere System von dem ersteren afBziert. Dennoch sind
häufige Spuren eines umgekehrten Verhältnisses anzutreffen, und man
bemerkt bald, dafs beide Systeme eigendich in einem vollkommenen
*) Vgl. z.B. Briefe an Ulrike S. 64-65: „Denn zuletzt möchte alles Empfinden nur
von dem Körper herrühren".
^^Q Richard Weissenfeis.
,.echselverhältnis stehen sollten'', S. 154 fF: „Wer bei Erklärung des
n-ganismus keine Rücksicht auf die Seele nimmt und das geheimnisvolle
Sand zwischen ihr und dem Körper, der wird nicht weit kommen.
Leben ist vielleicht nichts anders, als das Resultat dieser Vereinigung,
die Aktion dieser Berührung" und S. 159: „Seele und Körper wirken
galvanisch auf einander". Drei Hauptsätze folgert Novalis aus dieser
Prämisse:
i) Das Physische ist zur Erklärung des Psychischen heranzuziehen
und umgekehrt.*) Man vergleiche z. B. Sehr. IL S. 133: «Wie wenig
hat man noch die Physik für das Gemüt und das Gemüt für die Aufsen-
welt benutzt. Verstand, Phantasie, Vernunft, dies sind die dürftigen
Fachwerke des Universums in uns. Von ihren wunderbaren Vermischungen,
Gestaltungen, Übergängen kein Wort." Hier liegt eine Wurzel der
romantischen Mystik, wie sie neben Novalis besonders Fr. Schlegel aus-
bildete. Auf einen bestimmten Fall angewandt erscheint diese Methode
z. B. bei Novalis Sehr. II, S. 163: „Weinen und Lachen mit ihren
Modifikationen gehören so zum Seelenleben, wie Essen und Secernieren
zum körperlichen Leben."
2) Körper und Seele können und müssen sich gegenseitig zur Ver-
vollkommnung dienen. Vgl. Sehr. II, S. 202: „Sollte dieses vielleicht
mit mehreren und vielleicht allen Seelenkräften der Fall sein, dafs sie
durch unsere Bemühungen äufserliche Werkzeuge werden sollen?"
III, S. 285 ff.: „Der Körper soll Seele, die Seele Körper werden, eins
durch das andere — dadurch gewinnen beide."
3) Der menschliche WUle hat vermöge dieses Zusammenhanges
zwischen Seele und Körper dieselbe unbedingte Macht über diesen, wie
über jene. Vgl. Novalis Seh. II, S. 132: „Kunst unsern Willen total zu
realisieren. Wir müssen den Körper wie die Seele in unsere Gewalt
bekommen", III, S. 222: „Unser Körper soll willkürlieh werden". Die
Möglichkeit einer solchen Beherrschung unseres Körpers sucht Novalis
Sehr. II, S. 134 nachzuweisen: „Ist unser Körper selbst nichts, als eine
gemeinschaftliche Centralwirkung unserer Sinne, haben wir Herrschaft
über die Sinne, vermögen wir sie beliebig in Thätigkeit zu versetzen, sie
gemeinschaftlich zu centrieren, so hängt es ja nur von uns ab, uns einen
Körper zu geben, welchen wir woUen". Das Faktum behauptet das
Fragpment Sehr. II, S. 135: „Überhaupt hat man genugsam Beispiele
von Menschen, die eine willkürliche Herrschaft über einzelne, gewöhn-
*) Dasselbe Prinzip findet sich bei Heinr. v. Kleist,
Vergleichende Studien zu Heinrich von Kleist I. 887
lieh der Willkür entzogene Teile ihres Körpers erlangt haben." Das an
vorletzter Stelle zitierte Fragment streift schon an die äufserste Konse-
quenz, welche Novalis aus seinen Sätzen über die unbedingte Macht des
Willens zieht, dafs nämlich auch unsere Geburt und unser Tod nur
Willensakte von uns sind oder sein können. Vorbereitend ist hier auch
schon das Fragment Sehr. II, S. 152: „Leben ist, wie Licht, der Er-
höhung und Schwächung und der graduellen Negation fähig.'' In Bezug
auf die Geburt kommt Novalis dann allerdings über eine Frage nicht
hinaus: Sehr. II, S. 229 fF.: „Aber dieser Entschlufs (irgendwo anzu-
fangen, um sich seinen Lebensberuf zu gestalten) kostet das freie Gefühl
einer unendlichen Welt und fordert die Beschränkung auf eine einzelne
Erscheinung derselben. Sollten wir vielleicht einem ähnlichen Entschlüsse
unser irdisches Dasein zuzuschreiben haben?" In Bezug auf das Sterben,
das für uns hier allein in Betracht kommt, drückt er sich bestimmter,
zuversichtlicher aus. An Just schreibt er über seinen Entschlufs, der
Braut im Tode zu folgen (Sehr. III, S. 19): „Ich weifs, dafs eine Kraft
im Mensehen ist, die unter sorgsamer Pflege sieh zu einer sonderbaren
Energie entwickeln kann", die Hauptstelle für diesen Punkt aber ist das
Fragment Sehr. II, S. 135: „Unser ganzer Körper ist schlechterdings
fähig, vom Geist in beliebige Bewegung gesetzt zu werden. — Dann
wird der Mensch erst wahrhaft unabhängig von der Natur, vielleicht
sogar im Stande sein, verlorene Glieder zu restaurieren, sieh blofs durch
seinen Willen zu töten."
Damit haben wir den Fall der Penthesilea, philosophisch entwickelt
durch konsequente Fortbildung der Fiehteschen Lehre. Und auch für
die Art und Weise, wie Kleists Heldin den Willensakt in Szene setzt,
nämlich einfach durch Konzentration ihrer Gedanken auf das eine Ziel,
finden wir die philosophische Erläuterung und Begründung in Novalis*
Fragmenten. Es ist die Lehre vom schaflFenden Denken, auch aus
Fichtes System gezogen, wie es überhaupt Novalis' und Fr. Schlegels
ausgesprochenes Streben war, Fichtes Idealismus ins Praktische zu über-
tragen, d. h. die Konsequenzen aus seiner Lehre zu ziehen, die er selbst
nicht zu ziehen gewagt hatte (vgl. Haym, Romant. Schule S. 332. 356).
Das Fragment Sehr. III, S. 223: „Eine Sache ist oder wird wie ich sie
setze" hätte auch Fichte schreiben können; Novalis schlägt mit dem
Fragment Sehr. III, S. 192: „Denken ist eine Muskelbewegung" kühn
die Brücke von der rein geistigen zur wirkliehen, körperlichen Welt und
baut auf diesen Grund drei Hauptsätze:
288 Richard WeissenfeU.
i) Blofs durch konzentriertes Denken erreicht der Mensch ein Ziel,
das aufser ihm liegt. Vgl. Sehr. II, S. 121: ^Jede AuGnerksamkeit auf
Ein Objekt oder (welches eins ist) jede bestimmte Richtung bringt ein
reales Verhältnis hervor, denn mit dieser Unterscheidung empfinden wir
zugleich die nun zu präponderieren anfangende Anziehungskraft jenes
Objekts oder die individuelle Strebekraft, welche, indem wir uns ihr
überlassen und ihre Empfindung nicht wieder verlieren, sondern sie fest
im Auge behalten, uns glücklich zu dem ersehnten Ziel unsers Verlangens
bringt." Eine Art physiologischer Erklärung dieses Prozesses versucht
Novalis Sehr. III, S. 355: „Blofse Gedanken, ohne eine gewisse Auf-
merksamkeit auf dieselben und Zueignung, wirken so wenig wie blofse
Gegenstände. Dadurch, dafs man häufig an reizende Gegenstände eines
Sinnes wirksam denkt, wird dieser Sinn geschärft — er wird reizbarer
So, wenn man häufig an lüsterne Dinge denkt, werden die Gegenstände
empfanglicher. **
2) Durch einfaches konzentriertes Denken vermag der Mensch etwas
aufser sich zu schaffen. Vgl. Sehr. 11, S. 145: „Die Scholastiker ver-
wandelten alle Dinge in Abstrakta. Schade, dafs sie nicht in Beziehung
auf diese Operation die entgegengesetzte versuchten," S. 154: „Die Denk-
organe sind die Weltzeugungs-, die Naturgeschlechtsteile". Auf seine
spezielle Lage nach Sophies Tode wendet er diese Lehre an Sehr. III,
S. 79: „Indem ich glaube, dafs Sophie um mich ist und erscheinen kann,
und diesem Glauben gemäfs handle, so ist sie auch um mich und er-
scheint mir endlich gewifs." Hier liegt die Erklärung für den roman-
tischen Glauben an Geistererscheinungen und überhaupt die Wimderwelt,
welche Novalis und seine Gesinnungsgenossen in ihre Werke hineinspielen
liefsen. Auch für diese Art des schaffenden Denkens sucht Novalis eine
natürliche Erklärung, wenn er Sehr. II, S. 147 auf einen bestimmten Fall
hinweist, in welchem reines Denken sich zur Erscheinung, allerdings nur
für das Gehör verdichtet: „In der Musik erscheint die Mathematik form-
lich als Offenbarung, als schaffender Idealismus."
3) Der Mensch vermag blofs durch konzentriertes Glauben einen
Zustand, eine Veränderung in sich selbst, die er will, wirklich hervor-
zubringen, so dafs hier also Glaube = Wille ist, dieselbe unbedingte
Macht hat wie dieser. Vgl. Sehr. lü, S. 298: „Glauben ist Wirkung
des Willens auf die Intelligenz. Glaubenskraft also Willen", S. 248:
„Unsere Meinung, Glaube, Überzeugfung von der Schwierigkeit, Leichtig-
keit, Erlaubtheit und Nichterlaubtheit, Möglichkeit und Unmöglichkeit,
Erfolg und Nichterfolg u. s« w. eines Unternehmens, einer Handlung be-
Vergleichende Studien zu Heinrich von Kleist L 289
Stimmt in der That dieselben", II, S. 248: „Wenn ein Mensch plötzlich
wahrhaft glaubte, er sei moralisch, so würde er es auch sein", S. 263:
„Durch den Glauben können wir in jedem Augenblick Wunder thun für
uns, oft für andre mit, wenn sie Glauben zu uns haben."
Der Ideengang, welcher zu der auffallenden Art des Selbstmords
der Penthesilea fuhren konnte, ist somit durch Zusammenstellung von
Gedankenfragmenten des Novalis konstruiert, und wir sehen Kleist hier
in voller Übereinstimmung mit der Gedankenrichtung seiner Zeit.*) Die
unbedingte Macht des Willens auch über den Körper vermöge des Zu-
sammenhanges, der zwischen diesem und der Seele besteht, ausgeübt
allein durch Konzentrierung der Gedanken auf das erstrebte Ziel, das ist
die Waffe, mit der Penthesilea sich tötet, und das ist das Dogma des
Novalis, bis zu welchem er die Fichtesche Philosophie ausbildet. So
realistisch Kleist gerade in der „Penthesilea" die Einzelheiten, besonders
den Dialog behandelt, die Tendenz des Ganzen beruht auf dem Fichte-
schen Idealismus. Wir stofsen damit auf den tiefsten, wesentlichsten der
vielen Widersprüche in Kleists Charakter, welcher denselben vom Anfang
seiner Entwicklung an zu einem tragischen macht: er ist zugleich Romantiker
d. h. Idealist und Realist. Die letztere Seite in ihm konunt in Brahms
Biographie vollkommen zur Geltung, dagegen verlangt nach meiner
Meinung, wie schon am Anfang dieses Aufsatzes angedeutet, der Zu-
sammenhang Kleists mit den Romantikern, wie überhaupt der Einflufs,
den die vorangegangene und gleichzeitige Litteratur und Philosophie auf
ihn übte, noch eine kräftigere Beleuchtung. Ich werde in einer folgenden
Studie einiges Material dazu beibringen, das sich mir während der
Untersuchung der eben behandelten Frage ergeben hat und das
zugleich die Möglichkeit bieten wird, auch diese noch etwas bestimmter
als bisher zu beantworten.
Zuvor aber sei mir noch ein Nachtrag zu vorstehendem Aufsatze ge-
stattet. Als dieser bereits abgeschlossen war, erregte die Stelle in Kleists
*) Um ähnliche Gedanken, wie sie der Katastrophe in Kleists „ Penthesilea** zu Grunde
liegen, bei Novalis nachzuweisen, hätte ich nur nötig gehabt, die Bndpunkte des ganzen
Ideenganges in seinen Aussprüchen zu belegen. Ich glaubte aber die ganze Gedanken-
entwicklung vom Anfang durch alle Konsequenzen bis zum Extrem darstellen zu müssen,
well nur daraus erhellt, dais Kleist in seiner Dichtung einer Ideenrichtung seiner ganzen
Zeit huldigt, wie sie z. B. in Novalis* Schriften, aber auch in denen vieler anderer Philo-
sophen und Dichter jener Periode zum Ausdruck kommt, und well vorläufig nur der Beweis
dieser Thatsache, nicht etwa die Konstatierung einer direkten Einwirkung des Novalis oder
gar einzelner Aussprüche desselben auf die Katastrophe der „Penthesilea'' meine Absicht
war (vgl. zudem über den Charakter der Fragmente des Novalis die Fortsetzung dieser Studien).
290 Riebard Weissenfeis.
Briefen an seine Braut S. 183: „Warum bin ich, wie Tankred, verdammt,
das, was ich liebe, mit jeder Handlung zu verletzen?" meine Aufmerk-
samkeit und veranlasst mich, meinen Vermutungen über die Entwickelung
der Penthesilea-Dichtung in Kleists Seele noch eine hinzuzufügen. Wenn
ich auch einen Einflufs von Ulrikes Wesen auf die Gestalt der Amazonen-
fiirstin annehmen zu dürfen glaube, so bleibt es, wie gesagt, immer noch
auffallend und wird auch durch Heranziehung der „Jungfrau von Orleans*"
nicht erklärt, wie der Romantiker Kleist gerade auf den antiken Stoff
seiner Tragödie verfallen ist. In dem romantischen Epos Tassos, das
selbst unter dem Einflufs der Antike steht, scheint sich mir nun ein
litterarisches Vermittlungsglied zu bieten. Die Gründe für diese Ver-
mutung nehme ich aus den Charakteren und dem Verhältnis der Haupt-
personen in Kleists Tragödie, aus anderweitigen Einwirkungen des
italienischen auf den deutschen Dichter, die mir wahrscheinlich sind, und
aus der Übereinstimmung in Einzelheiten zwischen „Penthesilea^ und dem
„Befreiten Jerusalem".
I. Auch der Kleistschen Penthesilea tragfisches Geschick ist es, das,
was sie liebt, durch ihre Handlungen zu verletzen. Nun steht aber dem
Tankred, mit dem sich Kleist in dieser Beziehung vergleicht, in Clorinde
eine Fig^r gegenüber ganz ähnlich der Penthesilea, und zwischen beiden
tobt trotz gegenseitiger Liebe derselbe Kampf bis in den Tod, wie bei
Kleist zwischen Achilles und Penthesilea. Freilich fällt nur Clorinde, ent-
sprechend ihrem Urbild aus dem Trojanischen Sagenkreise, aber Tankred
ist nahe daran sich aus Schmerz darüber den Tod zu geben und seine
Phantasien über ein gemeinschaftliches Grab mit der geliebten Feindin
erinnern an Kleists Idee des Zusammensterbens und an die Stimmung,
welche er aus dieser heraus seiner Penthesilea über der Leiche des
Achilles geliehen hat. Aufser dem erwähnten Paar giebt es aber noch
ein ganz ähnliches in Tassos Gedicht: Armida und Rinaldo. Auch
zwischen diesen beiden ein jäher Umschlag von Liebe in Hafs und von
diesem wieder in jene. Schwankend zwischen beiden Empfindungen wird
Armida z. B. Ges. XX, Str. 62 ff. geschildert:
Zorn treibt die Hand zu grausam heft'gem Walten,
Doch Liebe fleht und will zurück sie halten.
Die Liebe wagt's, dem Zorn zu widerstreben,
Und offenbart den still verborgnen Brand.
Dreimal will sich der Arm zum Bogen heben
Und dreimal sinkt die eingehaltne Hand.
Doch sieg^ der Zorn u. s. w.*)
*) Nach Gries* Obersetzung.
Vergleichende Studien zu Heinrich von Kleist. I. 29 t
Auch sie „halb Furie, halb Grazie" wird nach beiden Seiten ausfuhr-
lich geschildert und neben grausiger Beschreibung ihres Zornes, ihrer
Wut steht das liebliche Bild vom Schwan, das auch Kleist für seine
Penthesilea im letzten Auftritt gebraucht. Überhaupt findet sich der
Wechsel zwischen lieblichen und wilden Szenen, zwischen Idyll und
Kampf, der immer an Kleists Dichtungen als charakteristisch hervor-
gehoben wird, in gleich hohem Grade bei Tasso. Ich will damit nicht
sagen, dafs Kleist diese Kompositionsart aus Tasso gelernt habe, aber
die Neigung nach dieser Seite, die von Anfang an in ihm lag, hat ihn
sicher an dem italienischen Dichter, der ihm hierin verwandt war, be-
sonderes Gefallen finden lassen und kann sich dann durch die Lektüre
desselben verstärkt und ihn veranlafst haben, nach einem Stoff fiir seine
Ideen zu suchen, in welchem er seine Naturanlage so recht bethätigen
könnte. Da kann er nun durch Tasso auf dessen Vorbild Homer und
überhaupt den Trojanischen Sagenkreis mit der romantisch rührenden
Gestalt der Penthesilea geleitet worden sein. Jedenfalls erinnert nicht nur
diese Hauptfigur an die verschiedenen Amazonen im „Befreiten Jerusalem"
sondern auch der ganze Ton der deutschen Tragödie, die Mischung ent-
gegengesetzter Elemente in ihr, „die aus dem Reiche der Verwesung auf-
blühenden Blumen der Schönheit" (Kleists eigene Worte) an den Wechsel
grausiger und lieblicher Bilder in dem italienischen Epos.
2. Dafs Kleist den Tasso gekannt hat, verrät schon der Vergleich,
den er zwischen sich und Tankred zieht, und diese Kenntnis, ja eine Be-
geisterung für das italienische Gedicht wäre auch ohne solches ausdrück-
liches Zeugnis als eine Art litteraturgeschichtlicher Notwendigkeit voraus-
zusetzen, da gerade in der Zeit, in welcher Kleist sicher die meisten
litterarischen Anregungen erhalten hat, 1800 — 1803 Gries seine epoche-
machende Übersetzung des Tasso veröffentlichte. Aufserdem giebt es
aber noch andere Anzeichen, dafe die Periode der romantischen Ritter*
weit, welche im „Befreiten Jerusalem" poetische Gestalt und Verherr-
lichung gefunden hat, Kleists Einbildungskraft lebhaft beschäftigte. Ob
der Stoflf zu dem geplanten Drama „Peter der Einsiedler" der italienischen
Dichtung entnommen war, wissen wir nicht, jedenfalls spielt jener Mönch
eine bedeutende RoUe in Tassos Werk. Robert Guiskard wird nur ge-
legentlich (Ges. XVII, Str. 78) in demselben erwähnt, gehört aber als
Vater eines der Ritter des ersten Kreuzzuges in den Kreis der Ideen, die
sich an das Gedicht knüpfen. Und nun ist die bekannte Gedankenver-
bindung zu beachten, die zwischen „Robert Guiskard" imd „Penthesilea"
für Kleist bestand. Das vergebliche Ringen nach seinem Ideal während
292 Richard Weissenfels.
der Arbeit an der ersteren Tragödie wird poetisch gestaltet in der
zweiten, es ist also wahrscheinlich, da(s die Grundidee der letzteren sofort
nach der Verzweiflung am „Guiskard** oder vielmehr nach der Genesung
von der Krankheit, die ihm jene zugezogen, in Kleist aufgekeimt ist und
dafs darauf die neuen dichterischen Pläne zu beziehen sind, die er schon
während der ernsthaften Bewerbung um ein Amt seiner Schwester gegen-
über andeutete (vgl. Brahm S. 132 ff.). Dann ist es aber weiter nicht
unwahrscheinlich, dafs ihm, dessen Phantasie nun einmal durch seine
früheren dichterischen Beschäftigungen und Pläne für die erste Zeit der
Kreuzzüge geweckt und begeistert war, die Gestalten der Tassoschen
Amazonen im allgemeinen und der Clorinde im besonderen und vermittelst
derselben die ihres Urbildes Penthesilea vor die Augen getreten sind und
ihm auf diesem Wege imter dem ferneren Einflufs des von ihm getadelten
unweiblichen Wesens seiner doch so heifs geliebten Schwester Ulrike
der Einfall gekommen ist, in jene romantische Heldin der antiken Sage,
welche, wie er, für das Herausstreben aus den natürlichen Schranken
so grausam gebüfst hat, die eigene seelische Erfahrung hineinzu-
arbeiten.*)
Auch in Kleists Novelle „der Zweikampf scheint mir eine Reminiscenz
an Tasso hineinzuspielen. Die Situation (Werke IV, S. 249 ff.), wie Litte-
garde und Friedrich, die sich lieben, auf Einem Scheiterhaufen festge-
bunden im Moment der höchsten Gefahr durch das Erscheinen Jakobs
des Rotbarts gerettet werden, worauf dann alsbald die Hochzeit folgt,
erinnert an die Episode von Olind und Sophronia, die aus gleicher Lage
diu-ch die Ankimft Clorindens im letzten Augenblick befreit und ein glück-
liches Paar werden. Ich glaube, dafs die Entstehung oder wenigstens die
erste Redaktion dieser Kleistschen Novelle nicht in seine Berliner Redakteurs-
periode, wie Zolling Werke IV, S. XV will, zu setzen ist, sondern in die-
selbe Zeit, in welcher, wie oben vermutet, Tassos Werk die Phantasie
unseres Dichters beschäftigte. Die Zeit, in welche die Handlung des
^Zweikampfs^ fallt, ist dieselbe wie die, in welcher Kleists entworfenes
Drama „Leopold von Österreich^ spielt, das Lokal, Breisach und Basel,
dem Schauplatz jener Tragödie benachbart, und wie der Plan der letzteren
so ist vielleicht auch die Erzählung oder wenigstens ein Teil der-
*) Übrigens ist auch Guiskards historische Gemahlin Gaita eine Art Amazone. Was
sie für eine Rolle spielte in der Quelle, aus welcher Kleist den Stoff zu seiner Gulskard*
Tragödie geschöpft hat, und ob auch von ihr sich Verbindungsfäden zur Amazone Penthe-
silea ziehen lassen, weifs ich nicht.
Vergleichende Studien zu Heinrich von Kleist. I. 298
selben*) durch irgend eine Anregung (Tradition o^ier Chronik) entstanden,
als der Dichter sich 1801 — 1802 in den genannten Gegenden aufhielt.
3) Anklänge in Einzelheiten der „Penthesilea" an das „Befreite
Jerusalem", von denen ich schon unter Nr. i einige angedeutet habe,
finden sich noch mehrere.
Die Erzählung von dem ersten Zusammentreffen und den Kämpfen
zwischen Achilles und Penthesilea (Vers 68 — 192) ähnelt in fast allen
Momenten der Schilderung der gleichen Begebenheit zwischen Tankred
und Clorinde (Ges. III, Str. 21 ff.). Tankred erstarrt beim ersten Anblick
der Jungfrau, vergifst nicht nur jeden Widerstand gegen ihre Angriffe,
sondern rächt sogar seine Feindin an einem Ritter seines eigenen Heeres,
der sie verwundet hat, genau dasselbe Benehmen, das von Penthesilea
dem Achill gegenüber berichtet wird.
Die Steigerung des Gräfslichen, dafs Penthesilea den Achilles, nach-
dem sie ihn tötlich verwundet hat, noch von ihren Hunden zerfleischen
läfst, findet sich bei Tasso zwar nicht in Wirklichkeit, aber etwas ganz
Ahnliches in Tankreds Phantasie (Ges. XU, Str. 78). Hier ist auch mit
Rücksicht auf das, was ich vorher von der Ideenverbindung zwischen
„Guiskard" und „Penthesilea" gesagt habe, zu beachten, dafs der Gipfel
der Gräfslichkeit in der letzteren Tragödie, die Teilnahme der Heldin an
der Arbeit ihrer Hunde mit ihren eigenen Zähnen, auch im „Guiskard"
erreicht wird in der Schilderung des Pestkranken V. 511 ff.
Ja, in des Sinns entsetzlicher Verwirrung,
Die ihn 2ulet2t befllllt, sieht man ihn scheufslich
Die Zähne gegen Gott und Menschen fletschen,
Dem Freund, dem Bruder, Vater, Mutter, Kindern,
Der Braut selbst, die ihm naht, entgegen wQtend.
Ich weifs nicht, ob nicht eine genauere Untersuchung noch mehr
Ähnlichkeit in Einzelheiten zwischen Tassos und Kleists Dichtung ergeben
würde, die Bildersprache z. B., in beiden gleich üppig und glühend,
fordert zu einer eingehenden Vergleichung heraus, ferner finden sich zwei
formale Eigentümlichkeiten des Kleistschen Stils überhaupt, der häufige,
ungewöhnliche, kühne Gebrauch des Dativs und die kunstvolle, wirksame
*) Es sind eigentlich zwei Erzählungen, nur die Quelle der einen ist bisher entdeckt
(vgl. Zolling Werke IV, S. XV fif.), und in ihr kommt die oben behandelte Situation nicht
vor, dieselbe ist also eine Zuthat Kleists.
Ztachr. l vgl. Litt.-Geach. I. 20
1
394 Richard Weissenfeis.
Verwendung der Redefigur des Chiasmus*) in Grics' Tassoübersetzung
in auffallend ähnlicher Weise.
Wenn meine Vermutungen über die verschiedenen teils aus dem
Leben, teils aus der Litteratur stammenden Einflüsse auf Kleists „Penthe-
silea" richtig sind, so haben wir in der Figur der Hauptheldin sowohl
wie in der des Achilles ein Gemisch von Elementen aus mehreren
Charakteren anzuerkennen, in Penthesilea etwas von Kleist selbst, von
Ulrike, von Tankred, von Clorinde und Armida, in Achilles etwas von
Kleist und etwas von Clorinde. Ein solcher Mischungsprozess, der nach
meiner Ansicht fast allen poetischen Charakteren zu Grunde liegt, geht
natürlich dem Dichter selbst unbewufst in seiner Seele vor und die nach-
trägliche Kritik mufs sich begnügen, die einzelnen Elemente mehr fühlend
und ahnend, als beweisend und zergliedernd neben einander zu stellen,
mufs sich aber anderseits jedenfalls hüten, alle Züge eines solchen
Dichtergebildes, wie z. B. die Penthesilea ist, in einem einzigen einmal
entdeckten Urbilde wiederfinden zu wollen. Um solche Einseitigkeit zu
vermeiden, ist es inrnier von Nutzen, für den einzelnen Fall alle überhaupt
möglichen Beziehungen und Gedankenverbindungen zu enthüllen und zu
erörtern, wenn auch der Versuch vergeblich wäre, nun noch tiefer in die
Art, wie die verschiedenen Elemente neben oder auf oder gegen ein-
ander in der Seele des Dichters gewirkt haben, einzudringen.
Freiburg i. B.
*) Zwei Erscheinungen, die bisher noch nicht beachtet sind, die erste von beiden
wenigstens nur flüchtig von Zolling in Kleists Werken 11, S. 341, Anm. Eine zusammenhängende
Darstellung des Kleistschen Stiles fehlt überhaupt noch und könnte bei der Originalität des
Dichters zu interessanten Bemerkungen nicht nur über die Art seines poetischen Schaffens,
sondern über sein ganzes Wesen führen.
-•—
Stoffwandlung in chinesischer Dichtung.
Von
Woldemar Freiherrn von Biedermann.
Die Chinesen besitzen mehrere Schriften über Dichtung, meines Wissens
ist aber keine derselben vollständig in eine europäische Sprache
übersetzt. Die einzelnen Stellen, die uns daraus bekannt worden sind, lassen
die chinesische Dichtungslehre in Vergleich mit den deutschen Ästhetiken
mitunter fast kindlich erscheinen, wir haben indessen Ursache anzunehmen,
dafs denn doch die Chinesen über wesentliche Grundsätze der Dichtung
mit uns übereinstimmen. Es ist nicht die Absicht das gebotene Material
zu ausfuhrlicher Begründung dieser Überzeugung auszunutzen; Zweck
dieses Aufsatzes ist vielmehr, an einem einzigen Beispiel zu zeigen, wie
chinesiche Dichter eine nackte geschichtliche Thatsache schöpferisch zu
gestalten verstehen, und zwar verschieden, je nachdem sie dieselbe in
der Lyrik, im Epos^ oder im Drama darstellen. Die Gesetze der Dar-
stellung, welche unsere Ästhetiker aus dem Wesen einer jeden Dichtung
heraus entwickeln, — oder wenigstens zu entwickeln scheinen — mag
umgekehrt bei den Dichtern Chinas auf Grund der beobachteten Wirkung
ihrer Leistungen zu praktischen Regeln erhoben worden sein. Doch wie
gesagt, wir wollen hier die chinesische Kunsdehre nicht untersuchen,
sondern ihre Ausübung in folgendem Falle kennen lernen.
In dem Geschichtswerke Thung-kian-kong-mu wird erzählt:
„Als Hu Han Je, der Tschen-ju der Hiung-nu, erfahren hatte, dafs
[sein Nebenbuhler, der Tschen-ju] Tschy Tschi [von den chinesischen
Truppen] getötet worden war, war er darüber zugleich erfreut und
erschreckt. Er ging an den Hof des Kaisers [von China]» Er gab
daselbst seinen Wunsch zu erkennen, dem kaiserlichen Hause von Han
verschwägert zu werden. Der Kaiser hatte in seinem Frauenhause eine
20*
1
296 Woldemar von Biedermann.
Tochter aus guter Familie, Wang Ziong geheifsen, mit Zunamen Tschau
Chün; diese gab er ihm [zur Ehe].
Es geschah dies zu einer Zeit — 23 v. Ch. — in welcher die Mongolen,
zu denen die Hiungnu gehören, dem chinesischen Reiche noch nicht so
furchtbar gegenüber standen, wie in spätem Jahrhunderten; damals hatte
ein Mongolenchan noch so viel ehrfurchtsvolle Scheu vor dem mächtigen
Kaiserstaate, dafs er es für eine erstrebenswerte Auszeichnung hielt,
auch nur eine ins kaiserliche Frauenhaus aufgenommene Jungfrau als
Gattin bewilligt zu erhalten, wodurch er nur etwa in dem Sinne mit dem
Kaiser verschwägert wurde, wie Goethe im Buch der Liebe des „West-
östlichen Diwan", in dem Gedicht „ Geheimstes "*, das Wort „Schwager"
gebraucht.
Der obigen geschichtlichen Aufzeichnung fugt die Überlieferung
hinzu, dafs Tschau Chün, bevor sie noch der Chan Hu Han Je empfangen
konnte, am chinesisch-mongolischen Grenzflusse Amur verstorben sei;
ihre Grabstätte wird noch heute gezeigt und heifst: das grünende Grab.
Es ist eine Oase in öder Gegend.
Dies sind die einfachen Umstände, deren sich die Dichtung bemächtigt
hat, sie in verschiedener Gestalt aus dem Gebiete nüchterner, geschicht-
licher Thatsachen herauszuheben und sie als die Geschichte eines Menschen-
lebens frei zu behandeln.
Ein Roman, der diese Geschichte zum Gegenstande hat, beginnt
mit der Versetzung der erst siebenjährigen Tschau Chün in das kaiser-
liche Frauenhaus. Unter den Schönheiten, welche im ganzen Reiche
von eignen Beamten ausgesucht wurden, um zu Gattinnen des Kaisers
oder als deren Dienerinnen erzogen zu werden, pflegte der Kaiser die
Wahl seiner Lebensgefährtinnen nach den Bildern auszuwählen, welche
er von den zahlreichen Bewohnerinnen des Frauenhauses fertigen liefs.
Der damit betraute Maler wufste sich die Wichtigkeit, welche ein
schönes Bildnis hierdurch gewann, dadurch zu nutze zu machen, dafs er
sich von den ihm sitzenden Jungfrauen ein Geschenk ausbedung, um wo-
möglich durch seine Kunst zu bewirken, was vielleicht die persönliche
Erscheinung nicht vermocht hätte. Tschau Chün war sich aber ihrer
aufserordentlichen Schönheit so sehr bewufst, dafs sie, als die Reihe des
Gemalenwerdens an sie kam, das übliche Geschenk verweigerte. Der
Maler rächte sich jedoch: er verunstaltete das Antlitz der Jungfrau im
Bude so sehr, dafs der Kaiser, als das letztere ihm vorgelegt worden
war, davon absah, seine Wahl auf Tschau Chün zu richten, — Um diese
Zeit nun bewarb sich der Mongolenffirst Hu Han Je um eine beliebige
Angehörige des Kaiserhauses; der Kaiser fand die Gelegenheit günstig,
Stoffwandlung in chinesischer Dichtung. 297
sich der häfslichen Bewohnerin des Palastes zu entledigen und bestimmte
sie zur Gattin jenes Fürsten. Als er sie den Gesandten desselben über-
geben wollte, erblickte er Tschau Chün zum erstenmal von Angesicht,
und wurde von ihrer wunderbaren Schönheit so ergriffen, dafs er in
heftiger Liebe fiir sie entbrannte — ein Gefühl, das sofort auch bei
Tschau-Chün für den Kaiser zum Durchbruch kam. Aber das Geschehene
war nicht rückgängig zu machen: Tschau Chün mufste den Gesandten
des Chans folgen. Als sie aber an den Amur kam und die Grenze des
Kaiserreichs überschreiten sollte, stürzte sie sich von ihrem Pferde herab
in den Strom und fand dabei den Tod. Weit und breit verdorrte das
Gras dort, wo sie den Tod suchte; nur ihr Grab begrünte sich wieder.
— Der Kaiser liefs zwar den Maler und seine Schuldgenossen hinrichten,
verfiel aber in tiefe Schwermut.
Wie Shakespeare, wie deutsche Bühnendichter bis ins XVIII. Jahr-
hundert, schöpften auch die chinesischen Bühnendichter ihre Stoffe haupt-
sächlich aus Novellen und Märchen. Auch die durch den Roman gewisser-
mafsen erst geschaffene Geschichte der Tschau Chün griffen sie auf, um
sie der Bühne zuzuführen. Dies geschah schon in dem goldnen Zeitalter
der Bühnendichtung Chinas, vom Xni. zum XIV. Jahrhundert, durch
Ma Tschi Juen. Dieser schrieb darnach sein noch heute berühmtes und
gern gesehenes Bühnenstück, welches den langen Titel fuhrt: „Zerstörter
dunkler Traum; einsamer Jengovogel; Trübsal im Hause Han". Gewöhn-
lich wird es blos mit dem letzten Namen — chinesisch: Han-kung-zieu —
aufgeführt.
Der Gegenstand dieses Schauspiels ist auch uns nicht fremd: er
klingt an, an die Geschichte Elfriedens, die König Edgar von England
sich zur Gattin erkoren, ihm aber zuerst der abgesandte Werber durch
falsche Berichte entzogen hatte, um sie selbst zu heiraten, wie die Gesta
regum Anglorum erzählen. Professor Erich Schmidt hat die Bühnen-
bearbeitungen, welche diese Geschichte in England und Deutschland er-
fahren hat, einer Musterung unterworfen. (Beilage zur Allgemeinen
Zeitung 1879, Nr. 44, nun in den „Charakteristiken** Berlin 1886).
Der chinesische Bühnendichter erkannte indessen, dafs, um von der
Bühne aus zu wirken, die Darstellung des Romans nicht ohne weiteres
zu gebrauchen war. Die UnwahrscheinHchkeiten, dafs das Büdnis einer
Bewohnerin des Palastes boshaft entstellt werden konnte, ohne dafs jemand
Einspruch dagegen erhob, dafs der Kaiser von der hervorragenden
Schönheit einer von Kindheit an in seiner Nähe lebenden Jungfrau keine
Kunde erhielt, dafs er dieselbe nicht eher zu Gesicht bekam, als bis er
2^ Woldemar von Biedermann.
sie der Gesandtschaft des Chans feierlich übergeben wollte, dafs er als-
dann, wenn er und die Jungfrau so plötzlich von glühender Liebe zu
einander ergriffen wurden, die Übergabe an die Gesandtschaft nicht noch
hätte rückgängig machen können, — alle diese UnwahrscheinUchkeiten
vermochte wohl der Erzähler seinen Hörern und Lesern durch geschickte
Begründung glaublich zu machen, allein der Bühnendichter, dessen Dar-
stellung von Augen aufgenommen oder doch kontrolliert wird, die weniger
leicht zu täuschen sind, als die vom Erzähler unmittelbar in Anspruch
genommene Phantasie, mufste gewissenhafter zu Werke gehen. Ma Tschi
Huen hat sich dieser Aufgabe mit anerkennenswerter Überlegung entledigt*
Zunächst ist es eine geschickte Abweichung von der Geschichte,
dafs er den Vorgang in die Zeit des Kaisers Juen Ti, ins III. Jahrhundert
n. Chr. verlegt, wo die Mongolen den Chinesen bereits Verderben
drohend gegenüberstanden; dadurch wird erreicht, dafs die Möglichkeit,
die zur Übergabe an die Gesandtschaft bestimmte Tschau Chün durch
eine andere Palastjungfrau zu ersetzen, von vom herein abgeschnitten ist.
Das Schauspiel beginnt nun auch mit einem Vorspiel im Lager der
Hiungnu mit einem Selbstgespräch des Chans, worin er es zwar als eine
Ehre bezeichnet, mit dem Kaiserhause von China verwandt zu sein und
der Gesandtschaft gedenkt, welche er abgefertigt habe, um die Hand
einer Prinzessin vom Kaiser zu erbitten, allein auch die Siege auf-
zählt, welche die Mongolen über die Chinesen errungen haben, so dafs
man begreift, er werde im Stande sein, einer ernstlich gemeinten Forderung
an den Nachbarstaat den gehörigen Nachdruck zu geben.
Die zweite Szene des Vorspiels versetzt uns in den kaiserlichen
Palast und fuhrt uns den Bösewicht des Stückes, den Minister Mau Jen
Scho vor, der sich selbst als einen Mann schildert, der mit allen mög-
lichen Mitteln sich in Macht und Ansehen zu setzen sucht und der deshalb
auch strebt, den Kaiser von seinen weisen Käthen fern zu halten und
ihn durch Umgang mit Frauen den Regierungsgeschäften zu entfremden.
Den hinzukommenden Kaiser bestärkt er daher in dem Wunsche, das
Kaiserliche Frauenhaus wieder zu füllen und sich dadurch eine Unter-
haltung zu verschaffen, die der ärmste Landmann sich gönne; er schlägt
vor, die schönsten Jungfrauen im ganzen Reiche hierzu aussuchen zu
lassen. Der Kaiser geht darauf ein und ernennt sofort Mau Jen Scho zu
dem die Auswahl der Schönen leitenden Minister.
Zu Anfang des ersten Aktes erzählt Mau Jen Scho, wie er das ihm
übertragene Amt benutzt habe, Reichtümer zu sammeln, indem er sich
beträchtliche Summen von den Angehörigen der ausgewählten Jungfrauen
Stofifwandlung in chinesischer Dichtung. 899
habe zahlen lassen. Nur bei einer derselben hätten die Eltern unter
Vorschützung der Armut den geforderten Preis nicht zahlen wollen, zumal
sie überzeugt gewesen seien, dafs ihrer Tochter bei ihrer unvergleich-
lichen Schönheit die Aufnahme in den Kaiserpalast nicht entgehen könne.
Auch Mau Jen Scho begnfigt sich aber nicht, sie bei der Jungfrauen-
auswahl zu übergehen, sondern nimmt sie unter die Auserwählten auf, ver-
unstaltet aber ihr Bild, um dadurch eine Annäherung des Kaisers zu ver-
hindern und damit das Mädchen zeidebens unglücklich zu machen. So
rächt er sich; ähnlich wie Wachtmeister Just in ^Minna von Bamhelm"
meint er: ^Wer keine Galle hat, ist kein vollkommener Mensch^.
In der folgenden Szene finden wir Tschau Chün im Palaste einsam
trauernd« Sie kennt die Gründe ihrer Zurücksetzung und vertreibt sich
die trüben Stunden durch Lautenspiel. Sie belauscht der Kaiser, der
seinen Palast durchwandelt und beklagt, dafs er nach den ihm vorge-
legten Bildnissen keine Jungfrau würdig gefunden habe, ihm näher zu
treten, weshalb er sich überzeugen wolle, ob der Anblick ihrer Persön-
lichkeiten einen günstigeren Eindruck hervorzubringen im stände sei. Er
läfst nun auch die Lautenspielerin vor sich kommen, ist entzückt über
ihre Schönheit, begreift nicht, dafs er von ihr noch nicht gehört und er-
fahrt nunmehr den Streich des Ministers Mau Jen Scho. Augenblicklich
befiehlt er, denselben zu enthaupten.
Der zweite Akt zeigt wieder das mongolische Lager als Schauplatz.
Der Chan zürnt dem Kaiser, dafs er ihm die Hand einer Prinzessin ver-
weigert habe. Er beschliefst nunmehr China mit Krieg zu überziehen.
Zu ihm tritt Mau Jen Scho, der sich der ihm drohenden Strafe durch die
Flucht entzogen hat und den Zorn des Chans benutzend, ihm das unent-
stellte Bildnis der Tschau Chün vorzeigt, indem er ihm vorschlägt, nun-
mehr diese zur Gattin zu begehren; er bemerkt, der Kaiser könne ihm
den Antrag nicht abschlagen, wenn er dadurch einen Krieg herauf-
beschwören würde. Der Chan, ganz Feuer und Flamme beim Anblick
der Schönheit der Tschau Chün, giebt sofort den Befehl, eine neue
Gesandtschaft an den Kaiser von China abzufertigen, läfst aber zugleich
seine Truppen eine drohende kriegerische Stellung gegen den Nachbar-
staat einnehmen.
Die nächste Szene geht wieder im Palaste der Han vor sich. Tschau
Chün findet selbst, dafs der Kaiser aus übergrofser Zärtlichkeit gegen
sie seine Regentenpflichten vernachlässige. Derselbe kommt hinzu, über-
rascht Tschau Chün am Putztische und behandelt sie mit äufsersten Rück-
sichten. Diese Idylle unterbricht unsanft der Präsident des Geheunen
800 Woldemar von Biedermanii.
Rats, um die Ankunft der neuen Gesandtschaft Hu Han Je's und dessen
Bewerbung um Tschau Chün nebst der Kriegsdrohung im Verweigenings-
falle zu melden. Ma Tschi Juen hat wohl gefühlt, dafs die eigentlich
unbegreifliche Nachgiebigkeit des Kaisers einer besonderen Rechtfertigung
und Erklärung bedürfe. Hat er deshalb schon von Anfang an die
Schwäche des Reiches der Han gegenüber den Mongolen hervorgehoben^
so hat er nun auch den Kaiser mit Geschick als ganz haltungs- und
kraftlos hingestellt. Auf die Meldung des Präsidenten bricht er in die
Worte aus: „Unterhalten und befehligen wir umsonst vier Heere? Sind
umsonst die Haufen von Regierungs- und Kriegsbeamten um unseren
Palast? Wer von ihnen wird die fremden Horden von uns abhalten?
Fürchten sie alle die Schwerter und Pfeile der Mongolen? Wenn aber
sie jede Anstrengung zu Vertreibung der Barbaren scheuen, wie können
sie von der Fürstin verlangen, dafs sie dieselben abwehrt?" Der Geheimrats-
präsident ermahnt den Kaiser dringend, den Frieden des Reichs nicht seiner
Liebe zu gefallen aufzuopfern und erinnert an den Kaiser Tscha Wong,
dem die Liebe zu der grausamen Taki Reich und Leben kostete. Erst
als ein Offizier der Leibwache meldet, dafs der mongolische Gesandte
dränge, zur Audienz vorgelassen zu werden, läfst der Kaiser diesen vor.
Aber auf des Gesandten Ansprache giebt er noch keinen Bescheid; als
indessen der Gesandte abgetreten, erklärt Tschau Chün selbst sich bereit,
für das Wohl des Reichs sich zu opfern, wenn sie auch nicht zu fassen
vermag, wie sie der Liebe des Kaisers entsagen könne. Nachdem letzterer
endlich einsieht, dem Verlangen des Mongolen-Chan sich fügen zu müssen,
erklärt er, die Fürstin doch noch bis zur Pahlingbrücke begleiten zu
wollen und verharrt bei diesem Vorsatz, obwohl der Präsident vorstellt,
dafs er sich dadurch dem Spotte aussetze. f
Der dritte Akt läfst uns zuerst die mongolische Gesandtschaft, Tschau
Chün und den Kaiser mit Gefolge von Musikcorps, Beamten und Soldaten
an der Pahlingbrücke sehen; der Kaiser dehnt den Abschied von der
Fürstin aus bis der Gesandte zur Trennung mahnt, die dann unter beider-
seitigen Klagen erfolgt.
In der kurzen zweiten Szene tritt der Chan Hu Han Je auf mit Tschau
Chün, die er zur Königin, und zugleich d6n Abschlufs des Friedens mit
China erklärt.
In der dritten Szene am Grenzflufs Amur bringt Tschau Chün ein
Trankopfer, ruft dem fernen Kaiser ein Lebewohl zu und stürzt sich hier-
auf in die Fluten. Vergebens versucht der Chan sie zu retten. Ihr Tod
bewegt ihn sehr. Er beschliefst überdies nicht nur den Anstifter des
Stofiwandlung io chinesischer Dichtung. 801
— • — ■ — - ■ ■ - — — - .—.-..■ ■ . — ^^^ ■ ■ ■ ■ - ^^^^^—
Unheils, Mau Jen Scho, auszuliefern, sondern gelobt auch, Tschau Chüns
Andenken zu bewahren und deshalb mit dem kaiserlichen Hofe von Han
in Friede und Freundschaft zu leben.
Nach unserm Geschmacke würde hiermit das Stück endigen: Tschan
Chüns Selbstaufopferung hat ihren Zweck erreicht. Der Schlufs mit
seinem versöhnlichen Ausblick in die Zukunft würde dem von „Romeo
und Julia** ähneln. Doch die chinesische Kunsdehre verlangt unvermeid-
lich die ausgesprochene Bestrafung des Bösewichts. Daher versetzt uns
der vierte und letzte Akt wieder in den Kaiserpalast. Der Kaiser be-
jammert noch den Verlust der geliebten Fürstin. Er hängt ihr Bildnis
auf und bringt vor demselben Opfer dar. Ermattet von seinem Schmerze
entschlummert er, da erscheint ihm Tschau Chün im Traum und spricht :
.„Wie eine Gefangene den Barbaren ausgeliefert, um sich ihren Forderungen
gefügig zu zeigen, würden sie mich in nördliche Ländereien entfuhrt
haben; aber ich ergriff eine günstige Gelegenheit sie zu täuschen und
flüchtete mich wieder hierher. Ist dies nicht der Kaiser, mein Herr?
Herr! Sieh mich Dir zurückgegeben." Darauf erscheint im Traumbild
ein Mongole und sagt: „Während ich gerade schlief, hat diese Dame,
die uns anvertraut war, die Flucht ergriffen und ist heimgekehrt. In ihrer
raschen Verfolgung habe ich den kaiserlichen Palast erreicht. Ist es nicht
diese?" Er fuhrt sie dann hinweg.
Dieses Traumbild ist wiederum etwas ganz anderes, als die in unseren
Dichtungen vorkommenden Traumerscheinungen. Bei uns sind sie ge-
wöhnlich ein, wie aus einer andern Welt herzukommendes Prophetisches,
während jener Traum des chinesischen Kaisers nur ein natürlicher Traum
ist, der zwar etwas Falsches vorgaukelt, aber etwas, das der Kaiser sich
wohl als eine Möglichkeit in seiner Phantasie vorgespiegelt haben mochte.
Es ist bei den Chinesen alles realistischer.
Der Kaiser, aus dem Schlaf auffahrend, ruft jedoch aus wie Egmont:
„Jetzt eben sahen wir die Fürstin zurückgekehrt — aber ach! wie schnell
ist sie wieder verschwunden.
Bei des Tages Glänze kommt sie
Nicht auf meinen Ruf, doch jet2t,
In des Morgens Dämmrung, hat ihr
Antlitz mich im Traum ergötzt.
Horch I die Jengo schreini Bei ihnen
Trennet Gatten nicht der Tod;
Wissen sie, dafs ihrer Keinem
Gröferer Schmerz als mir gedroht?*^
Endlich zeigt der Präsident des Geheimen Rats die Auslieferung
Mau Jen Schos an. Sofort rafft sich der Kaiser auf, um den Hinrichtungs-
802 Woldemar von Biedermann.
Befehl zu erneuern als Sühne für den durch des Ministers Bosheit verur-
sachten Tod der schönen Fürstin.
Eine Ballade endlich über diese traurige Begebenheit stand in der
Übersetzung des verstorbenen Oberst v. Seubert in Nr. 43 des „Magazins
für die Litteratur des In- und Auslandes** vom Jahre 1879. Vorwiegend
lyrisch stellt sie nur den Ausgang der Begebenheit dar, und zwar als Gefuhls-
durchbruch Tschau Chüns. Dabei ist weniger ihrer Liebe zum Kaiser,
als das Heimweh der aus einer gebildeten Welt in eine rohe übergehen-
den Frau als Beweggrund des Selbstmordes zu erkennen. Es sei erlaubt
das Gedicht zu wiederholen, nicht blos als schicklichsten Abschlufs
unseres Aufsatzes, sondern besonders deshalb, weil v. Seubert dasselbe
nicht vollständig wiedergegeben, sondern die erste Strophe ausgelassen
hatte. Im Übrigen sind noch einige Änderungen in der Übersetzung zu
besserem Anschlufs an das Original für gut befunden worden.
Überm Grenzßu/s.
Betäubt sagt dem Gefolg sie Lebewohl.
Ihr wehrt es Stolz, sonst würd* im Schmerz sie brechen.
«Mir dientet in der Fremd Ihr Eifers voll,
Geht, sag^ dem Herrn: gelöst sei sein Versprechen!"
Die ziehn nun ab. Mit welcher Sehnsucht, ach!
Sieht sie die Schar zur düstern Mauer wandern.
Das Tor geht auf — ihr Blick schaut trübe nach,
Wie einer dort verschwindet nach dem andern.
Grausam die Mauer trennt vom Vaterland,
Von Heimat sie, von vielen teuem Wesen;
War des Gefolges niedrigster Trabant,
Wenn auch nicht Freund, doch Landsmann ihr gewesen!
Allein, vor Fremden steht sie, und ihr graut
Vor dem Mongolenschwarm mit Speer und Bogen,
Anstarrend ihres grimmen Herren Braut,
Jetzt ihr Geleit, da jene fortgezogen.
Im Herzen barg sie, was sie da gedacht.
Ihr Schmerz war tief, laut sollt er nicht erscheinen;
Der Tränen Lauf drängt sie zurück mit Macht:
Nicht durften sehn sie Chinas Tochter weinen.
„Sein Weib? Des Lebens Grab die Wüstenei?
Hier langsam sterben? Schneller Tod ist besser!"
Sie hebt die Arm' empor — des Jammers Schrei
Erstickt des Amur tosendes Gewässer.
Dresden,
NEUE MinEILUNGEN.
•••-
Fabeln und Sagen aus dem Innern Afrikas.
Von
Robert Felkin.
Einleitung.
Das Studium der Legenden, Überlieferungen und Geschichten einfacher
Naturvölker*) ist ohne Zweifel ein der Erforschung würdiger Gegen-
stand, der die Aufmerksamkeit mancher der gelehrtesten Männer unserer
Tage in Anspruch genommen hat. Dem Anscheine nach kindische Ge-
schichten werfen sehr oft ein helles Licht auf die Sitten, Glaubensvor-
stellungen und charakteristischen Geistesanlagen eines Volkes.
Noch wichtigere Ergebnisse lassen sich erzielen, sobald eine Ver-
gleichung angestellt wird zwischen den unzähligen Mythen, die nach und
nach von allen über die Erdoberfläche zerstreuten Volkstämmen zusammen-
getragen worden sind, dann stellt sich dabei heraus, dafs oftmals that-
sächlich dieselbe Idee Geschichten zu Grunde liegt, die verschiedene, auf
gänzlich verschiedenen Kulturstufen stehende Völker erzählen. Und diese
Thatsache ermöglicht es dem Forscher, eine genauere Vorstellung von
dem gemeinsamen Ursprünge der Ideen zu gewinnen, indem er die Spur
der ähnlichen Übereinstimmung verfolgt. Im weiteren Verlaufe ergiebt
sich hieraus auch Klarheit über die geschichtliche Entwickelung von
*) Ungedruckt ist allerdings nur ein Teil der von mir fiir die „Zeitschrift fiir ver-
gleichende Litteraturgeschichte** zusammengestellten und von dem, mir befreundeten Heraus-
geber unter meiner Mitwirkung Übersetzten Stücke. Da dieselben aber, zum Teil nur
ihrem Inhalte nach, von mir, in englischen geographischen Fachzeitschriften veröfifentlicht
worden sind, so darf die vorliegende, zu Zwecken litterarischen Studiums von mir getrofifene
sorgfältige Auswahl, in deutscher Übersetzung, wohl den Anspruch erheben, als „Dcue Mit-
teilung*^ zu gelten.
804 Robert Felkln.
Völkern und ein Anhaltspunkt, von dem aus sich die Spuren jener
Wanderungen, die in entfernten Tagen der Vorzeit stattgefunden, ver-
folgen lassen.
Dieselbe Idee — freilich in verschiedenes Gewand gehüllt — läfst
sich, wie bemerkt, bei Völkern, die auf gänzlich verschiedener Kultur-
stufe stehen, finden. Ein Grundsatz kann in völlig verschiedener Weise
ausgedrückt werden und kann doch eine gemeinsame Idee anzeigen,
mag auch immerhin die Bedeutung des Grundsatzes bei einem hoch
civilisierten Volke oder einem wenig civilisierten Stamme eine völlig ver-
schiedene sein. Ich will versuchen, meine Meinung an einem Beispiele
deutlich zu machen.
Es giebt eine Geschichte von einem englischen Bischöfe, der für das
Wohl der Arbeiter im Revier der Kohlenbergwerke lebhafte Teilnahme
empfand. Der ging eines Sonntags morgens in die Kirche, wo er seine
Predigt zu halten hatte und sah einen Kreis von Leuten am Eingange
des Schachtes in eine Besprechung vertieft, die sie augenscheinlich ganz
in Anspruch nahm. Voll Eifer die Gelegenheit auszunutzen, näherte er
sich den Leuten und verlangte den Gegenstand ihrer Besprechung zu
erfahren. Einer der Versammelten sagte ihm, man hätte einen neuen
Kessel und man wäre übereingekommen, ihn demjenigen zu geben,
welcher der gröfste Lügner unten ihnen wäre, und um dies zu entscheiden
wären sie zusammengekommen. Der Bischof über dies Treiben sehr
entrüstet, hob seine Hände gen Himmel und sagte: „Meine Freunde, mein
Haar beginnt nunmehr weifs zu w^erden und nie im Leben habe ich noch
eine Lüge gesagt.'' Bei diesen Worten brachen alle in lautes Gelächter
aus und einstimmig erscholl der Ruf: .,Dera Manne gebt den Kessel, dem
Manne gebt den Kessel".
In Uganda, so erzählt man sich im Innern Afrikas, stritten sich zw^ei
Männer, welcher von ihnen mit seinen Lügen es am weitesten bringe.
Der eine schlug dem andern vor jeder von ihnen solle Lügen erzählen
und derjenige, welcher das Beste darin zu Wege bringe, sollte von dem
andern als der geschickteste anerkannt werden. Damit war sein Freund
zufrieden und forderte ihn auf, den Anfang zu machen. Dieser sagte
denn eine Reihe ungeheuerlicher Lügen her und forderte dann seinen
Freund auf, ihn nun verabredetermafsen zu übertreffen. „Das ist leicht, ""
sagte der; „gar alles was Du gesagt hast, ist wahr; das ist die allerdickste
Lüge.^ Darauf hin brachen beide in Lachen aus.
Ich meine, diese beiden Geschichten bringen uns dieselbe Idee nahe,
obwohl die eine es mit einem Vorfalle zu thun hat, der in einem so-
genannten Kulturlande vor sich ging, während die andere unter einem
Himmelsstriche spielt, dessen Einwohnern man gerade nicht den Besitz
einer entwickelten Civilisation zuzutrauen geneigt ist.
Die Idee einer Lüge und die Idee einer sich steigernden Lügenreihe
ist in beiden Geschichten deutlich zur Anschauung gebracht.*)
*) Vgl. K. Müller -Fraureuth, die deutschen Lugendichtungen bis auf Müncfahausen,
Halle 1881. (Anm. des Übersetzers.)
Fabeln und Sagen aus dem Innern Afrikas. 305
Ich möchte nun für die Zeitschrift fiir vergleichende Litteratur-
geschichte einige Geschichten auswählen, welche fiir die Gegenden
des innem Afrikas, in denen ich sie an Ort und Stelle aus dem Munde
der Eingebornen sammelte, also für die Bevölkerung von Darfur, dem
Haupsitze des Madi, und Uganda typisch sind. Diese Geschichten werden,
denke ich, zugleich den Grad der Intelligenz jener Stämme und ihre
Sitten und Religionsanschauungen erkennen lassen. Gebe ich mich einer
Täuschung hin, wenn ich hoffe, der vergleichenden Litteraturgeschichte
einen Dienst zu erweisen, indem ich die Masse des angehäuften Materials
um ein weniges vermehre und den Nachweis liefere, dafs für viele der
Fabeln unserer Geschichtenbücher der Ursprung in einer weit entfernten
Welt zu suchen ist?
Freilich mufs ich es dem Spezialforscher überlassen, diese Fabeln
zu klassifizieren und die einzelnen Vergleichungspunkte, welche unzweifel-
haft vorhanden sind, im einzelnen nachzuweisen, wie dem verschiedenen
Ursprung nachzuspüren. Ich glaube, dafs auch die schlichte Wiedergabe,
wie ich sie hier beabsichtige, für die Litteraturgeschichte und Folke-
loistik von Wert ist, weil es eben durchaus zuverlässiges gesichtetes
Material ist, das ich mitteile.
Edinburgh.
/. Geschichten und Fabeln des Forslammes.
I. Der gute Schüler.
Es war einmal ein Mann, der hatte einen Sohn, dessen grofse
Geschicklichkeit er allen Leuten unaufhörlich anpries. Da jedoch dieser
Sohn in Wirklichkeit sehr dumm war, so dachte sich der Vater, es würde
das Beste sein, ihn in Lehre und Unterricht zu geben. So forderte
der Vater einen Puggie*) auf, die Unterweisung seines Sohnes zu über-
nehmen und ihn in die Lehre zu nehmen; der Puggie war dazu bereit
und nahm ihn mit sich. Auf ihrer Wanderung zu dem Dorfe des Puggies,
kamen sie eines Tages in ein Dorf, wo sie die Nacht über bleiben
mufsten. In diesem Dorfe wohnte eine Frau, deren Mann einige Zeit
vorher gestorben war. Sie war sehr reich und besafs zahlreiche Herden ;
der Puggie und sein Schüler genossen ihre Gastfreundschaft. Nachdem
sie ihre Abendmahlzeit verzehrt, legten sie sich zur Ruhe. Da in der
Stille der Nacht, da alles in tiefem Schlafe lag, schlich der Junge sich
vom Lager weg und ging, nachdem er das Messer des Puggies an sich
genommen, hin und tötete alle Schafe. Dies gethan, barg er das
Messer wieder in seiner Scheide und legte sich schlafen. Als die Frau
bei Tagesanbruch aufstand, um nach ihren Schafen zu sehen, fand sie
alle ihre Tiere getötet. Tief bekümmert rief sie mit lauter Stimme die
Dorfbewohner herbei, die sich versammelten und Zeugen ihres Herze-
*) Puggies sind Priester und Lehrer. Ein Teil dieser Priester lebt in abgesonderten
Dörfern, in denen Knaben unterrichtet werden. Kein weibliches Wesen darf in diesen
Dörfern wohnen. Die Puggies tragen eine weifse Kopfbedeckung und lange weifse Gewandung.
806 Robert Felkin.
leids waren. Aber auch den Dorfvorsteher hiefs sie herbeirufen, auf
dafs er den Thäter ermittle.
Als dieser herbeigekommen war, geriet er in grofsen Zorn über
den Vorfall und versammelte die ganze Einwohnerschaft zum Thing.
Dann wandte er sich an die Leute mit den Worten: „Ich mufs alle eure
Messer untersuchen und bei wem ich ein blutbeflecktes Messer finden
werde, der ist der Ubelthäter".
Einer nach dem andern von den Anwesenden mufste sein Messer
vorweisen, und alle Messer fanden sich blank und imbefleckt. Darauf
wurde auch der Puggie aufgefordert, sein Messer vorzuzeigen, wozu er
im Bewufstsein seiner Unschuld ohne weiteres bereit war. Als jedoch
der Häuptling das Messer aus der Scheide ziehen wollte, war es durch
das eingetrocknete Blut angeklebt. Als die Leute dies sahen, begannen
sie sämtlich auf den Puggie loszuschlagen. Da liefen der Puggie und
der Junge davon und gewannen zuletzt ein Versteck; die Leute wurden
gar bald der Sache müde und machten sich daran in ihr Dorf zurück-
zukehren. Als der Junge dies aber sah, rief er ihnen zu: „Wohin geht
ihr denn, wir sind ja da", und bei diesen Worten lief er davon. Auf
das kamen die Leute zurück und prügelten den Puggie bis sie nicht
mehr konnten, um ihn dann liegen zu lassen. Darauf kam der Junge
zu dem Puggie zurück, der zu ihm sagte: „Du mufst wieder nach
Hause zurück gehen, denn ich kann es nicht auf die Wiederholung einer
solchen Geschichte ankommen lassen". Da sagte der Junge: „Nein,
allein kann ich nicht zurück. Du mufst mit mir gehen". Anfangs weigerte
sich der Puggie, zuletzt aber gab er nach und sie gingen nach Hause
zurück. Nach vielen Tagen langten sie im Dorfe, wo des Knaben Vater
wohnte, an, und der Knabe rannte nach Hause. Sein Vater freute sich
ihn zu sehen und sagte: „Mein Junge, wie viel hast du gelernt?"
„Sehr viel", sagte der Knabe, „und wenn du's mir nicht glaubst, brauchst
du nur den Puggie fragen" und forderte seinen Vater auf den Puggie
an einem Platze aufzusuchen, wo derselbe, wie er wufste, nicht war.
Der Vater ging dann den Puggie zu sehen. Sobald ihm sein Vater aus
den Augen war, lief der Junge schleunig auf einem andern Pfade zu der
Stelle, an welcher sein Vater nach seiner Angabe den Puggie zu finden
dachte, nachdem er sich selbst wie ein Puggie gekleidet hatte. Dort
setzte er sich nieder und wartete auf seinen Vater. Als der Vater ankam
dachte er den Puggie vor sich zu haben und sagte zu ihm: „Hat mein
Junge alles gelernt?" „Ja", sagte der falsche Puggie, „es ist ein ganzer
Gelehrter". Darüber war der Vater so erfreut, dafs er, ohne die Täuschung
zu merken ohne weiteres heimging. Der Junge aber warf die Pügg^e-
Kleidung von sich und lief heim, wo er vor seinem Vater ankam. Als
dieser nach Hause kam, fragte er ihn, was der Puggie gesagt habe.
„O mein Sohn", erwiderte der Vater, „der Puggie sagte, du seist sehr
geschickt." Der Vater schlachtete nun mehrere Tiere, veranstaltete ein
grofses Fest und lud seine Freunde ein, zu kommen und seinen, wie er
sagte, so geschickten Sohn zu prüfen. Als die Leute ihm Fragen vor-
legten, fanden sie indessen, dafs er nichts wisse, nicht einmal seine Buch-
Fabeln und Sagen aus dem Innern Afrikas. 307
Stäben kannte er.*) Da sah der Vater freilich ein, dafs er getäuscht
worden sei. Als der Knabe merkte, dafs sein Betrug entdeckt war,
wurde er so zornig, dafs er das Tintenfafs des Puggie zerbrach und
seine Bücher zerrifs und ins Wasser warf. Diese Dinge hatte ihm der
Puggie nämlich zum Tragen gegeben, wie es Gewohnheit der Fuggies
ist, ihre Schüler ihre Gerätschaften tragen zu lassen.
Ehe die Leute wieder auseinander gingen, traf der Puggie ein und
erzählte dem Vater und seinen Freunden, was der Junge gethan hatte,
und der Vater wurde von seinen Freunden tüchtig ausgelacht.
2. Das Gespenst.
Einmal ging ein Mann des Forstammes auf die Jagd. Als er sich
abends auf den Heimweg machte, überfiel ihn die Nacht, Sein Weg
führte ihn über den Begräbnisplatz seines Dorfes. Seine Gedanken waren
alle auf sein Heim und die gute Mahlzeit, die ihn erwartete, gerichtet,
so dafs er gar nicht an die Nähe der Gräber dachte. Da erschreckte
ihn der Anblick einer g^ofsen weifsen Gestalt, so grofs dafs ihr Haupt
bis an die Wolken reichte. Er war so entsetzt, dafs er auf sein Gesicht
niederfiel und um Hilfe schrie. Die Vögel auf den Bäimien und die
Tiere im Walde schienen sich über ihn lustig zu machen und er hörte
die wilden Bestien näher herankonmien, um ihn, wie er dachte, auf-
zufressen. Dies hätten sie auch wohl gethan, wenn nicht sein Hund mit
den Zähnen an seinem Kleide gezogen und gezerrt hätte. Der Mann
sagte zum Hunde: „Hund, sie werden uns töten," aber der Hund sagte
„Laufe durch den Wald davon," und rannte in Sätzen davon. Der Mann
sprang auf und folgte ihm und sie kamen wohlbehalten nach Hause.
Der Mann belohnte den Hund, aber er war so erschreckt, dafs er niemals
wieder in der Dunkelheit ausging.
Diesen zwei Geschichten reihe ich einige Fabeln an:
3. Die Frösche.
Es ist schon viele viele Jahre her, dafs einmal eines schönen Tages
einige Knaben in den Feldern eine Rindviehherde hüteten. Da über-
raschte sie ein Donnerwetter mit starkem Regen. Die Knaben trieben
ihre Herde heim, aber in der Eile verloren sie eine Kuh, die einem Arch-
Barr**) gehörte. Zufallig war es eine wertvolle Kuh und so machte
sich, sobald der Regen aufhörte, der Arch-Barr auf, sie zu suchen.
Diese Suche führte ihn durch einen weitausgedehnten Sumpf Wie es
nun gewöhnlich nach Regengüssen der Fall ist, sangen alle Frösche
dieses Sumpfes. Der Arch-Barr watete durch den Sumpf, da rief einer
von den Fröschen: „Arch-Barr, du bist zu weit gegangen, deine Kuh
*) Die Forleute haben eine sehr gjofse Achtung vor gut erzogenen Personen und
einige ihrer Puggies sind in der That verhältnismälsig recht gelehrte Leute, besonders die
Vorsteher der oben erwähnten Puggie-Dörfer, in denen junge Leute erzogen werden sollen.
*) Arch-Barr werden die Wallfahrer genannt, welche die heiligen Stätten des Islams
in Arabien besucht haben. Nach ihrer Rückkehr werden sie als grofse Heilige betrachtet,
scheren niemals ihr Haupthaar und stehen in dem Rufe, niemals Unrecht zu thun.
308 Robert Felkin.
ist auf dieser Seite des Sumpfes. Er dankte dem Frosche und ging
zurück; aber kaum war er umgekehrt, da rief ihm ein anderer Frosch
zu: „Arch-Barr, deine Kuh ist nicht dort, sie ist gerade bei mir." Als
er aber zu diesem Frosche hinkam, sah er, dafs er wieder irre geleitet
worden sei. Und so ging es eine Zeit lang fort, bis der arme Mann vor
lauter Hin- und Herwaten durch den Sumpf ganz erschöpft war. Da
lachten die Frösche so sehr auf seine Kosten, dafs sie vor lauter Lachen
gar nicht mehr Atem fanden, ihn noch länger zu rufen. Als er sah, wie
er genarrt worden sei, suchte er einen von den Fröschen mit einem
Stocke zu töten.*) Aber das erzürnte die Frösche, dafs sie schrieen,
sie wollten ihn töten, worüber er so erschrak, dafs er davon lief. Auf
seinem Wege traf er dann einen andern Frosch, der ihm sagte, wo seine
Kuh wirklich sei; er fand sie an dem bezeichneten Platze und zog sie
triumphierend nach Hause. Allein sein Jubel währte nicht lange, denn
einer der Sumpf-Frösche hüpfte hinter ihm ins Dorf und erzählte den
Leuten, wie sie ihn zum Narren gehalten hätten. Da lachte ihn Jeder-
mann aus und sie nannten ihn Sandara (der Frosch), welchen Spitznamen
er Zeit seines Lebens nicht wieder los werden konnte. Auch wird er-
zählt, dafs jede Nacht, wenn er seine Geliebte, die auf der andern Seite
des Sumpfes wohnte, zu besuchen g^ng, die Frösche ihn auslachten und
mit vielen anzüglichen Spitzreden beleidigend verfolgten.
4. Das Kamel und der Elefant.
Ein Elefant und ein Kamel, die sehr gute Freunde waren, kamen
einmal überein, ein grofses Feld mit Dhurra zu bepflanzen. Das führten
sie auch aus und bestellten einen Hasen, dafs er als Wächter Sorge
trage, bis die Zeit der Ernte herangekommen. Da wurde dann das
Dhurra (Korn) geemtet, gedroschen und geworfelt, so dafs zwei grofse
Haufen, der eine von Korn, der andere von Hülsen und Halmen sich
bildeten. Bei der Teilung des Korns aber entstand ein Streit, der sich
so steigerte, dafs ihre Freundschaft in die Brüche ging und sie einander
sich um den gröfseren Gewinnanteil zu bekämpfen entschlossen. Beide
machten sich daran, eine Armee zusammenzubringen. Der Elefant brachte
alle grofsen Tiere in seine Truppe zusammen, das Kameel versicherte
sich der Hilfeleistung der kleineren Tiere. So klein der Anführer der
Armee des Kameles war, so klug und weise war er. Er sagte zu dem
Kamele: „Wir sind nicht stark genug, die grofsen Tiere zu schlagen,
es sei denn, dafs wir sie überlisten." So liefs er das Kamel sich auf
*) Die Forsleute hegen grofses Bedenken, einen Frosch zu töten, weil sie dieselben
für sehr freundlich gesinnte Tiere halten, die jede Gefl.lligkeit dem Menschen, besonders
nach seinem Tode zu vergelten wissen. Wer nicht tadellos gelebt hat, mufs nämlich nach
seinem Tode zur Strafe in Uddu im Feuer brennen, und zwar richtet sich die Länge der
zur Vernichtung nötigen Zeit nach der Menge und Gröfse der auf Erden begfangenen Übel-
thaten. Bei dem Volke ist ein Lied sehr beliebt, welches von dem Feuer in Uddu berichtet,
das sich freut, weil die Masse schlechter Menschen ihm fortwährend Nahrung gebe. Die
Qualen dieser in Uddu brennenden, werden jedoch durch die Frösche gemildert. Diese,
heilst es, schleppen in ihrem Maule Wasser herbei, um die Leiden der brennenden Körper
zu kQhlen.
Fabeln und Sagen aus dem Innern Afrikas. 309
den Boden nieder legen und die kleinen Tiere es ganz mit Dhurrahalmen
zudecken, so dafs nur das eine Knie noch sichtbar blieb; so solle es
ganz ruhig und still liegen bleiben. Darauf liefen sie alle davon und
versteckten sich in einiger Entfernung, um ihre grofsen Feinde zu be-
obachten. Schliefslich langten der Elefant und seine Armee am Platze
an und waren sehr erstaunt, keine Gegner vorzufinden, bis einer von
ihnen, der schärfer als die übrigen sah, das Knie des Kamels gewahrte
und sagte: „Was ist das?" Er ging auf das Ding los und gab ihm
einen tüchtigen Tritt, der das Kamel so schmerzte, dafs es aufbrüllte.
Darüber erschrak die Armee des Elefanten so sehr, dafs sie den Rücken
wandte und Fersengeld gab. Auf das hin brach die Armee des Kamels
aus ihrem Verstecke hervor und verfolgte die Flüchtlinge. Zuletzt holten
sie den Elefanten, der allein und ohne Schutz war, ein, töteten und ver-
zehrten ihn. Auf diese Weise fiel alles Dhurra dem Kamel zu. Es be-
dankte sich vielmals bei seinen Truppen und zahlte sie reichlich für den
grofsen Dienst, den sie ihm erwiesen hatten. Kleine Leute können grofse
schlagen, wenn sie es nur richtig anzupacken verstehen.
5. Die Hyäne und das Lamm.
Es war einmal im Winter, da kletterte eine Hyäne auf einen Baum,
um sich etwas Laub zur Nahrung zu suchen. Nachdem sie eine ganze
Masse Blätter gesammelt hatte, sah sie unten ein Lämmchen, das seiner
Mutter ganz auein entlaufen war. Als sie dies sah, eilte sie sich so sehr
herabzukommen, dafs sie dabei ihren ganzen Laubvorrat verlor. Das
Lamm aber erschrak sehr bei dem Anblick der Hyän^ und sag^e:
„Hyäne, was willst du?" „Dich auffressen will ich" sagte diese. Da das
Lamm einsah, dafs davon zu laufen nichts helfen würde, indem es doch
bald eingeholt wäre, so überlegne es in seinen Gedanken, wie es sein
Leben retten könnte. Es sagte zu der Hyäne: „Hier ganz in der Nähe
ist ein Teich; bevor du mich frifst, mufst du mir von dort ein Maul voll
Wasser holen." Das that denn die Hyäne und unterdessen lief das Lamm,
so rasch seine Füfse es nur tragen konnten, dem Dorfe zu. Nachdem
es eine kleine Strecke weit gelaufen war, kam die Hyäne mit ihrem
Maul voll Wasser daher. „Jetzt kannst du mich nicht fressen," sagte
das Lamm, „weil dein Maul voll Wasser ist." „O doch," sagte die
Hyäne und verschüttete beim Reden natürlich das Wasser. „Jetzt," er-
widerte das Lamm, „kannst du mich erst recht nicht fressen, weil du
kein Wasser im Maule hast." Da kehrte die Hyäne um, um noch ein-
mal Wasser zu holen. Als sie wiederkam, war das Lamm eben am
Eingang des Dorfes; da drehte es sich um und sag^e: „Jetzt ist's einerlei,
ob du dein Maul voll oder leer hast, du kannst mich nicht fressen, denn
ich bin in Sicherheit." Und mit diesen Worten sprang es in die Hürde,
die Hunde aber stürzten heraus und jagten die Hyäne davon. So hatte
sich das Lamm durch List gerettet; die Hyäne aber war voll Arger,
weil sie ihre Zeit verloren hatte und ihr Laub,- das, als sie wieder zu
dem Platze zurückkehrte, an dem sie es hatte liegen lassen, der Wind
ganz und gar verweht hatte.
Zttchr. f. vgl. Litt.*Gesch. I. %l
310 Robert Pelkin.
6. Das Kaninchen und der Falke.
Es waren einmal ein Kaninchen und ein Falke, die zusammen eine
Kuh besafsen, die sie, während sie graste, abwechselnd hüteten. Das
Kaninchen, wie es denn ein hinterlistiges Geschöpf und auf Milch überaus
erpicht ist, pflegte an den Tagen, an welchem ihm die Hut anvertraut
war, die Kuh vor dem Nachhausetreiben zu melken und die Müch zu
trinken. Der Falke dagegen war ehrlich, und an den Tagen, an welchen
er die Kuh nach Hause trieb, war immer für beide Milch in Fülle vor-
handen. Das Kaninchen aber, noch nicht damit zufrieden jeden andern
Tag fast die ganze Milch sich anzueignen, sann auf einen Plan, den
Falken noch mehr zu betrügen. So begann es zum Falken zu sprechen:
„Für Dich ist der Genufs der dünnen Milch nicht zuträglich, während
er mir wohl bekommt; wenn Du am Boden unseres Melknapfes ein
Loch machen willst, so will ich meinen darunter stellen, damit die dünne
Milch in meinen Napf fliefst und die dicke Dir verbleibt." Der Falke
war damit einverstanden, aber natürlich lief die ganze Müch in die Schale
des Kaninchens und dem Falken blieb nur der Schaum, der sobald
er ihn zum Sieden ans Feuer brachte, sich verflüchtigte. Der Falke
konnte nicht begreifen, wie dies zugehe und bat das Kaninchen es ihm
zu erklären. Dieses sprach: „O du einfaltiger Vogel, bevor Du Deinen
Topf zum Sieden ans Feuer bringst, mufst Du das Loch zustopfen und
etwas Wasser hinein thun, dann wirst Du gute Milch bekommen." Am
nächsten Tage machte es der Falke so, da er aber die Milch gar er-
bärmlich fand, ging er zum Kaninchen, um dessen Milch zu versuchen.
Dies gab vor, die Milch in seiner Hütte zu haben und machte sich daran
sie zu holen, es brachte aber nur eine Schale voll Wasser, in die es
einige Tropfen Milch gegossen hatte. Auf diese Weise fand sich der
Falke abermals betrogen und wurde ganz zornig auf die Kuh, dafs
diese solch erbärmliche Milch gebe, worauf das Kaninchen vorschlug,
er solle sie auf eine neue Weide weit weg treiben, vielleicht würde
davon ihre Milch besser werden. Der Falke ging auf diesen Vorschlag
des Kaninchens ein; dieses solle die Kuh nehmen und auf die entfernte
neue Weide treiben, doch von seinem Sohne begleitet werden. Nachdem
das Kaninchen eine Strecke weit getrieben hatte, überlegte es in seinem
Sinne, dafs es auf die Länge den Falken so nicht täuschen könne, drum
werde es das Beste sein, die Kuh zu töten. Und so tötete es den Sohn
des Falken und die Kuh, die es dann verzehrte. Darauf ging es nach
Hause und erzählte dem Falken, es habe die Kuh unter der Obhut seines
Sohnes gelassen; in einigen Tagen würden beide zurückkehren. Allein
das Kaninchen war voll Furcht, der Falke möchte in Erfahrung bringen
was geschehen, und um sich vor seiner Rache sicher zu stellen, fand es
folgenden Plan aus:
Hoch, hoch oben am Firmament ist ein Platz, da kommen die Tiere
zusammen zu Tanz, Gesang und Lustbarkeit ; die vierfufsigen Tiere werden
von den Vögeln zu diesem Stelldichein getragen. Das Kaninchen machte
nun dem Falken den Vorschlag, sie wollten hinauf gehen und sich ver-
Fabeln und Sagen aus dem Innern Afrikas. 811
gnügen, bis die Kuh zurück käme. Der Falke war dies zufrieden und
verlangte nur, sie sollten sich zuerst hübsch au^utzen und gut parfurmieren,
um mit Freude empfangen zu werden und gleich unter dem lustigen
Volke dort oben Kameraden zu finden. Er bat das Kaninchen, ihm zu
diesem Zwecke eine wohlriechende Essenz zu bereiten. Allein dieses
bereitete ihm eine, die ganz denselben Geruch wie das Kurkinja*) hatte.
Der Falke legte dieses Parfüm auf glühende Asche und flatterte um den
Rauch herum, bis er durch und durch parfurmiert war. Dann nahm er
das Kaninchen auf seinen Rücken und flog zum Paradies der Tiere
hinauf. Nachdem sie dorthin gelangt und in kurzer Zeit mit seinen
Bewohnern bekannt geworden waren, bat das Kaninchen um die Erlaubnis,
ein Lied singen zu dürfen. Als diese gewährt war, liefs es sich eine
Trommel geben und begann zu singen:
„Ol der Falke stinkt wie ein Kurkinjal
O! der Falke stinkt wie ein Kurkinja!"
Da lachte Alles und rief: „Ja, ja das thut er." Voll Wut darüber
flog der Falke davon. Sobald sich das Kaninchen vergewissert hatte,
dafs er wirklich fort war, ersuchte es seine neuen Freunde, ein langes
Seil zu machen und an diesem es wieder zur Erde hinabzulassen. Das
thaten sie und das Kaninchen sag^e ihnen, sowie es schüttle, sollten sie
das Seil fallen lassen. Indem es aber die Höhenentfemung falsch bemafs,
schüttelte es zu früh und that infolge dessen einen starken Fall, der es
in so unsanfte Berührung mit einem Dornbusch brachte, dafs eines seiner
Ohren von einem Dorne durch und durch gestochen wurde. Als das
Kaninchen darüber sehr ungehalten war, sprach der Dornbusch: „Lafs
Dich's nicht verdriefsen, da hast Du etwas Gummi." Das Kaninchen
entfernte sich und fand bald einen Vogel in einem Nest auf seinen Eiern
sitzen. Es gab ihm das Gummi, welches der Vogel verzehrte. Das
Kaninchen wurde aufs neue zornig, und um es zu besänftigen, gab
der Vogel ihm ein Ei. Darauf kam das Kaninchen in einen Kreis
von Knaben, die einige Schafe hüteten; es gab den Knaben das
Ei darauf zu achten, diese jedoch liefsen es fallen, dafs es zerbrach. Da
wurde das Kaninchen wiederum zornig und verlangte zum Ersätze ein
Schaf, das man ihm auch gab. Dies trieb es dann vor sich hin, bis es
zu einem Dorfe kam, dessen Einwohner viel Rindvieh besafsen. Als
das Kaninchen den Leuten das Schaf vorwies, töteten und verzehrten
sie es und das Kaninchen afs mit. Als sie aber fertig waren und alle
ihre Hände gewaschen hatten, erklärte das Kaninchen den Leuten, es
müsse nun zum Ersätze für sein Schaf eine Kuh bekommen. Davon
wollten die Dorfbewohner nichts wissen, aber das Kaninchen erhob einen
solchen Spektakel, dafs sie ihm schliefslich einen fetten Stier schenkten,
den es mit sich in den nahen Wald nahm. Dort tötete es den Stier
und frafs ihn auf, stopfte dann die Haut aus und kam ins Dorf zurück
zu fragen, ob die Leute ihm dem Stier nicht für ein Kamel eintauschen
*) Das Kurkinja ist ein kleines Tier, das in Erdlöchern haust, und dessen Geruch
den Forleuten ganz besonders zuwider ist.
21*
312 Robert Felkin.
möchten. Die Leute waren damit zufrieden und das Kaninchen stieg
auf das Kamel und ritt mit ihnen an die Stelle, wo der ausgestopfte
Stier lag. Sie sollten ihn nur prügeln, sagte das Kaninchen, dann würde
er schon aufwachen und ritt davon und machte sich aus dem Staube.
Als die Leute erst merkten, wie sie angeführt worden seien, gerieten sie
in den gröfsten Zorn gegnen das Kaninchen, aber das blieb wohl auf
seiner Hut, ihnen nicht mehr in den Weg zu kommen.
Und die Geschichte zeig^, welch ein tückisches Geschöpf das
Kaninchen ist und soll die Leute warnen, dafs sie, wenn ihnen ein
Kaninchen über den Weg läuft,*) den ganzen Tag alle Vorsicht an-
wenden mögen, sonst wird sie an diesem Tage gewifs irgend was
betrügen.
IL Fabeln des Madtsiammes,
I. Der Löwe und die Menschen.
Ein ungeheurer Löwe erschütterte die Erde durch sein Brüllen.
Die Erschütterung war so g^ofs, dafs alle Menschen zu Boden fielen
und der Löwe machte sich daran, sie aufzufressen. Allein ein Mann
flehte das grofse Wesen, welches beide, Mensch und Tier geschaffen
hatte, an, den Löwen ein wenig kleiner zu machen, da er dem Menschen
gegenüber allzu grofs und mächtig sei. Sein Verlangen wurde gewährt
und des Löwen Gestalt auf seine gegenwärtige Gröfse eingeschränkt.
2. Das Kaninchen und das Wiesel(?).
Es geschah einmal, dafs alle Tiere zu Tanz und Lustbarkeit zusammen-
kamen. Allein sie waren noch nicht lange beisammen, da merkten sie,
dafs sie von Menschen, die auf allen Seiten das Gras angezündet hatten,
eingeschlossen waren. Besonders eifrig in Vorschlägen zu Rettungs-
plänen war das Kaninchen. Einer seiner Vorschläge war, das Wiesel(?)
solle ein Loch in die Erde graben, in dem sie alle ihre Zuflucht finden
*) Ahnliche abergläubische Vorstellungen und Erscheinungen habe ich bei den For-
leuten mehrere kennen gelernt. Läuft einem z. B. eine Gazelle über den Weg, so ist das
ein gutes Omen; der Schrei einer Eule kündet den Tod an ; Schweine bringen Glück, sowohl
dem Einzelnen als der ganzen Ortschaft, insbesondere jungen Mädchen. Trinkgefafse aus dem
Hörne des Rhinozeros besitzen die Eigenschaft, durch eine veränderte Farbe des Getränkes an-
zuzeigen, wenn Gift darin ist; ein solches Hörn einem Freunde zu schenken, ist die höchste
Ehre, die überhaupt erwiesen werden kann; der Glaube und die Sitte stammt wahrscheinlich
von den Arabern. Für sehr bedenklich wird es gehalten. Jemandem die Nägel zu schneiden,
denn wenn das Abgeschnittene verloren geht und dem Eigentümer nicht in die Hand gegeben
werden kann, mufs es auf irgend eine Weise nach dem Tode ersetzt werden. Wer sich
selbst die Nägel schneidet, trägt auch selbst die Verantwortung; das Abgeschnittene mufs
aber vergraben werden. (Ist hier an die Bedeutung des Nägelabschneidens in der deutschen
Mythologie, Jak. Grimm, Kap. 35, zu erinnern? Anm. d. Übers.) Als ein glückliches Vor-
kommnis wird es angesehen, wenn einem beim Essen Speise zur Erde fällt. Der Bissen
mufs dann aber aufgehoben und mit der daran klebenden Erde verschlungen werden, sonst
wird der Mensch in der nächsten Welt angeklagt, seinen Leib ausgehungert zu haben, und
die Erde würde Zeugnis wider ihn ablegen. Alten Frauen, die alle Zeit ihren Männern treu
geblieben, wird die Macht zugeschrieben, das Feuer zu besprechen; ihre Gegenwart kann
das in einem Dorfe ausgebrochene Feuer löschen. Allein solche Frauen sind schwer auf-
zufinden.
Fabeln und Sagen aus dem Innern Afrikas. 813
könnten. Als die Gefahr näher rückte, vergafsen alle sich einander zu
helfen, jeder wollte nur sich selber retten, es half ihnen aber nichts, denn
sie alle verbrannten, ausgenommen das Wiesel (?) und ein kleiner Vogel,
der als Wache ausgestellt worden war und, nachdem er beim ersten Auf-
tauchen der Gefahr seine Freunde gewarnt hatte, weggeflogen war.
Das Kaninchen aber kam auf diese Weise um. Das Wiesel(?) hatte
seinem Rate folgend ein Loch in die Erde gegraben und kroch hinein,
das Kaninchen bifs ihm seinen Schweif ab und drängte es heraus, um
sich selbst in der Grube zu verbergen. Da verriet das Wiesel aus Rache
den Menschen das Versteck des Kaninchen und während sie es fingen,
wufste das Wiesel seine eigne Flucht zu bewerkstelligen.
3. Das dankbare Kaninchen.
Ein Mann schofs einmal auf ein Kaninchen und verwundete es an einem
Beine. Darauf griff er es, um es zu töten, als das Kaninchen zu ihm
sprach: „Schone mein Leben!" Der Mann that es und das Kaninchen
humpelte in seine Höhle. Mancher Monat war seitdem vergangen, da
kehrte der Mann von einer weiten Reise zurück und müde wie er war,
legte er sich hin und schlief ein. Ein Tier, das auf ihm herumhüpfte,
erweckte ihn, und er erkannte das Kaninchen. „Lauf," sagte das
Kaninchen, „Deine Feinde kommen;" und als er aufschaute, gewahrte
er auch in einiger Entfernung eine Schaar seiner Feinde. Er machte,
dafs er davon kam, und so vergalt ihm das Kaninchen, dem er das
Leben geschenkt hatte.
///. Sagen, Märchen und Fabeln der Wagandas.
I. Die Sage vom König Kintu.
Der Gründer von Uganda soll Kintu geheifsen haben, und von seiner
Ankunft in dem Lande erzählt sich das Volk folgendes:*)
Vor vielen, vielen Jahren überschritt Kintu mit seinem Weibe, einer
Kuh, einer Ziege, einem Schafe, einem Bananen-Schöfsling und einer
süfsen Kartoffel den Nil bei Foweira und gelangte an die Ufer des
Viktoria Nyanza. Da liefs er sich nieder und pflanzte die Banane und
die süfse Kartoffel, die mit ausserordentlicher Geschwindigkeit heran-
wuchsen, ja die süfse Kartoffel wuchs so rasch, dafs man das Fort-
schreiten der Ranken sehen konnte. Sein Weib aber gebar ihm jedes
Jahr vier Kinder auf einmal, und diese waren so trefflich, dafs die
Mädchen immer schon im zweiten Jahre selbst wieder Söhne und Töchter
gebären konnten. Flbenso. mehrten sich die Herden gar schnell. Auf
diese Weise war das Land bald bevölkert, so dafs Kintu sich zuletzt
genötigt sah, viele Familien fortzuschicken; jeder Familie gab er ein
Stück von der Mutter-Banane und Kartoffel-Pflanze, und sie bevölkerten
dann die umliegenden Gebiete. Kintu (er scheint zugleich als eine Art
♦) Die mir mitgeteilte und hier wiedergegebene Fassung der alten Stammsage weicht
von der durch Stanley bekannt gewordenen Gestaltung beträchtlich ab.
dl4 Robert Felkln.
Priester betrachtet zu werden) war so liebreich, dafs er kein Blut sehen
konnte; selbst das der notwendigen Nahrung wegen getötete Rindvieh
mufste in einiger Entfernung von seiner Behausung geschlachtet werden.
Als aber die Jahre und das Alter den Herrscher überkamen, da bereiteten
ihm seine Kinder arge Unruhe. Sie wurden Trunkenbolde und Händel-
sucher und schlugen sich einander tot. Da Kintu es nicht ertrug, auf die
Länge ihre Verderbtheit mit anzusehen, so zog er bei Nachtzeit mit
seinem Weibe, der einst mitgebrachten Kuh, Ziege, Schaf, Bananenwurzel
und süfsen Kartoffel aus dem Lande. Vergeblich suchten ihn seine
Söhne drei Tage lang, dann bemächtigte sich sein ältester Sohn der
Herrschaft. Jeder folgende König lebte der Hoffnung, Kintu eines
schönen Tages aufzufinden und manche Suche ward auf Betreiben
der verschiedenen Könige durch das ganze Land überall und allüberall
angestellt, allein ohne Erfolg. Da ereignete es sich unter der Regierung
Maandas, dafs Nachricht von Kintu eintraf. Das ging so zu: Ein Bauer
hatte einmal weit vom Hause zu arbeiten und durch die Arbeit ermüdet
blieb er die Nacht über allein im Walde. Da träumte er dreimal nach
einander einen Traiun; er glaubte eine Stimme zu hören, die ihm anwies
an eine bestimmte Stelle des Waldes zu gehen, an der er kostbare
Mitteilungen empfangen würde. Erwacht befolgte er nach einigen
Zweifeln die im Traume an ihn ergangene Weisung. Als er an den an-
gegebenen Platz gekonunen war, stiefs er auf eine Schar Männer mit
bleichen Gesichtern, in deren Mitte ein hochbetagter Mann mit einem
langen weifsen Barte safs. Der alte Mann hiefs den Bauern, zum Könige
zu gehen und ihm zu sagen, er solle mit seinem Weibe und seiner
Mutter kommen, um Kintu zu sehen. Diese Botschaft solle er aber
insgeheim ausrichten und Maanda genau einschärfen insgeheim zu kommen.
Der Bauer ging daran, sich seines Auftrages zu endedigen; imi aber
beim Könige vorgelassen zu werden, sah er sich genötigt, dem Katikiro
(Premierminister) zu sagen, dafs er ein dringendes Gewerbe beim König
zu bestellen habe. Nachdem er beim Könige, den er in Gesellschaft
seiner Mutter fand, vorgelassen worden war, brachte er zum gjröfsten
Erstaunen des Königs, welcher dieselbe Nacht in einem seltsamen Traume
die Gesichtszüge dieses Bauern gesehen hatte,*) seine Geschichte vor.
Der König und seine Mutter beschlossen, sofort mit ihm zu gehen und
verliefsen heimlich den königlichen Palast. Allein im Lande wurde als-
bald das Gerücht laut, der König wäre begleitet von seiner Mutter und
einem fremden Manne in den Wald gegangen, und der seinem Herrn
*) Auf Träume legen die Waganda das gröfste Gewicht. Sie glauben, dafs zukünftige
Ereignisse sich in ihnen abspiegeln, dafs bevorstehendes Unheil durch Beachtung nächtlich«-
Wamungen vermieden werden kann und dafs Namen und Gesichter derjenigen, welche ihnen
schaden wollen mit untrüglicher Sicherheit dem die Nacht durch Wachenden enthüllt werden.
Infolge solchen Aberglaubens wird ihr tägliches Leben viel durch diese Träume beeinflulst,
doch sind sie trotzdem unter gewöhnlichen Verhältnissen gegen ihre Nachbarn wenig arg^-
wohnisch. Sie glauben, dafs ihnen Schaden hauptsächlich von den zahlreichen Geistern
(Sprites) drohe, welche die Bäume oder Dickichte an den Stromufem bewohnen, oder von
den Einwohnern von Sonne, Mond und Sternen. Den Dämonen, welche nach ihrem Glauben
auf der andern Seite des Sees wohnen, schreiben sie die Macht zu in Uganda zu spuken.
Fabeln und Sagen aus dem Innern Afrikas. 315
ergebene Katikiro folgte, da er eine Verräterei befürchtete, vorsichtig
nach. Die kleine Gesellschaft langte mit der Zeit vor Kintu an, der den
König fragte, warum er nicht seiner Weisung folgend allein gekommen
wäre. Maanda erwiderte, dafs er alle Vorsicht angewandt und zu wieder-
holtenmalen umgeschaut habe, um zu sehen, ob ihnen Niemand folge.
Allein Kintu beharrte dabei, es sei ein Späher da, den er hinter einem
Baume erblicke. Als der Katikiro hörte, dafs er entdeckt sei, trat er
vorwärts und Maanda stiefs ihn voll Wut mit seinem Speere nieder.
Da verschwand Kintu mit seinen Gefährten; der König, seine Mutter
und der Bauer weinten und schrieen nach Kintu, aber das Echo ihrer
Rufe blieb die einzige Antwort, die ihnen zu Teil ward. Und seit dem
Tage ist Kintu niemals wieder erschienen.*)
2. Der fliegende Krieger.
Ein alter Krieger, Namens Kibaga soll die Kunst des Fliegens be-
sessen haben.**) Dieser seiner Kunst bediente sich sein König, als er
mit den Wanyoros Krieg führte. Kibaga schwang sich durch die Lüfte,
entdeckte den Hinterhalt der Feinde und tötete Massen von ihnen, indem
er Felsen auf sie herabfallen liefs. Eines Tages aber sah Kibaga unter
den gefangenen Wanyoroweibern ein überaus schönes Mädchen. Be-
zaubert von ihren Reizen erbat er sich vom König als eine Belohnung
für seine Dienste das Mädchen. Der König fugte der Gewährung der
Bitte die Warnung bei, er solle das Geheimnis seiner Macht ja nicht
seinem Weibe verraten. Geraume Zeit hielt er denn auch seine Kunst
und ihr Geheimnis vor ihr verborgen, allein sein Weib, dem sein plötz-
liches Verschwinden und ebenso plötzliches Wiederkommen aufHel,
beobachtete ihn ganz genau und kam hinter sein Geheimnis. Da dauerte
es nicht lange, so teilte sie ihrem Stamme ihre Entdeckung mit. Nun
stellten die Wanyoros Bogenschützen auf ihren höchsten Hügeln auf und
bald wurde Kibaga erschossen. Leblos fand man ihn in den Zweigen
eines hohen Baumes verstrickt.
3. Die Besiegung der Wasogas.
In der Zeit als Chabuga regierte, wurde zum erstenmale den Wasogas
Krieg erklärt. Als die Wagandas sich versammelten, um über den Nil
zu setzen, forderten die Wasogas sie voll Hohn heraus. Da erbat sich
Wakinguru, ein mächtiger Häuptling, die Erlaubnis, über den Flufs zu
setzen und im Einzelnkampf den Feind anzugreifen. Er war ein Riese
von Gestalt und sein Schild so schwer, dafs zwei gewöhnliche Männer
ihn kaum lüpfen konnte. Diesen Schild und ein tüchtiges Bündel Speere
*) Eine andere Geschichte von Kintu und eine Waganda-Fabel „der Hase und das
Krokodil" vgl. I, 114 unseres Werkes „Uganda und der ägyptische Sudan" von Rev.
C. T. Wilson und Dr. R. W. Felkin. 2 Bde. Stuttgart 1883.
**) Auch diese Geschichte kennt Stanley („durch den dunklen Erdteil") in anderer
Fassung. •
816 Robert Felkin.
nahm er mit sich, dann forderte er die Wasogas einzeln und alle ins-
gesamt zum Kampfe heraus. Sie stürzten herbei, ihn anzugreifen, aber
so grofs war seine Starke, dafs ein Mann nach dem andern von seinen
Speeren durchbohrt hinsank, ehe sie ihm soweit nahe kamen, dafs sie
ihn hätten verletzen können. So kämpfte er den ganzen Tag hindurch
und, nachdem er 600 Mann erschlagen hatte, kehrte er bei Nacht wieder
über den Flufs zurück. So that er auch an den zwei folgenden Tagen
worauf die Wasogas ihre Niederlage eingestanden und ihre Unterwerfung
anboten.
4. Der Jäger und der Vogel.
Ein Jäger hatte einmal lange Zeit kein Glück bei der Jagd mehr
gehabt. So safs er eines Tages mit seinen Weibern und Kindern in
seiner Hütte, während ein schrecklicher Sturm durch den Wald wütete.
Da flog auf einmal ein Vogel, um Schutz zu suchen in die Hütte; die
Kinder sahen ihn und suchten ihn zu fangen. Der Jäger aber nahm sich
seiner an und verbot den Kindern, den Vogel anzurühren. Als der
Sturm aufgehört hatte, sprach der Vogel zum Jäger: ^ Jetzt will ich
Dir helfen; Du bist ein gütiger Mann; ich will vor Dir herfliegen und
Dich hinleiten, wo Du Beute finden sollst." Das that er und der Jäger
freute sich.
5. Der Himmelsbaum.
Es war einmal ein Häuptling, der hatte ein Lieblingsweib, welchem
er die Sorge für sein ganzes Hab und Gut anvertraute, ja sogar seine andern
Weiber, deren er sehr viele hatte, unterstellte er ihrer Aufsicht. Kines
Tages kam er vom Jagen nach Hause und rief sein Weib'; die aber war
in geheimnisvoller Weise verschwunden*) und nirgends aufzufinden.
Der Verlust ging ihm sehr zu Herzen; sein ganzer Haushalt geriet in
Verwirrung, und seine andern Weiber lebten in Unfrieden. Ganz in
Verzweiflung schlenderte er eines Tages im Walde dahin und rief in
Gedanken an' sein verlorenes Weib vertieft laut aus: „O! mein Schatz
*) Die Waganda sind, wie oben bemerkt, fiber alle Mafsen abergläubisch. Wenn
irgend wer auf unerklärte Weise verloren geht, so sagen sie, die Dämonen hätten ihn fort-
getragen. Einigen Tieren schreiben sie einen bösen Charakter zu, andere besitzen die
Tugend, die Menschen zu behüten und zu leiten. Donner und Blitz werden nahezu angebetet.
Viele Krankheiten werden einer Gottheit oder einem Dämon als Urheber zur Last g^elegt.
Ein übles Vorzeichen ist es, wenn man bei Antritt einer Reise oder auch nur eines Aus-
gangs noch einmal umkehrt, etwas zu holen. Die Waganda gehen überhaupt nicht gern
denselben Weg zurück. Stolpern gilt ebenfalls als böses Vorzeichen. An den bösen Blick
glauben die Wagfanda wie die Italiener und manche Leute sind wegen ihm gefürchtet.
Ihnen wird, um ihre Rache zu vermeiden, aus Furcht mit besonderer Rücksicht beg^net.
Der Regen wird von einigen Bewohnern der Geisterwelt gespendet oder zurückgehalten.
Von ihnen gehen auch Mifswachs und Viehseuchen aus. Durch geeignete Opfer für die be-
treffenden Gottheiten kann die Fruchtbarkeit der Weiden, Herden und Felder gesichert
werden. Die Zauberei steht bei solchem Aberglauben natürlich in hohem Ansehen.
Fabeln und Sagen aus dem Innern Afrikas. dl7
könnte ich Dich nur finden. Da kam ein Honigvogel zu ihm geflogen
und sprach: „Dein Weib ist im Himmel (sky)." Im ersten Augenblicke
'WSLT er überglücklich, dann aber gleich bekümmerter denn je, denn wenn
er sein Weib im Walde wenigstens hätte suchen können, zu den Wolken
konnte er nicht emporklettem. Da kam ihm eine Ratte zu Hilfe, die
ihm von einem Baume erzählte, der sehr schnell in die Höhe wachse, und
ihm anbot, ihm diesen Baimi zu zeigen. Er folgte der Ratte durch den
Wald, bis er zu einem Baume kam, der sichtbar wuchs, und dessen
Gipfel bereits aufserhalb des Gesichtskreises war. Der Aufforderung
der Ratte folgend, kletterte er diesen Baum hinauf, während dessen der
Honigvogel ihm Gesellschaft leistete und Mut einsprach. Mit seinem
Kmporklettern wuchs auch der Baum, bis er endlich hoch über den
Wolken ins Geisterland kam. Die Geister (spirits) fragten nach seinem
Begehr und er bat um sein Weib, das ihm zur Belohnung für seine
Beharrlichkeit auch gegeben wurde. Und darauf kletterten sie gemeinsam
w^ieder an dem Baume herunter. Als sie unten waren, belohnte er auch
die Ratte und den Honigvogel. Als der Häuptling aber einige Zeit
darauf wieder nach dem Baume sehen wollte, konnte er ihn nicht mehr
finden.
6. Der Mann und der Schakal.
Ein Mann wollte einmal bei Nacht von einem Mahle, bei dem er
tüchtig gegessen und viel Mwengi getrunken hatte, nach Hause gehen.
Da er sehr müde war, setzte er sich hin um auszuruhen und schlief ein.
Als er wieder aufwachte, war seine Fackel ausgelöscht und er konnte
bei der grofsen Dunkelheit seinen Weg nicht finden. Als er da und
dort im Walde den Weg suchte, traf er einen Schakal an, der ihn fragte,
wohin er denn gehen wolle. „Ich suche meinen Weg nach Hause,"
sagte der Mann. Der Schakal bot sich an, voranzulaufen und den rechten
Weg zu zeigen. Der Mann nahm dies Anerbieten an und sie gingen
eine geraume Wegstrecke selbander. Endlich fragte der Mann den
Schakal, ob sie noch nicht bald zu Hause wären. „Ja wohl," war dessen
Antwort, „Du wirst gleich zu Hause sein; Du warst bei einem Mahle
und jetzt sind wir bei Dir zum Mahle." So sprechend rief er: „Löwe!
Löwe!" und laut brüllend stürzte sich ein Löwe auf den Mann und
tötete ihn; so kamen der Löwe und der Schakal zu einem guten Mahle.
7. Die Ameisen.
Einige Wanderameisen kamen einmal in die Hütte eines Mannes,
der darüber so zornig wurde, dafs er Gras anzündete und dadurch eine
nicht geringe Anzahl von ihnen tötete. Die übrig gebliebenen Ameisen
zogen sich zurück und hielten einen Kriegsrat, in welchem ihr Führer
sich an sie wandte und sprach: „Ein Mann fugt uns, im Vertrauen auf
seine grofse Gestalt, Unrecht zu, weil er denkt wir seien nur klein; es ist
grausam, wir müssen ihn bestrafen." Botenwurdennun von den Ameisen nach
318 Robert Felkin.
nah und ferne ausgesandt, und zur festgesetzten Zeit, beim nächsten Neu-
mond, versammelten sie sich in grofsen Massen, so grofs, dafs Niemand sie
hätte zählen können. Verschiedene Führer wurden an die Spitze gestellt
und so griffen sie die Hütte ihres Feindes an, die bald aufgefressen
war*). Auch der Mann, seine Weiber und seine Kinder wurden nicht
verschont. Lerne daraus, dafs der Grofse den Kleinen nicht schlecht
behandeln soll.
*) Felkin -Wilson, Uganda I, 82 : „Die Wanderameise kommt gelegentlich in Schwärmen
in die Häuser, treibt alles hinaus und bemächtigt sich vollständig des Platzes. Ihr Bifs
schmerzt wie der Stich einer glühenden Nadel, und wer einmal von ihnen angegriffen
worden, vermeidet gern jede Möglichkeit einer zweiten Heimsuchung."* (Anm. des Übers.)
■••.
VERMISCHTES.
■«•*.
Beiträge zur Litteratur des Volksliedes. IL
Von
Alexander von Weilen.
Ein schönes weltliches Lied. (Fliegendes Blatt. „Lcncks Druck in Znalm iS6i**,)
ES ginge ein verliebtes Paar
Im grünen Wald spazieren,
Der Jüngling, der ihr untreu war,
Wollt sie im Wald verfuhren;
Er nahm sie bei schneeweifser Hand
Wollt sie in Wald hinleiten,
Er sprach: o allerliebste mein,
Geniefse deine Freuden.
2. Was soll ich hierim grünen Wald
Für eine Freude haben?
Mir scheint es ist die Todesgnift,
Wo du mich willst begraben.
Das Mädchen fing zu weinen an.
Schlug ihre Hand zusammen,
Ei war ich doch im grünen Wald
Niemals spazieren gegangen.
3. Der Jüngling, der ihr untreu war
Gab ihr ein kurzes Ende.
Er zog sein Messer gleich hervor.
Das ihr das Herz zertrennte;
Sie sprach: O Jesu, steh mir bei
In meiner Angst und Schmerzen,
Verschon dein eigen Fleisch und Blut
Wie auch mein treues Herz.
4. Eshilftkein Bitten undkeinFleh'n
Im Grabe mufst du liegen,
Bevor die Schand nicht gröfser wird
Und alles bleibt verschwiegen;
Er gab ihr noch den zweiten Stich,
Langsam sank sie zur Erden,
Sie sprach: o Jesu! steh mir bei.
Ich sterb in deinen Händen.
5. Und als sienun verschieden war.
Fing an sein Herz zu schlagen,
Vor lauter Angst und Traurigkeit
Könnt' er sie nicht begraben.
Er sprach: o Jesu! steh mir bei
In meiner Angst und Schmerzen,
Er legt sich leise auf sie hin.
Und starb an ihrem Herzen.
6. Und als man nun zu solcher Zeit
Den rechten Ort erfahren,
So haben sie den Ort geweiht,
Und sie allda begraben.
Geschah ein grofses Wunderwerk,
Vor aller Welt zu glauben.
Nun einst die kühle Erde decket.
Und nicht mehr auferwecket.
320
Alexander von Weilen.
7. Ihr Mädchen merket alle auf,
Was der Jüngling getrieben;
Eh sie in solchem Elend war,
Ist er ihr treu geblieben;
Und als sie an die Schande kam,
Konnte er sie nicht sehen,
Er führte sie in grünen Wald,
Und brachte sie ums Leben.
8. Nun stand es an drei ganze Jahr
Eh man sie hat getroffen.
Da sind die Vöglein weit und breit
Zu ihnen hingeflogen.
Zu sehen was an diesem Ort
AUdorten ist geschehen.
Man fand sie beide frisch und rein
Und noch ganz unverwesen.
9. Ihr Mädchen und ihr Knaben all,
Habt [ihr] auch recht verstanden?
Wie sich's mit diesem Liebespaar
Alldort hat zugetragen?
Vor wahrer Reu und Gottesfurcht
Sind sie zugleich gestorben,
Und beide haben auch zugleich
Die Gnad' von Gott erworben.
So verballhornt auch dieses heute noch in Znaim gesungene Lied,
sowohl metrisch als texdich erscheinen mag, so lassen sich doch wirklich
volkstümliche Elemente, so besonders in der Eingangsstrophe, Strophe 5
und 8, (die letztere gehört offenbar vor Strophe 6) nicht verkennen. Das-
selbe Lied findet sich auch in anderen Gegenden. Am nächsten steht
wohl eine Fassung aus Glaz (Hoffmann von Fallersleben und Ernst Richter,
Schlesische Volkslieder, Nr. 38, S. 65) dort schliefst das Lied mit Strophe
5, wohl der ursprüngliche Kern des Liedes. Aber auch in Schlesien
wurden schon Zusätze gemacht, die unseren Strophen 7 bis 9 genau ent-
sprechen, auch ein versöhnender Schlufs, entsprechend den ersten vier
Zeilen der Strophe 6 oder in der Weise, dafs der Jüngling selbst noch zu
den Zuhörern spricht, hinzugefügt. Ebenso schliefst eine hessische Version
(Mittler, Volkslieder, Nr. 323, 1, 203) mit dem Tode des Jünglings, während
eine andere (a. a. O., Nr. 324, II, S. 264) den Mörder vor Gericht stellt:
Sie führten ihn ins Rathaus nein, eine Straf ward ihm gesetzet
Sieben Jahr sollst du gesetzet sein. Danach wirst du gerichtet.
So gehts wenn ein verliebtes Paar sich soviel vertrauen:
Ach Schatz, ach Schatz, ach lieber Schatz, wir wollen sie bedauern.
Ein fränkisches Volkslied (Ditfurth: Fränkische Volkslieder, II, Nr. 49a, b,
S. 38) giebt die richtige Anordnung, Strophe 6 vor Strophe 8, Strophe 7
scheint die richtige Fassung für die fast unverständlichen Verse der
Strophe 6 unseres Liedes zu bieten:
Und als nunmehr die Geistlichkeit
Den rechten Grund erfahren.
So haben sie den Ort geweiht,
Und sie auch dort begraben.
Der Blankvers Shakespeares im Drama Lessing^s, Goethes und Schillers. 321
Sie liefsen auch zu Gottes Ehr*
Ein Kirch' und Kloster bauen,
Es geschehen g^ofse Wunder dort,
Das kann man sicher glauben.
Eine schwäbische Version (Ernst Meier: Schwäbische Volkslieder,
Nr. 203) streicht Strophe 6 und schliefst mit 7, 4; Eine Grazer Fassung,
mitgeteilt von Jeitteles in seinem Aufsatze: Das deutsche Volkslied in
Steiermark, (Archiv fiir Litteraturgeschichte, IX, 359), dem ich die vor-
stehenden Hinweise verdanke, streicht Strophe 6 und 7 gänzlich. Fast
alle genannten Lieder korrigieren das „nicht" in 4, 3 in „noch."
Wien.
-•••-
Der Blankvers Shakespeares im Drama Lessings,
Goethes und Schillers.
Von
Hermann Henkel.
Der jambische Quinar ist durch unsere Klassiker unter den Ein-
wirkungen Shakespeares seit Lessings Nathan zum herrschenden Vers
des deutschen Dramas geworden, nachdem sich der letztere desselben
bereits 1759 im Fragmente seines Trauerspiels Fatime, später noch in
den Bruchstücken des Kleonnis und des Horoskops, und Goethe im
letzten Akte des von ihm selbst alsbald vernichteten Belsazar (an Riese
30. Oktober 1765, an seine Schwester 7. Dezember 1765 und 11. Mai 1767)
bedient hatte.
Shakespeare, dessen blanc-verse Vorbild war, gebraucht in seinen
Stücken neben männlichen auch weibliche Versschlüsse (Hendekasyllaben),
neben Quinaren Senare, Halbverse (dreifufsige Jamben, zum Teil zu vier-
fufsigen erweitert) und kürzere Versstücke, Anapästen statt der Jamben,
die Grenzen des Verses verwischende Enjambements; anfanglich zwar,
nach den Übersichten und Untersuchungen W. Hertzbergs in den Ein-
leitungen zu den von ihm übersetzten Dramen in der Ausgabe der deutschen
Shakespearegesellschaft, nur in sehr beschränktem Mafse und vereinzelt,
progressiv jedoch häufiger und von äufserer Regel unabhängiger. Auch
der Reim, namentlich der alternierende mit seinem schärfer ausgeprägten
922 Hennann Henkel
lyrischen Charakter verschwindet aus dem dramatischen Dialoge immer
mehr und bleibt zuletzt nur für das schwunghafte Pathos der Szenen-
schlüsse aufgespart.
Über die Behandlung dieses Verses nun bei unsem Klassikern giebt
Koberstein in seiner Geschichte der deutschenNationallitteraturIII§269 — 276
eine Anzahl zerstreuter Beobachtungen. Die folgenden ZeUen sind bestinmit
dieselben durch ein möglichst vollständiges und annähernd sicheres
statistisches Material teils zu ergänzen, teils zu berichtigen.
Für die Vers Schlüsse zunächst giebt es in den Dramen, die hier
zur Besprechung kommen, von Lessings Kleonnisfragment abgesehen,
in welchem der Jambus durchweg zehnsflbig erscheint, keine äufsere
Beschränkung; männliche und weibliche Endungen treten überall gemischt
nach dem Gesichtspunkte charakteristischen und gefälligen Wechsels auf.
Ebenso ist die Cäsur veränderlich und an keine feste Stelle gebunden.
In sämmtlichen Stücken kommen sechs füfs ige Verse in grofserer
oder geringerer Zahl auch mit weiblichem Ausgang vor:*) in Lessings
Kleonnis einer, im Nathan 16, in Goethes Iphigenie 6 (I 3, 120 II i, 33
III I, 85. 1 10. 319 IV 4, 60), in dem in Rom gedichteten Faustmonologe einer
(F. I. V. 2864 ed.Loeper), imTasso 22 (davon 7 in Eigennamen wie Antonio,
Hesperien) im Mahomet 69 (von diesen in den letzten drei reiner gehaltenen
Akten 18), im Tankred 13, in dem metrisch gefeiltesten Stücke, der Natür-
lichen Tochter 4 (I 6, 136IV2, 155 V i, 10; 9, 45), aufserdem im Prologe von
1793: 5, von 1794: 6, im Epiloge vom 11. Juni 1792: i und in dem in Quinaren
geschriebenen Partieen der Singspiele Erwin und Elmire 3, Claudine v. V.
B. I, des Vorspiels „Was wir bringen" 31 (in 107 Versen) und des Faust II: 2.
Am reichsten sind die Schillerschen Dramen von solchen Senaren durchsetzt,
wenn auch ein Rückgang ihrer Zahl in den späteren Stücken sich einstellt.
Es entfallen auf den Don Carlos 65, Iphigenie in Aulis 23, das Phönissen-
bruchstück 6, die Pikkolomini 68, Wallensteins Tod 73, Maria Stuart 76,
Makbeth 81, die Jungfrau von Orleans 45, Turandot 35, die Braut von
Messina 26, Teil 22, Phädra 14 und das Demetriusfragment 12 dieser Verse.
Bisweilen nehmen dieselben bei Goethe und Schiller durch die
halbierende Diärese die Züge des Alexandriners an, wie im Tasso FV 2,
149 : „Das überlege wohl, o kluge, g^te Freundin," im Mahomet besonders
häufig, z. B. II 6, 55: „Und die Notwendigkeit, | sie forderts mit Gewalt **;
in Wallensteins Tod III 10, 57: „Mit zögerndem Entschlufs, | mit wankendem
Gemüt", in Maria Stuart I 4, 8: „War't Ihr doch sonst so froh! | Ihr
pflegtet mich zu trösten" u. a. Als wirklich beabsichtigte Alexandriner
aber charakterisieren sich, wenn auch von einem Quinar durchbrochen,
die Verse in der Turandot II 4, 92 fg. von selbst, die mit den Worten
schliefsen: „Löst er die Rätsel auf, | hat er die Braut gewonnen. So
lautet das Gesetz: | Wir schwörens bei der Sonnen."
Auch vier füfs ige Jamben begegnen mit Ausnahme der Natür-
lichen Tochter in allen Stücken, obschon weniger häufig als Senare; in
immerhin erheblicher Anzahl wieder bei Schüler. Verzeichnet habe ich
♦) Die Unregelmäfsigkeit eines (den Griechen nachg^ebildeten) Trimeters mit weiblicher
Endung finde ich nur einmal in „Was wir bringen"*, A. 16.
Der Blankvers Shakespeares im Drama Lessing^s, Goethes und Schillers. 338
deren aus Lessings Fatime, i, dem Nathan 15, aus Goethes Iphigenie 6,
Erwin und Klmire 2, Claudine i, Tasso 6, Mahomet 7, Tankred 3, aus den
zwangloser geschriebenen Prologen und Epilogen von 1791 bis 1799: 9.
VonSchiller enthalten der Don Carlos 41, Iphigenie in AuUs 14, die Phö-
nissen 2, die Pikkolomini 25, Wallenstein und Maria Stuart je 39,
Makbeth 37, die Jungfrau 16, Turandot 13, die Braut von Messina 3,
Teil 6, Phädra i, Demetrius 4 von diesen Versen.
Jambische Tripodieen und kleinere Versstücke finden sich bei
Lessing gar nicht, bei Goethe nur ganz vereinzelt, erstere in der Iphigenie,
in Erwin und Elmire, Tasso, Mahomet und im Epilog vom 31. Dezember
1792 je I, im Prolog von 1794: 2; Dipodieen in der Iphigenie und
im Prolog von 1793: je i, im Tasso 3; Monopodieen in der Iphigenie
und im Tankred je i. Häufiger auch diese bei Schiller: dreifufsige
Jamben im Don Carlos und in der Iphigenie i. A. je i, in den Phönissen 2,
in den Pikkolomini und in Maria Stuart je 11, im Wallenstein 13, in
Makbeth 15, in der Jungfrau 5, in Turandot 4, im Teil 3; zweifiifsige im
Don Carlos 3, in den Pikkolomini, Turandot, der Braut und Demetrius
je I, im Wallenstein 13, in Maria Stuart 7, in Makbeth 9, in der Jung-
frau 5; Monopodieen endlich i in den Pikkolomini, 2 in Maria Stuart
und 5 in Makbeth.
Man sieht, dafs Schiller den dramatischen Jambus nach dieser Seite
hin, in der Unterbrechung des Quinars durch längere oder kürzere Verse,
am freisten behandelt. Als eine bedenkliche Irregularität aber mufs es
angesehen werden, wenn er sich auch Sieben füfs 1er, soll man sagen,
erlaubt, oder entschlüpfen läfst. Dergleichen sind mir acht aufgestofsen,
im Don Carlos V 4, 106; 6, 33, in den Pikkolomini II 5, 19; 7, 252 III 3,
106 ,in der Jungfiau IV 7,34, in Turandot III 5, 5 und in der Braut V. 1571.*)
Eine zweite Frage betriflft die Zulassung zweisilbiger Senkungen.
Anapästen statt der Jamben haben sich Lessing, Goethe und Schiller
in den Dramen seiner zweiten Periode nur selten und ausnahmsweise
gestattet. Lessing einmal im Fragment der Fatime V. 22, Goethe jedoch
nicht blofs wie Koberstein III S. 239 sagt, in der Iphigenie (aufser in
den mehr lyrisch gehaltenen kurzen Zeilen III i, 130 — 131 und III 2,
24 — 52) an zwei Stellen: III i, 35 und V 3, 151, sondern auch im Tasso
(abgesehen von den wiederholten Fällen, in denen die beiden Endsilben
von Eigennamen, wie Antonio und Sophrönie in der Senkung stehen.
*) Wie unsere Dichter Sechsf&fsler unter die Quinare zu mischen kein Bedenken
trag^en, so erlauben sich Goethe und Schiller in den in jambischen Trimetem geschriebenen
Partieen ihrer Dramen dies antike Versmafs gelegentlich durch FünfRilsler zu unterbrechen :
Goethe in Paläophron und Neoterpe 9, in „Was wir bringen** 2, im Vorspiel von 1807 und in
der Pandoraje i und in der FhaStonübersetzung 5 mal, Schiller in der Jungfrau 5, in der Braut
von Messina 6 mal. Ja, sie verirren sich auch hier bisweilen zu Siebenfufslernf wie denn Schiller
g'leich den 7. Auftritt des 2. Aktes der Jungfrau und Goethe den 4. Akt des Faust II mit
einemsolchen eröffnet. Aufserdem stehen Septenare in Paläophron und Neoterpe a (V. 9 und 64),
in «Was wir bringen** 3 (Auftr. 16 und 18), in der Pandora i (V. 19), in der Jungfrau i
(II 7, 46). Beiläufig sei bemerkt, dafs Goethe selbst in einem strophischen Gedichte streng
metrischen Baues, in der Braut von Korinth V. 25 ein sechsfÜfsiger Trochäus statt eines
fünfHifeigen untergelaufen ist, was schon Chamisso während der Entdeckungsreise, an der
er sich beteiligte, entdeckt, von den Erklärem aber meines Wissens niemand bemerkt hat.
1
324 Hennann Henkel.
I I, i8o; ferner im Mahomet III 8, 75 (in einem Vierfufsler), im Tankred
II 5, I (wenn hier nicht, „ew'ge'' statt ^ewige** zu lesen ist), in der
Natürlichen Tochter I 5, 150, im Prolog von 1793 V. 48, von 1807 V. 26,
von 1794 V. 3 (in einem Senar), im Epilog von 31. Dezember 1792 V. 38
(in einer Tetrapodie), im Prolog von 1793 V. 44 (in einer EHpodie),
endlich im Faust II 3, V. 1458, 1465 und 1466. — Ebenso ist es irrtümlich,
wenn Koberstein III 240 die Meinung ausspricht, Schiller habe zuerst
in Wallensteins Tod hin und wieder einen Anapäst. Es kommt dieser
Versfufs bereits im Don Carlos I 9, 81 ¥9,91 IV 20, 11, aufserdem
V 5, 25 in einer Tripodie, I 6, i in einer Dipodie, femer in der Iphigeniei. A-
I 2, 123 und in den Phönissen V. 272, in den Pikkolomini aber sogar
schon 27 mal vor. F^ür die folgenden Dramen stellt sich (Eigennamen,
wie Orleans und Manuel abgerechnet) folgendes Zahlen Verhältnis heraus:
Wallensteins Tod enthält 21, Maria Stuart 49, Makbeth 18, die Jungfrau
42, Turandot 30, die Braut 22, Teil 46, Phädra 56, Demetrius 9 Anapästen.
Von diesen aber gehören keineswegs, wie Koberstein statuiert, weit mehr
dem ersten, als der Mitte des Verses an ; nach meiner Zählung entMlen
auf den ersten Fufs 79, auf den zweiten die gleiche Anzahl, auf den
dritten 73, auf den vierten 37, auf den fünften 57 Anapästen, 2 auf den
sechsten Fufs eingesprengter Senare.*)
Von der Freiheit, „die Klopstock blofs für den Vers des geistlichen
Liedes beansprucht hatte, in jambischen und trochäischen Zeilen die
betonten und tonlosen Silben bisweilen ihre Stelle vertauschen zu lassen",
d. h. im vorliegenden Versmafs statt eines Jambus einen Trochäus zu
setzen, macht Lessing gar nicht, Goethe im Beginn des Verses aufser den
von Koberstein III S. 241 angeführten Stellen, Tasso II 4, 186 und
Tankred II 4, 28, auch in der Übersetzung der euripideischen Phaeton-
fragmente V. 124 („Feige zusein"), Schiller namentlich in seinen späteren
Dramen, und zwar häufiger im ersten Fufse Gebrauch, seltner im vierten,
dessen Arsis mit der Arsis des voraufgehenden Fufses alsdann zusammen-
stöfst. Auf diese beiden Stellen des Verses nämlich beschränkt sich nach
meinen Beobachtungen der in Rede stehende Rhythmuswechsel, so dafs
also der Vers mit einem katalektischen daktylischen Dimeter jl ^ ^ jl {^)
im ersteren Falle anhebt, im zweiten schliefst. Beispiele: Teil II 2, 493:
M >
„Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben"! II 3, 199: „Öffnet die
die Gasse! Frisch! was zauderst Du"? I 3, loi: (Wenn ihr den Vater
von den Kindern gerissen — ) „Und Jammer habt gebrächt über die
Welt"; II 2, 28: „Wer ist da? Gebt das Wort! Freunde des Landes.
Im ersten Fufse erscheint dieser Trochäus, oder wenn man will, Daktylus
*) Im jambischen Tr im et er macht Goethe, wie auch Schiller, vom Anapäst weit über die
Beschränkung des antiken Metrums liinaus ohne Bedenken den ausgedehntesten Gebrauch, weil
sie unserer Sprache die übrigen den Griechen zu Gebote stehenden Mittel Bewegung und
Mannigfaltigkeit in den Vers zu bringen versagt sahen. Goethe hat ihn im ersten Fufse 9,
im zweiten 16, im dritten 30, im vierten 20, im fünften 37, im sechsten 2, Schiller im
ersten 7, im zweiten und fünften Fufs je einmal.
Der Blankvers Shakespeares im Drama Lessings, Goethes und Schillers, 335
bereits im Don Carlos II lo, 42 und V 7, 22, in den Pikkolomini V 3, 51,
in Makbeth I 6, 66, in der Jungfrau II 4, 11 Vii,57 und (im Trimeter)
II 7, 82, ferner in der Turandot 20, in der Braut 22 (davon einer V. 2633
im Trimeter), im Teil 47, in der Phädra 5, im Demetrius 6 mal; im
vierten Fufse aufser den angeführten Stellen in der Jungfrau II 5, 4
(in einem vierfufsigen Verse), in der Turandot III 2, 119, im Teil I 3, 40
II 2, 209. 310 V I, 64 und im Demetrius I 434.
Eine trochäische Messung ist übrigens auch in Worten mit volllautigen,
tieftonigen Bildungssilben, wie lieh und ung, die als mittelzeilig gelten,
der fallende Rhythmus also auch in Versen anzunehmen, wie Tasso III
2, 126: „Ich hoffe Dich, so schön Du es verdienst, | Glücklich zu sehen.
Pr. Eleonore! Glücklich"? Im schliefsenden Trimeter des Vorspiels von
1807: (Bleibt Ihrer eingedenk, Genufs, Entbehrung — ) „Menschlich zu
r f
Übernehmen, aber männlich auch", und in Schillers Phädraübersetzung
IV 6, 105: „Sterblich geboren, darfst Du sterblich fehlen." Welches
Ohr würde in solchen Fällen eine jambische Messung ertragen? Vers-
anfange dieser Art habe ich aufserdem noch aus Goethes Pandora
V. 160 und 406 (in Trimetern), aus Teil I 3, 73 und aus der Phädra
III I, 34 und V 6, 24 notiert.*)
Dafs im Hervorbrechen des Affektes mit der Hebung ohne Auf-
taktsilbe begonnen wird, ist natürlich nur eine exceptionelle , einer
schlagkräftigeren Wirkung dienende^ Anomalie. So im Tasso II 6, 65
(avo Düntzersche Konjekturen vom Übel sind): — „Schwelle Brust! —
O Witterung des Glücks"; bei Schiller in den Pikkolomini IV 6, 7 der
Ditrochäus: „Lichter! Lichter", in der Braut V. 1909: „Rache! Rache!"
u. s. w. Auf einen komischen Effekt ist es abgesehen, wenn Pantalon
in der Turandot II 3, 71 fragt: „Was, Herr, in aller Welt Treibt Euch
aus fernen Landen herzukommen Und Euch frischweg, wie Ihr vom
Pferd gestiegen, Mir nichts, Dir nichts, wie ein Ziegenbock, Abthun zu
lassen"? In dem Verse der Maria Stuart I 8, 67: | B. „Wenn sie (die
Königin) nur äufmerksämre Diener hätte. | P. Aufmerksämre? B. Die
einen stummen Auftrag Zu deuten wissen" verlangt die Wiederholung
des Wortes „Aufmerksämre" natürlich eine trochäischc Messung der
zweiten Zeile.**) Der trochäische Quinar endlich in Goethes Epilog
*) In eigentümlicher Weise treten in solchen Versanfangen mit fallendem Rhythmus
bis^ireilen drei Silben in der Senkung auf, z. B. in Goethes Pal. und Neot. 6: „Könnte man
^ t t f f I r ^ ^
auch fordern, dafs ich sagte, wer ich sei?" Bei Schiller im Makbeth IV 7,63: „Fasse Dich!
Aus unsrer bltügen Rache" (Lafs uns Arznei bereiten) und im Teil II 2,312: „Unser ist
durch tausendjährigen Besitz (der Boden). "
**) Ebenso ist im Demetrius I V. 499 (Die besten Waffen wird dir Rufsland geben:)
„Rüfeland wird nur durch Rüfsland überwunden" Rufsland als sogenannter Spondeus mit
fallendem Rhythmus anzusehen, der Vers also trochäisch, nicht jambisch zu lesen.
Ztichr. f. vgl. Litt-Geich. I. 22
1
326 Hermann Henkel.
vom 31. Dezember 1792 V. 39 kommt auf Rechnung der laxeren Form,
die Produktionen dieser Art zugestanden wird.
Was den gereimten Quinar betrifft, so fehlt derselbe bei Lessing
noch gänzlich. Ebenso der reinhaltenden Natur des Dichters gemäfs bei
Goethe in den im jambischen Fünffiifsler geschriebenen Stücken. Nur
der zweite Teil des Faust 3, 890 fg. und 924 fg. enthält in den ent-
sprechenden metrischen Partieen ein paar Reime, welche die Wechselrede
zwischen Faust und Helena hervorlockt, und das Festspiel Epimenides
II 6, V. 16 fg. einen solchen in zwei abschliefsenden Versen. Auch
Schiller hat ihn in seinen früheren Stücken noch nicht; erst von den
Pikkolomini an bedient er sich desselben, nach Kobersteins Vermutung,
IV 494, Anm. 91, angeregt durch A. W. Schlegels Horenaufsatz „Etwas
über W. Shakespeare", jedoch nicht blofs in Szenenschlüssen, sondern
auch sonst an Stellen, in denen sich eine erregtere und gehobenere
Seelenstimmung kundgiebt. Die Pikkolomini bringen 16, Wallensteins
Tod 49, Maria Stuart 139, Makbeth 36, die Jungfrau 77, Turandot 68,
die Braut 182, Teil 104 solcher gereimter Quinare. Der Hang zum
Sentimentalen aber verleitet den Dichter in der Maria Stuart, Jungfrau
und Braut aufserdem zur Einmischung wechselnder lyrischer Formen,
in denen die Trägerinnen jener Dramen (Maria in 32, die Jungfrau in
126, die Braut in 147 Versen) ihre Gefühle ausströmen. Erst im Teil
gewinnt der epische, realistische Geist, der die Wallensteintragödie durch-
weht, wieder die Oberhand in ihm, er giebt jene bedenkliche Stilmischung
auf, rückt die (freilich bei ihm unvermeidliche) Liebesszene mehr in den
Hintergrund und läfst sie aus dem Rahmen des dramatischen Jambus
nicht heraustreten. Im Demetriusfragment endlich findet sich, wie in der
Phädra I 3, 114 — 115, der Reim nur noch ganz vereinzelt in den Versen
I 724 und 725. Es scheint, als habe der Dichter den Gebrauch desselben
für die Folgezeit noch mehr einschränken wollen.
Schliefslich noch ein Wort über das Verhältnis, in welches die
Periode der Rede zur metrischen Form, in deren Schranken sie sich
bewegt, von unsern Dichtern gesetzt wird. Feinsinnige Bemerkungen
hierüber enthält das 5. Kapitel der Technik des Dramas von G. Freytag,
die im Folgenden benutzt sind. Der funffiifsige Jambus träg^ weniger
als alle anderen dramatischen Mafse den Charakter der Geschlossenheit;
seine Kürze ^und die Ungleichheit seiner Fufszahl drängt die Rede von
selbst zum Überschlagen aus der einen in die andere Versreihe. Nun
können solche Verskomplexe^ welche die Rede in Anspruch nimmt, von
gröfserer oder geringerer Ausdehnung sein und es können innerhalb
derselben die Satz- und Verseinheiten sich decken, die Gliederpausen
der Periode mit den Cäsureinschnitten und Versschlüssen zusammenfallen,
oder kontrastieren und, um Monotonie zu vermeiden, in Widerspruch
gesetzt werden. Im Allgemeinen also harmoniert die Rede Goethes am
reinsten und vollkommensten mit dem Bau des Verses und entfaltet sich
ihrem gehaltenen Charakter entsprechend in Versgruppen von mäfsigerem
Umfang. Allerdings laufen seine Verse da, wo sie am saubersten
gearbeitet sind, in der Natürlichen Tochter, Gefahr an Leben und Kraft
Ein Franzose als Originalverfasser eines deutschen Theaterstückes. 3^7
einzubüfsen; sie würden hier oft schöner sein, wenn weniger schön,
um ein nach anderer Seite gerichtetes Wort Fr. Vischers zu gebrauchen,
gerade so wie Lessing (an seinen Bruder, i. Dezember 1778) von den
seinigen erklärt hatte, dafs sie viel schlechter sein würden, wenn sie viel
besser wären, d. h. wenn die auf Reinheit der Form verwendete Sorgfalt
den eigentümlichen Pulsschlag seines Stils unterdrückt hätte. Das Pathos
der Redeweise Schillers bedarf zu seiner Entfaltung eines breiteren
Spielraums, gröfserer Versmassen und einer freieren, ungezwungneren
Bewegung innerhalb der metrischen Schranken, wie er denn beispiels-
weise zu Wortbrechungen am Schlufs der Verse, die sich Goethe nur
einmal in der Pandora V. 1 24 erlaubt, wo er sie nötig hat, ohne Bedenken
greift (in Maria Stuart, der Jungfrau und Turandot je 2, im Makbeth 5, im
Teil 3, in der Iphigenie i. A., Phädra und im Warbeck je einmal). Am
wenigsten endlich bindet sich Lessing an die Gliederung des Verses.
Das dramatische Leben und die Rastlosigkeit seines Stils durchbrechen
den metrischen Bau unaufhörlich. Es giebt wohl kaum einen Dichter,
der vom Frage-, Ausrufungszeichen und Gedankenstrich so häufig Gebrauch
gemacht hat, wie er. Interjektionen, Einwürfe, Gedankenpausen, kurze
Stöfse des Affektes hemmen den Lauf der Verse immer von Neuem,
bis dann „die aufsteigenden Wirbel die rhythmische Strömung einer
längeren Rede wieder überzieht."
Wernigerode.
-•••—
Ein Franzose
als Originalverfasser eines deutschen Theaterstückes.
Von
Theodor Süpfle.
Kurze Zeit, nachdem Iffland Direktor des königlichen Nationaltheaters
in Berlin geworden war, wurde unter seiner Mitwissenschaft eine
der im vorigen Jahrhundert so häufigen litterarischen Mystifikationen in
scherzhafter Weise unternommen und mit Geschick durchgeführt. Der
Urheber dieser artigen Täuschung, welche bisher unbekannt geblieben
zu sein scheint, ist der französische Schriftsteller Beaunoir, welcher in der
Vorrede zu seinem in Paris im Jahre 1807 erschienenen vieraktigen Drama
„les Libellistes" in eingehender und anziehender Darstellung davon Kunde
g-iebt. Wir lassen ihn selbst erzählen.
„Ich war," berichtet er, „im Jahre 1796 in Berlin, und hatte die Be-
kanntschaft Ifflands gemacht, welcher, wie unser Moliere, zugleich Schrift-
22*
S28 Theodor SüpHe.
Steller, Schauspieler und Leiter des grofsen Theaters ist. Wir stritten
eines Tages über die dramatische Kunst, und ich warf ihm vor, dafs er
die englischen Schwanke unseren besten französischen Lustspielen vorzöge.
Ich erkenne, erwiderte er, vollkommen die Überlegenheit des Pariser
Theaters gegenüber demjenigen von London, aber das letztere sagt
unserem Nationalgeschmacke mehr zu. Wir finden die französischen Lust-
spiele ohne Bewegung, ohne Interesse; alles ist in ihnen schon angedeutet,
nichts überrascht uns in denselben. Es sind lange Gespräche, allerdings
gut dargestellt, aber zu frostig. Wir wollen erregt, zum Staunen, zum
Mitgefühl geführt sein, und Ihr Franzosen habt zu viel Geschmack, um
Einbildungskraft zu haben.
„DieserVorwurf traf mich lebhaft; ich behauptete ihm, dafs der geringste
unserer Schriftsteller, sobald er es nur wolle, ein Drama machen könnte,
welches allen Kotzebueschen überlegen sei. Und um es ihm zu beweisen,
schlug ich ihm die Wette vor, dafs ich ihm in vierzehn Tagen eine Arbeit
vorlegen würde, durch w^elche die Deutschen selbst irre gefuhrt werden
würden. Er nahm die Wette an. Ich schrieb „les Libellistes", wobei ich
mich sorgfaltig hütete, irgend einer Regel zu folgen und, indem ich das
Kolorit des Charakterlustspieles mit der düstern Färbung des Dramas
vereinigte, liefs ich mein Werk ganz treu und wörtlich durch Frau Unger,
die Gattin des königlichen Buchdruckers, übersetzen. Das Stück wurde
gelesen, angenommen, mit dem gröfsten Erfolge gespielt, und kein einziger
Deutscher hatte eine Ahnung, dafs es die Arbeit eines Franzosen sei, da
ich IfFland Verschwiegenheit versprochen hatte."*
Diese Auffuhrung der „Libellisten" in deutscher Sprache fand in
Berlin im Jahre 1 797 statt. In französischer Sprache, also der Ursprache,
wurde das Drama in Paris an den „Varietes etrangeres" am 14. Januar
1807 gegeben. "Es schliefst pathetisch mit dem Ausspruche: Dieu fit du
repentir la vertu des mortels.
Obiger Mitteilung fugte Beaunoir am Schlüsse seiner Vorrede noch
einen Hinweis auf das freibeuterische Verfahren englischer Schriftsteller
bei, von welchem er aus eigener Erfahrung folgende Probe giebt.
„Ich hatte", erzählt er, „in das Deutsche das Lustspiel „les Amis du
jour" übersetzen lassen, welches mit Erfolg auf dem „theätre des Italiens''
im Jahre 1784 gespielt worden war. Bei meiner Ankunft in Hamburg,
legte ich es Schröder, dem Direktor des deutschen Theaters, vor. Dieser
brach in Lachen aus, als er die erste Szene davon las und sagte mir,
dafs er dieses Lustspiel nach ,dem Originalstücke (!) übertragen habe^
welches englisch sei und die Überschrift „Eine Viertelstunde vor dem
Mittagessen" führe."
Zum Schlüsse wollen wir noch ein anderes Beispiel litterarischer
Täuschung aus dem Ende des 18. Jahrhunderts in aller Kürze mitteilen.
Es verdient hauptsächlich deshalb Erwähnung, weil es als indirekter
Beweis für das Interesse dienen mag, auf welches damals deutsche
Schriften in Frankreich rechnen zu können schienen.
Im Jahre 1771 nämlich wurde in Paris ein Feenroman unter folgender
Aufschrift veröffentlicht: „la Vertu eprouvee ou les aventures de Lieb-
Rose, histoire scythe, imitee de Tallemand par M. le Chevalier de ***-.
Nachricht über drei höchst seltene Faustbücher. 829
Der Zusatz „imitee de l'allemand" war nichts als eine Art von Lock-
mittel dem Publikum gegenüber. Denn die sinnlichen Schilderungen,
welche in den sonst ganz läppischen und langweiligen Roman eingefugt
sind, verraten einen durchaus französischen Ursprung. Auch gab sich
der ungenannte Verfasser keine sonderliche Mühe, seiner Täuschung den
Schein der Wahrheit oder auch nur der Wahrscheinlichkeit zu leihen.
Er giebt nämlich im Vorworte unter offenbarer Fiktion folgendes über
die Entstehung seines Buches an. Ein junger Franzose habe in Deutsch-
land das deutsche Original, dessen Stellen er nicht sämtlich verstanden
habe, von einem Bauern gekauft, welcher es unter seinem Pfluge in einem
Grabe aufgefunden habe. Die vorgelegte Übersetzung sei treu unter
Beibehaltung einiger Nachlässigkeiten.
Der angeblich deutsche Ursprung sollte also dem Roman zugleich
als Empfehlung und Entschuldigung bei französischen Lesern dienen!
Heidelberg.
-•••-
Nachricht über drei höchst seltene Faustbücher.
Von
Karl Engtet.
In meinem Buche: „Zusammenstellung der Faust-Schriften vom i6. Jahr-
hundert bis Mitte 1884", (Oldenburg, Schulzesche Hof-Buchhandlung
1885) ist auf Seite 76 unter Nr. 217 ein Faustbuch vom Jahre 1589 ver-
zeichnet, dessen Titel nur unvollkommen angegeben werden konnte, nach
Angabe einiger Schriftsteller, welche diese Ausgabe erwähnen. Das Buch
selbst aber war nirgends aufzufinden trotz aller Bemühungen, weshalb
auch eine bibliographische Beschreibung fehlt, und die Nummer mit den
Worten schliefst: „Das Vorhandensein eines Druckes aus dem Jahre
1589 ist nach obigen Zeugnissen nicht zu bezweifeln, obgleich bis jetzt
keine Bibliothek bekannt ist, welche diese Ausgabe besitzt"
Dieses ganz überaus selten gewordene Buch ist nun aufgefunden
und befindet sich in der bedeutenden Privat-Bibliothek des Herrn
Dr. jur. Heinrich Apel, auf dessen Rittergut Ermlitz (Reg.-Bezirk
Merseburg). Aufserdem besitzt Herr Dr. H. Apel eine bis jetzt noch
ganz unbekannt gebliebene Ausgabe eines Faustbuches vom Jahre
1597 und ein höchst seltenes Wagnerbuch vom Jahre 1 596. Letzteres
Buch wurde in meiner „Zusammenstellung" Seite 143 unter Nr. 301 ver-
zeichnet, aber eine nähere Beschreibung zu geben war nicht möglich, da
das Buch seiner Seltenheit wegen durchaus nicht aufzutreiben und, so
weit mir bekannt, auch noch nirgends näher beschrieben worden ist.
Durch freundliches Entgegenkommen des Herrn Dr. H. Apel, lagen
mir genannte drei seltene Bücher vor, und ich glaube den Wünschen vieler
1
880 Karl Engel.
Freunde der Faust-Litteratur zu entsprechen, wenn ich eine Beschreibung
dieser Bücher als Ergänzung zu Abschnitt 11 und III meiner „Zusammen-
stellung der Faustschriften etc." hier folgen lasse.
L
Faustbuch vom Jahre 1589.
Titel: HISTORIA | üon Doct^o- | hann Fausti, 6es ausbünöi«
9«n ^änbtxets vnb Sdivoat^fünp \ lers tCeuffeltfdjer ücrfdjreibung, lln<]^rtftK> ,
d^em Ceben vnb WanM, fe(t5amen Zlbentt^etD* | ren, andf überaus gramltd^m
vnb er« | fdjrecfitdjem €nöe. | (Holzschnitt.) ^eiji auffs Ttetoe überfeinen, vnnb '
mit Dielen Stüden gemeiert. | (Strich) | M.D.LXXXIX. 8.
Druckort und Verlagsfirma sind nicht genannt. Der Titel enthält
II Zeilen, wovon die 2. 3. 9. und 11. Zeile rot gedruckt ist.
Der Holzschnitt auf dem Titelblatte (5 cm 4 mm hoch und 7 cm
breit) grob ausgeführt, stellt im Vordergrund Faust mit einem langen
Mantel dar, der dem neben ihm stehenden Teufel, der ganz schwarz ge-
halten und mit Hörnern, Schweif und Krallen versehen ist, ein Papier
(wahrscheinlich die Verschreibung) übergiebt. Im Hintergrunde befinden
sich einige Szenen aus Fausts Leben. Links unten (vom Beschauer) über-
giebt der Teufel dem Faust einen Sack mit Geld, beide fassen den Sack
mit der linken Hand. Den rechten Arm hält der Teufel etwas in die
Höhe, über der Hand befindet sich ein Gegenstand wie ein Becher.
Links oben fliegt der Teufel mit Faust durch die Luft. Rechts oben be-
finden sich zwei Teufel, die Fausten bei den Füfsen erfafst haben, Fausts
Kopf ist nach unten gekehrt. Rechts unten befindet sich eine kleine männ-
liche Figur. Auf der Rückseite des Titels ein lateinisches Epigramm
(Dixeris infausto non abs re sidere natum etc.) gleichlautend mit dem
Abdruck bei Nr. 221 auf S. 80 in meiner „Zusammenstellung der Faust-
schriften".
Nach dem Titelblatte folgen unter Signatur xij u. s. w. sieben Blätter
Vorrede ohne Seitenzahl. Die Vorrede stimmt inhaltlich mit der bei
Spies (1587) überein, nur sind am Schlufs hier die Worte weggelassen:
„auch in kurtzem defs Lateinischen Exemplars von mir gewertig seyn"*.
Die Widmung an Kaspar KoUe und Hieronimus Hoff fehlt. Der ganze
Vorstofs besteht also aus 8 Blättern oder i Bogen.
Hierauf folgt die Historia auf 228 bezifferten Seiten, mit der durch-
gehenden, links und rechts verteilten Seitenüberschrift: „Historia | von
D. Fausten". In den Seitenzahlen befinden sich zwei Druckfehler, statt
S. 27 ist 37, ferner statt S. 139 falschlich 129 angegeben. Die Kapitel
im Text sind nicht nummeriert wohl aber im Register, welches 73 Kapitel
zählt, jedoch zwischen 43 und 44 ist im Register ein Kapitel aufzufuhren
vergessen worden, unter Beachtung dieses Kapitels würden es 74 sein.
Der bei Spies (1587) unter dem letzten Kapitel der Historia angegebene
Bibelspruch i. Pet. V. „Seyt nüchtern vnd wachet" etc. fehlt in dieser
Ausgabe. Nach der Historia folgen fünf unbezifferte Blätter, wovon
Nachricht über drei höchst seltene Paustbücher. 831
vier Blätter das Register enthalten. Das fünfte Blatt enthält ein lateinisches
Gedicht mit der Überschrift Lectori S. Am Schlufs desselben eine kleine
Verzierung, ähnlich einem Kleeblatte, dann: „Gedruckt im Jahre 1589".
Der Vorstofsbogen ist, wie schon erwähnt, blattweis unten mit
X ij. X iij u. s. w. bezeichnet, die übrigen Bogen mit den Buchstaben A bis P.
Der Text ist stilistisch geändert, auch sachlich hier und da ab-
weichend, so z. B. giebt diese Ausgabe auch Fausts Geburtsjahr (1491)
an, und erzählt sechs neue Historien, welche bei Spies (1587) nicht vor-
handen sind.
Ein Vergleich der Kapitel des ältesten Faustbuches von 1587 mit
der Ausgabe von 1589, ergiebt folgendes. Kap. i bis 27, sind in beiden
Ausgaben dem Inhalte nach gleich. Kapitel 28 „Von einem Cometen"
in der Ausgabe von 1587, fehlt in der Ausgabe von 1589. Die Kapitel
29 bis 50 in der Ausgabe von 1587, sind mit Kapitel 28 bis 49 in der
Ausgabe von 1589 wieder gleich. Nun kommen in der Ausgabe von
1589 6 Kapitel, welche in der Ausgabe von 1587 nicht vorhanden sind.
Bs sind dies folgende: Kap. 50. „Doctor Faustus schenket den Studenten
zu Leipzig ein Fafs mit Wein." (Der berühmte Fafsritt aus Auerbachs
Keller.) Kap. 51. „Doctor Faustus profitirt zu ErfFord den Homerum,
weiset auch vnnd stellet seinen Zuhörern vor die Griechischen Helden."
Kap. 52. ^Doctor Faustus wil die verlornen Komödien Terentii vnnd
Plauti alle wider ans Licht bringen." Kap. 53. „Doctor Faustus kömpt
vnuersehens in eine Gasterey." Kap. 54. „Doctor Faustus richtet selbst
eine Gasterey an." Kap. 55. „Ein Münch will Doct. Faustum bekehren."
Kapitel 51 bis 66 der Ausgabe von 1587, sind mit Kapitel 56 bis
71 der Ausgabe von 1589 wieder gleich. Kapitel 67 und 68 der Ausgabe
von 1587 sind in der Ausgabe von 1589 in umgekehrter Ordnung, hier
handelt Kap. 72 von der Oration an die Studenten, während 73 das
letzte Kapitel vom „schrecklichen Ende Fausts" handelt.
Die längst vermifste, nun endlich aufgefundene Ausgabe von 1589,
füllt eine grofse Lücke in die Reihe der Faustbücher des 16. Jahrhunderts
aus und hat für die Faustlitteratur in sofern grofses Interesse, dafs die
verschiedenen Gruppen des Textes in ihrer Abhängigkeit von einander,
nun mit Bestimmtheit festgestellt und veranschaulicht werden können.
Die in meiner „Zusammenstellung der Faust-Schriften" verzeichneten
Ausgaben unter Nr. 218, 220, 221, 222, wie auch die niederländische
und flämische Übersetzung, haben alle, wie eine Vergleichung ergiebt,
die Ausgabe von 1589 als Vorlage benutzt.
Als lokalgeschichdiches Interesse dürfte noch zu erwähnen sein, dafs
die Ausgabe von 1589 die erste ist, welche (Kap. 50) den berühmten
Fafsritt aus einem Weinkeller zu Leipzig, (von der Sage nach Auerbachs
Keller verlegt) erzählt.
n.
Faustbuch vom Jahre 1597.
Titel: HISTORIA | oon Doct 3oljan | ^aufti, öes aufbünötgcn |
3<Jubcrer5 vnb ScfjcDar^fünftlers | Ceuffelifdjer ücrfdjrcibung, Uudjrift» | lidjctn
832 Karl Engel.
tebtn vnb Wanbcl, ^dtyxmeix 2Ibenb> | il^ewvm, Tlndtf vhctaus ^ewlxd)cm
vnb crfdjrcrfltdjcm €n= | 6c. (Holzschnitt.)
3«i^t auffs netD pbcrfe^cn, vnb | mit ptclcn 5tu(fen geme^ret. | (Strich.)
(ßcörucft im ^aift, 1597. 8.
Druckort und Verlagsfirma sind nicht genannt. Der Holzschnitt
auf dem Titel, ist genau dasselbe Bild, wie solches die Ausgabe von
1589 hat. Die zweite und dritte Zeile des Titels ist rot gedruckt, ebenso
die erste und dritte Zeile unter dem Bilde. Auf der Rückseite des
Titels steht dasselbe Gedicht wie es die Ausgabe von 1589 hat,
(Dixeris infausto etc.), nur ohne Überschrift „Epigramma** und mit gjad-
stehenden Lettern gedruckt, während 1589 liegende Lettern hat. Es
folgen sieben Blätter ohne Seitenzahlen, welche die Vorrede enthalten.
Die Widmung fehlt, wie in der Ausgabe von 1589.
Hierauf folgen 164 bezijßferte Seiten Text mit der durchgehenden
links und rechts verteilten Seitenüberschrift: ^Historia | von Doctor
Fausten."" Die Historia besteht aus 74 im Text unnummerierte, im
Register nummerierte Kapitel. Hier ist das bei 1589 vergessene Kapitel
mit im Register aufgenommen, daher die anscheinende Vermehrung. Die
Kapitel sind inhaltlich mit 1589 gleich, auch enthält diese Ausgabe die
sechs neuen Kapitel aus der Ausgabe von 1589, nur haben sie hier im
Register die Nummern 51 bis 56. Das Kapitel „Von einem- Cometen**
fehlt hier gleichfalls. In den Seitenzahlen der Historia sind verschiedene
Druckfehler, z.B. 16 statt 26, 65 statt 66 und 66 statt 67, 113 statt
115 etc. Der Druck ist wesentlich kleiner wie in der Ausgabe von 1 589,
daher die geringere Seitenzahl. Nach der Historia folgen fünf Blätter
ohne Seitenzahlen, wovon drei Blätter und der obere Teil der Stirnseite
vom 4. Blatt das Register einnimmt. Unter dem Register steht „(EHIXE"
darunter eine kleine Holzschnittverzierung. Auf den folgenden zwei
Seiten ein lateinisches Gedicht wie in der Ausgabe von 1589. Das
Buch besteht aus 12 Bogen, die mit 2t bis 2X1 bezeichnet sind.
Das Format der Ausgaben von 1589 und 1597 ist kl. 8, etwa 15 cm
hoch 9,8 cm breit, ähnlich der übrigen Ausgaben der Faustbücher des
16. Jahrhunderts.
m.
Wagnerbuch vom Jahre 1596.
Titel: 2tn6er tE^eil b, 3o^- ;J<iufti ^iftorien: | Darin befd^rtc* | bcn tfl
Cljriftopljori IDagners, öes | ^aufti gctDcfcncn VxsdpAs auffgeric^tcr (>ad, fo
er I mit 6em Ccuffcl gemacht, meldjer ftdj TXucxlfan gc» | nant, vnb jene in
eines Ztffen geftolt crfdjienen, 2tudj | feine 2tbent^eit>rii(fje Poffen, meiere er
öurdj I Beföröerung 6es tEeuffels geübet, vnb get^an Ifat \ Heben Befdjreibung
5er nemen 3n» | [el, was für £eute öarinnen mo^nen, Unb von jrem | (Sottcs-
Menft, 6en fie ^aben, 2tudj wk fie | oon 6en Spaniern eingenommen ) moröen.
3nt 3aljre (Holzschnitt) 1596.
2tlle5 aus feinen perlefenen Sd?riff» | ten genommen, pn5 in Drucf perfertigt
bnvdf ^. S. 80.
Nachricht über drei höchst seltene Faustbücher. 333
Der kleine Holzschnitt auf dem Titel stellt einen Mann dar mit langem
Rock und einer Narrenkappe. Der Holzschnitt ist 4,6 cm hoch und
3,5 cm breit.
Die beiden Buchstaben F. S. sollen heifsen: „Friedericus Schotus".
Der Titel besteht aus 17 Zeilen, wovon die 2. 3. 9. und 15. Zeile rot
gedruckt ist; desgleichen die Jahreszahl 1596 in der 14. Zeile. Nach
dem Titelblatte folgen 4 Blätter mit „Vorrede an den günstigen Leser,
F. S. etc.** Die Vorrede ist unterschrieben: Datum den 10. Mey Anno
1594. E. G. (Euer Gehorsamer) F. S. (Friedericus Schotus.) Dann
folgt der Text auf 118 Blättern ohne Seitenzahlen. Am Schlufs des
Textes steht: Gedruckt im Jahr 1596. Der Text ist mit zweierlei Typen
gedruckt, anfangs mit gröfserer, weiter zum Schlufs mit kleinerer Schrift.
Ein Register ist nicht vorhanden und es ist zu bemerken, dafs sämtliche
Wagnerbücher aus dem 16. Jahrhundert kein Register haben. Format
des Buches kl. 8.
Dresden.
BESPRECHUNGEN.
SQpfJe, Theodor: Geschichte des deut-
schen Kultureinflusses auf Frank-
reich mit besonderer Berücksich-
tigung; der litterarischen Einwirkung.
Erster Band. Von den ältesten germanischen
Einflüssen bis auf die Zeit Klopstocks. Gotha,
Thienemann, 1886, XXII, 8«. 359 S. M. 7.
Einen Gegenstand von aufserordentl icher
Bedeutung für die neuere Kulturgeschichte
Central europas bildet die Wechselwirkung
der Civilisation Deutschlands und Frank-
reichs. Was haben die Deutschen und
Franzosen einander zu verdanken? Welchen
Einflüssen des nationalen Geistes, welchen
Erzeugnissen leiblicher und geistiger Arbeit
haben sie sich gegenseitig zugänglich er-
wiesen? Welche Wirkungen haben solche
Einflüsse des Geistes der Nachbarn auf die
Kultur jedes der beiden Völker ausgeübt?
Während nun kaum bestritten wird, dafs
P'rankreichs Civilisation in verschiedenen
Zeitaltern auf Deutschland wirkte, sind, wenn
man von der Völkerwanderung und vom
19. Jahrhundert absieht, deutsche Kulturein-
flüsse auf Frankreich im Allgemeinen ent-
weder nicht bekannt oder sind sogar ge-
leugnet worden. Obschon nun der Kundige
wohl weifs, dafs es an Material zur Be-
handlung dieses Gegenstandes, der in der
Geschichte Frankreichs immer wieder in
Sicht kommt, durchaus nicht mangelt, wagt
er sich nicht leicht daran, aus Furcht, es
möchte, trotz allem Reichtum des bisher
zu Tage geförderten Quellenmateriales, doch
mancher wichtige Beleg, sogar manche Quelle
von erheblicher Ausbeute seinem spähenden
Auge entgangen sein, zumal da solche Belege
dem aufserhalb Frankreichs Lebenden nicht
immer leicht zugänglich sind. Fortes fortuna
adjuvat! Besitzt einer den Mut, das, was so
manchem auf der Zunge schwebte, einmal zu
gestalten und auszusprechen, so dankt man
es ihm, dafs das Stillschweigen gebrochen
ist. Herr Süpfle hat sich das bleibende
Verdienst erworben, das Thema des deutschen
Kultureinflusses auf Frankreich durch eine
Gesamtdarstellung grundlegend behandelt zu
haben.
Die Untersuchung dieses Gegenstandes
teilt sich eigentlich in die Beantwortung
zweier Hauptfragen: einmal, welche Mitgift
brachten Germanias Töchter zur Zeit der
Völkerwanderung nach Gallien, und sodann,
was hat Germania seither an den französischen
Haushalt noch weiter beigesteuert?
Bei Erörterung der ersten Frage kommen
drei der kulturf^higsten germanischen Volks-
stämme in Betracht: Burgundionen, Gothen
und Franken. Selbstverständlich hat der
Verfasser denjenigen Elementen, die einen
Volkscharakter bilden oder ihn erkennen
lassen, Sprache, Recht, Sitte, Glaube, Be-
schäftigung, Leibesgestalt gebührende Auf-
merksamkeit geschenkt, ohne sich über die-
selben in ausschweifenden Untersuchungen
zu ergehen; er konnte hier mehr über den
Reichtum des Stoffes, den andere Gelehrte
ans Licht gefördert, als über den Mangel an
Besprechangen.
a85
solchem in Verlegenheit geraten, und die
Selbstbeherrschung, mit welcher er den
Reix zur breiten Darstellung der Urzeit in
sich zurückdrängte, charakterisiert von vorne-
herein schon eine Meisterschaft."
Dabei wäre zu erwägen gewesen, in
welchem numerischen Verhältnisse die ein-
gewanderten Germanen zu den bisherigen
galloromanischen Einwohnern standen; denn
auf diesem Verhältnisse wird , zum Teil
wenigstens, die Ursache des Fortbestands
oder des Untergangs germaniseher Nationalität
in Frankreich beruhen. Mochten nun auch
die Eroberer ihre Sprache frühzeitig (vieU
leicht früher*) als der Verf. voraussetzt)
einbüisen, so brachten sie doch auf dem
ganzen Gebiet ihrer Eroberung germanisches
Recht, germanische Wirtschaft und Ver-
waltung sowie germanisches Kriegswesen
zur Geltung.
Das angeborne Stammesrecht ging nicht
verloren, wenn ein Individuum sich etwa in
einer andern Provinz niederliels; es war sein
unveräußerliches Eigentum, dessen ihn nie-
mand berauben konnte. Darum lebten damals
in einem Gebiete oft Leute des verschiedensten
Rechts wie der verschiedensten Zunge. Eine
Idee dieses Zustandes giebt uns Agobard von
Lyon (t 840), der in einer Streitschrift gegen
die Lex Gundobada (Opera ed. Baluzius.
Paris 1666, I, 113) von Burgund sagt:
Tanta diversitas legum, quanta don
solum in singulis regionibus aut
civitatibus, sed etiam inmultis domi-
bus habetur. Nam plerumque con-
tigit, ut simul eant aut sedeant
quinque homines et nullus eorum
communem legem cum altero habet.
Es könnte darum auf ein leichtes Misver-
ständnis führen, an dem das außerordentlich
instructive und gelehrte Buch Rudolf Sohms
über jdie fränk. Reichs- und Gerichtsverfassung
nicht ganz unschuldig ist, wenn es S. 11
heifst: „Das öffentliche Recht in allen
•) Fanden sich doch Franzosen schon im
8. Jahrh. veranlafst, franz. -deutsche Gespräch-
bücher anzulegen (Kasseler Glossen).
seinen Teilen war im ganzen Lande fränki-
sches Recht;** wenigstens mülste hier der
Ausdruck „öffentliches Recht** (Staatsrecht)
im strikten Gegensatz zum Privatrecht auf-
gefafst werden.
Wie vom Fortleben germanischen Glaubens
(bezw. Aberglaubens) und germanischer Sitte
Zeugnisse angeführt werden konnten, so
auch vom Fortbestand deutscher Art der
Landwirtschaft mit dem Betriebe in drei
Feldern, wovon Belege bis auf unsere Zeit
beizubringen gewesen wären. In dem Lieblings-
striche fränkischer Niederlassung, wo auch
die Könige sich mit Vorliebe aufhielten, im
vadensischen Gau (dem spätem Herzogtum
Valois an der Oise und Aisne), konnte noch
im vorigen Jahrh. ein Bauer aus Deutsch-
land, wenn er französisch sprechen lernte, in
dem Betriebe ländlicher Wirtschaft sich sehr
leicht zurecht fmden. Das ist auch ein
Beweis zäher Lebensfähigkeit germanischer
Bauersame.
Bei der Schilderung germanischer Sinnes-
art erwähnt der Verfasser die deutsche
Treue. Aber gerade dem fränkischen Stamme
machen die Römer übereinstimmend den
Vorwurf der Treulosigkeit. Salvianus de
Gubematione Dei IV, 14: Gens Saxonum fera
est, Francorum infidelis, Gepidarum inhumana,
sed numquid tarn accusabilis Francorum per-
fidia quam nostra? Si pejeret Francus, quid
novi faciet, qui perjurium ipsum sermonis
genus putat esse, noncriminis? VII, 15: Franci
mendaces, sed hospitales. Flav. Vopiscus in
Proculo XIII, 4 (Teubn.) : A Francis origincm
se trahere ipse dicebat, ipsis prodentibus
Francis, quibus familiäre est ridendo fidem
frangere. Procop. de Bello Gothico II, 15
(p. 247 ed. Bonn.): ^Ean yäp i^voq touto tö
ic fdoTtv a^fiXeptorarov äv^pwittov diaiuTutv.
II, 28 (p. 263): 7<) dk dr^ TOUTtÜV TTKrTOV, w
ypTftp^at aby^ntjofit i^ TWivra^ ßapßdpouqt fierd
ye ßopiyYouq xcd ro Boopyoou^uovwv ii^uag, xal
i^ Toö<; ^ofifid)(o(}^ opjSiq laipä rStv ävdp&v
iTo^edetxTat . . . xal rt fJet rä ^i^daa>ta Xiyov-
ra^ i/le^ecv vd rwv ^pdYywv ätrißr^iia. Die
germanische Treue tritt, wie man aus
den epischen Liedern weifs, mehr in dem
886
Besprechungen.
Verhältnisse des Maooes cum Herrn zu Tage
als in den Gebieten, in welchen wir Moderne
sie suchen; dieselben Franken, die hier als
perfid im Verkehr mit andern Stämmen und
Völkern geschildert werden, erscheinen in
ihrer Geschichte und in ihren Liedern als sehr
eifersüchtig auf die unangetastete Ehre der
Mannentreue, wovon die französische Be-
theuerung foi de gentilhomme! noch ein
spätes Echo enthält.
In Hinsicht auf die angebliche Frauen-
verehrung ist der Verfasser, wie mir scheint,
gegen die herrschende Stimmung etwas zu
nachsichtig gewesen. Es wäre an der Zeit,
diesen schmeichelhaften Traum von einem
besondem Frauenkultus der Germanen endlich
fahren zu lassen. Die arischen Völker alle,
nicht nur die Germanen, haben dem Weibe
eine (allerdings mehr oder minder) menschen-
würdige Stellung angewiesen, wenn man die-
jenigen Perioden ins Auge fafst, wo diese
Völker noch unverdorben lebten. Beispiels-
weise sei an das häusliche Walten der
Griechin vor dem peloponnesischen Kriege,
an das der Römerin bis zum Ende der
punischen Kriege erinnert! Erwiesen ist es
von keiner Seite, dais n<lie| Germanin diese
Griechin und diese Römerin an sittlichem
Werte weit überragte;" wir Deutsche hören
das nur gern, darum glauben wirs. Und wer
von der Existenz germanischer Priesterinnen und
weisen Frauen auf eine höhere Achtung des
Weibes bei den Germanen Schlüsse machen
will, der mufs das auch thun bei jenen
Griechen und jenen Römern, da auch bei
ihnen Priesterinnen und weise Frauen er-
wähnt werden. Anders fallt begreiflich der
Vergleich aus (den die Alten übrigens selbst
schon anstellten), als die Germanen mit
ihrem zwar etwas rauhen, fast rohen, aber noch
keuschen und sittigenden Familienleben sich
auf römischem Boden heimisch machten, zu
einer Zeit, wo eine fürchterliche Unzucht und
Hurerei das Leben der Romanen zerfressen
hatte, wie uns Orosius, Salvian, Marius,
Victor, Sidonius Apollinaris und andere
übereinstimmend berichten. Von einem
Frauenkultus im modernen Sinne aber oder
auch nur in annähernd moderner Weise, wie
er von deutschtümelnden Autoren immer
noch den Germanen zugeschrieben wird,
weifs die germanische Altertumskunde nichts;
wäre derselbe in so intensiver Weise be-
tätigt worden, wie man vorgibt, so müfste
doch bei derjenigen Klasse deutscher oder
französischer Bevölkerung, welche alte Lebens-
weise, alte Sitten am zähesten und treuesten
bewahrt hat, ich meine bei den Bauern, noch
heute oder in den nächst vergangenen Jahr-
hunderten etwas davon zu finden sein.
Selbst das germanische Recht, das auf fran-
zösischem Boden wie auf deutschem ein so
langes Leben fristete, kennt keinerlei
Grundsätze besonderer Frauen Verehrung; es
weist dem Weibe lediglich ein menschen-
würdiges Dasein an, ohne von besonderem
„honneur aux dames" zu reden. Dafs die
Frauenverehrung im Sinne der Galanterie,
wie sie in Frankreich aufkam und von da in
das übrige civilisierte Europa drang, eine
Erfindung des Feudaladels gewesen sein
mufs, weife nicht nur der Kenner mittelalter-
licher Dichtung hinlänglich aus der Minne-
sprache, die ihr galantes Vocabulaire so zu
sagen mit Vorliebe aus dem Lehenswesen
herübergenommen hat, sondern auch der
Kenner des Lehenswesens aus denjenig^en
Bestimmungen, welche eine Lehensfähigkeit
der Frauen begründeten oder zuliefsen.
Im zweiten Kapitel, wo die germanischen
Nachwirkungen im Leben der Franzosen be-
handelt werden, hätte der franz. Adel an erster
Stelle erwähnt werden können, der mit einer
gewissen Ostentation die Reinheit der Uebcr-
lieferung festhielt. Schon in der äuü>em
Erscheinung galten unter diesem Stande bis
in späte Zeit blaue Augen und blonde Haare
als sichere Zeichen besserer Herkunft Ge-
radezu auffallend ist aber das Festhalten ade-
liger Familien an deutschen Taufhamen.
Eine Zusammenstellung derselben würde reiche
Ausbeute gewähren ; hier nur einige Beispiele
von Familien aus verschiedenen Gegenden
Frankreichs. Narbonne: Amalaric (Amauri)^
Aimeri, Berenger, Raymond. Auvergne: Ber-
trand, Gilbert, Guillaume, Louis, Robert. R o u s -
Besprechungen.
337
sillon: Gausfred, Gerard, Guimar, Hughes,
Suniaire. Beaujolais: Guichard, Henri, Hum-
bert, Louis. Chalon-sur-Saone: Adelaide,
Guerin, Guillaume, Hugues, Lambert, Thibaut
Thierry, Warin. Mäcon: Alberic (Aubry),
Girard, Gui (Wido), Renaud, Wilbert. Bour-
bon: Archambaud, Charles, Louis. Mont-
morency: Bouchard, Charles, Ogier, Rolland,
Thibaut. B o u r g e s : Chunibert, Endes (Otto),
Geoffroy, Guillaume, Humbert. Evreux:
Amauri, Charles, Guillaume, Richard. Wer
die Kontinuität kennt, welche deutsche Adels-
familien in ihren Tauihamen bis in die neuere
Zeit kennzeichnet, wird diese Erscheinung,
die sich auch beim französischen Adel findet,
als ein sehr willkommenes Zeugnis fQr die
Dauer germanischer Oberlieferungen in Frank-
reich zu schätzen wissen. Oberhaupt dürfte
för unser Thema nächst dem Bauernstand der
französische Adel in den verschiedensten
Lebensbeziehungen reichen Stoff der Beobach-
tung darbieten. Gleichwie der Peudaladel
seine Wohnung auf hohen Burgen suchte, so
erhob er sich auch leiblich und geistig über
die im Tale, leitete mit weiterm Horizonte
die Geschicke der Nation, entfaltete ein reiches
Kulturleben, schon ziemlich früh im Mittel-
alter und nochmals im 17. Jahrhundert; er
mufste aber das eine germanische Erbübe],
den unechten, das heilst Übertriebenen In-
dividualismus, dadurch büfsen, dafs er durch
das Königtum seine Unabhängigkeit verlor,
und das andere, die Sucht der Unterdrückung
des Bauernstandes, die der französischen
Nation den ersten Schrei der Entrüstung in
dem Edikt von Quiercy in kerlingischer Zeit
auspreiste, und die fortan durch die glänze
französische Geschichte hindurch zu den
wildesten Ausbrüchen sich steigerte, fand
seine Sühne zunächst während der denkwür-
digen Nacht vom 4. August 1789 in dem
freiwilligen Verzicht des Adels auf alle
Standesvorrechte und weiterhin auf gewaltsame
Weise durch die Guillotine, die erbarmungs-
los mit dem blauen Blute die französische
Erde düngte und den echten samt dem
unechten Adel grausam vertilgte.
Interessant sind die ausdrücklichen Er-
innerungen der Franzosen an ihre germanische
Herkunft (S. 13). Ich vermag noch ein Bei-
spiel aus ganz später Zeit, nämlich vom
4. Juli 1 649 beizubringen, aus den Abschieden
der schweizerischen Tagsatzung, wo die
Nachkommen der Burgundionen sich ähnlich
aussprachen wie jene Franzosen des 12. Jahr-
hunderts: „Die Bevollmächtigten der Frei-
grafschaft Burgund^S heifst es in diesem Pro-
tokoll, „stellen das Ansuchen, die Neutralität
der Freigrafschaft gegen die von einer an-
dern Macht (Frankreich) ihr drohenden Ge-
fahren um so mehr in Schutz zu nehmen, da
die Bewohner der Freigrafschafit ein aus
Deutschland herstammendes Volk
seien, das sich mit dem ,,Humor** der alten
Eidgenossenschaft besser vertrage, als das
bei einer andern Macht (Frankreich) der
Fall sei.»*)
In vortrefflicher Obersicht hat der Ver-
fasser die mythischen Reste germanischen
Glaubens, wie sie noch in französischen
Sagen leben, geschildert: Feen, Werwölfe,
wildes Heer, Bertha die Spinnerin, Oberon
und Maugis. Ob nicht auch die deutsche
Heldensage Spuren in Frankreich hinterlassen
hat, da doch Gothen, Burgundionen und
Franken so vieles von ihrer Nationalität
durch Jahrhunderte hindurch retteten? Die
allitterierende Reihe von Königsnamen in
der Lex Burg. tit. 3: Gibicam, Godomarem,
Gislaharium, Gundaharium weist noch deut-
lich auf die Geburtsstunde der Sage aus der
Geschichte hin , wie schon Wackemagel
gesagt hat. Mehr noch scheinen gothische
Sagen gehaftet zu haben. Flodoard erzählt
in seiner Geschichte der Kirche zu Rheims
(Pertz, MGScript. m, 365), dafs Fulco, Erz-
bischof von Rheims, den deutschen König
Arnulf (887 — 899) in einem Schreiben er-
mahnt habe, redlich gegen Karl, den Ein-
fältigen, den letzten aus dem königlichen
Stamme, zu verfahren, unter einem Hinweis
auf die gothische Sage von Ermenrich:
*) Einige Zeit vorher hatte Gustav Adolf
die Eidgenossen an ihre schwedische Herkunft
mahnen lassen.
}
338
Besprechungett.
subjicit etiam ex libris teutonicis de rege
quodaxn Hermenrico nomine, qui omnem
progeniem suam niorti destinaverit inipiis
consiliis cuiusquam consillarii sui (Sibich),
supplicatque ne sceleratis hie rex adquiescat
consiliis, sed misereatur gentis hujus et regio
generi subveniat decidenti. Das mittelfran-
zösische Epos Hörn und Rimenild enthält in
einer Episode die Überliefemng von Hilde-
brand und Hadubrand. Was die fränkische
Stammsage von Siegfried, Brunhild und den
Nibelungen betrifft, so bat sich im nördlichen
Frankreich, zumal im Lande Valois der Name
Nevelon lange als Personenname erhalten
und ist dort der Name der mythischen Brun-
hild zähe an den alten Römerstrafsen
(Chauss^es de Brun^haut) haften geblieben.
Mehr Bezüge und Ähnlichkeiten bieten Begos
Tod im Garin le Loherain (Alemannia II, 33),
das Märchen vom Dornröschen (La Belle au
bois dormant), femer le Tartaro reconnais-
sant et le serpent ä sept t^tes (bei S^billot,
Contes) u. a.
Mit Recht hebt Supfle bei Besprechung
der französischen Epopöen hervor, dais,
wenn auch die Stoffe derselben auf fran-
zösischem Boden erwachsen seien, der darin
herrschende Geist germanische Herkunft ver-
rate. Die Thaten und Kämpfe, welche, in
diesen Dichtungen erzählt werden, gehen
fast ausschliefslich vom Adel aus; w^ie im
Nibelungenliede und in der Gudrun werden
BQrger und Bauern fast ausnahmslos ignoriert:
alles besorgt der Adel. Das ist ein deut-
licher Fingerzeig för die Zeit der Entstehung
derselben, abgesehen davon, dais alle Feinde
der Franzosen in Sarazenen verwandelt
werden, selbst Vandalen (im Garin) und
Sachsen (in der Chanson des Saxons). Der
französische Adel aber war im 9. — 12. Jahr-
hundert so zu sagen unvermischt germanischen
Geblüts; kein Wunder daher, wenn in diesen
seinen Epopöen ^ deutsches Königtum, deut-
sches Recht, deutsches Kriegswesen, deutsche
Namen, deutsche Anschauungen und Gefühle,
deutsche Sitten, deutsches Leben uns überall
entgegen treten."
Schade, dafs der Verfasser der neu auf-
gebrachten Hypothese, als sei die französische
Tiersage (im Roman de Renard) indischen
statt deutschen Ursprungs, so leichten Glauben
beigemessen hat; wenigstens hätte .die andere
Ansicht, die durch Wackeniagel (Kleine Schrif-
ten II, 234—326) neuerdings gestützt wurde,
grölsere Berücksichtigung verdient.
Der Raum würde mir versagt sein, wenn
ich die folgenden Partien des herrlichen
Buches in einläislicher Weise besprechen
wollte. Das dritte Kapitel erörtert die Kultur-
einflüsse Deutschlands auf Frankreich während
des Mittelalters und der Renaissance. Von
litterarischen Rückwirkungen kann da nicht
viel die Rede sein; denn mit dem franzö-
sischen Ritterwesen ward auch Inhalt und
Form der französischen ritterlichen Poesie
tonangebend für die dvilisierte Welt. Da-
gegen fanden deutsche Erfindungen und
deutsche Künste, Eisentreiben, Malerei, Buch-
druckerei Eingang bei dem Nachbarvolke.
Erst als nach dem Verwelken der ritterlichen
Poesie auch in Frankreich das BOr]gertuin
aktiven und passiven Anteil an der Litteratur
nahm, gestattete man den litterarischen Er-
scheinungen Deutschlands, das schon früher
und energischer eine ähnliche Bahn beschritten
hatte, einigen Einfluls, wie dies im 4. Kapitel
genauer erörtert ist. Die folgenden beiden
Kapitel behandeln die Wirkungen der Re-
formation und der neuen schweizerisch-
deutschen Kriegt;; :r: ri tf »las geistige und
politische Leben der Franzosen. Daran reibt
sich in zwei Kapiteln eine sorgfältige Unter-
suchung über die germanischen, speziell die
deutschen Bestandteile des fran2ösischen
Sprachschatzes.
Als durch eine Reihe von innern und
äufsem Impulsen die französische Dichtung
und Prosa unter Ludwig XIV. ihre klassische
Blüte erlebte, und das durch den dreifsig-
jährigen Krieg erdrückte Deutschland den
glänzenden Namen eines Corneille, Racine,
Moliere nur einen Hoffmann von Hoffmanns-
waldau, Lohenstein, Abram a Santa Clara
oder Weise nebst einigen Kirchenliederdichtem
gegenüber zu stellen hatte, da konnte von
deutschen Kultureinflüssen auf Frankreich
I
Besprechungen.
339
nicht viel die Rede sein; vielmehr begann
jetzt zum zweitenmale eine Herrschaft des
französischen Geschmacks wie über andere
Nachbarländer so auch Qber Deutschland, in
letzterm Lande allerdings am stärksten, sich
geltend zu machen, als dessen Bahnbrecher
Ziegler, Besser und Canitz bis auf Gottsched,
Geliert und Wieland herunter zu nennen
sind. Daher schrieb der jQngere Racine in
der Mitte des i8. Jahrhunderts: La po^sie
dramatique fut connue en Allemagne plus
tard que partout ailleurs, et le goüt des
repr^entations saintes y dura si longtemps
qu'on repr^entait encore k Vienne, il y a
trente ans, la Passion de notre Seigneur,
piöce oü, apres Adam, Eve et MoTse, parais-
sait Tenfant J^sus, ä qui on donnait de la
bouillie. Les premi^res trag^dies profanes
y furent semblables aux pi^es anglaises et
hollandaises, cVst-ä-dire pleines de meurtres,
de supplices, de spectres. Trois poetes,
tous trois de Sil^sie, en composerent de plus
reguli^res, et les nötres, ayant 6t6 traduites,
furent enfin pr^ferecs aux anciennes pieces
de la nation.
Erst ungefähr seit der Mitte des vorigen
Jahrhunderts beginnt Frankreich wie natürlich
(was hätte ihm seit Ausgang des i6. Jahr-
hunderts an deutscher Dichtung und Prosa
viel Beachtung erregen kfinnen?) auf unsere
Litteratur aufmerksam zu werden und widmet
ihr ein steigendes Interesse, sei es in der
Kritik, sei es durch Übersetzungen. Diesen
Regungen der Aufoierksamkeit gegenüber
einem Halier, Geliert und den Leipzigern,
auch einem Gefsner und Klopstock widmet
der Verfasser aufserordentlichen Pleifs in
fünf Kapiteln (12—16), die unbestritten als
die verdienstlichste Partie dieses ersten Bandes
werden angesehen sein mfissen, weil sie fast
durchweg auf ganz neuen und unmittelbaren
Forschungen beruhen. Die zahlreichen Be-
legstellen am Schlüsse des Bandes legen
beredtes Zeugnis von der treuen Arbeit des
Verfassers ab.
Als Referent nur erst die Anzeige dieses
Werkes zu lesen bekam, empfand er grolse
Freude darüber, dais endlich einmal eine
längst klaffende Lücke in der Geschichte der
französischen Litteratur ergänzt werden sollte ;
seine Erwartungen sind durch das Buch selbst
übertroffen worden, nicht allein durch den
reichen Inhalt, der viel ungeahntes Material
an den Tag gefördert hat, sondern auch
durch den ruhigen Ton und die objektive
Darstellung, welche jedem Franzosen die
Lektüre ermöglichen werden. Nirgends ist
das bekannte widerwärtige Phrasengeklingel
von deutscher Gemütstiefe, deutscher Gründ-
lichkeit und dergleichen angeschlagen worden;
überall lälst der Verfasser die Thatsachen
sprechen. Möge dieses Werk, das seines Inhalts
wegen eigentlich von einem Franzosen hätte ge-
schrieben werden sollen, hüben und drüben
die rechten Leser finden!
Frauenfeld. Johannes Meyer.
Oesterlen, Theodor: Komik und Humor
bei Horaz. Ein Beitrag zur römischen
Litteraturgeschichte. 8». I. Heft: Die Sati-
ren und Epoden. 135 S. II. Heft: Die
Oden. 133 S. Stuttgart, Metzler, 1885, 1886.
Wenn wir uns erlauben, die Leser dieser
Zeitschrift auf eine Bereicherung der Horaz-
litteratur aufmerksam zu machen, so glauben
wir uns gegen den Vorwurf des Übergriffes
in das Gebiet der speziellen Litteratur-
geschichte nicht sowohl durch Hinweis auf
das internationale Interesse, dessen sich der
Dichter billig erfreut, als durch Betonung
der vom Verfasser mehrfach befolgten Methode,
Werke unserer Litteratur vergleichend heran-
zuziehen, verteidigen zu dürfen. Oesterlen
hat als praktischer Schulmann seinen Horatius
gründlich studiert und von Herzen lieb-
gewonnen, ohne doch, wie so viele seiner
Kollegen, offiziell in den Dichter vernarrt
und für dessen Schwächen blind zu sein. Es
war ihm vergönnt, den 1885 erschienenen
„Studien zu Vergil und Horaz '^ noch im
nämlichen Jahre den ersten Teil der vor-
liegenden Untersuchungen folgen zu lassen,
als deren Zweck er bereits im Vorworte der
erstgenannten Schrift die Herstellung des
geistigen Bandes zwischen Horaz, dem Satiren-
und Epodendichter, Horaz, dem Odendicbter,
340
Besprechungen.
und Horaz, dem Epistelndichter, bezeichnet
hatte. Durch genauen Nachweis der bedeuten-
den Rolle, welche Komik und Humor im
ganzen Horatius spielen, soll die ^Kontinuität
seines Wesens und seiner Dichtung" (U« 6i)
gezeigt werden, und der empfindungsselige
Humor als seine — cum grano salis —
Gnindstimmung hervortreten (I, 39). Der
hier so nahe liegenden Gefahr, des Guten zu
viel zu thun und die behandelten Erscheinungen
auch da zu erblicken, wo sie schwerlich in
des Dichters Intention lagen, ist freilich auch
unser Verfasser nicht entgangen, und seine
Auffassung wird im einzelnen auf vielfachen
Widerspruch sto&en, indes — kein Gelehrter,
der an die Bearbeitung einer ästhetisch-
litterarhistorischen Frage schreitet, wird sich
mit der Hoffnung schmeicheln, dafs die fach-
genössischen Kreise seine Resultate, wie
Dogmen gläubig entgegennehmen werden. —
Nachdem Oesterlen in einer kurzen Ein-
leitung (I, 5 — 11) im Anschlufs an Carriere,
Lazarus und besonders Vischer das Wesen
der Komik und des Humors erörtert und
(S. 10) eine sehr vernünftige, den Litterar-
historikem gewifs sympathische Ansicht über
das Verhältnis von Textkritik und Philologie
ausgesprochen, prüft er in sorgfältiger Unter-
suchung (S. II — 124) die Satiren (vgl. über
die Beibehaltung dieses Namens S. 135) und
Epoden, Gedicht für Gedicht, auf ihren
komisch-humoristischen Gehalt, wobei ihm
A. Kielslings schöne Ausgabe leider nur für
die Epoden vorlag. Es sei uns gestattet,
eine Reihe von Einzelnheiten herauszugreifen.
S, 13 f. werden bei Behandlung der zweiten
Satire des ersten Buches, wo die Frage über
die Berechtigung des Cynischen in der Komik
nicht umgangen werden kann, sehr passend
Schillers „Gedanken über den Gebrauch des
Niedrigen und Gemeinen in der Kunst" heran-
gezogen, S. 15 wird „nicht zur Recht-
fertigung, aber zur Erklärung" an des näm-
lichen Dichters nMännerwürde", „An einen
Moralisten", «Der Venuswagen" erinnert.
Dals der Verfasser S. 16 in v. 25 der gleichen
Satire „Maltinus tunicis demissis ambulat" die
Anspielung auf Mäcenas, gegen welche sich
schon der beste Scholiast, Porph3rTio, erklärt,
f&r möglich hält, scheint um so weniger
begreiflich, als er unten bei Besprechung von
Sat. I, 6, 5 und H, 4 (S. 36 und 80) der-
artige Annahmen entschieden zurückweist.
S. 32 mufste bemerkt werden, dafs die be^
kannte euphemistische Bezeichnung körper-
licher Fehler (Sat. I, 3, 44 ff.) im wesentlichen
aus einer griechischen Quelle geschöpft ist;
vgl. O. Ribbecks interessante ethologische
Studie „Kolax" in den Abhdl. der sächs.
Ges. d. W. phil.-hist. Cl. IX (1883) S. 46 ff.
S. 42 wird mit den Anfangsworten des Priapus
(Sat I, 8) passend Jesaja 44, 17 verglichen,
wie denn der Verfasser überhaupt der heiligen
Schrift g^gnete Parallelen zu entnehmen
weils (vgl. im 2. Teil, S. 69, 105, 108). S. 43
konnte an die spöttischen Bemerkungen der
christlichen Apologeten über die von den
Vögeln des Himmels so wenig respektierten
Götterbilder erinnert werden; s. z. B. Minucius
Felix Octav. c. 24, i und besonders Amobius
adv. nat. VI, 16 p. 229 ed. Reißerscheid.
S. 5 1 wird Oesterlen mit dem vielbesprochenen
„tricesima sabbata" (Sat. I, 9, 69) durch
Annahme einer komischen Erfindung von
Seiten des boshaften Aristius viel leichter
und besser fertig, als seiner Zeit der groise
Gregorius von Nazianz mit dem ,^adßßa.TOf^
deortp6i:pü}ro)f** bei Luc. 6, i, der seinen wils-
begierigen Schüler Hieronymus mit einem
eitlen Witzworte abspeiste. (O. Zoeckler,
Hieronymus. Gotha 1865, S. 82.) Über die
„armen acht Verse" (S. 55), welche in einigen
Handschriften Sat. I, 10 eröffiien, kann nach
meiner Ansicht nicht mehr gestritten werden.
Ihr nicht horazischer Ursprung ist schon
durch Wölfflins sprachliche Beobachtung
(Lat. und röm. Comparation. Erlangen 1879,
S. 40) erwiesen, und mit Recht hat sie Emil
Baehrens in seine „ftagmenta poetarum Roma-
norum" (Lips. 1886) aufgenommen. S. 64
konnte auf die komische Wirkung der Litotes
„non parcus" (veteris aceti) Sat. II, 2, 62
hingewiesen werden; vgl. die vom Ref. in
Jahrb. f. Philol, Suppl. XV, S. 528, ange-
ßhrten Worte des Silius Italicus X, 32.
S. 68 sehen wir mit Betrübnis, wie es ein
Besprechungen.
341
über die Komik des Horatius schreibender
Gelehrter über sich bringen kann, den
„xuf/wuovaTo^ itoajT^^* um des gleichnamigen
Philosophen willen vom rechtmäfsigen Platze
an der Seite seiner Kollegen Eupolis und
Menander zu verdrängen I In dem meister-
haften Dialog zwischen Agamemnon und dem
Krieger (Sat II, 3, 187 ff.) vermag ich nicht
mit Oesterlen (S. 73) eine Travestie zu er-
kennen, vielleicht aber liegt eine solche in
der Beschreibung des „lächerlichen Unheils**,
welches das Gastmahl des Nasidienus unter-
bricht (Sat n, 8, 54 ff. vgl. O. S. 99.) Es
wäre nämlich denkbar, dafs dem Horatius
die «vulgata fabula** (Quintil. inst. or. XI, 2,
I z) von dem Einstürze des Speisesaales vor-
schwebte, dem der Dichter Simonides so
wunderbar entgangen sein soll. Über den
Epikureismus der Stadtmaus (O. S. 89) s.
Kieislings Bemerkung zu II, 6, 93. Aus dem
die Epoden behandelnden Abschnitte notieren
wir den Vergleich von Epod. 8 mit Spiegel-
bergs Erzählung von der Szene im Kloster
(S. iii), von Epod. IG, wo Horatius in der
Verhöhnung des Dichterlings Maevius mit
Vergilius zusammentrifft, mit dem Xenien-
kämpfe Goethes und Schillers «gegen gemein-
same litterarische und persönliche Gegner",
(S. 113) von Epod. 17, 70 ff. mit Schubarts
ewigem Juden. (S. 123.) Den Schlufs des
ersten Teiles bildet eine „Zusammenfassung**,
(S. 125—135) in welcher eine Klassifikation
der behandelten Gedichte nach ihrem scherz-
haften Gehalte versucht und die „Technik
des Dichters in seiner Komik und seinem
Humor** (S. 129) näher beleuchtet wird. Die
„Fähigkeit der Selbstparodie** (& 133), ein
Haupterfordemis humoristischer Darstellung,
teilt der römische Poet, — um von anderen
abzusehen, — mit unsrem Wolfram von
Eschenbach, worüber auf die Ausfiihrungen
von K. Kant: Scherz und Humor in W. v.
E. Dichtungen. Heilbronn 1878, S. 82 ff.,
verwiesen sein mag, welcher an Goethes
Spruch erinnert: „Wer sich nicht selbst zum
Besten haben kann, der ist gewifs nicht von
den Besten.**
In der Einleitung zum zweiten Teile
Ztchr. C Tgl. Litt-GeKh. L
(S. 5 — 8) werden die Oden in vier Klassen
eingeordnet, und „eigentlich komisch-humo-
ristische", solche „in denen in sehr ver-
schiedener Weise und in sehr verschiedenem
Grade eine Mischung von Scherz und Ernst
vorliegt", „Gedichte sinniger Betrachtung"
und „feierliche, eigentlich pathetische Oden"
unterschieden. Auch spricht sich der Verfasser
an dieser Stelle (S. 7 f ) über Kieislings neue
Ausgabe aus, an der man bei einer Arbeit
über die Oden des Horatius allerdings „nicht
vorübergehen kann." Mit Unrecht, wie ich
glaube, hält er sich über die sorgfältige
Nachweisung griechischer Vorbilder auf, wo-
durch ihm Horatius zum bloisen Nachahmer
herabgedrückt zu werden scheint. Wenn ich
nicht irre, hat es Wilamowitz einmal aus-
gesprochen, dafs wir uns Horatius als einen
der gründlichsten Kenner der griechischen
Litteratur vorstellen müssen. Auch that sich
bekanntlich der augusteische Dichter in diesem
Punkte bedeutend leichter, als der auf seinen
Bergk angewiesene deutsche Professor, dessen
Belesenheit er „nach Kieisling gehabt haben
müfste**. S. 9 — 122 werden die in der an-
gegebenen Weise klassifizierten Oden ana-
lysiert. Ich mufe mich, um nicht zu weit-
läufig zu werden und den Rahmen dieser
Zeitschrift zu überschreiten, auf eine Zusammen-
stellung der Parallelen beschränken, welche
in diesem Teile aus naheliegenden Gründen
zahlreicher sind. Zu Od. I, 8 erinnert Oester-
len an Schillers „Er flieht der Brüder wilden
Reih*n", (S. 13) zu I, 29, 9, f. an „Wer wird
künftig deinen Kleinen lehren Speere werfen?"
(S. 24) zu III, 19 an Goethes „Es schlug mein
Herz: geschwind zu Pferde!" (S. 47. Es
handelt sich um die Frage, ob das Gedicht
„freie Fiktion oder poetische Wiedergabe
eines Erlebnisses sei".) Zu in, 13, 4 an
Pikkol. rV, 6 „noch einen Schlaftrunk?*'
(S. 49) zu I, 9, 23 ff. an die Szene im Garten-
häuschen. M. „Er kommt !** F. „Ach Schelm,
so neckst du michl u. s. w.", (S. 66) zu I, 38
an Goethe, chinesisch-deutsche Jahres- und
Tageszeiten XIII „die stille Freude wollt ihr
stören? u. s. w.", (S. 72) zu II, 16, i ff. an
die Stelle eines Kirchenliedes „Ruhe ist das
23
842
Besprechungen.
beste Gut, das man haben kann**, (S. 75) zu
n, 19 an Goethes Zueig^nung ,,da schwebte
ndt den Wolken hergetragen u. s. w.",
Schillers Dithjrrambe „Nimmer^ das glaubt
mir,(crediteHor.) erscheinen die Göttern, s.w.**
und Lessings „der Tod", (S. 79» um die An-
nahme eines rein geistigen Schaueos zurück-
zuweisen), zu 1, 15 an das Schillersche Sieges-
fest „wo die trojanische Sage auch eine
lyrisch-dramatisch-epische Behandlung erfahren
hat** (S. 92) und wegen des „prophetischen
Elementes" an den Donauübergsmg im Nibe-
lungenliede, (S. 93) zu ni, 18, 3 (incedas) an
das eleusische Pest „die Königin ziehet ein",
(S. 105) zu III, I — 6 an die deutschen Freiheits-
sänger. Wenn er aber (S. 25) den Horatius,
der Od. II, 4, 21, bracchia et voltum —
„einer Dirne schön Gesicht mufe allgemein
sein, wie*s Sonnenlicht" sagt der zweite Jäger
in Wallensteins Lager — teretesque suras
der von Xanthias geliebten Sklavin preist,
mit dem „Leipziger" zusammenstellt, der die
berühmte Frau topographisch, wie eine F^estung
aufnimmt, so mufs ich hingegen im Namen
der jüngeren Generation, welcher der Ver-
fasser (S. 31) die endgültige Interpretation
der schwierigen Kufsstelle (Od. II, 12, 25 f.)
fiberläfst, Einspruch erheben. Auch im zweiten
Teile folgt auf die Detailuntersuchungen eine
„Zusammenfassung", (S. 123 — 131) worauf
eine Übersicht der vier Odenklassen und ein
Register den Beschluis bilden. Wir können
die Schrift, deren einfacher Stil sich wohl-
thuend von dem feuilletonistischen Jargon
unterscheidet, der uns in gewissen neueren
Erscheinungen der Horazlitteratur so unan-
genehm berührt, den Lesern dieser Zeit-
schrift bestens empfehlen und sehen dem
noch ausstehenden dritten Teile mit Spannung
entgegen.
München. Karl Weyman.
Reinhardstoeftner, Karl von: Die klas-
sischen Schriftsteller des Altertums
in ihrem Einflüsse auf die späteren
Litteraturen. Ein Beitrag zur vergleichen-
den Litteraturgeschichte. I. Band. P 1 a u t u s.
Spätere Bearbeitungen plautinischer
Lustspiele. Leipzig, Verlag von Wilhelm
Friedrich. 1886. XVI, 793S. 8«.
Dem im Vorwort Raum gegebenen Zweifel
des Verfassers darüber, was beschämender
sei, für den Autor die Herausgabe einer
Schrift, wie die vorliegende, oder fiSr den
Rezensenten die kritische Besprechung der-
selben, — denn das überreiche Material kann
natürlich in einer auch nur relativ vollstän-
digen Weise kaum von beiden beherrscht
werden — möchte der Unterzeichnete in An-
sehung seiner Beurteilung der ganz bedeuten-
den Arbeit von Reinhardstoettners zum
Teil auch för sich selbst in Anspruch nehmen,
gleichsam als Entschuldigung oder auch als
Rechtfertigung seines Beginnens. Denn der
Verfasser hat unzweifelhaft Recht, wenn er
schreibt: „Es ist für einen einzelnen Forscher
nicht durchführbar, die gesamten Nach-
ahmungen z. B. der plautinischen Lustspiele
nicht allenfalls bei den Kulturvölkern Europas,
sondern nur einem einzigen, etwa Italien,
nachzuweisen.** Aus naheliegendem Grunde
werde ich daher mich wohl hüten, mit kritischer
Subjektivität meine Ansichten über das vor-
liegende Werk auszusprechen, und werde mich
vielmehr lediglich auf eine rein sachliche
Anzeige des vielumfassenden Inhalts der inter-
essanten Arbeit beschränken.
Der Herr Verfasser selber ist bescheiden
genug, sein Werk nur „eine Grundlage för
fernere Forschungen** zu nennen; und hatte
er trotz des unbestreitbaren Erfolges seiner
vor nunmehr sechs Jahren in gleichem Ver-
lage erschienenen tüchtigen Schrift: „Die
plautinischen Lustspiele in späteren Bear-
beitungen, I,, Amphitnio* sich anfänglich in-
folge der übergrofsen Schwierigkeit, das ge-
samte Material zu bewältigen, entschlossen,
die begonnene Arbeit nicht weiterzuführen,
so ergab sich ihm doch glücklicherweise ein
anderer Gesichtspunkt, der auch bei aller
Strenge der Selbstkritik die Veröffentlichung
seiner Studien gerechtfertigt erscheinen lieis —
„die Rücksicht auf die vergleichende
Litteraturgeschichte.** — „Hier möchten,*
schreibt der Herr Verfasser, „die zahlreichen
Lücken eher verzeihlich erscheinen; handelte
Besprechungen.
843
es sich ja doch nicht um einen Katalog
aller irgend wo einmal erschienenen Plautus-
nachahmungen, als vielmehr darum, zu zeigen,
welche von den Komödien des alten römischen
Lustspieldichters hat die Teilnahme der
modernen Völker am meisten für sich be-
ansprucht; welches Volk hat sich der An-
tike am meisten, welches am wenigsten ge-
nähert; was ist unter verschiedenen Himmels-
strichen, zu verschiedenen Zeitaltem und unter
dem Einflüsse verschiedener religiöser, poli-
tischer, sozialer Strömungen aus dem gleichen
Stücke geworden — kurz: wie hat sich
dasselbe Samenkorn unter den ein-
ander entgegengesetzten Zonen zu
einer mehr oder minder bedeutenden
Pflanze entwickeln können? Wie
könnte sich die poetische Fähigkeit, das
dichterische Gestaltungsvermögen, die sitt-
liche Anschauung einzelner Nationen zu-
treffender mit einander vergleichen lassen,
als wenn allen so zu sagen die gleiche
Aufgabe gestellt ist, deren Bearbeitung er-
geben wird, wie die einen ängstlich am
Wortlaute des Originals haften blieben, an-
dere sich mit der Lokalisierung des Stoffes
begnügten, wieder andere, die Freiheiten des
alten Dichters verabscheuend, sein Stück zu
einem Moral ezempel zu gestalten suchten,
indessen andere gerade hierin ihr Feld
fanden und die dem Römer kaum mehr ver-
zeihliche Unmoralität einzelner Vorwürfe in
öppigster Form erweiterten, wie die einen
sich von der leitenden Hand des Meisters nicht
losrangen, während andere, ihm treu zwar
im Greisen und Ganzen, Meisterwerke für
alle Jahrhunderte schufen, wie Moli^re mit
seinem „Geizigen?" Diese vergleichende
Litteraturgeschichte, auf welche die gleichen
Stoffe in ihrer mannigfachen Bearbeitung
hinweisen müssen, gestaltet sich zu einem
Stück Kulturgeschichte und findet hierin ihre
höchste Bedeutung.**
Aus diesem Grunde war der Verfasser
mit Recht bestrebt, sein Hauptaugenmerk in
erster Linie nur auf die bedeutendstenBearbei-
ungen der plautinischen Stücke zu richten, wo-
bei er allerdings, wie es mir scheinen will, zu-
weilen vielleicht etwas weitläufiger auf die tiefer
liegenden Gründe der Veränderungen infolge
nationaler Unterschiede hätte eingehen können.
Im Ganzen verfolgt der Herr Verfasser die
Methode, zuerst immer eine genaue Analyse
des betreffenden von Plautus herrührenden
Originals zu geben, häufig mit Benutzung des
ursprünglichen Wortlauts, und daran an-
knüpfend, die einzelnen Nachahmungen je
nach Bedürfiiis mehr oder weniger ausführ-
lich zu besprechen. Mit g^ter Einsicht be-
leuchtet der Herr Verfasser bei den einzelnen
Stücken die Gruppen der Charaktere in
übersichtlicher Darstellung, auch bei den-
jenigen Stücken, welche, wie z. B. Stichus
und Pseudolus, den Nachahmern nur ge-
ringe Ausbeute gewährten; denn alle diese
Gestalten zusammen aus sämtlichen Stücken
(die Kuppler und Parasiten, die grofsspreche-
rischen Soldaten, die Pedanten, die ver-
schlagenen Sklaven) sind die ruffiani und
arlecchini, die capitani und famiglii u. s. w.
der spätem Komödie geworden; ihr Ge-
samtbild ist aus allen jenen Stücken ge-
nommen, in welchen sie bei Plautus spielen,
und darum schien ihre Charakteristik, wo
immer sie vorkommen, unentbehrlich.**
Wenn dem Herrn Verfasser mit Rücksicht
auf seine frühere kleinere Arbeit von einigen
Beurteilem derselben der Vorwurf allzu-
häufiger fremdsprachlicher Citate gemacht
worden ist, so verteidigt sich derselbe jetzt
mit verschiedenen Gründen, worunter der
stichhaltigste in dem Hinweise auf die Selten-
heit so mancher an Plautus sich anlehnenden
Dichtungen bestehen dürfte. Dafs der Herr
Verfasser in dieser Hinsicht übrigens mit der
gröfsten Gewissenhaftigkeit zu Werke ge-
gangen ist, ergibt sich unter anderm auch
daraus, daüs er an mehr als an einer Stelle
Gelegenheit nimmt, zu erklären und nachzu-
weisen, wie mangelhaft oder gar grundlos
die Berechtig^ung so mancher seiner litte-
rarhistorischen Vorgänger gewesen ist, dies
oder jenes Produkt einer späteren Zeit als
Ausflufs oder selbst als Nachahmung plau-
tinischer Arbeit hinzustellen.
Nach Vorausnahme dieser die prinzipielle
23*
1
844
Besprechungen.
Anordnung des Buches berQhrenden Ausdn-
andersetsungen sei es gestattet, einen kurzen
Blick auf den reichen Inhalt des trefiflichen
Buches selber su werfen.
Herr von Reinhardstoettner hat
dasselbe in zwei der Natur nach ungleiche
Teile gegliedert, deren erster auf iii Seiten
in groisen Zügen den «ISinflufs des
Plautus und Terenz auf die späteren
Litteraturen" schildert, während der
zweite Teil die Überschrift trägt: «Die
plautinischen Lustspiele und ihre
hervorragendsten Bearbeitungen.** (S.
115—776.)
In der stilistisch vortrefflich geschriebenen
Einleitung (S. i—- zi) ist besonders die
Wärme erfreulich, mit welcher der Herr Ver*
fasser gegen die heute so beliebte und durch
Autoritäten, wie Fr. Paulsen,*) gestützte
Verunglimpfung des Studiums der antiken
Kultur zu Felde zieht
Bei aller Bewunderung der Antike aber
bewahrt sich der Verfasser stets die nötige
Objektivität in der Beurteilung, welche,
durch einen bis in die scheinbar geringfügigsten
Einzelheiten der klassischen philologischen
Forschung sich erstreckenden Fleiis ge-
wonnen, denselben insbesondere dazu befähigen
dürfte, in der Folgezeit nächst dem Plautus
auch die Einwirkungen zu behandeln, welche
die späteren Litteraturen von Terenz,
Aristophanes, Aeschylus, Sophokles, Euri-
pides, Seneka, sowie von den griechisch-
römischen Epikern, Elegikem, Lyrikern,
Satirikern , Epigrammatisten , Didaktikem,
Fabeldichtem und schlieislich von den groisen
Prosaikern des Altertums erfahren haben.
Auf den nach S. 11 folgenden Blättern
bespricht der Herr Verfasser die Ansichten
der Alten über Plautus und Terenz mit mög-
lichster Vollständigkeit — nur hätte derselbe
•) Vgl. Friedrich Paulsen, Geschichte
des gelehrten Unterrichts auf den deutschen
Schulen und Universitäten vom Ausgang des
Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit be-
sonderer Rücksicht auf den klassischen
Unterricht Berlin 1885.
dabei den Plautus möglichst nach der von
G. Löwe (t). Fr. Scholl und G. Götz fort-
gesetzten Ritschlschen Ausgabe citiren
sollen — , geht dann über auf die Aner-
kennux^, welche die genannten Komiker im
Mittelalter gefunden haben, im Weiteren
berührt er die Gründe für die Bevorzugung
des Terenz dem Plautus gegenüber, kommt
sodann auf den Terentius Christianus des
Schonaeus zu reden, führt sodann zahlreiche
Belege an für die Aufführungen der Komö-
dien der beiden Dichter bis auf die neueste
^eit hinein, geht auf die Nachahmtmgen der-
selben in den Schulkomödien über, wendet
sich dabei im einzelnen zur Besprechung der
lateinischen Bearbeitungen und Nachahmung^
der beiden Alten in Italien, in Spanien, in
Portugal, in England, in den Niederlanden,
in Frankreich, in Dänemark, in Schweden,
in Ungarn und schlieislich in Deutschland. —
Endlich ist von groisem Interesse die ge-
schickte Darstelltmg der ständigen Figuren
in den Dramen der alten Dichter, wie des
Sklaven, der Soubrette, des Pädagogen, des
Parasiten, des Prahlers u. s. w.
Wenn ich mir in Bezug auf die Aus-
führungen des Verfassers im einzelnen ein
paar ausstellende Bemerkungen gestatte, so
geschieht dies mit dem Wunsche, es möge
der gelehrte Herr Verfasser dieselben bei
seinen von allen Freunden der vergleichenden
Litteraturgeschichte sehnlichst erwartetes
weiteren Arbeiten einer prüfenden Erwägung
unterziehen. So fällt dem unbe^uigenen
Leser eüi öf^er wiederkehrender Fehler
auf, der auf einen Mangel an selbstständigem
Urteil schlielsen lassen könnte, wenn anders
nicht das gesamte Buch das G^enteil er-
wiese, die Art und Weise nämlich, wie der
Herr Verfisisser mit Hilfe fremder Dar-
stellung, ja nur allzu oft mit Benutzung des
z. B. in Bemhardys oder in Teuffels be-
kannten Werken über römische Litteratur
oder von anderen Litterarhistorikem ge-
gebenen Wortlautes selbst seine Ansichten
ausspricht So schreibt er z. B. auf S. 17:
„Bei der Wahl seiner Stoffe „„zog ihn,
den römischen Volksdicbter, Philemon mehr
Besprechung«!.
345
an, als der feine Menander**** und fügt
die Quelle hinzu; auf S. 152 der vierten
Auflage von Teuffels „R. L.** vom Jahre
1882 finden sich wirklich dieselben Worte.
Ein solches Verfahren möchte einmal, auch
zwei- und dreimal zu entschuldigen sein;
allein der Herr Ver£aisser geht in dieser Hinsicht
zu weit; schon auf S. 18 findet sich wieder
eine wörtliche Entlehnung aus Bemhardys
römischer Litteraturgeschichte; es sind dies
die Worte: ,, während Plautus aus dem
volkstümlichen Idiom ein reines und
durchsichtiges Latein zog und seine komischen
Mittel ein dem gemeinen Manne geniefsbares
Lustspiel bezweckten** (auf S. 219 der
fünften Bearbeitung aus dem Jahre 1872);
oder der Herr Verfasser benutzt sogar in einem
Satz die Worte der beiden genannten
Litteraturhistoriker, wenn er auf derselben
Seite (S. 18) schreibt]: ^Bei allen diesen
Stücken erwies sich Plautus „„erfindsam und
frisch**** (Bemhardy, S. 454), mit eigenem
Witze, der „„häufig derb nicht leicht aber
fad**** (Teuffei, S. 162) ist, ausgestattet;**
u. s. w. Weshalb bedient sich Herr von Rdn-
hardstoettner nicht seiner eigenen Sprache,
da dieselbe doch ohne Zweifel das Gleiche
zu leisten vermag, als die seiner zahlreichen
Gewährsmänner? Macht doch ein solches
Verfahren, auf £ast jeder Seite zur Anwendung
gebracht, nur allzuhäufig den Eindruck com-
pilatorischer Arbeit und schädigt die ur-
sprüngliche Frische der Darstellung.
Von dieser Ausstellung rein äuiserer Natur
abgesehen aber, macht auch der erste Teil
der Arbeit einen mehr als blois erfreulichen
Eindruck und enthält eine Fülle von inter-
essanten Einzelheiten, die sich natürlich ge-
legentlich vermehren lassen; namentlich, was
die l^nwirkung des Plautus und Terenz auf
die Entwicklung des lateinischen Schauspiels
an den englischen Hochschulen Oxford und
Cambridge anlangt.*)
Der zweite Haüptteil des Werkes,
*) Ich behalte mir vor, gelegentliche Nach-
träge hierzu in dieser Zeischrift oder sonst
an geeigneter Stelle bekannt zu geben.
der die hervorragendsten Bearbeitungen der
plautinischen Lusstpiele behandelt, beginnt
auf S. 115 und macht den wesentlichen In-
halt des Buches aus. Die Zahl der auf jede
der einzelnen Komödien verwendeten Seiten
drückt naturgemäfs die Menge oder die Be-
deutung der jeweiligen Nachahmungen inner-
halb der Litteratur eines oder mehrerer
Völker aus und giebt somit ein zutreffendes,
wenn auch zunächst rein äusserliches Bild von
dem Umfang der Einwirkung der verschiedenen
Lustspiele auf die nachahmenden Dichter*
So weist die den „Amphitruo** behandelnde
Darstellung die höchste Zahl auf; ganze
114 Seiten (115 bis 229) sind einzig dieser
Komödie gewidmet. Die Abhandlung über
die „Menaechmi** ist die nächstdem umfang-
reichste; sie umfaist 105 Seiten (S. 490—595);
dann folgt die „Aulularia** mit 119 Seiten
(S. 255—324); den geringsten Einfluis scheint
der nPersa** ausgeübt zu haben, dessen
Inhalt, weil die handelnden Personen nur
Sklaven sind, von den Franzosen gering
geschätzt, keine direkte Nachahmung hervor-
rief (S. 719—722). Von den übrigen sind
die nAsinaria** behandelt auf S. 229 bis 255,
die „Captivi** auf S. 324-355, der „Curculio**
auf S. 355— 3ö5i d^« ..Casina** aufS. 365-390,
„die Cistellaria** auf S. 390—400, der
„Epidicus** auf S. 401—426, die nBaccbldes**
auf S. 427—444, die „Mostellaria** auf
S. 444 — 489, der nMercator** auf S. 680—689;
der nPseudolus** auf S. 690—714; der
nPoenulus** auf S. 714 — 718, der „Rudens**
auf S. 712 — 736; der »Stichus** auf S.
737 — 745» ^^ „Trinummus** auf & 746 bis
767 ; endlich der „Truculentus** auf S. 767
bis 776. Den Abschluis des ganzen Werkes
bildet ein vollständiges, sechszefan Seiten um-
fassendes Register.
Was die Methode der Darstellung an-
langt, so wäre es auch hier wünschenswert
gewesen, dais der Herr Verfasser bei der
Kritik der Wertschätzung der einzelnen
Lustspiele weniger häufig Wendungen und
Auslassungen fremder Gewährsmänner wört-
lich angeführt, oder auch dem Leser ein
Verzeichnis der verschiedenen Plautusaus«
346
Besprechungen.
gaben, wie auf S. 115, Anm. 6 fiir den
«Amphitruo'* erspart hätte, da durch ein
solches der Zweck des Herrn Verfassers natur-
mäls nicht gefördert werden dQrfte. Oft geht der
Herr Verfasser auch zu verschwenderisch um
mit seinem Wissen; so, wenn er in einer länge-
ren Anmerkung auf plastische Darstellungen
von Szenen der Amphitruo-Sage zu reden
kommt (S.i 16) oder wenn er zur Erklärung des
Namens „Rhintonicae** und dergleichen den
Rahmen und Umfang seines Buches unnötig
erweiternde Anmerkungen macht. Der Herr
Verfasser hat ja sonst soviel zu sagen, dafs
der Leser auf solche Abschweifungen gerne
verzichten wird.
Von der Reichhaltigkeit des Werkes ge-
winnt man am ehesten eine entsprechende
Vorstellung, wenn man z. B. die interessante
Abhandlung über den MAmphitrao"* liest.
Auf den Seiten 117—124 liefert der Herr
Verfasser die Inhaltsangabe und eine zu-
treffende Charakteristik des römischen Ori-
ginals. Sodann geht er über auf die Be-
arbeitungen desselben, unter denen de^'
„Amphitryon" («Geta und Byrrhia") des be-
kannten Vitalis Blefsensis füglich di'j erste
Stelle einnimmt. Darauf giebt der Herr
Verfasser eine Reihe äufsert dankenswerter
bibliographisischer Nachweise und im An-
schlüsse daran bespricht er unter Anführung
erläuternder Proben (S. 130 f.) die Über-
setzung dieser Nachbildung des Originals
durch Eustache Deschamps, welche aus dem
Jahre 1421 herrührt Alsdann kommt die
Reihe an den italienischen n^eta" (S. 131
bis 138); dann folgen Spanien (S. 138 — 146),
Portugal (S. 146—154), welches durch keinen
geringeren, als durch den grofsen Camoes
vertreten ist, nach welchem zwei Jahrhunderte
später der geniale portugisische Dichter,
der „Jude** Don Centonio Jos^ da Silva dem
Amphitruostoff z. T. ganz neue Seiten abge-
wann (S. 115—161); es folgen dann die
Nachahmungen der Italiener (S. 161— 174))
wobei der Herr Verfasser von der formvol-
lendeten Übersetzung des Originals durch
Colenuccio (1530) ausgeht, um im weiteren
den Leser überzuführen zu Lodovico Dolce*s
Komödie „II marito** aus dem Jahre 1545
' (S. 163—174) und zu Croto Cieco's höchst
I schlüpfrigem Pastoraldrama „La CaUsto*
I (Venedig 1583), wobei der Herr Verfasser
eingehend verweilt. Sodann kommt er
(S. 174) auf Frankreich, wo zuerst Jean
Rotrou unter dem Titel „Les Sosies" (Paris,
1636 und 1638) eine vollständige Bearbeitung
des Amphitruo für die französische Bühne
versuchte (S. 174—177). Dieses Stflck,
welches eine unzählige Menge von MAmphi-
tryon-Ballets** veranlafst bat, wurde durch
die am 13. Januar 1668 auf die Bretter ge-
brachte Neubearbeitung desselben Stoffes vod
Seiten Moli^res* verdrängt, welche neunund-
zwanzig mal nach^einander aufgeführt werden
mufiste. „Mit Molieres Bearbeitung,*
schreibt der Herr Verfasser, „war der
Amphitruo ein Stück für die ganze
Welt geworden.* Alle auf dieselbe be-
züglichen Fragen finden auf den Seiten
179 bis 185 eine durchaus sachgemäise und
bei aller Kürze umfassende Darstellung. Auf
S. 186 begannt die Untersuchung über den
Einfluss des Amphitruo auf die Englischen
Dramatiker, wobei naturgemäfs dem Interlude
von „Jack Juggler" aus der Mitte des sech-
zehnten Jahrhunderts der zeitliche Vorrang
gebührt, wenn es auch vom römischen Ori-
ginal in vielen Zügen bedeutend abweicht,
ebenso wie Tomkins „Albumazar** (1615),
während Tho. Heywood*s „silver age" (1613)
ganz das hält, was der Titel verspricht:
„The Silver Age including the love of
Jupiter to Alcmena*" u. s. w. (S. 193—197).
Allgemeiner bekannt dürfte das nunmehr
folgende Stück sein, John Dryden's „Amphi-
tryon or the two Sodas, a comedy" (1690),
dessen Bearbeiter, Dr. Hawkesworth, im
Jahre 1792 der veränderten Geschmacks-
richtung seines Publikums Rechnung trug
(S. 204 — 207). Nunmehr wendet sich auf
S. 208 der Herr Verfasser zu Deutschland
und behandelt, nach einem Hinweise aus
M. Wolfhart Spangenbergs äufserst seltene
„Comödia, inhaltend die Empfengknüss vnd
Geburt Herculis, auss dem Lateinischen
Maccii Accii Plautii" vom Jahre 1608, zunächst
Bespr^iangen.
847
«eine der seltsamsten Paraphrasen des Amphi-
truo, des Johannes Burmeister Stück nSacri
Mater Virgo.** Daran schlieisen sich inter-
essante Nachweise über Amphitruobear-
beitungen, beziehungsweise Aufführungen in
Dresden, Wien u. s. w., während den Schlufs
der gehaltreichen Abhandlung über den
„Amphitruo" ein Hinweis auf J. D. Falks
im ersten BAndchen vom ^ Taschenbuch für
Freunde des Scherzes und der Satire**
(Leipzig 1797, S. 215-316) veröffentlichte
dramatische Szene „Die Uhu** und die ein-
gehenden Untersuchungen bilden über Falks
fönfaktiges Lustspiel „Amphitruon** (Halle
1804), sowie über Heinrich von Kleists nicht
eben allzuglücklicke Nachbildung desMoli^re-
sehen Lustspiels aus dem Jahre 1807.
Mit gleicher Gründlichkeit, wie die eben
besprochene Komödie, «sind die übrigen
Stücke des Plautus in ihrer Weiterbildung inner-
halb der versclüedenen Litteraturen Europas
behandelt worden. Der Raum gestattet es
nicht, den Inhalt auch der folgenden Abschnitte
eingehend zu besprechen.
Das für den Litteraturfreund, wie für den
Philologen von Fach ganz unschätzbare
Werk ist eine fast unerschöpfliche Fundgrube
für die gelehrte Forschung, welche durch die
staunenswerte Belesenheit Keinhardstoettners
nach mehr, als einer Seite bin befruchtet
werden dürfte. Möchte es ihm vergönnt
sein, das auf S. 9 gegebene Versprechen
im Laufe der kommenden Jahre voll und
ganz zu erfüllen. Die internationale Gelehrten-
republik wird ihm im hohen Grade dankbar
dafür sein.
Der Druck ist bis auf ein paar ver-
schwindende Versehen vortrefflich, und die
glänzende Aussattung des Buches ist würdig
seines gediegenen Inhalts.
Weimar. Otto Francke.
GQnther, Otto: Plautuserneuerungen
in der deutschen Litteratur des XV. bis
XVn. Jahrhunderts und ihre Verfasser.
Leipzig 1886. 92 S. 8'^.
Eine vielversprechende Brstlingsarbeit
des Verfassers, mit welcher er die Doktor-
würde in Leipzig erlangte. Sie zeugt von
eingehenden Studien und giebt neue wertvolle
Aufschlüsse Über die auf Plautus gerichteten
Bestrebungen des Humanismus. Wir erfahren,
dals der erste deutsche Plautusübersetzer
Albrecht von Eyb die Anregung zu seinen
Verdeutschungen der Menächmen und der
Bacchides in Italien erhielt und zwar durch
den noch ziemlich unbekannten Balthasar
Rasinus, Professor in Pavia, der 1468 starb.
Die Entstehungszeit der Margarita poetica,
die erst 1472 gedruckt wurde, fallt nach
Günthers Untersuchungen in die Jahre 1461
bis 1464. Der Herausgeber des „Spiegels der
Sitten"*, dessen 3. und 4. Teil die beiden
Plautinischen Komödien (in Verbindung mit
der Philogenie des Ugolino von Parma)
bilden, Eybs Neffe, der Bischof von Eichstätt
Gabriel von Eyb, beauftragte den Domherrn
Johann Huff mit der Sichtung des Manuskripts,
und so erschien das Werk 151 1, also fast
ein Menschenalter nach dem Tode des Ver-
fassers (t 1475)- Da dies lange Zeit unbe-
kannt war oder nicht beachtet wurde, so
wird die Lebenszeit Albrecht von Eybs in
vielen Litteraturgeschichten falsch angegeben ;
er soll 151 1 in der Vorrede seines Werkes
dies und das gesagt haben; ja Otto Francke
in seinem Buche «Terenz und die lateinische
Schulkomödie in Deutschland** (Weimar 1877)
läfst ihn noch 1537 am Leben sein, weil er
gerade eine Ausgabe dieses Jahres benutzt
hat, und was noch schlimmer ist, läfst Albrecht
von Eyb bei der Namengebung in den Menäch-
men sich auf das Beispiel des Hans Sachs be-
rufen, dessen Menächmenbearbeitung erst vom
Jahre 1548 datiert. — Mit bibliographischer
Genauigkeit führt Günther die verschiedenen
Ausgaben der von A. v. Eyb verdeutschten
Komödien auf. Beiläufig bemerke ich, dafs
Ugolino's Pbilogenia eine zweite (poetische)
Bearbeitung erfahren hat, welche Martin Glaser
zu Nürnberg 1552 unter diesem Titel erscheinen
liefs: „Ein Comedi und Fafsnacht Spil, welches
sagt von einer Junckfrawen, die zu bösen
Ehren beredt wurd, und letstlich einem Baum
für ein Junckfrawen gegeben.** (Exemplar in
Berlin, königliche Bibliothek, Yp. 9341.)
348
Bespredmiigieii.
Hans Sachs hat nach Albrechts Über-
seizung gearbeitet, ohne den lateinischen Text
aberbaupt zur Hand gehabt zu haben. — Der
Verfasser läfet nun di« Bespredim« der drei ;
lateinischen nach Plautus gearbeiteten pro- '
saischen Stücke von Jacob Locher und {
Christoph Hegendorfer folgen. Lochers ludi*
cnun drama ist eine Fortsetzung der Asinaria.
Wie Lochers, so sind auch Hegendorfers
Dramen als Jugendarbeiten nicht bedeutend.*)
Aber was der Verfasser im 2. Anhang
(S. 70 — 91) über das Leben und die Werke
dieses Leipziger Humanisten bringt, ist in
jedem Betracht die Frucht sehr sorgfältiger
Forschungen und eine sehr glückliche Vor-
arbeit für eine erschöpfende Biographie, die
um so wünschenswerter ist, als die wenigen
bis jetzt bekannten biographischen Notizen
über Hegendorfer meist fehlerhaft sind (vgl.
den betreffenden Aufsatz in der Allgemeinen
deutschen Biographie). Den Namen Hegen-
dorfer verdanken wir ebenfalls dem Verfasser.
Unter den von Schulmeistern verfaüsten und
von deren Schülern aufgeführten Plautusver-
deutschungen bespricht Günther Joachim
Greffs Aulularia (1535)1 Christoph Freüslebens
Stichus (1539)1 Jonas Bitners Menächmen
(1570); bei Bitner bemerke ich, dals dieser
auiser Buchanans Jephthes auch des Com.
Crocus Joseph US verdeutschte (Strafsb. 1583,
Exemplar in Berlin, königliche Bibliothek
Yp. 761). Von Wolfhart Spangenbergs
deutschem Amphltruo (Strafsb. 1608) hat
Günther leider kein Exemplar aufgefunden.
S. 39 ff. bespricht Günther Martin Hayneccius*
Captivi (1582) und giebt im i. Anhang
(S. 64— 70) einige bisher nicht veröffentlichte
Nachrichten Über des Grimmaer Rektors
Hayneccius Leben, die den Annalen der
Grimmaer Fürstenschule entstammen. Jacob
Ayrers Comödia von zweyen Brüdern aus
Syracusa (1598) ist den Menächmen nach-
gebildet, doch sind die Abweichungen sehr
*) Dafs Hegendorfers Comödia nova
in Gottscheds nötigem Vorrat II, 174 — 190
wieder gedruckt ist, konnte wohl Erwähnung
fmden.
bedeutend. ENe letzten Bearbeiter des Flaatns,
Heinrich Zenckfrey, Lehrer am grauen Kloster
in Berlin, und Joh. Burmeister aus Lüneburgi
Fastor zu Gulzau, haben sich mit der Anln-
laria und dem Amphitrao be£dst, der erstere,
indem er eine deutsche Cbertragung mit
vielem dem Geschmack der Zeit angepaisten
unnützen Beiwerk von Zank- und Schimpf-
Szenen lieferte (1607), der andere, indem er
dos Plantinische Stück unter Entfernung alles
Anstößigen zu einem lateinischen Drama
Mater- Virgo (1621) umgestaltete, einem Weih-
nachtsspiele, in welchem der Teufel Asmodes
dem Heiland den Makel unehelicher Geburt
vergeblich anzuheften versucht Am Schlnfe
steht ein deutscher geistlicher Hirtengesang
von der Geburt Christi. Das Stück macht
nach Günther einen wunderlichen Eindruck
und kann nur als Kuriosität registriert werden.
Wir wünschen, dafs der Verfasser seine
dem Drama des XVI. Jahrhunderts zugewandten
Studien fortsetzen und die Terenzemeueningen
(Goedeke II,, 317 f.) zum Gegenstande seiner
demnächstigen Forschung machen möge.
Wilhelmshaven. Hugo Holstein.
Sohuohardt, Hugo: Romanisches und
Keltisches. Gesammelte Aufsätze.
Berlin, R. Oppenheim 1886. VII, 499 S. 8*.
M. 7ySO.
Es ist in neuerer Zeit und besonders in
Deutschland eine Art Büchererzeugung Mode
geworden, welche gar sehr an die Port-
pflanzungsart gewiiser Pilze erinnert. Da
entsteht nSmlich aus den Sporen der einen
Fruktifikation ein Pilz, der von demjenigen,
von welchem die Sporen abstammen ganz
verschieden ist, aber dennoch nur eine Gene-
ration desselben darstellt, indem erst aus
seinen Sporen wieder der ursprüngliche Püz
hervorgeht. So ruft jedes neu erschienene
Buch eine Reihe von Kritiken, Anzeigen und
Feuilletons hervor, welche ja gsmz etwas
anderes als ein Buch sind. Aber Herr X.,
der eine gewilse Zahl solcher kritisierender
Feuilletons geschrieben hat, denkt sich:
warum soll ich nicht auch ein Buch machen
wie die Herren A, B, und C,, deren Werke
Besprechungfen.
349
ich 80 erfindlich und so geistreich besprochen
habe. Er sucht also seine alten Aufsätze
lusammen, findet auch einen gefälligen Ver-
leger und 8o entsteht aus den Sporen wieder
ein frischer Pilx. Das neue Buch des Herrn
X. wird nun von Herrn Y. kritisiert, der
wieder nach einiger Zeit seine ,,gesammelten
Anfsätse" herausgiebt Und so geht es fort
sine gratia in infinitum.
Ich will damit nicht gesagt haben, dafs
alle Aufsätze, die einmal in Zeitungen er-
schienen sind, das Schicksal von Eintags-
fliegen verdienen; giebt es doch so viele,
die einen unvergänglichen Wert besitzen und
die auch in Buchform wiederholt gedruckt
wurden, wie z. R die Essays von liacaulay.
Aber der groise englische Essayist hat, wohl-
gemerkt, nicht alle seine in Zeitschriften er-
schienenen Aufsätze des Wiederabdrucks
wfirdig gehalten und eine solche weise
Selbstkritik haben nicht alle kontinentalen
Essayisten geübt
Ich hätte schon lange zu diesen Be-
merkungen Anlais gehabt, aber nach der
Lehre Dantes
Chi Panimo di quel ch*ode non posa,
Ni ferma fede, per esempio c*haia
La sua radice incognita e nascosa
habe ich mit ihnen zurflckgehalten bis ich
damit einen von den „höchsten Gipfeln**
treffen konnte.
Wenn ein Tagesschrübteller dritten oder
vierten Ranges dem GelQste, aus seinen
Zeitungsartikeln ein Buch zu machen, nicht
widerstehen kann, so kfimmem wir uns
weiter nicht darum. Wir haben nichts
Grofses erwartet und sind nicht enttäuscht
worden.
Wenn at>er ein Mann von der wissen-
schafUichen Bedeutung und stylistischen
Eleganz Hugo Schuchardts mit einem der-
artigen Sammelwerke vor die Öffentlichkeit
tritt, dann fordern wir von ihm das Beste
und werden schmerzlich enttäuscht, wenn wir
neben vielem Guten auch ziemlich viel Mittel-
mälsiges finden, Mittelmäüsiges, das kaum
gut war, als es vor zehn oder fünfzehn Jahren
in den Spalten einer Zeitung erschien und
das durch das lange Liegen nicht besser
geworden ist«
Macaulay, dessen Ansichten Aber das
Herausgeben „gesammelter Aufsätze** wir
Jedem, der solche Buchmacherei beabsichtigt
zur Beherzigung empfehlen, Macaulay, der
sich erst dann entschlofs, eine Sammlung
seiner Aufsätze herauszugeben, als ameri-
kanische Nachdrucker unkorrekte und mit
Unechtem vermehrte AbdrQcke derselben ver-
anstalteten, Macaulay, dieser Meister des
Essays hielt eine derartige Sammlung für
etwas sehr Gewagtes, den Ruf eines Autors
sehr Gefährdendes. Und doch handelte es
sich bei Macaulay um^gr6fsere, meistens auf
gründlicher Forschung beruhende Arbeiten,
während man heutzutage kein Bedenken
trägt, Eintagsfliegen, für das Interesse des
Tages berechnete Feuilletons nach einem
Dutzend Jahren dem Publikum als Buch
wieder aufzutischen. So ein Feuilleton —
mag es nun unter oder über dem „Strich**
— erschienen sein, kann ja sehr geistreich
und witzig, sehr fesselnd und glänzend ge-
schrieben sein ; aber wenn es uns eine halbe
Stunde oder wenn es hoch kommt einen
halben Tag unterhalten hat, dann ist sein
Zweck erfüllt. So wie wir uns die Süfsig-
keit eines Bonbons eine Minute lang schmecken
lassen, so geniefsen wir auch ein gutes
Feuilleton. Wer wird aber Bonbons auf
ihren Nährwert prüfen oder den wissenschaft-
lichen Wert eines Feuilletons untersuchen?
Wenn Schuchardt gelegentlich der Aufführung
der Operette „Boccaccio** ein recht hübsches
Feuilleton über den Erzähler der hundert
Novellen schreibt, so lesen wir es mit Ver-
gnügen, wenn wir auch den Kopf darüber
schütteln, dals er in einem Atem auch
Attilio Hortis* grundgelehrtes Werk über
Boccaccio abthut, ein Werk das In einem
ausführlichen gründlichen Artikel besprochen
zu werden verdiente. Wir fiagten damals
nicht, ob auch Schuchardt das Werk von
Hortis aufinerksam gelesen hat — es ist
950 Seiten in Quarto stark — und ob er
gründliche Studien über Boccaccio gemacht
hat. Es war ja ein Feuilleton, vorzüglich
860
Besprechungen.
bestimmt für Jene, welche die Operette
Supp^s hören wollten, und wer wird mit
einem solchem streng ins Gericht gehen?
Wenn er uns aber nach sechs Jahren dieses
Feuilleton wieder auftischt, ohne von all
dem, was in dieser Zeit über Boccaccio ver-
öffentlicht wurde, Notiz zu nehmen, wenn er
es in einem Buche wieder abdruckt, das den
so interessanten und wertvollen gediegenen
Aufsatz über „Reim und Rhythmus im Deut-
schen und Romanischen** enthält, dann ist es
mit einem „ allgemeinen Schütteln des Kopfes**
nicht abgethan.
Auch der Aufsatz ^die Geschichte von
den drei Ringen** enthielt, als er im Jahre
1871 erschien fär alle, die sich mit Boccaccio
beschäftigen, nichts Neues. Wozu soll der
Wiederabdruck nach fünfzehn Jahren dienen.^
Der Artikel über ,, Belli und die römische
Satire**, war als er vor fünfzehn Jahren erschien
sehr interessant und belehrend, ist aber jetzt
nach dem Vielen, das seitdem über Belli
publiziert wurde, etwas veraltet. Schuchardt
hat dies selbst gefühlt, denn er bittet wegen
des Wiederabdrucks um besondere Nachsicht.
Warum soll aber ein Mann wie Schuchardt
um Nachsicht bitten müssen? Hätte er den
Aufsatz mit Benutzung der einschlägigen
Publikationen umgearbeitet und vervoll-
kommnet, so hätte er nicht um Nachsicht zu
bitten sondern auf Dankbarkeit zu rechnen
gehabt.
Und diese Dankbarkeit möchten wir ihm
för den Wiederabdruck der Artikel über
nCamoens**, „Stecchetti** und ,,Französisch und
Englisch** aussprechen, namentlich das, was er
am Ende des letzterwähnten Aufsatzes Über
Romanen und Germanen sagt, kann nicht
genug gelobt und beherzigt werden. Es
sind ja auch diese Aufsätze zumeist durch
das Tagesinteresse hervorgerufen worden,
aber sie haben einen weit über dieses hinaus-
reichenden Wert.
Auch die Artikel über „Pompei**, „Virgil im
Mittelalter**, „Liebesmetaphem** haben bleiben-
des Interesse, dagegen hätten „Ariost**, „Eine
portugiesische Dorfgeschichte** und „eine
Diezstiftung** gut wegbleiben können. Der
Diez-Aufsatz war als er vor neun Jahren tj-
schien gewifis zeitgemäfs und nützlich; aber
— er hat seinen Zweck erfüllt und sein
Wiedererscheinen dünkt uns etwas fiberflüssig.
Die pi^ces de r^istance von Schuchardts
Buch sind die Aufisätze über «Goethe und
Calderon** und die „Keltischen Briefe**; sie
nehmen von den 436 Seiten des Textes 157
und mehr als die Hälfte der Anmerkungen
ein. Ober die Calderon-Goethe-Aufsätze zu
urteilen will ich einem kompetenteren Richter
überlassen. Die keltischen Briefe machen
auf keine wissenschaftliche Bedeutung An-
spruch. Sie sind sehr hübsch und amüsant
geschrieben, Schilderungen von Land und
Volk im FÜrstentupi Wales, die ich, als sie
vor acht bis zehn Jahren erschienen, mit
vielem Behagen gelesen habe und die ich
jetzt gern zum zweiten Male las. Sie dürften
auch Kennern des Ländchens nicht veraltet
erscheinen, denn es wird sich dort in den
paar Jahren nicht vieles geändert haben.
Ziehen wir nun die Summe aus unseren
Betrachtungen, so ergiebt sich als Resultat:
„Weniger wäre mehr!** Hätte Schuchardt,
etwa mit Hilfe eines aufrichtigen Freundes
eine strenge Auswahl unter seinen Arbeiten
getroffen, manches ganz weggelassen, anderes
unter Berücksichtigung der Arbeiten Anderer
verbessert und vervollkommnet, so hätten wir
statt eines Buches von über vierhundert
Seiten eines von zwei- bis dreihundert zu
beurteilen gehabt. Wir hätten anstatt manches
zu tadeln und manches zu loben nur zu loben
gehabt. Mit einem Worte, es wäre ein Buch
geworden wie man es von Schuchardt zu er-
warten berechtigt ist.
Fragt man nun, wozu das Alles gesagt
wurde, da doch Schuchardt unseres guten
Rates nicht bedarf, so antworte ich, dafs
ich mir auch nicht anmafse ihn zu belehren,
wohl aber eine schwache Hoffnung habe,
dafs sich manche Dii minorum gentium das
hier Gesagfte zu Herzen nehmen werden.
Vielleicht werden sie an das
Quid sum miser tunc dicturus
Quem patronum rogaturus
Quum vix justus sit securus.
BesprechungexL
351
aich erinnernd, es sich zwei-, dreimal über-
legen bevor sie ihre gesanunelten Aufsätze
in K Buchform** erscheinen lassen und dann
mit Hilfe eines strengen Richters eine Aus-
wahl treffen. Und wenn die Sflnder der
Feder auf meine Worte nicht achten, viel-
leicht thun es die patroni — die Verleger
und lassen sich dann um so schwerer finden.
Wien. Marcus Landau.
>
Meyer, Paul: Alexandre legrand dans
la litt^rature franpaise du moyen äge.
Paris 1886 bei Vieweg. 2 Bde. Band I Texte.
XXm, 343 S. Band II histolre de la le-
gende, 400 S. 8*.
Für die mittelalterlichen Vulgärsprachen
ist es von der gröfsten Bedeutung, wenn
Stoffe, welche im Mittelalter überall bekannt
und beliebt waren, wie dies z. B. mit dem
klassischen Sagenkreise der Fall ist, an erster
Stelle dort eine genauere Untersuchung er-
fahren, wo sie zuerst auftreten. Die Litte-
raturgeschichte der mittelalterlichen Völker
ist eigentlich eine vergleichende zu nennen,
da ja niemals Entlehnung und Übernahme so
im Schwange war, als in jenen Zeiten. Die
Erscheinungen der einzelnen Litteraturen
können nur im Zusammenbange mit den
anderen begriffen werden und in den meisten
Fällen werden wir, soweit es sich nicht ge-
radezu um ausschliefsliches Nationalprodukt
eines Volkes handelt, auf die französische
Litteraturgeschichte als Ausgangspunkt zu-
rückgehen müssen. Jeder Schritt, der auf
dem Gebiete der altfranzösischen Litteratur-
geschichte näher zum Ziele führt und Klar-
heit über bisher noch dunkle Punkte ver-
breitet, ist darum mit Freuden zu begrüfsen,
da oft auch andere Nationen und vor allem
wir Deutschen davon Förderung erwarten
dürfen. P. Meyer hat die Geschichte der
Alexandersage einer eingehenden Unter-
suchung unterworfen und ihre Entwicklung
in klarer Weise dargestellt. Der erste Band
enthält zum gröfsten Teil noch unedierte
Texte und bietet ein reiches, verlässiges
Material für Untersuchungen. Von der Alex-
andersage waren bisher nur das Fragment
' des Alberich von Besan^on bekannt und der
Roman in Alexandrinern, von Michellant aber
nach einer durchaus ungenügenden Hand-
schrift mit Benutzung einer zweiten heraus-
gegeben. Ausser dem Fragment des Albe-
rich enthält der erste Band zwei grosse
Stücke einer Redaktion in zehnsilbigen Ver-
sen nach der Handschrift der Arsenalbiblio-
thek zu Paris und einer Venezianerhandschrift.
S. 59 — 105 enthält Fragmente der Version
in Alexandrinern ebenfalls nach der Pariser
Handschrift. S. 115 — 175 ist der Anfang
des Romanes nach der Handschrift 789 der
Pariser Nationalbibliothek gegeben, welche
verschiedene Tiraden enthält, die in der
gewöhnlichen von Michellant edierten Redak-
tion fehlen. S. 177 — 236 giebt Teile aus
der Version des Thomas von Kent, und zwar
ein Inhaltsverzeichnis nach einem Durham-
Manuskript und Textauszüge aus einer Pariser
Handschrift. Der zweite Band enthält nun
eine Geschichte der Legende. Kapitel I — IV
werden die lateinischen Quellen behandelt,
welche als der Ausgangspunkt für die fran-
zösischen Bearbeitungen zu gelten haben.
Es kommen hauptsächlich zwei lateinische
Übersetzungen der griechischen Geschichte
des Pseudo-Callisthenes in Betracht: die des
Julius Valerius und diejenige, welche unter
dem Namen der historia de proeliis Alexan-
dri bekannt ist. J. Valerius war im Mittel-
alter hauptsächlich in einer gekürzten Form
bekannt, in der Epitome; diese ist es auch,
der die französischen Bearbeitungen folgten.
Nach einem Oxforder Manuskript weist der
Verfasser (S. 20 ff.) überzeugend das Vor-
handensein von Versionen nach, welche in
der Mitte zwischen den meist einzig berück-
sichtigten vollständigen und stark gekürzten
Valeriusfassungen liegen. An die Epitome
anschliefsend und meistens auch in denselben
Handschriften mit ihr erhalten ist der Brief
des Alexander an Aristoteles, welcher die
Wunder und Abenteuer des indischen Zuges
schildert. Dieser Brief scheint sich vom
ursprünglichen Pseudo - Callisthenes (resp.
seiner Übertragung des Valerius III, 17) ab-
gezweigt und eine Sonderexistenz weiter
353
Besprechungen.
geführt XU haben. Ebenso steht es mit dem
Briefwechsel zwischen Alexander und dem
König der Brahmanen, Dindimus, in dem
letzterer Aufschluls Ober die in seinem Reiche
herrschenden Sitten und Gebräuche erteilt.
Die historiadeproeiiis ging aus einem von dem
J. Valerius vorliegenden wesentlich verschie-
denen Texte des Pseudo-Callisthencs hervor.
Die letzte in Betracht kommende Quelle ist
das iter ad paradisum. Kapitel IV enthält
einen nicht direkt zur Sache gehörigen £x-
curs Aber zwei historische Kompilationen,
deren eine, welche Meyer die von St. Alban
nennt, den Zweck hat, den fabulösen Tradi-
tionen eine auf wirkliche historische Quellen
gestützte gegenüber zu stellen. Später wurde
ein weiterer Versuch gemacht, die Angaben
des Valerius, gegen welche jene erste Kom-
pilation offenbar sich richtet, mit eben dieser
zu verschmelzen.
Die Untersuchung Ober die lateinischen
Quellen ist hiermit abgeschlossen mit dem
bereits S. 39 mitgeteilten und im weiteren
Verlaufe mehrfach gestützten Resultat: dais
fOr die ältere Zeit Valerius und der Brief an
Aristoteles verwendet werden, während die
historia erst später beigezogen wird. Kapi-
tel V ist Alberich von Besan9on gewidmet,
und zwar Untersuchungen über seine Metrik
und Sprache und seine Quellen. Bemerkens-
wert ist die von Meyer im Texte einge-
führte Korrektur von „omne** - hominem för
das fehlerhafte, von den Herausgebern aber
unbeanstandete handschriftliche „oume.** In
seinen sprachlichen Untersuchungen kommt
der Verfasser zu dem Schlüsse, dais als Hei-
mat des Dialektes Besan9on absolut aus-
geschlossen bleibe (er vermutet S. 93 und
I S. XVII, Anmerkung, vielleicht falschlich
für Brianpon oder Pisan^on), und entscheidet
sich für Lyonnais oder Dauphin^, zwischen
dem 44,30. und 45. Breitegprad (vgl. die Ab-
handlung von Flechtner, Die Sprache des
Alexanderfragments, Breslau i88z, welche
ebenfalls für das Fragment den Dialekt von
Lyon ansetzt). Die Quelle ist die Epitome
des Valerius, welche Alberich nur in Bezug auf
Alexanders Abstammung wahrscheinlich nach
Orosius III, XI berichtigt. Interessant für
die Sagengeschichte sind die Bemerkan^fen
auf Seite 95 und 96. S. 93 verwirft Meyer
die Ansicht, welche man sich nach A. 37
„dicunt alquant estrobatour** bilden könnte,
dass nämlich bereits Erzählungen von Alexan-
ders Geburt nach Pseudo-Callisthenes um-
liefen; ich vermag dem nur entgegenzuhalten,
dafs der Ausdruck „estrobatour"* für lateinische
Texte mir sehr seltsam vorkommt. Man
müiste eben annehmen, dais diese Version
durch Alberich völlig zurückgedrängt wurde
und erst etwa in der Version des Thomas
von Kent (Band I S. 197 — 308) und in der
Baseler Handschrift des Lamprecht, wenn
diese einer französischen Vorlage folgte,
wieder auftauchte, doch können beide auch
ebensogut direkt aus der lateinischen Quelle
geschöpft haben. Kapitel VI behandelt die
Redaktion in zehnsilbigen Versen. Hier
bringt mit dem neuen Stoffe Meyer auch
durchaus neue Gedanken vor. Diese Redak-
tion schliefst sich zunächst genau an Albe-
rich und später an dessen Quelle, an Vale-
rius, an. Beide Handschriften, die Venezianer
und die Pariser, brechen an derselben Stelle
ab, bei Alexanders Zug gegen den Könige
Nicolaus; es ist darum wahrscheinlich, dafe
das Gedicht Überhaupt nicht weiter gereicht
hat und eine Neubearbeitung des Alberich-
sehen Werkes bietet, das ebenfalls nur bis
zu diesem Punkte reichte. Eine Stütze erhält
diese Ansicht durch den Umstand, dafs auch
in Lamprechts Gedichte von hier an eine
Verschiedenheit bemerkbar wird. Während
nämlich Lamprecht seither eine ziemliche
Unabhängigkeit von den lateinischen Quellen
aufwies, die sich wohl am leichtesten daraus er-
klärt, dafs er aus Alberich und nicht aus ihnen
schöpfte, schliesst sich von nun an Lamprecht
ziemlich genau an die Epitome des Valerius,
an den Brief Alexanders an Aristoteles und an
das iter ad paradisum an ; also auch seine fran-
zösische Vorlage scheint hier abgebrochen
zu haben. Eine durchaus verschiedene An-
sicht findet sich bei Kinzel in der Ausgabe
des Alexanderliedes. Kinzel betrachtet die
historia de proelüs als die Quelle Lamprechts,
Besprechungen.
853
resp. Alberichs, doch scheint sich diese An-
nahme schon dadurch zu widerlegen, dais,
wie ein auch nur flüchtiger Überblick fiber
die von Kinzel unter dem Texte beigezogenen
Stellen der historia zeigt, zur Erklärung sehr
häufig auf Valerius rekurriert werden mufs.
Des Verfassers hier niedergelegte Beob-
achtungen werfen ein sehr interessantes
Licht auf die Quellenirage des deutschen
Gedichtes und sind einer von diesem Stand-
punkte aus unternommenen genaueren Nach-
prüfung wert. £s liegt viel Bestechendes in
dieser Ansicht. Die reizende Episode mit
den Blumenmädchen auf dem indischen Zuge
wäre demnach nicht von Alberich, sondern
von Lamprecht zuerst in die Litteratur ein-
geführt worden nach irgend einer lateinischen
Vorlage, da sie sich nämlich im Briefe nicht
vorfindet. Ich gestehe allerdings, dass ich
dies eher Alberich zutraue als seinem deutschen
Übersetzer. Die umfangreichsten Kapitel, VII
und Vm, enthalten im Anschluis an die in
Romania XI pag. 313 ff. veröffentlichte „^tude
sur les manuscrits du roman d* Alexandre**
eine Untersuchung über das Verhältnis der
einzelnen Teile des Romanes zu den lateini-
schen Quellen, über die verschiedenen Ver-
fasser etc. Sie ist unternommen auf Grund
des handschriftlichen Materiales, das bisher
unediert ist, und dient als Vorarbeit zu
einer kritischen Ausgabe des Romanes. Wir
können uns auf Einzelheiten nicht einlassen
und begnügen uns, Über die Hauptresultate
zu berichten. Meyer unterscheidet drei Ver-
fasser, Lambert le Tort, Alexandre de Ber-
nai und Pierre de St. Cloud, und vier gröfsere
Abteilungen. Lambert ist der Verfasser der
dritten, ältesten; sie enthält des Darius Tod
und die indische Expedition. Quellen: der
Brief und die Epitome des Valerius. Einige
Interpolationen wurden erst später hin-
eingetragen. Alexanders Jugendgeschichte
existierte bereits in Alberichs Gedicht und
der neuen Bearbeitung in Zehensilblem. Die
vierte Abteilung stammt von zwei Verfassern,
Alexandre de Bemai, welcher der historia
de proelüs folgte, und Pierre de St. Cloud,
der seinerseits sich an die Epitome anschlofs.
Der Roman befand sich einmal in einem Zu-
stande, daüs die Jugendgeschichte Alexanders
in der Zehnsilbler-Redaktion vorausstand, ihr
folgte in Alexandrinern Lamberts Werk und
dann der Schlufs von Alexander. Dies wird
repräsentiert durch die Handschriften von
Venedig und der Arsenalbibliothek. Das
letzte Stadium ist die Umarbeitung der Jugend-
geschichte in Alexandriner, ferner der Ein-
schub einer grösseren Abteilung zwischen
deren Schlufs und den Anfang von Lamberts
Gedicht, bestehend aus einer „Fuerre de
Gadres** und Elementen aus Josephus und
Quintus Curtius entlehnt, ebenfalls Alexanders
Werk. Der Verfasser argumentiert aus Wider-
sprüchen in den einzelnen Teilen und aus
der verschiedenartigen Quellenbenutzung.
Die Darstellung ist ziemlich einleuchtend.
Völlig entschieden werden dürfte die Frage
erst mit einer kritischen Ausgabe und den
dadurch gegebenen weiteren Beweisen aus
sprachlichen, stilistischen etc. Gründen. Kapi-
tel IX beschreibt die Fortsetzung des Romanes,
in der „vengeance Alexandre** des Gui de
Cambrai und Jean de Nevelois. Kapitel X
handelt über den „roman de toute chevale-
rie" des Thomas oder Eustache de Kent.
Vier Handschriften desselben werden be-
schrieben (Band I enthält Auszüge aus einer
Pariser Handschrift). Der hier gegebene
Alexander-Roman bildet die Grundlage für
das mittelenglische Gedicht King Alisaunder.
Kapitel XI giebt eine Beschreibung dreier
prosaischen Romane, einerfranzösischen Über-
setzung der Epitome und des Briefes, einer
Übersetzung der historia de proeliis und der
aus anderen Materialien geflossenen Gesc ichte
Alexanders von Jean Wauquelin. In Kapitel
XII finden sich Bemerkungen über die Alex-
andersage, soweit sie als wahre Geschichte
aufgefalst sich in lateinischen und französi-
schen historischen Kompilationen vom XII.
bis zum XV. Jahrhundert Eingang verschaffte.
Auch einzelne Episoden, losgelöst vom Gan-
zen, sind in geschichtliche und romanhafte
Werke Übergegangen, wie an einem Beispiel,
dem iter ad paradisum erläutert wird (Kapitel
XIII). Das letzte, XIV., Kapitel enthält einige
354
Besprechungen.
I
Beobachtungen allgemeinerer Natur über die in
allen dichterischen Quellen verbreitete Kennt-
nis der Sage und Qber die durch die Zeit
bedingte Variabilität der Anschauung Qber
den Charakter des makedonischen Königs.
Das auch äufserlich sehr gut ausgestattete
Werk Paul Meyers zeichnet sich durch eine
klare, lichtvolle Darstellung des Gegenstandes
aus, durch eine bemerkenswerte Sicherheit
des Urteils, die nur aus einer langen Beschäf-
tigung mit dem Stoffe resultieren kann. Für
die Litteraturgeschichte beruht der Haupt-
gewinn in dem strikt geführten Nachweise,
wie sich die Dichter zu den Stoffen des
klassischen Sagenkreises verhielten. Nicht
die Erfindung von Abenteuern kommt ihnen
zu, der Stoff ist vielmehr genau und fest
gegeben. Ihre eigene Thätigkeit beschränkt
sich darauf, die Personen und Verhältnisse
in das Gewand ihrer Zeit zu kleiden. Sehr
wertvoll ist das Buch durch die neu edierten
Texte und die Angaben über eine grofse An-
zahl vom Verfasser studierter, sonst nur wenig
und ungenügend bekannter Handschriften.
Die Vorzüge liegen nicht allein in dem
neu gegebenen Materiale, in den aus diesem
gewonnenen Resultaten, sondern auch in den
vielen lebendigen Anregungen, welche die
Forschung nach verschiedenen Richtungen
durch die vom Verfasser aufgeworfenen und
angebahnten Fragen erhält. Nicht sowohl in
Einzelfragen, als auch in allgemeinen An-
schauungen über die Verhältnisse der alt-
französischen Litteratur erhält man durch das
Buch vielfach Förderung und Klärung, und
wir sind dem Verfasser zu Danke verpflichtet
für die eingehende, zusammenfassende Be-
handlung der für die vergleichende Litteratur-
geschichte des Mittelalters so überaus wich-
tigen Alexandersage.
München. Wolfgang Golther.
Bieling, Alexander: Quellenschriften
zur neueren deutschen Litteratur. No. i
Gottscheds Reineke Fuchs. Abdruck der
hochdeutschen Prosa-Übersetzung vom Jahre
1753. Halle. M. Niemeyer. 1886.
Die stattliche Reihe von Neudrucken, ,
welche seit Braunes bekannter Sammlung
bereits zu Tage getreten ist, soll durch obiges
Unternehmen abermals einen Zuwachs er-
halten. Es handelt sich darum, seltene Drucke,
welche bedeutenden Werken unserer neueren
Litteratur als Quelle dienten, weiteren Kreisen
aufs neue zugänglich zu machen; gewiss ein
dankenswertes Vorhaben, welchem der Erfolg
umsoweniger fehlen wird, je mehr die histo-
risch-philologische Richtung gegenwärtig auch
das Studium der modernen Litteratur be-
herrscht. Ein Wiederabdruck von Gottscheds
Übersetzung des Reineke Fuchs, der Haupt-
quelle für Goethes Dichtung, eröffnet die
Serie und giebt nun Jedermann bequeme
Gelegenheit, sich selbständig davon zu über-
zeugen, wie eng sich der Dichter an Gott-
sched anschlofs und mit wie erstaunlich ein-
fachen Mitteln er dessen immerhin etwas
steifleinene Prosa in jene Hexameter umgols,
deren schalkhafte Grazie dem alten viel-
behandelten Stoffe erst die endgültige, klassi-
sche Form gab. Eine erschöpfende Unter-
suchung des Quellenverhältnisses wird zwar
immer die Hinzuziehung des niederdeutschen
Originals erheischen, welches Goethe in
zweiter Linie benutzte und welches er in einigen
Fällen besser verstanden hat als sein Gewährs-
mann ; trotzdem wird man nichts dagegen ein-
zuwenden haben, dafs in Anbetracht der
leicht zugänglichen Ausgaben des Reineke
Vos Gottscheds niederdeutscher Text in der
vorliegenden Publikation fortgelassen wurde,
wodurch sich ein mäfsiger Umfang des Bänd-
cheDs ermöglichen lieüs. Die Vorbemerkungen
des auf diesem Gebiete auch sonst verdienten
Herausgebers behandeln kurz und gut die
Geschichte von Gottscheds Werk und teilen
aus und über dessen Einleitung und Anmer-
kungen das Wichtigste mit. Nur Eines läfst
die Ausgabe zu wünschen übrig, nämlich
einen fortlaufenden Verweis auf Goethes
Gedicht durch Beigabe der Gesang- und
Verszahlen desselben. Bei der grofsen CTber-
einstimmung der beiden Texte hätte sich das
gut bewerkstelligen 4assen, und die Ver-
gleichung würde dadurch wesentlich erleich-
tert sein. Hoffentlich werden die folgenden
Besprechungen.
855
Hefte auch in dieser Beziehung allen berech-
tigten Ansprüchen der Leser Rechnung tragen.
Kiel. F. Vogt.
Elze, Karl: Lord Byron. Dritte Auf-
lage. Verlag* von Robert Oppenheim, Ber-
lin 1886. 524 S. 8®. Mark 7,50.
Karl Elzes ^Lord Byron** Hegt in
dritter, verbesserter 'Auflage vor. Ein wohl-
verdienter Erfolg. Denn wir schätzen an
Karl Elzes Werk ebenso die Treue und Ver-
läfslichkeit seiner Quellenforschungen, die
vollkommene Beherrschung des einschlägigen
Materials, wie eine natürliche, ungezwungene,
fast weltmännische Darstellungsgabe. Unter
so mancher hervorragenden Leistung der
neueren biographischen Geschichtsschreibung
in Deutschland zieht an Elzes Werk unmittel-
bar und in erster Linie eine merkwürdig
flüssige Erzählungsgabe an, welche freilich
hie und da an den Stil des Feuilletonisten
streift, aber immer durch einen gediegenen
Gelehrtensinn gezügelt bleibt. Eine solche
Eigenschaft machte Karl Elze gerade zur
Schilderung des Lebenslaufes des weltmänni-
schesten Dichters und Aristokraten der neueren
Zeit besonders geeignet und, wenn wir Um-
schau halten über die deutschen biographi-
schen Darstellungen Lord Byrons, so werden
wir gestehen müssen, dafs Elzes Werk zur
Zeit noch immer das Beste ist, was wir in
dieser Art besitzen und dafs wir durch die
Fülle der Quellennachweise bei Elze in der
verwirrtesten und dunkelsten aller Lebens-
geschichten relativ auf einem sicheren Boden
sind, dem wir uns gern vertrauend überlassen.
Wir rühmen an Elzes Werk im Einzelnen
Partieen, wie seine Schilderung der Pilger-
fahrt Lord Byrons, seine lebendige Darstellung
aller häuslichen und sonstigen Verhältnisse,
so wenig wir in zahlreichen Einzelheiten auch
mit seinen Auffassungen übereinstimmen. Es
wird vor Allem Elzes dauerndes Verdienst
bleiben, zuerst und am Nachdrücklichsten
in der dunklen Geschichte von Byrons Ehe-
scheidung Licht geschaffen und Byron von
dem schmählichsten Verdacht gereinigt zu
haben durch die scharfsinnige und eindrin-
gende Aufdeckung aller Widersprüche in die-
ser Angelegenheit. Wenn Jeafiresops „The
real Lord Byron" uns freilich in vieler Hin-
sicht der Elzeschen Darstellung vorzuziehen
scheint, so werden wir uns stets zu gewär-
tigen haben, wie vieles Jeaffi-eson gerade
unserm Karl Elze verdankt. Denn es mufs
ausgesprochen werden, dafs wir in Karl Elze
immerdar den Bahnbrecher zu verehren haben
werden zu einer kritischeren, möglicheren
Beurteilung Byrons als Mensch und Dichter;
dafs vor Karl Elze in Deutschland wie in
England das Chaos war in Allem, was Über
Byrons Leben als solches geschrieben ward
und dafs Karl Elze zuerst als ordnender
Geist, mit der Treue des deutschen Forschers,
diese disparaten Elemente zu einer Gestalt
zu formen versucht hat. Seit dem Erscheinen
von Elzes Werk ist man erst zu einer be-
sonnenen Beurteilung des Menschen und
Dichters im Guten und Schlimmen gelanget
und Elzes vereinzeltes, grundlegendes Stre-
ben ist unterdessen zum Gemeingut geworden
in der englischen Kritik wie in der deutschen.
Ein solches Verdienst mufs vor Allem fest-
gehalten werden und in diesem Sinne haben
wir Elze als einen Altmeister dankbar zu
verehren.
Aber die Lesung dieser dritten Auflage
des Werkes hat uns mehr als die früheren
Ausgaben auch die Schwäche des Elzeschen
Werkes kennen gelehrt. Der Wert dieses
Buches besteht weit mehr in seiner negativen
Seite gegenüber dem, was bis dahin als
Wahrheit über Byron galt, als in dem, was
der Biograph als positiver Geschichts-
schreiber, Psycholog und Kritiker aus seinem
Helden zu machen weifs. Gestehen wir es
uns offen ein: Wer Lord Byron war, das
wissen wir nach der Aufnahme des Elzeschen
Buches am w^enigsten, so viele der verläfs-
lichsten Daten und Ereignisse der Biograph
auch an unserem Geiste vorübergeführt hat.
Wie erklärt sich das Rätsel? Es findet
seine Auflösung in Nichts Anderem als in
der — nach unserer bescheidenen Meinung -«-
unrichtigen biographischen Methode Karl
Elzes. Es ist freilich scheinbar eine unter-
856
Besprechungen.
geordnete Frage, ob die Auseinandersetzung
mit den nachträglichen „nicht unwesentlichen"
Berichtigungen, welche in den sechszehn Jah-
ren seit dem ersten Erscheinen von Elzes
Werk, zur Byronbiographie geliefert worden
sind, als ein selbständiges Kapitel „Nachträge
und Abschlüsse** zu geben war, oder ob diese
Berichtigungen, Modificationen u. s. w. in die
Darstellung als solche neu zu verarbeiten
waren. Elze hat sich für das erstere ent-
schieden und wir müssen bei genauerem
Eingehen auf seinen biographischen Stand-
punkt zugestehen, dais er nach der Art
seiner Methode ganz Recht hatte und ohne
Schaden für die besondere Art seines Wer-
kes dies auch riskieren konnte. Aber es
Ist ein bedenklicher Standpunkt, der eine
solche Möglichkeit zuläfst. Wirklich ist er
nur da zu rechtfertigen, wo ein biographisches
Gesamtbild überhaupt nicht besteht, wo eine
psychologische Durchdringung des gescliilder-
ten Charakters kaum beabsichtigt geschweige
geleistet ist, wo weder der Geschichts-
schreiber zur Intuition seines Helden gelangt,
noch im Leser die Intuition eines Menschen,
der gehen und stehen kann als ein leibhaftiges
Wesen, erweckt wird. Und in diesen Fall
versetzt uns Elzes Werk. — Das zehnte
Kapitel dieses Buches lautet: „Zur Charakte-
ristik." Das wunderlichste Unternehmen von
der Welt in der That, in welchem eine Lebens-
schilderung eines Menschen beabsichtigt und
gegen den Schluis des Ganzen ein besonderes
Kapitel aufgestellt wird, welches eine „Cha-
rakteristik" noch obendrein giebt. Es ist
zehn gegen eins zu wetten, dafs gar keine
Charakteristik, noch weniger aber ein fafs-
barer, bestimmter Charakter dabei heraus-
springt, selbst wenn es der Charakter der
Charakterlosigkeit wäre. Man denke sich
eine Biographie Goethes, in der zum Schlüsse
ein Charakterbild des Menschen entworfen
würde. Es würde darin erzählt, dafs dieser
Goethe einer seiner vielen Geliebten geraten
hat, das Kaffeetrinken zu unterlassen, da es
Kongestionen und andere Zufälle bei ihr ver-
ursache, dafs derselbe Mensch infolge un-
mäfsiger Lebensweise noch vor seinem zwanzig-
sten Lebensjahre einen Blutsturz überstanden
habe und dafs er eine auffällige Vorliebe für
geschlechtliche Vorstellungen gehabt, derart,
dafs er nicht nur „Römische Elegien" ver-
öffentlicht, sondern im Stillen für sich, aus
reiner Privatliebhaberei eine Reihe von Ge-
dichten verübt, wie das „Tagebuch," welche
vollkommen in den entarteten Phantasiekreis
gewisser athenischer Orgien pausten. Der-
selbe Mann habe aber auch ganze Bände
von schmeichlerischen Hofgedichten veriafst,
habe schon in seiner Jugend sich in einer
Rezension über deutsche Vaterlandsliebe
lustig gemacht und ein edles elsässer La&d-
mädchen schmählich sitzen lassen. Mit Natur-
wissenschaften habe er sich, wie mit hundert
anderen Dingen abgegeben, ein grolser Natur-
forscher aber habe ihn darin für einen
Dilettanten erklärt etc. Kurz, eine Mischung
von Philisterhaftigkeit und ausschweifender
Phantasie, Charakterlosigkeit, eine Welt von
Widersprüchen, Rätseln des Charakters und
„Charakterzügen," von denen r^elmäfsig
Einer den Andern aufhebt.
Es ist der Fehler der anekdotischen Charak-
teristik, welche einzelne verbürgte und wieder-
erzählte „Züge" und persönliche Eigen-
schaften zusammenstellt, dafs sie niemals ein
bestimmtes Charakterbild zu geben vermag.
Karl Elze folgt dieser grundfalschen Methode,
welche durchaus dem Gesetze des wirklichen
Lebens widerspricht. Gerade diese vermeint-
lich „charakteristischen" Züge aus dem Leben
eines Menschen, wenn sie auch noch so geist-
voll ausgewählt werden, sie geben nie-
mals ein Bild eines Menschen, sondern je
nach der Ideenassociation des Lesers und
seiner Erfahrung nur eine vage Vorstellung.
Im wirklichen Leben sind diese Züge ja
stets nur das momentane Resultat einer
Kreuzung des Charakters des Helden mit
dem Charakter derer, mit welchen er spricht,
mit dem Charakter der Ereignisse, in denen
er steht. Eine Biographie, welche diesen
Namen verdient, hat daher diese „Züge,**
dieses anekdotische Beiwerk, zu entwickeln
aus der jeweiligen Situation, sie hat jene Ab-
sichtslosigkeit, welche im wirklichen Leben
ßespreclrnngeil.
ft&7
den Charakter eines Menschen v macht, auch
in der Darstellung zu bewähren und aus
einer Intuition der Psyche des Heiden, die
man aus der Gesamtheit seiner Existenz
gewinnt, die Zufälligkeit des einzelnen so-
genannten Charakterzuges zu erklären. Elzes
Werk ist schon darin merkwürdig, dais es
in keiner Weise Bjnron als einen sich ent-
wickelnden Charakter und Menschen zeichnet;
was Elze in dieser Hinsicht vorbringt, ge-
schieht nur in Form des gelegentlichen Aper-
cus. Gerade in Byron aber ist, sowohl als
Dichter wie als Mensch, eine ganz unver-
kennbare EntWickelung vorhanden; ja, bei
Keinem ist der Gang dieser Entwickelung
verbältnismäfsig so leicht zu bestimmen aus
den eingreifenden Ereignissen seines Lebens
wie bei ihm. Goethe bietet dem Psychologen
in dieser Hinsicht bei Weitem grdfsere
Schwierigkeiten, so klar im groüsen Ganzen
auch die Gnmdzfige des Goetheschen Wesens
vor uns Allen stehen in seinen EHchtungen
und durch seine mannigfaltigen autobiogra-
phischen Aufzeichnungen. —
Karl Elze steht noch ganz in der anek-
dotischen Auf&ssung der Biographie früherer
Jahrzehnte, welche von den verschiedensten
Seiten aus in neuerer Zeit, wir dürfen wohl
sagen, „über wunden** ward (Erich Schmidt,
Richard Weltrich u. A.). Wohl vermag uns
ein Metternich und mancher Diplomat mit
dem angeborenen Blicke staatsmännischer
Menschen-Kenntnis mit wenigen sicheren
Strichen das nPortrait** eines Alexander I.
zu entwerfen. Aber es ist nur Essay erstens
und zweitens würde die feinere Menschen-
kenntnis auch diese oft so anziehenden diplo-
matischen Charakteristiken doch immer nur
als Beitrag zur Charakteristik gelten lassen.
Bei einem Dichter liegen zudem die biogra-
phischen Verhältnisse besonders eigentümlich.
Nur aus einer feinsinnigen psychologischen
Analyse der dichterischen Geisteskräfte eines
solchen Mannes wird sich auch die Erkennt-
nis seines menschlichen Charakters ergeben.
Einzelne Charakterzüge und Anekdoten aus
dem Leben eines Dichters mufs der Psycho-
log und Menschenkenner mit noch viel
ZtKhr. f. vgl. Lttt.-GMch. I.
gröfserer Vorsicht au&ehmen, als man sie
g^enüber einem Staatsmann, einem Feld-
herm, aufzufassen hat Denn wo das I^ben
eines Dichters eine Lücke aufweist, da wird
zumeist sein Dichten sie ergänzen, wo sein
Dichten lückenhaft bleibt, wird das Leben
eine Antwort enthalten. Kaum ist das bei
einem Dichter so der Fall wie bei Byron.
Im Ganzen ist es die oberste Forderung
einer kunstvollen Biographie, dais der Cha-
rakter des Helden sich immanent aus der
Darstellung ergiebt, wie er es aus dem Leben
thut. Eine von aufsen herangebrachte Cha-
rakteristik, welche den Charakter in Worte
zu fassen versucht, widerspricht einem fctnen
Gesetze des Lebens und es wird zumeist
nur eine Aufzählung von Eigenschaften dar-
aus, deren inneres Band wir nicht aus dem
Centrum begreifen. — -
Karl Elze hat seiner psychologischen
Forschung diese Prinzipien nicht zu Gute
kommen lassen. Recht bezeichnend AUt
der Mensch und der Dichter in Byron schon
rein^ äufserlich in zwei unvereinte BUder
auseinander, indem Elze nach jenem Ab-
schnitt wzur Charakteristik** in einem selbst-
ständigen Kapitel Byrons Stellung in der
Lltteratur als selbständigen Essay abhandelt.
Demgemäls erscheint das Werk in der
That als eine Folge von Essays über Byron,
die sich keineswegs folgerichtig ergänzen.
Eine eigentliche biographische Arbeit, welche
Byrons Entwickelung zeichnet, würde die
Zusammenhänge der Byronschen Poesie
mit der Pope*s schon in der Schilderung
von Byrons Studienzeit vorbereitet haben,
würde uns geschildert haben, wie Byrons
Lebensgang als solcher ihn allmählich von
dieser Popeschen Methode emanzipiert u. s.w.
Freilich ist die Beurteilung des Dichters und
der Dichtungen des Lords wohl überhaupt
die schwächste Seite an dem vorliegenden
Werke; eine feinere ästhetische Bildung
spricht uns aus Elzes Buch kaum an und
wenn sie an sich vorhanden ist, so kommt
sie zum mindesten hier nicht zu Worte. Eine
gewisse Äußerlichkeit, welche an den Zu-
fälligkeiten der geistigen Erscheinungen haftet,
2i
858
Besprechungeil.
mehr als an dem eigentlichen Inhalte, will
uns als Hindernis einer glaubwürdigen Auf-
fassung des Menschen sowohl wie des Dich-
tet's erscheinen und Blxes Buch spiegelt un-
bewulst in dieser Hinsicht seine zahlreichen
Quellen in englischer Litteratur wieder und
ihren äuliserlichen Geist. Die Biographie,
welche Byron wirklich gerecht wird als
Mensch und Dichter, bleibt auch nach Elzes
Werk noch immer zu schreiben.
Es würde zu weit führen, die Differenz-
punkte hier im Einzelnen, besonders in der
Beurteilung des Menschen und noch mehr
des Dichters auseinander zu legen. Wir
dürfen auf unsere Einleitung zu Byrons
Werken (Cottasche Bibliothek der Welt-
litteratur) verweisen, welche zur Beurteilung
Byrons wesentlich andere Gesichtspunkte,
als Karl Elze aufstellt und, bei grofser Ver-
ehrung des Elzeschen Werkes, bei vielen
verwandten Aufstellungen und Ansichten, zu-
gleich als eine stillschweigende Kritik der
Biographie Karl Elzes dienen kann. Die
„neuen Bahnen** der Charakteristik, wdche
Elze in den deutschen Arbeiten im Ganzen
vermifst, dürften darin wenigstens angedeutet
sein.
Es ist also im Ganzen mehr eine verän-
derte Ansicht von der Aufgabe und Methode
der Biographie, welche unsere Ausstellungen
an Elzes Werk rechtfertigen dürfte. Zu
wenig macht Elze den Versuch, aus psycho-
logischen Beobachtungen, aus den Gesetzen
des Lebens und der Phantasie, uns das Bild-
nis Byrons verständlich zu machen. Mit dem
Worte nl^isharmonie,** die der Grundzug
von Byrons „ Leben und Phantasie** gewesen
ist, wie Elze schliefst, ist in der That eine
positive Charakteristik, welche den Menschen-
kenner und Menschenbeurteiler materiell be-
friedigen könnte, nicht gegeben: es ist zwar
das populärste Wort in England und Deutsch-
land über Byron, aber ein musikalischer
Vergleich, der im Grunde gar nichts sagt.
Wir wollen die feinen Wurzeln des Lebens
kennen, die geheimnisvollen ethischen Ur-
sprünge der Dichtungen) wir wollen begreifen,
wie eine so geartete Phantasie, wie die Byron-
sche, sich im wirklichen Leben, unter den
Eindrücken dieses Lebens, in Handlungen
umsetzen mufste von solcher Art und wollen
dies Alles nicht nur als ein Aper9u gdegent-
lich vernehmen, sondern den Biographen im
Centrum der Seele seines Helden sehen und
aus einer solchen Allgemeinempfindung kultur-
geschichtlich wie ästhetisch, individuell wie
gesellschaftlich den Charakter und das
Leben des Helden als eine innere Notwendig-
keit erwachsen und sich entwickeln sehen.
Grofs ist die Forderung, aber sie ward oft
genug erfüllt, so dafs man auch Elze g^en-
Über sie aussprechen darf, nicht nur in Goethes
Selbstbiographie, sondern in so manchem
neueren Werke.
Eine Frage ist freilich, ob die voiliande-
nen Quellenmateriale, ob das thatsächliche
Ergebnis der Byronforschung bereits eine
solche Arbeit zuläüst. Soweit es sich um
den Dichter und den Menschen in ihm han-
delt, ist diese Frage mit Ja zu beantworten;
Elzes Werk gerade wäre ein unentbehrliches
Vademecum für den Byronbiographen. In
anderer Richtung freilich mufs ein Nein er-
folgen, denn noch ist zuviel wichtiges Mate-
rial nicht bekannt und so mochte Elze auch
wiederum Recht haben sich auf eine Art der
biographischen Darstellung zu beschränken,
welche zwar nicht den höchsten Ansprüchen
genügt, aber auf alle Fälle den Vorteil der
fast populären Unterhaltung über einen rätsel-
haften Menschen hat, welche unsere Neugierde
erregt, unsere Spannung erhält, und über
das Thatsächliche uns ebenso gewissenhaft
wie gründlich belehrt. Und in diesem Sinne
können wir nicht imihin, bei allen Ausstellungen,
die gröfste Achtung vor dem Werke zu haben,
das in seiner Art doch wieder ein Meister-
werk ist, vor Allem durch die im engeren
Sinne litterarische Qualität, welche zwar die
psychologische Vertiefung nicht ersetzen
kann, aber doch auch eine geistige Befrie-
digung hinterläfst.
Wir dürfen diese Besprechung nicht
schliefsen, ohne der anschaulichen Kenntnis
englischer Verhältnisse zu gedenken, der
Schilderung von Land und Leuten, welche
Besprechungen .
869
dem Bizeschen Werke einen besonderen und
eigentflmlichen Reix verleiht.
München. Wolfgang Kirchbach.
Dreohtler, Paul: Wencel Scher ff er
von Scherffenstein. Bin Beitrag zur
Geschichte der deutschen Litteratur im 17.
Jahrhundert. Breslau, Wilhelm Koebner, 1886.
67 S. 8*. M. i,3o.
Der Hauptwert von Wencel Scherfifers
zahlreichen Werken lieg^ in ihrer lexiko-
graphischen Falle an schlesischen Ausdrücken
und Wendungen, dem Gebrauche alt- und
niederdeutscher Worte. Mit diesem Urteile
(S. 39) über die Originaldichtungen des „ Hof-
dichters der Piasten** steht das dem Ober-
setzer (S. 36) gespendete Lob in einem un-
verträglichen Widerspruche. Scherffer, sagt
sein zwischen dem Enthusiasmus des Spezial-
forschers und kritischer Würdigung schwan-
kender Biograph, ,,schulte vor allem seine
dichterische Kraft an der Übersetzung aus
dem Lateinischen. Dadurch mehrte er seinen
Gedankenreichtum und erwarb eine nicht un-
bedeutende Formgewandtheit, Bigenschaften,
die ihn zu einem der eigentümlichsten und
selbständigfiten Dichter der Opitzischen Zeit
machen.** Eben Scherffers Thätigkeit als
Obersetzer veranlalst, die Monographie über
ihn hier einer Besprechung zu unterziehen, aber
solchen günstigen Binflufs, wie Drechsler meint,
konnte seine Obersetzermühen unmöglich auf
ihn ausgeübt haben und hat es auch nach
Drechslers übriger Darstellung keineswegs
ausgeübt. Der Vergleich zwischen der Ober-
setzung des Dedekindschen Grobianus durch
den Opitzianer Scherffer (1640) und der von
Scheidt (1551) ist von Interesse und von
dem Verfasser mit Geschick geführt; die
Oebersetzung der pia desideria des Jesuiten
Hermann Hugo brauchte nur erwähnt werden,
dagegen hätte Drechsler auf die Obersetzungen
aus dem Polnischen näher eingehen dürfen.
Die fleilsige Dissertation macht einen etwas
unreifen Eindruck und ein S. 59 gebrauchtes
Bild erinnert selbst zu sehr an Muster der
sogenannten zweiten schlesischen Schule.
Immerhin aber haben wir eine Erstlingsarbeit
vor uns, die zu den ergebnisreichen gerech-
net werden muüs. Die neue Auflage von
Goedekes Grundrifs fuhrt filr Scherffer, dessen
Adel ihm unbekannt geblieben, vier Nummern
an, Drechsler, dem die Binzelndrucke der
Breslauer Bibliotheken zu Gebote standen,
vierunddreifsig! Möchte der Verfasser
seine Kenntnisse der schlesischen Litteratur
auch künftig mit fortgeschrittenen Kräften
erfreulich bethätigen.
Marburg i. H. Max Koch.
Melzor, Enwt: Goethes philosophi-
sche EntWickelung. Ein Beitrag zur
Geschichte der Philosophie unserer Dichter-
heroen. Neisse 1884. 7a S. 8*.
Dais am Ende des vorigen und am An-
fange dieses Jahrhunderts in Deutschland
Philosophie und Dichtung gleichzeitig einen
gewaltigen Aufschwung erlebten, ist kein zu-
fälliges Zusammentreffen. Es fand eine Ver-
tiefung des ganzen Wesens der Nation statt
und es war eine und dieselbe Botschaft, die
von Philosophen sowohl als von Dichtem
verkündet wurde. Die deutsche Philosophie
und die deutsche Dichtung der klassischen
Periode fliefsen aus einer Geistesrichtung.
Daraus erklärt es sich, warum unsere gröis-
ten Dichter : Lessing, Herder, Schiller, Goethe
auch den Drang fühlten, sich mit den tiefsten
Fragen der Wissenschaft auseinanderzusetzen.
Sie sind nicht blofs vollendete Künstler, sie
sind vollendete Menschen im höchsten
Sinne des Wortes. Dafs neben den der
Betrachtung der Kunstschöpfungen unserer
Klassiker gewidmeten Schriften auch die
ihren philosophischen Gedankenkreisen zu-
gewendeten stets zunehmen, ist hieraus er-
klärlich. Das oben genannte Buch behandelt
die philosophische Entwickelung Goethes.
Der Geist, in dessen Schaffen die ver-
schiedenen Ausgestaltungen des deutschen
Volksgeistes sich zu der schönsten Harmonie
vereinigt haben, ist Goethe. Künstlerische
Gestaltungskraft und wissenschaftlicher Ein-
blick in die Triebkräfte der Natur und des
Menschengeistes sind die Elemente, die in
das Wesen dieses Geistes eingeflossen, je-
24*
MO
Besprechungen.
doch so, dafs sie ihr Sonderdasein aufgegeben
haben und xu einem einheitlichen Ganzen,
zu einer unsere Weltanschauung zugleich er-
weiternden und vertiefenden IndiTidualität
wurden. Nur so betrachtet wird die Rolle
klar, die die Philosophie in dem Organismus
des Goetheschen Geistes spielt. Eine Schrift
ttber Goethes philosophische Entwickelung
mülste zeigen, inwiefern die Philosophie
erstens eine bei seinem künstlerischen Schaffen
mitthätige Kraft und zweitens eine seine
wissenschaftlichen Versuche stützende Grund-
lage ist. Aus den aphoristischen Äusserungen
über seine Weltanschauung allein können
wir kein Bild derselben gewinnen, wenn sie
auch vielfach klärend und ergänzend für das-
selbe sind. Wenden wir das Gesagte auf
Melzers Buch an, so müssen wir gestehen,
da£s der Verfasser die springenden Punkte
der Sache nicht erkannt hat. Wir möchten
dabei manches Gute seines Buches nicht
übersehen. £s gehört dazu vor allem die
Grundtendenz desselben, Goethe nicht aus
einzelnen Aufserungen, sondern aus dem
Gange seiner Entwickelung zu erkennen (S. 3).
Wenn aber der Verfasser trotz dieser Ten-
denz (S. 36) z. B. findet, dals Goethes philo-
sophisch-religiöse Ansicht am Ende seiner
Jugendperiode eine Art Mittelding zwischen
Rationalismus und Orthodoxie sei, so zeigt
das, wie wenig er sieht, worauf es eigent-
lich ankommt. Schlagworte, wie Naturalis-
mus, Rationalismus, Pantheismus, fuhren uns
in Goethes Geist einmal nicht hinein; sie
verlegen uns nur den Zugang in die Tiefe
seines Wesens. Deshalb geht für Melzer
auch das Vollbestimmte, Individuelle der
Goetheschen Weltanschauung verloren. So
sieht er die Quintessenz des Aufeatzes n<Üe
Natur** (S. 34) in dem Satze : «sie (die Natur)
ist Alles** und definiert demzufolge Goethes
Ansicht als Naturalismus. Während aber
der Naturalismus die Natur nur in ihren ferti-
gen Produkten sieht, als tote, abgeschlossene,
und in dieser Gestalt den Geist mit ihr iden-
tifiziert, geht Goethe auf sie als Produzentin,
als schöpferische zurück und dringt so über
die ZufMligkeit zur Notwendigkeit vor. Er er*
reicht damit jene Quelle, aus der Geist und
Natur zugleich fliefsen und kann von dieser
wirklich sagen: „sie ist Alles.** Goethe hatte
der Welt etwas zu verkünden, was sich mit
keinem überlieferten Gedankengebäude um-
spannen, noch weniger mit den hergebrachten
philosophischen Kunstausdrücken aussprechen
läfst. Es lag in ihm eine Welt von ur-
sprünglichen Ideen, und wenn von dem
Einflufs älterer oder neuerer Philosophen
auf ihn gesprochen wird, so kann das nicht
in dem Sinne geschehen — wie es Melzer
thut — als ob er auf Grund von deren Leh-
ren seine Ansichten gebildet habe. Er suchte
Formeln, eine wissenschaftliche Sprache,
um den in ihm liegenden geistigen Reichtum
auszusprechen. Diese fand er bei den Philo-
sophen, vornehmlich bei Spinoza. Den
Fehler, Goethes Ideenwelt als das Resultat
verschiedener von ihm aufgenommener Leh-
ren darstellen zu wollen, teilt Melzer mit
vielen, die sich mit der dem Goetheschen
Schaffen zu Grunde liegenden Philosophie
beschäftigt haben. Es wird dabei übersehen,
dafs, wer Goethes philosophische Entwicke-
lung darstellen will, vor allem aus dessen
Wirken den Glauben an die Ursprünglich-
keit seiner Sendung und die Genialität seines
Wesens gewonnen haben muis.
Brunn bei Wien. Rudolf Steiner.
Pfaff, Friedrioh: Romantik und Ger-
manische Philologie. 29 S. 8*. M.0,60.
(Sammlung von Vorträgen, herausgegeben
von W. Frommel und Friedrich Pfaff, XV. 9.)
Heidelberg, Carl Winters Universitätsbuch-
handlung. x886.
Jeder Versuch, einen Überblick über die
Gesamtheit oder eine bestimmte Klasse der
Erscheinungen unserer romantischen Litteratur-
periode in kurzen Zügen zu geben, muis mit
Freude begrülst und mit Achtung vor der
Arbeit, die er erfordert, behandelt werden.
Wie die deutschen Romantiker in ihrer
Dichtung, ihrer Religion, in ihrem ganzen
Leben auf die Vermischung aller Formen
ausgingen, so zeig^ nun die Gesamtheit ihrer
Charaktere, Schicksale und Schriften dem
Besprechungen.
861
Auge des historischen oder kritischen Be-
trachters eine derartig yerschwommene
Physiognomie, dais es schwer ist, die Haupt-
züge herauszufinden, und noch schwerer,
sie bestimmt charakterisierend wiederzugeben.
Ein so wenig umfangreicher Vortrag, wie
der vorliegende, der, um die Entwicklung
der germanischen Philologie bis zum Auf-
treten der Brüder Grimm historisch darzu-
stellen, zugleich eine kurze Skizze des Ur-
sprungs der deutschen Romantik und ihrer
beiden Blütezeiten in Jena und Heidelberg
liefert, setzt deshalb fleissigere und tiefer
gehende Vorarbeiten voraus, als es auf den
ersten Blick scheinen könnte. Der Verfasser
selbst deutet im Schlulswort an, wie er
seine Schrift beurteilt wissen will: wenn sie
auch auf eigenen Studien beruht, so bleibt
doch für deren Resultate, die notwendiger-
weise dem Gebiet der Spezialforschung an-
gehören, in dem knappen Rahmen nur ein
sehr beschränkter Raum, einziger Zweck
einer solchen Obersicht kann Klarheit der
Gruppierung und Zusammenstellung der meist
schon bekannten allgemeinen Thatsachen
sein. Diese lälst bei Pfaff nichts zu wünschen
übrig und ist um so mehr anzuerkennen, als
er dabei doch eine so systematische, dem
Charakter der Romantik durchaus wider-
sprechende Klassifikation der verschiedenen
Erscheinungen vermeidet, wie sie Hettner
seiner sonst so glänzenden Darstellung zu
Grunde legt. Der Ton des Vortrags ist der
Natur des Gegenstandes gemäis sachlich und
ruhig gehalten, nur bei der Schilderung des
romantischen Zusammenlebens von Brentano,
Arnim und Görres in Heidelberg gewinnt er
lebhaftere Färbung und im Schlufsabschnitt
bei dem Hinweis auf die nationale Aufgabe
der germanistischen Wissenschaft eine Wärme,
die jeden Deutschen sympathisch berühren mufs.
Noch einige wenige Bemerkungen seien
mir gestattet. Mit Recht betont Pfaff ener-
gischer, als es gewöhnlich geschieht, das
unmittelbare Hervorgehen der romantischen
aus der klassischen Periode unserer Litteratur.
Man vergilst dies leicht in dem Bestreben,
die später hervortretenden Gegensätze beider
Generationen mögUcfast klar vor Augen zu
stellen. Wieland fehlt auch bei Pfaif unter
den Hauptvorläufem der Romantik. Es ist
merkwürdig, wie wenig er in diesem Zu-
sammenhang bisher beachtet ist, und doch
lese man nur z. B. »Don Sylvio von Ro-
salva"", wie oft wird man da an die Schriften
der Romantiker erinnert! Den Sinn für das
Märchenhaft - Phantastische, Abenteuerliche
des mittelalterlichen Ritterlebens hat doch
keiner so wie Wieland im deutschen Publikum
genährt. Durch A. W. Schlegels schonungs-
lose Angriffe auf ihn darf man sich nicht
irre machen lassen. Für Pfaff mag im vor-
liegenden Falle mafsgebend gewesen sein,
dafs Wielands mittelalterliche Sagenwelt mehr
romanischen als germanischen Geist atmet,
doch ist eine Unterscheidung in dieser Be-
ziehung für die Anfänge der Romantik schwer-
lich am Platze.
Speziell für die vergleichende Litteratur-
geschichte enthält Pfafis Vortrag, wie es
seine Kürze verlangte, nur die bekannten
Thatsachen. Diese moderne Wissenschaft
steht zu der Romantik in demselben Tochter-
verhältnis wie die germanische Philologie.
Herder — Goethe — Schlegel, das sind
auch fÜf sie die ersten bedeutenden Namen,
und wie der germanischen Philologie eine
poetische Erneuerung des deutschen Alter-
tums zur Seite ging, so der vergleichenden
Litteraturbetrachtung eine Obersetzung und
Nachahmung aufserdeutscher Dichtung. Im
allgemeinen ist dies oft genug betont, aber
Einzeluntersuchungen fehlen noch überall.
Vorzüglich die Spanier müssen nach meiner
Ansicht energischer zur Vergleichung heran-
gezogen werden. Dafs Cervantes, Calderon
auf Tieck, Schlegel, Brentano und ihre Ge-
sinnungsgenossen eingewirkt haben, wissen
wir, aber das Wie verlangt endlich einmal
genauere Bestimmung. Die Periode der
deutschen Romantik ist, wie der Ausgangs-
punkt der vergleichenden Litteraturgeschichte,
so trotz des Feststehens der allgemeinen
Zusammenhänge auch heute noch das er-
giebigste Feld für ihre Arbeit
Freiburg i.B. Richard Weissenfeis.
362
Besprechungen.
Bnigsoh, Heinrich: Die Muse in Tehe-
ran. Frankfurt a. O. Verlag von Trowitzsch
und Sohn. 1886. M. 8.
Auf 128 Seiten kl. 8* begegnen wir in
dem vorliegenden Büchlein 180 kleinen Sinn-
gedichten nebst etlichen Sprichwörtern, welche
der Verfasser selbst auf Seite V „eine Aus-
wahl persischer Dichterstimmen älterer und
jüngerer Zeit in deutscher Übertragung"" und
auf Seite VI „einen iranischen Lieder- und
Spruchschatz"* nennt. Daraus ergiebt sich
auch der doppelte Standpunkt, von dem
aus wir seine Arbeit beurteilen können a) als
eine Übersetzung, b) als -eine Aphorismen-
sanunliing. Das erstere anlangend, charak-
terisiert der Verfasser seine Übersetzung auf
Seite Xn als eine freie, den Inhalt des Ge-
dankens als das Wesentliche betrachtende,
wozu wir bemerken, dais diese Freiheit mit-
unter an Willkür streift. Von einer „Über-
setzung"" kann, wie eine Vergleichung mit
den Originalstellen — die allerdings mühsam
aufgesucht werden müssen, da der Autor
die persischen Dichterstimmen so wiedergiebt,
wie er sie (im Umgang mit Persern) gehört
oder gelesen, unbekümmert um Zeit und
Namen — lehrt, in den wenigsten Fällen
die Rede sein; in den meisten Fällen ist
blos der Hauptgedanke — hie und da der
Gedankengang — beibehalten worden, wo-
bei jedoch bei der freien Behandlung der
Form von Seiten des Autors, der mitunter
zwei verschiedene Dichterstellen zu einem
Spruche verbindet, andererseits einen persi-
schen Spruch in zwei Sprüche trennt und
sehr of^ aus dem ganzen Gedichte blos diesen
oder jenen Vers herausgreift und frei bear-
beitet, auch dieser mitunter schwer wieder-
zuerkennen ist. Vereinzelt kommen auch
kleine Versehen vor, wie z. B. auf Seite 33,
wo der Übersetzer „Saturn als Schreibgehilfen
dingt,"* während doch nach der orientalischen
Ansicht Merkur fUtärid) der Schreiber des
Himmels ist. — Dies alles läfst allerdings
das vorliegende Büchlein als keine Bereiche-
rung der Litteratur von Übersetzungen aus
dem Persischen erscheinen, zumal von den
zu Grunde liegenden Texten — es sind dies
vorzugsweise *Omar Chajjäm^s Vierzeiler, Sa'-
dTs Rosengarten und Häfizens Divän*) —
bereits viel bessere, vollständige Übersetzun-
gen existieren. Doch verliert es dadurch
nichts von seinem Werte als eine Aphoris-
mensammlung, die für weitere Kreise be-
stimmt ist und den Zweck verfolgt, den euro-
päischen Leser mit den Eigentümlichkeiten
der persischen Denkweise und Anschauung
vertraut zu machen, die trotz der indoeuro-
päischen Bruderschaft des Persers dennoch
echt morgenländisch bleiben. Im G^enteil
finden wir es sogar dem Zwecke des Buches
ganz angemessen und vorteilhaft, dais der
Verfasser die kostbaren Gedanken der per-
sischen Dichter und Denker, von ihrer orienta-
lischen Form absehend, in einfache, allge-
mein verständliche Worte gekleidet, die das
*) Aus *Omar Chajjäm sind entlehnt: Seite
3b, 4b, 7, 8a, 9, IG, xxa, b, 12a, b, 13b, 16,
17, i8a, 19, 20b, 21, 26, 47a, 48, 49, 50a»
Sia, b, S2b, 53*1 b» 54t)| 56a, b, 57», b, 58,
59, 61, 62, 63, 65, 66, 67, 68a, 69b, 70a,
71a, b, 72, 75, 76, 77, 79a» b, 80,99b, 102b,
io8b. Aus Sa'drs Gulistän: 13a, 15a, b,
23, 24b, 25a, b, 29b, 30a, 38b, 40a, b, 42a,
43a, 83a, b, 84a, 85b, 86, 87b, 88a, b, 91b,
93» 95b, 96a, b, 97a, b, 98a, b, 99a, xoia, b,
102b, xo3a, b, 104a, b, 105b, xo6b, 107b,
xo8a, xo9a, b, xioa, iixa, b, 112a, 113a, b,
1 14a, b, 1 15a, 1 i6b, II 7a, b, XI 8a, b, 1 24b,
128 a. Aus Häfiz 43 b, 55 a, b, 68 b, 70 b
und gewifs eine Anzahl anderer, die sich bei
einer genaueren Lektüre herausstellen würden.
Mit Rücksicht darauf, dafs sich bereits aus
den drei Dichtern (bei Sa*df wurde nur sein
Rosengarten untersucht) bei einer nicht ge-
nauen Lektüre von den x8o Sinngedichten
der Sammlung 1x9 nachweisen lassen, er-
scheint es, da neben diesen noch eine ansehn-
liche Anzahl berühmter Dichter vorkommt,
die jedenfalls auch stückweise im Munde des
Volkes leben, höchst unwahrscheinlich, dafs
etwas in der vorliegenden Sammlung den
jüngeren Dichtern entnommen sein sollte,
ausser ' etwa in Nachahmung oder Wieder-
holung des Alten.
Besprechungen.
363
an sich interessante Bfichlein den Lesern
noch anziehender machen müssen. Denn
dem Verfasser ist es wirklich geiung'en, aus
dem Ideenkreise der persischen Dichter das
Charakteristische herauszugreifen. Schick-
sal, Wein, Liebe, Lebensgenuis, Freundschaft,
Feindschaft u. s. w., Fragen, die den
Orientalen immer bewegt haben und immer
bewegen werden — und dasselbe als eine
Quintessenz der ganzen orientalischen Poesie,
und, da diese ihren Pflegern eine treue Be-
gleiterin durch's Leben ist in guten wie in
trüben Stunden, des orientalischen Lebens
überhaupt, zu einem Ganzen zu verbinden,
das mit Recht allgemeines Interesse bean-
spruchen kann. Der Verfasser legt sein
Büchlein in einer höchst eleganten, dem kost-
baren Inhalte Gleichgewicht haltenden, eben-
falls echt persischen Ausstattung vor, die es
auch nach dieser Richtung hin sehr anziehend
erscheinen läfst.
Prag. Rudolf Dvofdk.
Kirste^ J.:DerBergkranz. (Die Befreiung
MiMitenegros.) Historisches Gemälde aus
dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts
von Petar Petrovic NjeguS, Fürstbischof
von Montenegro. Zum ersten Male aus dem
Serbischen in das Deutsche übertragen.
Wien, Verlag von Carl Konegen, z886. VII,
123 S. 8*. M. a,8o.
In den vierziger Jahren erschien in Cetinje
in Montenegro ein Gedicht, das seitdem einen
ehrenvollen Platz in der serbischen Litteratur
eingenommen hat £s nannte sich der nBerg-
kranz** oder „Bergbund " und behandelte in
einer Folge lose aneinander gereihter drama-
tischer Szenen die Befreiung Montenegros
von der Türkenherrschafl, im Jahre 1703.
Der Dichter war der Herrscher des Ländchens,
Feter II Petrovic Njegus (1813 — 1851). Seine
Dichtung hatte einen grofsen Erfolg nicht nur
in seinem Lande, sondern bei allen Südslaven.
Die patriotische Tendenz, der in kräftiger
Sprache ausgedrückte Türkenhais mufste dem
Gedicht besonders dort überall Leser zuführen,
wo das Türkenjoch noch schwer lastete:
man fand den eignen Zustand wiederg^spiegelt,
das was man kaum zu denken wagte, frei
ausgesprochen; die Hoffnung wurde geweckt,
die gehalsten Unterdrücker einst ebenso aus
dem Lande werfen zu können, wie es die
Helden' der schwarzen Berge gethan hatten.
Die litterarische Schätzung des Gedichtes
geschah, wie es bei derartigen Werken poli-
tischer Färbung zu sein pflegt und auch
durchaus verständlich ist, bewulst und unbe-
wufst lediglich vom patriotischen Standpunkt
aus. Dazu kam, dafs die serbische Litteratur
in den Windeln lag und man das Gedicht
mit Recht mit zu dem Besten' zählen durfte,
was von einem serbischen Dichter geleistet
worden war. Und so bildet der „ Bergkranz**
heute noch einen respektabeln Bestandteil
serbischen Schrifttums und die Litterar-
historiker der Südslaven sind in ihrer Be-
wunderung desselben durchaus einig.
Ob die Übersetzung dieser Dichtung dem
deutschen Leser ein ähnliches Interesse ein-
zuflöisen vermag, wie das Original dem Süd-
slaven (und dies ist doch der Zweck einer
jeden Übersetzung) ist eine andere Frage.
Offen gestanden, glaube ich es kaum. Den
Übersetzer trifit die wenigste Schuld, er hat
sein mögliches gethan. Er ist mit der Sprache
genügend vertraut und schreibt ein anständiges
Deutsch, während sonst bekanntlich bei Über-
setzungen aus dem Slavischen in der Regel
ein Idiom angewendet zu werden pflegt, das
nur mehr oder weniger entfernt an unsere
Muttersprache erinnert. Seine Übersetzung
ist frei von Fehlem; stellenweise hätte er
durch einfachere Ausdrucksweise dem Original
näher kommen können. Allein dies mag mit
daran liegen, dafs er geglaubt hat, das
Metrum des Originals respektieren zu müssen,
und dieses Versmafs im Deutschen nicht g^t
wiederzugeben ist. Der serbische Zehnsilber
wird nämlich durch einen Einschnitt nach der
vierten Silbe rhythmisch sowohl als logisch
in zwei abgeschlossene Teile getrennt Wird
nun dieser Einschnitt in der Übersetzimg
nicht innegehalten, so geht das Charakte-
ristische des Verses verloren und es entsteht
ein Zwittergebilde, das absolut sinnlos ist«
Verse wie;
364
068pr0CBiiii|^dl.
Als wir von Cet- | tinjes Kämplen hörten -~
Wir Pfiret Niko- | la und aUe Männer — •
(S. io8),
Doch mein Sohn! doch | kommt mir keine
TrÄne —
Helf uns Gott und | seine kleine Weihnacht
— (S. 109),
g'eben alles andere wieder, nur nicht den
serbischen Zehnsüber. Einige Verse leiden
aufserdem an falscher Betonung:
Schon ist B^zanz nichts mehr als die Mit-
gift - (S. i),
oder gar:
Dann las uns das Evangelium der
Pope — (S. 5a),
oder:
Was ist Scaevola, was Leonidas,
Wenn Obtti<i auf den Kamp^latz schreitet
(S. 10).
Im Allgemeinen aber darf man wohl sagen,
dais der Obersetier bei den nicht geringen
Schwierigkeiten, die dem Verständnis des
Originals im Wege stehen, seine Sache recht
brav gemacht hat. — Wenn der deutsche
Leser trotzdem nicht viel Geschmack an der
Dichtung finden wird, so liegt dies erstens
daran, dals der Inhalt nicht geeignet ist, ihm
ein tieferes Interesse einzuflöfsen. Die Be-
freiung Montenegros, so wichtig sie för die
Völker der Balkanhalbinsel gewesen sein
mag, an und f&r sich ist sie dem West-
europäer gleichgültig. Interesse daf&r hätte
geweckt werden können, wenn der Dichter
aus seinem Stoff ein packendes Drama hätte
machen wollen und können. Das ist aber
nicht der Fall. Die Dichtung ist so un-
dramatisch, wie möglich: es sind dialogisierte
Szenen ohne Zusammenhang, ohne Handlung.
Femer leidet das Gedicht an nnvolkstflmlichen
Elementen. Der Reigen singt z. B. von
Spartanern, Römern, Scaevola, Leonidas, dem
Tartarus u. s. w.
Schließlich kann der deutsche Leser, der
wie es doch meist za erwarten steht, mit
Geschichte und Volkseposder Sädslaven nicht
vertraut ist, gar kein Interesse f&r die Tor-
kommenden Personen haben: ihm bleiben sie,
den Fürstbischof eingeschlossen, der lange
Monologe und Reden hält, ohne was zu thun,
vollständig gleichgQltig; ihm sind die Namen
bei denen das Herz des Serben höher schlägt,
da er sie aus den Liedern seines Volkes kennt,
leere Namen. — Kurz ich glaube nicht, dals
das deutsche Publikum Verständnis Rlr diese
Dichtung haben kann. ~ Zum Schlnfs noch
eine Bemerkung. Es wird in unsem Tagen
vidSlavisches übersetzt, besonders Russisches,
Gutes und Mittelmäfsiges. Hoffen wir, da&
das Interesse, welches diese Übersetzung^en
hervorruft nicht nur Modesache ist. Die
Teilnahme unseres Publikums für slavische
Litteratur wird aber nur dann von Dauer
sein, wenn die Übersetzer in der Auswahl
des zu Übertragenden strenger vorgehen, als
es bisher der Fall war. Vergesse man doch
nicht, dafs man einen Leserkreis vor sich hat,
der mehr als irgend ein anderer europäischer
befähigt und berechtigt ist zu vergleichen
und Kritik zu flben und sei man daher vor-
sichtig in dem, was man dem Vergleich aus-
setzt. Schon die Rücksicht auf die fremde
Litteratur, die der Übersetzer seinen Lands-
leuten nur von der interessantesten Seite
zeigen darf, sollte dies gebieten.
Leipzig. Wilhelm Wollner.
Uhlands Beziehungen zu ausländischen Litteraturen
nebst Übersicht der neuesten Uhlandlitteratur.
Von
Hermann Fischer.
Jubiläen grofser Männer pflegen neben den bald verrauschenden Fest-
lichkeiten auch ein bleibendes Denkmal in litterarischen Erscheinungen
zu hinterlassen. Namentlich das Schillerfest von 1859 hat, während
Goethes Jubiläum zehn Jahre früher wenig Stimmung zu festlichen
Aufserungen der Freude gefunden hatte, in einer erdrückenden Menge
von Jubelschriften seine mächtige Spur zurückgelassen.
Stiller wird das Säkularfest Ludwig Uhlands vorübergehen. Ist es
doch mehr eine Angelegenheit seiner engeren Heimat, mehr eine Feier
stiller Dichter- und Charaktergröfse , als die eines weltbeherrschenden
Genius, der einem ganzen Jahrhundert den Stempel seines Geistes auf-
gedrückt hätte. Uhland selber hat einmal aufs feinste und schlagendste
den Unterschied zwischen solchen Dichtern, welche im Zusammenhang
mit der ganzen Wissenschaft und Kultur ihrer Zeit stehen, und denjenigen
gekennzeichnet, welche solche der Poesie fremde Stoffe von sich aus-
schliefsen, „bei denen aber das wahre, innerste Wesen der Poesie reiner
vorhanden ist als bei jenen." Er hat als Beispiel für die Letztern
Hölderlin angeführt; richtiger dürfen wir an dessen Statt Uhland selber
nennen. Er wird nicht als ein Heros modemer Kultur gefeiert werden,
aber innerhalb der lyrischen Poesie Deutschlands sehen wir keinen aufser
Goethe und Heine, den wir neben ihn stellen könnten; er ist nicht für
die Geschichte des ganzen Deutschlands von Bedeutung geworden, aber
sein Württemberg nennt ihn für alle Zeiten als den vielverehrten Ver-
treter liberaler Politik; seine Stelle ist nicht in der Geschichte der Wissen-
Ztachr. f. vgl. Litt.-Geach. I. 25
366 Hermann Fischer.
Schaft für die ganze Welt, aber er nimmt einen hohen Ehrenplatz in dem
Spezialfache der deutschen Altertumsforschung ein.
Man konnte sich kaum eine sehr grofse Litteratur zu Uhlands Jubiläum
erwarten. Persönliches, Biographisches wird, soviel sich übersehen läfst,
kaum mehr in besonderer Menge und von besonderer Erheblichkeit zu
erwarten sein. Dafür ist schon sehr viel geschehen. Uhlands Witwe in
ihrem kösdichen Buche und in noch gröfserer Ausdehnung Karl Mayer
in seinem zweibändigen Werke haben eine sehr grofse Menge von
biographischem Material geliefert; in Uhlands funfundsiebzigjährigem Leben
ist kein einziges Jahr, ja kaum ein halbes, über das uns keine gedruckten
biographischen Einzelheiten zu Gebote stünden, imd für viele Teile des-
selben fliefsen die Quellen fast überreichlich. Eine oder wohl richtiger
die Hauptquelle ist freilich noch nicht eröffnet. AUe Leser des Buches
von Frau Emilie Uhland erinnern sich mancher Anfuhrungen, die dasselbe
aus Uhlands Tagbuch macht. Aus diesem selben Tagbuch hat
W. L. Holland in den letzten Ausgaben der Gedichte das Datum für die
weitaus gröfste Zahl von Gedichten anzugeben vermocht. Es mufs also
dieses Tagbuch von Uhland mit all der Genauigkeit und Pünktlichkeit
gefuhrt worden sein, welche sein ganzes Leben und Arbeiten kennzeichnet
Sollte dieses Tagbuch nicht vieles enthalten, was der Veröffentlichung
neben dem schon Veröffentlichten wert wäre? Ich gehöre nicht zu denen,
welche es für wünschenswert halten, dafs von allen Figuren unserer
Litteraturgeschichte die hüllenden Decken weggerissen werden, welche
ihnen die Pietät ihrer Angehörigen und Freunde gelassen hat. Aber
Uhlands Aufzeichnungen werden schwerlich Dinge enthalten, die man vor
den Augen der Welt zu verhüllen brauchte. Und wenn ich mich auch
nicht zu den „exakten" Forschern gezählt wissen möchte, denen eine
möglichst grofse Menge möglichst kleiner Einzelheiten als ein Venerabile
erscheint, so möchte ich doch an den glücklichen Besitzer die leise Frage
richten: will er uns nicht aus Uhlands Tagbuch das einmal mitteilen,
was nach billiger Schätzung für die Welt von einigem Wert sein möchte?
Dieser Wunsch wird einem auf die Zunge gelegt durch ein gegen
Ende des letzten Jahres erschienenes Buch, welches nicht blofs als die
bedeutendste unter den bis jetzt zum Vorschein gekommenen Säkular-
gaben bezeichnet werden mufs, sondern welches vor allem die einzige
ist, die dokumentarische Mitteilungen aus Uhlands Leben und Werken
enthält Ich meine die Veröffentlichung von Uhlands Nachfolger
Wilhelm Ludwig Holland, in welcher derselbe nach Uhlands
eigenhändigen Aufzeichnungen uns über des Dichters akademische
Obersicht der neuesten Uhland-Litteratur. 367
Thätigkeit höchst dankenswerte Belehrung gegeben hat*). In den
wenigen Jahren, welche Uhlands Wirken an der Tübinger Hochschule
ausfüllte (1830— 1833), ^^^ ^^ nicht blofs wissenschaftliche Vorlesungen
gehalten, welche nach seinem Tode von Pfeiffer, Keller und Holland
veröffentlicht wurden, sondern er hat auch in vier Semestern eine Art
von stilistischem Seminar oder Disputatorium gehalten, welches sehr,
zahlreichen Besuch hatte und den ehemaligen Teilnehmern in vortrefflichem
Angedenken steht. Holland hat nun eben Uhlands Aufzeichnungen aus
diesem „Stilistikum" veröffendicht und die nötigen Erläuterungen dazu
gethan. Der Umfang der Übungen war weit gesteckt. Es sollten
zwar nur solche Dinge zum Vortrag und zur Diskussion kommen, welche
kein blofs fachmännisches Interesse hätten; aber es war nicht nur
gestattet, sondern gewünscht, dafs auch aus dem Gebiete der Einzel-
wissenschaften manches in gebildeter, allgemein verständlicher Form vor-
vorgetragen werde, wodurch andere Gelegenheit zu einem Einblick in
die zeitbewegenden Momente der verschiedenen Wissenschaften, der
Vortragende selbst aber die Veranlassung bekäme, sich über die treibenden
Dinge in seiner Disziplin klar zu werden, das docendo discimus an sich
zu erproben. So wurden denn, wie Uhlands Aufzeichnungen ergeben,
manche Vorträge aus den einzelnen Fakultätswissenschaften gehalten
und diskutiert, natürlich mit Vorliebe aus dem Gebiete der allgemeiner
verständlichen und mit der Zeitkultur sich eng berührenden „Geistes-
wissenschaften", der Philosophie und der Theologie, was schon durch
die grofse Anzahl der in den Geistesbewegungen der Tübinger Hoch-
schule stets voranstehenden „Stiftler" gegeben war, welche an den
Übungen teil nahmen. Einen ebenso grofsen, wie es scheint noch einen
gröfseren Raum nahm die Poesie ein, durch Vortrag eigener dichterischer
Versuche wie durch Übersetzungen. Uhland behielt sich nur die Ober-
leitung der Übungen vor; er liefs sich die Vorträge vorher anmelden,
verteilte sie in passender Gruppierung, warf da und dort eigene
Bemerkungen ein, fafste am Schlufs der Disputationen die Ergebnisse kurz
zusammen; im übrigen liefs er seinen Studenten alle mögliche Freiheit.
Uhlands Notizen zeigen ihn in seiner ganzen ruhigen Gefafstheit und
Zurückhaltung. Er sagt seine Meinung, wenn es sein mufs, unverhohlen,
aber immer auf die mildeste und edelste Weise, niemals wehthuend, und
doch mochte mehr als einmal der Reiz dazu vorhanden sein, denn es
*) Zu Ludwig Uhlands Gedächtnis. Mitteilungen aus seiner akademischen Lehr-
thätigkeit von Wilhelm Ludwig Holland. Leipzig, Verlag von S. Hirzel, 1886. 1028.8«.
26*
368 Hermann Fischer.
kamen namentlich in den poetischen Produktionen allerlei Dinge zum
Vortrag, wie man an manchen Orten durch Uhlands gemäfsig^e Ausdrucks-
weise hindurch zu spüren vermag. Am reichlichsten ist der Ertrag des
Buches in Bezug auf Uhlands poetische und ästhetische Anschauungen
im allgemeinen; namentlich über die Technik der Poesie, das Wort
Technik im weitesten Sinne genommen, fmden sich sehr feine Bemerkungen ;
aber auch die Topik kommt nicht zu kurz, denn von der Wahl ver-
fehlter Stoffe mufste Uhland oft genug abraten. Über zeitgenössische
Dichter finden wir fast gar keine Aufserungen; nur die Weltschmerzlyrik
ist mehrmals gestreift, doch ohne alle persönliche Invektive. Leider erfahrt
man über Uhlands eigenes poetisches -Schaffen, fast gar nichts. Doch ist
auch die eine Mitteilung, welche wir über einen früheren Gedichtplan
Uhlands bekommen, Dankes wert. Ein Student hatte drei Sonette „der
Heimatlose" eingereicht. Der Gegenstand erinnerte Uhland an einen
eigenen Entwurf aus früherer Zeit und er teilte den Plan seines alten
Gedichtes mit. Derselbe nimmt eine etwas isolierte Stellung in Uhlands
Poesie ein. Ein Wanderer, der sich lange auf dem Ozean umgetrieben
hat, kommt in sein Heimadand zurück und durchwandert das Land vom
Meeresufer den Flufs hinauf bis an dessen Ursprung, an welchem dem
um einen Trunk Bittenden eine Jungfrau den Krug mit Wasser reicht,
in der er mit Erstaunen seine erste Jugendliebe wiedererkennt. Der
symbolisierende Charakter des Gedichtes ist deutlich; es fehlt an Gedichten
solcher Art bei Uhland nicht ganz, wenn auch eine länger ausgeführte
Symbolik nur selten von ihm beliebt wird, aber ganz von seiner sonstigen
Art abweichend ist die grofsartige Behandlung der Landschaft, welche
da in ihren verschiedensten Gestaltungen der Reihe nach vorgeführt
werden sollte. Diese Behandlungsweise gemahnt entschieden mehr an
Goethe. Nur zwei aufeinanderfolgende Verse, gereimte trochäische
Tetrapodien, haben sich dem Dichter in seine prosaische Analyse ein-
geschlichen. Über die Zeit, in die der Plan des Gedichts fallen möchte,
ist es kaum möglich irgend etwas zu vermuthen.
Wenn wir in Hollands Buch eine sehr erfreuliche Bereicherung der
Uhlandischen Paralipomena zu begrüfsen haben, so ist dagegen von
Werken über den Dichter sehr wenig zu vermelden. Ein nach allen
Seiten erschöpfendes Buch, das den Dichter, den Forscher und, wenngleich
in dritter Linie, den Politiker Uhland in der abschliefsenden Weise be-
handeln würde, wie manche andere unserer grofsen Geister schon be-
handelt sind, fehlt uns noch, wie uns auch über Schiller ein solches fehlt
Übersicht der neuesten Uhland-Litteratur. 360
. — ■ 1^
(Weltrich steht ja leider noch immer ganz in den Anfängen), von Goethe,
bei dem die Aufgabe fast unermefslich ist, ganz zu schweigen. Wir
müssen uns da mit älteren, das Wesentliche nur andeutenden Werken
begnügen, deren wir vortreffliche haben; denn was uns von solcher
Säkularlitteratur vorliegt, kann den Ansprüchen der Litteraturforschung
nicht besonders genügend heifsen. Es sind mir vier Werke über Uhland
zu Gesicht gekommen, die man als solche Jubelschriften bezeichnen kann.
Eine derselben tritt freilich, da sie gar nicht für litterarhistorische
Zwecke bestimmt ist, aus dem Kreise unserer Betrachtung heraus und
soll nur kurz erwähnt werden. Ich meine das Büchlein meines schwäbischen
Landsmannes Eduard Paulus, welches schon vor neunzehn Jahren er-
schienen, jetzt aber, um eine Anzahl von Illustrationen des zu früh ver-
storbenen Gustav Clofs vermehrt, auch im Texte da und dort umge-
arbeitet, neu herausgegeben worden ist.*) Ein Buch, das nicht blofs uns
Schwaben lieb und wert sein mufs, weil es mit dichterischer Empfindung
und Darstellungsgabe einen der schönsten Teile unserer Heimat schildert,
sondern überhaupt als eine vortreflfliche Einfuhrung in „des Dichters
Lande" bezeichnet werden darf. Der landschaftliche und historische
Boden, auf welchem Uhlands Poesie erwachsen ist, wird aufs prächtigste
geschildert, und die zum Teil vorzüglichen landschaftlichen Zeichnungen
tragen das ihre dazu bei; Biographisches und Litterarisches wird nur
gestreift.
Dagegen haben wir eine wirkliche Biographie Uhlands vor uns in
der Schrift eines andern Landsmanns, des Oberschulrats Adolf Rümelin
in Dessau, desselben, dem man die feine Studie über Uhland als
Dramatiker in Band 42 der preufsischen Jahrbücher verdankt.**) Seine
Darstellung zielt, gemäfs dem Programm der Sammlung, welcher sie ein-
verleibt ist, auf allgemeine Verständlichkeit hin; d. h. sie ist nicht für den
Litterarhistoriker als solchen, aber doch wesendich für den Kreis der
Gebildeten bestimmt. Daher vermeidet Rümelin rein ästhetische Aus-
führungen und Abschweifungen, aber er giebt auch von der Dichterart
Uhlands ein gut und rund gezeichnetes Bild. Die Darstellung hat sich
äufserlich enge Schranken setzen müssen, um sich innerhalb des ihr
•) Ludwig Uhland und seine Heimat Tübingen. Von Eduard Paulus. Mit 24 Illustra-
tionen von Gustav Clofs. Jubiläumsausgabe. Stuttgart, Verlag von Carl Krabbe, 1887.
Vm, 48 S. 4«.
♦*) Wörttembergische Vierteljahrsblätter. Viertes Blatt. 1887. Ludwig Uhland. Zum
hundertsten Gedenktage seiner Geburt Von Adolf Rümelin. Stuttgart, Verlag von
D. Gundert. 48 S. 8«.
}
370 Hermann Fischer.
gesteckten Rahmens zu halten. Aber ich bezeichne gern die Schrift als
eine sehr erfreuliche Leistung, die ihren Zweck reciit gut erfüllt und als
Säkulargedenkbuch wohl den ersten Platz unter den bis jetzt erschienenen
verdient haben dürfte.
Ausführlicher ist das Werk von Hermann Dede rieh, das ebenfalls
Biographie und Litteraturgeschichte vereinigt, doch so, dafs die Letztere
überwiegt.*) Die Darstellung enthält nicht viel Neues; vielleicht hätte sie,
kurz wie sie ist — gehört sie doch einer Sammlung von Dichterbiographien
an, die wohl in erster Linie für die Jugend bestimmt sein sollen — , noch
kürzer gehalten werden können, wenn der Verfasser darauf Verzicht ge-
leistet hätte, an Uhlands erzählenden Gedichten den Unterschied zwischen
Romanze, Ballade und Rhapsodie zu exemplifizieren. Ich halte diese
Ausfuhrungen nicht allein für zu breit im Verhältnis zum Gegenstande
selbst, sondern bin auch der Meinung, dafs dabei nichts herauskomme.
Es geht schon bei der praktischen Verwendung jener zwei ersten Begriffe,
wobei die Ballade wieder, wie schon bei andern Ästhetikern, das nordisch-
geheimnisvolle, die Romanze das südlich-klare vorstellen soll, gar nicht
ohne beständiges Stolpern ab, und historisch betrachtet hat jene Unter-
scheidung ohnehin gar keinen Sinn, sofern die beiden Ausdrücke gar
nichts mit einander zu thun haben, einander weder ausschliefsen noch
ergänzen, in dem seit einem Jahrhundert gewordenen deutschen Sprach-
gebrauch aber meines Erachtens ganz das Gleiche bedeuten. Der Ver-
fasser stellt ein eigenes Werk über diese Dinge in Aussicht, auf das wir
uns ja füglich vertrösten können.**) — Wenn ich demnach das Buch
selbst als keine besondere Förderung unseres litterargeschichtlichen
*) Ludwig Uhland als Dichter und Patriot Nebst einem Anhang: Quellennachweise
zu den episch-lyrischen Dichtungen und litterar-histoHsche Bellagen und Bemerkungen. Von
Hermann Dederich. — Gotha, Friedrich Andreas Perthes, 1886. 163 S. 8'. Das Buch gehört zu
einer Sammlung, in welcher Ausgaben deutscher Dichtungen (bis jetzt von Klopstock, Goethe,
Schiller) und Dichterbiographien (bis jetzt E. M. Arndt und Uhland) vereinigt werden sollen.
**) Möge er in demselben nur wenigstens die unglückliche Etymologie des Wortes
„Ballade** bei Seite lassen, welche er S. 41 vorträgt. Danach soll das Wort vom altbritischen
Gwaelawd „Volkslied^* herkommen und sich durch das Angelsächsische und Mittelenglische
als Ausdruck för Bänkelsängerlieder fortgeerbt haben. Nun kommt das Wort aber (s. Murrays
neues Wörterbuch) im Englischen zuerst 1385 vor, also in jener Zeit, da Gower, der poly-
glotte Dichter, seine „Balladen" dichtete. Es stammt mit der übrigen Poesie seiner Zeit aus
dem Romanischen und ist nichts anderes als „ballata" = „Tanzlied" (wie das altdeutsche
„leich"), von ital. ballare tanzen (s. Diez, Wörterbuch, s. v. ballare). Ich weifs zwar, dafs
gegen die Keltomanie kein Kraut gewachsen ist, aber jene chronologische Instanz sollte doch
wohl bei Niemand einen Zweifel lassen.
Übersicht der neuesten Uhland-Litteratur. 371
t
Wissens bezeichnen kann, so ist der Anhang desselben um so dankens-
werter. In diesem werden die erzählenden Dichtungen Uhlands in chrono-
logischer Reihenfolge aufgeführt und bei den einzelnen ihre Veranlassung,
ihre Quellen, die Litteratur über dieselben angegeben, auch manchmal
kleinere Exkurse daran angeknüpft. Nur einen kleinen Teil der hier
behandelten Gedichte, ein starkes Fünftel, hatte schon Eichholtz in
seinen durch den Tod zu früh abgebrochenen Studien behandelt, und so
ist Dederichs, Zusammenstellung neben den Erläuterungen Düntzers zu
Uhlands Balladen und Romanzen von Werte. Auf das Einzelne einzu-
gehen kann hier der Ort nicht sein.
In dem letzten der Bücher, welche hier zu besprechen sind, von
Ambros Mayr, sind neben Uhland noch vier andere schwäbische
Dichter behandelt: Justinus Kerner, Gustav Schwab, Karl Mayer,
Eduard Mörike, Gustav Pfizer*). Die Zusammenstellung ist neu nach
der Auswahl wie nach der Gruppierung der behandelten Dichter, und
über den seltsamen Titel, der von einem Dichter-„Bund" spricht, will ich
mit dem Verfasser nicht rechten. Ebensowenig lafse ich mich auf eine
Kritik der Behandlung ein, welche den andern Dichtern aufser Uhland
zu teil geworden ist, obschon ich da einiges auf dem Herzen hätte**);
ich beschränke mich auf den Aufsatz über Uhland speziell. Der Verfasser
hat es mit seiner Darstellung ernst genommen, und eine fast vollständige
Litteratur über seine fünf Dichter zusammengebracht, die er in den
zahlreichen Anmerkungen zu jeder Monographie fleifsig zitiert. Er selbst
hat namentlich sprachliche Studien angestellt, über die Neologien bei den
einzelnen Dichtern, über sprachliche Härten, Beobachtung oder Verletzung
der metrischen Form und des Reims. Bei Uhland war freilich von
solchen Freiheiten kaum etwas zu melden, und der Verfasser erkennt
in ihm mit Recht einen auch in formeller Beziehung höchst vollendeten
Dichter. Um so auffallender mufs es erscheinen, wenn er am Fortunat,
*) Der schwäbische Dichterbund. Ludwig Uhland. Justinus Kemer [u. s. f. wie oben],
Studien von Dr. Ambros Mayr. Innsbruck, Verlag der Wagnerischen Universitäts-Buchhandlung.
1886. Xn, 224 S. 8 ^ 4
**) Doch kann ich nicht umhin, im Vorbeigehen efnln Irrtum bezüglich meines
Schriftchens Ober Mörike zu erwähnen. Der Verfasser läfst mich von dem Märchen „der
Schatz** sagen, dasselbe sei, „was von Mörikes früheren Arbeiten grölseren Umfangs keine
war, ein Kunstwerk aus einem Gufs.^^ Ich habe (S! 39 meines Schriftchens) diese Wendung
vielmehr, wie nach dem Context keinen Augenblick zweifelhaft sein kann, von dem „Stuttgarter
Hutzelmännlein^^ gebraucht. Auf den „Schatz^* würde mein Ausdruck nicht nur überhaupt
kaum passen, sondern auch noch deswegen nicht, weil derselbe vor der „Idylle vom
Bodensee^* entstanden ist, an der ich ausdrücklich den Mangel einheitlicher Komposition
hervorgehoben habe (S. 37).
J
372 Hermann Fischer.
dessen Form auch der mit dem Gedicht sonst unzufriedene Vischer
anerkennt, formelle Härten auszusetzen findet. Er hat (S. 59, Anm. iio)
zwanzig Stellen zusammengebracht, welche gegen Prosodie, Wortgebrauch
u. s. w. verstofsen sollen. Nun, das wäre ein Fehler auf fünf bis sechs
Strophen. Ich kann aber Mayrs Ausstellungen zum allergröfsten Teil
nicht anerkennen. Manche beziehen sich auf schwebende Betonungen,
wie sie in Blankversen und namentlich in den italianisierenden Strophen-
formen auch sonst häufig sind und für durchaus geduldet gelten dürfen.
Andere gehen auf seltsam scheinende ungewöhnliche Ausdrücke (von
welchen übrigens „sitzen** ^= sich setzen und „handeln** = feilschen 1
wenigstens für uns Schwaben nichts auffallendes haben); hätte der Ver-
fasserbedacht, dafsUhlands Gedicht zu derselben parodistisch-humoristischen
Gattung gehört, wie z. B. Byrons Don Juan, um gleich das bedeutsamste
Beispiel zu nennen, so hätte er solche Besonderheiten namentlich im
Reim als zu der ganzen Manier gehörig empfinden müssen; eben der
Don Juan wimmelt ja von solchen burlesken Wendungen und gesuchten
Reimen, nicht etwa 20 auf 880 Zeilen, sondern in jeder Oktave gleich
ein paar! Und eben zu diesem parodistischen Stil gehört auch die
Katachrese, eine Hand um Rachb rufen zu lassen, welche Uhland in
einem ernsthaften Gedicht sicher nicht eingefallen wäre. „Über den
Mangel an Grazie, Leichtigkeit und Glätte der Stanzen sich zu verwundern,"
ist gewifs aufser dem Verfasser noch niemand zu Sinn gekommen.
Wenn er den Charakter des Gedichtes für mehr Wielandisch erklärt,
so läfst sich das dem Inhalt nach hören; von der Form aus aber wäre
wohl niemand auf Wieland verfallen, der die grofsartige Salopperie der
Oktaven im Oberon in Erinnerung hätte. So ganz und gar fremd-
artig steht das Fragment gerade nicht unter Uhlands andern Werken;
es ist wie aus derselben Zeit, so auch aus derselben ironisierenden,
tieckisierenden Richtung hervorgegangen, wie die andern romantischen
Manifeste des Dichters: das „Frühlingslied des Rezensenten", die „Bekehrung
zum Sonett", die Glossen u. a. Aber Uhland, das kann dem Verfasser
zugegeben werden, ist des Tones, der im ganzen ihm doch fremd war,
müde geworden und hat den Fortunat als Fragment stehen lassen; doch
gewifs nicht weil „Abälardische Motive** (Gesang i, Str. 44 f.) nicht zu
seinem reinen Gemüt gepafst hätten — dazu war der Dichter von
„Graf Eberstein" doch nicht zimpferlich genug; — sondern weil es ihm
widerstand, ein ganzes langes Gedicht hindurch witzig zu sein.*)
*) Man kann jetzt in Hollands» zuerst besprochener Publikation S. 56 die sehr lehrreiche
Ausführung über das komische Epos nachlesen.
Obersicht der neuesten Uhland-Litteratur. 373
•-I — — — - - - — - - ■ - ■
Wie schon diese Probe zeigen kann, ist der Verfasser nicht bei dem
rein formalen in der Poesie stehen geblieben, vielmehr auch auf das
Sachliche eingegangen. Ästhetische Urteile sind nun freilich Geschmack-
^ache^ und so hätte es am Ende in dieser kurzen Zusammenstellung
wenig Wert, wenn ich zu vielen Ausführungen des Verfassers meine
Zustimmung geben, andere bekämpfen wollte. Eins darf ich jedoch
nicht verschweigen: die Ausfuhrungen Mayrs sind wesentlich ästhetisch,
nicht litterarhistorisch. Er hat zwar die Perioden in Uhlands Dichtung
zu sondern gesucht, aber den Zusammenhang derselben mit unserer
deutschen Litteraturgcschichte überhaupt nicht erörtert. Ich halte das
für einen Mangel, wenn es auch gewollt sein mag. Denn ein volles
Verständnis des Dichters ist doch ohne seinen Zusammenhang mit seiner
Zeit nicht zu erreichen.
Schon oben habe ich darauf hingedeutet, dafs eine litterarhistorische
Betrachtung zu einem billigeren Urteil über den Fortunat hätte fuhren
müssen. Noch sicherer aber hätte eine genauere Kenntnis von dem Zu-
sammenhang Uhlands mit der Romantik das unglückliche Kapitel über
Uhlands Sonette (S. 25) ungeschrieben lassen müssen.
Dort steht nämlich, Uhland sei ein Gegner des Sonetts gewesen,
und dafiir wird ein von seiner Witwe (Uhlands Leben, S. 40) abgedruckter
Brief an Kölle vom Jahr 1807 angeführt, in welchem Uhland „diese
Gedichtsform, so schön sie sich im Einzelnen ausnehmen mag, im Ganzen
unserer Sprache nicht angemessen findet" Allein Mayr selbst zitiert
zugleich Uhlands späteren Brief an Graf Loben vom 18. März 181 2, wo
Uhland (Leben, S. 81) sich in wesentlich anderer Weise ausspricht. Und
jedenfalls stehen in Uhlands Gedichtsammlung nicht weniger als einund-
zwanzig Sonette, etwa ein Fünfzehntel aller Gedichte. Eine litterar-
historische Betrachtung hätte dem Verfasser sofort zeigen müssen, dafs
Uhlands Sonettdichtung im Zusammenhang steht mit seiner zeitweiligen
Hinneigung zu romantischem, genauer tieckischem Humor und Formen-
spiel. Alle Sonette Uhlands sind aus den Jahren 1809 bis 18 16, ebenso
seine anderen Gedichte in romantisch-südländischen Formen : die Glossen
von 181 3 und 1814, die Oktaven aus den Jahren 1807 bis 181 9. Und
eben in die erste Hälfte der zehner Jahre fallt auch Uhlands Beteiligung
an den Kämpfen zwischen Romantikern und Klassicisten.
Die Kenntnis dieser Kämpfe hätte dem Verfasser einen fast
unglaublich scheinenden Irrtum ersparen müssen. „Uhland", sagt
er im selben Zusammenhange, „scherzt über sich selbst in launiger
Weise, dafs er, der ausgesprochene Gegner der Sonettform, sich nun
874 Hermann Fischer.
doch auch derselben bediene" und zwar in dem Gedicht „Bekehrung
zum Sonett." Ich lasse dahingestellt, ob die Worte jenes Gedichts
als zur Selbstverhöhnung passend angesehen werden können; etwas
zweifelhaft hätte den Verfasser doch schon der Umstand machen sollen,
dafs Uhland dort von „einem Sonetdein" und zwar einem ganz be-
stimmten redet, während er doch vor jenem Gedicht schon neunzehn
Sonette gedichtet hatte. Wenn ich mich besinne, wie Mayr wohl auf
eine solche Vermutung kommen konnte, so will mir nichts anderes ein-
fallen als die Worte in der Glosse „der Rezensent**:
Lais, mein Kind, die spansche Mode!
Lafe die fremden Triolctte!
Lais die welsche Klangmethode
Der Kanzonen und Sonette! u. s. w.
Diese Worte mufs er für bare Münze genommen haben, da sie
doch pure Ironie sind ; dessen hätte ihn schon die folgende Strophe be-
lehren können:
In antiken Verskolossen
Stampft sie besser ihren Reigen
Mit Spondeen und Molossen;
Worte, die doch kein Mensch für ernsthaft gemeint halten wird! Nun,
die Kundigen wissen längst, wie die Sache sich verhält. Jene satirischen
Gedichte sind Verhöhnungen der Antiromantiker, sie gehören zu dem
grofsen Kampf, der zwischen Romantikern und Klassicisten, Sonettisten
und Sonettfeinden entbrannt war und über den das Genauere in Weltis
Geschichte des Sonettes sowie in PfafFs Einleitung zu seinem Neudruck
von „Trost Einsamkeit" zu finden ist. Speziell „der Rezensent" geht,
wenigstens in seiner letzten Strophe, auf Vofs, den Führer der Anti-
romantiker, mit seinen antiken Metren und Wortungetümen; „die Bekehrung
zum Sonett" aber auf Friedrich Weisser, das Haupt der schwäbischen
Antiromantiker, der im Jahr 1814 ein Liebessonett gedichtet hatte, das
in seinen Werken noch zu lesen ist.
Ich habe oben gesagt, dafs wir noch keine abschliefsende Studie
über die Genesis von Uhlands Poesie besitzen. In dieser dem inter-
nationalen Litteraturverkehr gewidmeten Zeitschrift mag es mir verstattet
sein, einen kleinen Beitrag zu jenem Endzweck zu geben durch Dar-
stellung von Uhlands Beziehungen zu ausländischen Litteraturen,
Etwas in sich Zusammenhängendes zu geben ist da allerdings nach der
Natur der Sache nicht möglich; meine Leser müssen sich mit einer mehr
Uhlands Beziehungen zu ausländischen Litteraturen. 875
äufserlichen, aber, wie ich hoflfe, das Thatsächliche erschöpfenden Be-
handlungsweise zufrieden geben.
Wenn Uhland nicht zu den Dichtern für die Weh gehört, so hat er
doch für seine Poesie sich nicht an die Grenzen der deutschen Nation
gebunden — das hat noch keiner von unsern wirklich grofsen Dichtern
gethan — und hat auch wissenschaftlich sich mit fremder Litteratur be-
schäftigt Auf den engen Zusammenhang zwischen seinen Studien und
seiner Dichtung haben schon andere oft genug hingewiesen. Aber eben
in Beziehung auf die dichterische Verwendung fremder Stoffe erweist sich
Uhland als echter Dichter. Er erscheint nie blofs als Anempfinder oder
als virtuoser Nachahmer fremdländischer Poesie, sondern fremde StoflFe
und Formen haben bei ihm durchaus das Medium seiner kräftigen
dichterischen Individualität passieren müssen.
Uhlands wissenschaftliche Thätigkeit ist in ihrer vollen Bedeutung
erst nach seinem Tod bekannt geworden. Die Schriften über Walther
von der Vogelweide und den Mythus von Thor waren als vorzügliche
Leistungen und bedeutende Förderungen der Wissenschaft allerdings
bekannt. Der Aufsatz über das altfranzösische Epos aber lag in Fouques
Zeitschrift „die Musen" so gut wie begraben, und von Uhlands Lebens-
werk, der Volksliedersammlung, waren zwar die Texte erschienen, noch
fehlte aber, was den tiefsten Einblick in die Genauigkeit und Feinheit
seines Schaffens gewähren konnte, die Abhandlung und die Anmerkungen
zu denselben.
Erst die acht Bände „Schriften zur Geschichte der Dichtung und
Sage," welche seine drei germanistischen Freunde W. L. Holland,
A. Keller, F. Pfeiffer herausgegeben haben, konnten uns eine genauere
Kenntnis des Gelehrten Uhland vermitteln, und diese Veröffentlichungen
müssen die höchste Achtung vor ihm erwecken.
Mit einer weisen Beschränkung, die für ihn kein Zwang war, denn
sie ging aus seinen tiefgewurzelten poetischen Neigungen hervor, hat
Uhland lediglich die mittelalterliche Poesie zum Gegenstand seiner
Forschung gemacht. Die Poesie: diesen Begriff betont er mehr als
einmal; mythologische oder litterarhistorische Gesichtspunkte stehen ihm
in zweiter Linie. Und innerhalb der Poesie ist es wieder in erster Linie
die volkstümliche Dichtung, was ihn beschäftigt. In dieser letzteren
Beziehung kann man ihn mit dem befreundeten und menschlich ihm
ähnlichen Jakob Grimm vergleichen, wenn er in der liebevollen Aus-
arbeitung seiner Werke mehr dem jüngeren Bruder Wilhelm ähnelt. Es
liegt dem Gegenstande dieses Aufsatzes ferne, das Gesagte in bezug auf
376 Hermann Fischer.
Uhlands deutsche Studien auszufuhren, wo es sich am schönsten zeigen
und verfolgen liefse. Ich mufs mich hier auf die Behandlung aufser-
deutscher Gegenstände beschränken. Fremde Litteraturen spielen aller-
dings, wie das bei der Behandlung des Mittelalters gar nicht anders
möglich ist, auch in jene Aufsätze und Vorlesungen über die deutsche
Poesie herein, sei es, dafs die altnordische Mythologie und Heldensage
als erster Teil der „Sagengeschichte der germanischen und romanischen
Völker" vorgetragen wird, sei es, dafs in denselben Vorlesungen die
altfranzösische Heldensage behandelt ist, welche in ihren deutschen
Übersetzungen und Bearbeitungen auch im zweiten Teil der „Geschichte
der altdeutschen Poesie" vorkommt, sei es endlich, dafs in den Arbeiten
über das Volkslied mit einem staunenswerten Fleifse die verschiedensten
fremden Lieder, namendich solche des skandinavischen Nordens, herbei-
gezogen und mit Glück verwertet sind.
Uhland hat sich aber in einigen wenigen Arbeiten auch ausschliefsUch
mit der aufserdeutschen Poesie des Mittelalters befafst. Gleich seine
erste gelehrte Arbeit gehört daher und war ein Meisterstück. Ich meine den
Aufsatz über das altfranzösische Epos, welcher in der von Fouque
und Neumann herausgegebenen Zeitschrift „die Musen", 1812, 3. Quartal,
erschien, und welchem im nächsten Hefte „Proben" dazu nachfolgten;
beides in Uhlands Schriften, Bd. IV, wieder abgedruckt. Der Aufsatz
ist die Frucht des Aufenthalts ins Paris von 1810 und 1811 und giebt
das beste Zeugnis dafür, wie vortrefflich Uhland diesen nur dreiviertel-
jährigen Aufenthalt ausgenützt hat. Ohne die bequemen gedruckten
Hilfsmittel unseres Jahrhunderts, zumeist durch mühevolles Studium der
in dem unvergleichlichen Bücherschatze der National bibliothek angehäuften
Handschriften, gelang es ihm, einen tiefen Einblick in das Wesen und
die Geschichte des altfranzösischen Epos zu gewinnen. Die Fachmänner
wissen den Wert des Aufsatzes zu schätzen, der unter die grundlegenden
in jenem damals noch kaum betretenen Litteraturgebiete gehört.*)
Uhland hat hier schon ganz bündig den durch spätere Forschung nur
bestätigten Nachweis gefuhrt, dafs und wie die auf der Karlssage ruhenden,
für den Gesang bestimmten, in alexandrinischen Tiraden gedichteten
Chansons von den bretonischen, zum Lesen gedichteten, in kurzen Reim-
paaren verfafsten Contes verschieden sind; auch der Nachweis ist schon
von ihm gefuhrt worden, dafs jene karolingischen Epen nicht, wie früher
angenommen wurde, auf der sogenannten Turpinischen Chronik beruhen.
^) Vgl. Jahn, Uhland, S 69.
J
Uhlands Beziehungen zu ausländischen Litteraturen. 377
Ein anderes Werk fuhrt in den skandinavischen Norden, die „Sagen-
forschungen." Von diesen hat Uhland selbst blofs den ersten Band
erscheinen lassen, welcher den „Mythus von Thor nach nordischen
Quellen" behandelt (Stuttgart und Augsburg, Cotta 1836). Ihm sollte
ein zweiter über den Mythus von Odin nachfolgen; eine Einleitung dazu
schrieb Uhland schon 1837, und in seinen Briefen erwähnt er das Vor-
haben noch öfters. Aber erst in seiner spätesten Zeit, wie das aus der
Handschrift und aus manchen Zitaten hervorgeht, hat er die Abhandlung
selbst niedergeschrieben; es ist wohl kein Grund, dieselbe für unvollendet
anzusehen, aber sie erschien nicht mehr zu Uhlands Lebzeiten. Erst fünf
Jahre nach seinem Tode wurde sie, zusammen mit der über Thor, als
sechster Band der Schriften veröffentlicht.
Die Abhandlung über Thor erschien ein Jahr nach J. Grimms
Mythologie. Ihre Anlage ist aber eine ganz andere und vollkommen
selbständige. Die deutsche Mythologie ist ganz bei Seite gelassen; es
werden die einzelnen altnordischen Mythen von Thor erzählt, im ganzen
aufsteigend von den sofort verständlichen zu den schwierigeren, ver-
wickeiteren, durch freiere poetische Zuthaten getrübten. Die sinnige,
einen echten Dichter von feinem Verständnis für das Volkstümliche ver-
ratende Art, wie Uhland diese Mythen erklärt hat, ist längst bekannt
und geschätzt. Manches ist geradezu unübertrefflich; andere jener Mythen
aber, deren Erklärung Uhland selbst als keineswegs sicher bekannt hat,
hätten auch jeden anderen Erklärer zur Verzweiflung bringen müssen.
Zwischen dieser Abhandlung und der über Odin liegen etwa zwanzig
Jahre, in welchen manches für nordische und deutsche Mythologie
geschehen ist Das merkt man bei der Lektüre der zweiten Abhandlung
deutlich. Sie geht mehr systematisch vor; verglichen mit der früheren
Methode des langsamen Vorwärtsschreitens von einer Mythenerzählung
zur andern ist mehr Räsonnement und Diskussion im Grofsen angestellt.
Es ist überhaupt, was bei der Darstellung der von dem mythologischen
System der Nordländer in den Mittelpunkt des Ganzen gestellten Gottheit
nicht anders möglich war, die nordische Mythologie insgesammt in
Betracht gezogen; namentlich der Abschnitt über die Vanen ist beachtungs-
wert. Von der Naturerklärung, die beim Thormythus Mittelpunkt und
Endpunkt des Ganzen war, ist hier vollständig abgesehen. Uhland
scheint an eine Naturbedeutung Odins gar nicht geglaubt zu haben, schon
in den Vorlesungen über Sagengeschichte (Schriften VII, 64) ist eine
solche zurückgewiesen. Ein bezeichnender Unterschied gegen jene Vor-
lesungen, welche schon vor der Schrift über Thor, im Jahr 1831 und
378 Hermann Fischer.
1832, gehalten wurden, liegt in der starken Hereinziehung des historischen
und geographischen Elements, welche nunmehr versucht wird. In den
Vorlesungen sind die Vanen lediglich als Naturmächte dargestellt; im
Odin wird auf ihren Zusammenhang mit Schweden, wie auf den Odins
mit Dänemark und dem Festland hingewiesen; ja es wird der kühne
Versuch gemacht, Freyas Halsband „Brisingamen" aus einer Form
Brysingamen zu erklären, als das „preufsische", aus dem Bernstein der
estnischen Küste gefertigte; Bragi, der in den Vorlesungen noch als
Ase erschien, wird nunmehr für einen erst später in die Asenwelt ein-
gedrungenen Skaldenurvater erklärt. Durch solche Züge klingen Uhlands
Forschungen schon bedeutsam an spätere nordischer Gelehrter (ich nenne
Bang, Petersen, Bugge) an, welche, wenn man auch gewifs sehr viel
davon abziehen darf, das Gebäude der altnordischen und der von Grimm
daran angelehnten deutschen Mythologie bedeutend erschüttert haben.
Was Uhlands Mythenforschungen charakterisiert und ihnen in ihrem
bescheidenem Umfang einen Vorzug vor den grofsartigeren aber auch
öfters in der Irre gehenden Jacob Grimms verleiht, das ist eben jene
Beschränkung auf die nordische Sage. Uhlands Forschung ist stets
behutsam und vorsichtig; von den überkühnen Gleichungen, die wir in
Grimms Mythologie finden, ist bei Uhland nichts wahrzunehmen. Diese
Vorsicht spricht sich, um nur zwei Einzelheiten zu erwähnen, aus, wenn
Uhland Grimms Beziehung der mittelhochdeutschen Personifikation des
„Wunsches" auf Odin (Oski) zurückweist*), und noch viel später, wenn
er dem begeisterten Franz Pfeiffer gegenüber seine schweren, in der
Folge glänzend gerechtfertigten Bedenken wider die Echtheit des bekannten
althochdeutschen Schlummerliedes ausspricht. **)
*) Schriften TV, 16: „Die Personifikation des Wunsches ist nicht als eine mythische
nachgewiesen, sondern nur als eine allegorische oder vielmehr sprachliche, aus der fort-
wirkenden Lebendigkeit und Bildlichkeit der Sprache hervorgegangene ; die Belege sind auch
nur der Ritterpoesie entnommen.*' Diese Worte stehen in den von Uhland selbst nicht xam
Drucke gebrachten Anmerkungen zu den Volksliedern. Schon am 31. Dezember 1830
schrieb Jac. Grimm an Uhland über diesen Gegenstand (Uhlands Leben, S. 382); es läfst sich
aber nicht erkennen, ob beide über denselben des weiteren brieflich (oder später mündlich)
mit einander verhandelt haben.
**) Im Anhang zum Briefwechsel mit Lassberg, S. 328: „Es erregt mir Bedenken,
dafs dieses poetisch anziehende Stück mit geringen Ausnahmen so genau mit Grafis Sprach-
schatz, Grimms Grammatik und Mythologie übereinstimmt, während die Merseburger Segen
so manches Rätsel zu lösen g^ben. Unter den aufgezählten Gottheiten ist keine, die nicht
in der Mythologie stände" u. s. f. Uhlands nüchterne Kritik erinnert sehr lebhaft an manche
in demselben Band abgedruckte Aufserungen Lassbergs, welcher in mythologischen Dingen
sehr skeptisch war und stets vor dem Zusammenwerfen deutscher und skandinavischer Sagen
gewarnt hat.
Uhlands Beziehungen zu ausländischen Litteraturen. 379
Gehen wir zu der dichterischen Behandlung fremder Stoffe bei
Uhland über, so ist auch hier in der Hauptsache jene Beschränkung auf
die mittelalterlichen Völker und Litteraturen wahrzunehmen, aber doch
nur in der Hauptsache. Allerdings hat Uhland nur selten Gegenstände
aus dem Altertum oder aus der Gegenwart behandelt. Die letzteren
beschränken sich, wenn ich meinem Programm gemäfs die Gedichte über
deutsche Zeitgenossen, wie Wilhelm Hauff, Gangloff, die poetischen
Freunde Kerner, Mayer u. a., ausnehme, auf die beiden hauptsächlich von
politischer Sympathie eingegebenen Gedichte Mickiewicz (1833;
S. 470 f. der 59. Aufl. der Gedichte von 1874) und die Bidassoabrücke
(15/16. März 1834; Ged. S. 289 ff.); wozu man noch die ihrer ganzen
Manier nach vereinzelt unter Uhlands Gedichten stehende Mähderin
(9. Februar 181 5; Ged. S. 238 flf.) stellen kann, als Bearbeitung einer zeit-
genössischen Zeitungsanekdote, sofern nämlich die zu Grund liegende
Geschichte sich in Frankreich begeben haben sollte. Die beiden letzt-
genannten Gedichte sind bekannt genug, die Bidassoabrücke mit Recht
berühmt, die Mähderin von W. L. Holland zum Gegenstand einer kleinen
Monographie gemacht (Tübingen 1874); das Gedicht auf Mickiewicz,
welches den Dichter als Bürgen für die noch nicht ganz untergegangene
Gröfse seines Vaterlandes beg^üfst, ist erst von Holland aiis dem hand-
schriftlichen Nachlafs Uhlands herausgegeben worden.
Dagegen spielt das Altertum, wenn man näher zusieht, doch keine
so völlig bedeutungslose Rolle bei Uhland. Der Orient allerdings,
einschliefslich der biblischen Stoffe, ist in Uhlands Gedichtsammlung
ganz unvertreten. Unter dem handschriftlichen Nachlafs finden sich
drei in den gewöhnlichen modern-christlichen, zum teil noch an
Klopstock gemahnenden Tönen gehaltene Gedichte „Simeon", „Jesu
Kreuzestod", „Jesu Auferstehung und Hinunelfahrt"*), welche be-
zeichnenderweise alle aus dem Jahr 1801, also der Zeit der Konfirmation
stammen. Später hat der religiös, aber nicht konfessionell gesinnte
Uhland sich solcher Stoflfe gänzlich enthalten; zu der bekannten „Bitte"
an die geistlichen Dichter (18. Juni 1816; Ged. S. 41), ihren bekannten
Ton „nicht länger zu fuhren", läfst sich nunmehr noch eine Aufserung
Uhlands aus seinem Stilistikum fugen, in welcher er die Schwierigkeit,
ja Bedenklichkeit biblischer Stoffe für die Poesie sehr klar darthut.**)
Das klassische Altertum, seine Stoffe und Formen, nehmen einen
etwas gröfseren Raum bei Uhland ein, als man gewöhnlich liest. Er hat
*) Das letzte abgedruckt: Uhlands Leben, S. 12 flf.
**) Holland, zu L. Uhlands Gedächtnis, S. 34 f.
1
380 Hermann Fischer.
sich auf der anatolischen Schule zu Tübingen einen sehr guten Schulsack
geholt und war, wie man da und dort lesen kann, ein sehr gewandter Jünger
der jetzt verschollenen Kunst, lateinische Verse zu machen. Otto Jahn
(L. Uhland, S. 109 ff.) hat zwei Proben dieser Kunst veröffentlicht, eine
in Distichen, die andere in sapphischen Strophen, beide aus dem Jahr 1803;
ein weiteres sapphisches Gedicht, Ende 1802 verfafst, ist mir handschriftlich
bekannt. In den sapphischen Oden hat das offenbar minder gewohnte
und gröfsem Zwang auflegende Versmafs zu manchen Härten gefuhrt.
Die Distichen aber sind höchst elegant und graziös gemacht. In seinen
deutschen Gedichten, soweit sie in seine Sammlung aufgenommen sind,
hat sich Uhland antiker Versmafse ganz enthalten; nur das Distichon ist
in der Abteilung „Sinngedichte" (Gedichte, S. 109 ff.) öfters verwendet,
aber keines der Gedichte geht übers Jahr 1814 herab. In den
ungedruckten, bezw. nicht in die Sammlung aufgenommenen Gedichten
aus Uhlands Jugendzeit finde ich antike Mafse häufiger verwendet, aber
auch als Ausnahme: öfters das Distichon, in einem Versuch aus dem
Jahr 1800 („Scipios Wahl", s. u.) den Hexameter, einmal in einem
Gedicht von 1805 die sapphische Ode, in der Klopstockischen bei den
deutschen Poeten jener Zeit nicht seltenen Form, die den Dactylus im
ersten Vers als ersten, im zweiten als zweiten, im dritten als dritten Fufs
hat, zweimal (1805 ^"^ ^807), freie Rythmen in Goethes Weise. Es ist
für Uhlands spätere Neigung zum Reim charakteristisch, dafs er eines
der beiden letztgenannten Gedichte später mit Reimen versehen hat (jetzt
Nr. 5. in dem Cyklus „der Königssohn" , Gedichte, S. 386 f; vgl. Jahn,
S. 121.)
Auch die Stoffe des klassischen Altertums sind in Uhlands
dichterischen Anfangen mehrfach vertreten. Er hat im Jahr 1800 eine
Partie aus Silius Italiens unter dem Titel „Scipios Wahl" in Hexametern
übersetzt; in die folgenden Jahre, ohne dafs eine genauere Datierung
möglich wäre, fallt die Übersetzung von Senecas Thyestes, welche
Keller in seinem an interessanten Aufschlüssen überaus reichen Buche
über „Uhland als Dramatiker" (S. 13 ff.) mitgeteilt hat. Vier Jahre
später hat er eine Tragödie „Achilleus Tod" geplant, schon in der
Zeit, da romantische Stoffe mächtiger auf ihn einwirkten, wie er denn
dieser Einwirkung es selber zuschreibt, dafs der Plan liegen blieb (Keller,
S. 70). Eine etwas phrasenhaft ausgeführte Vision ist „Manus auf
Karthagos Trümmern" von 1801; in den bacchischen Ideenkreis stellt
sich der junge Dichter mit mehr Glück in einer „Dithyrambe" von 1803;
von 1810 ist ein Distichon „Hero und Leander", dem wohl wegen seines
Uhlands Beziehungen zu ausländischen Litteraturen. 381
Mangels an einer Pointe die Aufnahme in die Gedichtsammlung ver-
weigert wurde; und ein Jahr später nimmt ein Sonett „die neue Thetis"
wenigstens in Form einer leichten Anspielung Bezug auf antiken Mythus.
In den ersten Ausgaben der Gedichte stand auch noch das Distichon
„Helena", zuerst in Kerners Almanach auf 1812 abgedruckt. (Jahn
S. 126).
Nicht bedeutender an Zahl, wohl aber an Gehalt als diese aus der
Gedichtsammlung ausgeschlossenen Versuche sind die in sie aufge-
nommenen. Hier sind die epigrammatischen Distichen Achill (273. Dez.
1809; Gedichte S. 109); Narciss und Echo (3. Dezember 1809; Ged.
S. 110, wozu aber noch mehrere ungedruckte gehören), Die Götter
des Altertums (24. Juni 18 14, Ged. S. iio) zu nennen, woran sich,
wenigstens seiner Nomenklatur nach antik, Amors Pfeil (14. September
18 10; Ged. S. 113) anreiht. In allen diesen entspricht dem antikisierenden
Inhalt auch die metrische Form. Aber auch das Sonett In Varnhagens
Stammbuch (27. Februar 1809; Ged. S. 126 f.) hat, und zwar in der
glänzendsten und feinsten Weise, eine antike Sage bearbeitet. Ganz frei
erfunden, aber aus gut antiker Anschauung heraus, ist Die Bildsäule
des Bacchus (8. Dezember 1814; Ged. S. 314 ff.), und noch am 26. Nov.
1829 ist dem Dichter sein bedeutendster Wurf auf dem Gebiet antiker
Stoffe, Ver sacrum (Ged. S. 379 ff.), geglückt. Ich will nicht wider-
kauen, was über dieses wirklich grofsartige Gedicht hin und wider ge-
schrieben worden ist. Aber ich möchte den Grund, warum dieses
Gedicht weitaus die andern antiken Gedichte Uhlands überragt, eben in
den tiefsten Neigungen des Dichters suchen. Hier ist keine fein aus-
gebildete, in klassischer Marmorkälte sich darstellende antike Kulturwelt,
hier ist jungfräulicher Boden alten Volkstums,- der am Tiber und am
Rhein, an der Nordsee und am Indus den gleichen Erdgeruch ausströmt.
Diese einfachen, grofsen Züge heroischer Vorzeit hat Uhland mit genialster
Meisterschaft aus den Notizen römischer Historiker wiederhergestellt; sie
sind im tiefsten Wesen keine andern als die der germanischen Vorzeit
auch, und wir könnten uns die Szene ebenso wohl am Strande Norwegens
denken, von wo ein Vikingerschiff nordische Landskraft über das Meer
hinträgt, während Asathor mit seiner Blitzesflamme den Segen dazu giebt.
Bleiben wir gleich in Skandinavien, dessen Mythenwelt Uhland so
glücklich behandelt hat, so finden wir ihn schon lange vor jenen Studien
poetisch mit der Welt des Nordens beschäftigt, vielleicht nicht so häufig,
als man es nach der düstem, verschwimmenden, etwas ossianisch an-
mutenden Romantik seiner ersten gedruckten Gedichte erwarten sollte.
Ztscbr. f. vgrl, LiU.-Gesch. L Oß
383 Hermann Fischer.
Übrigens sticht gleich das erste Gedicht, das hier zu erwähnen ist, durch
markige Kraft sehr vorteilhaft von den andern jener Zeit ab: Die
sterbenden Helden, 1804 ^"^ 14- J^li gedichtet (Ged. S. 199 f.). Wenn
dieses Gedicht frei erfunden ist, höchstens angeregt durch eine Stelle
des Saxö Grammaticus, *) so ist dagegen Der blinde König (Ged.
S. 201 ff.), einen Monat später gedichtet, aber in der Gestalt, wie es in
der Sammlung steht, erst eine Überarbeitung vom 5. Dezember 181 4,
auf eine Erzählung Saxos aufgebaut. Auch dramatisch hat sich Uhland
mit dem Norden zu thun gemacht, wie die etwa 1807/ 1808 fallenden
Fragmente Hyld und Helgo (Keller S. 75 ff.) und Alfer und Auruna
(Keller S. 79 ff.) beweisen. Die schönste Behandlung der nordischen
Welt aber, „Normannischer Brauch", ist erst bei den französischen Stoffen
zu besprechen.
Mit dem Übergang aus dem skandinavischen Norden in den
romanischen Westen und Süden treten wir in den Mittelpunkt der
romantischen Dichtung des Mittelalters ein, und hierher gehört auch
weitaus das meiste, was noch zu erörtern ist.
Unter den romanischen litteraturen und Sagen des Mittelalters
nimmt wiederum, wie in der historischen Wirklichkeit, so auch in Uhlands
Dichtung, die französische, mit Einschlufs der provenzalischen, den
ersten Rang ein. Mit ihr hat sich Uhland in Paris aufs Liebevollste be-
schäftigt, doch sind (s. u.) auch schon vor 1810 Gedichte aus ihrem
Kreise entstanden. Eine ganz unmittelbar aus den Pariser Studien heraus-
gewachsene Frucht sind jedenfalls die Übersetzungen, bezw. Be-
arbeitungen altfranzösischer Erzählungen, welche in der Gedichtsammlung
S. 411 f. unter der Bezeichnung „Altfranzösische Gedichte" vereinigt sind:
Graf Richard Ohnefurcht (19./21. Oktober 1810), nach dem Roman
de Rou; Legende (22. Oktober 1810), nach einer Pariser Handschrift;
Roland und Alda (28. Februar 181 1), nur die fünf ersten Tiraden von
den als Beilage zum Aufsatz über das altfranzösische Epos (s. o.) er-
schienenen Mitteilungen aus „Gerhard von Viane";*) endlich, nach einem
französischen Volksliede, Die Königstochter (26. September 1810).
*) Genauere Angaben Über Uhlands Quellen mufs ich im folgenden schon des Raums
wegen unterlassen, hätte aber darüber auch nichts Neues zu bieten. Ich verweise auf
Dederichs oben besprochenes Werk, auf Düntzers Erläuterungen zu Uhlands Balladen und
Romanzen und auf Eichhol tz' leider unvollendet gebliebene Studien.
**) Diese fünf Tiraden standen schon in Kemers Almanach für 18 12 und wurden dann für
den Wiederabdruck in Fouqu^*s Musen „einer nochmaligen Durchsicht unterworfen.** Die
Form aber, unter der wir dieselben in der Gedichtsammlung lesen, weicht davon abermals
an mehreren Stellen ab.
Uhlands Beziehungen lu ausländischen Litteraturen. 383
Daran reihe ich zwei Balladen, die aus dem vorhin genannten Roman
de Rou geflossen sind: Die Jagd von Winchester (lo. November
1810; Gedichte S. 304 £) und Taillefer (10. — 12. Dezember 1812,
S. 349 fF.). Wenn Scherer von dem letzteren sagt, dafs sich in ihm
Uhlands ,, bestes Können zusammengefafst habe^', so nennt es Eichholtz
„die reifste Frucht von Uhlands altfranzösischen Studien und überhaupt
eins seiner besten Gedichte"; es ist in der That eine Ballade von ganz
entzückender Frische, in der sich die hellaufjubelnde Kampfeslust glänzend
widerspiegelt, in ihren unregelmäfsigen springenden Rhythmen wie der
Galopp einer dahinsprengenden Heldenschaar ertönend.
Die Sage von Karl dem Grofsen, welcher „Roland und Alda"
entnommen ist, hat Uhland auch zu eigenen Gedichten angeregt, welche
wohl die bekanntesten unter seinen französischen Balladen sein dürften.
Am 17. und 18. Dezember 1808 entstand Klein Roland (Ged. S. 333 ff.).
Nach Uhlands eigener Angabe entnahm er den StoflF aus einer 1713 er-
schienenen deutschen Übersetzung der spanischen „Noches de inviemo";*)
eine im wesentlichen gleiche Darstellung der Geschichte findet sich aber
schon in den Reali di Francia.**) Roland Schildträger (Ged. S. 339 ff.)
ist frei erfunden, gedichtet am 10. September 181 1. Ebenso ist König
Karls Meerfahrt (Ged. S. 346 ff., gedichtet 31. Januar 1812) freie Er-
findung Uhlands; nur die Situation der Fahrt übers Meer ist der be-
kannten Sage von Karls Zug nach dem heiligen . Grab entnommen.
Diesen Zug wollte Uhland auch zum Gegenstand eines in der Art von
Tiecks Stücken echt romantisch gedachten, daher auch wohl in die
tieckisierende Periode des Dichters fallenden Dramas machen: Karl der
Grofse in Jerusalem (Keller, S. 313 ff.) von welchem ein Fragment
in mittelalterlichen Reimpaaren erhalten ist ***) Eine weitere dramatische
*) Diese Quelle giebt Uhland selbst in einem Briefe an Alex. Kaufmann an; s. Eich-
holtz oder Herrigs Archiv XXXV, 476 f., wo der ganze Brief abgedruckt ist.
**) Wenn Siegmund Levy im Archiv für Litteraturgeschichte XII, 481 f., Uhlands
Gedicht aus der Szene II, 7 in Shakespeare*s As you like it ableiten will, so ist das, von
Uhlands eigenem Zeugnis abgesehen, schon deshalb unmöglich, weil die Darstellung bei
Shakespeare von der, wie sie in Noches, Reali und Uhlands Gedicht wesentlich gleich er-
scheint, abweicht. Vielmehr hat Shakespeare die Szene, wie der von ihm gewählte Name
Orlando beweist, selbst aus der Karlssage entnommen und für seine Zwecke modifiziert.
***) In diesem Fragment findet sich, an den Rand geschrieben, der Schlufs der
«Schwäbischen Kunde". Dieses Gedicht ist am 6. Dezember 18 14 gedichtet. Nach einer
kleinen Abweichung im Text mufs man wohl schliefsen, dafs der Eintrag in das dramatische
Fragment vor die Abfassung des Gedichtes, so wie es in der Sammlung steht, fallen müsse;
wie lange vorher, kann aber niemand wissen. Ich möchte daher die von Keller, S. 313, mit
86*
n
384 Hermann Fischer.
oder doch dialogische Behandlung altfranzösischer (bezw. normannischer)
StofFwelt ist der liebliche Normannische Brauch (Ged. S- 170 ff.;
Keller, S. 311 f.); er wurde am 15. Juni 18 14 entworfen und angefangen,
am 14./ 15» Februar 181 5 ausgeführt. Das Gedicht beruht auf keiner
speziellen Sage, sondern scheint frei erfunden; den Brauch, dafs der Gast
seinen Wirt durch eine Erzählung belohnen mufs, konnte Uhland aus
mehr als einem französischen Fabliau entnehmen.
Bis jetzt haben wir uns durchaus in der Welt der von altertümlicher
Einfachheit, reckenhafter Frische und sinnigem Gemüt beseelten franzö^
sischen Heldensage bewegt Aber auch die glänzende Ritter-Romantik
des provenzalischen Troubadours hat Uhland zu Gedichten gereizt.
Hier ist schon das Original weit von der alten Naturwüchsigkeit entfernt,
konventionell und stilisiert. So hat auch Uhland, was sonst, von den
blofsen Übersetzungen abgesehen, nicht seine Sitte war, sich mehr dem
zierlichen, galanten Tone jener höfischen Dichtung bequemt. Wenigstens
ist dies der Fall in dem Cyklus Sängerliebe (Ged. S. 266 ff.; 1812
und 1814 gedichtet), dessen meiste Bestandteile eben den Kreisen der
Troubadours entnommen sind: Rüde 11 o (13. Juni 181 2 — 5. August 181 4),
Durand (27. Juli 1814) und der Castellan von Coucy (17. Juni 1812)*)
Die Geschichte des Castellans von Coucy, der sterbend sein Herz an
seine Geliebte schickt, hat Uhland auch in dem Sonett Vermächtnis
einem ^ vielleicht** angegebene Jahreszahl 1814 nur als terminus ad quem ansehen^ denn die
Schlufsverse der Schwäbischen Kunde sind ja auch erst nach der Niederschrift des Qbrigen
Fragments beigeschrieben. Frühjahr 1809 wurde Uhlands Nachspiel zu Kemers Eginhart verfafst
(Keller, S. 184 ff.)« welches, allerdings in Prosa, auch in ähnlicher, nur noch mehr humoristisch
gefärbter Tieckischer Art gedichtet ist. Ich erinnere femer an das humoristische ^Ständ-
chen**, ursprünglich zu dem Drama „Tamlan und Jannet" gehörig (Keller, S. 263 ff.), und
an die mit Kemer gemeinsam verfafste Posse „Der Bär" (Keller, S. 193 ff.), welche beide
gleichfalls vom Jahr 1809 sind. Die andern romantischen Manifeste in Tiecks Art (s. o.)
sind aus der Zeh zwischen 1809 und 1814, ^^^ damit dürften die Grenzbestimmungen für
das Fragment ^Karl der Grofse in Jerusalem" gegeben sein. (Das Versmafs dieses
Fragments hat Uhland auch noch zwei Jahre später dramatisch verwendet, in den Frag-
menten der „Weiber von Weinsberg", Keller, S. 359 ff.)
*) Auiser diesen gehören überhaupt die Romanzen, welche Ged. S. 253 — 283 stehen,
nach Versmafs und Stil durchaus zusammen : Der Sieger, der nächtliche Ritter, der castilische
Ritter, Sanct Georgs Ritter, Romanze vom kleinen Däumling, Romanze vom Rezensenten,
Ritter Paris, der Räuber, Sängerliebe, Liebesklagen ; in der Form unterscheiden sie sich
nur dadurch, dafs die ersten fiinf Assonanzen, und zwar nach Art der afr. Tiraden durch
das ganze Gedicht hindurch, die andern strophisch wechselnde Reime haben. Sie alle sind
aus den Jahren 1809 — 181 5, also wiederum, wozu Form und Inhalt stimmt, aus der Tieckischen
Periode Uhlands.
Uhlands Beziehungen zu ausländischen Litteraturen. 385
(23. August 181 1; Ged. S. 125) symbolisch verwendet Zweifellos ist
freilich, dafs Uhland auch diesen Stoffen ein gut Teil eigenen Ernstes und
bedeutender Geistestiefe zu verleihen gewufst hat. Aber unendlich höher
mufs doch jedem Leser die Blüte der Troubadourromanzen Uhlands,
Bertran de Born (Gedichte S. 284 ff.), stehen. Das Lob dieses Ge-
dichtes ist schon oft genug gesungen worden; ich möchte nur ähnlich
wie bei „Ver sacrum" fragen: wie kommt es, dafs dieses Gedicht uns
so weitaus bedeutender erscheint und so viel tiefer ergreift als jene?
Die Antwort ist die nämliche: weil sein treibendes, inneres Motiv unab-
hängig ist von jeder zeitlich und modisch beschränkten Kultur.
Es sei mir aber gestattet, an dieses letztgenannte Gedicht noch eine
stilistische Bemerkung anzuknüpfen. Bertran de Born wurde im Jahre
1829 gedichtet. Zu derselben Zeit (s. u.) „der Waller". Beide sind iii
dem nämlichen Versmafs gedichtet wie „Sängerliebe" und die damit nächst-
verwandten Gedichte: trochäische Tetrapodien, die ungeraden Zeilen reim-
los, die geraden gereimt; nur dafs dieses Versmafs in „Sängerliebe" etc.
je zwei Reimzeilen hat, in Bertran de Born und Waller je vier mit dem-
selben Reim, wodurch das an sich l^cht und bedeutungslos dahinfliefsende
Versmafs zu einer unleugbaren lapidaren Grofsartigkeit, dem tieferen
geistigen Gehalt der beiden Gedichte entsprechend, gesteigert ist. Es
ist wohl kein Zufall, dafs Uhland, als er nach anderthalb Jahrzehnten
wieder zum ersten (und letzten) Mal einen Stoff aus der Geschichte der
Troubadours bearbeitete, sich auch wieder des nämlichen, sonst nicht
von ihm gebrauchten Versmafses bedient hat — den mutmafslichen Ursprung
dieses Versmafses werde ich nachher zu erörtern haben — ; es wird um
so weniger ein Zufall sein, als Uhland in dem nämlichen Jahr 1829 manche
andere Gegenstände in anderen Formen behandelt hat. Der Waller fallt
jedenfalls etwas später, er ist am 17. Dezember 1829 gedichtet, während
Bertran de Born, von dem kein bestimmtes Datum der Abfassung vor-
liegt, schon am 26. November veröffentlicht wurde. Von einer näheren
Verwandtschaft des Stoffes kann hier allerdings nicht die Rede sein ; das
einmal mit Glanz verwendete Metrum konnte auch ohne eine solche zur
baldigen Widerverwendung reizen. Ich werde aber sofort auszufuhren
haben, dafs der Grund, warum dieselbe metrische Form gewählt wurde,
doch noch etwas tiefer zu suchen sein dürfte.
Von den Troubadour-Romanzen ist nur ein kleiner Schritt nach
Spanien. Wie die Kunst der Troubadours auch südlich der Pyrenäen
geblüht hat, so schliefsen sich Uhlands spanische Gedichte in der Form
ganz genau an die aus dem provenzalischen Stoffkreise an. Der castilische
386 Hermann Fischer.
Ritter (16./17. März 1810; Ged. S. 255 flF.), Sanct Georgs Ritter
(5. Juli 181 1; S. 257 ff.) und die in der Gedichtsammlung weggelassenen
Gedichte Casilde und Sanct Ildefons, letzteres eine nach Wort und
Versmafs getreue Übersetzung aus dem König Wamba des Lope, beide
in Kerners Almanach auf 181 2 erschienen, also spätestens 181 1 gedichtet,
haben das nämliche Versmafs wie „Sängerliebe", nur statt der Reime
Assonanzen; während Don Massias (14. Juni 1812; Ged. S. 276 f.), der
einen Teil von „Sängerliebe" bildet, und der Student (Nr. i der „Liebes-
klagen," verfafst 181 4; Ged. S. 280 ff.) genau gereimt sind. Fünfzehn
Jahre später kam Uhland wider auf dasselbe Versmafs zurück, um es,
wie oben gesagt wurde, modifiziert und in der Wirkung verstärkt, im
Waller (17. Dezember 1829; Ged. S. 286 ff.) zu verwenden, der zwar
nur äufserlich nach Spanien verlegt ist, während sein geistiger Kern, den
Katholizismus freilich unbedingt voraussetzend, in jedem andern Lande
gleichermafsen zu denken wäre, was abermals, wie schon in zwei andern
Fällen, mit als ein Grund der tieferen Bedeutung und eminenten Wirkung
dieses Gedichtes gelten darf. Noch fünf Jahre später ist aber Uhland in
der schon oben erwähnten Bidassombrücke (15./16. März 1834; Ged.
S. 289 ff.) zu einem spanischen Gegenstand und abermals zu der alten
metrischen Form (und zwar in der früheren Weise ohne die Modifikation
in Bertran de Born und Waller) zurückgekehrt.
Solche Übereinstimmung der Form in Gedichten, die inhaltlich zum
Teil weit auseinander liegen, aber den — südfranzösischen oder spanischen
— Schauplatz mit einander gemein haben, kann kein Zufall sein. In der
That ist die Entstehung dieser Form nicht so schwer zu erklären. Man
mufs beachten, dafs die ältesten der Gedichte, die hier in Betracht kommen,
zum Teil reinen Reim, zum Teil blofse Assonanz haben und dafs erst
nach 181 2 der reine Reim durchaus Regel wird.*) Die Assonanzen weisen
auf Spanien, gerade wie das Metrum, das Uhland ja in einem der ge-
nannten Gedichte dem spanischen Original getreu nachgebildet hat. Man
mufs dazu nehmen, dafs gerade die ältesten jener Gedichte, soweit sie
einen bestimmten Schauplatz haben, in Spanien spielen, und so ist die An-
nahme wohl zweifellos, dafs das Metrum von Uhland aus der spanischen
Poesie (bezw. dem, was er durch Übersetzungen, Aufsätze, davon kennen
lernte, denn er hat erst in Paris bei Immanuel Bekker gründlich spanisch
*) n Roland und Alda** (s. o.), aus derselben Zeit, etwa 181 1, hat auch Assonanzen,
statt der Reime des Originals, um des geringeren Reimvorrats der deutschen Sprache willen.
Uhlands Beziehungen 2u ausländischen Litteraturen. 387
getrieben) entnommen wurde ; er hat es dann auf die verwandten proven-
zalischen Stoffe übertragen,*) und als er späterhin wieder ein paar mal auf
spanische und provenzalische Gegenstände verfiel, bot es sich ihm durch
eine begreifliche Ideenverbindimg wie von selbst dar.
Noch ein paar andere Behandlungen spanischer Gegenstände sind
namhaft zu machen.
Im Taschenbuch für Damen auf 1820 (S. 200 f.) stand von Uhland
die Übersetzung eines Liebesgedichtes von Juan Rodriguez de la Camara
(oder del Padrön), einem Freund imd Schüler des von Uhland besungenen
DonMassias; das damals noch ungedruckte Original hatte Uhland wohl
aus Paris mitgebracht, wo es sich in drei Handschriften findet (falls es
ihm nicht von J. Bekker mitgeteilt worden ist). Caroline Michaelis de
Vasconcellos, die gelehrte Hispanologin, hat die vortreffliche Über-
setzung nebst dem Original im Archiv für Litteraturgeschichte abdrucken
lassen (XIV, 189 f.).
Auch ein paar dramatische Stoffe hat Uhland aus dem Spanischen
gezogen. Eine bedeutende poetische Kraft zeigt sich in dem Entwurf und den
Fragmenten von Bernardo del Carpio (Keller, S. 427 ff.), welche aus
den Jahren 181 9 und, zum kleineren Teil, 1822 stammen. Während einige
Szenen prosaisch, andere im Blankvers entworfen sind, zeigt eine Szene
abermals das wohlbekannte spanische Versmafs und zwar gereimt, wie
„Sängerliebe". Auch freien dramatischen Erfindungen hat Uhland den
spanischen Schauplatz gegeben. In erster Linie ist die schon oben
erwähnte, in Gemeinschaft mit Kemer im Jahr 1809 gedichtete Posse
Der Bär (Keller, S. 193 ff.) zu nennen. Es ist nicht möglich, den Anteil
beider Dichter an diesem humoristischen Dramolet, das mit Kemers
Eginhart und Uhlands Nachspiel dazu aus derselben übermütigen Roman-
tikerlaune hervorgegangen ist, genau zu sondern. Nach dem Briefe
Uhlands an Kemer vom 10. Juni 1809 (Notter, Uhland, S. 84; Keller,
S. 193 f.) wäre die Prosa Kerners Anteil, die Gesänge Uhlands. Wenn
sich das auch nicht mit aller Bestimmtheit in solcher Weite abgrenzen
läfst, so glaube ich jedenfalls so viel annehmen zu dürfen, dafs die Arien
mindestens zum gröfsern Teil von Uhland sind, vielleicht aber auch alle.
Es geht das nicht nur aus Uhlands brieflicher Aufserung hervor, sondern
auch aus dem Metrum. Dieses ist nämlich bei den meisten Arien wieder
*) Dais er in den Jahren 1809 — 18 15 dasselbe Versmals, dessen er sich damals öfters
bediente, auch auf andere Gegenstände übertrug, die für dasselbe schicklich dünkten, ist
natürlich; früher und später findet sich von solcher Verwendung nichts.
388 Hermann Fischer.
das schon mehrfach besprochene mit reinen Reimen, manchmal auch
leicht modifiziert; z. B. so, dafs auch die ungraden Zeilen gereimt sind.
Ich habe übrigens nichts dagegen, alles Lyrische als Uhlands Eigentum
anzusehen.***) Leider ist alles, was man über diesen Gegenstand sagen
mag, blofse Vermutung, die durch die Mitteilung aus dem im Besitz von
Kerners Sohn befindlichen Originalmanuskript der beiden Dichter jeden
Augenblick bestätigt oder auch umgestürzt werden kann.
Endlich ist auch noch der Schauplatz des Lustpiels Die Serenade
(1809; Keller, S. 256 ff.), welches nur bis zu einem Szenarium und einem
kleinen Wechselgesang gediehen ist, von Uhland nach Spanien ver-
legt worden.
Nur wenig hat sich Uhland mit italienischen Stoffen zu thun
gemacht. Er selbst war nie in Italien, er hat, so oft ihn seine Wander-
lust in die Alpen führte, die Pässe nach Süden nie überschritten; »dem
Lande blieb ich ferne, wo die Orangen blühn", diese Worte der
„Wanderung** hat er zeidebens wahr gemacht Kunstschätze zogen
ihn nicht an; neben der blofsen Lust zu reisen haben ihn immer
nur seine Studien und der Wunsch nach näherer Kenntnis volks-
tümlicher Art an bestimmte Orte getrieben. So ist*s auch in litte-
rarischer Beziehung. Die eigentlich mittelalterliche Dichtung hat in
Italien nur Nebenzweige von kurzer Lebensdauer getrieben. Lange
Zeit hat sich* die italienische Lyrik der provenzalischen, das Epos der
fi-anzösischen Sprache bedient. Die Antike war südlich der Alpen nie völlig
erloschen; schon im 13. Jahrhundert wurde die theologisch-mystische Richtung
lebendig, die in Dante sofort ihren Klassiker erzeugte, und nicht lang
nach diesem begann mit Petrarka die alles beherrschende Renaissance.
Da war für Uhlands Art nicht viel zu holen. Wenn er an Petrarka
ein sinnvolles Sonett richtet (3. September 181 1; Ged. S. 126), so ist es
natürlich der Sänger der Lauragedichte, nicht der Humanist, den er
anredet. Gegen Dante hatte Uhland eine tiefe Verehrung. Aber wenn
er ihn im Gedicht besingt (Dante, Nr. 5 der „Sängerliebe", beendigt
26. Juli 1814; Ged. S. 277 ff.), so singt er die aus der irdischen heraus-
gewachsene himmlische Liebe, die dem Dichter seine hohen Gesänge
diktiert hat, nicht den Himmel, Erde und Hölle umspannenden Inhalt
dieser Gesänge.
*) Vielleicht noch mehr.' In den nRheinblQten"^ auf 1822 war eine Szene abgedruckt
und Kerners Name angegeben. Kerner erklärte dagegen im Morgenblatt, dafs die Szene
nicht von ihm sei. Dieselbe enthält Prosaisches und Lyrisches.
Uhlands Beziehungen zu ausländischen Litteraturen. 389
Aus Dante hat Uhland auch einen Dramenstoff genommen, Francesca
da Rimino (Keller, S. 88 ff.); die Tragödie wurde ihm von Seckendorff
1807 empfohlen und 1807 — 1809 in Pausen bearbeitet. Neben einem
ausfuhrlichen Plan ist auch einzelnes schon wörtlich entworfen, in Blank-
versen, deren Ausdrucksweise mir öfters an Goethes Tasso vernehmlich
anzuklingen scheint.
Man kann sich wundem, dafs Uhland nur selten nach England
hinübergegriffen hat, dessen Vorzeit einerseits der deutsch -nordischen,
andererseits der französischen doch so nahe steht Ein wenig häufiger
sind englische Stoffe allerdings bei ihm als italienische; und es ist
wenigstens den lyrischen Gedichten dieses Kreises ein gewisser Familien-
zug eigen. Die skandinavischen zeigten eine ernste, düstere Färbung,
die französichen frische Männlichkeit und Heldenhaftigkeit, die proven-
zalischen, spanischen und italienischen zumeist erotische Gegenstände und
öfters eine höfisch-galante Art der Behandlung; so ist den englischen
Balladen Uhlands das zauber-, feen-, auch elfenhafte als Grundzug eigen.
Die ^Jagd von Winchester" kann man ausnehmen, obwohl auch sie mit
einem Traum beginnt; denn sie spielt zwar in England, ist aber aus alt-
französischer Poesie entnommen und daher oben besprochen worden.
Aber die andern englischen Balladen, Harald (10. März 181 1; Ged.
S. 306 ff.), Merlin der Wilde (10. — 12. Dezember 1829; Ged. S. 310 ff.)
und Das Glück von Edenhall (16. Juli 1834; Ged. S. 354 ff.), haben
alle mit dämonischen Mächten zu thun; und wenn dieser Gedichte nur
drei sind, so gehören sie dafür sämdich zu den ausgezeichneten
Leistungen Uhlands. „Merlin" habe ich hierher gezogen, weil die
Geburt dieses Zauberers von der Sage nach Britannien verlegt wird.*)
„Harald" aber gehört sicher nach England; denn (wie Keller, S. 264
angiebt) Uhland hat diese Ballade für das damals von ihm geplante
Drama Tamlan und Jannet (1809 — 181 1; Keller, S. 263 ff.) bestimmt,
dessen Stoff er eine» von Conz übersetzten englischen Ballade entnommen
hat. Es ist von diesem Drama nur wenig zustande gekommen; ein Stück
davon hat, wie bereits erwähnt wurde, Uhland in die Gedichtsammlung
*) Dieselbe ist dann freilich allg^emeines Gut geworden, wie z. B. die von Fortunatus, deren
Bearbeitung durch Uhland ich im Zusammenhang dieser Darstellung gar nicht erwähnt habe ;
es ist ohnehin kein Grund zu finden, warum Uhland nicht aus dem deutschen Volksbuch
von Fortunat geschöpft haben sollte, das er im Jahr 1809 gelegentlich erwähnt (Mayer,
Uhland, I, 120.).
890 Hermann Fischer.
aufgenommen, unter dem Titel „Das Ständchen" (Ged. S. 164 ff.). Ein
englischer, genauer schottischer Dramenstoff ist auch Der eifersüchtige
König (Keller, S. 309 f.), den Uhland am 21. Januar 1 810 gegen Kemer
erwähnt; von einer Ausfuhrung hat sich nichts gefunden. Endlich darf
auch noch der Stellen aus- Thomas Kyd's „Spanish Tragedy" gedacht
werden, welche Uhland aus Bouterwecks Geschichte der Poesie über-
setzt und (1809 — 18 10) ^" Kerner geschickt hat (Keller, S. 478.)
Wir haben Uhland durch einen sehr beträchtlichen Teil seines
poetischen Schaffens begleitet. Nehmen die Gedichte mit ausländischen
Stoffen in der Sammlung der Gedichte zusammen etwa ein Achtel ein,
so steigt die Verhältniszahl in den Balladen und Romanzen auf ein
Viertel, in den Dramen und Dramen-Entwürfen auf ein starkes Drittel.
Der Zeit nach erstrecken sie sich über die ganze Zeit von Uhlands
poetischer Produktion, von 1804 — 1834, nach welchem Jahr wir über-
haupt kaum noch ein Dutzend Gedichte von Uhland haben; weitaus die
meisten, zwei Drittel von allen, fallen in jene Jahre 1809 — 1814^ in
welchen Uhland sich so gern in romantischen Formen und Stoffen nach
der Weise Tiecks bewegte, in welche überdies der Aufenthalt nach Paris
mit seinen Wirkungen fallt.*) Die skandinavischen Stoffe eröffnen den
Reigen, dann treten, nach einer Pause von zwei Jahren, die anderen
Nationen ziemlich zu gleicher Zeit auf den Schauplatz. Den breitesten
Raum nimmt Frankreich ein; um den Preis der Vorzüglichkeit aber
wollen wir keinen Wettkampf veranstalten. Mehrere der vorzüglichsten
und reifsten Gedichte Uhlands, zumal unter seinen Balladen, wie
Ver Sacrum, Taillefer, Bertran de Born, Der Waller, haben ausländische
Gegenstände und können sich mit Fug auf dieselbe Linie der Trefflich-
keit mit allen anderen stellen.
Man fragt aber mit Recht nach zwei Dingen: bleibt ein Dichter, der
fremde Stoffe behandelt, dem Geist ihrer Völker und Zeiten treu; und
auf der anderen Seite: vermag er es, die Klippen des Antiquarischen,
Anfremdenden, Akademisch -Gelehrten zu umsegeln, aus dem fremden
Stoff ein uns von selbst anmutendes Bild zu gestalten?
*) Von Uhlands gesamter Poesie fällt in jene allerdings auch sonst besonders reichen
Jahre doch nicht ganz die Hälfte.
Uhlands Beziehungen zu ausländischen Litteraturen. 391
Beides darf kecklich bejaht werden. Nur in einem Teil seiner aus-
ländischen Gedichte — und trotz vieles Trefflichen nicht in dem vorzüg-
lichsten derselben — hat Uhland fremde Formen und Konventionen
angenommen oder angedeutet; auch diese Gedichte sind mit eigener
Empfindung getränkt und anziehend auch ohne ihren stofflich-stylistischen
Reiz. In seinem Besten hat er die Nachahmung fremder Formen ver-
schmäht, aber den Gehalt treu zur Darstellung gebracht. Er hat kaum
je Stoffe gewählt, die nicht unmittelbar, ohne antiquarische Kenntnisse
oder Liebhabereien, zum allgemeinen Geschmack und Gefühl sprechen,
und die höchste Vollendung hat er da erreicht, wo der National- und
Zeitgehalt mit dem rein Menschlichen, voraussetzungslos Schönen und
Erhabenen zusammenfallt. So läuft mir diese Darstellung von selbst in
einen zu der Säkularfeier stimmenden Ton aus.*)
Stuttgart.
*) In diesem Zusammenhang^e ist wohl daran zu erinnern, dafs der geehrte Verfasser
vorstehenden Aufsatzes selbst einen grö&eren Beitrag zur neuesten Uhland-Litteratur soeben
veröffentlicht hat : Ludwig Uhland. Eine Studie zu seiner Säkularfeier von Hermann Fischer.
Stuttgart 1887. [Anm. d. Red.]
-•••-
Zwei Kapitel aus der Geschichte der Don Juan-Sage,
Von
Karl Engel.*)
I. Die Grundlage der Don Juan-Sage.
Die Don Juan-Sage stammt aus Spanien und ist den Deutschen durch
Mozarts grofse Tondichtung näher bekannt geworden, in gleicher
Weise wie dies bei der Faustsage durch Goethe geschah. In ihrer ge-
heimnisvollen Schauerlichkeit stimmen beide Sagen überein, in ihrer ur-
sprünglichen Veranlassung sind sie Seiten- oder Gegenstücke. Bei Faust
überschreitet mafsloses Forschen, unbefriedigte Begier nach Erkenntnis,
bei Don Juan das mafslose Streben nach Sinnengenufs die der Mensch-
heit vorgeschriebenen Grenzen und fuhrt zu Sünde und Verbrechen, bei
diesem durch leibliches, bei Faust durch geistiges Überheben. Beide
umschliefsen somit in ihrer Gesamtheit den ganzen Kreis des menschlichen
Irrens und Freveins.
Beide Sagen stehen unter einander in so naher Verwandtschaft, dafs
eine Vergleichung derselben sehr nahe liegt und von verschiedenen Schrift-
stellern häufig versucht worden ist. Grabbe und Vogt haben sie sogar
zu einem einheitlichen Ganzen verschmolzen. Hieraus scheint sich der
vielfach verbreitete Irrtum zu erklären, als seien beide Sagen aus ein und
derselben Wurzel entsprossen. Mögen beide Sagen wegen geistiger
Verwandtschaft ihres Gegenstandes sich auch gegenseitig beeinflufst haben,
so läfst sich doch nachweisen, dafs die Träger ihrer Namen zu sehr ver-
*) Die hier mitgeteilten Abschnitte sind Fragmente aus einem gröfserem Werke Karl
Engels „Die Don Juan-Sage auf der Bühne", welches als Festschrift zur hundertjährigen
Feier der ersten Auffuhrung von Mozarts Don Juan (29. Oktober 1787) noch in diesem
Herbste erscheinen wird. Engel giebt in seinem Buche nicht nur eine Geschichte der Don
Juan-Sage, sondern auch eine umfassende ^^bibliographische Zusammenstellung der Don Juan
Litteratur", eine Parallelarbeit zu seiner trefflichen „Zusammenstellung der Faustbücher vom
16. Jahrhundert bis Mitte 1884" (Oldenburg 1885). [Anm. d. Red.]
Zwei Kapitel aus der Geschichte der Don Juan-Sage. 393
schiedenen Zeiten und unter sehr verschiedenen Verhältnissen als geschicht-
liche Personen gelebt haben.
Wie jede Sage, so hat auch die von Don Juan eine geschichdiche
Grundlage und aus glaubwürdigen Forschungen lassen sich folgende
Thatsachen aus dem Leben Don Juans zusammenstellen.
Don Juan lebte im vierzehnten Jahrhundert, zur Zeit Peters des
Grausamen (Königs von Kastilien), also ungefähr zweihundert Jahre früher
wie Faust, der bekanntlich im sechszehnten Jahrhundert lebte.
Don Juan war in Sevilla geboren und stammte aus dem ange-
sehenen Hidalgogeschlecht der Tenorio. Sein Vater, Alonzo Jufre
Tenorio, war ein berühmter Admiral (unter Alfons XI., König von
Kastilien), welcher sich im Kampfe gegen die Mauren grofsen Rühm er-
warb. Er fiel als Held in einer Seeschlacht gegen die Mauren, in der
Nähe von Trafalgar, mit dem Schwerte in der einen, seine Flagge in der
andern Hand und gab, nachdem er bereits beide Beine verloren, fechtend
seinen Geist auf. Er hinterliefs von seiner Gemahlin El vir a mehrere
Kinder, davon der jüngste Juan genannt, mit König Peter dem Grau-
samen, dessen Jugendspielgenosse er gewesen, ziemlich in gleichen
Jahren und dessen vertrauter Freund war.
König Peter der Grausame, gewöhnlich schlichtweg Don Pedro
genannt, zweiter Sohn des Königs Alfons XL, welcher 1350 den kastilischen
Tron bestieg, ernannte Don Juans ältesten Bruder Alonzo Jufre zum
Alguacil des Tores von Visagra in Toledo.*) Garcia, der andere
Bruder Don Juans, hatte die Partei des rebellischen Halbbruders des
Königs, Heinrich von Trastamara, ergriffen und fiel der Rache Don
Pedros anheim. Therese, die Schwester Don Juans, bewohnte den
Familienpalast in Sevilla, der den Tenorios bei der Eroberung der Stadt
aus den Händen der Mauren verliehen worden war. Don Juan, dessen
übermütiger wilder Sinn zu dem des Don Pedro pafste, ward dessen
Liebling, wozu noch der Umstand kam, dafs Don Juan mit der berühmten
Maria Padilla, der Geliebten des Königs, nahe verwandt war. Don
Pedro erhob den Don Juan de Tenorio zum Ritter der Banda**) und
ernannte ihn zu seinem Ober-Kellermeister. Im vertrautesten Umgang
mit dem lasterhaften Könige, wetteiferte Don Juan mit ihm in allen
erdenklichen Ausschweifungen, so dafs sein Name in Sevilla und Um-
*) Alguacil, im Spanischen Titel des mit der Ausübung der Justiz Betrauten.
**) Cavalieros de la Banda, Ritter von der roten Binde, einer der ältesten Ritter-
orden, gestiftet von Alfons XI. 1330.
394 Karl Engel.
gegend zum Gegenstande der abenteuerlichsten und schaudenrollsten Er-
zählungen ward.
Don Juan wollte in einer Nacht die Tochter des Komthur Gonzalo
de Ulloa gewaltsam entfuhren, als dieser ihm entgegentrat, tötete er
ihn. Die Leiche ward im Kloster San Franzisko in der Grabkapelle des
Hauses beigesetzt. Die rachsüchtigen Hinterbliebenen konnten den über-
mütigen Mörder, den Stellung und Geburt schützten, nicht vor dem
Richter zur Verantwortung ziehen. Sie lockten ihn daher durch eine
Liebesbotschaft zu einer nächtlichen Zusammenkunft in das Kloster, aus
dem er jedoch nicht wieder zurückkehrte und wahrscheinlich heimlich
ermordet wurde. Die Franziskaner sprengten das Gerücht aus, Don Juan
habe die Statue des Komthurs in der Kapelle insultiert, die marmorne
Gestalt habe sich plötzlich geregt, die Erde sich aufgethan, und der
Frevler sei von der Statue in die Hölle gestürzt worden. Kein Spanier
zweifelte daran und das Wunder wurde von der abergläubischen Menge
anerkannt.
Die Kapelle und die Statue des Komthurs wurden etwa um die
Mitte des achtzehnten Jahrhunderts durch eine Feuersbrunst zerstört.
Noch jetzt steht in Sevilla in der Nähe der alten Promenade (Alameda
vieja), ein Rest der Statue, woran der Verbrecher seinen frevelhaften
Mutwillen zu seinem eigenen Verderben ausgelassen haben soll. Im Munde
des Volks heilst sie noch jetzt „der steinerne Gast.**
Der Familienpalast der Tenorios, worin die Schwester Don Juans
(Therese) bis zum Jahre 1369 wohnte, wurde vom König den Nonnen
von St. Leander übergeben. Das daraus entstandene Kloster steht
heute noch.
Das Wappen der Tenorios, wie man es in einer alten Handschrift,
welche ein Verzeichnis der Ritter der Banda enthält, findet, war ein
springender roter Löwe in goldenem Felde, durch das drei gewürfelte
Balken, blau mit Silber, gingen.
Diese geschichtlichen Nachrichten über die Person des Don Juan
wie der Familie Tenorio, sollen sich, wie verschiedene Schriftsteller mit-
teilen, in spanischen Chroniken befinden.
Noch heutigen Tages zeigt der Sevillaner den Fremden das Haus
des Don Juan, wobei erzählt wird, wie derselbe ein Wüstling und
Mädchenverfuhrer ersten Ranges gewesen sei, und wie ihn zur Strafe
der Teufel geholt habe. Auch erzählt man, dafs Don Juan eines Abends
auf dem linken Ufer des Guadalquivir spazieren gegangen sei und in
seiner Weinlaune Feuer von einem auf dem rechten Ufer gehenden und
Zwei Kapitel aus der Geschichte der Don Juan-Sage. 395
eine Cigarre rauchenden Manne verlangt habe, dafs dann der Arm des
Rauchers, der Niemand anders, als der Teufel selbst gewesen, sich bis über
den ganzen Flufs hinübergestreckt und die brennende Cigarre Don Juan
präsentiert habe, der dann seine eigene, ohne nur mit einem Auge zu
zucken, und ohne im mindesten diese Warnung zu Herzen zu nehmen —
so arg sei er verstockt und verhärtet gewesen — daran angezündet habe.
Auf den Strafsen Sevillas werden noch heute fliegende Blätter ver-
kauft, welche die Sage von Don Juan in Romanzenform erzählen.
Das Haus, welches dem Fremden als dasjenige bezeichnet wird,
welches Don Juan bewohnt haben soll, befindet sich in einem seitab
gelegenen Winkel des Marktplatzes (Plaza de la feria), dicht hinter dem
Chorende der Kirche omnium sanctorum, ein mehr zierliches denn grofses
Haus mit einem halb arabischen, halb germanischen Doppelfenster über
dem Balkon. Dasselbe gehört jetzt dem gräflichen Geschlechte Mon-
tijo von Theba.
In spanischen Reiseberichten findet sich manche Sage über Don Juan,
die, im Volke festgewurzelt, auch eigentümliche .Gebräuche hervor-
gerufen hat. So erzählt ein Reisender io seinen Briefen aus Madrid,
(S. Lewaids Europa 1837, ß^* ^^» S* ^5^) folgendes: „Bekanndich ist der
selige Don Juan, Mozarts, Molieres und Byrons Don Juan, von rein
spanischem Geblüt, auch scheint es, dafs man sich seiner in seinem
Vaterlande noch recht gut erinnert. Am Fastnachtsdienstag nämlich
wird dieser Don Juan von Kopf bis zu den Füfsen weifs gekleidet, mit dem
alten spanischen Mantel umgethan, das Pederbarett auf dem Haupte und
auf einem weifsen Kissen knieend, in feierlichem Zuge von vier Männern
auf dem Platze der Stiergefechte herumgetragen und spaziert auch auf
diese Weise durch den Prado. Es scheint fast, als habe der alte Sünder
das Mafs seiner Bufse noch nicht ganz erfüllt, und müsse durch diese
nachträgliche Strafe den unauslöschlichen Skandal seines Lebens büfsen/'
„Die zweite noch seltsamere und unerklärlichere Zeremonie findet
am Aschermittwoch statt. Ein schwarz gekleideter, mit zusammen-
gebundenen Füfsen auf dem Rücken liegender, dem Anscheine nach toter
Mann, wird auf einer Bahre herumgetragen. Zwischen den gefalteten
Händen hält er eine Sardelle, ihm nach folgen viele Kerzenträger, zahl-
lose Geistliche begleiten vorn und hinten den Toten, und murmeln
Gebete. Mit grofser Feierlichkeit zieht die Prozession bis an den eine
halbe Stunde von Madrid entfernten Kanal. Hier macht die Begleitung
halt, der Tote wird wieder lebendig und der Nachmittag lustig mit
Trinken zugebracht. Dies nennt man „Enterrar la sardina^ (die Sardelle
396 Karl Engel.
begraben). Ich forschte nach der Entstehung dieses Gebrauches, und
erhielt zur Antwort: ^ es sei so in der Gewohnheit;" und als ich weiter
fragte: warum? antwortete man mir ganz gescheidt: ^daruml" Man
begreift leicht, dafs ich nach einer so peremptorischen Erklärung nichts
weiter verlangen konnte, und begnüge mich folglich, sie so, wie ich sie
erhalten, meinen werten Lesern und den geistreichen Novellenschreibern
mitzuteilen, die leicht aus dieser Volkssitte irgend eine schauerliche
Teufels-Legende fabrizieren können/'
Ebenso wenig als der Sinn dieser Volksgebräuche, welche in Madrid
vorgenommen werden, ist ausgemacht, welchem Don Juan sie gelten,
denn die Stadt Sevilla hat noch einen zweiten Don Juan aufzuweisen,
welcher ebenfalls als ein Wüstling bekannt oder vielmehr berüchtigt war.
Dieser Don Juan gehörte zu der Familie derer von Maranna, er starb
als reuiger Sünder, und ist von Don Juan Tenorio, den, wie die
Sage erzählt, ein Steinbild entführte, sehr wohl zu unterscheiden. Das
Ende des Don Juan de Maranna, erzählt die Sage folgendermafsen:
Einst bei Nacht durchstreifte er, nachdem er eben ein Gelage verlassen,
die Strafsen von Sevilla auf, Liebesabenteuer. Ein Leichenzug kommt
ihm entgegen. Mit trunkenem Hohn hält er denselben an und fragt nach
dem Gestorbenen. Einer der Kerzen tragenden Gestalten antwortet mit
hohler Grabesstimme: „Wir begraben den Don Juan de Maranna. "^
Halb betroffen, wollte er sich entfernen, allein die grofse Zahl der
Büfsenden und die Pracht der ganzen Prozession fesselten ihn, und halb
zum Spott schliefst er sich an und wandelt mit dem Zug durch die
Gassen. Die Prozession nahm ihre Richtung nach einer nahe gelegenen
Kirche. Die Pforten derselben öffnen sich und der Zug tritt ein. Don
Juan, in der Meinung er werde vxjrdem falsch gehört haben, fragt noch-
mals einen der zunächststehenden, wen man hier begrabe und abermals
antwortet eine hohle Grabesstimme: „Den Grafen Don Juan von Maranna l""
Don Juan fühlt sein Blut erstarren und alle seine Stärke von sich weichen.
Unter Gesängen, die wie Stimmen des letzten Gerichtes tönen, wird der
Sarg vor dem Altar niedergesetzt und der Deckel abgehoben. Mit Auf-
bietung aller seiner Kräfte ruft Don Juan laut: „In des Himmels Namen
sagt an, fiir wen betet ihr hier und wer seid ihr?" „Wir beten für den
Grafen Don Juan von Maranna!" ertönt die Antwort in gjauenvollera
Chor. Halb ohnmächtig schwankt Don Juan zum Altar, da wirklich er-
kennt er sich selber im Sarg liegend und stürzt bewufstlos nieder. In
der Morgendämmerung erwacht er, und zu seinem Erstaunen befindet er
sich ganz allein in einer leeren Kirche. Aber er erwachte auch zu einem
Zwei Kapitel aus der Geschichte der Don Juan-Sage. 397
neuen Leben. Die nächtliche Vision hat seinen Sinn vollständig geändert.
Er thut aufrichtige Bufse, baut aus den Reichtümern, die ihm noch übrig
sind, das grofse Armen- und Krankenhaus der christlichen Liebe, das
Hospicio de la caridad, und widmet eben diesem in büfsender Frömmig-
keit den Rest seines Lebens. Auf seinem Sterbebette bat er, dafs man
ihn unter die Schwelle der Kirchentür beerdige, damit ein Jeder, der
zu ihr eingehe, ihn noch mit Füfsen trete, allein es wurde nicht für an-
gemessen gehalten, diesen Wunsch auszufuhren. In der von ihm ge-
stifteten Kapelle wurde er beim Hauptaltare beigesetzt, und dem seine
sterbliche Hülle deckenden Stein die von ihm selbst verfalste Inschrift
eingegraben: Aqui y accel peor hombre que fue en el munde. — *)
Sein Hospital und die Kapelle, in der er liegt, werden von allen Fremden,
die durch Sevilla reisen, besucht
Dieser Don Juan indeis ist nicht der Don Juan Mozarts, wie einige
Schriftsteller falschlich angaben. Dieser Irrtum entstand wohl dadurch,
dafs die mündlichen Überlieferungen die Abenteuer Beider mit der Zeit
ineinander schmolzen, aber die endliche Entwicklung ist sehr verschieden
und schon Prosper Merimee, welcher die Geschichte des Don Juan
von Maranna mit einigen Veränderungen und Ausschmückungen erzählt,
unterscheidet genau zwischen Don Juan de Maranna und Don Juan de
Tenorio. Er sagt am Schlüsse seiner Einleitung, dafs er versucht habe,
von seinem Helden, dem Don Juan de Maranna, nur solche Abenteuer
zu erzählen, die nicht dem aller Welt durch Molieres und Mozarts Meister-
werke bekannten Don Juan de Tenorio zugehören.**) Auch Tirso, der
erste Bearbeiter der Don Juan-Sage, nennt seinen Helden mit dem richtigen
Namen Tenorio.
In Mozarts Leben von G. N. v. Nissen (Leipzig 1828) wie auch in
^Mozarts Geist" (S. 298) wird gesagt, die Quelle der Sage sei ein in
Portugal erschienener jesuitischer Roman: vita et mors sceleratissimi
principis Domini Joannis. Darunter sei König Alfons VI. gemeint, Sohn
des Don Juan de Brag^nza. Man habe ihn in einem Turme bei Lissa-
bon gefangen gehalten, und die Jesuiten hätten dem Volke weifs gemacht,
der Teufel hätte ihn weggeführt. Jedoch diese ganz andere Geschichte
in Beziehung mit unserem Don Juan zu bringen, entbehrt jeder Bürg-
schaft und Begründung.
Nach allem was die Forschung erwiesen hat, ist der oben erwähnte
Don Juan aus der Familie der Tenorio, eines einst in Sevilla ansäfsigen
*) „Hier liegt der schlimmste Mensch, der jemals auf der Welt gewesen."
**) Dodecaton. Paris 1836, Deutsch, Stuttgart 1837. ß^- ^•
Ztschr. f. vgl. Litt.-Geach. I. 27
398 Karl Engel.
sehr angesehenen, aber nun längst ausgestorbenen Geschlechts, der Trager
der Don Juan-Sage.
Von Don Pedro, den die Geschichte mit dem Namen des „Grau-
samen" bezeichnet, (dessen Günstling und Vertrauter Don Juan war), hat
sich in Sevilla eine Tradition erhalten, welche sich an einen in Stein ge-
hauenen Königskopf knüpft. Die Sage lautet: Don Pedro habe einmal
auf einem seiner einsamen Nachtgänge einen Mann, der ihm eifersüchtig
den Weg vertrat, notgedrungen ermordet. Tags darauf, als der Asistente,
der oberste Beamte der Stadt, bei Hofe erschien, berichtete ihm Don
Pedro, es sei in dieser Nacht Jemand ermordet worden; der Asistente
solle den Thäter ermitteln und den Kopf desselben da aufpflanzen, wo
die Unthat geschehen sei. Bald darauf kam der König wiederum in jene
Gegend, und sah in derselben Strafse, in derselben Ecke in einer Mauer-
blende den gekrönten Kopf eines Königes aufgestellt. Ihm wohl ver-
ständlich und nicht ohne höflich zu warnen hatte der Asistente den Be-
fehl vollzogen. Nach einem Bericht aus dem Jahre 1854 (Wackemagel^
Sevilla, S. 30) soll der Kopf in der Mauerblende noch vorhanden sein.
Im Munde des spanischen Volkes hatten sich die Abenteuer Don
Juans mit mehr oder weniger Ausschmückungen fortgepflanzt, bis endlich
nach über 250 Jahren die sagenhaft schwankenden Umrisse der Volks-
traditionen durch die Feder feste Gestalt erhielten und der Litteratur in
poetischem Gewände zugeführt wurden.
Gabriel Tellez, Mönch und Prior eines Klosters der barmherzigen
Brüder in Madrid, der von etwa 1570 bis 1650 lebte und unter dem
Namen Tirso de Molina beliebte Komödien schrieb, war der erste,
welcher die Sage vom Don Juan dramatisch behandelte. Die Lebens-
umstände des Gabriel Tellez sind wenig bekannt.
Eugenie de Ochoa, (spanischer Dichter, Kritiker und politischer
Schriftsteller, geb. 19. April 18 15 zu Lezo in Guipuzcoa, gest. zu Madrid
als wirkl. Kammerherr am 29. Februar 1872), berichtet über die Person
des Tirso de Molina Folgendes: „Über diesen berühmten Schriftsteller
sind uns nur kurze Notizen geblieben, ein Mifsgeschick, das er mit
mehreren berühmten Koryphäen der spanischen Litteratur teilt. Fast alle,
welche über ihn und seine Werke geschrieben, haben im Wesentlichen
nur das Wenige wiederholt, welches Montalvan in seinem Buche para
todos sagt: „Der Meister Fray Gabriel Tellez, Beneficiat des Ordens
„Unserer lieben Frau von der Gnade", Prediger, Theolog, Poet, und in
Allem grofs, hat unter dem angenommenen Namen Meister Tirso de
Molina viele vortreffliche Komödien und die Cigarrales (Obstgärten) de
Zwei Kapitel aus der Geschichte der Don Juan-Sage. 399
Toledo geschrieben, und ist im Begriffe, einige auserlesene Novellen in
den Druck zu geben, von denen es anstatt weiteren Rühmens genügt zu
sagen, dafs er sie schrieb."
Aufser diesen glaubwürdigen Daten liefs sich nur noch das ermitteln,
dafs er 1620 in gedachtes Madrider Kloster der heiligen Jungfrau eintrat,
als er bereits die Fünfziger erreicht hatte, woraus man schliefst, das er
etwa 1570, sieben oder acht Jahre nach Lope de Vega geboren sein
mag. Im September 1645 wurde er zu einer Commende des Klosters
von Soria erwählt, und man glaubt, dafs er 1648 im achtundsiebzigsten
Jahre dort starb. Sein Orden übertrug ihm allmälig die Aemter des
Vorsitzers, Magisters, Theologen, Predigers und Chronicisten des Ordens
für die Provinz Neu-Castilien. Die strengen Pflichten des Mönchlebens
müssen allerdings mit dem eigentümlichen Charakter des Meisters Tirso
schlecht zusammen gepafst haben, denn er ist bei weitem der heiterste
und ungebundenste der alten spanischen Lustspieldichter. Doch ist diese
Anomalie nicht so überraschend, da seine berühmtesten Kunstgenossen,
namentlich Torres Naharro, Lope da Vega, Tarraga, Calderon, Moreto
Solls etc. alle dem geistlichen Stande angehörten.^
Tirsos Komödien sind gesammelt in fünf Quartbänden, welche teils
in Madrid, teils in Tortosa, Sevilla und Valencia von 161 6 bis 1652 ge-
druckt und neu aufgelegt sind. Das Schauspiel Tirsos, welches die Sage
vom Don Juan behandelt, fuhrt den Titel: El Burlador de Sevilla y
Convidado. de piedra. Es wurde zuerst gedruckt im Jahre 1634, wurde
oft aufgelegt, ist jedoch in Deutschland eine grofse Seltenheit. Plan und
Gang der Handlung kannte man hauptsächlich nur aus dem auch nicht
häufigen Werke: Tart de la comedie par Mr. de Cailhava (Paris 1772)
worin im 3. Teil, S. 217, aus Opposition gegen den, denselben StoflF be-
handelnden Moliere, sichere Kunde über die Beschaffenheit des Tirso-
schen Burlador gegeben wird. Erst im Jahre 1841 wurde das Stück in
einer vollständigen Übersetzung dem deutschen Publikum zugänglich
gemacht durch E. A. Dohrn. (Spanische Dramen. Berlin 1841. T. I.).*)
Dohrn übersetzte das Stück aus der Sammlung der spanischen Ausgabe,
welche 1831 bei Baudry in Paris unter dem Titel: Coleccion de los
mejores autores espanoles erschien, worin die dramatische Abteilung
Tesoro del teatro espanol von Don Eugenio de Ochoa redigirt ist.
Ochoa sagt u. a. über Tirso*s Burlador in einem Vorwort: „Der Held
dieses Stückes ist der bekannte Don Juan Tenorio, von dem uns die
*) 1856 folgte eine Übersetzung von L. Braunfels.
2V
400 Karl Engel.
Tradition so viel Aufserordentliches berichtet, und der einer grofsen Zahl
ähnlicher Charaktere zum Typus gedient hat. Nach unserm Tirso de
Molina haben ihn später Zamora, Moliere, Byron und Dumas zum Gegen-
stande ihrer Dichtungen .gemacht, indefs gebührt seine Erfindung nicht
unserm Madrider Poeten, vielmehr fand er diesen Charakter bereits in
den Chroniken von Sevilla skizzirt Tirsos Stück kann freilich
nicht als ein Muster gelten, doch enthält es viele einzelne Schönheiten,
und wir haben es dieser Sammlung einverleibt, da es nicht nur wenig
bekannt ist, sondern wir auch voraussetzen durften, der Leser werde
einen überall so populär gewordenen Stoff gern in der ersten drama-
tischen Bearbeitung kennen lernen. Auch dünkt uns das Lesen dieses
Stückes eine vortreffliche Vorbereitung, um den genialen Don Giovanni
von Mozart mit der gebührenden Andacht zu hören." In den „An-
merkungen des Übersetzers** heifst es S. 411 : „Es leuchtet auf den ersten
Blick ein, dafs dieser Don Juan nicht von dämonischer, mit sich und der
Welt zerfallener Sophisterei getrieben wird, die bürgerlich sittliche
Ordnung mit Füfsen zu treten; er ist ein derber sinnlicher Epikuräer,
dessen Charakteristik der Dichter ihm selber bezeichnend genug in den
Mund gelegt hat. Dennoch ist es dem Dichter gelungen, diesem Wüst-
linge durch einen Anhauch von ritterlicher Tapferkeit ein so energ^isches
Colorit zu geben, dafs sein Don Juan der Grundtypus geworden ist, nach
welchem fast alle europäischen Litteraturen diesen Charakter sich zuge-
eignet haben. Es galt also, dem ersten Entdecker dieser so reich aus-
gebeuteten belletristischen Ader seine gebührende Ehre zu vindiciren,
eine Arbeit, welcher ich mich um so lieber unterzog, als ich bestimmt
hoffen darf, meine Leser — und wer von ihnen kennte und liebte nicht
Mozarts unsterbliche Partitur? — werden mir Dank wissen, sie mit dem-
jenigen Werke bekannt zu machen, welches dem Don Giovanni wesent-
lich, mitunter wörtlich zum Grunde liegt.**
Dieses berühmte Schauspiel war die Quelle, woraus alle spätem
Bearbeiter der Don Juan-Sage geschöpft haben.
Tirsos Schauspiel erregte so viel Aufsehen, dafs es bald von
Italienern und Franzosen nachgeahmt wurde. Bevor wir die weiteren
Bühnenbearbeitungen betrachten, müssen wir noch einen Blick auf die
wandelnde, sprechende und wirkende Statue werfen, welche in der Don
Juan-Geschichte als die Hauptsache erscheint. Lange Zeit hindurch
wurde die Geschichte des Don Juan fiir eine Fantasie des Dichters gehalten
und man fand es gar zu unwahrscheinlich und unnatürlich, dem Publikum
eine handelnde, redende Steinfigur vorzufuhren. Wenn aber in Betracht
Zwei Kapitel aus der Geschiebte der Don Juan -Sage. 401
genommen wird, dafs hier keine dichterische Erfindung, sondern allgemeines
Sagengut vorliegt, welches uns der Dichter im poetischen Gewände
vorfuhrt, so wird uns das vorgeführte Steinbild weniger befremdlich
erscheinen. Der Glaube, dafs unter Umständen auch Stein- oder Metall-
Bilder zu Lebensäufserungen fähig sind, ist uralt. Erzählungen von
wandelnden Bildsäulen, sprechenden Köpfen, belebten Statuen u. s. w.,
finden sich in den Werken älterer Schriftsteller in Menge vor und datiren
bis ins hohe Altertum zurück. Bekanntlich schafft die Sage ihre Gestalten
nie aus dem Nichts, sondern sie bildet eine Hülle um einen vorhandenen
Kern. Historische Nachrichten über den Träger der Don Juan-Sage sind
vorhanden und wurden oben mitgeteilt. Den Gipfelpunkt der Sage aber
bildet der fabelhafte „steinerne Gast". Dieser steinerne Gast wurzelte
ursprünglich in der oben erwähnten Lüge der Franziskaner -Mönche,
welche, um den Verdacht einer Unthat von sich abzulenken, das Gerücht
verbreiteten, Don Juan habe des Comthurs Statue insultiert und sei von
ihr in die Hölle gestürzt worden. Aus diesem Lügenmärchen allein, hätte
sich wohl kaum eine Volkssage entwickeln können, wenn nicht schon
ähnliches Sagengut vorhanden gewesen wäre, worauf sich die Lüge der
Mönche stützte. Alles was sich ähnlich sieht, vergleicht man gerne.
Vorhandene Spukgeschichten von Bildsäulen wurden mit der Don Juan-
Begebenheit in Verbindung gebracht und so entwickelte sich mit der
Zeit die Sage im Munde des Volkes, gleich wie in Deutschland die vor-
handenen Teufelsbündler-Sagen sich schliefslich an die Person des Doktor
Faust hefteten.
Der Dichter Tirso brachte also nicht aus eigener Erfindung den
steinernen Gast in die Geschichte des Don Juan hinein, er fand ihn
im Volksmunde vor, der steinerne Gast ist eng mit dem Abenteurer
Don Juan verwachsen, er bildet den Gipfelpunkt der Sage und Tirso
hielt sich demgemäfs in seiner dramatischen Bearbeitung der Don Juan-
Sage streng an die Tradition. Wenn spätere Bearbeiter sich heraus-
nahmen, den steinernen Gast zu entfernen, sich nur auf die Abenteuer
Don Juans beschränkten und ihren Helden durch Blitzstrahl oder Gift
umkommen liefsen, so ist das eine Verstümmelung der Sage, welche
weder zu büligen noch zu rechtfertigen ist.
Die allerfrappanteste Ähnlichkeit mit der Don Juan-Sage, findet sich,
wie J. Mähly mitteilt,*) in einer aus dem Altertum stammenden Notiz,
die Mähly leider nur aus dem Gedächtnis anfuhren, nicht aber durch
*) Die Grenzboten. 35. Jahrgang, Nr. 17. Leipzig, 1876. S. 136.
402 Karl Engel.
litterarischen Nachweis bestätigen kann. Er sagt: „Sie ist in einem
griechischen Schriftsteller enthalten und besagt kurz und gut: Als einst
eine Bildsäule durch die bewaffnete Hand eines ihr im Leben feindlich
gesinnten Mannes insultiert worden sei, da sei sie vom Piedestal herunter-
gekommen und habe den Frevler erschlagen. Hier haben wir also den
Frevler und zugleich auch die wunderbare Art der Strafe, und auch hier
mufs ein Glaube an die Möglichkeit solchen Vorkommens angenommen
werden. Die Tradition setzt sich aber ununterbrochen bis ins späte
Mittelalter fort und hier bemächtigt sich ihrer nicht sowohl der Aber-
glaube, als die Sage, und in ganz natürlicher Verbindung mit ihr die Poesie."
II. Don Juan in Deutschland vor Mozart.
In Deutschland wurde Don Juan ebenfalls ein beliebter Stoff und
gehörte seit dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts zum stehenden
Repertoire der improvisierenden Schauspieler, welche wahrscheinlich die
Traditionen der Italiener benutzten.
Prehauser, der in Hanswurst-Rollen sich Berühmtheit erwarb,
machte 1716 seinen ersten theatralischen Versuch als Don Philippo im
„steinernen Gast."
Auf dem Repertoir der Ackermannschen Gesellschaft findet sich
1742 ein Nachspiel „Don Juan" und 1769 wurde von derselben Gesellschaft
ein pantominisches Ballet „Don Juan" aufgeführt.*)
In Dresden wurde 1 752 von den Königlich-Polnischen und Churfurst-
lich Sächsischen Hof-Comödianten ein Don Juan aufgeführt, wobei Moliere
benutzt war.
Der später als Schauspieler und Dramaturg berühmt gewordene
Friedrich Ludwig Schröder, trat 1766 in Hamburg (da er 22 Jahr
alt war) im Moliere*schen Don Juan als „Sganarelle" auf, und übertraf
hochgespannte Erwartungen.**)
In Wien wurde regelmäfsig in der Allerseelenoctav, bis zum Jahre
1772 ein improvisiertes „steinernes Gastmal" anfgeführt. ***)
Aus den in Deutschland vielfach aufgeführten improvisierten Burlesken,
entwickelte sich das Volksschauspiel Don Juan, welches sich später
unter der Puppenspielerzunft durch mündliche Tradition und schriftliche
Aufzeichnungen erhalten hat. Es blieb ein gern gesehenes Stück und
da den Verbrecher schliefslich der Teufel holt, hielt man die Moralität
für vollständig gewahrt und erbaute sich an den Strafreden der Statue.
*) Schütze, Hamburg. Theatergeschichte, 375.
**) Meyer, Schröders Biographie.
***) Geschichte des ges, Theaterwesens zu Wien. 328.
Zwei Kapitel aus der Geschichte der Don- Juan Sage. 403
Nach/dem das Stück ausschUefsliches Eigentum der Puppenspieler
geworden, hat es mannigfache Veränderungen erlitten, denn diese
behandelten ihre überlieferten Texte sehr willkürlich.
In Hamburg wurde 1774 der Molieresche Don Juan als Singspiel
für Puppen aufgeführt.*)
In Hannover wurde im Winter 1777 — 1778 von dem Puppenspieler
Storm, welcher im Ballhofssaal wie auch auf dem Rathaussaal Vor-
stellungen gab, „Donschang, der desparate Ritter" aufgeführt.**)
Die bekannten Puppenspieler Schütz und Dreher, welche 1804 — ^807
häufig Berlin und Potsdam besuchten, hatten auf ihrem reichhaltigen
Repertoir „Don Juan oder: das Todtengastmahl." Die Gebrüder
Lorgie, welche in den dreifsiger Jahren die Jahrmärkte Deutschlands
bezogen, führten „Don Juan oder der Vater- und Brudermörder"
auf. Ebenso Genesius, Eberle, Franke, Wiepking, Schwiegerling
u. a. m. unter verschiedenen Titeln, als z. B. „Don Juan, der vierfache
Mörder, oder: Das Gastmahl um Mitternacht auf dem Kirchhofe." „Der
steinerne Gast oder: Der spanische Ritter Don Juan." „Don Juan der
siebenfache Mörder oder: Der geladene Gast um Mitternacht" u. s. w.
Im Puppenspiel wird natürlich Hanswurst (Kasperle) völlig zur Haupt-
person, die Liebesabenteuer Don Juans treten vor seinen Mordthaten
zurück, und der gefahrliche Mädchenverführer erhält mehr das Ansehen
eines Banditen. Am vollständigsten und reinsten scheint sich das alte
deutsche Volksschausspiel vom Don Juan, bei den Puppenspielern
E. Wiepking und C. Franke erhalten zu haben. In dieser Fassung ist
es auch jetzt noch auf dem ständigen Marionettentheater in München,
unter Direktion von J. Schmid ein beliebtes Repertoirstück.***) Die
Namen der Personen wie die Hauptsituationen weisen auf die französischen
Bearbeitungen des italienischen Stückes als vornehmlichste Quelle hin.
Im Vergleich hierzu, sind die in Scheibles Klosterf) mitgeteilten
Don Juan-Spiele vom Augsburger, Strafsburgei: und Ulmer Puppen-
theater, sehr mittelmäfsig und lückenhaft.
Ein Ballet „Don Juan" mit Musik von Chr. W. von Gluck, wurde
1761 in Wien aufgeführt, auch später in Paris, woselbst in der Bibliothek
der ecole de musique sich ein in französischer Sprache geschriebenes
Programm gefunden hat. Das Programm ist vor dem Klavierauszug
*) Schletterer, deutsche Sing^splele. S. 152.
**) H. Müller. Chronik des Königlichen Hoftheaters zu Hannover. S. 72.
***) Vgl. Karl Engel. „Deutsche Puppenkomödien", Heft III. Oldenburg 1875.
t) Band 3, S. 399 u. f.
404 Karl Engel.
(heraUvSgegeben von Marr) und auch von Lobe (Fliegende Blätter für
Musik I, 122 u. f.) mitgeteilt.
Das Ballet: II convitato di Pietra ossia Don Giovanni, welches 1780
in Neapel, 1783 und 1788 in Mailand aufgeführt wurde, ist wahrscheinlich
identisch mit dem Ballet von Gluck. Nach der Einrichtung des Ballet-
meisters Crux, wurde 1786 das Ballet „Don Juan" mit der Musik von
Gluck, in München aufgeführt.*) „Don Juan, oder der steinerne Gast.*'
Grofses Ballet in 5 Aufzügen, wurde 1788 in Coblenz aufgeführt.**)
In verschiedenen Theaterchroniken findet man häufig in der Zeit von
1765 bis etwa 1800 Don Juan als Ballet angegeben, ohne alle nähere
Angabe des Komponisten. Es ist kein Zweifel, dafs dies immer dasselbe
Ballet von Gluck war, welches die Bühnenrunde machte, denn eine
andere Ballet-Musik zu einem Don Juan aus jener Zeit, ist nicht bekannt
geworden. Der Hauptinhalt des Ballets ist folgender:
Szene: Madrid. Promenade. Haus des Kommandeurs. — Don Juan
und sein Diener kommen. Musiker bringen der Nichte des Kommandeurs
ein Ständchen. Sie läfst die Thür öffnen. Don Juan schlüpft hinein.
Man hört Degengeklirr. Die Musiker entfernen sich. Zweikampf auf der
Strafse zwischen Don Juan und dem Kommandeur. Letzterer wird er-
stochen. - Szene: Saal in Don Juans Hause. — Fest. — Don Juan
tanzt mit der Nichte des Kommandeurs ein pas de deux. Gastmahl.
Die Statue des Ermordeten tritt ein. Gäste fliehen. Die Statue wird ein-
geladen, Platz zu nehmen. Die Statue ladet Don Juan in das Grab-
gewölbe ein und verschwindet. — Der Ball geht fort. — Don Juan be-
giebt sich allein, den Degen in der Hand hinweg. — Szene: Grabgewölbe. —
Die Statue will den Frevler zur Reue zwingen, sie läfst ihn das Geheule
der in der Unterwelt Verdammten hören, und stürzt ihn, da Alles ver-
geblich ist, in den Abgrund. — Szene: Die Hölle. — Furienballet. Don
Juan wird von den Teufeln gefesselt und in den tiefsten der Abgründe
geworfen. —
Sara Goudar in ihren Remarques sur la musique italienne et sur
la danse (Paris 1773) schrieb über Gluck: Gluck, AUemand comme Hasse^
Timita (Jomelli); quelquefois meme le surpassa, mais souvent il fit mieux
danser que chanter. Dans le ballet de Don Juan ou le festin de Pierre
il composa une musique admirable.
Christoph Willibald Ritter von Gluck, geboren 2. Juli 1714
auf der Fürstlich Lobkowitz*schen Herrschaft Weidenwang bei Neumarkt
*) Grandaur. Chronik des Königlichen Theaters in München.
**) Allgemeines Churtrierisches Intelligenzblatt. Coblenz, 17. Oktober 1788.
Zwei Kapitel aus der Geschichte der Don Juan-Sage. 406
in der Oberpfalz (wo sein Vater, Alexander Gluck, Förster war), ge-
storben in Wien am 15. November 1787.
Der zweite, welcher den Gedanken ausführte, den so beliebt ge-
wordenen Stoff zur Oper zu erheben, war Vincenzo Righini. Sein
Dramma tragicomico „II convitato di pietra osia il dissoluto" wurde
zuerst 1776 in Prag aufgeführt, woselbst Righini, damals bei der
Bustellischen Gesellschaft als Sänger und Komponist thätig war. Den
Inhalt dieser Oper teilt Dr. A. Kahlert, *) dem ein Textbuch vorlag, das
für eine Aufführung in Wien gedruckt wurde, in kurzen Umrissen mit
und bemerkt vorher: „Auf grofse Oper ist hier zwar noch nicht abge-
sehen, doch sind die Hauptcharaktere auf musikalische Ausfuhrung an-
gelegt, und das Ganze nicht übel disponiert." Es folge hier der Inhalt
nach Otto Jahn,**) dem gleichfalls ein Textbuch vorlag und der etwas
ausführlicher als Kahlert über den Inhalt berichtet.
Die Fischerin Elisa und ihr Geliebter Ombrino retten Don Gio-
vanni und seinen Diener Arlechino aus den Fluten. Don Giovanni,
der in Neapel Isabella, Tochter des Duca d'Altamonte verfuhrt hat
und entflohen ist, gewinnt rasch die Liebe der leichtgläubigen Elisa.
Der Commendatore di Loiva, siegreich heimgekehrt, wird von Don
Alfonso im Namen des Königs von Castilien begrüfst, der zu seiner
Ehre seine Statue errichtet hat und seine Tochter Donna Anna mit
dem DucaOttavio zu vermählen verhelfst. Donna Anna weigert sich
trotz der heftigen Bedrohung ihres Vaters. — Don Giovanni, dessen
Verbrechen und Flucht Don Alfonso angezeigt worden ist, begiebt sich
mit Arlechino in das Haus des Commendatore, wo Donna Anna ihr
Kammermädchen Lisette entlassen hat, um sich zu entkleiden. Er
sucht sie zu entführen, sie wiedersetzt sich seiner Gewaltthätigkeit und
erkennt ihn; darüberkommt der Commendatore zu und fallt im Zwei-
kampf Donna Anna findet die Leiche und schwört dem Mörder Rache.
— Im zweiten Aufzug beschliefst Don Giovanni zu flifehen und befiehlt
Arlechino, im Wirtshaus alles vorzubereiten und ein Mahl zu bestellen. —
Isabella, welche Don Giovanni nachgereist ist, erhäk von Don Alfonso
das Versprechen seiner Bestrafung. — Don Giovanni sucht, von Ge-
wissensbissen ergriffen, Ruhe und Zuflucht im Mausoleum des Commen-
datore und schläft neben seiner Statue ein. Dort findet ihn die trauernde
Anna, deren Liebe und Mitleid er vergebens zu erregen sucht. Arle-
*) Freihafen, Jahrg. 1841, S. 113.
♦*) O. Jahn, Mozart, 3. Aufl., Bd. II, S. 334.
406 Karl Engel.
chino fordert ihn auf, ins Wirtshaus zu kommen, wo alles bereit sei;
er mufs die Statue zu Gast laden, die Antwort derselben versetzt Don
Giovanni in die bedenklichste Stinunung. — Arlechino liebelt im
Wirtshaus mit der Wirtin Corallino. — Donna Anna erhält von
Don Alfonso die Zusicherung nachdrücklicher Verfolgung und Be-
strafung Don Giovannis. — Don Giovanni speist, bedient von Corallina
und dem Kellner Tiburzio, in heiterer Laune mit Arlechino; erbringt
einen Toast auf das geneigte Publikum, Arlechino auf die schönen
Mädchen — in deutschen Versen! — aus. Die Statue erscheint ohne
etwas zu geniefsen, ladet Don Giovanni, der zusagt, ein und verschwindet;
mit der gröfsten Ausgelassenheit wird das Mahl beendet. — Im dritten
Akt ist Don Giovanni mit Arlechino beim Commendatore im Trauer-
zimmer zu Gast, er weigert sich zu büfsen und wird vom Abgrund ver-
schlungen. — Don Alfonso und Donna Anna werden durch Arlechino
von diesem Ausgang unterrichtet. — Don Giovanni wird in der Hölle
von Furien gepeinig^. —
Nächst Prag wurde Righinis Werk am 21. August 1777 in Wien
aufgeführt. Im Jahr 1782 auch in Braunschweig.*) Die Musik fiel
bald der Vergessenheit anheim.
Vincenzo Righini, geb. 22. Januar 1756 zu Bologna, besuchte
das Konservatorium seiner Vaterstadt, ward in seinem i8. Jahr als Tenorist
bei der Opera buffa zu Prag angestellt, wirkte später als Kapellmeister
zu Wien, seit 1788 zu Mainz und seit 1793 zu Berlin. Er starb am
19. August 1812 zu Bologna. Rhiginis Kompositionen tragen mehr den
deutschen als den italienischen Charakter. Aufser Opern, Messen etc.
sind von ihm noch zahlreiche Gesangskompositionen vorhanden, welche
jedoch dem modernen Zeitgeschmack nicht mehr entsprechen.
Nächst Righini wählte der Italiener Giovacchino Albertini den
Don Juan-Stoff zu einer Oper. Sein „II Convitato di Pietra" wurde
im Jahr 1784 in Venedig aufgeführt. Giovacchino Albertini, geboren
1751, gestorben 181 1, war seiner Zeit ein beliebter Opernkomponist,
wurde königlich polnischer Kapellmeister tind lebte seit 1804 in Warschau,
wo sein Gastmahl Don Pedros ebenfalls zur Aufführung kam.
Im Jahr 1787 erschien nun dasjenige Werk, welches der Sage die
Unsterblichkeit sichern sollte, Mozarts Oper; Don Juan.
*) Cramer, Mag. f. Musik. I, 474.
Dresden.
-.•»-
Die ästhetische Naturbeseelung
in antiker und moderner Poesie.
Von
Alfred Biese.
m.
Die ästhetische Naturbeseelung gewinnt bei Shakespeare einen Grad
der Verinnerlichung und Vertiefung, wie es von keinem Dichter zuvor
erreicht wurde resp. erreicht werden konnte. Wir sahen, wie im Laufe
der Litteraturentwicklung bei den Griechen die Beseelungen allmählich
immer individueller wurden, wie auch hierin eine fortschreitende Be-
wegung zum Modernen hin sich uns zeigte, wie dann erst die Renaissance
die Fäden des Hellenismus weiter spann — Shakespeare thut einen weiten
Schritt noch über jene hinaus. Treffend stellt Hense in seinem Buche
Poetische Personifikation in griechischen Dichtungen*) Aschylos und
Shakespeare einander gegenüber, indem er die Beseelungen des ersteren
als wesentlich plastisch, die des letzteren als individuell charakterisiert:
„Es ist plastische Personifikation, wenn Aschylos die Höhen die Nachbarn
der Sterne nennt (Prom. 746), individueller empfunden, wenn Shakespeare
von Hügeln spricht, die den Himmel küssen (Hamlet III, 4, Del. p. loi);
es ist plastisch, wenn Aschylos sagt, dafs Feuer und Meer, sonst Feinde,
sich verschworen und sich Treue bewiesen, indem sie das unglückliche
Heer der Argiver vernichteten (Agam. 632); es ist individuell, wenn
Shakespeare Meer und Wind alte Zänker (Raufbolde) nennt, die augen-
blicklich einen Waffenstillstand machen (Troil. II, 2, Del. p. 45). Wenn
derselbe Dichter den Wind einen Buhler, die Luft einen ungebundenen
Wüstling, das Gelächter einen Gecken, den Eigennutz einen Herrn mit
glattem Angesicht nennt, wenn er von der Zeit sagt, sie trägt einen
*) Halle 1868, S. XXXII; vgl. auch Hense, Shakespeare, Untersuchungen und Studien,
Halle 1884, Kap. IV., Shakespeare's Naturanschauung.
40B Alfred Biese.
Ranzen auf dem Rücken, worin sie Brocken wirft für das Verg^essen;
wenn er die Zeit mit modern individueller Anschauung den alten Glöckner,
den kahlen Küster nennt, so sind das Personifikationen, welche sich bei
den Alten nicht finden und nicht finden können."^
Je reicher das Gemütsleben des Einzelnen wird, je individueller er
alles empfindet, desto intensiver wird auch die Übertragung des Geistigen
auf die Natur, d. h. die Beseelung der Naturerscheinungen. Shakespeare's
Phantasie schwelgt in der Fülle von Bildern, blitzartig thun sich immer
neue Bezüge zwischen Aufsen- und Innenwelt in seinen Vergleichen auf,
immer neue hochprägnante Metaphern entströmen dem unerschöpflichen
Born seiner Einbildungskraft. — Die Liebe wird auch bei ihm zur
Wünschelrute, welche die verborgensten Tiefen der Verwandtschaft des
Seelen- und Naturlebens erschliefst. Wohl klagt schon Ibykos*), dafs es
draufsen lachender Frühling sei, in seinem Herzen aber Eros wie
thrakischer Wintersturm wüte, so dafs die herrliche Frühlingsnatur mit
seiner Seele kontrastiere; wohl weicht bei Theokritos **) beim Scheiden
der schönen Hirtin auch die Fruchtbarkeit des Feldes und der Heerde
und zieht die liebliche Nais die gesamte Naturumgebung in ihren Zauber-
bann; wohl meint Akontios bei Kallimachos,***) wenn die Bäume Liebes-
leid und -lust kennten, würden sie ihr Laub verlieren müssen. Wohl
sind alle solche Ideen, die also schon im Altertum ausgesprochen sich
finden, durchaus modern, wem entginge aber der tiefe Unterschied in
der Verquickung aller dieser Gedankenreihen, wie sie sich findet in dem
einen Sonett Shakespeare's (no. 33):
Wie ward zum schaurig öden Winter mir
Die Trennungszeit von dir, mein Glück und Leben!
Welch' dunkle Tage liegen hinter mir,
Welch* ein Dezemberfrost hat mich umgeben!
Und war*s doch Sommer, als ich scheiden mufst!
Dann kam der Herbst . . .
Doch Glück und Sommer wandeln stets mit dir,
Und wo du fehlst, schweigt selbst der Vögel Sang
Und sängen sie, war* es so bang zu hören,
Dafs Bäume, winterscheu, ihr Grün verlören.
Ahnlich ist no. 34:
„Ich war getrennt von dir im Frühling auch,
Als der April im farbenbunten Drang
Die Welt belebt mit frischem Jugendhauch,
Dafs selbst Satumus mit ihm lachf und sprang.
♦) Biese, Entw. d. N. bei den Gr., S. 30
♦*) Ebenda, S. 72.
•♦*) Ebenda, S. 68.
Die ästhetische Naturbeseeluog in antiker und moderner Poesie. III. 409
Doch nicht der Vögel Sang in Wald und GrQnden
Noch aller Blumen Duft und Farbenspiel
Verlockte mich, des Sommers Lob zu künden. .
Und immer schien mir's Winter ohne dich,
Nur wie dein Schattenspiel ergötzt er mich.
Wie bei Theokritos*) die Cypressen die einzigen Zeugen des Liebes-
bundes sind und bei unserm Walther das verschwiegene Vöglein, die
Nachtigall, so sagt Venus in Shakespeare*s „Venus und Adonis" Str. 21:
„Die blauen Veilchen hier, darauf wir ruhn, Sie plaudern nicht, verstehen
nicht, was wir thun." — Vergleiche schöner Frauenlippen mit Rosen,
ihrer Hände mit Lilien finden sich auch schon bei den alten Dichtern,
aber wie viel moderner ist die beseelende Wendung, Son. 35:
So schalt ich früher Veilchen Obermut:
Woher nahmt ihr den Duft, der mich entzückt,
Wenn nicht von ihrem Mund? . .
Den Lilien hielt ich deine Hände vor,
Dem Majoran, dafs er dein Haar dir nahm;
Furchtsam auf Domen stand der Rosen Chor,
Hier vor Verzweiflung weife, dort rot vor Scham . .
Mehr Blumen sah ich noch, doch in der Zahl
Nicht eine, die nicht Färb* und Duft dir stahl.
Aber wie grandios weifs er auch in den Sonetten zu schildern! So
beginnt Son. 48 mit der herrlichsten Personifikation des Morgens:
Wohl manchen Morgen sah ich stolz wie diesen
Mit Herrscherblick der Berge Häupter grüfsen,
Mit goldnem Antlitz küfet er grüne Wiesen,
Vergoldet bleiche Ström* ihm tief zu Füfsen.
Doch dann durch niedre Wolken ganz entstellt.
Umschwärzt er seine himmel klare Wange,
Entzieht sein Auge der verlornen Welt
Und eilt in Schmach verhüllt zum Untergange.
Dies prächtige Naturbild wird zum Gegenbild seiner eigenen Lage:
So sah ich einst auch meiner Sonne Schein
Glorreich am Morgen meine Stirn beleuchten.
Doch achl nur eine Stunde war er mein.
Dann kamen Wolken, die den Glanz verscheuchten.
Doch: kann des Himmels Sonne trübe werden.
Darf meine nicht ein Gleiches thun auf Erden?
*) Biese, Entw. d. Naturgefuhts bei den Griechen, S. 74.
410 Alfred Biese.
In dunklem Wolkengewand zeigt uns die Nacht Str. 89 in Venus
und Adonis:
Die Sonne hat vollendet ihre Bahn
Und ruht im Westen von des Tages Bürde.
Der Uhu meldet schon des Abends Nah'n,
Der Vogel sucht das Nest, das Lamm die Hürde;
Schon kommt die Nacht, in Wolken schwarz gekleidet,
Und ruft uns zu: nun ist es Zeit, nun scheidet.
In Romeo und Julia begegnen uns die schönen Zeilen, II 3: Der
Morgen lächelt froh der Nacht ins Ansgesicht Und säumet das Gewölk
im Ost mit Streifen Licht. Die matte Finsternis flieht wankend wie
betrunken, Vor Titans Pfad besprüht von seiner Rosse Funken. Eh* höher
nun die Sonn' ihr glühend Aug' erhebt, Den Tau der Nacht verzehrt
und neu die Welt belebt, Mufs ich . . u. s. f., und in Verlorene Liebes-
müh, IV, I : So lieblich küfst die goldne Sonne nicht die Morgenperlen,
die an Rosen hangen. Als Deiner Augen frisches Strahlenlicht Die Nacht
des Taus vertilgt auf meinen Wangen. — Es würde uns zu weit fuhren,
die Beseelungen der einzelnen Naturerscheinungen eingehend zu verfolgen,
obwohl es eine lohnende Aufgabe wäre; ungemein häufig sind Wendungen
wie das wütende rasende Meer (z. B. Heinr. VI, 2, III, i), die stolz empor-
steigende oder müde sich zur Ruhe neigende Sonne (Rieh. III, V, 3) oder
die aus goldenem Fenster schauende Sonne (Romeo und Julia, I, i) oder
die den Tag mit ihren Morgenstrahlen grüfsende (Titus Andron., II, i)
oder der gleich einem Silberbogen am Himmel aufgespannte, die stille
Nacht beschauende Mond (Sommernachtstraum, I, i) oder der vor Zorn
bleiche (ebenda, II, i) — Titania sagt III, i: Mich dünkt, von Tränen
blinke Lunas Glanz . . Und wenn sie weint, weint jede kleine Blume —
oder der Bach, der durch die Nebel und Niederfalle stolz gemacht die
Dämme niederreifst (ebenda, II, i) oder der sonst mit sanftem Murmeln
schleicht und nun ungeduldig tobt, sobald er eingedämmt (beide Veroneser,
II, 7); oder der zärtliche Liebe zur Ulme empfindende Epheu — wie
IV, I Titania bekennt: Dich soll mein Arm umwinden . . So lind um-
flicht mit süfsen Blütenranken das Geisblatt, so umringelt weiblich zart
der F3pheu seines Ulmbaums rauhe Finger; — den Blumen werden leuchtende
lachende Augen vindiziert, der Tau wird als Tränen gedeutet (ebenda:
der Tau stand in der zarten Blümchen Augen wie Tränen) ; der Himmel
weint; der Sturmwind rast mit schwellendem Gesicht; die Anemonen
fesseln des Märzes Wind mit ihrer Schönheit; die Primeln sind bleich,
die sterben unvermählt, eh* sie geschaut des goldnen Phöbus mächtigen
Die ästhetische Naturbeseelun^ in antiker und moderner Poesie. HI. 411
Strahl. Wellen und Wind nennt Goethe Liebesgesellen (Wind ist der
Welle lieblicher Buhler), Shakespeare läfst den Wind als Raufer dem
sanften Meer entgegentreten, wie schon oben erwähnt, Troil. und Cress.,
I, 3: Auf stiller See, wie fahrt so mancher gaukelnd winzige Kahn Auf
ihrer ruhigen Brust und gleitet hin Mit Segeln mächtigen Baus? Doch
lafs den Raufer Boreas erzürnen die sanfte Thetis — rasch durchschneidet
dann Das starkgerippte Schiff die Wellenberge, Springt zwischen beiden
feuchten Elementen Gleich Perseus' Rofs. Ebenda heifst es auch: Welch
Stürmen auf der See! Wie bebt die Erde! Wie rast der Wind! . . Empört
dem Ufer Erschwollen die Gewässer übers Land u. s. f — Halb mythisch
ist die Flufsbeseelung in Heinrich IV, I, i, 3: . . An des schönen Severn
bins*gem Ufer Im einzelnen Gefechte handgemein Er (Mortimer) eine
volle Stunde fast verlor. Dem mächt'gen Glendower Stand zu halten;
Dreimal verschnauften sie und tranken dreimal Nach Übereinkunft aus
des Severn Flut, Der, bang vor ihren blutbegier'gen Blicken, Sein bebend
Schilf entlang erschrocken lief Und barg sein krauses Haupt im hohlen
Ufer, Befleckt mit dieser tapfern Streiter Blut (Who then affrighted with
their bloody looks. Ran fearfully among the trembling reeds And hid
his crisp head in the hoUow bank, Blood-stained with these valiant com-
batants). In Antonius und Cleopatra II, 2 staunt selbst der Wind und
die Flut über die Pracht der königlichen Barke: Die Bark', in der sie
safs, ein Feuertron, Brannt* auf dem Strom: getriebnes Gold der Spiegel,
Die Purpursegel duftend, dafs der Wind Entzückt nachzog; die Ruder
waren Silber, Die nach der Flöten Ton Takt hielten, dafs das Wasser,
wie sie's trafen, schneller strömte, Verliebt in ihren Schlag (Purple the
sails and so perfumed, that The winds were lovesick with them: the oars
were silver, Which to the tune of flutes kept stroke, and made The water,
which thy beat, to foUow fast er, As amorous of their strokes) und Marc
Anton, hochtronend auf dem Marktplatz, safs allein Und pfiff der Luft,
die, war' ein Leeres möglich, Sich auch verlor, Kleopatra zu schaun,
Und einen Rifs in der Natur zurückliefs (Whistling to the air, which,
but for vacancy, Had gone to gaze on Cleopatra too. And made a gap
in nature). —
Solche Beseelungen der einzelnen Naturerscheiungen liefsen sich
leicht noch einzeln häufen; gehen wir nun noch einige Haupf-Dramen
durch, in denen mehr als in anderen die Natur in feinster Weise der
Handlung den rechten Hintergrund, das lichte oder düstere Kolorit giebt
und als mithandelnd in dieselbe hineingezogen wird, so dafs die grofs-
artigsten Beseelungen sich wie von selbst ergeben.
412 Alfred Biese.
Am Anfang des dritten Aktes im Lear fragt Kern : Was ist da aufser
schlechtem Wetter? Ritter: Ein Mann, gleich diesem Wetter, höchst
bewegt. — Wo ist der König? — Im Kampf mit dem erzürnten Element.
Er heifst dem Sturm die Erde weh'n ins Meer, Oder die krause Flut das
Land ertränken, Dafs alles wandle oder untergeh\ Rauft aus sein weifses
Haar, das. wüt'ge Windsbraut Mit blindem Grimm erfafst und macht zu
nichts. Er will in seiner kleinen Menschenwelt Des Sturms und Regens
Wettkampf übertrotzen! —
Auf der öden, schaurigen Haide, im nächtigen Sturm findet der
arme Greis im Kampf der Elemente den Widerhall seiner inneren
Erregung; die Undankbarkeit seiner Töchter, ihre grausame Unnatur
bildet eine ähnliche Wandlung in der sittlichen Welt wie der chaotische
Aufruhr in der natürlichen Welt. Da bricht er in die Worte aus (III, 2):
Blast, Wind* und sprengt die Backen!
Wütet I Blast I Ihr Katarakt* und Wolkenbrüche, speit,
Bis ihr die Turm* ertränkt, die Hahn* ertränkt!
Ihr schweflichten, gedankenschnellen Blitze,
Vortrab dem Donnerkeil, der Eichen spaltet,
Versengt mein weifses Haupt! Du Donner schmetternd,
Schlag* flach das mächt*ge Rund der Welt, zerbrich
Die Formen dör Natur, vernicht* auf eins
Den Schöpfungskeim des undankbaren Menschen.
Blow, winds, and crack your cheeks! rage! blow! You cataracts and
hurricanoes, spout Till you have drench*d our steeples, drown'd the
cocks! You sulphurous and thougt-executing fires, Vaunt-couriers of oak-
cleaving thunderbolts, Singe my white head! Andthou, all-shaking thunder,
Smite flat the thick rotundity o* the world! Crack nature's moulds, all
germens spill at once, That make ing^ateful man!
. . Rassle nach Herzens Lust! Spei Feuer, flute Regen;
Nicht Regen, Wind, Blitz, Donner sind meine Töchter:
Euch schelt* ich grausam nicht, ihr Elemente:
Euch gab ich Kronen nicht, nannt* euch nicht Kinder,
Euch bindet kein Gehorsam; darum büfst
Die grause Lust: Hier steh* ich, euer Sklav,
Ein alter Mann, arm, elend, siech, verachtet;
Und dennoch knecht*sche Helfer nenn* ich euch.
Die ihr im Bund mit zwei verruchten Töchtern,
Türmt eure hohen Schlachtreih*n auf ein Haupt,
So alt und weiüs als dies. O, o *s ist schändlich! —
Wie wunderbar weifs hier der Dichter leblose und belebte Natur,
die vernünftige Welt der Sittlichkeit und die unvernünftige der Elemente
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und moderner Poesie, m. 413
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in einander zu weben und zu verflechten, das Tote zu beleben und den
lebenden, empfindenden und leidenden Menschen eine Kraft der Empfindung
und der Leidenschaft zu geben, die nicht minder elementar ist, wie der
grollende Donner und der rasende Sturm!
Auch im Othello ist die Natur in einem furchtbaren Aufruhr, II, i:
Stellt euch nur an den beschäumten Strand,
Die zorn*ge Woge sprüht bis an die Wolken —
Nie sah ich so verderblichen Tumult des zom*gen Meeres.
Aber selbst die unbändigen Elemente nehmen schonende Rücksicht
auf Desdemona. —
Die Stürme selbst, die Strömung, wilde Wetter,
Gezackte Klippen, aufgehäufter Sand
— Unschuldgen Kiel zu fährden, leicht verhüllt, —
Als hätten sie für Schönheit Sinn, vergafsen
Ihr tötlich Amt und liefsen ungekränkt
Die holde Desdemona durch.
Kurz vorher hat Cassio noch „den grofsen Kampf des Himmels und
des Meeres" erwähnt, doch wie Othello mit Desdemona zusammentrifft,
da bricht er in den Jubelruf aus: O mein Entzücken! Wenn jedem Sturm
so heitre Stille folgt. Dann blast, Orkane, bis den Tod ihr weckt! Dann
klimme, Schiff, die Wogenberg' hinan. Hoch wie Olymp und tauch*
hinunter tief Zum Grund der Hölle! Galt es jetzt zu sterben, jetzt war's
mir höchste Wonne!
Zu Zeugen seiner Treue ruft Jago die Elemente an, III, 3: Bezeugt's
ihr ewig glühenden Lichter dort! Ihr Elemente, die ihr uns umschliefst.
Bezeugt, dafs Jago hier sich weiht mit allem, was sein Verstand, was
Herz und Hand vermag! —
Doch kurz ist das Glück Othellos, der Teufel der Eifersucht packt
ihn; selbst der Natur soll ekeln vor solchem Treubruch der Vielgelieb-
ten — wie er, IV, 2 ausruft: Dem Himmel ekelts und der Mond verbirgt
sich: der Buhler Wind, der küfst, was ihm 'begegnet. Versteckt sich in
den Höhlungen der Erde Und will nichts davon hören. Was begeh'n?
Schamlose Metze! Heaven stops the nose at it and the moon winks:
The bawdy wind that kisses all it meets Is hush'd within the hollow
mine of earth. And will not hear it. What committedl und in seiner
schrecklichen Seelen Verwirrung stöhnt er: V, 2: O unerträglich!
O furchtbare Stunde! Nun, dächt ich, müfst' ein grofs Verfinstern sein
An Sonn und Mond, und die erschreckte Erde Sich aufthun vor Entsetzen.
ZtKhr. f. Tgl. Litl.-Gcach. I. ^
414 Alfred Biese.
Desdemona singt, IV, 3: Das Mägdlein safs vsingend am Feigenbaum
früh, Singt Weide, g^ne Weide . . . Das Bächlein, es murmelt und
stimmt mit ein. Singt Weide, grüne Weide. — In einem andern eingelegten
Liede (Cymbeline II 3) findet sich eine anmutige Blumenbeseelung: Horch!
Lerch' am Himmelstor singt hell, Und Phöbus steigt herauf, Sein Rofs-
gespann trinkt süfsen Quell Von Blumenkelchen auf, Die Ringelblum' er-
wacht aus Traum, Thut gülden Auglein auf. Lacht jede Blut' im grünen
Raum, Drum, holdes Kind, steh auf! —
Im Macbeth begegnet uns wiederholt der Gedanke, dafs der Natur
mitgrauen mufs vor dem scheufslichen Verbrechen und dafs sie selbst
sich verdüstert und unheilvolle Zeichen giebt. So ruft Macbeth, I, 4:
Verbirg dich, Sternenlicht! Schau meine schwarzen tiefen Wünsche
nicht! Sieh, Auge, nicht die Hand, doch lafs geschehen, Was, wenn's
geschah, das Auge scheint zu sehen. Und Lady Macbeth sagt, I, 5:
Selbst der Rab' ist heiser, der Duncan's schicksalsvollen Eingang krächzt
Unter mein Dach. Komm, schwarze Nacht, Umwölk' dich mit dem
dicksten Dampf der Hölle, dafs nicht mein scharfes Messer sieht die
Wunde, Die es geschlagen; noch der Himmel, durchschauend aus des
Dunkels Vorhang rufe: Halt! Halt! — Und wiederum Macbeth 11, i:
Jetzt auf der halben Erde scheint tot Natur — Du festgefügte Erde,
leicht verwundbar. Hör' meine Schritte nicht, wo sie auch wandeln, Dafs
nicht ausschwatzen selber deine Steine Mein Wohinaus. — Die grauen-
volle Nacht schildert Lenox, II, 2: Die Nacht war sturmisch; wo wir
schliefen, heult' es den Schlot herab; und wie man sagt, erscholl Ein
Wimmern in der Luft, ein Todesstöhnen, Ein Prophezei'n in fürchterlichem
Laut, Von wildem Brand und gräfslichen Geschichten, Neu ausgebrütet
einer Zeit des Leidens; Der dunkle Vogel schrie die ganze Nacht hin-
durch: Man sagt, die Erde bebte fieberkrank — die earth was feverous,
vgl. Coriolan, I, 4, thou mad'st thine enemies shake as if the world were
feverous and did tremble — H, 3 sagt ein Alter: Auf 70 Jahre kann
ich mich gut erinnern. In diesem Zeitraum sah ich Schreckenstage Und
wunderbare Ding', doch diese böse Nacht Macht alles Vor'gc klein. —
Rosse: O guter Vater, der Himmel, sieh, als zürn' er Menschentfaaten,
Dräut dieser blut'gen Bühn'. Die Uhr zeigt Tag, Doch dunkle Nacht
erstickt die Wanderlampe: Ist's Sieg der Nacht, ist es die Scham des
Tages, Dafs Finsternis der Erd' Antlitz begräbt, Wenn lebend Licht 6s
küssen sollte? —
So kommt also überall das sympathetische Naturgefuhl, welches der
Natur Mitgefühl leiht, in ihr ein menschengleiches Schaudern vor
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und moderner Poesie. III. 415
dem Bösen, ein Entsetzen vor dem Verbrechen ahnt, zum erschütternden
Ausdruck — am erschütterndsten wohl in den Worten des mörderischen
Macbeth, HI, 3:
Komm*
Mit deiner dunklen Binde, Nacht, verschlicfse
Des mitleidvollen Tages zartes Auge;
Durchstreich mit unsichtbarer blutiger Hand
Und reifs in Stücke jenen grolsen Schuldbrief,
Der meine Wangen bleicht I
Come, seeling night, Scarf up the tender eye of pitiful day; And with
thy bloody and invisible hand Cancel and tear to pieces that great
bond Which keeps me pale! —
Auch im Hamlet flöfst die Unthat der Menschen Entsetzen der Natur
ein, in, 4: Solch eine That (der König^in) Die alte Huld der Sittsamkeit
entstellt, Des Himmels Antlitz glüht (vor Zorn oder Scham), ja diese
Feste, Dies Weltgebäu, mit trauerndem Gesicht, Als nahte sich der
jüngste Tag, gedenkt trübsinnig dieser That — Heavens face doth glow,
Yea, this solidity and Compound mass, With tristful visage, as against
the doom, Is thoughtsick at the act. —
Doch auch andere Beseelungen begegnen in dieser wunderbarsten
aller Tragödien — wie die grofsartige des Morgens (vgl. o.), I, i : Doch
sieh, der Morgen, angethan mit Purpur, Betritt den Tau des hohen
Hügels dort: But look, the mom, in russet mantle clad, Walks o*er the
dew of yon high eastward hill. Die Stille vor dem Sturm malt der dekla-
mirende Schauspieler, II, 2 : Doch wie wir oftmals seh'n vor einem Sturm
Ein Schweigen in den Himmeln, still die Wolken, die Winde sprachlos
und der Erdball drunten Dumpf wie der Tod — A silence in the heavens,
the rack stand still, The bold winds speechless and the orb below As
hush as death. —
Ophelia sinkt IV, 7, von Blumen umwunden, ins weinende Gewässer,
und Laertes sagt, V, i : Legt sie in den Grund, und ihrer schönen un-
befleckten Hülle Entspriefsen Veilchen 1 —
Es leuchtet demnach ein, wie die Phantasie des g^ofsen Dichters die
ganze Natur in ihren einzelnen Erscheinungen belebt und beseelt, wie er
der Grundstimmung der Tragödie nicht nur durch die landschaftliche
Szenerie den rechten Hintergrund verleiht, sondern auch die Stimmung
der Handelnden auf die Natur überträgt, so dafs sie das lichte Glück
widerstrahlt oder dafs sie selbst Grauen vor dem Verbrechen empfindet.
Und allen Sphären des Naturlebens weifs er individualisierend charak-
teristische Merkmale abzugewinnen und ihnen das Seelische anzupassen,
38*
416 Alfred Biese.
oft mit jener intuitiven Dichterkraft, welche mit der mythologischen
Phantasie sich so nahe berührt. Und nicht sind es blofs die grofsartigen
elementaren Gewalten, wie Sturm und Unwetter, Blitz und Donner und
Meeres wüten, sondern ebenso der murmelnde Bach, die friedlich
träumende Blume, das goldene Sonnenlicht, denen er Mitempfinden und
Mitgefühl leiht. Und immer und überall ist die Auffassung individueller
und subjektiver als wie sie uns in unserer bisherigen Untersuchung be.
gegnet ist, —
Es bedarf einer langen und zumeist öden Wanderung, ehe wir im
Laufe der Entwicklung der Weltlitteratur die ästhetische Naturbeseelung
auf der Höhe der Shakespeareschen wiederfinden. In der deutschen
Litteratur des sechzehnten Jahrhunderts, die ihren Stempel durch den
Meistergesang erhalten, suchen wir vergebens nach empfindungswarmen
Naturbeseelungen; selbst bei dem biedern HansSachs und bei einem der
ersten Geister seiner Zeit, bei Fisch art ist die Ausbeute gering. Eine
Probe mag genügen. In seinem „Glückhafft Schiflf" wird die Einfahrt in
den Rhein, der sie wie in altrömischen Epen ein Flufsgott empfangt,
also beschrieben:
Da freuten sich die Reifsgeferten, Als sie den Rein da rauschen hörten,
Und wünschten auf ein neues Glück, Das glücklich sie der Rein fortschick,
Und grüfsten in da mit Trommeten. ,,Nun han wir deiner hilfT vonnöten
O Rein mit deinem hellen Pluis, dien* du uns nun zur Fürdemufsl
Lafs uns geniesen deiner Gunst, Dieweil du doch entspringst bei uns . . .
Schalt dÜs Wagschülin nach begehren, Wir wollen dir es doch verehren*' , .
Der Rein mocht difs kaum hören auls, Da wund er umb daG> schiff sich krauis,
Macht umb die Räder ein weit Rad, Und schlug mit Freuden anfs Gestad,
Und liefs ein rauschend Stimm da hören, Drauis man möcht diese Wort erklären:
„Frisch dran ir lieben Eydgenossen I" sprach er, „frisch dran! seit unverdrossen!
Gleichwie euch nun dils wetter Übt, Also bin ich auch unbetrübt:
Ihr sehet ja mein Wasser klar Gleich wie ein Spiegel offenbar."
Solch stimm der Gesellschaft letzam war Und schwieg drob still erstaunet gar,
Es däucht sie das sie die Stimm flil Als wenn ein wind biieis in ein hül . .
Der Steuermann stund fest an dem pflüg Und schnitt solch furchen in den Rein,
Dais das underst zu oberst schein. Die Sonn hat auch ir Freud damit,
Das so dapffer das Schiff fortschritt . . das gestad schertzt auch mit dem Schiff:
Wenn das Wasser dem land zuliff, Dann gab es einen Widerton
Gleichwie die Räder thäten gon . . Ja der Rein warff auch auff klein wällen,
Die dantzten umb das Schiff zu gsellen (geleiten).
In der empfindungsöden Leere der Litteratur des 17. Jahrhunderts,
bei dem trostlosen Verfall des geistigen Lebens in Deutschland infolge
Die ästhetische Naturbeseelung in aotiker und moderner Poesie. IQ. 417
des unseligsten aller Kriege ragt einsam auf als Träger echten Gefühls —
das evangelische Kirchenlied. Während in beiden schlesischen Dichter-
schulen das Erkünstelte, Gezierte, Bombastische vorherrscht, wird im
Kirchenliede der volkstümliche Ton wahrer Herzensempfindung ange-
schlagen. Es will mir dünken, als ob ganze Haufen von Opitz*schen
Reimereien aufgewogen vmrden durch die schlichten und so schönen
Zeilen Paul Gerhards:
Nun ruhen alle Wälder, Vieh, Menschen, Stadt' und Felder, Es
schläft die ganze Welt — eine Beseelung, die uns an das Alkman'sche
Fragment idooai dk tpdpayytq tu r. X. gemahnt — dann heifst es weiter:
„der Tag ist nun vergangen, die güldnen Sternlein prangen Am blauen
Himmelssaal" — wie eine Schar zu Gottes Tron Gerufener.
In solchen wenigen Worten steckt mehr Poesie als in Philipp Zesens
gesamter „Frühlingslust und dichterischem Rosen- und Lilienthal'' mit
seinen Daktylen: Blitzet ihr Himmel, Schwitzet (!) uns Regen, Machet
Getümmel, Lachet mit Segen Unsere Wälder und Felder doch an!
Glimmet ihr Sterne, Tauet ihr Lüfte, Schimmert von ferne, Schauet durch
Klüfte, Schauet auf diesen verdunkelten Plan etc.
Lohenstein überbietet aber alle an Schwulst, die Art seiner Natur-
anschauung und Naturbeseelung ist aus folgenden Versen seiner Venus
ersichtlich:
Ja selbst die Zeit wird Braut, die Blumengöttin schmücket
Ihr selbst das Brautgewand, und ihre Kunsthand sticket
Der Tellus grünen Rock mit frischem Rosenschnee
Und weiisen Lilien aus. Hier wachset fetter Klee
Auf Hyblens Marmelbrust, dort bücken die Narcissen
Sich zu den Tulpen hin, einander recht zu küssen (!).
Hier schmilzt das Thränensalz vom rauhen Hyacinth,
Wo der Krystallenbach aus hellen Klippen rinnt,
Voll Lust sein herbes Leid (I) darinnen zu bespiegeln.
Indessen feuchtet dort mit den bethauten Flügeln
Der zuckersüfse West die Wiese, die fast lechst (!),
Das weiisbeperlte Gras, das in den Thälem wächst,
Bekränzt der Sternenthau. Die Wälder werden düstern,
Nun sich der Wurzeln Saft den Asten will verschwistem ;
Das bunte Flügel volk, das stumme Wasserheer,
Ja selbst der kluge Mensch und was Luft, Erd* und Meer
Beseeltes (!) in sich hat, wird gleichsam jung und rege.
Wir lernten herrliche Zeilen des Aschylos kennen, in denen er die
Frühlingszeit als die Zeit der Liebe zwischen dem Himmel und der
418 Alfred Biese.
keuschen Erde pries,*) und nicht minder echt griechisch und poetisch
ist der Gedanke, dafs der das All belebende Hauch Liebe ist, dafs nicht
der Streit, sondern die Liebe die Mutter aller Dinge ist — und damit
vergleiche man nun obige Zeilen und die folgenden, die noch nicht seine
schlechtesten sind:
Wem pflanzt der Liebe Geist nicht Lieb' und Flammen ein?
Man sieht das Liebes-Ö1 in Stemen-Ampeln brennen.
Die angenehme Glut kann nichts als Liebe sein,
Für der sich mufs der Tau von Phöbus Schleier trennen.
Der Himmel liebt der Erde schönen Ball
Und blickt zu Nacht sie mit tausend Augen an.
Sie auch: dafe sie dem Himmel wohlgefall,
Flicht in ihr grünes Haar Klee, Lilgen, Tulipan.
Die See und Flüsse fuhrn selbst sfifse Liebesflammen;
Ja Arethusens Kwäll* und Alpheus kreucht zusammen . .
Ja, selbst die Pflanzenliebe, die bei den spätesten griechischen Roman-
dichtern eine solche Rolle spielte, taucht auch hier wieder auf:
Ist ferner dies der Liebe Wirkung nicht?
Wennn sich der Rebenstock umb Ulme Bäume schleust,
Wenn Eppich sich umb Mandel-Bäume flicht,
Und da man sie zertheilt, gar Thränen — Saltz vergeust . .
Wo nun die Liebes-Gluth die Blumen kan entzünden,
Wird man an Rosen leicht die grösten Flammen finden . .
Es ist wie ein Trunk aus erfrischendem Quell, wenn man neben
dieser „völlig zur Mumie vertrockneten" Kunstdichtung doch noch eine
Volkspoesie**) findet, deren Strom lauter und rein wie je dahinfliefst, »^un-
beirrt durch die Mode des Tages, immer jung und verjüngend aus der
Gesammtmasse des Volkes hervorbrechend." Man ersieht da aus wenigen
stimmungsvollen Versen, wie doch die alte innige urgermanische Natur-
liebe nicht ganz erstorben ist, wie die altbekannten herzlichen Töne nicht
ganz verklungen sind. So haben wir die uralte bukolische Beseelung
wieder, wenn es von der ,Mutter Gottes* heifst: „Maria, die ging über
d' Haid, Da weinte Gras und Blum vor Leid, Sie fand nicht ihren Sohn."
Und der ins Kloster gesandte Jüngling möchte, dafs nun die Natur auch
mit ihm klage: „Euch grüfs' ich aJl Ihr Berg' und Thal, Wollt mich nit
*) Vergl. das Logau'sche Epig^ramm über den Mai: Dieser Monat ist ein Kufs, den
der Himmel giebt der Erde, Dafe sie jetzund seine Braut, künftig eine Mutter werde.
**) Vergl. Freiherr v. Ditfurth, Deutsche Volks- und GesellschaftsHeder des 17. und
18. Jahrhunderts 1872.
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und moderner Poesie, m. 419
weiter treiben; — Laub und Gras Und alles was grünet in wilden Waiden,
O Baum verlier Dein grüne Zier, Klag, Sterb'n, wie mir, Gebühret Dir."
Der Jäger, der zur ,Frühjagd* aufbricht, singt: „Wenn ich komm nun
in den Wald, Da ist alles stumm und stille, Schlummrig auch noch von
Gestalt, Nur die Lutt ist frisch und kühle. . . Jetzt die höchste Tannen-
spitz Thut Aurora güldig malen, Drauf das Finklein hat sein* Sitz Und
sein Lobgesang läfst schallen Als ein Dank vor diese Nacht, Davon neu
die Welt erwacht. Leislich kommt der Morgenwind, Wieget in den
oberst Zweigen, Dafs sie wie die frommen Kind Als zum Beten sich
verneigen. Auch ein Thau als Opfer dar. Fällt aus ihrem Haar. O was
Schön's ist zu erschauen. Zu vernehmen in dem Wald, Dafs ein* könnt
das Herz zerthau*n Vor solch Wundem mannigfalte." Wer möchte hier
nicht den Fulsschlag echter innigster Empfindung vernehmen — klingt
es doch wie latente Melodie: ,Leislich kommt der Morgenwind, Wieget
in den oberst Zweigen" — so dafs man den jungen Goethe, der auch
an Neubildungen nicht arm ist, schon singen zu hören glaubt, und ist
doch die Beseelung der sich wie betende Kinder neigenden Zweige eine
so rührend naive \md treffende I
Doch auch in der Kunstdichtung läfst sich eine Reaktion gegen die
Unnatürlichkeit der Lohensteiner erkennen. Friedrich von Spee, obwohl
wesentlich süfslich pietistisch in seinen Gedichten, hat doch ein offenes
Auge für die Gotteswelt und bietet manche stimmungsvolle Zeile wie
z. B. : „Der Winter ist furbei, Die Kranich wiederkehren, Nun reget sich
der Vogelschrei, Die Nester sich vermehren; Laub mit gemach Nun
schleicht an Tag, Die Blümlein sich nun melden; Wie Schlänglein krumm
Gehn lächelnd um Die Bächlein kühl im Walde." Personifikationen
sind nicht selten. Der Mond ist ein guter Hirte, der seine Schäflein, die
Sterne, auf die blauen Haiden treibt und ihnen auf lindgestinuntem Rohr
etwas vorbläst; im Frühling schmückt sich die reine Sonne, setzt ihre
Krone auf, gürtet sich mit Rosen, füllt ihren Köcher mit Pfeilen und
läfst auf marmorglatten Meilen ihre Rosse dahinsausen; der Wind fliegt
umher, verschnauft von Zeit zu Zeit, schüttelt seine Flügel aus und zieht
sich in sein Haus zurück, wenn er sich matt geflogen: der Bach Kedron
sitzt, auf einen Eimer gelehnt, in einer Kluft und strählt seine Binsenhaare,
seine Schultern bedecken Gras und Wasserblätter, seinen Wässerlein
bläst er ein Schlummerlied oder treibt sie vor sich her u. s. f Doch
der ächteste Vorgänger Goethes als Gefuhlslyriker, der da dichtet, weil
ein inneres Mufs ihn treibt, weil er loslösen mufs von seiner Brust, was
sie drückt, ist der geniale, aber unglückliche — denn er wufste sich
4^ Alfred Biese.
nicht zu zähmen — Christian Günther. Auch für unser Thema bietet
er Manches. Als er die Statte wieder betritt, wo er mit der Geliebten
gekost, ruft er, (I, 4):*) „Erinnert euch mit mir, ihr Blumen, Bäirni* und
Schatten, Der oft mit Flavien gehaltnen Abendlust! Hier war es, wo ihr
Haupt mir oft die Achsel drückte; Verschweiget ihr Linden mehr, als ich
nicht sagen darf" — wieder denkt man an Walthers verschwiegenes Vög-
lein unter der Linden! No. 28 beschwort er die Winde: „Erzahlt, ihr kalten
Nordwinde, die Seufzer meiner Schäferin! Verkündigt dem verlafsnen
Kinde, dafs ich der alte Redlich bin!** Auch sonst macht er wie das Volks-
lied den Wind zum Boten seiner Grüfse an die Geliebte, II, 28: „Hier
hör' ich bei der schlanken Fichte Den sanften Wind nach Schweidnitz
ziehn Und gab ihm allzeit brünstiglich Viel tausend heifseKüfs' an dich!" Und
als er dort ist, singt er III, 2: „Seid tausendmal gegrüfst ihr Felder,
Strauch' und Bäume, Ihr kennt wohl diesen noch, von dem ihr so viel
Reime, So manches Lied gehört, so manchen Kufs gesehen; Besinnt euch
auf die Lust der heitern Sommernächte!" Und als es ^wieder Frühling ist,
mahnt er die Verlassene (6): „Dort soll der jungen Vögel Schrein Die
Botschaft meiner Sehnsucht sein, Und scherzt der West mit Kleid und
Wangen, So wiss' und glaube sicherlich: Er meldet dir mein heifs Ver-
langen Und küfst dich tausendmal vor mich." Mit Lear*schem Pathos
klagt er, wie sein Glück zertrümmert, seine Hoffnungen zerschlagen sind:
„Stürmt, reifst und rast, ihr Unglückswinde, Zeigt eure ganze Tyrannei,
Verdreht, zerschlitzt so Zweig als Rinde Und brecht den HofFnungsbaum
entzwei! Dies Hagelwetter Triflft Stamm und Blätter, Die Wurzel bleibt,
Bis Sturm und Regen Ihr Wüten legen, Da sie von neuem grünt und
Äste treibt."
Teilnahme und Mitleid sucht und findet er immer wieder in der
Natur, IV, 5; „Die ihr alles hört und saget, Luft und Forst und Meer
durchjaget, Echo, Sonne, Mond und Wind, Sagt mir doch, wo steckt
mein Kind?" 21: „Den sanften West bewegt mein Klagen, Es rauscht
die Bach Den Seufzern nach Aus Mitleid meiner Plagen!" oder: „Sieh
die Tropfen an den Birken Thun dir selbst ihr Mitleid kund, Weil ver-
liebte Thränen wirken, Weinen sie um unsern Bund." — Eine bewufste
Reaktion gegen die Unnatur der schlesischen Schulen ging auch noch
von den Dichtern Wernicke, Canitz und Brockes aus. Der letztere fand
den Hauptübelstand in der Mangelhaftigkeit der poetischen Stoffe und
*) Gedichte von Joh. Chr. Günther, herausgegeben von Julius Tittmann (Deutsche
Dichter des 17. Jahrhunderts von Carl Goedeke und Julius Tittmann), 6. Bd., Leipzig 1874.
J
Die ästhetische NaturbeseeluDj^ in antiker und modemer Poesie. III. 421
entdeckte den würdigsten in der Natur, weil sie, wie er selbst bekennt,
„Objekte bietet, woraus die Menschen nebst einer erlaubten Belustigung
zugleich erbaut werden könnten." Doch war seine Poesie nicht Original,
seine Muster sind die „Jahreszeiten" von Thomson. Dieser ward der
Vater jener vielberüchtigften Naturschilderung, die ein Bild an das andere
reiht, die Natur getreu abzeichnet, ohne ihr aber immer eine stimmungs-
volle Seele, jenen notwendigen immanenten Bezug zum Geistigen zu ver-
leihen. Thomson und Brockes haben fast keine echte signifikante und
individuelle Beseelung — man müfste denn dazu seufzende Winde, leb-
haftes, lachendes Grün u. dergl. und Allegorieen wie: die Nacht, in weitem
losem Gewände, dahin rechnen — meistens überwiegt die monotone
Abmalung einer Fülle von Einzelbildern, und die Pausen werden durch
moralisierende Lehren ausgefüllt. Aber dem vielgeschmähten Brockes
mit seiner gereimten Botanik und Physik mufs man doch ebenso wie
Thomson das Verdienst lassen, dafs sie die Liebe zur Natur, welche sie
ehrlich empfanden, auch bei anderen geweckt haben. Es beginnt seit
ihren Versuchen die Natur, das Landschaftliche, sowie das Elementare
überhaupt einen weit breiteren Raum in der Poesie einzunehmen, was
allerdings nicht immer Zeugnis ablegt von einem vertieften, sondern oft
genug von einem verflachten Naturgefuhl. War im Zeitalter Ludwigs XV.
die Unnatur auf die Spitze getrieben, in der Zeit der Perücke und des
Zopfes, so dafs nur das Gekünstelte und Verschnörkelte für schön galt
und selbst die Natur in ihren Formen vergewaltiget, zugestutzt und ver-
stümmelt wurde, — so dafs die öden Ebenen am meisten gepriesen
wurden, weil des Gartenkünstlers Hand daselbst den meisten freien Spiel-
raum für seine Launen hatte — so trat nunmehr in England und bald
auch in Deutschland eine Umwandlung des Geschmackes ein; man wandte
sich der Natur wieder zu, suchte natürlich zu sein, verfiel aber zunächst
in das Extrem der sentimentalsten Rührseligkeit und Empfindsamkeit,
um erst nach schwerem Ringen sich zu einer gesunderen AufFassungsweise
hindurch zu winden. Doch um auch der sentimental und melancholisch
gefärbten Naturbeseelung hier zu gedenken, will ich nur eine Stelle aus
Young's Klagen oder Nachtgedanken über Leben, Tod und Unsterblich-
keit (übersetzt von J. A. Ebert, Bd. I, Braunschweig 1760) ausschreiben:
I. Nacht (S. sf): „Ich erwache, wie ich pflege von einem kurzen und
unruhigen Schlummer". . . Die Göttin Nacht streckt jetzt von ihrem
schwarzen Throne in 'strahlenloser Majestät ihren bleiernen Zepter über
eine schlummernde Welt aus. Welch eine tote Stille! Welch eine tiefe
Finsternis! Weder das Auge noch das Ohr findet einen Gegenstand.
4S2 Alfred Biese.
Die Schöpfung schläft. Es ist, als wenn der allgemeine Puls des Lebens
still stände und die Natur eine Pause machte, eine fürchterliche Pause,
die ihr Ende prophezeit" . . .
Solche krankhafte Schwermut warf auch auf die deutsche Litteratur
ihre Schatten — den Selbstreinigungsprozefs von diesem epidemischen
Übel vollzog erst der Werther.
Liebe zum Naturschildem verrät die gesamte deutsche Dichtung bis
Goethe, doch an weiter (uhrenden, recht individuellen, an die Shake-
speare*schen heranreichenden Naturbeseelungen dürfte der Reichtum nicht
allzu grofs sein; meist bewegen sie sich in den ausgetretenen Bahnen
und entbehren des charakteristischen Lebens. Es ist mehr Anempfundenes
als wirklich Selbstempfundenes — spielen doch eingestandenermafsen so
viele Dichter nur mit der Poesie, wie die ganze Schar der Anakreontiker.
Selbst Albrecht von Haller ist mehr Maler undMoralist als Stimmung
machender Schilderer der Alpenwelt. Er hat kaum eine poetische Be-
seelung. Was besagen Zeilen wie „dann hier, wo Gotthards Haupt die
Wolken übersteigt** oder: „Wenn Titans erster Strahl der Felsen Höh*
vergüldet Und sein verklärter Blick die Nebel unterdrückt** oder: „Durch-
sucht das holde Reich der buntgeschmückten Kräuter, Die ein verliebter
West mit frühen Perlen tränkt" u. a.? Statt der beseelenden poetischen
Phantasie finden wir auch bei ihm mehr die mythologische Gelehrsam-
keit mit Titan, Aurora, Zephyr etc. wirksam. — Aber die Reihe jener
Dichterlinge bis Klopstock und Goethe zeigen wenigstens, was als
wichtiges Moment in der Entwicklung des Naturgefuhls gelten mufs, jene
wachsende Hinneigung zum Landleben, den teils müden, teils kräftigeren
Zug zmn Elegisch-Idyllischen. Immer wieder begegnen uns Oden „Auf
das Landleben" oder an fingierte Hirten und Hirtinnen, immer wieder
wird die Stille und Unschuld der ländlichen Trift im Gegensatz zu der
Falschheit und Unruhe des städtischen Lebens geschildert. Die dabei
mit unterlaufenden Beseelungen der Natur tragen den Charakter der ge-
samten Dichtart der Zeit, den des Weichen und Süfslichen. Eine knappe
Blütenlese wird als Illustration des Gesagften genügen. — So besingt
Hagedorn „die Landlust": „Es webet, wallt und spielet Das Laub um
jeden Strauch, Und jede Stunde fühlet Des lauhen Zephyrs Hauch.
Was mir vor Augen schwebet, Gefallt und hüpft und singt. Und alles,
alles lebet Und alles scheint verjüngt" oder im Gedicht „der Mai": „Wie
buhlerisch, wie so gelinde Erwärmen die westlichen Winde Das Ufer, den
Hügel, die Gruft.** —
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und modemer Poesie, m. 423
Carl Arnold Schmid findet im Walde den rechten Platz für den
Dichter, und wie er diesem allein das rechte Verständnis für den Zauber
des Waldesdunkels und des Blätterrauschens zuspricht, so setzt er auch
ein empfangliches Gehör' bei den alten hohen Bäumen voraus. In
„Unser Wald" ermahnt er seinen Freund:
Komm, Gärtner, dies heilige Dunkel der Eichen
Ruft (]ich mit mir gebieterisch herbei: Hier soll uns kein lauernder Pöbel beschleichen,
Die Luft ist hier unser und freL — Freund, höre der Blätter verständliches Rauschen!
Der Nestor dort, wie weislich er spricht! Er läfst sich allein von Poeten belauschen,
Ihn findet kein Menschengesicht. — Willkommen, du fröhlicher Alter, willkommen!
Gesegnet sei dein Schatten und du! . .
Und am Schlufs heifst es:
Hier, Gärtner, hier wäre dein Land der Poeten . .
In Grotten umzingeln uns Götter und Musen. Du fühlst es. Sie fordern dein Lied.
Der Wald wird schon ohren; es horchet (!) sein^Schweigen
Den Ton sich her, der sanft dir entfliefst
Sing, kühn auf dich selber, den durstenden (I) Zweigen
Ein Lied, das sich stemweis ergiefsti
Wie kläglich scheitert hier der Dichter, pointiert beseelen zu wollen!
Die Litotes gfrenzt hier doch schon stark an Nonsens.
Auch Gleim feiert „den Landmann":
„Wie selig ist, wer ohne Sorgen
Sein väterliches Erbe pflügt I
Die Sonne lächelt jeden Morgen
Den Rasen an, auf dem er liegt!
Sie lächelt ihm, sie geht ihm unter,
Und nun, willkommen süfse Nacht!
Er singt sich in den Schlaf, und munter
Erwacht er, wenn die Sonn* erwacht", u. s. f.
Johann Peter Uzjauchzt in seinen „Empfindungen an einem Frühlings-
morgen" :
„O welche frische Luft haucht vom bebüschten Hug^l! Welch angenehmer West durchzieht
Mit rauschendem bethauten Flügel dies holde Thal, wo alles grünt und blüht! . .
Wie blitzt der junge Klee vom farbenreichen Thaue!
Wie himmlisch lächelt die Natur!» . . .
Ein ander Mal dankt er Gott, dafs er den Frühling gesandt „in
seinem schimmernden Gewand, Und Rosen um sein Haupt gewunden.
Holdlächelnd kömmt er schon! . . Er geht in Büschen, und sie blüh'n»
424 Alfred Biese.
Den Fluren kömmt ihr frisches Grün, Und Wäldern wächst ihr Schatten
wieder, Der West, liebkosend, schwingt Sein thauendes Gefieder,
Und jeder frohe Vogel singt,"
So preist auch Ewald v. Kleist den „Frühling'': „Es lachen die
Gründe voll Blumen, und alles freut sich, als flösse der Himmel selber
zur Erden!" und a. a. Stelle: „Empfangt mich, heilige Schatten, ihr
Wohnungen süfser Entzückung. Und ihr, ihr lachenden Wiesen, Ihr
holden Thäler voll Rosen, ihr Labyrinthe der Bäche, Ich wül die Wollust
in mich mit eurem Balsamhauch ziehen. Und wenn Aurora euch weckt,
mit ihrem Purpur." Hübsch ist das Bild: „Auf rosenfarbenem Gewölk,
bekränzt mit Tulpen und Lilien, Sank jüngst der Frühling vom Himmel."
Niemand spiegelt den Zeitgeist so wieder wie Klopstock. Küsse
und Tränen sind die Losung dieser Epoche; und dafs auch Klopstock
in seinen Jugendjahren mehr schöner Frauen Lippen [lockten als der
Alpen Firnen, das geben seine Briefe aus der Schweiz Zeugnis oder die
Berichte (z. B. Hirzels) über ihn. Aber bald nahm seine Phantasie immer
höheren Flug und mit künsderischer Kraft zwang er die Sprache, den
kühnsten und höchsten Gedanken Ausdruck zu geben. Er hat oft in
vollen, wohlklingenden Rhythmen den Preis der Natur gesungen, mit dem
Pathos der Psalmen oder des Ossian, aber das Meiste ist von solchem
seraphischen Taumel zu den Stemenhöhen emporgehoben, dafs das Indi-
viduelle verloren geht — damit ist aber der ästhetischen Beseelung der
Boden entzogen. Sie findet sich daher äufserst selten; oft nur im Ansatz,
denn der Gedanken Flug hastet von Bild zu Bild, nirgend verweilend
und oft in Stammeln der Anbetung sich verlierend.
So in der „Frühlingsfeier": „Lüfte, die um mich weh*n und sanfte
Kühlung Auf mein glühendes Angesicht hauchen. Euch, wunderbare
Lüfte, Sandte der Herr? der Unendliche? Aber jetzt werden sie still,
kaum atmen sie . . Nun schweben und rauschen und wirbeln die Winde!
Wie beugt sich der Wald! wie hebt sich der Strom! Sichtbar, wie du
es Sterblichen sein kannst, Ja, das bist du, sichtbar. Unendlicher! Der
Wald neigt sich, der Strom fliehet und ich falle nicht auf mein Ange-
sicht? Herr! Herr! . . Alles ist stille vor dir, du Naher! Rings umher
ist alles stille! . . Und die Gewitterwinde? Sie tragen den Donner! Wie
sie rauschen! wie sie die Wälder durchrauschen! Und nun schweigen sie.
Langsam wandelt die schwarze Wolke."
Sein schwärmerisches Gemüt, das Wonne und Wehmut aus der
Natur saugt, ist besonders freund dem milden Mondlicht, er beseelt den
bleichen Gefährten der Nacht, er ist ihm lieb wie ein Genosse. So
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und moderner Poesie, m. 425
schreibt Carl Friedrich Cramer*): (In der Gesellschaft) „könnt* ers oft
nicht langer ausdauem, mit vollem Herzen, in dem eitlen Geräusche zu
sein. Er ging hinaus und weidete sich an der grofsen Szene der uner-
mefslichen Natur. Da wandelten die Orionen und Plejaden über seinem
Haupte herauf, und der liebe Mond stand gegen ihm über. Wie er ihm
doch so innig in sein himmlisches freundliches Angesicht sah, Grufs auf
Grufs ihm zuwarf, als war* es ihres gewesen, oft nicht sich halten konnte,
ihm zuzurufen mit dem Geliebten! — Mond! Mond! — Gedankenfreundin!
Eile nicht! Bleib! Lieber Mond! wie heifsest du? Luna? Cyllene? Cynthia?
— Oder soll ich dich die schöne Betty (!) des Himmels nennen?" Und
so heifst es in „die frühen Gräber": „Willkommen, o silberner Mond,
Schöner stiller Gefahrte der Nacht! Du entfliehst? Eile nicht, bleib,
Gedankenfreund! Sehet, er bleibt, das Gewölk wallte nur hin. Des
Maies Erwachen ist nur Schöner noch, wie die Sommernacht. Wenn
ihm Thau, hell wie Licht, aus der Locke träuft, Und zu dem Hügel
herauf röthlich er kommt."
Mächtig war die Einwirkung Klopstocks auf seine Zeitgenossen; das
Interesse für deutsche Dichtung ward neu belebt; wir treten in die Epoche
der Musenalmanache. Und echte Herztöne werden darin angeschlagen,
und sinnige Naturbeseelungen wissen gar manche ihren Liedern einzu-
streuen. Wie rührend naiv, so des Volkes Sprache treffend ist das
„Morgenlied eines Bauemmannes" des wackeren Matthias Claudius?
Da kömmt die liebe Sonne wieder, da kömmt sie wieder her!
Sie schlummert nicht und wird nicht mfider, Und läuft doch immer sehr.
und sein herrliches „Abendlied":
Der Mond ist aufgegangen, Die goldnen Sterne prangen
Am Himmel hell und klar; Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget Der weifse Nebel wunderbar.
Wie ist die Welt so stille, Und in der Dämmrung Hülle
So traulich und so holdl . .
So singt auch Boie „An den Abend**:
Wie still wird itzt die LuftI — Die Winde Wie lieblich sind sie und wie schwach!
Sanft lispelnd spielt das Laub der Linde, Und sanfter lispelt Echo nach.
Durch Blumen rinnt die Silberquelle; Es wäscht, dem Ohr vernehmlich kaum.
Mit klagendem Geräusch die Welle Der schauervollen Grotte Saum . . .
Wie Bürger immer den^Schelm im Nacken hat, so auch, wenn er
wie Claudius den Mond apostrophiert. „Auch ein Lied an den liebenMond" :
*) Klopstock (In Fragmenten aus Briefen von Tellow an Elise) Haunburg 1777, I, S. 149.
426 Alfred Biese.
Ei schönen guten Abend, Dort am Himmel!
Man freuet sich, Ihn nah fein wohl zu sehn.
Willkommen mir vor allem Stemgewimmel I
Vor allem Stemgewimmel lieb und schön! —
Was lächelst du so bittlich her, mein Theurer?** . . .
und SO geht das Getandle weiter. —
Kräftiger als die Genannten und als der friedlich-idyllische Voss und
der schwärmerische Hölty, die sonst beide einen offenen und empfanglichen
Sinn für die stillen Reize der Natur nicht verleugnen, weifs Friedrich
Stolberg in die Saiten zu schlagen, speziell was die Naturbeseelung be-
trifft. So in dem Gedichte „Der Harz":
Herzlich sei mir geg^üfst, wertes Cheruskerland \
Land des nervigen Arms und der gefiirchteten
Kühnheit, freieren Geistes denn das flache Gefild* umher!
Dir gab Mutter Natur, aus der vergeudenden
Urne, männlichen Schmuck, Einfalt und Würde dir!
Im antwortenden Thal wallet die goldene
Flut des Segens und strömt in den genügsamen
Schoofs des lächelnden Fleifees, Der nicht kärglich die Garben zählt.
. . Dort im wehenden Hain wohnt die Begeisterung;
Felsen jauchzten zurück, wenn sich der Barden Sang
Unter bebenden Wipfeln Durch das hallende Thal ergofe . . .
Wie Stolberg hier das vor ihm selten gepriesene Gebirge feiert, so
giebt er auch dem grofsartigen Eindruck, den das Meer auf ihn macht,
folgende Worte ,An das Meer':
Du heiliges und weites Meer, Wie ist dein Anblick mir so hehrl
Sei mir im frühen Strahl gegrüfst, Der zitternd deine Lippen küfst! . .
Wenn sich zu dir die Sonne neigt, Errötend in dein Lager steigt,
Dann tönet deiner Wogen Klang Der müden Erde Wiegensang.
Es höret dich der Abendstern Und winket freundlich dir von fem;
Dir lächelt Luna, wenn ihr Licht Sich millionenfaltig bricht! . .
Wie schön und wie individuell sind in diesen Zeilen die Beseelungen!
Wie malerisch deutet er das Huschen der frühen Morgenstrahlen über
die Meeresfläche als ein zitterndes Küssen der Flut, — das Herabsinken
der Sonne ins Meer, das von dem rosigen Abendschein übergössen wird,
schildert er, als ob ein keusches Mädchen errötend ihr Lager bestiege;
und das Rauschen des Meeres wird ihm zum Wiegenlied für die müde
Erde, wie das Blitzen des Abendsterns zum freundlichen Winken. —
Doch, die deutsche Lyrik gipfelt in Goethe. Er sammelt nur in
einen Brennpunkt die Einzel-Strahlen der Naturempfindung, wie wir sie in
der Lyrik vor ihm kennen gelernt haben. Aber zugleich vereint re
Homerische Naivetät mit Rousseau'scher Naturschwärmerei und Ossian'scher
j
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und moderner Poesie. III. 427
Melancholie. Aus diesen drei Momenten ist jenes Gedicht zusammenge-
woben, das wie keine andere seiner Dichtungen durchglüht ist von der
Flamme reinster Naturbegeisterung, herzlichster Liebe zu ihren Erschei-
nungen im Einzelnen und anbetender Bewunderung ihrer Allgröfse und
Allherrlichkeit. Vor Rousseau hat Goethe voraus das — deutsche Gemüt;
wie viel wärmer und herzlicher sind die Naturschilderungen im Wert her
als in der Neuen Heloise. Jede Schilderung im Werther ist getaucht in
den Strom der Empfindung, ja man möchte sagen in das Blut seines
Herzens — sie sind belebt und beseelt von dem mächtigen Gefühl, das
in seiner Brust lebt, und umgekehrt findet er für die tiefsten Seelenregungen
stets in der Natur ein Analogon, harmonisch oder kontrastierend. Die
Natur ist ihm ein Spiegel seines Innern — und darum lebt alles in ihr
ein ähnliches Leben wie sein eigen Herz, darum beseelt er alles, aber
sie ist auch zugleich der Balsam für sein wundes Herz, der Trost in der
Einsamkeit, kurz sein bester — Freund, und darum gewinnt die Beseelung
einen so warmen, herzlichen Ton — wie ihn Rousseau nie gefunden hat.
Goethe sagt selbst in ,Wahrheit und Dichtung* über die Naturstimmung
des , Werther': „Ich suchte mich innerlich von allem Fremden zu entbinden,
das Aufsere liebevoll zu betrachten und alle Wesen, vom menschlichen
an, so tief hinab als sie nur fafslich sein konnten, jedes in seiner Art auf
mich wirken zu lassen. Dadurch entstand eine wundersame Verwandt-
schaft mit den einzelnen Gegenständen der Natur und ein inniges An-
klingen, ein Mitstimmen ins Ganze, so dafs ein jeder Wechsel, es sei der
Ortschaften und Gegenden, oder der Tages- und Jahreszeiten, oder
was sonst sich ereignen konnte, mich aufs Innigste berührte. Der malerische
Blick gesellte sich zu dem dichterischen, die schöne ländliche, durch den
freundlichen Flufs belebte Landschaft vermehrte meine Neigung zur Ein-
samkeit und begünstigte meine stillen nach allen Seiten hin sich aus-
breitenden Betrachtungen," Ja, fürwahr Natur und Seele sind ihm zwei
gleich gestimmte Saiten, deren Töne herüber und hinübertönen, und was
seine Beseelungen von denen vieler anderer z. B., — wie wir sehen werden
— Heine's unterscheidet, ist jene Objektivität, mit welcher er stets das
immanente Wesen jeder Naturerscheinung wohl im Auge behält, so dafs
er eben, wie er selbst sagt. Jedes in seiner Art auf sich wirken läfstS
Mit vollem Recht haben Erich Schmidt, Brandes u. a. bemerkt, dafs
der erste Teil des Werthers ein naiveres, der zweite ein sentimentaleres
Verhältnis zur Natur bekundet, in dem letzteren macht sich der Einflufs
Ossian*s mit seiner Schwermut zu sehr geltend. Werther selbst schreibt
(r2. Oktober): ,Ossian hat in meinem Herzen den Homer verdrängt*.
428 Alfred Biese.
Es spiegelt sich dies auch in den Naturbeseelungen wieder. Sie sind
am schönsten und innigsten in der ersten Hälfte. Welche wärmende
Glut der Beseelung, welche Poesie des Pantheismus — der nun einmal
zu allen Zeiten die Geburtsstätte des intensivesten Naturgefuhls gewesen
ist — liegt in der Schilderung des süfsen Frühlingsmorgens (lo. Mai):
„Wenn das liebe Thal um mich dampft und die hohe Sonne an der
Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht und
nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im
hohen Grase am fallenden Bache liege und näher an der Erde tausend
mannigfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln
der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen, unergründlichen Ge-
stalten der Würmchen, der Mückchen näher an meinem Herzen fühle;
und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde
schuf, das Wehen des Allliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend
trägt und erhält! Mein Freund, wenn's dann um meine Augen dämmert
und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele
ruhen wie die Gestalt einer Geliebten; dann sehne ich mich oft und
denke: Ach! könntest du das wieder ausdrücken, könntest dem Papier
das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, dafs es würde der
Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen
Gottes! Mein Freund! — Aber ich gehe darüber zu Grunde, ich erliege
unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen."
Hier ist Gott und Natur, Religion und Naturgefuhl eins! — Die
Leuchte in den Wundergängen der Natur ist auch für Werther die Liebe.
„Was ist unserm Herzen die Welt ohne Liebe! Was eine Zauberlaterne
ohne Licht!" bekennt er, und gleich darauf (24 Julius): „Noch nie war
ich glücklicher, noch nie war meine Empfindung an die Natur, bis aufs
Steinchen, aufs Gräschen herunter, voller und inniger; und doch — ich
weifs nicht, wie ich mich ausdrücken soll — meine vorstellende Kraft
ist so schwach, alles schwimmt und schwankt so vor meiner Seele, dafs
ich keinen Umrifs packen kann."
Für alles und jedes in der landschaftlichen Umgebung hat er persön-
liches Interesse, der Brunnen und die Allee, in der er spazieren geht, ist
ihm „lieb" — „Ich stand auf der Terrasse," heifst es vom 10. September
„unter den hohen Kastanienbäumen und sah der Sonne nach, die mir
nun zum letztenmal über dem lieblichen Thale, über dem sanften Flufs
unterging. Ich ging in der Allee auf und ab, die mir so lieb war; ein
geheimer sympathetischer Zug hatte auch mich hier so oft gehalten,
ehe ich noch Lotten kannte, und wie freuten wir uns, als wir im Anfang
J
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und moderner Poesie. III. 429
. — ■ ■ ^'
unserer Bekanntschaft die wechselseitige Neigung zu diesem Plätz-
chen entdeckten!"
Das „volle, warme Gefühl seines Herzens an der lebendigen Natur
überströmt ihn mit Wonne," wenn er vom Berge herab ins sonnen-
beglänzte Tal hinabschaut und sich sehnt, „mit Fittigen des Kranichs
zu dem Ufer des ungemessenen Meeres zu fliegen, aus dem schäumen-
den Becher des Unendlichen jene schwellende Lebenswonne zu trinken
und nur einen Augenblick einen Tropfen der Seligkeit des Wesens zu
fühlen, das alles in sich und durch sich hervorbringt." Natur und Seele
sind ihm eins. Er beseelt die Natur und nimmt von der Natur ein Bild
fiir seine Seele — wenn er schreibt (4. September): „Ja, es ist so! Wie
die Natur sich zum Herbste neigt, wird es Herbst in mir und um mich
her. Meine Blätter werden gelb, und schon sind die Blätter der benach-
barten Bäume abgefallen."
Je düsterer seine Stimmung wird, desto mehr sagt ihm Ossian zu —
mit seiner Haide, „umsaust vom Sturmwinde, mit den dampfenden Nebeln,
dem Gebrülle des Waldstroms, dem verwehten Ächzen der Geister," dem
„Murmeln des Giefsbachs oder dem Klagen des Windes" u. s. f. An
dem schaurigen Schauspiele des übergetretenen Flusses weidet er sich
(12. Dezember): „Nachts nach eilfe rannte ich hinaus. Ein fürchterliches
Schauspiel, vom Fels herunter die wühlenden Fluten in dem Mondenlichte
wirbeln zu sehen, über Acker und Wiesen und Hecken und Alles und
das weite Tal hinauf und hinab eine stürmende See im Sausen des
Windes! Und wenn dann der Mond wieder hervortrat und über der
schwarzen Wolke ruhte und vor mir hinaus die Flut in fürchterlich
herrlichem Wiederschein rollte und klang: da überfiel mich ein Schauer
und wieder ein Sehnen I Achl mit offenen Armen stand ich gegen den
Abgrund und atmete hinab! hinab! und verlor mich in der Wonne,
meine Qualen, meine Leiden da hinab zu stürmen! dahinzu brausen
wie die Wellen?"
Wenn von irgend einem Goetheschen Werke, so gilt vom Werther
das treffende Wort von Rosenkranz: „Die Natur wird in ihm zum unmittel-
baren Selbstgefühl", und Werther könnte wie Faust im vollen Sinne Goethes
selber bekennen :
Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles . .
Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich,
Kraft,, sie zu fühlen, zu geniefsen. Nicht
Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur,
Vergönnest mir, in ihre tiefe Brust
Wie in den Busen eines Freunds, zu schauen.
Zttchr. f. Tgl Litt.-Geach. 1. ^
480 Alfred BicM.
Die gesamte Lyrik Goethes ist durchwirkt von den stimmungs-
vollsten Beseelungen, welche durchaus auf jener Basis ruhen, welche die
im Werther gekennzeichnete Liebe zur Natur, jenes Mitklingen respektive
jener Einklang von Seele und Natur kennzeichnet.
Man mag eben Goethe fassen, von welcher Seite man will, er ist
überall gleich grofs — ein Riese hebt er sich über seine Zeitgenossen
und über die deutschen Dichter, die vor ihm gewesen. Wie süfslich,
manieriert und gekünstelt oder wie monoton, nur einen kleinen Kreis
der Anschauung beschreibend sind die meisten Beseelungen seit der
Zeit der schlesischen Schulen — und wie universell und individuell zu-
gleich sind dieselben bei Goethel —
In der Entwicklung, welche wir bisher aufzeigten, in der Geschichte
der Naturbeseelung, bezeichnet die Goethesche Lyrik nicht blofs die
Sammlung der in der bisherigen deutschen Dichtung angeschlagenen
Motive, sondern die Weiterfuhrung der Shakespeareschen sympathetischen
Naturauffassung und jener Innerlichkeit, welche von Petrarka zuerst in
die moderne Poesie als Quelle und Trägerin aller Empfindungen hinein-
geleitet ist. Goethe vereint auch speziell was die Naturbeseelung anlangt,
die plastische Anschaulichkeit der Griechen, die Naivität des Genies mit
der ganzen Seelentiefe und Seelenwärme, mit der Gefuhlsinnigkeit und
die Abgründe des eigenen Herzens völlig überschauenden Geistesschärfe
wie sie nur einem modernen Kulturmenschen eignet. — Seine Anschauungs-
weise berührt sich daher einerseits oft ganz nahe mit der mythologischen
— wie Mythologie und Poesie im Grunde eins — und ist doch
wieder andererseits eminent subjektiv und trägt den Stempel einer
genialen Eigenart. Auch hier können wir uns nur auf Umrisse beschränken«
Welche Poesie der Anschauung atmen gleich die ersten Zeilen der
,Zueig^ung^'
Der Morgen kanxy es scheuchten seine Tritte
Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing . .
Der junge Tag erhob sich mit Entzücken,
Und alles war erquickt mich zu erquicken . .
Wie rührend weifs er den märchenhaft kindlichen Ton zu treffen,
wenn er dem „Haideröslein" oder dem „Veilchen", das „in sich gebückt**
dasteht und „sich freut", zu den Püfsen des Mädchens zu sterben, oder
das im Waldesschatten blüht, wie Sterne leuchtend, wie Äuglein schön,"
eine Seele und Sprache leiht. In der Sommernacht neigen sich die
Birken vor Luna und streuen den süfsten Weihrauch ihr („die stille Nacht"),
aber „des Mondes lieblichen ladenden Glanz überscheint die Sonne
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und modemer Poesie. III. 4M
(„Gegenwart^'): „Ladend und lieblich bist du, Und Blumen, Mond und
Gestirne huldigen, Sonne, nur dir."
Im Bade umkosen wie Liebchens Hände ihn die Wellen (Wechsel):
Auf Kieseln im Bache da lie^ ich, wie helle?
Verbreite die Arme der kommenden Welle,
Und buhlerisch drückt sie die sehnende Brust;
Dann fUhrt sie der Leichtsinn im Strome danieder;
Es naht sich die zweite, sie streichelt mich wieder:
So ftthr ich die Freuden der wechselnden Lust.
Durch und durch seelenvoll d. h. die Natur selbst mit dem eigenen
Liebesleben füllend ist das wunderbare „Mailied^^ ;*)
Wie herrlich leuchtet Mir die Natur!
Wie glänzt die Sonne! Wie lacht die Flur!
Es dringen Blüten Aus Jedem Zweige,
Und tausend Stimmen Aus dem Gesträuch,
Und Freud* und Wonne Aus jeder Brust.
O Erd! o Sonne! O Glück, o Lust!
O Lieb* o Liebe! . . du segnest herrlich das frische Feld,
Im Blütendampfe die yolle Welt.
O Mädchen, Mädchen, Wie lieb* ich dich ...
So liebt die Lerche Gesang und Luft,
Und Morgenblumen den Himmelsduft,
Wie ich dich liebe Mit warmem Blut . . .
m
Bei Niemandem kann man mehr als bei Goethe sehen, wie das
innere Leben, das die Brust fast zum Springen füllt, hinaus drängt, um
auch die tote Natur mit Lebensfulle zu beseelen, vor allem wenn das
Herz in Liebe schwillt, welche die ganze Welt in neuem Lichte zeigt, mit
rosigem Hauche übergiefst und überall wie in der eigenen Brust ein
ähnlich Fühlen und Liebesweben voraussetzt oder ahnt. Das ist der
Grundton dieses schonen, im Worte schon „musikalischen** Liedes. Aber
atich in anderen an Friederike gerichteten Gedichten sieht das Auge des
Liebenden um sich her in den Naturerscheinungen lebende, fühlende,
liebende Wesen.
*) Vgl. in Erwin und Elmire, H, 6, den Monolog Elmire's: Mit vollen Atemzügen
Saug' ich, Natur, aus dir. Ein schmerzliches Vergnügen. Wie lebt, Wie bebt, Wie strebt das
Hera in mirl Freundlich begleiten mich Lüftlein gelinde. Flohene Freuden, Ach, säusehi im
Winde. . Du lachst mir, angenehmes Tal, Und du, o reine Himmelssonne, Erfüllst seit
langer Zeit zum erstenmal Mein Herz mit süfser Frühlingswonne . .
8»*
482 Alfred Biese.
So in „Willkommen und Abschied":
Der Abend wiegte schon die Erde, Und an den Bergen hing die Nacht;
S<;hon stand im Nebelkleid die Eiche, Ein auf^etflrmter Riese da,
Wo Finsternis aus dem Gesträuche Mit hundert schwarzen Augen sah,
Der Mond von einem Wolkenhügel Sah kläglich aus dem Duft hervor;
Die Winde schwangen leise Flügel, Umsausten schauerlich mein Ohr. . .
Hier lebt alles; selbst die Dunkelheit bekommt Augen, dem Mond
wird die Abschiedsstimmung des Dichters vindiziert, und die Winde denkt
sich seine Phantasie als geflügelte Wesen.
„Auf dem See** singt er:
Wie ist Natur so hold und gut, Die mich am Busen hältl
Die Welle wieget unsern Kahn Im Rudertakt hinauf.
Und Berge, wolkig himmelan, Begegnen imserm Lauf.
Aug\ mein Aug', was sinkst du nieder? Goldne Träume, kommt ihr wieder?
Weg, du Traum! so Gold du bist 1 Hier auch Lieb' und Leben isu
Auf der Welle blinken Tausend schwebende Sterne;
Weiche Nebel trinken Rings die türmende Feme;
Morgenwind umflügelt Die beschattete Bucht,
Und im See bespiegelt Sich die reifende Frucht.
Auch im „Herbstgefuhl** *) tritt jene so stimmungsvolle Fähigkeit des
Dichters hervor, das aufsen Geschaute mit der Glut des eigenen Herzens
zu erwärmen: er schaut zum Fenster hinaus, zu dem der Weinstock mit
vollen Beeren gleichsam heraufdrängt — seine eigene Liebesempfindung
überträgt er; die Lebensfulle, welche aus Blatt und Beere strotzt, den
schaffenden Lebenstrieb der Natur, ihr gesamtes Wirken und Weben
interpretiert er als Liebe; Sonne und Himmel und Mond scheinen ihm
liebend zu sorgen für die Beeren wie für ihre Kindlein:
„Euch brütet der Mutter Sonne Scheideblick, euch umsäuselt des
holden Himmels fruchtende Fülle, Euch kühlet des Mondes freund-
licher Zauberhauch. ,
Man mufs von den konventionellen Liedchen „An den Mond**, wie
sie die Anakreontiker u. a. fabrizierten, herkommen, um den groisen
Zauber des Goetheschen Liedes zu empfinden mit den schönen Be-
seelungen: Füllest wieder Busch und Tal Still mit Nebelglanz . .
Breitest über mein Gefild Lindernd deinen Blick, Wie des Freundes Auge
mild Über mein Geschick. . Rausche, Flufs, das Tal entlang, Ohne Rast
und Ruh, Rausche, flüstre meinem Sang Melodien zu, Wenn du in der
Winternacht Wütend überschwillst Oder um die Frühlingspracht Junger
Knospen quillst. . .
•) Vergl. die schöne Deutung des Gedichtes im Progr. von Braunschweig, „Herbst-
gefühl'*, Gedicht von Goethe. Analysiert vom Oberl. H. Corvinus. 1878.
Die istfaetlsche Näturbeseelung In antiker und moderner Poesie, m. 438
' ^^^"^ » ■ ■■ ■
Und worin liegt der magische Reiz des „Erlkönigs" und des
„Fischers*S wenn nicht in jener Personifizierung des Unheimlichen, das in
dem abendlichen Dunkel liegt, wie der bestrickenden, lockenden Macht,
welche der blinkenden Flut innewohnt. Und welche beseelende Poesie,
welche Musik liegt in den Zeilen:
Labt sich die liebe Sonne nicht, Der Mond sich nicht im Meer?
Kehrt wellenatmend ihr Gesicht lischt doppelt schöner her? . .
Landschaftsbild und Seelenstimmung — in abendlichem Frieden zu*
sammenstimmend — durchdringen sich aber in keinem Gedichte enger
wie in den wenigen unvergleichlichen Zeilen:
Ober allen Gipfeln Ist Ruh\
In allen Wipfeln Spürest du
Kaum einen Hauch.
Die Vöj^elein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch«
Ein Naturbild, aber völlig untergetaucht in den Strom der Empfindung;
plastisch und musikalisch zugleich. Ein geistreicher Franzose*) sagt
treffend: „Die Stille des Abends, das Verstummen der Wünsche in dem
Schweigen des Waldes, die schönste Auflösung aller Mifsklänge in den
vollendeten Einklang der Natur, der naive und grofsartige Pantheismus
einer Seele, die sich eins (uhlt mit der Welt; das alles ist nicht besonders
ausgesprochen in des Wanderers Nachtlied, aber es klingt durch wie die
vereinten Stimmen in einer lieblichen Symphonie."
Auch in dem herrlichen Gedichte ,Ilmenau' reiht sich eine herzliche
Beseelung an die andere:
,Anmutis^ Tal! du immerg^rüner Hain?
Mein 'Herz begrülst euch wieder auf das beste; . .
Ich sorg:e still, indes ihr ruhig grünet . .
Ihr seid mir hold, ihr gdnnt mir diese Träume . .
Melodisch rauscht die hohe Tanne wieder,
Melodisch eilt der Wasserfall hernieder;
Die Wolke sinkt, der Nebel drückt ins Tal,
Und es ist Nacht und Dämmrung auf einmal. . .
In „Mahomets Gesang" wird die Beseelung des Quells, der — ein
GegenbÜd des Menschen — zum Strome schwillt und seinem Vater, dem
Ozean zuströmt, in hochpoetischer Weise durchgeführt, indem zugleich
alles Nebenwerk dem Grundgedanken angepafst wird: Seht den Felsen-
quell, Freudehell, Wie ein Sternenblick; Über Wolken Nährten seine
") Schürt, Geschichte des deutschen Liedes, Berlin, 1870, S. 307.
484 Alfred Biese.
Jugend Gute Geister Zwischen Klippen im Gebüsch. Jünglingfrisch
Tanzt er aus der Wolke Auf die Marmorfelsen nieder, Jauchzet wieder
Nach dem Himmel. Durch die Gipfelgänge Jagt er bunten Kieseln nacb^
Und mit frühem Führertritt Reifst er seine Brüderquellen Mit sich fort;
Drunten werden in dem Tal Unter seinem Fufstritt Blumen, Und
die Wiese Lebt von seinem Hauch. Doch ihn hält kein Schattental,
Keine Blumen, Die ihm seine Knie umschlingen. Ihm mit Liebes-
Augen schmeicheln: Nach der Ebne dringtsein Lauf, Schlangenwandelnd.
Bäche schmiegen Sich gesellig an. Nun tritt er In die Ebne silberprangend
Und die Ebne prangt mit ihm, Und die Flüsse von der Ebne Und die
Bäche von den Bergen Jauchzen ihm und rufen: Bruder! Bruder, nimm
die Brüder mit. Mit zu deinem alten Vater, Zu dem ew*gen Ozean,
Der mit ausgespannten Armen Unser wartet . . . Und so trägt er seine
Brüder, Seine Schätze, seine Kinder, Dem erwartenden Erzeuger Freude-
brausend an das Herz.
Doch wie eng der Pantheismus mit der ästhetischen Naturbeseelung
verknüpft ist, wie derselbe gleichsam in dieser seine konkrete dichterische
Form findet, das lehrt kein Gedicht anschaulicher als „Ganymed", in dem
die Liebe, die aus der gegenständlichen Welt uns entgegenströmt, zusammen-
flutet mit der Liebe des empfindenden Menschen, so dafs der Einklang
zwischen Natur und Geist, die innerliche Verwandtschaft beider deutlich
hervortritt. Es ist ein Hymnus des poetischen Fantheismus:
Wie im Morgenglanze Du rings mich anglühst, Frühling, Ge-
liebter! Mit tausendfacher Liebeswonne Sich an mein Herz drängt
Deiner ewigen Wärme Heilig Gefühl. Unendliche Schöne! Dafs
ich Dich fassen möcht* In diesen Arm! Ach, an deinem Busen lieg'
ich, schmachte, Und deine Blumen, Dein Gras, Drängen sich an
mein Herz. Du kühlst den brennenden Durst meines Busens, Lieb-
licher Morgenwind! Ruft drein die Nachtigall Liebend nach mir
aus dem Nebeltal. Ich komm\ ich komme! Wohin? Ach, wohin?
Hinauf! hinauf strebt's. Es schweben die Wolken Abwärts, die Wolken
Neigen sich der sehnenden Liebe. Mir! Mir! In eurem Schoofse
Aufwärts! Umfangend umfangen! Aufwärts an deinen Busen, All-
liebender Vater!
Auch der „Faust" ist durchweht von diesem Pantheismus, der alles
Lebende als Spiegelbild der einen Gott-Natur auffafst und so von dem
ewigen Leben einen Strom überleitet in jedes Einzelne, noch so Geringe
— wie des „Künstlers Abendlied" bekennt: Wie sehn* ich mich, Natur,
nach dir, Dich treu und lieb zu fühlen! Ein lust'ger Springbrunn, wirst
Die ästhetische Naturbeseelung In antiker und moderner Poesie, m. 435
du mir Aus tausend Röhren spielen. Wirst alle meine Kräfte mir in
meinem Sinn erheitern Und dieses enge Dasein mir zur Ewigkeit erweitern.
Philosophischer und künstlerischer Pantheismus verweben sich im
„Faust", Die dichterische Phantasie beseelt und belebt alles Gegenständliche
der Aufsenwelt, und der Philosoph entdeckt in allem nur das Wehen
desselben Geistes, dessen Kraft allenthalben wirksam ist: In Lebens-
fluten, im Thatensturm WaU' ich auf und ab, Webe hin imd her! Geburt
und Grab, Ein ewiges Meer, Ein wechselnd Weben, Ein glühend Leben,
So schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit Und wirke der Gottheit
lebendiges Kleid.
Schöner und tiefer ist nie der Ausdruck für die Frühlingsstimmung
gefunden wie auf jener Wanderung des Faust mit Wagner aus der Enge der
Stadt in die freie Natur; wie idyllisch wirkt die Beseelung in den Worten:
Vom Bise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
Im Tale grünet Hoffhungsglück !
Der alte Winter in seiner Schwäche,
Zog sich in rauhe Berge zurück. . .
Überall regt sich Bildung und Streben
Allee will sie (die Sonne) mit Farben beleben . . .
und wie übermächtig wirkt der Anblick der untergehenden Sonne, deren
allmäliges Herabsinken die Sehnsucht in die grenzenlose Ferne, das
Heimweh nach dem Zielpunkt alles menschlichen Daseins weckt:
Betrachte, wie in Abendsonne-Glut
Die grünumgebnen Hütten schimmern.
Sie rückt und weicht, der Tag ist überlebt. . .
O dafs kein Flügel mich vom Boden hebt,
Ihr nach und immer nach zu streben I
Ich sah* im ewigen Abendstrahl
Die stille Welt zu meinen Füisen,
Entzündet alle Höh*n, beruhigt jed6s Tal. . .
Und wieder bricht jener pantheistische Zug hindurch in dem Monolog:
^Erhabner Geist, du gabst mir alles . . .
Du führst die Reihe der Lebendigen
Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder
Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen . .
Und steigt vor meinem Blick der reine Mond
Besänftigend herüber, schweben mir
Von Felsenwänden, aus dem feuchten Busch
Der Vorwelt silberne Gestalten auf . .
sowie in dem Glaubensbekenntnis des Pantheismus:
Wer darf ihn nennen? . .
Der AUumfasser, Der Allerhalter Faist und erhält er nicht
486 Alfred Biese.
Dich, micb, sich selbst? Wölbt ^ch der Hünmel nicht dadroben?
Liegt die Erde nicht hierunten fest?
Und steigen freundlich blickend Ewige Sterne nicht herauf? . .
Es ist klar: Zu einem so tiefen Naturempfinden konnte die antike
Welt nicht gelangen. Goethe steht auf der vollen Höhe des modernen
Kulturlebens, auch in dieser Hinsicht Die Unendlichkeit des Ichs ist
dem Bewufetsein völlig aufgegangen, aber auch die Natur in ihrer ganzen
Tiefe ; der Blick über das All als ein Universum ward im Altertum kaum
angedeutet, nun ist er ebenso ein Ferment der Allgemeinbildung wie der
Blick ins Einzelne, bis ins kleinste Leben hinein — denn Goethe war
Dichter und Naturforscher zugleich. Die Auffassung aller Natur-
erscheinungen sub specie aeternitatis und doch wiederum mit der liebe-
vollsten Versenkung bis ins Einzelnste und Kleinste, mit nachfühlendem,
mit empfindendem Verständnis : darin liegt der grofse Unterschied zwischen
antikem und modernem Naturgefuhl. Das letztere ist universeller und in-
dividueller zugleich. Was im Altertum noch in geschlossener Knospe
schlummerte, ist in der modertien Zeit zur prangenden Blüte, zur reifen,
ja oft überreifen Frucht geworden, die nicht selten von dem Wurm der
Reflexion, der Selbstironie, des Weltschmerzes, kurz der krankhaften
Sentimentalität innen zerfressen ist.
Den Romantikern wurden die klassischen Schranken, welche Goethe
und Schiller — dessen Hauptstärke nicht im lyrischen Liede, nicht in
der Naturdichtung lag — im engen Anschlüsse an die Normen antiker
Dichter und Künstler gezogen hatten, zu enge. Auch ihr Naturgefuhl und
somit die Naturbeseelung, aufs höchste Mafs der Subjektivität getrieben,
ward phantastisch, schwärmerisch, doch der Grundakkord bleibt pan-
theistisch. Ich greife nur Weniges heraus zum Beleg. So heifst es bei
Hölderlin im Hyperion einmal: „Verloren ins weite Blau blick* ich oft
•• •
hinauf in den Äther und hinein ins heilige Meer, und mir ist, als öffnete
ein verwandter Geist mir die Arme, als löste der Schmerz der Einsam-
keit sich auf ins Leben der Gottheit. Eins zu sein mit allem, das ist Leben
der Gottheit, das ist der Himmel der Menschen. Eins zu sein mit allem, was
lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren ins All der Natur, das ist
der Gipfel der Gedanken und Freuden." Bei Novalis zerfliefst alles ins
Ahnungsvolle, in Dämmerung und Nacht; das in der Brust unbewufst
Ruhende, nie Auszusagende wird durchwühlt; die klare Plastik fehlt
völlig, die Grenze zur Mystik wird überschritten. So heifst es in
„Heinrich von Ofterdingen": „Ich möchte die ganze Welt mit Liebes-
gesängen durchströmen, den Mondschimmer und die Morgenröte an-
rühren, dafs sie mein Leid und Glück wiederklingen, dafs die Melodie
J
Die Sstfaetische Naturbeseelung in antiker und moderner Poesie. IIL 487
■ — ^_— .^— —
Bäume, Zweige, Blätter und Gräser ergreife, damit alle spielend meinen
Gesang wie mit Millionen Zungen wiederholen müisten^^ oder mit der
intensivesten Naturbeseelung und Gefuhlsschwelgerei: „Die Gewächse
sind die unmittelbarste Sprache des Bodens, jedes neue Blatt, jede sonder-
bare Blume ist irgend ein Geheimnis, das sich hervordrängt, . . man
möchte vor Freuden weinen und abgesondert von der Welt nur seine
Hände und Füfse in die Erde stecken, um Wurzeln zu treiben und nie
diese glückliche Nachbarschaft zu verlassen". Ein gleiches spricht im
„Lied" Friedrich Schlegel aus, indem er bewufst Gefühl und Denken,
schrankenlose Phantasie von der Vernunft trennt, in höchst charak-
teristischer Weise:
^Wenn die Nachtigallen schla^^en, Hell die sn^ne Farbe brennt,
Will ich, was die Blumen sagen Und das Auge nur erkennt,
Leise kaum mich selbst befragen. Wenn ich wandl* auf stiller Flur,
Still verfolgend die Natur, Und sie fühlend denken lerne,
Folg* ich den Gef&hlen nur, Denn Gedanken stehen zu ferne.
Ahnlich Eichendorff „Die Nachtigallen":
Möcht* wissen, was sie schlagen, So schön bei der Nacht,
*s ist in der Welt ja doch niemand, Der mit ihnen wacht.
Und die Wolken sie reisen. Und das Land ist so blafs.
Und die Nacht wandert leise Durch den Wald übers Gras . .
Eichendorff weifs überhaupt neben der Schwermut, die seit
Matthissons und Salis* Abend- und Mondscheinliedern auch bei den
Romantikem in den Naturliedern die Grundstimmung giebt, auch heitere,
kindlich naive Töne eines echten Lyrikers anzuschlagen — so „Wandernder
Dichter" :
„Ich weifs nicht, was das sagen willl Kaum tret* ich von der Schwelle still,
Gleich schwingt sich eine Lerche auf Und jubiliert durchs Blau vorauf.
Das Gras ringsum, die Blumen gar Stehn mit Juwelen und PerPn im Haar,
Die schlanken Pappeln, Busch und Saat Verneigen sich im gröisten Staat.
Ais Bot' vorauf das Bächlein eUt, Und wo der Wind die Wipfel theilt.
Die Au* verstohlen nach mir schaut, Als war* sie meine liebe Braut. "^
Oder „Morgengebet": „O wunderbares, tiefes Schweigen, Wie einsam
ist's noch auf der Welt! Die Wälder nur sich leise neigen. Als ging der
Herr durchs stiQe Feld." Oder „Schöne Fremde": „Was sprichst du
wirr wie in Träumen Zu mir, phantastische Nacht? — Es funkeln auf
mich alle Sterne Mit glühendem Liebesblick, Es redet trunken die Feme
Wie von künftigem grofsen Glück" . . Doch der romantische Pantheismus
hat seinen vollendetsten Ausdruck in Hölderlins Naturoden gefunden.
488 Alfred BittM.
Hier ist alles durchgeistigte, beseelte Natur. Er bekennt selbst „An die
Natur*^ :
Da zur Sonne noch mein Herz sich wandte, Als vero&fasie seine Töne sie,
Und die Sterne seine Brüder nannte Und den Frühling Gottes Melodie,
Da im Hauche, der den Hain bewegte, Noch dein Geist, dein Geist der Freude sich —
In des Herzens stiller Welle regte, Da umfingen goldne Tage mich . .
Der Mensch ist ihm — vgl. „der Mensch" — der Erde schönstes
Kind vom Vater Helios, seine erstgebornen Brüder sind die Berge und
Inseln, Bäume und Blumen; seine Amme ist die heil'ge Rebe mit den
süfsen Beeren; die Berge sind seine Hüter, des Stromes Wellen sind
seine Gespielen; seine Liebe ist ihre edelste Pflanze; sein Gemüt ist ihr
Saitenspiel, auf dem sie mit Nebeln und Träumen spielt; Leid und Lust
teilen Mutter und Sohn mit vollster Sympathie; Sie trauert mit ihm;
mit lebendigerem Quellenrauschen, mit dem Liebesatem ihrer Blüten
begrüfst sie hinwieder seine Freude: — Alles das sind einzelne Gedanken
aus seinen Gedichten,*) am klarsten kommt dieseSeite seiner sympathetisch
pantheistischen Naturstimmung in den Worten Hyperions zu Tage: „O
wenn sie eines Vaters Tochter ist, die herrliche Natur, ist das Herz
der Tochter nicht sein Herz? Ihr Innerstes, ist's nicht er? Aber hab* ich's
denn? Kenn' ich's denn? Es ist, als sah' ich, aber dann erschreck ich
wieder, als war's meine eigne Gestalt, was ich gesehen, es ist, als fühlt'
ich ihn, den Geist der Welt, aber ich erwache und meine, ich habe
meinen eignen Finger gehalten." Alles Menschenwesen wird so in die
engste Beziehung zum Naturleben gesetzt und umgekehrt; aber was
Hölderlin von Goethe trennt, ist die Phantastik, die Mystik. Am nächsten
kommt er ihm noch in dem „gefesselten Strom", das direkt an Goethesche
Motive anklingt: Gehüllt in sich, säumt am kalten Ufer, er, des Ozeans
Sohn — da sendet der Vater die Liebesboten, die lebenatmenden Lüfte,
und * „Schon tönt, schon tönt es ihm in der Brust! es quillt. Wie er da
noch im Schoofse der Felder spielt! Ihm auf; und nun gedenkt er seiner
Kraft, der Gewaltige, nun, nun eilt er, . . spottet der Fesseln nun, . .
und von der Stimme des Göttersohnes erwachen die Berge rings, Es
regen sich die Wälder, es hört die Kluft Den Herold fern, imd schaudernd
reg^ im Busen der Erde sich Freude wieder.
Der neue Frühling dämmert^ es blüht um ihn;
Er aber wandelt hin zu Unsterblichen;
Denn nirgend darf er bleiben, als wo
Ihn in die Arme der Vater aufnimmt.
*) Vgl. Stiefel: die deutsche Lyrik des i8. Jahrhunderts. Leipzig, 1871, S. «63.
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und moderner Poesie. HI. 489
« -
In der That ein dramatisches, tiefdurchgeistigtes Naturgemälde!
Es hat vielleicht Niemand in Deutschland seit Goethe gröfsere lyrische
Begabung besessen als Heine. Aber was jedem Künstler unentbehrlich
ist, der Humor, hat sich bei ihm in Ironie gewandelt, und der tiefg^reifende
Unterschied zwischen Goethescher und Heinescher Lyrik kann nicht
deutlicher hervortreten, als bei Betrachtung der ästhetischen Naturbeseelung
beider Dichter. Wohl überträgt Goethe nicht blofs das allgemein Mensch-
liche, sondern auch das Spezifische seiner Eigenart, seiner momentanen
Stimmung auf die Natur, aber er beachtet stets das objektive Wesen
der beseelten Naturerscheinung, er octroyiert ihr nichts absolut Fremdes;
sein Dichterauge entdeckt gleichsam, wie Gervinus a. a. O. treffend
sagt, „die in der Natur von Ewigkeit her schlummernde Lyrik." In
erster Linie steht ihm immer das Charakteristische des Gegenstandes,
und das, was in diesem ihn an Menschliches gemahnt, vermählt er mit
diesem; er schlägt gleichsam den schlummernden Funken heraus und
weckt ihn mit beseelendem Hauche zur lebendigen Flamme. Anders
Heine. Ihm steht nicht die Anschauung und die Naturwahrheit, sondern
der Witz, die Pointe, der Effekt in erster Linie. Je heterogener — desto
witziger die Kombination! Selbst wenn er mit echt poetischem Geiste die
Natur durchdringt, an Goethesche Naturempfindung anklingt, ja mit einer
Intuition, die an die Erhabenheit der Mythenbildung streift, die lebens-
vollsten Naturgemälde entwirft, mischt sich dies manierirte Haschen nach
Effekten ein, so dafs seine Dichtungen den Nixen gleichen, deren herrlicher
Oberleib in einen häfslichen Fischschwanz ausläuft. Und bei alledem
welcher Zauber der Sprache, welche berückende Melodie! Doch meistens
sind es lose flatternde Akkorde, — die Goethesche plastische Aus-
gestaltung wird ersetzt durch die Pointe.
Die krankhafte Liebesstimmung seines eigenen Herzens findet er
überall "wieder —
Es stehen unbeweglich Die Sterne in der Höh\
Viel tausend* Jahr' und schauen Sich an mit Liebesweh. . .
Viel anschaulicher und naturgemäfser — gleich dem Goethe*schen Morgen,
dessen Tritte die Nacht verscheuchen — ist die Beseelung indem Liede:
Sterne mit den goldnen POfschen Wandeln droben bang und sacht,
'Dais sie nicht die Erde wecken, Die da schläft im Schoofs der Nacht.
Aber sofort wieder manieriert heifst es weiter: Horchend stehn
die stummen Wälder, Jedes Blatt ein grünes Ohr! Und der Berg,
wie träumend streckt er Seinen Schattenarm hervor. —
Ernst und Trauer findet er selbst im Frühling: Ernst ist der Frühling,
seine Träume Sind traurig, jede Blume schaut Von Schmerz bewegt, es
440 Alfred Biese.
bebt geheime Wehmut im Nachtigallenlaut. — Höchst stimmungsvoll aber
ist das berühmte:
Die Lotosblume ängstigt Sich vor der Sonne Pracht,
Und mit gesenktem Haupte Erwartet sie träumend die Nacht.
Der Mond, der ist ihr Buhle, Er weckt sie mit seinem Licht,
Und ihm entschleiert sie freundlich Ihr frommes BlumengesichL
Sie blüht und glüht und leuchtet Und starret stumm in die Höh\
Sie duftet und weinet und zittert Vor Liebe und Liebesweh —
Doch wer möchte auch hier die Übertreibung im Schlufsvers ver-
kennen? So bezaubernd auch das vielgepriesene: Ein Fichtenbaum steht
einsam Im Norden auf kahler Höh\ Ihn schläfert; mit weifser Decke
Umhüllen ihn Eis und Schnee. Er träumt von einer Palme, Die, fem im
Morgenland, Einsam und schweigend trauert Aufbrennender Felsenwand —
so ist doch der Sprung von Norwegens Fichte zu der Palme im Morgen-
land ein recht weiter, die Beseelung eine entschieden gesuchte.
Zu letzteren gehören: „Die Lilie, die klagend hauchen soll ein Lied
von der Liebsten mein*", „Die Rosen sind so blafs, die Veilchen so stumm" —
da die Geliebte ihn verliefs; oder: „Ich habe die Bäume aus dem Schlaf
gerüttelt, sie haben mitleidig die Köpfe geschüttelt", oder: „Der Wind
zieht seine Hosen an" u. dgl. m.
Seine „Harzreise" ist durchweht von jener Stimmung, die er selbst
also wiedergiebt: „Unendlich selig ist das Gefühl, wenn die Erscheinungs-
welt mit unserer Gemütswelt zusammenrinnt, und grüne Bäume, Gedanken,
Vogelgesang, Wehmut, Himmelsbläue, Erinnerung und Kräuterduft sich
in süfsen Arabesken verschlingen." Und so leiht er sein Herz den
Bäumen und Blumen, Flüssen und Wäldern, an denen er vorüberzieht;
die Bäume sprechen, die Sonnenstrahlen klingen, die Wiesenblümchen
tanzen, der blaue Himmel umarmt die grüne Erde; die rauschenden
Tannen verstehen den Träumer, ihre Zweige thun sich an einander,
bewegen sich herauf und herab, gleich stummen Menschen, die ihre
Freude bezeigen, und die zischende, schäumende Ilse ist dem Dichter
eine Prinzessin, die lachend und blühend von Schönheit den Berg hinab-
läuft: „Wie blinkt im Sonnenschein ihr weiises Schaumgewand! Wie
flattern im Winde ihre silbernen Busenbänder 1 Wie funkeln und blitzen
ihre Diamanten! Die hohen Buchen stehen dabei gleich ernsten Vätern,
die verstohlen lächelnd dem Mutwillen des lieblichen Kindes zusehen; die
weifsen Birken bewegen sich tantenhaft vergnügt, und doch zugleich
ängstlich über die gewagften Sprünge" u. s. f.
Auch hier läfst sich schwer die Grenze aufweisen, wo das ästhetisch
Schöne und Erhabene aufhört und der baare Witz beginnt! Am grofs-
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und modemer Poesie. III. 441
artigsten tritt diese Mischung von hochpoetischer Anschauung und
schelmischer Koketterie in den „Nordseebildern** hervor — oft bewufst,
unverhüllt wie im „Sonnenuntergang": Die glühend rote Sonne steigt
Hinab ins weit aufschauernde Silbergraue Weltmeer; Luftgebilde, rosig
angehaucht, Wallen ihr nach; und gegenüber, Aus herbstlich dämmernden
Wolkenschleiern, Ein traurig totblasses Antlitz, Bricht hervor der Mond,
Und hinter ihm, Lichtfunkchen, Nebelweit, schimmern die Sterne — Einst
vom Himmel glänzten, Ehlich vereint, Luna, die Göttin, und Sol, der
Gott, Und es wimmelten um sie her die Sterne, Die kleinen unschuldigen
Kinder — ! —
Heine steht Lenau am nächsten; so schön vieles Einzelne ist, so
gewaltsam wieder anderes, weil er das Spezifische, die Objektivität der
Erscheinungen zu wenig berücksichtigt resp. sie mit seiner Subjektivität
gleichsam völlig aufzehrt. Seine düstere Melancholie haucht er auch der
Natur ein; das Klagen, Seufzen, Weinen von Baum und Bach, von Luft
und Flut nimmt kein Ende. So heifst es z. B. „Vom Berge schaut
hinaus ins tiefe Schweigen Der mondbeglänzten schönen Sommernacht,
Die Burgruine; und in Tannenzweigen Hinseufzt ein Lüftchen, das allein
bewacht Die trümmervolle Einsamkeit, den bangen Laut: „Vergänglich-
keit"; oder; „Und die Natur verstummt, im Dämmerlicht Schwermütig
ihrem Tode nachzusinnen; Dort, wo die Eiche rauscht am Bergesfufs,
Wo bang vorüberklag^ des Baches Welle,*' oder „Gleichwie Nachtlüfte
Wehmütig säuseln Und Nachtigallen durch Gebüsche klagen**; oder
„Komm, o Wolke, weine, weine Mir zu die geheimen Zähren!'* oder „Und
störrisch klagt der trüben Welle Gang: Das ist des holden Frühlings Todes-
stunde!** „Mürrisch braust der Eichwald.** . „Und er sieht das Hüttchen
trauern. Hört davor die Linde schauern Und den Bach vorüberweinen**
u. s. f. Es ist kaum ein Dichter so reich an Metaphern und Beseelungen
wie Lenau, aber es ist charakteristisch für seine — excentrische — Phan-
tasie, dafs seine Vergleiche und Bilder oft den Kernpunkt nicht treffen
resp. unschön wirken, indem sie Unvergleichbares zu einander in Be-
ziehung setzen, wie in demselben Gedichte, 'die „Werbung** „die Säbel-
narben, Ehrenröslein, purpurfarben** genannt werden und von dem Jüng-
ling es heifst: „Er hört es schweigend. In die Schatten der Gedanken,
Die ihn bang und süfs umranken (!), Still sein schönes Antlitz neigend*"
und vor allem erregt Bedenken das sonderbare Gleichnis: »Wie beim
Sonnenuntergänge Hier und dort vom Saatgefild Still waldeinwärts
schleicht das Wild: Also von der Ungarn Wange Flüchtet in den Bart
herab Still die scheue Männerzähre**!
442 Alfred Biese.
Auch viele seiner Beseelungen halten sich nicht auf der geraden
Linie des Einfach-Schönen, sondern sind gesucht, reflektiert und unnatür-
lich; wie wenn er vom Lenz, dem schönen Jungen, sagt: „Er zieht das
Herz an Liebesketten, Rasch über manche Kluft Und schleudert Sing-
raketen (I), Die Lerchen, in die Luft" oder: „Der Lenz hat Rosen an-
gezündet An Leuchtern von Smaragd im Dom, Und jede Seele schwillt
und mündet Hinüber in den Opferstrom" — während von echter poetischer
Anschauung die Zeile zeugt: „An ihren bunten Liedern klettert die
Lerche selig in die Luft", imd folgende Schilderung: „Der Frühling ist
zu Berg und Tal gekommen. Sein Freudenruf ist durch die Luft er-
klungen; Kaum hat die Erd' im Schlafe ihn vernommen, Hat sie vom
Traume sich emporgerungen, der ihren Busen deckte schwer und kalt^^
Schön und voU unmittelbarster Naturpoesie sind Verse wie: „Durch den
Wald, den dunkeln, geht Holde Frühlingsmorgenstunde, Durch den Wald
vom Himmel weht Eine leise Liebeskunde" . .
Wie rührend ist „die Bitte", die ihm „die Wehmut, die stille Freundin
seiner Einsamkeit", eingiebt: „Weil' auf mir, du dunkles Auge, Übe
deine ganze Macht, Ernste, milde, träumerische. Unergründlich süfse
Nacht I Nimm mit deinem Zauberdunkel Diese Welt von hinnen mir, Dafs
du über meinem Leben Einsam schwebest für und für."
Als ein Musterbeispiel modemer Naturmythe, d. h. eines durch und
durch beseelten, ja dramatisch belebten Naturbildes, in welchem Sturm
und Meer und Wolken wie lebensvolle Gestalten auftreten, kann die
„Sturmesmythe" gelten mit den prächtigen Strophen:
Stumm und regungslos in sich verschlossen Ruht die tiefe See dahingegossen,
Sendet ihren Grufs dem Strande nicht; Ihre Wellenpulse sind versunken,
UngespOret glühn die Abendfunken, Wie auf einem Totenangesicht.
Nicht ein Blatt am Strande wagt zu rauschen, Wie betroffen stehn die Bäume, lauschen.
Ob kein Lüftchen, keine Welle wacht? . . .
Plötzlich auf am Horizonte tauchen Dunkle Wolken, die herflberhauchen
Schwer, in stürmischer Beklommenheit; Eilend kommen sie heraufge&hren
Haben sich in angstverworrenen Schaaren Um die stumme Schäferin gereiht.
Mit scheuem Grauen beugen sie sich nieder — Ob die alte Mutter tot, die See?
„Nein sie lebtl sie lebtl der Töchter Kummer hat sie aufgestört aus ihrem Schlummer,
Und sie springt vom Lager hoch empor : Mutter — Kinder — brausend sich umschlingen
Und sie tanzen freudenwild und singen Ihrer Lieb ein Lied im Sturmeschor. "
Der Grundgedanke ist durchaus mythisch, elementar! Aber kein
griechischer Name; alles ist völlig losgelöst von jeder Mythologie —
und doch wie plastisch und malerisch zugleich! Welch g^ndioses Bild —
diese sorgende Liebe der Elemente zu einander — Wolken und Meer
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und modemer Poesie. HI. 443
wie Kinder und Mutter zärtlich I Wie erhaben ist die Ruhe der See
geschildert, — der Wellen Pulse haben aufgehört zu schlagen — und
wie naturwahr der Sturm, in dem Wolken und Wellen einen wilden
Tanz aufzuführen scheinen! Genug. Hier erreicht der moderne Dichter
deshalb mehr, wie jeder andke mit seinen Göttermythen, weil in dieser frei-
poetischen Beseelung die tiefe Inn^lichkeit moderner Anschauung hindurch-
zittert, zu welcher die altgriechischen Dichter doch nur Ansätze bieten. —
Der modernste Dichter der Modernen und nächst Goethe der
gröfste, den Europa in diesem Jahrhundert gesehen, ist aber Byron. Er
ist der Dichter der schrankenlosesten Subjektivität, des leidenschaftlichsten
Individualismus. Ein dämonisches Genie. Der Drang zur Freiheit ist in
ihm ebenso grofs wie zur Natur, zur Einsamkeit, zur Melancholie. Er
ist der erste ganz moderne Naturschwärmer auf Reisen; seine Schilderungen
der gewaltig erhabenen wie der stillen friedlichen Landschaft, der im
Schnee glänzenden Alpen wie des friedlichen Gebirgssees, des aufgeregten
im Sturme gepeitschten Meeres, wie der die Sonne blendend wieder-
spiegelnden klaren Fläche — tragen den Abglanz einer das All um-
spannenden Phantasie und eines in die tiefen Gründe menschlichen Wesens
hineindringenden Scharfblicks. Aber so wild sein Leben, so schroff der
Übergang von abgöttischer Verehrung, die ihm die englische Gesellschaft
zu teil werden liefs, zu gemeinstem Hafs, der das Heiligste seiner Seele
antastete, so leidenschaftlich gesteigert daher sein Empfinden wurde und
zugleich verbittert, — so wogt auch sein Dichten auf und ab; immer
mehr überwieget allmälig die tragische Auffassung des Lebens, die sich
bald mit beifsendem Hohn drapiert, bald mit modernem Weltschmerz, im
Grunde aber wirklich tiefe Schwermut über die Nichtigkeit und das
Elend alles Menschlichen ist. Die ästhetische Naturbeseelung verleugnet
auch diesen Pessimismus nicht. Das All spiegelt sich in seinem Herzen,
und ist dies auch wund und krank, zerfressen von dem Wurm der Ver-
zweiflung, „es ist ein Abgrund der Tiefe, in den man hinabsieht, eine
Steigerung des Seelenlebens, das alles beseelend in seinen Bann zieht,
alles nur als Teil seiner Selbst fühlt und betrachtet." —
Wie Wellenrauschen umtönen den Leser die herrlichen Rhythmen
des Lebewohls an sein Heimatland im ersten Gesang desChilde Haröld I, 12:
Das Segel schwoll, die Winde bliesen leicht, Als trieben sie ihn gern vom
Heimatland, —
Doch als ins Meer die liebe Sonne schied, Griff er zur Harfe, die ihn oft berauscht —
Leb wohl, mein Heimatstrand, lebwohl, Das Meer hüllt dich mir ein. Der Nacht-
wind seufzt.
Die See geht hohl, Und wilde Möwen Schrein. Die Sonne sinkt ins Meer und wir,
Wir folgen ihrer Pracht, Ihr dieses Lebewohl imd dir, O Heimat gute Nacht I
444 Alfr«d Biese.
Wohl empfindet er den Reiz des Lieblichen — wie in Spanien I, 33:
Ein Silberflüfschen gleitet nur dazwischen (zwischen Tal und Höhn) . . Hier
lehnt am Stab der Schäfer wie im Traum^ Schaut müfsig in der Wogen
sanften Schaum, die üriedlich bittrer Feinde Reich umspülen . . oder U, 21:
Der Mond geht auf. O schönes Abendgrauen I Lichtströme tanzen
auf der blauen Flut . . Beleuchtet wir<} von Lunas Strahl Das Land der
schwarzgeaugten Frau*n und Mohren. Ha! Wie sie am Strande von Hispania
Auf Wald und Felsen wirkt ihr Strahlenmieder, Obschon sich dunkelnd,
ihrer Phase nah . .
Aber es sagt ihm doch die Natur in ihrer Erhabenheit, in der Wildheit
des Zornes am meisten zu. Str. 37 bekennt er: Die gütigste der Mütter
ist Natur, Stets mild, und wechselt sie auch oft geschwind, Lafst schwelgen
mich an ihrem Busen nur, Ihr nie entwöhntes, doch nicht liebstes Kind;
Wie schön selbst ihre wilden Züge sind. Wo Kunst sie nidit entweiht
auf ihren Auen, Bei Tag und Nacht war sie mir hold und lind, Wohl
möcht' ich sie wie niemand sonst erschauen. Ich such* am liebsten sie
in ihres Zornes Grauen. — ,Melancholisch' rauscht die Welle unter dem
Bug des Schiffes, — und an dem Kloster Zitza bewundert er den magischen
Reiz, den Fels, Wald, Gebirg und Strom zusammenweben — ,»Tief unten
giebt des Stromes Rauschen Kunde Von Wasserfallen über Felsgestein,
Was bald dem Herzen Graun bald Wonne mag verleihn**.
Es läfst sich Schwerin Worte fassen, wesentlich nur nachempfinden, worin
der Zauber der Eigenart auch in seinen Naturbeseelungen liegt — bis
ins Einzelne hinein ist nichts gekünstelt, sondern alles in der Anschauung
gedichtet, voll des feinsten Sinnes für die Nuancen des Naturschönen,
ob es nun die Poesie des Meeres oder des Waldes ist — wenn er
singt II, 70:
Hier, wo den Bog^en formt Utraikay's Bucht,
Die mOde Welle schimmernd schlafen geht,
Welch braunes Laub in g^ner Hagelschlucht I
Des Nachts die Brust der stillen Bai umweht,
Wenn sanfter Westwind leisen Hauches fleht
Und küfst, nicht stört das heitre Blau der Wogen —
Hier, wo als Gast willkommen Harold steht,
Wird mächtig er vom Anblick hingezogen,
Indem er manche Lust der stillen Nacht entzogen.
Er verachtet die Menschen, flieht die Städte, um mit der Natur allein
zu sein — er fühlt, ,er tauge zum Verkehr mit Menschen nicht' (III, 1 2),
pantheistisch weifs er sich eins mit seiner Mutter Natur, fühlt er sich
als Bruder aller ihrer Geschöpfe in Wald und Feld —
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und moderner Poesie. III. 445
„Wo Berge ragten, waren ihm Verwandte, Wo Meere rollten, seine
Heimatsau'n, Wo blauer Himmel auf die Fluren brannte. Trieb Kraft
und Neigung ihn, das Land zu schau'n. Wald, Höhlen, Wüsten und des
Meeres Grau'n War ihm Gesellschaft, Ihre Schrift verstand Er besser als
die seiner Heimatsau^n. Er tauschte jedes Buch gern, jeden Band Für
dich Natur, wenn dort im See die Sonne schwand. (III, 1 3).
„Ich lebe nicht in mir allein, ich fühle Mich einen Teil von dem, was
mich umringt, Mich freuen Bergeshöh'n, doch das Gewühle Der Menschen
ist's, was mich zu klagen zwingt. . (72) Sind nicht der Fels, das Himmels-
licht, die Wogen Von mir ein Teil, ein Teil von ihnen ich?
Ist's Liebe nicht, was so mich angezogen? Was war' das
andre, wenn ichs dem verglich?" Die Naturbetrachtung ist ihm —
wie Werther — Andacht, Religion. Allem in der Natur fühlt er sich
seelenverwandt, alles ist wie er selbst Teil eines und desselben gött-
lichen Wesens.
Auf den Schneefirnen der Alpen sieht er die Ewigkeit tronen.
Wohl preist er den Rhein," wo die Natur zu ernst nicht, noch zu heiter,
wild, doch nicht rauh, hehr, doch nicht freudebar,'^ doch alles „das tritt
zurück vor jenen Alpen droben! Paläste der Natur, auf euem Spitzen,
Den weifsen Häuptern, wolkenhoch erhoben. Sieht man die Ewigkeit
erstarrend sitzen. Um welche rings die eisigen Hallen blitzen! Lawinen-
sturz — ein schneeiger Donnerkeil! Hier schwillt der Geist, umstarrt
von Felsenritzen, Und bebt zugleich, es ragen jäh und steil die Gipfel —
unten bleibt der Menschen schwacher Teil." —
Am Genfer See scheint sich ihm von den Sternen ein stiller Liebes-
tau zu neigen: „Sie weinen, bis ihr heller Glanz entwich, Bis sich der
Farben Geist ins Herz der Gegend schlich! —
„Ihr seid des Himmels Poesie, ihr Sterne! . . .
„Rings Erd' und Himmel stiU! Doch schlafend nicht! Zwar stumm,
doch so, wie wenn wir innig fühlen, Wie wenn^s in unserm Innern mächtig
spricht! Rings Erd' und Hinunel still!"
So fühlt er am schweigenden Strand das Wehen desselben Geistes,
der in der eigenen Brust wohnt — und im nächtigen Meeressturm jauchzt
er: ,»Und das ist eine Nacht! glorreichste Nacht! Bist du gesandt nur,
dafs wir schlafen sollen? Teilnehmer lafs mich sein der wilden Pracht
Ein Teil von dir und Teil von Sturmes Grollen! Wie dort des
Sees phosphor'sche Wellen rollen! Wie tanzend jetzt der Regen nieder-
schwebt! Jetzt schwarz! — wie jetzt der Hagel schallt vom tollen Ge-
lächter! wie er mitzujubeln strebt. Als war' auch ihm es recht, dafs so
Ztschr. f. rg\. Litu-Geach. I. 3q
446 Alfred Biese.
die Erde bebt! . . Ihr Stürme sagt, wann endet eure Schlacht? Ob ihr
dem Sturm in unserm Busen gleichet?" . .
Doch wie er dieselbe elementare Macht der Leidenschaft, die er in
seiner Brust empfindet, auch in dem Sturme ahnt, so auch dieselbe Qual
und Angst in der Natur; ja selbst der kleine liebliche Nemi-See erscheint
ihm „still wie verhaltener Hafs^^ und die Caduta delle marmore des
Velino unweit Spoleto und Temi beschreibt er also IV, 69:
Gebrfill von Wassern! Hoch vom Pelsensitf Kommt der Velino durch die Schlucht
gesaust;
Ein Sturz von Wassern ! Nieder schäumt, wie Blitz, die weifse Masse, die den Abgrund
zaust I
Hölle von Wassern I Drinnen heult und braust Und kocht die Flut, von ewiger Qual
gehetzt;
Der Angstschwdls ihrer grofsen Folter kraust Sich um die schwarzen Klippen, die
benetzt
Den Pfuhl umstarren, .ohn* Erbarmen, doch entsetzt. Und steigt zum Hinunel, und vom
Himmel rinnt
Er wieder abwärts, wie ein Wolkenschofs, Und seine Regenschauer sind
Ein ewiger April för Laub und Moos, Die sind wie ein Smaragd. Wie bodenlos
Der Pfuhll Wie rasend springt die Riesenkraft Von Block zu Block, und ihres
Fufses Stofs
Zermalmt die Felsen, die sie mit sich rafi^, Bis dann im grausigen Spalt der Schlund
entgegen klafil.
Die schottische Hochwaldnatur hatte dem Dichter schon in der
Jugend die Liebe zu der grofsartigen Gebirgswelt eingeflöfst — wie er
selbst mit sehnsüchtiger Erinnerung bekennt „die Insel" 11, 12:
Was uns auch trenne von der Kindheit Glfick, Man steht doch gern auf jene Zeit zurQck;
Wen schon als Kind des Hochlands Blau entzückt, LiebV jede Höh\ die gleiche Farbe
schmflckt,
Grflfst jeden Fels, wie man fiür Freunde glüht, Umarmt den Berg in liebendem Gemüt. —
Und niemand unter den neueren Dichtem spricht selbst deutlicher
den Ursprung aller Naturbeseelung aus, als Byron, wenn er ebeada
Str. 16 sie auf den Geist zurücldfuhrt, der eben in allem lebt, dessen Mani-
festationen gleichsam nur verschiedene Gestalt im Wald und Berg, im
Stern und Himmel, in der Pflanze und — im Menschen angehommen
haben:
Wie oft vergessen wir in Einsamkeit, Im Staunen herrlicher Natur die Zeit,
Wenn aus dem Walde, Wasser, Flur und Licht Ihr Geist zu uns so allgewaltig spricht:
Lebt nicht der Berg? der Stern? Und sind die Wogen nicht auch beseelt?
Hat nicht der Höhle Bogen Gefühle, wenn er tropft in stillen Zfthren?
Gewifsl sie locken uns in ihre Sphären Und lösen vor der 2^it des Staubes Klois,
Die Seele tauchend in des Weltalls Schofsl —
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und modemer Poesie, m. 447
Bei einem Pantheismus von so urwüchsiger Kraft, von einer solchen
Glut der Überzeugung, der nicht etwa eine dichterische Form, eine Um-
kleidung einer momentanen Idee, sondern — sagen wir — poetisches
Glaubensbekenntnis ist, leuchtet wenigstens die Grundwahrheit ein, dafs
all unser Fühlen und Denken, wie es sich auf die Aufsenwelt erstreckt,
auf einer Spiegelung unserer selbst beruht. Es ist im Grunde genommen
dasselbe, ob wir sagen: Sind alle Dinge nicht belebt? Fühlt nicht der
tropfende Fels oder der schäumend (vor Zorn) sich herabstürzende Quell?
oder ob wir sagen: Es ist dem Menschen eingeboren, dafs er alles be-
leben mufs, wenn es ihm in seinem Grundwesen verständlich werden soll,
er mufs ihm seine Seele leihen, wenn er es begreifen soll. Es ist das-
selbe, ob wir. formulieren: Die Dinge nötigen uns, in ihnen ein gleiches
(verhülltes) Seelenleben vorauszusetzen, oder: Wir können von uns selbst
nicht abstrahieren, sondern müssen unser Ich zum Mafsstabe aller Dinge
machen. Aber auch das ist eine notwendige Folge aus dieser Thatsache,
die bei einer so ausgeprägten Individualität, wie die Byron*s ist, besonders
klar hervortritt: Wenn. Mensch und Welt, wenn Geist und Natur nicht
in ihrem innersten Wesen etwas Verwandtes hätten, wenn nicht ein
inneres Band sie verknüpfte, ja sagen wir ein Geist sie belebte (mag
man diesen sich immanent oder transcendent denken — die Poesie ist
keine Theologie!), würde eine solche Wechselbeziehung unmöglich sein.
Der Dichter vollzieht die Gleichung zwischen Objekt und Subjekt, für
ihn existiert die Welt nur in Bezug auf ihn, auf sein Gemüt — ja, nicht
die kleinsten von ihnen sind Pantheisten gewesen. Sie fühlen die Dinge
als ein Teil ihrer selbst — weil ein Teil ihrer Seele in sie hinüber-
geleitet wird — und sich selbst als ein Teil der Dinge. „Sind die Sterne
nicht ein Teil von mir und ich von ihnen?" Die Beseelung ist die natur-
gemäfse Folge solcher Betrachtungsweise. Natur und Seele sind zwei
gleichgestimmte Instrumente; ein Geist spielt in ihren Saiten — und wer
will, es leugnen, dafs die Melodien, die er beiden zugleich entlockt, zu
dem Schönsten der Poesie gehören — und femer, dafs die Art der
Durchgeistigung der Natur einen Mafsstab für das Können der Dichter
ist — denn sie ist bei den gewöhnlichen konventionell, sie konmien
über lachen, seufzen, stöhnen, klagen, weinen nicht hinaus, — und bei den
gottbegnadeten Genies trägt sie den Stempel der Individualität, wie in
so hohem Grade bei Goethe und bei Byron. —
Die Naturphantasie Shelleys, des im Leben so viel geschmähten, nach
dem Tode erst als gröfsten Lyriker Englands anerkannten Freundes Byrons,
ist nicht minder pantheistisch, ja man hat sie „kosmisch" nennen können —
30*
448 Alfred Biese.
denn die schönsten seiner Lieder sind den Wolken und Winden gewidmet
Byron wird vornehmlich durch das Grofsartige und zugleich Wilde in der
Natur gefesselt, Shelley, dessen Blick auch in die Weiten imd Femen
des Weltenraumes schweift, liebt die Natur mehr in ihrer heiligen ^n-
falt und stillen Gröfse. Vielleicht hat sich kein Dichter so berauscht an
dem Anblick der Natur wie Shelley, kaum jemand das Meer so heifs
geliebt wie er —
Die Sonn' ist warm und stille die See, Mit Lächeln blickt der Himmel drein,
Der Inseln Blau, der Berge Schnee Umkränzt der goldne Abendschein . .
Wie Stemenflut, der Wellen Blau hinplätschert leis zum Uferrand . .
Der Flut entblitzt wie leuchtend Erz Ein Funkeln, und im Abendbrand
Entsteigt ein Klingen uferwärts . . Ja, hier ist selbst Verzweiflung lind;
Ein Leben voll Verdrufe, Das ich ertrug und tragen mufe,
Bis mir der Tod den Schlummer bringt, Bis in der Lfif^e warmem Guls
Mein Geist ins weite All verklingt Und meinem Ohr das Meer sein letztes Murmeln
singt.*)
So schrieb er am Golf von Neapel. Es sollte Wahrheit werden,
in den Armen des Meeres sollte er sterben, und am Meeresstrande liefs
Byron die irdischen Überreste des grofeen Dichters verbrennen. Die
Natur war seine Geliebte, die Natur sein Gott. In schönen Worten kenn-
zeichnet er selbst einmal des Menschen unwiderstehlichen Drang nach
Sympathie und sagt dann, aus eigenster bitterster Erfahrung, er, der
Verfemte — „daher kommt es, dafs wir in dem verlassenen Zustande,
wo wir von Menschen umring^ sind und doch diese nicht mit uns sym-
pathisieren, Blumen, frisches Grün, das Wasser, den Himmel, die Bered-
samkeit des Windes und die Melodie der Wogen mit einem Entzücken
gleich demjenigen lieben, mit dem wir der Stimme einer Geliebten lauschen,
deren Gesang für uns allein ertönt." Pflanzen und Tiere nennt er seine
geliebten Brüder und Schweistern, „sein Puls pocht in geheimnisvoller
Sympathie mit dem Pulse der Natur." Auf dem Grabstein zu Rom setzte
seine Gattin unter den Namen des Geliebten nur die Worte Cor cordium.
Mit Recht, auch in seinem Verhältnis zur Natur. Er fühlte sein eigen
Herz eins mit dem Herzen der Welten, mit dem Geist des Alls; sein Herz
vibrierte auf das Sensibelste mit — mochte er nun die fernen Welten
der Sterne betrachten und das Blitzen derselben zu ihm hinableuchten,
oder mochte er im Boote liegend sich schaukeln lassen von den Wellen
und ihren geheimnisvollen Melodien lauschen. Er leiht sein ganzes, für
die Menschen und die Welt so heifs schlagendes Herz der Wolke, wenn
er in seinem herrlichen Gedichte ihre segnende Macht schildert, und
*) Vergl. Brandes, Hauptströmungen der Litteratur des 19. Jahrhunderts IV, 340.
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und modemer Poesie, m. 449
seine ganze geniale Lebensfrische, wenn er ihre verschiedenen Daseins-
phasen ausmalt, mit einer Kraft der Beseelung, die an dramatischer
Lebendigkeit wie auch an intensiver Detailzeichnung die Sturmesmythe
Lenau*s noch weit übertrifft:
Der Gewässer Segen giels' ich im Regen Auf den dürstenden Blütenbaum, .
Werf* leichte Schatten auf schlummernde Matten In ihrem mittäglichen Traum.
Ich schüttle die Schwingen; den Morgeng^is bringen Die tauigen den Vögeln all,
Die in Schlummers Wiegen an der Mutter Brust liegen, Wenn sie tanzt um den
Sonnenball.
Auf weifsem Rosse, des Hagels Geschosse, Reit* ich durchs grüne Feld;
Dann* send* ich sie wieder im Regen nieder Und lache, zum Donner gesellt.
Ich siebe die Flocken auf der Berge Locken, Und die Fichte schauert und kracht;
Von Windsann umkettet und schneeweifs gebettet, So schlaf ich die ganze Nacht . .
Ich gürte der Sonne die brennende Zone Und dem Monde das Perlengewand;
Vulkane verglimmen und Sterne verschwimmen, Nimmt der Sturm mein Panier in
die Hand.
Von Kap zu Kap schlage die Brück* ich und tage Gewölbt über strömendem Meer;
Bin fest vor den Pfeilen der Sonn* und zu Säulen Nehm* ich die Gebirge umher.
Des Luftreichs Götter, Schnee, Feuer und Wetter, Unter meinen Wagen gebracht.
So komm* ich gezogen durch den Ehrenbogen, Den Bogen von buntester Pracht,
Den die Lichter der Sphären in Farben verklären, Wenn die trunkene Erde lacht. —
Bin von Wasser und Erde die Tochter und werde Gesäug^t von dem himmlischen Licht;
Ich dring* durch die Röhren von Ländern und Meeren, Ich wechsle, doch sterb
ich nicht.
Wenn der Regen vergangen und im reinsten Prangen Sich öffnet das Himmelsgezelt
Wenn die Winde erschlossen, samt den Sonnengeschossen, Das azurne Lufischlofs
der Welt —
Meinem Sarge, dem leeren, dann lach* ich zu Ehren Und wie Kinder aus Mutterschois,
Wie aus Grabesschois Seelen, entschlüpf ich den Höhlen Des Dampfs und zerstöre
das Schlois.*)
So grandios und stolz in diesen Zeilen die Wolke dargestellt wird,
so friedlich und still in anderen wieder, „wenn sie sich in ihrem Neste
zusammenschmiegt, da der scharlachne Mantel des Abends vom Himmels-
gewölbe herabfallt und das helle Meer drunten sein brennendes Sehnen
nach Ruhe und Liebe ausathmet.^
Wie nahe Shelley in solchen ^kosmischen* Gedichten der mytholog^ischen
Naturanschauung kommt, springt in die Augen. Mit Recht sagt Brandes
a. a. O.: ,Wenn die Wolke von jener in weifse Flammen gekleideten
♦) Die Übersetzung, welche ich der Sammlung English Poets etc. Leipzig, 1856 ent-
nehme, zeigt in ihren unvermeidlichen Schwächen recht, wie unmöglich fast es ist, Shelley*s
Dichtungen wiederzugeben; bei einem so sensitiven Fühlen und so individuellen Ausdruck
ist der Schmelz, der über den Originalen liegt, unübertragbar.
450 Alfred Biese.
Jungfrau spricht, welche die Sterblichen den Mond nennen, die über
ihren flockigen Teppich blinkend dahin gleitet, und deren unsichtbare
Füfse mit leichten Tritten, die nur die Engel vernehmen, das Gewebe
ihres dünnen Zeltdachs durchbricht, oder wenn sie von dem blutigen
Sonnenaufgange mit den Meteor- Augen singt, so hat der Dichter, vermöge
der Urfrische seiner Phantasie, den Leser in die Zeit zurückversetzt,
wo die Naturerscheinungen sich in voller Neuheit zu Mythologien
gestalteten."
Auch in dem herrlichsten seiner Gedichte, in der „Ode an den West-
wind", tritt diese dem Mythus so verwandte Nafcurbetrachtung hervor, wenn
er den Westwind anredet (c. 2): „Du, dessen Strom am wetterdunklen
Himmel Zerrissene Wolken, Blätter vom Gezweig des Weltbaums trägt," und
von den Locken des Sturmes spricht, welche über das lustige Azurfeld flattern,
wie das lichte Haar, das sich auf dem Haupte einer zornigen Mänade sträubt!
Er nennt ihn des Herbstes Atemzug, den Fuhrmann, der das tote Laub,
die rote, schwarze, gelbe Schar, den Raub des Fiebers und der Pest,
dahinfegt und sie zudeckt wie kleine Leichen . . Ihn ruft er: „Höre mich,
o höre, der dich ruft!" Er fühlt sich dem Geist des Windes, der belebt
und zerstört, verwandt und vertraut:
War ich ein totes Blatt, von dir entrückt,
Flog* ich als Wolke schnell mit dir dahin,
Nahm* ich als Woge, schwer von dir gedrückt,
Auch deiner Triebkraft Anteil zum Gewinn,
So frei fast, Ungezügelter, wie du . .
Und von welcher Poesie der Anschauung, von welcher Wehmut sind
die Schlufsstrophen durchdrungen:
Mach* mich zu deiner Harfe gleich dem Wald,
Ob auch mein Laub muis fallen wie das seine!
Durch beide dann mit mächtigem Brausen schallt
Ein Lied von herbstlich tiefem Ton, das deine,
Voll süfser Wehmut. Geist voll wilder Macht
Sei du mein Geist, dein Ungestüm der meine!
Treib durch die Welt, was sterbend ich gedacht,
Gleich welkem Laub, zu fördern neues Werde;
Und lafs, wie Asche, blasend angefacht
In Funken sprüht vom unerloschnen Herde,
Mein Wort vernehmen Jülich Menschenkind I
Prophetisch sei der unerweckten Erde
Durch mich dein Hall! Wenn Winter naht, o Wind
Ob denn noch fern des Frühlings Tage sind? —
r
Die ästhetische Naturbeseeluog in antiker und moderner Poesie, m. 451
Shelley und Byron sind die gröfsten Lyriker Englands, gehen wir
nach Frankreich hinüber und prüfen wir die lyrischen Gedichte der
beiden gefeiertsten Poeten am Anfang dieses Jahrhunderts, Lamartine^s
und Victor Hugo 's. Rousseau hatte für Frankreich die landschaftliche
Schönheit entdeckt, denn was vor ihm in Lyrik und Epos und Drama
von Land und Meer, von Berg und Tal und Flufs und See gesungen,
war entweder kühl rhetorisch, konventionell oder süfslich idyllisch,
oft tändelnde Nachahmung der Antike — wie bei Ronsard. Aber seit
dem Ende des vorigen Jahrhunderts blühen die Blumen, grünen die
Wiesen, tobt das Meer oder lacht die Flut, schimmern im Gletscherschnee
die Alpen — in der französischen Lyrik nicht minder bedeutungsvoll
wie in denen der anderen Nationen. Auch hier ist die Art der ästhetischen
Natiu-beseelung charakteristisch für die einzelnen Poeten. Nach den
Stürmen der grofsen Revolution, die mit der Religion, wie mit allen
sonst Bestehenden so radikal aufgeräumt hatte, trat die Reaktion hervor —
das Christentum zog mit neuer Kraft und Wärme in die Herzen ein, eine
gesteigerte Innerlichkeit herbeiführend — ich denke an Chateaubriand — ,
und die Lyriker werden nicht müde, die Natur als Spiegelbild der grofsen
Schöpfungsgedanken Gottes zu preisen. Darnach bestimmt sich auch ein
wesentliches Ingredienz der Naturbeseelung.
Lamartine ist ein sentimentaler Träumer, für den oft das Wort nicht
ausreicht, um seine hochfliegenden Gedanken wiederzugeben, die sich in
das Unsagbare, Nebelhafte der Empfindung verlieren. Er versenkt sich
mit Andacht und Wehmut in die Natur; der Abend, die Mondscheinnacht
sind die weihevollsten Zeiten für seine „Meditations. "" Dann sucht er die
Abgeschiedenheit, die Einsamkeit (No. I, Tisolement), läfst seinen Blick
über die Ebene schweifen: „hier braust der Flufs mit schäumenden Wogen,
schlängelt sich dahin und verliert sich in die dunkle Feme, dort dehnt
der unbewegliche See seine schlummernden Wasser — la le lac immobile
etend ses eaux dormantes — da taucht der dunstige Wagen der Königin
der Schatten auf — die Nacht steigt herauf^ . . . Eine ähnliche Situation
malt die vierte Betrachtung: „Der Abend fuhrt die Stille herauf, der
Wagen der Nacht rückt näher, der Abendstern wirft seinen geheimnis-
vollen Schein auf die Wiesen — im dunkeln Laub der Buche höre ich
die Zweige schaudern (frissonner), ein Strahl des nächtlichen Gestirns
streift lind meine schweigende Stirn" — „süfser Wiederschein einer Flammen-
kugel, was willst du? Willst du Licht tragen in meinen Busen? Steigst
du herab, mir zu enthüllen das göttliche Geheimnis der Welten?^ u. s. f
Das Sternenlicht sieht er im Dunkel der Nacht wie den einzigen Genossen
452 Alfred Biese.
an, verkehrt mit dem freundlichen Strahl wie mit einem Freund, wie mit
einem Boten Gottes.
Voll Wehmut der Erinnerung an schön vergangene Stunden ist
No. Xni; er fragt den See, ob er noch sich erinnere, wie er mit der Ge-
liebten auf seinen Wogen im Schweigen gerudert — „nur die Schlage der
Ruder, die deine melodischen Wellen (tes flots harmonieux) trafen, waren
vernehmbar; da sprach sie, die Teure — und die Welle ward aufmerk-
sam (le flot fut attentif); sie möchte die Nacht aufhalten, den Anbruch
des Morgens verzögern — ...
O lac! rochers muets! grottes! for^ts obscures! . .
Gardez de cette nuit, gardez, belle oature Au moins le souv^nir!
Qu*il soit dans ton repos, qu*il soit dans tes orages,
Beau lac, et dans Taspect de tes riants coteaux . . .
Que le vent qui gcmit, le roseau qui soupire,
Que les parfums l^gers de ton air embaum^,
Que tout ce qu^on entend, Ton voit ou Ton respire,
Tout dise: üs ont alm^l
So zieht er die Natur zum Mitgefühl heran, und von selbst ergeben
sich durch diese sympathetische Naturbetrachtung die Beseelungen. Von
echtem religiösen Naturgefuhl, das den Erscheinungen die Sprache des
Rühmens und Preisens ihres Schöpfers leiht, zeugt Med. XVI ,1a priere*:
^Der glänzende König des Tages steigt herab von seinem Siegeswagen,
die leuchtende Wolke bewahrt in Streifen Goldes seine Spur am Himmel
und übergiefst mit Purpurschein den Raum, . . der Mond schwebt herauf,
seine bleichen Strahlen ruhen auf dem Rasen (ses rayons affaiblis dorment
sur le gazon), und der Schleier der Nacht breitet sich über die Berge**
— und mit schönen schwungvollen Worten fahrt er fort:
C*est rheure oü la nature, un moment recueillie,
Entre la nuit qui tombe et le jour qui s^enfiiit,
S^^l^ve au createur du jour et de la nuit,
Et semble ofirir ä Dieu, dans son brillant langage,
De la creation le mag^nifique hommage,
Voilä le sacrifice immense, universell
L^univers est le temple et la terre est Tautel,
Les cieux en sont le d6me . .
Aber der Dichter weifs: Erst unsere Intelligenz verleiht der Natur
die Seele, La voix de Tunivers c'est mon intelligence. Sur les rayons
du soleil, sur les ailes du vent Elle s'eleve a Dieu . .
Ein andermal (XXI) ist solche Abendstunde für ihn die Stunde der
Melancholie — selbst in die Naturstimmung überträgt er sie: „Vois-tu
Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und moderner Poesie. HI. 453
comme le flot paisible Sur le rivage vient mourir? Vois-tu le volage
Zephyr Rider d'une baieine sensible, L'onde qu'il aime parcourir? . . Au
soin de Tonde fremissante Je trace un rapide sillon . . . Schweigen er-
greift die Lüfte, das ist die Stunde, wo die Melancholie nachdenklich
sich sammelt an den schweigenden Gestaden des Meeres, nachsinnend
auf Ruinen^ u. s. f.
Die Schwermut des eigenen Herzens überträgt er auch auf die Natur,
im Herbst, Med. XXIX: Salut 1 bois couronnes d'un reste verdure! . .
le deuil de la nature Convient ä la douleur et plait ä mes regards.
Die Natur liebt er wie seinen Freund, ihr Sterben ist ihm das
Scheiden eines Freundes — la nature expire . . c'est Tadieu d'un ami,
c'est le dernier sourire Des levres que la mort vu fermer pour jamais.
Die Sterne sind seine lieben Gefährten in der Einsamkeit, XXXIV,
vous brillantes soeurs . . mes compagnes . . Vos rayons m'apprendraient
ä louer celui . . que vous voyez peut-etre.
Er leiht den Sternen auch Gefühl: Et voyant dans mon sein ses
tremblantes clartes Je sentirais en lui tout ce que vous sentez!
In Ischia (XXXIX) sieht er den Mond die Wellen mit seinem silbernen
Lichte überfluten, die Strahlen ruhen in den Tälern (dormir dans les
vallons), und das Wellenmurmeln erscheint ihm so süfs wie das Atmen
eines träumenden Kindes — doux comme le soupir d'un enfant qui
sommeille, Un son vague et plaintif se repand dans les airs . ., Mörtel, ,
Re^ois par tous les sens les charmes de la nuit! — Der Gedanke an die
Vergänglichkeit, die das Loos alles Irdischen ist, durchbebt auch die
Natur, die \Yelle, welche das Ufer küfst, das Rohr an dem Ufer, klagen
und seufzen QCLVI) . , L'onde qui baise ce rivage' De quoi se plaint-elle
ä ses bords? Pourquoi le roseau sur la plage, Fourquoi le ruisseau
sous Tombrage Rendent-ils de tristes accords? De quoi gemit la tourterelle? .
Tout nait, tout paise . . .
Das Meer liebt er wie einen Genossen aus der Jugendzeit L (I),
wie eine treue Geliebte (une amante fidele), von seinen Wellen läfst er
sich schaukeln (Berce cet enfant qui t'adore); er liebt es, wenn unter dem
Hauch des Zephyrs das Ufer zu lächeln scheint und — quand le vent
caresse Ton sein mollement agitd —
Vient donner le baiser d^adieux; Roule autour une voix plaintive,
Et de r^cume de ta rive Mouille encore mon front et mes yeux. . .
Eine so träumerische Naturbetrachtung, die ein so herzliches Ver-
hältnis zur Natur und somit auch eine so intensive Beseelung hervorrief,
war in früheren Jahrhunderten in Frankreich nicht zu finden gewesen.
464 Alfred Biese.
seit Rousseau aber ist das Eis durchbrochen und ein warmer Strom voll
Leben und Empfindung hat sich auch in der französischen Poesie über
die Natur ergossen; der Lyriker verkehrt mit ihr, wie mit einem Bruder,
wie mit einem Freunde oder wie mit einer Geliebten. — In Deutschland
und England war der Pantheismus, in Frankreich der Theismus die
Geburtsstatte einer seelenvollen Naturanschauung. Das zeigt auch Victor
Hugo , der sonst weit plastischer und klarer als der weiche, schwärmerische
Lamartine ist, in den schönsten seiner Gedichte, in den Feuillcs d*automne.
Er ist ein echter Lyriker, er kennt die geheime, stille Sprache der
Natur und — das Wesen und das Elend der Menschen. Von Faustischem
Geiste durchweht ist das schöne Gedicht (No. V) Ce qu*on entend sur
la naontagne. Ein Dichter sieht und hört mehr als gewöhnliche Sterb-
liche. Victor Hugo erzählt, einst sei er auf den Gipfel eines Berges ge-
st Liegen, unter sich auf der einen Seite die Erde, auf der anderen das
^^vleer, und da habe er eine Stimme gehört, wie sie sonst niemals einem
Munde entströmt oder an ein Ohr dringt, in dem gewaltigen Gebrause
habe er zwei Stimmen unterschieden, — und nun prefst er gleichsam die
Fülle der Natureindrücke mit ihrem Frieden und ihrer Schönheit in einem
Laut zusammen:
L'une venait des mers, chant de sloire! hymne heureuz!
L*etait la voix des flots, qui se parlaient entre eux —
Or . . Tocean magnifique ^pendait une voix joyeuse et pacifique,
Chantait comroe la harpe aux temples de Sion
Et louait la beautc de la cr^ation.
Dagegen die andere Stimme! Pleurs et cris! l'injure, Tanatheme . .
C'etait la terre, et Thomme, qul pleuraienti Lune (voix) disait: Nature!
et Tautre: Humanite! -
Ein Gedanke voll Erhabenheit und Tiefe — und zugleich wie schön
sind die Beseelungen der Wellen, des Meeres, dieses Sinnbildes aller
Naturschönheit. — Das Meer und der Sternenhimmel gelten ihm als das
Erhabenste in der Welt und was am deutlichsten die Gröfee des Schöpfers
dokumentiert. Es erinnert an Augustin, wenn er auf die Frage der übrigen
Wesenheiten, das Meer und den Himmel bekennen läfet, dafs Gott der
Herr sei, in den schönen Strophen:
J'6tais seul pris des flots par une nuit d^etoiles, Pas un nuage aux cieux, sur les mers
pas de volles,
Et les bois et les monts et toute la nature Semblaient interroger dans confus murmure
Les flots des mers, les feux du ciel.
Die ästhetische Naturbeseeluog in antiker und moderner Poesie. III. 455
Et les ^tolles d'or, legions infinies, A votx haute, ä voix basse, avec mille harmonies,
Disaient en inclinant leurs couronnes de feu, Et les flots bleus, que rien gouverne et
n*arrete,
Disaient en reconrbant T^cume de leur crete: — Cest le Seigneur Dieu, le Seigneur
Dieu!
Überhaupt übt auf ihn der Sternenhimmel den gröfsten Zauber aus
f. XXI: Parfois, lorsque tout dort, je m'assieds plein de joie Sous le
döme etoile qui sur nos fronts flamboie . ., er hört dann Stinunen aus
der Höhe, von den fernen fremden Welten, es entzückt ihn das glänzende
Schauspiel, das die Sterne geben, der leuchtende Himmel, welcher der
Welt die Nacht giebt — und wie der Mensch niemals es lassen kann,
alles auf sich selbst zu beziehen, bekennt er: Souvent alors j'ai cru . .
Que j'etais, moi, vaine ombre obscure et taciturne, Le roi mysterieux
de la pompe nocturne; Que le ciel pour moi seul s'etait illumincl —
Victor Hugo ist sich selbst sehr wohl bewufst, dafs auch von den
Dichtern nicht alle die Natur so zu interpretieren verstehen wie er, er
weist (No. XXXIII) an diese ewig strömende Quelle der Schönheit und
spricht zugleich in treffendster Weise die Grundbedingung aller Freude,
alles Genusses an der Natiu", und somit auch der sympathetischen Natur-
beseelung aus — nämlich, dafs man selbst Ideen und Geist, Gemüt und
Stimmung in Beziehung setzen mufs zu der Natur, um die Stumme reden,
die Tote belebt zu machen:
Si vous avez en vous, Vivantes et pressees,
Un monde intörieur dMmages, de pensees,
De sentimenSf d^amour, d*ardente passion,
Pour feconder ce monde, ^chanjjez-le sans cesse
Avec Tautre univers visible qui vous presse!
M^lez toute votre äme a la cr^ation . .
Que sous nos doig^ puissans exhalc la nature,
Cette immense clavier!
In der That! Eine Welt von Gedanken mufs der Dichter zu der
Welt der Erscheinungen in Bezug setzen, — und auf alle Töne
seines Innern antwortet das Echo der Natur; der grofse Weltenmeister
hat unsere Seele und die Natur gleichsam auf denselben Ton gestimmt,
— unter dem Zauberstabe des Dichters klingen die Klaviaturen beider
zu herrlichen Harmonien zusammen. — Was bedarf es weiter Zeugnis? —
Dem modernen Menschen ist die Natur ein träumender Geist, jedes Einzelne
ein Spiegel des Ganzen, ein Gedanke, ein Geheimnis. Wie das Land-
schaftsbild des Malers erst schön ist, wenn er es verstanden hat, den
undefinirbaren Hauch der Stimmung darüber zu breiten, dem Nebeneinander
1
466 Alfred Biese.
von Licht und Farbe und Linien ein inneres, vereinendes Band zu leihen,
so wird auch die Welt um uns erst schön, wenn wir ihr unsere Seele,
unser Empfinden einhauchen, wenn wir sie — beseelen.
Je nach ihrer Denkart und Weltanschauung unterscheiden sich hierin,
wie wir sahen, die Völker der verschiedenen Jahrhunderte und die Dichter
der einzelnen Epochen.*) Was längst untergegangene Nationen, getrennt
von einander, gedacht und geschaffen haben, der moderne Mensch, der auf
den Schultern hinabgesunkener Generationen steht, vereint all das Hetero-
gene wie in einem Brennpunkt: unser Denken ist universeller denn je ge-
worden; aber auch die immensen Errungenschaften unseres Geisteslebens,
die grofsartigen Erfolge der Wissenschaft, speziell unseres Wissens von
den Kräften der Natur und von der Herrschaft über dieselben haben das
Interesse auch für das Einzelnste, Kleinste geschärft: unser Denken ist
individueller denn je geworden. Der moderne Mensch fühlt sich als
Mikrokosmos im Makrokosmos. Und so singt Geibel — dem wir nur
noch als einem Hauptvertreter der modernsten deutschen Lyriker das
Schlufswort geben wollen:
Nur zu rasten, zu lieben, Still an sich selber zu bau*n,
Fühlt sich die Seele getrieben, Und mit Liebe zu schau*n.
Und so schreit* ich im Tale, In den Bergen, am Bach,
Jedem segnenden Strahle, Jedem verzehrenden nach.
Jedem leisen Verfärben Lausch' ich mit stillem BemQh*n,
Jedem Wachsen und Sterben, Jedem Welken und BlQh*n.
Selig lern* ich es spüren, Wie die Schöpfung entlang
Geist und Welt sich berühren Zu harmonischem Klang.
Was da webet im Ringe, Was da blüht auf der Flur,
Sinnbild ewiger Dinge Ist*s dem Schauenden nur.
Jede sprossende Pflanze, Die mit Düften sich füllt.
Trägt im Kelche das ganze Weltgeheimnis verhüllt.
Schweigend blickt's aus der Klippe, Spricht im Quellengebraua;
Doch mit seliger Lippe, Deutet die Muse es aus.
Kid.
*) Ausführlich habe ich die Geschichte des Naturgefühls im Mittelalter und in der Neu-
zeit in einem Werke dargestellt, welches hoffentlich noch im Herbst d. J. erscheinen wird.
NEUE MITTEILUNGEN.
-•••-
Die Episode des Gottesgerichts in „Tristan und Isolde"
unter den transsilvanischen Zeltzigeunem und Rumänen.
Von
Heinrich von Wlislocki.
B. Jülg hat in seinem Werke: „Mongolische Märchen, Erzählung aus
der Sammlung Ardschi Bordschi" (Innsbruck, 1867) ^^^ interessantes
Seitenstück zum Gottesgericht in Tristan und Isolde geliefert. Diese Er-
zählung, welche die letzte Stelle in der mongolischen Märchensammlung
„Geschichte des Ardschi Bordschi Chan** einnimmt, findet sich auch in
der indischen Sammlung „(^ukasaptati** (70 Erzählungen eines Papagei)
vor und hat ihre weiteren Ausläufer Benfey, Pantschatantra I, 246—249,
456 — 459 nachgewiesen, ebenso eine böhmische Gestaltung dieses Mär-
chens (Pantschat. I. S. XXIV f.) angeführt. Im Folgenden nun erlaube
ich mir aus meiner unedirten Sammlung siebenbürgischer Volksdichtungen
zwei bislang unbekannte Märchen mitzuteilen und zwar ein Märchen der
transsilvanischen Zeltzigeuner, wie ich solches während meines mehr-
monatlichen Studienaufenthaltes bei einer transsilvanischen Wander-
zigeunertruppe (im Jahre 1883) aufgezeichnet habe, — und ein Märchen
der transsilvanischen Rumänen, auf welches mich Herr Dr. P. Russu in
Klausenburg aufmerksam zu machen die Freundlichkeit hatte. Das
rumänische Märchen ist schon deshalb interessant, weil darin eine Art
des Gottesurteils vorkommt, die sonst bei den Rumänen nicht nach-
gewiesen ist. Beide Märchen haben aufser ihrer engen Verwandtschaft
mit einander, eine schlagende Ähnlichkeit mit der von B. Jülg mitge-
teilten Erzählung aus der „Geschichte des Ardschi Bordschi Chan**, und
was uns besonders interessieren mag, mit der Episode des Gottesgerichts
in Tristan und Isolde.
458 Heinrich von Wlislocki.
Das Märchen der transsilvanischen Zeltzigeuner lautet in wörtlicher
Übersetzung also:
Die schlaue Königstochter.
Es war einmal ein reicher König, der hatte eine wunderschöne
Tochter, die nicht einmal die Sonne sehen durfte. Nur abends, wenn
der Mond schien und kein Mann im Garten des Königs sich befand,
da ging die schöne Königstochter hinaus ins Freie und lustwandelte mit
ihren Dienerinnen. Die Leute wufsten, dafs der König eine Tochter habe,
sie hatten auch gehört, dafs dieselbe sehr schön sei, konnten sich aber
nicht denken, warum der König sie vor den Augen der Welt versteckt
halte. Da liefs einmal der König allen Leuten kund geben: wer seine
Tochter ansähe, dem würden die Augen ausgestochen; wer
sich ihr nähere, dem würden beide Beine entzwei geschlagen;
kein Mann dürfe sie heiraten, denn sie sei viel zu schön für einen Sterb-
lichen; nur der König der Sonne oder der Mondkönig seien ihrer
würdig. Da lachten die Leute und bekümmerten sich nicht mehr um
die schöne Königstochter. Es lebte aber im Lande ein schöner, junger
Mann, der hatte auch von der schönen Königstochter gehört und be-
schlossen, dieselbe auf welche Weise immer zu sehen. Er zog sich zer-
rissene Kleider an und ging in die Stadt des Königs, wo er sich vom
jeichen König als Diener aufnehmen Hefs und den ganzen Tag über die
Pferde putzen mufste. Eines Abends, als der Mond schien, stieg er über
den Zaun in den Garten und sah unter einem Baume die wunder-
schöne Königstochter sitzen. Sie hatte ihn auch bemerkt und winkte
ihn zu sich. Sie sagte: „Gleich kommt meine Amme zurück und wenn
sie dich hier findet, so könnte es dir schlecht ergehen. Verberge dich
hier im Garten; um Mitternacht komme ich hieher allein zurück!" Drauf
ging sie in ihr Haus zurück.
Gegen Mitternacht kam die schöne Königstochter in den Garten
zurück, und nun unterhielten sich die Beiden bis es anfing zu dämmern.
Da kam eine Dienerin in den Garten und sah die Beiden sich küssen
und herzen. Sie lief sogleich zum König und erzählte ihm, was sie ge-
sehen. Da erzürnte der König gar sehr und schickte seine Soldaten in
den Garten, um die Beiden einzufangen. Aber die Soldaten fenden nur
die schöne Königstochter in dem Garten; der junge Mann hatte sich bei
Zeiten auf und davon gemacht. Die Soldaten führten die schöne Königs-
tochter vor den König und dieser liefs sie in den Kerker werfen. Niemand
durfte sie besuchen; nur ihre alte Amme brachte ihr täglich einmal Speise
und Trank und weinte mit ihr. Sie hatte ihr schönes Pflegekind gar lieb
und es tat ihrem Herzen weh, dafs sie es aus dem Kerker nicht retten
konnte. Da sprach sie einmal zur schönen Königstochter: „Wenn du
mir die Wahrheit sagst, so will ich dich aus dem Kerker befreien. Sag*
mir, ist es wahr, dafs du mit einem Manne eine ganze Nacht hindurch
dich im Garten unterhalten hast?** — „Ja, es ist wahr!** antwortete die
schöne Maid, „ich habe mich mit dem Diener meines Vaters unterhalten,
der die Pferde besorgt." Da sagte die gute Amme: „Nun, was ge-
1
Bie Episode des Gottesf ericfats in ,,Tristan und Isolde*^ 459
schehen ist, ist geschehen! Ich will jetzt zu deinem Vater gehen und
ihn bitten, dafs er dich einen Eid über Stechapfelsamen*) leisten lasse.
Wenn alle Leute versammelt sind, dann wird auch ein schmutziger, zer*
fetzter Bettler erscheinen, den sollst du bei der Hand nehmen und
schwören, dafs du dich nie mit einem Manne unterhalten, es sei denn
dieser Mann, den du bei der Hand hältst. Der Bettler wird dein Ge-
liebter sein imd da du nicht falsch schwörst, so werden auch die Stech-
apfelsamen von der Zaubertrommel nicht herabspringen!"**)
Die gute Amme ging also zum König und dieser liefs seine Tochter
über Stechapfelsamen schwören. Als sie dastand, kam auch ein Bettler
heran und diesen nahm sie bei der Hand und sprach: ^Nie habe ich
mit einem Menschen männlichen Umgang gepflogen, es sei
denn mit diesem schmutzigen Bettler hier!" Da lachten die Leute
über diese Rede und freuten sich, dafs die Stechapfelkörner nicht herab-
gesprungen, denn die schöne Königstochter hatte ja die Wahrheit
gesprochen. Drauf riefen die Leute dem Könige zu: „Wir haben Deine
Tochter jetzt gesehen, also ist es nicht nötig, dafs Du sie fernerhin vor
den Augen der Welt verbirgst! Lafs sie sich "jetzt einen Mann wählen,
damit man ihr später nichts Übles nachreden kann!" Und der König
willigte ein und liefs seine Tochter sich einen Mann wählen. Da schritt
die schöne Königstochter auf den Diener ihres Vaters los — dieser hatte
inzwischen seinen Bettleranzug abgeleg^t und sich rein gewaschen — und
sie sprach nun: ^Dieser werde mein Mann!" Der König mufste nun wohl
oder übel in die Heirat einwilligen und die Beiden wurden nun ein Paar.
Ich war auch auf ihrer Hochzeit und hörte dort diese Geschichte. ..."
Dies das Märchen der transsilvanischen Zeltzigeuner. Das rumänische
Märchen lautet in beinahe wörtlicher Verdeutschung also:
Die schlaue Mutter.
Es lebte einmal im fernen Türkenreich ein mächtiger Kaiser, der
hatte eine wunderschöne Tochter, die er nie auf die Strafse gehen lies
und die er zu schauen, keinem Menschen gestattete. Die arme Jungfrau
lebte wie eine Gefangene und sah den ganzen Tag über keinen Menschen
aufser ihrer Mutter. Da geschah es einmal, dafs sie hinausging in den
Garten und an den schönen Blumen und am lichten Mondschein sich
ergötzte. Sie legte sich unter einem Baume nieder und sag^e laut vor
*) Der Stechapfel, dessen Samen die Zigeuner zu verschiedenen Geheimmitteln und
Zauberstücken auch noch heutzutag^e g^ebrauchen, hat sich erst mit ihnen über ganz Buropa
verbreitet.
. **) Die Zaubertrommel, deren sich die transsilvanischen Zeltzigeuner auch noch heut-
zutage bei der Wahrsagerei bedienen, hat die Form einer ovalen, flachen Schachtel, woran
der Boden fehlt. Statt des Deckels ist sie mit einer Haut überspannt, worauf neun Linien
gezogen sind, deren jede ihre besondere Bedeutung hat. Will man eine solche um Rat
fragen, so wird eine gewisse Anzahl von Stechapfelsamen darauf gestreut, die sich durch
neunmaliges Schlagen auf die Haut in Bewegung setzen und je nachdem sie sich auf den
neun Linien verteilen. Glück oder Unglück bedeuten. In früheren Zeiten wurden auch diese
Trommeln bei Eidleistungen gebraucht.
460 Heinrich von Wlislocki.
sich hin: Wenn ich doch wüfste, was mein Vater mit mir vorhat!
Andere Mädchen in meinem Alter, die heiraten schon und wie mir meine
gute Mutter erzählt hat, haben sie auch schon Kinder und ich mufs hier
einsam, ohne Freude verwelken! Da sprach Jemand vom Baume herab:
„Arme Jungfrau! furchte dich nicht! ich bin der erste Mann deines Vaters;
ich habe die ganze Welt geschlagen und für ihn viele Länder erobert!
Ich hörte nun, dafs er dich wie eine Gefangene hält und keinem Manne
es gestattet, dafs er dich sehe. Schön ist der Sonnenschein, doch du
bist noch schöner. Wahrlich, dein Vater hat Recht, wenn er dich so
strenge bewachen läfst und keinem Manne gestattet, dich zu sehen!" Dies
gefiel der schönen Jungfirau gar sehr und bald kroch der Mann vom
Baume herab und — ich weifs nicht, wie und was geschah — kurz, die
Beiden blieben die ganze Nacht über bei einander. Am Morgen, zeitig
in der Frühe, kam eine Dienerin in den Garten, sah die Beiden unter
dem Baume liegen und straks lief sie zum Kaiser und sagte ihm, was
sie gesehen. Aber auch der junge Mann, der ein Feldherr des
türkischen Kaisers war, hatte die Dienerin gesehen und sich schnell aus
dem Staube gemacht.
Als der Kaiser zu seiner Tochter kam und sie fragte: wo der Mann
hin sei, der soeben bei ihr gewesen, da sagte die Maid: „Ich habe in
meinem ganzen Leben aufser dir keinen Mann gesehen!" Da ergrimmte
der Kaiser, rief seine Diener herbei und wollte seine Tochter in einen
Sack einnähen und von Pferden zertreten lassen;*) aber da trat seine
Frau hinzu und bat ihn, er solle es ihr gestatten, dass sie sich von ihrer
Tochter verabschiede. Der Kaiser gewährte die Bitte seiner Frau und
diese führte ihre Tochter in das Zimmer und drang in sie, ihr die
Wahrheit zu gestehen. Da gestand nun die Maid, dafs sie sich mit dem
ersten Feldherrn des Kaisers im Garten unterhalten habe. Die Mutter
schüttelte den Kopf und sprach dann also: „Das hast du nicht Not gehabt
zu tun, denn dein Vater hat dich ohnehin dem Manne bestimmt, der
ihm das gröfste Land auf der Welt erobere, und dies hat vor einigen
Tagen sein erster Feldherr gethan, mit dem du dich unterhalten hast.
Aber das dürfen wir ihm nicht sagen, denn sonst liesse er euch Beide
von den Hufen der Pferde zertreten. Ich werde ihn bitten, dafs er dir
gewähre, einen Eid zu leisten, dafs du mit keinem Manne dich je unter-
halten, es sei denn der Bettler, den du dann vor den Leuten umarmen
wirst. Dieser Bettler aber wird der erste Feldherr sein, der verkleidet
im Hofe erscheinen wird."
Als sie vor den Kaiser kam und ihn bat, er möge seiner Tochter
gestatten, dafs sie schwöre, da willigte er ein und liefs die Geistlichen
zusammenrufen, um seine Tochter schwören zu lassen. Diese nahmen
einen Stein, legten denselben ins Feuer und als er glühend heifs'war,
sollte ihn die schöne Maid in die Hände nehmen. Verbrannte sie ihre
Hände, so war sie schuldig, blieben aber ihre Hände unversehrt, so war
sie unschuldig. Doch bevor sie den heifsen Stein berührte, schritt sie
*) Vgl. Liebrecht. Zur Volkskunde (S. 296: Eine alte Todesstrafe).
Die Episode des Gottesg;erichts in „Tristan und Isolde". 461
auf den Bettler los, umarmte ihn und sprach: „So wahr mir Gott helfe,
ich habe mich nie mit einem Manne unterhalten, es sei denn dieser Bettler
gewesen I" Da rief die Mutter: „Ich weifs, unsere Tochter ist unschuldig.
Ich schwöre, dafs ihr in der vergangenen Nacht nichts mehr noch weniger
geschehen ist, als mir!"*) Sie war nämlich die gfanze verflossene Nacht
bei ihrem Manne gelegen. Während dieser Reden war der Stein ziemlich
abgekühlt und als ihn die Maid in die Hand nahm, verbrannte sie sich
kaum sichtbar und die Geistlichen sagten: sie sei unschuldig. Da freute
sich auch der Kaiser und liefs seinen ersten Feldherm rufen. Dieser
war als Bettler inzwischen nach Hause gelaufen, hatte sich entkleidet und
als die Diener des Kaisers zu ihm kamen, da zog er sich schnell an und
kam zu seinem Herrn. Da sprach zu ihm der Kaiser: „Wenn du willst,
so kannst du meine Tochter heiraten. Sie ist so schön wie die Sonne,
so angenehm wie der Mond, und Niemand hat sie berührt, es sei denn
du, was eben nicht hat geschehen können!" Der erste Feldherr heiratete
die schöne Tochter seines Kaisers und lebte mit ihr in Glück und Frieden
und wenn sie noch nicht gestorben sind, so leben sie auch noch jetzt!" . .
Dies das rumänische Märchen. Vergleicht man nun die Episode des
Gottesgerichts in Tristan und Isolde und die mongolische Erzählung aus
Ardschi Bordschi mit den hier mitgeteilten transsilvanischen Märchen, so
bieten sich, wie schon der erste Blick zeigt, eine grofse Zahl von
Parallelen, die man weiter bis ins einzelne verfolgen könnte und die
ich hier nur knapp zusammenstellen will.
Die Szenen in Ardschi Bordschi und in Tristan und Isolde spielen
im Garten, ebenso in unseren beiden Märchen; in der mongolischen
Erzählung heifst die Königstochter Naran Gerel („Sonnenschein")
und in Tristan und Isolde wird bei der Zusammenkunft wiederholt der
Sonnenschein betont, der auch in unseren Märchen erwähnt wird. Der
Baum, wo der mongolische Minister Ssaran die Zusammenkunft mit
Naran Gerel hat, erinnert an den Ölbaum im Baumgarten, auf welchem
der Zwerg Melot und König Mark lauschen, die der Mondschein verrät;
Ssaran ist mongolisch „Mond," der auch in dem Märchen der Zigeuner
und Rumänen erwähnt wird, während dem Minister der erste Feldherr
im rumänischen Märchen entspricht. Brangäne und Ssarans Frau stellen
etwa die Amme und Mutter unserer Märchen vor.
Zieht man nun die täuschende Ähnlichkeit der in Rede stehenden
Märchen und Erzählungen in Betracht, so dürfte man wohl eine ursprüngliche
Identität derselben anzunehmen geneigt sein. Welche Version man aber
als die ältere zu betrachten habe, ist jedoch nicht so leicht zu bestimmen.
Was indes die Frage betrifft, wo die Heimat der vorliegenden Märchen
und Erzählungen ursprünglich war, so ist dieselbe jedenfalls im Osten
zu suchen. Man könnte auch gar leicht versucht sein, anzunehmen, dafs
die rumänische Fassung infolge der häufigen Berührung der Rumänen
mit den Mongolen in Bessarabien und am schwarzen Meere überhaupt
*) Eine ähnliche Pointe hat ein humoristisches Gedicht von Lang^bein, dessen
Titel aber mir entfallen ist.
Ztichr. f. vgl. Litt-Geach. I. 31
462 Heinrich von Wlislocki.
— von Letzteren entlehnt worden sei, worauf abgesehen „vom ersten
Feldherm", der dem mongolischen Minister Ssaran entspricht, auch die
Erwähnung des „Türkenreichs" und des „türkischen Kaisers" indirekt
hinzuweisen scheint; denn die Rumänen und die Bewohner Siebenbürgens
überhaupt, verwechseln in ihren Volksdichtungen Tataren und Mongolen
beinahe immer mit den Türken und gelten bei ihnen diese Völker, deren
Bekanntschaft zu machen, sie in früheren Jahrhunderten häufig genug
Gelegenheit hatten, für identisch. Das Märchen der transilvanischen
Zeltzigeuner mag dann vielleicht eine Entlehnung aus dem rumänischen sein.
Mühlbach i. Siebenbürgen.
-*•-
^ Annenisches und Zigeunerisches
ZU ^^Barlaam und Josaphat/^
Von
Heinrich von Wlisiocki.
Felix Liebrecht hat in seinem trefflichen Werke „Zur Volkskunde"
auch die „Quellen des Barlaam und Josaphat" behandelt, dieses, dem
heiligen Johannes von Damaskus zugeschriebenen Romans, der von den
Volksbüchern des Mittelalters eine über granz Europa erstreckende Ver-
breitung genofs. Liebrecht hat in seinem erwähnten Aufsatze die vor
ihm häufig berührte und für und wider besprochene Frage: ob nämlich
der dem Barlaam und Josaphat zu Grunde liegende StofF geschichtlich
sei oder nicht, — bejahend gelöst, indem er diesen geistlichen Roman
auf Grund des 1860 herausgekommenen Werkes von Barthelemy
Saint-Hilaire: „Le Boudha et sa Religion" mit der mit vielen
Wundem ausgeschmückten Lebensbeschreibung des Buddha, nämlich der
Lalitavistära (verfasst im Jahre 76 n. Chr.) eingehend verglich. Er
hat den unerschütterlichen Nachweis gefuhrt, dafs das christliche Mittel-
alter in Barlaam und Josaphat „schon seit vielen Jahrhunderten, ohne es
zu wissen, eine Lebensbeschreibung des Buddha besafs, nur unter einem
anderen Namen, was die vor nicht langer Zeit entdeckten indischen
Originale erst jetzt offenbaren."
Schon Rudolph von Beckedorff hat in seinem Vorwort zu
Liebrechts Übertragung der in Rede stehenden griechischen Erzählung
(Münster 1847) die Ansicht ausgesprochen, dafs die Geschichte des
Armenisches und Zigeunerisches cu „Barlaam und Josaphat" 463
indischen Königssohnes, ,,dessen Verzichtleistung auf die väterliche Krone
und Umwandlung in einen strengen Asketen sowie späteres Aposteltum
Johannes von Damascus (oder irgend ein anderer morgenländischer
Christ) erzählt hat, die des indischen Prinzen Josaphat, des Sohnes
Abenners sei." Doch dies ist — wie Liebrecht es erwiesen hat —
tiicht der Fall. Denn weder Josaphat, noch Abenner haben je gelebt,
sondern die Geschichte des christlichen Josaphat ist „die des Siddhärta
(Sohn des Königs von Kapilavastu Qüddhodana), der später unter
dem Namen Buddha (der Erleuchtete) Stifter des Buddhismus wurde und
im Jahre 543 v. Chr. im Alter von 80 Jahren starb."
Im Ajnschluis an Liebrechts Untersuchungen will ich im Folgenden
zu Barlaam und Josaphat einen kleinen Beitrag liefern und zwar eine
bislang unbekannte armenische Erzählung und ein zigeunerisches Märchen
aus Siebenbürgen, welche die Geschichte Josaphats resp. Buddhas ohne
historische Färbung erzählen. Die armenische Erzählung schrieb ich
1882 während meines Aufenthaltes im Nordosten Siebenbürgens (Szepviz)
phonetisch nach. Eine alte Armenierin, deren Vater Meerschaumhändler
in Gifteler (bei Eskischeir in Anatolien) war und später nach Sieben-
bürgen einwanderte, erzählte sie mir. Sie hatte diese Erzählung von
ihrem Vater gehört Eine unwesentliche Variante derselben Erzählung
teilte mir Frau Pernidän, eine geborene Armenierin in Sächsisch-
Regen (Siebenbürgen) -mit. Bei der Verdeutschung war mir Herr
Dr. Werthänes Jakudjian, Mechitaristen-Friester, behülflich, ohne
dessen freundliche Beihilfe diese Übertragung bei meiner mangelhaften
Kenntnis des Armenischen wohl kaum zu Stande gekommen wäre. Ab-
gesehen von der überraschenden Ähnlichkeit der Namen (dem indischen
Prinzen Siddhärta entspricht in der armenischen Erzählung der Königs-
sohn Gimärtän; der Wagenlenker Buddhas heifst Tschhandaka, der
Freund Gimartäns heüst Tschändakän), enthält diese Erzählung zahl-
reiche Züge, die sich sowohl in Barlaam und Josaphat, als auch in der
Lebensgeschichte des Buddha wiederfinden.
Die unedirte armenische Erzählung lautet in wörtlicher Über-
setzung also:
Der heilige König.
Vor vielen tausend Jahren lebte im fernen Morgenlande ein stolzer
mächtiger König, der sich einbildete, Gott an Grösse und Macht eben-
bürtig zu sein. Da geschah es, dafs seine Gattin ihm einen Sohn schenkte,
der an Schönheit alle Kinder übertraf. Als der kleine Knabe zum ersten
Mal in seiner goldenen Wiege ruhte, flogen Bienen herbei und legten
süfsen Honig auf seine Lippen. Da fragte der König seine Räte, was
das zu bedeuten habe? Und diese meinten: das Kind sei berufen, ein
grofser, berühmter Mann zu werden. Der König freute sich darob gar
sehr und gab nun seinen Untertanen Feste über Feste. Doch einmal
trat ein fremder Mann vor den König und sprach also zu ihm: „Freue
dich, König, dafs dir ein Sohn geboren ist, der ein grofser, berühmter
31*
464 Heinrich von Wlislocki.
Mann werden wird; glaube aber ja nicht, dafs er dereinst deinen Tron
einnehmen und dein Reich vergröfsern wird. Er wird arm und einsam
in einer Wüste sterben, denn ihm werden irdische Schätze keine Freude
bereiten, wohl aber wird er die Kranken pflegen, die Armen und Ver-
lassenen trösten und allen Menschen Gutes erweisen!" Darob erschrak
der König gar sehr und liefe seinem Sohne aus Gold und Diamanten ein
wundervolles Haus erbauen und umgab ihn mit aller denkbaren Pracht,
damit er sich frühzeitig daran gewöhne und freiwillig nie diesem Wohl-
leben entsage. Der junge Königssohn hiefs Gimartän und hatte einen
gleichaltrigen Genossen, den man Tschandakan nannte. Beide wuchsen
zusammen im prachtvollen Hause auf und wurden unzertrennliche Freunde.
Die Zeit verging und Gimartän, der* Königssohn, wurde ein wunder-
schöner Jüngling. Da traf es sich einmal, dafs er mit seinem Freunde
Tschandakan auf die Jagd ging und sich in einem g^ofsen Walde
verirrte. Den ganzen Tag über suchten sie nach einem Ausweg, fanden
aber keinen. Gegen Abend hörten sie endlich irgendwo in der Feme
ein Jammern und Stöhnen. Sie gingen in der Richtung vorwärts und
fanden in einem Graben einen kranken Mann, der nicht mehr gehen
konnte. Erstaunt blieb der Königssohn vor dem Kranken stehen und
fragte endlich seinen Freund: „Was ist das für ein Mann?" Tschanda-
kan entgegnete: „Er ist krank." — „Warum ist er krank? Müssen wir
alle krank werden?" fragte drauf der Königssohn. Tschandakan er-
widerte: „Ja, wir alle können krank werden. Die Krankheiten schickt
uns Gott, damit wir uns bessern und dadurch nach dem Leben ins
Himmelreich einkehren können!" Drauf sprach der Prinz kein Wort
mehr, sondern lud den kranken Mann auf seine Schultern und schritt
dann mit seinem Freunde vorwärts. Endlich fanden sie den Ausweg
aus dem Walde und der Königssohn trug den kranken Mann in seine
prachtvolle Wohnung, wo er ihn pflegte, bis er wieder gesund wurde.
Von der Zeit an wurde der schöne Königssohn gar wortkarg und be-
suchte von nun an am liebsten die kranken Leute, die er pflegte und
tröstete. Da traf es sich einmal, dafs er mit seinem Freunde wieder bei
einem kranken Manne verweilte, der grade während dieses Besuches
starb. Gimartän sah die letzten Leiden des armen Mannes und als
dieser verschied, fragte er seinen Freund Tschandakan: „Was ist
diesem Manne geschehen? Warum liegt er regungslos und kalt da?"
Sein Freund antwortete: „Er ist gestorben und wir alle müssen einmal
sterben!" Der Königssohn sprach drauf kein Wort, sondern kehrte heim
und wurde von nun an noch wortkarger. Nach einiger Zeit traf es sich
wieder, dafs die beiden Freunde auf die Jagd gingen. Sie ritten hinauf
ins Gebirge und nachdem sie viele Tiere erlegt hatten, kehrten sie um
und wollten heimreiten. Da bemerkten sie in einem Graben den Leich-
nam eines alten Mannes, der schon halbverwest, unbeerdigt dalag.
Gimartän hielt sein Rofs an und fragte seinen Freund also: „Was ist
das? Ist das auch ein Mensch?" Tschandakan entgegnete: „Das ist der
Leichnam eines Mannes, der einmal auch so war, wie wir; und wir
werden einmal auch ihm gleich werden!" Der Königssohn sprach drauf
Armenisches und Zigeunerisches zu „Barlaam und Josaphat.** 465
kein Wort, sondern ritt heim und wurde von nun an noch wortkarger.
Er nahm einen frommen Mann zu sich in sein prachtvolles Haus, der ihn
nun in allen göttlichen Dingen unterrichtete. Von nun an lebte Gimartän
von der Welt zurückgezogen seine Tage, besonders da ohne sein Wissen
sein Vater den Lehrer hatte heimlich umbringen lassen. Er fürchtete
sich, dafs er seinen Sohn Gimartän verderbe, besonders da er auf
dessen Umwandlungvon Tschändakän aufmerksam gemacht worden war.
Ein Jahr verging nach dem andern und der alte König schlofs eines
Tages seine Augen für immer. Nun sollte sein Sohn, Gimartän König
werden, doch als ihm die Räte die Krone aufsetzen wollten, sprach er
also: „Gebt die Krone einem andern Manne, der an irdischen Dingen
Freude hat! Ich habe längst schon eingesehen, dafs alles Schöne und
Prachtvolle hier auf Erden zu Grunde gehen mufs und nur die Liebe zu
Gott allein besteht. Ich will Gott allein dienen, drum lafst mich ziehen
und gebt die Krone meinem Freunde Tschändakän." Drauf ent-
gegnete Tschändakän: „O König, wie kannst du auf eine Krone ver-
zichten? Auch als König kann man Gott dienen !^^ Doch Gimartän
blieb bei seinem Entschlufs und entfernte sich heimlich aus seiner Wohnung,
nachdem die Räte in seine Entsagung nicht einwilligen wollten. Doch
Tschändakän bemerkte seine Flucht und eilte ihm nach. Er holte ihn
auch ein, doch konnte er ihn zur Rückkehr nicht bewegen. So ging
denn Tschändakän zurück in die Königstadt und setzte sich die
Königskrone auf. Er wurde also König, während Gimartän draufsen
in der Wüste einsam und allein Gott diente und sich von Wurzeln und
Kräutern nährte. Welcher von beiden Freunden war wohl der glück-
lichere? Tschändakän mufste nach seinem Tode wohl noch im Fege-
feuer verweilen, während Gimartän als heiliger Mann nach seinem Tode
gleich in den Himmel einzog
Im Folgenden will ich nun die obige ^ armenische Erzählung mit
„Barlaam und Josaphat" (in Liebrechts Übertragung) und mit dem
oben erwähnten Werke von Barthelemy Saint-Hilaire, wenn auch
nur oberflächlich, vergleichen.
Von Buddha wird erzählt, dafs er so schön war, wie seine Mutter
Mäyä Devi, von der es heifst: „sa beaute etait tellement extraordinaire
qu'on lui avait donne ce sumom de Mäyä ou Vlllusion, parce que son
Corps, ainsi que le dit le Lalitavistära, semblait etre le produit d*une
Illusion ravissante*^ Saint-Hilaire p. 4). Gewisse Zeichen verkünden den
dereinstigen grossen Mann vorher, der die väterliche Krone mit dem
Asketenleben vertauschen wird. „Les principaux vieillards des (J^äkyas
(die Familie, welcher Buddha entstammte) se souvenaient de la prediction
des Brahmanes qui avaient annonce que Siddhärta pourrait bien renoncer
ä la couronne pour se faire ascete" (St. Hilaire p. 6). Von Josaphat
heifst es: „ . . . dem König . . . wurde ein ganz besonders wohl-
gebildetes Knäblein geboren, das schon durch seine äufsere Schönheit
seine Zukimft vorausverkündete** (Barlaam und Josaphat S. 14). Der
Oberste der Sterndeuter sagt: „Wie der Lauf der Sterne mich lehrt,
o König, so wird der Ruhm des dir jetzt geborenen Sohnes nicht in
466 Heinrieb von WUslocki.
deinem Reiche seine Stelle finden, sondern in einem andern, bessern und
unvergleichlich erhabenem" (B. u. J. S. 15). Siddhärtas Vater fürchtend,
dafs sich die Weissagungen verwirklichen, läfst seinem Sohne Paläste
bauen und ihn streng bewachen. „Cependant le roi (^üddhodana
devinait les projets qui agitaient le coeur de son fils. II redoubla de
caresses et de soin pour lui. II lui fit faire trois palais nouveaux, un
pour le printemps, un pour Tete et un autre pour l'hiver; et craignant
que le jeune homme ne profitat de ses excursions pour echapper ä sa
famille, il donna les ordres les plus severes et les plus secrets pour qu'on
surveillät toutes ses demarches" (St. H. p. 12). Von Josaphats Vater
Abenner heifst es: Indefs liefs er in einer abgelegenen Stadt einen sehr
schönen Palast erbauen und prächtige Gemächer darin ausschmücken
und wies ihn seinem Sohne, sobald er die erste Jugend zurückgelegt,
zum Wohnsitz an" (B. u. J. S. 16). Dies Alles passt auch auf den ersten
Teil der mitgeteilten armenischen Erzählung.
Gehen wir nun zum zweiten Teile über, worin die Begegnung
Gimartans mit dem Kranken, Toten und dem halbverwesten Leichnam
erzählt wird. Von Josaphat wird berichtet: „Da nun so der Prinz
häufig den Palast verliefs, sah er eines Tages durch eine Nachlässigkeit
der Diener zwei Menschen, von denen der eine aussätzig, der andere
aber blind war. Bei diesem Anblick von einem unangenehmen Gefühle
ergriffen, fragte er seinen Begleiter: „Was sind das für Leute? und wo-
her ihr widerliches Aussehen?" Da nun jene dieses Schauspiel nicht
verbergen konnten, versetzten sie: „Dies sind Krankheiten der Menschen,
von denen sie bei verdorbener Beschaffenheit ihres Grundstoffes und durch
die bösen Säfte ihres Körpers befallen zu werden pflegen." Hierauf
entgegnete der Prinz: „Werden alle Menschen davon befallen?" u. s. w.
(B. u. J. S. 27). Dasselbe wird von Buddha berichtet: „Une autre fois,
il se dirigeait avec une suite nombreuse, par la porte du midi, au jardin
de plaisance, quand il aper^ut sur le chemin un homme atteint de msdadie,
brüle de la fievre, le corps tout amaigri et tout souille, sans compagnons,
Sans asile, respirant avec une grande peine, tout essoufle et paraissant
obsede de la frayeur du mal et des approches de la mort. Apres
s'etre adresse ä son cocher, et en avoir re^u la reponse qu'il en atten-
dait, „La sante, dit le jeune prince, est donc comme le jeu d'un reve,
et la crainte du mal a donc cette forme insupportablel Quel est Thomme
sage qui, apres avoir vu ce quelle est, pourra desormais avoir Tidee de
la joie et du plaisir?" Le prince detouma son char, et rentra dans la
ville, sans vouloir aller plus loin" (St. H, p. 13). Nun findet die Be-
gegnung Buddhas mit dem Greise und dem Toten statt, die im „Barlaam
und Josaphat" in eins zusammengefasst ist (B. u. J. S. 28 f. und St. H.
p. 12 f). Im Armenischen fehlt die Begegnung mit dem Greise, die sich
im unten mitgeteilten Märchen der transsilvanischen Zigeuner wiederfindet
Gimärtän nimmt sich „einen frommen Mann in sein prachtvolles Haus,
der ihn nun in allen göttlichen Dingen unterrichtet." Für Buddhas ganzes
künftiges Leben ist sein Zusanunentreffen mit einem Bettelmöndie ent-
Armenisches und Zigeunerisches xu „Barlaam und Josaphat**. 467
scheidend (St. H. p. 15). Ebenso entscheidend für Josaphats Zukunft ist
seine Zusammenkunft mit dem Asketen Barlaam (B. u. J. Cap. 6 — 21).
Im dritten und letzten Teil der armenischen Erzählung entsagt
Gimartan der väterlichen Krone und entflieht heimlich aus der Residenz,
worauf ihm sein Freund Tschandakan nacheilt imd ihn zur Rückkehr
bereden will. Doch vergeblich! Tschandakan wird nun König und
Gimartan stirbt als Einsiedler in der Wüste. Buddha entsagt ebenfalls
der Krone, entflieht heimlich und wird von seinem Wagenlenker Tschhan-
daka vergeblich zur Rückkehr aufgefordert (St, H. p. 17 f). Ganz
ebenso Josaphat« Er bittet den obersten Würdenträger Barachias die
Regierung zu übernehmen. Barachias weigert sich dies zu thun, worauf
Josaphat zur Nachtzeit in die Wüste entflieht (B. u. J. S. 267 f. u. S. 274).
Nun werden die üinern Kämpfe Buddhas und Josaphats geschildert, die
sich aber in der armenischen Erzählimg nicht vorfinden und uns dem-
gemäfs nicht näher angehen.
Somit hätten wir die Reihe derjenigen Züge geschlossen, die sich
sowohl im Leben des historischen Buddha und des erdichteten Josaphat,
als auch in der mitgeteilten armenischen Erzählung wiederfinden.
Zweifelsohne ist letztere unter dem direkten Einflüsse indischer Quellen
entstanden und kam aus dem Orient mit den Armeniern nach Sieben-
bürgen. Fehlt auch der dogmatische Teil, der sich in Buddhas Lebens-
beschreibung und in „Barlaam und Josaphat^^ vorfindet, so verrät doch
die ganze Erzählung einigen Einflufs von buddhistischen Anschauungen.
Zum Schlufs will ich noch das Märchen der transsilvanischen Zelt-
zigeuner mitteilen, das ich während meines ersten Studienaufenthaltes
bei einer Wanderzigeunertruppe im Jahre 1883 im Original aufgezeichnet
habe. Dasselbe behandelt — wenn auch anders motiviert — gleich der
armenischen Erzählung, denselben Stoff, den wir in „Barlaam und Josaphat"
und in Buddha*s Lebensbeschreibung besitzen. Zweifelsohne stammt dies
Märchen ebenfalls aus dem Orient und kam mit den Zigeunern herüber
nach Europa, wie denn auch einige Parabeln die in Buddhas und Josaphats
Lebensbeschreibungen eingeflochten sind, sich selbständig unter den
Zigeunern vorfinden. Bei Gelegenheit will ich auf dieselben zurückkommen.
Das Märchen der transsilvanischen Zeltzigeuner lautet in beinahe
wörtlicher Übersetzung also:
Der gute Konigssohn.
Vor vielen tausend Jahren lebte ein mächtiger König mit seiner
schönen, jungen Frau in Glück und Zufiiedenheit. Lange Zeit hindurch
hatten sie keine Kinder und das tat dem Herzen der Königin gar weh.
Da geschah es einmal, dafs die Königin in gesegnete Umstände kam
und in einer Nacht einen wunderschönen Knaben gebar. Der König
war aufser sich vor Freude und brachte die ganze Nacht bei seiner
kranken Frau zu. Gegen Morgen schlief die Königin ein und der König
legte sich auch nieder und wollte eben einschlafen, als drei weifse
468 Heinrich von Wlislocki.
Frauen in das Zimmer traten. Sie blieben vor dem Bette stehen und
die erste Urme*) sprach also: „Dieser Knabe soll das schönste und
beste Weib der Erde heiraten!" Die zweite Urme sprach: „Dieser Knabe
soll als Mann arm und allein in einer Wüste sterben!" Und die dritte
Urme sprach also: „Dieser Knabe soll den Reichtum verachten, er soll
ein frommer Mann werden und die armen Leute lieben. Er soll nie
König werden!" Daraufgingen die drei Frauen aus dem Zimmer hinweg.
Der König hatte ihre Worte gehört und erschrack darob gar sehr.
Seiner Frau sagte er nichts davon, sondern liefs schon am nächsten Tage
für seinen Sohn ein prachtvolles Haus erbauen und liefs denselben daselbst
wohnen. Der Königssohn wuchs heran und erhielt von seinem Vater
alles, was er sich nur wünschte; denn sein Vater wollte, dafs er das
gute Leben, den Reichtum lieben lerne, damit er denselben nie verachte.
Als der Königssohn grofs wurde, schlofs er mit einem jungen Herrn
Freundschaft und lebte mit ihm in Freuden und Glück. Einmal gingen
die beiden Freunde zum benachbarten König auf Besuch. Dieser König
hatte eine wunderschöne Tochter und der Königssohn verliebte sich so
sehr in dieselbe, dafs er sie sogleich zur Frau begehrte. Der König
gab sie ihm auch und nun erst lebte der Königssohn mit seiner schönen,
jungen Frau in wahrem Glück. Sie liebten einander so, wie noch nie
Mann und Frau sich geliebt haben. Da traf es sich einmal, dafs der
Königssohn mit seinem Freunde hinausging auf das Feld. Sie spazierten
dort lange Zeit herum und als sie nach Hause gehen woUten, da hörten
sie Jemanden jammern und klagen und fanden in einem Graben eine
arme, kranke Frau, die nicht mehr gehen konnte. Der Königssohn
fragte seinen Freund: „Was fehlt dieser Frau?" Der Freund antwortete:
„Diese Frau ist sehr krank." Drauf fragte der Königssohn: „Kann auch
meine Frau krank werden?" Sein Freund entgegnete: „Ja, wir alle können
krank werden!" Die beiden Freunde hoben nun die kranke Frau von
der Erde auf und führten sie in die Stadt, wo sie dieselbe pflegten, bis
dafs sie gesund wurde.
Einmal gingen die beiden Freunde wieder hinaus auf das Feld, wo
sie eine alte, sehr alte Frau begegneten, die kaum mehr gehen
konnte. Da fragte der Königssohn seinen Freund: „Was fehlt dieser
Frau?" Sein Freund antwortete: „Diese Frau ist sehr alt!" Drauf fragte der
Königssohn: „Wird auch meine schöne Frau so alt und häfslich werden?"
Sein Freund entgegnete: „Auch deine Frau wird einmal so alt und
häfslich werden!" Drauf gingen sie nach Hause und von der Zeit an
war der Königssohn sehr traurig und alle Leute sahen es ihm an, dafs
er grofsen Kummer im Herzen hegte. Da traf es sich wieder einmal,
dafs die beiden Freunde hinaus auf das Feld gingen und in einem Graben
eine tote Frau fanden, die schon halb verwest, von Würmern bedeckt
war. Da fragte der Königssohn seinen Freund: „Was fehlt dieser Frau?"
*) Urme ist die Fee der Zigeuner. Es gieht gute und schlechte Urmen, die im
Gebirge, in Seen und Höhlen wohnen.
Armenisches und Zigeunerisches zu „Barlaam und JosaphaL* 469
^^- Sein Freund antwortete: „Diese Frau ist tot und lebt nicht mehr. Die
•^f Würmer werden sie auflfressen!" Drauf fragte der Königssohn: „Werden
^fc auch meine Frau die Würmer fressen?" Sein Freund entgegnete: „Deine
•^i Frau, du und ich, wir alle werden sterben und uns alle werden die
^1 Würmer fressen." Da weinte der Königssohn und wurde von der Zeit
an noch trauriger.
Da starb der alte König und sein Sohn sollte nun König werden.
^'^ Aber der Königssohn sagte also zu den Leuten: „Ich will nicht König
3l< werden. Mein Freund soll meine Frau heiraten und König werden.
asfci Ich gehe weit in die Wüste und will dort leben und sterben. Ich will
Vß nicht sehen, wie die Menschen krank und alt werden und dann sterben!"
ers Und so geschah es auch. Der Königssohn ging in die Wüste und
26 lebte dort arm und allein als ein frommer Mann; sein Freund aber
Her heiratete seine Frau und wurde König. . .
m-
in^
ik Mühlbach in Siebenbürgen.
11;
ix
VERMISCHTES.
Eine vernachlässigte Aufgabe der Litteraturgeschichte,
Von
Marcus Landau.
Üeber Mangel an Litteraturgeschichten haben wir uns jetzt wohl
nicht zu beklagen. Wir besitzen allgemeine Litteraturgeschichten und
solche einzelner Länder, Völker, Perioden und Litteraturgattungen, von
den zahllosen Biographien einzelner Dichter und Schriftsteller, von Spezial-
untersuchungen über einzelne Werke u. dergl. gar nicht zu reden. Und
doch fehlt uns eine Geschichte der — ich weifs keinen besseren Ausdruck
— der angewendeten Litteratur. Ich meine nämlich eine Geschichte,
die sich nicht mit den Schriftstellern und ihren Werken sondern mit ihrer
Wirkung auf die nichtschreibenden Leser beschäftigt, ich sage nicht-
schreibenden, denn an Arbeiten über den Einflufs von Schriftstellem
auf ihresgleichen, von der Litteratur eines Volkes auf die eines andern
haben wir zwar keinen Überflufs, aber auch keinen grofsen Mangel und
gerade in neuerer Zeit ist dieses Feld der Litteraturgeschichte recht
fleifsig angebaut worden. Was wissen wir aber von dem Einflufs, den
die Dichter und ihre Werke auf das Publikum ausübten, das nur liest,
ohne selbst litterarisch produzierend zu sein und ohne Kritiken zu
schreiben? Man weifs freilich, dafs die Schriften von Kant, von Rousseau,
von Darwin u. s. w. einen sehr grofsen Einfluss ausübten, aber nur weil
der Inhalt dieser Schriften ein wissenschaftlich-reformatischer, man könnte
sagen tendenziöser war.
Mit imserer Kenntnis von der Wirkung der schöngeistigen Litteratur
ist es aber ziemlich schlecht bestellt, und doch könnte niemand den
Einflufs der Werke Dantes, Petrarkas, Goethes, Schillers, Byrons u. s. w.
leugnen. Was wissen wir aber von der Verbreitung dieser Werke, von
der Zahl und von der Bildungsstufe ihrer Leser — vor und nach der
Lektüre? Wir kennen die Anekdote von dem Schmied, der die Verse
Dantes schlecht rezitierte, wir wissen, dais die Gondolieri in Venedig die
Eine yemachlässig:te Aufgabe der Litteraturgeschichte. 471
Stanzen Tassos sangen und man könnte noch viele ähnliche Anekdoten
zitieren; aber das ist alles nur mangelhaftes Material für die noch zu
schreibende Geschichte der angewandten Litteratur, die man auch
„Geschichte der Lektüre" nennen könnte. Eine solche Geschichte müfste
sich in vielen Punkten mit der des Buchhandels berühren und würde für
die neuere Zeit in den Geschäftsbüchern der Leihbibliothekare reiches
Material finden. Auch die Sanmilungen „fliegender Worte" wären dafür
schätzbares Material insoweit die „Worte" den Werken der Dichter
entnommen sind; denn was das Volk oft zitiert, das hat es wohl oft
und gern gelesen, obwohl sehr viele dieser Zitate Gemeingut geworden
sind und von Leuten gebraucht werden, die das Werk, aus dem sie
stammen, und dessen Verfasser gar nicht kennen.
Es würde sich der Mühe lohnen, an die eben erwähnte Anekdote
anschliefsend, zu untersuchen, wie die Kenntnis des italienischen Volkes
von der göttlichen Komödie in den sechsthalb Jahrhunderten seit dem
Tode Dantes beschaffen war. Sollen wir nach der urteilen, welche die
Dichter von ihr besafsen, so mufs sie eine ziemlich bedeutende gewesen
sein; denn sie mischten absichtlich oder unabsichtlich sehr oft Verse
Dantes unter die ihrigen.
Ich habe mir die Mühe genommen, aus zwei Dichtem — Filicaja
(f 1707) und Berni (f 1536) — die Parallelstellen heraus zu suchen und
lasse sie am Schlüsse dieser Anregung folgen. Es sind ihrer bei dem
Einen allein ein Dutzend aus einem mäfsigen Bande und manches ist mir
vielleicht noch entgangen.
Wir haben es zwar hier nur mit der Wirkung eines Dichters auf
den andern zu thun ; aber es ist anzunehmen, dals Filicaja und Berni sich
nicht mit fremden Federn schmücken wollten und voraussetzten, dafs ihre
Leser die Entlehnung erkennen und nicht als Plagiat betrachten würden.
Doch kehren wir zu unserer projektirten Litteraturgeschichte zurück.
Eine solche Geschichte müfste nachweisen, wie und warum manche
Dichter von ihren Zeitgenossen vernachlässigt, erst nach ihrem Tode die
verdiente Anerkennung fanden, wie andere im Leben berühmt, nach ihrem
Tode vernachlässigt wurden, andere wieder die wechselvollsten Schick-
sale erlebten. Ein Beispiel der letzteren Art ist Metastasio, der zu seiner
Zeit als einer der ersten Dichter geschätzt, dann beinahe ein ganzes Jahr-
hundert nach seinem Tode unverdient missachtet wurde und jetzt wieder
in der Wertschätzung seiner Landsleute zu steigen beginnt. Gab es
nicht eine Zeit, wo man Goethe und Schiller gleich achtete und wie
verschieden ist jetzt das Urteil!
Und wie lange hat es gedauert bis Shakespeare zur vollen Aner-
kennung gelangte?
Vielleicht findet sich ein jüngerer Forscher durch diese Zeilen angeregt,
wenn nicht die Geschichte einer ganzen Litteratur, doch wenigstens die
eines Dichters von diesem Gesichtspunkte darzustellen. Freilich ist eine
solche Arbeit schwieriger als die, immerhin auch mühsam und verdienst-
liche, der Sammlung der gedruckten Kritiken der Werke eines Dichters,
wie solche z. B. in der Ausgabe der Urteile über Schiller geleistet wurde.
472
Marcus Landau.
Und nun lasse ich die versprochenen Parallelstellen folgen:
Dante,
quelle stelle
. . . . quelle cose belle
(Inferno I, 38).
di me piü degna
(ib. I, 122.)
ma guarda e passa
(ib. m, 51).
colui
Che fece per viltate il gran rifiuto
(ib. m, 60)
A noi venendo per Taer maligno
(ib. V, 86)
Ambo le mani per dolor mi morsi.
(ib. XXXffl, 58).
Amor che nella mente mi ragiona
(Convito, trattato HI, Purgatorio II, 112).
Guarda M calor del sol che si fa vino
Giunto airamor che dalla vite cola.
(Purg. XXV. 77).
Donna m^apparve ....
(ib. XXX, 32)
. . . e vidi cose, che ridire
N^ sa n^ pu6 quäl di lassu discende
(Paradiso I, 5)
Insino a qui Tun giogo di Pamasso
Assai mi fii;
(ib. I, 16)
Colpa e vergogna delPumane voglie.
(ib. I, 30).
Vincenzo Filicaja.
sormontö le stelle
£ quelle cose belle
(Canzone in morte del Cardinale di Toscana).
di me piü degno
(Terrine alla beatissima vergine).
ma guardo e passo
(II primo sacrifizio).
colei che feo del trono
Talto rifiuto
(n secondo sacrifizio).
Giü per Taere maligno
(In occasione d^un stranissimo temporale).
Ambo le labbra per dolor si morse
(Terzine alla beat">* vergine).
Amor che nel pensiero a me ragiona.
(Testamento ai figliuoli).
Che della vite in seno,
Qual corre a fa^rsi vin Taccesa luce.
(Alli Accademici della Crusca)
Donna m^apparve . . .
(La Poesia)
ivi udii cose
che il dir nostro e*l pensar vincon d'assaL
(Caduta di NeuhaQsd)
Del pamasso Celeste
L*un giogo ascesi,
(Ringraziamento a. S. D. Maestä).
Colpa e vergog^ de* toscani inchiostri.
(In lode della beata Umiliana)
Dante.
Queste parole di colore oscuro
(Inferno III, 10)
Di nuova pena mi convien far versi
(ib. XX, 1)
Ma U principe de' nuovi £a.risei
(ib. XXVn, 85)
Non se ne sono ancor le genti accorte
(Paradiso XVII, 79).
Wien.
Francesco BernL
Questa disgrazia di colore oscuro
(Sonetto: Chi fia giammai)
Di nuova istoria mi convien far vem,
(Stanze premesse al Canto XX, delV Or-
lando innam).
Primo inventor de* nuovi Farisei,
(ibid.)
Non se ne sono ancor le genti accorte
(Capitolo al Cardinal Ippolito de* Medici)
-••-
Theodor Aubanel 1839—1886. 478
Theodor Aubanel
(1829 — 1886).
Von
Pol de Mont.
Theodor Aubanel, durch dessen Arbeiten die provenzalische Litteratur
eine gänzliche Umgestaltung erfuhr, teilt mit wenigen nur die Ehre,
ein höchlichst lyrisches Talent zu besitzen. Während die meisten und
die besten seiner Sprachgenossen, Jansemin, Mistral, Roumaniho, Gras,
Foures, Roux, sich hauptsächlich epischer Poesie beflissen, ist er mit dem
bescheidenen doch reich begabten Tavan, und gewifsermafsen mit Mathieu
und Bonaparte- Wyse, die erhabenste Personifizierung der Poesie wahrer
Empfindung, in dem Occitanien dieses Jahrhunderts.
Die Erzählung, welche die rednerische Darstellung von Ereignissen
und Begebenheiten aus der wirklichen Welt ist, bleibt im Allgemeinen seiner
künstlerischen Anlage fi'emd. Dieses ersieht man nicht allein in den
Balladen, die mit dem dritten Teil seines Meisterstückes La Miougrano
entreduberto (1860) endigen, sondern auch in seinen dramatischen
Werken, — ich erwähne Lou Pan doü Pecat, in welchen er offenbar
nicht umhin kann, jedem Ereignisse oder Zustande, jedem Gedanken
oder Worte, eine unbestreitbar lyrische Wendung zu geben.
Einer seiner Biographen, M. S. Reynaud, leg^e ganz genau diese
eigentümliche Seite seines Talentes an den Tag: „er schildert nur Krisen,
Angriffe. In einer Folge von Büdem versteht es niemand besser, als er,
auf einer einzigen Seite, in einer einzigen Strophe, in einem geradezu
zum Herzen sprechenden Verse einen ganzen Stoff zusammen zu fafsen.
Kein anderer provenzalischer Schriftsteller entspricht wohl so genau
dem Ideal, welches wir uns von den früheren Minnesängern wie Arnaud
Daniel, Anselme Faydit, Guilhem de Cabestanh, Hugues Brun, Pierre Roger,
Marcabrun, Ventadour, so gerne vorstellen, wie Theodor Aubanel. —
„Les poetes provencaux," schreibt Etienne Pasquier in seinen For-
schungen über Frankreich, „etaient appeles troubadours ä cause
des inventions, qu'ils trouvaient et gisait leur poesie ensonnets,
Pastorales, chansons, sirventes, tensons".
Wer in der Provence, kann sich rühmen, vollkommenere Sonette,
harmonischere Lieder gedichtet zu haben, als der Verfasser des herrlichen
Cyclus Li Fiho d'Avignoun und der 25 auserlesenen Minne-Elegien
aus Lou Libro de TAmour?
Besitzen seine bekannten Balladen, Lou 9 Thermidor, Lis Innocent,
nicht schon die gewaltige Heftigkeit, die wir in den uralten Sirventen
vorfinden? Keine neuere dichterische Schöpfung steht m. a. n. in näherer
Beziehung mit den Schilderungen, die uns von den Minnesängern und
474 Pol de Moat
Dichtem des Mittelalters, u. a., von Petrarka, bekannt sind, als das ent-
zückend schöne Büchlein Lou Libro de TAmour. — Zani, das bildschöne
Mädchen, welches Aubanel, im Freudenrausche seiner frühen Jugend, zu
seiner Braut erkoren, legt das Bufsgewand der Ordensschwestern an, und
der Dichter beweint sieben Jahre lang, seine himmlischen, nie sich ver-
wirklichenden Träume.
„Um seinem Schmerze Stillschweigen zu gebieten, verliess er," sagt
der hervorragende Frederi Mistral, „aufs gerade wohl Avignoun. Er be-
suchte Rom, Paris — und von tiefem Schmerze durchdrungen, kam er in die
Provence zurück. Er bereiste jetzt den Gebirgsstrich, de Santo-Baumo, den
Mont- Ventour, die Alpen. . . . Aber die Rose war entblättert; es blieben nur
Domen übrig. Niemand konnte sie aus der Wunde reifsen."
Gleichwie der Verehrer der schönen Laura, war er ins Labyrinth
getreten, ohne Hoffnung, irgend einen Ausgang zu finden.
„Nel labirinto intrai ne veggio ond*esca!"
Oder, um mit Aubanel selbst zusprechen: „Veraqui dins Testäsi
e dins lis anci de Tamour; jetzt kannte er den Taumel und die Wehen
der Liebe.
Unter seinen Werken sind hervorzuheben, Lou Libro de F Amour,
von vielen mit Heines unnachahmlichem Intermezzo verglichen. Es
enthält die Erzählung der ersten, seligen, unvergesslichen Begegnung,
dort in der Feme, vor dem Kapellchen, bei dem alten Weidenbaum.
Die Erinnerung an den anmutigen Tanz, von „la hello enfant** auf der
marmornen Terrasse ausgeführt, während nur das Zwitschern der Vögel
sie begleitete; die Erinnerung an den Spaziergang des jugendlichen
Paars in der stillen Nacht, die Trennung, die unwiederrufiiche Trennung,
einen Besuch in dem verlassenen Stübchen der Jungfrau, und Tranen,
Tränen. — Es schliefst mit diesem wehmütigen Geständniss:
„Ai lo cor ben malaut, malaut ä n*en mouri,
Ai Ion cor ben malaut, e vole pas gari. . ."
Soll in diesen Schilderungen des Leidens der Liebenden, nach der
Meinung vieler, die Erklärung gefunden werden des ausnahmsweise Düsteren
und Tragischen, welches wir in den meisten Stücken aus den zwei
Rubriken des schönen Buches, TEntrelusido und Lou Libro de la Mort,
in so hohem Mafse vorfinden?
Ich erwähne Lis Esclau, „die Sklaven**, ein Weihnachtslied. —
Gottes eingebomer Sohn ist Mensch geworden und auf die Erde herab-
gekonmien, um nach so vielen Jahrhunderten die Sklavenketten zu
lösen. Soll der Dichter einen Lobgesang anstimmen? Soll er die unaus-
sprechliche Freude der Unglücklichen schildern, die auf eine baldige
Erlösung harren?
In einer düsteren Szene schildert Aubanel uns das Elend der Unter-
drückten und Armen, den schimpflichen Tod des Erlösers selbst zwischen
zweiMissethätern, und endigt würdevoll seine Skizze mit diesem geistreiche.?,
kräftigen Satz:
„Die Sklaven zitterten; und im Stall riefen sie:
^Caesar, jetzt ist die Reihe an dir, um zu zittern!"
Theodor Aubanel rSsp— 1886. 475
La Farn, „der Hunger" mit diesem heftigen Notgeschrei:
„Quouro manjan, o maire, quouro?"
Lou Tregen, „der Dreizehnte"; der schon erwähnte Lou 9 Ther-
midor, eine blutfarbige Personifizirung dieses schrecklichen Tages, mit
dem überraschenden, stets wiederholenden Schlufsverse:
„Ounte vas eme toun grand couteu?
— Cjoupo de testo: sien bourreu;"
wie auch die Trilogie Lis Innocent, (der Mord der unschuldigen
Kinder), ein Triptycon, welches von Ribeira gemalt scheint. — Alle diese
Stücke, die in ganz Frankreich allgemein verbreitet sind, beweisen den
Grundsatz unserer Behauptung.
Doch hat Aubanels Muse in späteren Jahren, wahrscheinlich unter
dem wohlthuenden Einflufs eines stillen und glücklichen Familienlebens,
sich mit dem Leben und seinen zuweilen harten Anforderungen versöhnt.
Und während er nun unbemerkt wohlklingenderen Tönen und
helleren Färbungen den Vorzug gab, kam auch ein neuer, bis dahin
verborgener Zug seines dichterischen Charakters in seinen Schriften mit
mehr Klarheit zum Vorschein. Ich meine: seine vielmehr heidnische als
christliche, seine vielmehr hellenische als moderne Verehrung für
das Schöne.
In einem seiner Sonette besingt Aubanel einen seiner Vorfahren,
einen griechischen Seekapitän, der zwanzig Jahre lang den Sarazenen die
Köpfe spaltete und die Wangen rosenfarbiger sarazenischer Jungfrauen
küsste.
„Daher kommt es," sagt er selbst, „dafs meine Verse zuweilen blutrot
aussehen. Von ihm besitze ich die Liebe für die Frauen und die Sonne."
Man lese eins seiner neueren Bücher, Li Fiho d'Avignoun; man
durchblättere seine Vorträge, die er wiederholt als Präsident der „Jo
Flourau" gehalten:
Ueberall beweist er, dafs er ein enthusiastischer Bewunderer der
Liebe, der Frauen und der Schönheit ist.
„Was gibt*s Schöneres, Erhabeneres, Göttlicheres für mich, als
die Liebe?"
„Beklagen wir die Geliebten nicht! Sie leiden — aber sie gemessen
mitten in ihren Qualen eine unaussprechliche Wonne!"
„Wehe demjenigen, der bei der Anschauung des Antlitzes einer
blonden Jungfrau nie sein Herz klopfen fühlte! Wehe demjenigen, welcher
in seinem Geiste keine tausend erhabenen Gedanken keimen fühlte, die
alsdann sein Blut in fieberische Aufvv^aUung bringen. . ."
Ich kenne zwei Gedichte, zwei Oden von Aubanel, worin die
ästhetische Begeisterung, welche ich so eben erwähnte, auf die glänzendste
Weise ausgedrückt wird. Ich meine seinen Toast an die Dichtkunst,
und seine Ode an die Venus von Arles.
Im Jahre 1877 ^^^S Aubanel im Arena-Gebäude zu Arles zum ersten
Male seinen Venus-Hymnus vor.
476 Pol de Mont.
„Für unseren Dichter/* schrieb ein französischer Beurteiler, „ist
Venus nicht allein die Personifizirung der Liebe und des Anfanges der
Fruchtbarkeit in der Natur; sondern auch die verführerische, schöne
Gestalt, welche unsere Sinne aufser Fassung bringt und die Gefühle
wiederum beschwichtigt."
„O glänzende Venus, o Königin der Provence — kein Mantel ver-
birgt deine prächtigen Schultern. Man erkennt an dir die Göttin und
die Tochter des azurblauen Himmelsgewölbes — Dein Busen entblöfst
sich vor uns, und unser Auge, voll Liebesflamme, — bewundert in
Geisteswallung den jugendlichen Glanz der sanften imd unbefleckten Brust.
Wie schön bist du! Kommt, Völker, saugt aus diesem Busen — die
Liebe und die Schönheit ein. — Was wäre wohl diese Erde ohne Schön-
heit? Möge alles, was schön ist, glänzen, — alles, was häfslich ist,
verborgen bleiben I — Zeige uns deine nackten Arme, deine bloise
Brust, deine entblöfste Hüfte; — zeige dich, o göttliche Venus in
deiner Blöfse — deine Schönheit bedeckt dich besser, als dein schnee-
weifses Kleid!
nSüfse Venus von Arles, o Fee der Jugend und der Verführung!
Deine Schönheit, die über der ganzen Provence strahlt, — macht unsere
Jungfrauen reizend und verleiht imseren Jünglingen Stärke; — unter ihrer
braunen Haut, o Venus, fliefst dein Blut, welches voll Leben, immer warm
ist. — Deswegen bedecken unsere Jungfrauen den Busen nicht: — deswegen
sind unsere heiteren Jünglinge so tapfer — im Kampf mit den Stieren, im
Kampfe der Liebe und in dem auf dem Schlachtfelde. Deswegen liebe
ich dich, deswegen bezaubert mich deine Schönheit, und deshalb be-
singe ich, der ich Christ bin, dich, o grofse Heidin."
Gewifs bleibt nur wenig von den erhabenen Eigenschaften dieser
unübersetzbaren Verse in dieser unvollständigen Übersetzung übrig.
Doch ist auch dieses Wenige hinreichend, um zu beweisen, dafs Aubanel
nicht nur wie ein Anakreon oder ein Horatius die süfsesten Gesänge
anzuheben, sondern sich auch zu gleicher Zeit einem Pindaros gleich,
in den höchsten Sphären der Lyrik emporzuschwingen weifs. —
Aubanel hat keine Biographie voll anziehender^ wichtiger Thatsachen.
Er wurde im Jahre 1829 (20. März) zu Avignon geboren, stand während seines
Lebens an der Spitze der päpstlichen Druckerei, gründete am 21. Mai
1854 auf dem Schlosse von Font-Seg^ugno mit Mistral und Roumaniho
die Gesellschaft der Felibres, heiratete und wurde Vater. Erstarb i. No-
vember 1886. Das ist alles. — Wird die Lücke, die durch sein Hinscheiden
in den Gliedern der provencalischen Litteratur entstanden ist, baldigst,
und auf würdevolle Weise ausgefüllt werden? Ich bezweifle es.
Kein neuer Dichter hat meines Wissens in der von ihm gepriesenen
Dichtungsart ebenso herrliche Früchte hervorgebracht Ein einziger, der
Bauer-Troubadour Tavan den man mit dem Verstorbenen gleichstellen
kann und der seit einigen Jahren das Stillschweigen beobachtet hat,
könnte uns vielleicht, durch ein neues Werk von demselben Werte wie
Amour e Plour Aubanels Verlust ersetzen.
Beaunoir und Rdchards Theaterkalender. 477
Es sei mir vergönnt, mit folgenden Worten, welche der vielgerühmte
Auteur der reizenden Novellette, Jean des Figues, mein lieber College
Paul Arene, seinem hingeschiedenen Busenfreunde in le Gil Blas widmete,
diese kurzgefasste Skizze zu schliefsen:
„Um dein wohlgemeintes Heidentum zu versinnlichen, hätte man
unter dem Piedestal des Kreuzes, unter dessen Schatten du ausruhst, das
edele Bild der Venus ausmeifseln sollen, welche für dich, in ihrem Reize
und in ihrer Pracht, die Geburtsstätte personifizirte. Man wird es nicht
gestatten! Doch würde ein Leo X., ohne an eine Gotteslästerung zu
denken, es erlaubt haben."*)
Antwerpen.
Beaunoir und Reichards Theaterkalender.
Von
Berthold Litzmann.
ZU dem Aufsatz von Th. Süpfle in Heft 3 und 4 (p. 327 ff.) dieser
Zeitschrift: „Ein Franzose als Originalverfasser eines deutschen
Theaterstückes" ist berichtigend zu bemerken, dafs Beaunoir mit seiner
Behauptung: „kein einziger Deutscher habe eine Ahnung davon gehabt,
dafs sein 1797 in Berlin aufgeführtes Stück einen Franzosen zum Ver-
fasser habe,*^ sich mindestens einer starken Übertreibung schuldig macht.
Schon in dem für Reichards Theaterkalender von 1799 gelieferten
(verspäteten) Bericht über die in der Zeit vom i. August 1796 bis zum
I.August 1797 am königl. Nationaltheater aufgeführten Stücke wird zu dem
einaktigen Lustspiel: „Die Freunde auf der Probe" (das nebenbei gesagt
nur drei Aufführungen erlebte!) ausdrücklich bemerkt: „aus dem Fran-
zösischen des Beaunoir.^^
Jena.
-•••-
*) Von Schriften des Theodor A üb an el: Li Prouven9alo und Li Nov^, gemein-
schaftlich herausgegeben, von Aubanei und Roumaniho' 1852; La Miougrano entredu-
berto, 1860; Lou Pan döu Pecat, 1882; Li Fiho d*Avignoun, 1885; eine grofee
Anzahl von Reden und Vorträgen, und schliefslich zwei noch nicht veröffentlichte Dramen,
Lou Roubatori und Lou Pastre.
Zuchr, f. ygl. Litt.-Gescli. I. 32
BESPRECHUNGEN.
Bender, Ferdinand: Geschichte der
griechischen Litteratur von ihren
Anfängen bis auf die Zeit der Ptole-
m ä er, I>eipzig, Verlag von Wilhelm Friedrich,
1887. 762 S. gr. 8.« M. 12.
Gemäfs dem Programme der „Geschichte
der Weltlitteratur in Einzeldarstellungen,**
deren sechsten Band diese Geschichte der
griechischen Litteratur bildet, ist sie fiir
gebildete, der hellenischen Sprache nicht
mächtige Leser bestimmt. Der Verfasser
hat seine Aufgabe richtig erfa&t: Es waren
die erhaltenen Schriftwerke überwiegend zu
berücksichtigen und unter diesen erforderten
die das gröfsere Publikum mehr anziehenden
Dichtungen den Vorzug vor der Prosa
Gelehrter Apparat war ausgeschlofsen , wo-
gegen die Form der Darstellung gefalliger
sein' mufste als sie strengwissenschaftlichen
Werken eigen zu sein pflegt; wir wollen deshalb
auch den Verfasser nicht tadeln, wenn in seinem
angenehm an Otfried MQller erinnernden Stil
mancher feuilletonhafte Ausdruck auffallt.
Im einzelnen hätte ein Philologe allerdings
vieles auszusetzen, doch dafi&r ist hier nicht
der Ort, sondern wir wollen lieber das Buch
auf die von dieser Zeitschrift vertretenen
Grundsätze hin prüfen.
Bender verspricht in der Vorrede die ver-
gleichende Berücksichtigung der übrigen
Litteraturen, indes erfüllt er die dadurch
geweckten Erwartungen nicht ganz. Wenn-
gleich nämlich der Verfasser zahlreiche
Bemerkungen über neuere Litteratur und
Musik, ja selbst über das, was Chinesen und
Polynesier gedichtet und gedacht, — in der
Regel geschickt — einstreut, wird die ver-
gleichende Geschichte ganzer Litteratur-
gattungen etwas stiefmütterlich behandelt.
Fast nur beim Drama zieht Bender solche
weitergreifende Parallelen (S. 268 ff.), indes
dürfte hier mancherlei einzuwenden sein:
z. B. ist S. 270 das Verhältnis von Mysterium
und Volksschauspiel weder klar noch korrekt
dargestellt. S. 269 vergifst der Verfasser zu
erwähnen, dafs nicht blofs die römische
Komödie, sondern ganz besonders Seneca
für das neuere Drama von Bedeutung war
und noch unser Lessing die Theorie der
Tragödie eigentlich zuerst an dessen Schauer-
stücken studierte.
S. 200, wo eine ausdrückliche Hervor-
hebung, dals die Neueren statt des echten
Anakreon allein die Anakreontika kannten,
nicht überflüssig wäre, stofsen wir auf den Satz:
„Weil S. G. Lange kein Englisch verstand,
hielt er sich an Horaz und Anakreon.**
Richtiger und gerechter hiefse es: „Weil am
Anfange des achtzehnten Jahrhunderts in
Frankreich die po^tes n^lig^s, voran
Guillaume de Chaulieu, TAnacr^on du Temple,
in der Mode waren.**
Warum wird S. 307, wo von dem Sterben
auf der Bühne die Rede ist, gerade „Kabale
und Liebe** als abschreckendes Beispiel an-
geführt? Ich dächte, es gäbe genug Beispiele,
Besprechungen.
479
welche das moderne Extrem gegenüber dem
Altertum drastischer verträten.
Doch wir wollten ja von der Vergleichung
der allgemeinen Verhältnisse und Bedingungen
sprechen und da haben wir vor allem Homer
in dem Sinne, bei welchem Bender mancherlei
Bemerkungen seiner Vorgänger hätte benutzen
können. Er spricht allerdings S. 57 von
Widersprüchen modemer Dichter und flicht
S. 65 einen musikalischen Vergleich ein,
indes wird dem gröfseren Publikum unserer
Zeit die homerische Frage gewifs unver-
ständlicher und darum einer litteraturver-
gl eichenden Vorbereitung bedürftiger sein als
etwa den Zeitgenossen Herders. Wenn wir
versuchen, einige der notwendigen Vorkennt-
nisse aufzuzählen, so sind es etwa folgende,
die durch Vergleichung interessant gemacht
werden können: die Fortpflanzung der
Dichtungen lieg^ in den Händen eines Sänger^
Standes (wie im Norden, Irland, Armenien,
Altindien, bei den Kalmüken u. s. w.); häufig
widmen sich Blinde, zu anderer Arbeit un-
brauchbar, auf die Reflexion angewiesen und
in der Vergangenheit lebend, diesem Berufe
(auch bei den Slawen und einst bei den
Germanen, s. W. Grimm, deutsche Helden-
sage, S. '384 A. 93). Diese Sänger sangen
ihre Lieder beim Mahle und zum Tanze.
Jenes kam an vielen Orten vor; ich erwähne
nur die hunnische Sitte, dals, wenn Attila unter
seinen Fürsten schmauste, zwei hunnische
Dichter seine Thaten priesen, wie der Byzan-
tiner Priskos (exe. 8, p. 92 b ed. Müller) als
Augenzeuge erzählt ; dagegen war das epische
Lied, auiser bei den alten Dithmarschen
(Wackemagel, Poetik S. 59), wohl nicht
häufig eine Begleitung des Tanzes. Bei
groisen Festen wetteiferten die Sänger um
den Preis, eine Einrichtung, die wir bei den
Skalden, in Frankreich, in der Sage vom
Wartburgkrieg, und selbst bei wilden Stämmen
finden. Zu einem solchen Berufe ist aber
ein ausgezeichnetes Gedächtnis die Haupt-
beding^nis ; um die Tragkraft des menschlichen
Gehirnes richtig zu schätzen, müssen wir
aus unserem tintcnklecksenden Säkulum zu
den Druiden, zu den Veda-Lehrem Indiens
(A. Weber, indische Litteraturgeschichte, S. 24)
und in die Koranschulen, aus denen nur der
mit dem Titel Hafis hervorgeht, welcher den
ganzen Koran rezitieren kann, endlich auch, wie
Roth in Kuhns Zeitschrift, Bd. 26, S. 53 A. i,
uns belehrt, in die Südsee uns versetzen.
Wenn wir endlich die eigentliche Entwicklung
der homerischen Epen und ihrer Sagen
studieren wollen, kann es dem Philologen
wie dem gebildeten Laien nur förderlich sein,
wenn sie zum mindesten die Geschichte der
Nibelungensage daneben halten.
Wer in der Parallelisierung der Geschichte
der Litteratur mit der Kunst und der Politik
eine höhere Stufe der litterarhistorischen
Forschung erblickt, wird in dem Verfasser
einen gewandten Vertreter dieser Richtung
finden; ohne einen Prinzipienstreit eröffnen
zu wollen, haben wir hin und wieder
ein Fragezeichen zu setzen, wo der Ver-
fasser, wie es bei solchen Vergleichen auch
m
dem Besten begegnet, eine Ähnlichkeit oder
einen Gegensatz zu apodiktisch formuliert,
z. B. wird S. 671, Z. 3 ff. Lysipp vergessen;
S. 487 ff. ist die Entwicklung des sogenannten
perikleischen Zeitalters nicht ganz richtig
erfafst Denn, nach unserer Ansicht wenigstens,
ist der offizielle Radikalismus von dem
privaten zu trennen und zwar ist jener, der
zuerst das gemeine Volk an die Regierung
bringt und es dann durch glänzenden Augen-
und Ohrenschmaus unterhält, der Zeit nach
erheblich früher; der private Radikalismus
hingegen oder was man unter Sophistik zu
verstehen pflegt, taucht erst in den letzten
Jahren des Perlkles auf und hat sehr
lange gegen die öffentliche Meinung zu
kämpfen.
Fordert nun auch Benders Werk oft zum
Widerspruche heraus, so gehört es doch zu den
Büchern, welche, zumal wenn der Verfassei
in einer zweiten Auflage seinen Plan im
einzelnen noch exakter ausführt, der Popu-
larisierung unserer Wissenschaft recht förder-
lich sein können.
München. Karl Sittl.
32*
480
Besprechung^en.
Bornhaok, Q: Geschichte der fransö-
sischen Litteratur von den ältesten
Zeiten bis zum Ende des zweiten
Kaiserreichs. Berlin 1886. Nicolaische
Verlags-Buchhandlung. 584 S. gr. 8 *. M. 9.
Bei der Abfassung dieses umfangreichen
Buches hatte der Verfasser nicht die Absicht,
eigene Forschungen und neue Ergebnisse vor-
zulegen. Die Aufgabe, welche er sich stellte,
war diejenige, unter Verwertung der hervor-
ragenderen französischen und deutschen
Arbeiten eine möglichst vollständige Über-
sicht über die Geschichte der Litteratur
unserer westlichen Nachbarn zu bieten. So
«
entstand eine Art von Repertorium der
französischen Schriftsteller und Werke von
den frühesten Zeiten bis nahe in unsere
Gegenwart herab.
Bei einer derartigen Zusammenstellung
Hegt zwar die Gefahr nahe, dass die Einheit
der Auffassung und des Tones, das richtige
Verhältnis zwischen dem mehr und weniger
Wesentlichen gestört und der frische Hauch,
welcher eine geschichtliche Darstellung be-
leben soll, vielleicht ganz verloren geht
Aber gleichwohl kann auch bei der vom
Verfasser gewählten Behandlung eine Ge-
schichte der französischen Litteratur für
manche Leserkreise, zumal zum Nachschlagen,
erwünschte Auskunft und Belehrung bieten.
Wir wollen im folgenden mehreres, was uns
nach verschiedenen Beziehungen hin beim
Lesen auffiel, im Anschlüsse an den Gang
des Buches zu kurzer Besprechung bringen.
In der Einleitung ist der Wert der
französischen Kultur allzu hoch angeschlagen.
Für den Verfasser gilt der alte Anspruch der
Franzosen, dafs sie an der Spitze der Civili-
sation marschieren, auch noch für unsere
Gegenwart. Auch geht er zu weit, wenn er
behauptet, dafs fast bei allen Völkern Europas
eine französierende Richtung in ihrer Litteratur
geblieben ist. Dies kann doch nur vom
Roman und Lustspiel gelten. Ebensowenig
zulässig ist die Bemerkung, dals erst in
neuerer Zeit sich auch eine Einwirkung der
deutschen Litteratur auf die französische
nachweisen ISfst. Nicht blofs schon seit der
zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts,
sondern sogar schon am Ende des fünfzehnten
Jahrhunderts haben mehrere deutsche Dich-
tungen Beachtung und Nachahmung jenseits
des Rheins gefunden. Ebensowenig ist der
Einflufs, den erst Spanien und noch viel mehr
England auf die französische Litteratur aus-
geübt hat, erwähnt. Eben daselbst vermifst
man bei der Charakterisierung der littera-
rischen und geistigen Befähigung der franzö-
sischen Nation den Hinweis, dafs sie zwar in
hervorstechender Weise künstlerische Ge-
staltungsfähigkeit, aber den eigentlich idealen
Zug nicht besitzt Mehr als überflüssig dagegen
war es, die Behauptung, dafis die Kelten in allen
Künsten des verfeinerten Lebens tonangebend
waren, unter anderem durch die Bemerkung
zu stützen, dals sie die „Erfinder des Bein-
kleides** gewesen sind! Eigentümlich ist
auch die Angabe, dafs die Römer „gar
vieles** von denselben gelernt haben. Neben
dem „angeborenen Schönheitssinn** der
Gallier wäre wohl auch ein Won von ihrer
Neigung zur Gewaittbätigkeit und Grausam-
keit am Platze gewesen. Dafs die keltische
Sprache „eine fein durchgebildete war, in
welcher man die subjektivsten Empfindungen
auszudrücken vermochte", müfste wohl noch
zu beweisen sein. Wenn dann ganz kurz
bei der Entstehung des Französischen bemerkt
wird, dafs in die lingua romana „eine Anzahl
keltischer und germanischer Worte** aufge-
nommen wurden, so wird durch die Gleich-
stellung des keltischen Einflusses mit dem
wichtigen germanischen das Verhältnis nicht
entsprechend bezeichnet Noch unvollstän-
diger sind die anderen fränkischen Einflüsse
auf die Galloromanen ang^eben. Selbst
wenn man eine sittliche Einwirkung der
Germanen nicht gelten lassen will, so mufs
man wenigstens die kriegerische und die auf
die Rechtsbildung bezügliche anerkennen.
Der Verfasser erwähnt nur einen innerlichen
Einflufs und gerade einen sehr bestreitbaren,
wenn er sagt, dafs die Galloromanen „von
den Germanen die Zähigkeit und Ausdauer,
Besprechung^en.
481
die sie bis dahin nicht besessen**, gelernt
hätten. Haben sie wirklich diese Eigenschaften
angenommen ? Wenn in der Einleitung endlich
noch gesagt wird, dafs „schon bei den Kelten
der nicht zu bekämpfende Hang zur Centra-
lisation, der itmen mit den Römern gemein
war**, sich gezeigt habe, so ist dies nicht zu-
treffend. Das centralisierende Prinzip wurde
nach Gallien erst durch die Römer gebracht,
wo es dann bald in heftigen Kampf mit dem
durch die Franken vertretenen Gefühle der
persönlichen Freiheit geriet
In der Darstellung der ersten Periode
der französischen Litteratur, der Zeit der
Feudalherrschaft, wird bei der Poesie der
Trouveres der Hinweis vermifst, dafs die
chansons de geste vielfach auf germanischer
Grundlage beruhen. In dem Paragraphen,
welcher über das Tierepos handelt, hätte
wohl die alte Auffassung, dafs die Tiersage
bei den Germanen entstanden und durch
die Franken nach Gallien gebracht worden
sei, nicht als eine ganz sichere angeführt
werden sollen.
Hinsichtlich der Behandlung des Stoffes
findet sich zum Teil schon in der ersten
Periode, noch weit mehr aber in den späteren,
eine zwar gewils Manchem willkommene
aber im Verhältnis zum Ganzen unVerhältnis-
mäfeig ausgedehnte Angabe des Inhaltes
zahlreicher litterarischer Erzeugnisse. Zudem
herrscht dabei nicht immer Gleichmäisigkeit.
Während z. B. für Racines „Athalie**, bei
deren Erwähnung die „Demoiselles de St. Cyr**
sonderbar mit ,.junge . . . Töchter** statt
,Junge Mädchen** wiedergegeben sind, nur
vier Zeilen gewidmet werden, und während
Moli^res „l^Avare** mit der Charakterisierung
als M Geizhals aus den höheren Kreisen der
Pariser Gesellschaft, der sich deshalb auch
Bediente, Pferde und Wagen hält** abgethan
ist, so wird dagegen Balzacs „la Peau de
chagrin** auf öYt^^^ci^) George Sands
„Jndiana** auf neun Seiten, Victor Hugos
„Nötre Dame de Paris** auf nahezu zehn
Seiten eingehend erzählt. Entbehrlich war
die Analyse des vielgelesenen ^Verre d*eau**
von Scribe und des zu dem bekannten Opem-
texte benützten Romanes ^ Carmen** von
M^rim^e.
Ausführlich, bisweilen vielleicht zu sehr,
sind auch die Lebensverhältnisse der Schrift-
steller behandelt.
Mit Recht hat der Verfasser die Biblio-
graphie gebührend berücksichtigt. Die be-
treffenden Angaben enthalten sogar oft ent-
behrliches. Doch vermissen wir z. B. die
Angabe des wichtigsten Werkes für Calvin
und von ein oder zwei neueren Arbeiten
über F. M. Grimm.
Bisweilen sind einige kurze Stellen aus
dem Texte der besprochenen Litteraturer-
zeugnisse in deutscher Übersetzung angegeben.
Sonderbar klingt folgende Übertragung aus
einem Lustspiele von Pailleron: „ Dieser
Mann hat den Höcker der Freundschaft**.
Das französische Wort „bosse** bedeutet hier
nicht „Höcker**, sondern so viel wie „Beule**
oder „Erhöhung** auf dem Kopfe in der
phrenologischen Kunstsprache. Es war also
zu übersetzen: „Dieser Mann hat den aus-
geprägtesten Freundschaftssinn**.
Bei den Angaben über Voltaire heilst
es von dessen „Oedipe**, dafs dieser „wegen
seiner schamlosen Angriffe auf die katholische
Kirche ganz besonderen Beifall fand** (S. 251).
Statt „katholische Kirche** war „Kirche** zu
setzen. Bei der Besprechung von Voltaire
als Dichter fehlt der Hinweis auf seine,
wenn wir nicht irren, gelung^ensten Poesien,
nämlich die Contes , Satires , Ödes,
Stances u. s. w.
Etwas vollständigere Angaben hätten über
Mercier und Marie Joseph de Ch^nier vor-
gelegt werden können.
Unter den Ursachen, welche die roman-
tische Poesie in Frankreich entwickeln halfen,
hätte wohl die eingehendere Kenntnis der
Litteraturen der Nachbarvölker, besonders
der Deutschen und Engländer, mehr in das
Licht gestellt werden sollen.
Bei dem Bestreben, die einzelnen Perioden
der französischen Litteratur recht scharf ab-
zugrenzen, ist der Verfasser bisweilen etwas
482
Besprechungen.
zu weit gegangen und hat so manchmal eng
Zusammengehöriges getrennt. So findet sich
2. B. die „Histoire de la r^volution fran^ise**
von Thiers auf Seite 355 besprochen, während
dessen »Histoire du consulat et de I*empire**
mehr als hundert Seiten später (S. 479) zur
Sprache gelangt. Die Schriften von Guizot
sind sogar an sechs, die von A. de Vigny
an sieben bis acht verschiedenen Stellen
besprochen.
Wenn den neueren französischen Sozialisten
und Kommunisten drei volle Paragraphen
(§ 79 1 S7i 94) gewidmet worden sind, so ist
diese Berücksichtigung in einer Geschichte
der Litteratur wohl zu weitgehend.
Wir schliefsen mit der Bemerkung, dais
für die leichtere Benutzung dieses weniger
zum zusammenhängenden Lesen als zum Nach-
schlagen dienlichen Buches eine Angabe der
bisweilen sehr ausgedehnten Paragraphen auf
jeder einzelnen Seite, sowie eine Vervoll-
ständigung des beigefügten Registers sich
empfohlen haben würde.
Heidelberg. Theodor Süpfle.
Borinski, Karl: Die Poetik der Re-
naissance und die Anfänge der litte-
rarischen Kritik in Deutschland.
Weidmann, Beriin 1886. XV, 396 S. 8».
Mk. 7. —
Wenn nach der Mitteilung des Verfassers
sogar die Meister der Forschung ihre Uner-
fahrenheit auf diesem Gebiet versichern
mussten (S. X), so werde ich mich um so
weniger zu schämen brauchen, wenn ich ge-
stehe, dafs die Autoren, welche dies Buch be-
handelt, mir grofsen Teils selbst dem Namen
nach unbekannt waren. War doch dies
ganze Gebiet, die technische Litteratur des
poetischen Kunstgewerbes um das 17. Jahr-
hundert, von Borinski zwar nicht neu zu ent-
decken, aber doch ganz neu auf Bewohner,
Sitten und Gesetze zu durchreisen. Statt
also mit den wenigen kleinen Berichtigungen
aufzuwarten die ich aus eigener Kenntnis
beisteuern könnte, will ich mich hier lieber
völlig auf den Standpunkt des dankbaren
Schülers stellen und nur darüber urteilen,
wie weit das Werk in jenes wichtige Stoff-
gebiet einzuführen geeignet ist.
Sichtlich beherrscht Borinski das riesige
Material, welches er zu sammeln und aufm-
arbeiten hatte, mit grofser Sicheilieit; und
dais er nicht blos mit Fleils, sondern auch
mit Liebe gearbeitet hat, beweisen anschau-
lich die Portraits, welche er gelegentlich von
den bedeutenderen Poetiken -Verfassern ent.
wirft Man wird über die Auffassung zuweilen
streiten können; so ist Scaliger (S. 9 f.)
doch wohl zu ausschliefslich als groteske
Persönlichkeit geschildert. Vortrefflich ist die
Charakteristik Berkens (S. 239—240) und er-
freulich die Fortführung der durch Scherer
angebatmten Rettung Opitzens (S. 250 u. ö.\
Noch schwieriger war die Aufgabe, die
besprochenen Schriften selbst uns fasslich
vorzuführen. Es ist nicht zu leugnen, dafs
Borinskis Analysen der zahlreichen Poetiken
sich recht oft ähnlich sehen. Dies liegt aber
in der von ihm selbst betonten Familien-
ähnlichkeit der Originale und es ist dem
Verfasser als Verdienst anzurechnen, dafs er
nicht in einer nur allzu beliebten Art jede
kleine Verschiedenheit zu einem Fundamental-
Unterschied aufzublasen versucht hat. Dennoch
hätte er wohl Manches durch kontrastierende
Vergleichung schärfer herausheben können.
Und damit kommen wir auf den wichtig-
sten Punkt. Borinskis Arbeit ist ein hervor-
ragendes Beispiel einer Gattung litterar-
historischer Schriften, für welche Uhlands
Werke immer unerreichte Muster bleiben
werden, und welche seit W. Menzels
„Deutscher Litteratur" fast brach liegt: die
beschreibende Litteraturgeschichte. Hier soll
weniger die historische Entwicklung klar ge-
legt als eine möglichst vollständige Aufnahme
einer bestimmten Schriftengruppe gegeben
werden. Für die Vollständigkeit wie für die
Treue dieser Aufnahme birgt des Verfassers
aufserordentliche Gewissenhaftigkeit und sein
lebhaftes Gerechtigkeitsgefühl. Vor engherziger
Beschränkung seiner Aufgabe schützt ihn nicht
nur eine ungewöhnliche klassische und philo-
Besprechung^en.
483
sophische Bildung, sondern schon das Thema
selbst. Eine Rezension seiner Arbeit gehörte
ja nicht in die Zeitschrift ffir vergleichende
Litteraturgeschichte, wenn ffir das Werk die
deutsche Litteratur ausschlieislich in Betracht
käme. Aber nicht nur ist die Poetik der
Renaissance an sich fremden Ursprungs,
sondern auch nach- ihrer Einführung bleibt ihr
Schicksal nicht freier Entwicklung aberlassen;
unaufhörlich strömt von neuem romanischer
Einfluss zu und läfst herzlich wenig Deutsch-
nationales aufkommen. Mit der gröüsten Sorg-
falt hat Borinski nun diese Einwirkungen ver-
folgt und auch die gegenseitige Beeinflussung
der französischen und italienischen Poetik
beachtet. Dennoch wird g^ade hier die
Grenze fühlbar, welche durch diebeschreibende
Methode der Verwendbarkeit des Buches
gezogen ist. Man vermisst durchgreifende
Gesichtspunkte, die eine Einordnung der ge-
gebenen Daten in die Reihe der allgemeinen
Entwicklung ermöglichen könnten. Man wird
gleichsam zum Zeitgenossen der besprochenen
Autoren gemacht und hülst darüber den Vor-
teil ein, aus der späteren Evolution jener
Anfinge über deren Kraft und Richtung
klarer urteilen zu können. Bündestens wäre
als' Einleitung oder Schluis ein derartiger
Oberblick erwünscht gewesen. Denn statt
ein Supplement zur Litteraturgeschichte -des
17. Jahrhunderts zu sein, ist das Werk jetzt
eine Sammlung von Supplementen zu den
einzelnen litterarhistorischen Monographien
über jene Zeit Als solche ist es freilich
fortan unentbehrlich; bei jedem Dichter der
behandelten Epoche wird man von nun an
vermittelst dieser Arbeit prüfen müssen, in
welche Schule er hineingehört und wie weit
seine Praxis durch die Theorie seiner Lehrer
bedingt war. —
Wenn Borinski selbst bemerkt, er habe
die Arbeit ansprechend zu gestalten g^ucht,
so muis dies wohlgelungene Bestreben dankend
anerkannt werden; doppelt ist es zu loben,
wo ein oft so trockener Stoff zu bewältigen
war. Gelegentlich geht die Heiterkeit des
Stils vielleicht sogar etwas zu weit; öfter
aber — so in der Behandlung des Fürsten
Ludwig von Anhalt — ist sie von gesundem
Humor erfüllt Ein weniger glückliches
Mittel, den Stil zu beleben^ sind die oft allzu
kühnen Metaphern („ein Cola Rienzi der
Metrik** S. 35); auch stören häfsliche Wort-
bildungen wie „Codificirer** (S. lai), „Crass-
heit*" (S. 188) und ziemlich häufig Druckfehler
(ex propiositis 93, Aslatica 99). (Gtaubte man
139, Erzbischoff ebd. Anm. u. a.). Die Vor-
liebe für leicht zu vermeidende Fremdwörter
(«ein maitre des bei canto** S. 216) verbindet
sich zuweilen mit ungewandter Benutzung der-
selben (^als geschmacklos dekretiert ** S. 202).
Überall aber tritt uns ein ernstes und auf-
richtiges Streben entgegen und die warme
Verteidigung der klassischen Bildung erfreut
um so mehr, als sie jetzt leider so not-
wendig ist. —
Berlin. Richard M. Meyer.
Wagner, H. F.: Robinson in Österreich.
Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen
Robinson-Litteratur. Salzburg, Verlag det-
k. k. Hofbuchhandlung H. Dieter, 1886.
27 S. 8».
Zur Herausgfabe dieses gehaltvollen Schrift-
chens wurde Professor H. F. Wagner durch
das Buch „Österreichischer Robinson** von
Ferdinand Zöhrer, welches den sechsten Band
des im Verlage von K. Prochaska (Wien
und Teschen) erscheinenden Jugendschriften-
sammelwerkes „Collection Prochaska" bildet,
veranlafst und stellte sich zur Aufgabe, das
Verhältnis dieses neuesten Robinsons zu den
übrigen, namentlich auf Osterreich bezüglichen
Produkten des betreffenden Litteraturzweiges
näher zu besprechen. Von dem Urquell aller
Robinsonaden, dem 1719 in London er-
schienenen Robinson Crusoe des Daniel Defoö
ausgehend, zu welchem die von Pedro Serrano
und Alexander Selkirk erlebten Abenteuer die
hauptsächlichste Anregung gaben, zeigt Wagner
dafs es auch den österreichischen Schriftsteilem,
welche im 18. Jahrhundert eine ziemlich be-
deutende Anzahl von Robinson-Romanen in
die Welt setzten, nicht an Vorbildern hiezu
484
Besprechungen.
gefehlt hat und er erwähnt als der bekann*
testen die Lebensgeschichten des Andreas Jelky,
geb. 1730, des Grafen Moritz August Ben-
jowsky, geb. 1741, und des Leonhard Eisen-
schmid, geb. 1771. Mehr oder weniger
schlielsen sich die 6sterreicbischen Robinson-
Romane an jenen Defote insofern an, als
auch sie die Schrecken der Einsamkeit oder
das Zusammenleben weniger Schifibrüchiger
schildern, beziehungsweise weiter ausspinnen,
wogegen sämtliche im Gegensatze zu Defo£
ihrem Helden eine weibliche Gefährtin in der
Einsamkeit zuteilen. Nicht unerwähnt möge
gelassen werden — und dies vermissen wir
in Wagners Schrift — daOs einige öster-
reichische Robinson-Romane (darunter gerade
der bedeutendste) zum Teil in der Türkei
spielen und auch Ereignisse sowie hervor-
ragende Persönlichkeiten aus den österreichisch-
tflrkischen Kriegen des vorigen Jahrhunderts
in ihre Erzählung aufnehmen, was in dem
Verhältnisse Österreichs zum Orient begründet
ist, zugleich aber geeignet sein mufiste, das
Interesse ffir die Produkte des in Rede
stehenden Litteraturzweiges nicht wenig zu
erhöhen.
Von den österreichischenRobinson-Romanen,
welche 1753— 1808 erschienen sind und sich
den politischen Verhältnissen entsprechend
nach Provinzen teilen, bespricht Wagner den
österreichischen Robinson vom Jahre 1791
(wahrscheinlich in Salzburg verfafst) den
steierischen, den böhmischen und ganz be-
sonders den oberösterreichischen Robinson,
welch letzterer 1803 und nicht, wie sonst an-
genommen wurde, 1833 erschienen ist, in
welchem Jahre er die vierte Auflage erlebt
hat, seit welcher Zeit der Robinson, ver-
einzelte Erscheinungen abgerechnet, aus der
deutschen Romanlitteratur verschwindet, da-
gegen in der Jugendlitteratur seit Campe bis
auf unsere Tage sich behauptet hat. In diesen
Kreis gehört auch Zöhrers österreichischer
Robinson, eine Neubearbeitung des vorhin
erwähnten oberösterreichischen Robinsons,
deren Verdienst — vom pädagogischen Stand-
punkt abgesehen, welchen Wagner gleichfalls
im Auge hat — besonders darin besteht, dafs
durch sie ein Werk der älteren heimischen
Litteratur wiedererstanden ist, während sonst
die für die Jugend bestimmten Robinsonaden
meist englischen Romanen entlehnt sind.
Wagners Schrift, mit voller Sachkenntnis
geschrieben, verdient die Beachtung aller,
welche dem Litteraturzweige der Robinsonaden
ihre nähere Aufinerksamkeit widmen.
St Johann i P. A. Luber.
W«tz, W.: Die Anfänge der ernsten
bürgerlichen Dichtung des acht-
zehnten Jahrhunderts. Das ruhrende
Drama und bürgerliche Trauerspiel bis zu
Diderot, der Familienroman des Marivaux
und Richardson und die dramatische Theorie
Diderots. L Band. Allgemeiner TeiL Das
rührende Drama der Franzosen. Erste Ab-
teilung. Worms. Verlag von P. Reiss. 1885.
306 S. 8«.
Die bis jetzt vorliegende Lieferung giebt
uns von dem, wie schon der Titel zeigt,
breit angelegten Werke zwei Abschnitte,
den allgemeinen Teil und die erste Abteilung
der Behandlung des rührenden Dramas der
Franzosen, welche dem ernsthaften Lustspiele
des Destouches gewidmet ist.
Diese beiden Abschnitte, von denen der
zweite doppelt so viel Umfang hat wie der
erste, sind ihrem Inhalte nach ebenso wie in
Bezug auf die Art der Behandlung sehr von
einander verschieden. Dies liegt nur in der
Natur der Sache und kann daher dem Ver-
fasser weder zum Vorwurf gemacht, noch als
Verdienst angerechnet werden. Wenn aber
auch der Eindruck, den beide Teile auf den
Leser machen, in sehr verschiedenem Grade
befriedigend ist, so wird man darüber mit
dem Verfasser vielleicht rechten dürfen. Der
Abschnitt über Destouches nämlich wird, wie
es uns scheint, von jedem Unparteiischen mit
Interesse gelesen und mit dem Anerkenntnis
beiseite gelegt werden, über vieles Aufklärung
und Belehrung erhalten zu haben. Wir er-
halten ein klares, übersichtliches und doch
auch bis ins Einzelne ausgeführtes Bild eines
Besprechungen.
485
litterarischen Charakters, der tief in seiner
2Mt wurzelt, in seinen Vorzfigen wie in seinen
Mängeln dieselbe treu wiederspiegelt, und
^^ grade deswegen, well ihm die Originali-
tät des Genies abgeht, eines Dichters, der in
seiner Art, Welt und Leben auftufassen und
darzustellen, nicht immer leicht von uns ver-
standen wird, dessen wichtige historische
Stellung ihm aber von vorn herein ein be>
deutendes Interesse bei jedem sichert, für
den der innere Zusammenhang und die Auf-
einanderfolge der Geschmacksrichtungen, die
Überwirkungen der verschiedenen National-
litteraturen der neueren Zeit auf einander
und die meist bei mehreren Völkern gleich-
zeitig erfolgenden Umwandlungen der poe-
tischen Gattungen und Arten überhaupt
Gegenstände der Aufmerksamkeit sind.
Die Hauptstärke des Herrn Verfassers sind
die kritischen Analysen der Dramen des
Destouches. Er geht ziemlich streng mit ihm
ins Gericht, jedoch, wie Referent meint«
durchaus mit Recht, nicht blofs weil die auf*
gedeckten Mängel wirklich vorhanden sind*
sondern weil sie bedeutungsvolle Momente
der historischen Entwickelung der Gattung
bilden. Zu loben ist auch, dals mit richtigem
Takte das Bedeutende von dem weniger
Wichtigen unterschieden und jenes ein-
gehender behandelt wird. Wir machen in
dieser Beziehung besonders auf ^ie Be-
sprechungen des „Verheirateten Philosophen",
S. 124 fil, und des « Ruhmredigen", S. 157 ff,
aufmerksam, Partien, die nach unserem
Urteile alles Lob verdienen. Dagegen
können wir grade diesen letzten zwei Dritt-
teilen des Werkes gegenüber, die uns im
allgemeinen ansprechen und dem Herrn Ver-
fasser zu Danke verpflichten, mit der Aus-
stellung nicht zurückhalten , dafs uns die
Bibliographie zu kurz zu kommen scheint.
Das Buch ist doch wohl sicher in erster
Linie für Fachgenossen geschrieben, und
diese werden über manches Angaben wünschen,
die sie nicht finden, z. B. das Erscheinen
von Einzeldrucken und Gesammtausgaben,
Übersetzungen, Bearbeitungen. Referent weifs
wohl, daüs man mit dem Streben nach Voll-
ständigkeit in solchen Dingen sich leicht
eine ermüdende Arbeit aufladet, die nicht
immer durchaus gelingen kann und gar leicht
einer übelwollenden Kritik Anlais zu wohl-
feilen Angriffen bietet, indessen mufs es doch
versucht werden, und wenn es versucht
wird, dann wird sich deutlich zeigen, dals es
sich nicht blols um Äufserlichkeiten handelt,
sondern sehr oft um Thatsachen, welche den
Charakter und die Haltung einer litterrarischen
Erscheinung auf interessante Weise zu be-
leuchten geeignet sind.
Was nun den „ allgemeinen Teil" anlangt,
so möchte sich Referent zunächst die Frage
aufzustellen erlauben, ob dieser Abschnitt
seinen wesentlichen Bestandteilen nach nicht
besser als Rückblick oder Zusammenfassung
der Resultate ans Ende des ganzen Werkes
gestellt worden wäre. Man wird geneigt,
diese Frage mit Ja zu beantworten, wenn
man wahrnimmt, dafs der Herr Verfasser bis
Seite 35 „Einleitung" giebt und darauf eine
„Charakteristik der ernsten bürgerlichen
Dichtung im zweiten Drittel des vorigen
Jahrhunderts". Denn hier sagt er doch mit
eigenen Worten, dafe er das Resultat seiner
Untersuchungen voraus schickt und dann an
die Untersuchungen selbst geht. Unseres
Erachtens hat er auch in der „Einleitung"
alles gesagt, was in die Einleitung gehört,
nämlich was den Leser über die Aufgabe,
die er sich gestellt, orientieren soll. Wir
haben den Eindruck, als ob wir das, was auf
Seite 25—59 gesagt wird, gar nicht brauchten,
um den Abschnitt über Destouches nicht nur
zu verstehen, sondern ihn auch ganz nach
den Intentionen des Verfassers aufzufassen.
Er wird es uns also nicht verübeln können,
wenn wir, schon gespannt auf die in Aussicht
stehende eingehende Darstellung, den speziellen
Teil, in dem allgemeinen Teile vieles, was
wir schon wissen, ohne sonderliches Interesse
und das andere mit dem Gedanken lesen,
dafs wir die nähere Bestätigung abzuwarten
haben, ja vielleicht mit dem Zweifel, ob sich
wirklich alles so erweisen werde. Einer
486
Besprechnogen.
dieser Zweifel, der sich übrigens schon mit
auf die Einleitung bezieht, darf hier wohl
geäuisert werden. Was versteht Wetz unter
dem Gegensatze von komisch und ernst, und
wird er diesen Gegensatz überall, z. B. auch
beim Romane, durchführen können, ohne in
Widersprüche und Willkürlichkeiten zu ge-
raten? Denn erstens entwickelt sich die
Litteratur nicht in zweiteiligen Gegensätzen,
und deshalb läist sie sich auch nicht so ein-
teilen, abgesehen davon, dals Wetz die
Grenzen der von ihm zusammengestellten
Gruppe, die er als ernst charakterisiert,
keineswegs sachlich bestimmt Zweitens will
uns bedünken, dals sich mit den Begriffen
des Humoristischen, Satirischen, Sentimentalen,
Heroischen, Phantastischen mehr hätte an-
langen lassen, und derartige Begriffe, meinen
wir, wäre der Verfasser heranzuziehen und
zu erörtern geradezu gezwungen gewesen,
wenn er vom Besonderen zum Allgemeinen,
von der Erkenntnis des Einzelnen zur
Zusammenstellung des Verwandten fortge-
schritten wäre — natürlich reden wir von
der vorliegenden Darstellung, nicht von den
Studien des Verfassers, deren Verlauf wir
nicht kennen. Wir gehen nicht so weit.
Wetz die Grenzen seiner Aufgabe vorschreiben
zu wollen. Es ist ja möglich, dafs er uns
mit seinen weiteren Untersuchungen über-
zeugen wird, dafs z. B. Fielding nicht weit
mehr mit Richardson zusammengehöre als
mit Destouches, dafs also der Begriff des
Ernsten ein wirklich so einschneidender und
wesentlicher sei, wie er es will — aber wir
wollen doch erst abwarten, ob wir überzeugt
werden. Von Erklärungen, was im Einzelnen
nach unserer Meinung oder nach unserem
Geschmacke hie und da hätte gesagt werden
sollen oder richtiger gesagt werden sollen,
wollen wir hier absehen. Geschiebt doch
grade damit den Verfassern darstellender
Werke von umfangreichem Thema oft das
bitterste Unrecht Dagegen können wir einige
Bemerkungen über die Darstellung nicht
unterdrücken, weil sie dem Verfasser, wenn
er will, zum Nutzen gereichen dürften. Stellen
wie die Seite 57, „Ein französischer KritOcer,
wir entsinnen uns nicht genau, welcher?**
sollten doch in einem gelehrten Buche nicht
vorkommen. Wenigstens hat eine ähnliche
Stelle einem groisen Gelehrten, wir entsinnen
uns sehr genau, dais er Karl T >achmann hieis,
einen hochkomischen Eindruck gemacht Dafs
die Celiante des „Verheirateten Philosophen,"
S. 189, zweimal Celimene heilst, erweckt die
peinliche Vermutung, dais dergleichen mehr
passiert sein könnte. Wortbildungen wie
«emstbürgerllch** (S. 34) und »blolsmensch-
lich** (S. 35) möchten vermieden werden.
»Das Stolsweise^ ist ein ebenso wenig
schönes Subjektiv, wie „teilweise*' als Adjektiv
eine glänzende Rolle spielt (S. 16 und aa).
.,Schon bald** (S. 21) ist mindestens unge^
wohnlich, „VorßiUe naheliegender Art" (S. 28)
desgleichen. Wir können nicht alles, was
uns von dem stilistischen Gesichtspunkte
aus aufgefallen ist, anführen, namentlich nicht
ganze Sätze, die das Gemeinte unklar und
wenig geschickt ausdrücken, aber auch solche
fehlen keineswegs. Doch sei anerkannt, da&
sich diese nach unserer Meinung fehlerhaften
Stellen als Ausnahmen von dem meist klaren
und schlichten Stile abheben. Der Referent
dankt es dem Verfasser ausdrücklich und
aufrichtig, dais er sich nicht eines schwülstigen,
nervösen, gesuchten und „brillanten** Stils
beflissen hat, („berühmte Muster'* wären
genug zu haben gewesen) und kann damit
schlielsen, dais er das Werk den Fachgenossen
warm empfiehlt, dem Verfasser Mulse und Kraft
zur Weiterftthrung und Vollendung wünscht
und die Erwartung ausspricht, in nicht zu
langer Zeit viel des Belehrenden und Anregen-
den in den folgenden Lieferungen zu erhalten.
Breslau. Felix Bobertag.
Lentzner, Dr. Karl: Ober das Sonett
und seine Gestaltung in der eng-
lischen Dichtung bis Milton. Halle,
Niemeyer. 1886. IV, 81 S. 8*. M. 3.
Unzureichend im Wissen, dilettantisch
in der Methode, unreif im Urteil und unbe-
holfen in Darstellung und Stil, bildet die
Besprechungen.
487
angeführte Schrift einen traurigen Beleg för die
immer mehr überhand nehmende fobrikmäfsige
BOchermacherei auf dem Gebiete der
Litteraturgeschichte.
Ein hartes Urteil. Hier die Begründung.
Nach einer ebenso kurzen als oberfläch-
lichen Erörterung über die Entstehung des
italienischen Sonettes und die verschiedenen,
bei Petrarca vorkommenden Reimanordnungen
giebt der Verfasser i) Regeln för die Form,
a) Regeln für den Inhalt des englischen
Sonettes. Dieselben, bestimmt einer histo-
rischen Betrachtung der frühesten englischen
Sonettdichtung, welche um 1557 mit dem
Erscheinen der ersten englischen Sonette,
und nicht, wie Verfasser p. 34 meint, mit
1503 dem Geburtsjahr Wyatts, des ersten
englischen Sonettdichters beginnt, als Ein-
leitung zu dienen, sind, wie sowohl aus deren
Fassung selbst, als aus den Bemerkungen
und Citaten erhellt, wesentlich auf Grund der
neueren englischen Poetik aufgestellt und
zumeist aus der Sonetttechnik der modernen
und modernsten englischen Dichter abgeleitet.
Fürwahr ein wenig tauglicher Maisstab zur
Beurteilung der Dichtungen längst ent-
schwundener Zeit. Dabei fliefst dem Verfasser
überdem manches Unrichtige und noch mehr
Unnützes aus der Feder. So wäre es beispiels-
weise von Interesse zu erfahren, wie Herr
Lentzner seine Behauptung, dafs Binnenreime
beim italienischen Sonett die Regel bilden,
beweisen will, während anderseits ästhetische
Lehrsätze wie: «Das Ganze soll den Eindruck
von etwas Fertigem, von etwas Vollständigem
hinterlassen** (p. 1 2) ^Ferner kann im Sonett
ein schwacher oder nur zum Ausfüllen dienen-
der Vers nicht geduldet werden, wenngleich
n langem Gedichten solche Verse nicht nur
zulässig I etc.**. „Es ist eigentlich überflüssig
hinzuzufügen, dafs ein unklarer Vers im Sonett
nicht vorkommen sollte**, höchstens das
Interesse angehender Dichterlinge und Sonet-
tisten erwecken können. Mit eben solchen
Gemeinplätzen aus der Ästhetik ist auch die
längere Erläuterung geziert, die der Verfasser
seinen Gesetzestafeln nachfolgen läfst (p. 15
bis 33). Wir begnügen uns zwei derselben
herauszuheben, zur Charakterisierung des
Buches und zur Ergötzung des Lesers: »Der
erste Hauptpunkt, der bei Beurteilung eines
Sonettes ins Auge gefaist werden mufs, ist
ohne Zweifel die Thatsache, dafs es sich um
ein Gedicht handelt, und da£s das Sonett,
wie grols auch seine Mängel sein mögen,
jedenfalls diejenigen Eigenschaften besitzen
mufs, ohne welche kein Gedicht schön ge-
nannt werden darf* (p. 15). Femer: „Ohne
anerkannte Regeln für die Sonettkomposition
entbehrt der Leser die Genugthuung (!), welche
jede strikte Beobachtung einer vorge-
schriebenen Form gewährt. Der Autor hat
in einem solchen Falle seine eigene Sponta-
neität gewahrt, hat aber das Vorrecht ver-
wirkt, ein verfeinertes Ohr entzücken zu
dürfen** (p. 30). Und all diese tiefgründige
Weisheit, welche uns dazu helfen soll, das
englische Sonett des 16. und 17. Jahrhunderts
verstehen zu lernen, schöpft Herr Lentzner
aus der schöngeistelnden Betrachtung neuerer
oder zeitgenössischer englischer Sonettdichter
wie Wordsworth, Matthew Arnold, Theodor
Watts, Elizabeth Barrett Browning, Dante
Gabriel Rosetti u. a. m. sowie aus der ästhe-
tischen Belehrung, welche ihm die deutschen
Poetiken von Rudolf von Gottschall und
Dr. C. Beyer boten. Weiterer Beweise für
die Wertlosigkeit der Schrift in methodischer,
wissenschaftlicher Beziehung bedarf es für
den Fachmann nun wohl nicht mehr.
Auf Seite 34 beginnt endlich die Erörterung
über das Sonett in der englischen Dichtung
von 1503 (!) bis 1674, welcher Seite 49 — 52
ein Verzeichnis der englischen Sonettdichter
bis Milton nebst Angabe der Geburts- und
Todesjahre folgt Der einzige Wert dieser
Abschnitte beruht auf der Anfuhrung vieler
in englischen Zeitschriften und Publikationen
gedruckter Abhandlungen über die alten
englischen Sonettisten. Dasselbe ist der Fall
bei dem 21 Seiten füllenden Verzeichnis der
Anfangs verse der bedeutenderen englischen
Sonette von 1503 f!) bis 1674. Eine solche
Liste kann nur durch Vollständigkeit einigen
488
Besprechungen.
Wert erhalten, während sie in der Art, da
Herr Lentzner die Auswahl blofs nach seinem
Geschmacke getroffen, durchaus wert- und
nutzlos ist, es war denn, Jemand wollte es
als Nutzen betrachten, dafs ein solches Buch
um einen Druckbogen reicher wird. Seite
74—77 wird der Versuch gemacht, aus den
verschiedenen vorhergehenden Tabellen ein
Ergebnis für die Litteraturgeschichte zu ge-
winnen. Seite 78—81 folgen wieder chrono-
logische Zusammenstellungen und Reimtabellen,
diesmal Ober das Sonett Miltons im Besondem.
Was aufser der beständigen, unwissen-
schaftlichen Vermengung ästhetischer und
historischer Gesichtspunkte an Lentzners
Schrift besonders unangenehm auffällt, ist die
Oberflächlichkeit, mit der das Verhältnis der
frühesten englischen Sonettdichtung zu den
romanischen Vorbildern behandelt wird. So
hätte z. B. das häufige Vorkommen von Frauen-
namen als Titel von Sonettsammlungcn
(GrifTms „Fidessa*, Daniels „Delia" u. s. w.)
auf den Elnftufs französischer Renaissance*
dichtungen hinweisen können*); för die
„Sundey Sonnets of Christian Passions** von
Henry Lock wären die verwandten Er-
scheinungen in der Sonettdichtung der
Franzosen (Anne de Marquets) und Deutschen
(A. Gryphius) anzuziehen gewesen, ebenso fiir
Withers „Rhomboid Quatuorzain** die Ver-
suche der Nürnberger.
Doch genug; das Wesen der Lentznerschen
Arbeit ist sattsam gekennzeichnet und des
Weiteren zu beweisen, dafs ein gedrucktes
Kollectaneenheft noch kein Buch ist, ist an
dieser Stelle wohl nicht nötig.
Im Anschluss an die Besprechung des
Lentznerschen Machwerkes sei auch in Kürze
noch der folgenden Arbeit gedacht:
Sharp, William: Sonnets of this
Century edited and arranged with a
*) Ebenso wäre es angemessen ge-
wesen, bei Spencer auf dessen ^ Ruinen von
Rom** besonders hinzuweisen und deren Be-
ziehung zu Du Bellays «antiquites de Rome'*
zu erörtern
critical introduction on the sonnet
London 1886. Walter Scott LXXXI,
Dieser fein ausgestatteten, für den Putz-
tisch berechneten Sammlung modemer eng-
lischer Sonette ist eine Einleitung voraus-
geschickt, der man in den Fachkreisen das
Beiwort „ critical** wohl kaum zugestehen wird.
Alte Irrtümer werden darin wieder aufgewärmt,
neue Ergebnisse nicht gewonnen. Die Be-
trachtung ist mehr eine ästhetisierende, als
eine historische und zum Schluss bringt auch
Sharp einen Dekalog für Sonettisten „the tcn
Commandements of the Sonnet**, der in
manchen Punkten für das unmittelbare Vor-
bild der Lentznerschen Regeln gelten könnte,
wenn nicht der Königsberger Lector aus-
drücklich versicherte, dass seine Arbeit bereits
eingereicht war, als das Büchlein des Eng-
länders erschien. Auch in Sharps Einleitung
offenbart sich der mit Redensarten und
wissenschaftlichem Kleinkram grofsthuende
Dilettantismus, aber in einer englischen Luxus-
Ausgabe neuerer und neuester Sonettdichter
ist er eher zu entschuldigen und leichter zu
ertragen, als in einer deutschen Habilitations-
schrift. Wer im übrigen die Entwickelung
des modernen englischen Sonettes ohne grofse
Mühe kennen lernen will, dem kann das
Büchlein nur empfohlen werden.
München. Heinrich WeltL
Fischer, Heinrioh: Lessings Laokoon
und die Gesetze der bildenden Kunst.
Berlin, Weidmannsche Buchhandlung. 1887.
VIII, 200 Seiten. 8». M. 3,60.
Die Gesetze der bildenden Kunst, welche
Lessing im Laokoon und in den handschrift-
lich überlieferten Entwürfen zur Fortsetzung
desselben oder zu einzelnen Partien seines
Werkes aufgestellt hat, sind in neuerer Zeit
häufiger Gegenstand erneuter, mehr oder
weniger polemischer Behandlung geworden,
als seine fast zu kanonischem Ansehen ge-
langten Gesetze für die Dichtkunst. Seine
Definition des Schönen in der Kunst; seine
anscheinend deutlich ausgesprochene Gering-
Besprechungen.
489
Schätzung der Historienmalerei, der Land-
schaft, des Genres; seine Verwerfung des
transitorischen Moments und noch so manches
andere ist mehr als einmal nicht blols von
Gegnern, sondern selbst von bewundernden
Anhängern Lessings bekämpft oder wenigstens
eingeschränkt worden ; auch der neueste Bio-
graph Lessings, Erich Schmidt, spricht von
^beiläufigen Unklarheiten und Widersprüchen
in der Definition,** von „scharf gespannter
Einseitigkeit** gerade mit Rucksicht auf die
hier bezeichneten Fragen, wenn er auch
andererseits hervorhebt, dafs zu gewissen
Zeiten nur eine schroffe Einseitigkeit freie
Bahn brechen könne. Die vorliegende Schrift
eines Grdfswalder Gymnasiallehrers, als deren
Vorläufer vor drei Jahren ein speziell gegen
das zweite Heft meiner Laokoonstudien (Ober
den fruchtbarsten Moment) gerichtetes Gym-
nasial-Programm erschienen ist, stellt sich
nun die Aufgabe, die gegen Lessing erhobenen
Einwände als ungerechtfertigt zu erweisen, in-
dem der Verfasser sich bemüht, darzulegen,
dafs man vielfach einzelne Gedanken, welche
Lessing gelegentlich hingeworfen, später aber
selbst wieder fallen gelassen hätte, fälschlich
zu festen Gliedern seiner ästhetischen Theorie
stempelt; dafs man femer Lessingsche Sätze
geradezu miisverstanden, nicht in ihrer richtigen
Tragweite erfafst habe, und endlich, dafs in
den meisten Fällen auch die Betrachtung der
modernen Kunst den Beweis dafür liefere,
dais Lessings Forderungen durchaus berech-
tigt seien und ebensogut, wie sie Lessing im
wesentlichen a priori aufgestellt habe, aus den
Werken der bildenden Kunst abstrahiert wer-
den könnten. Der Charakter der Fischerschen
Schrift ist daher ein doppelter: sie ist teils
apologetischer, teils polemischer Natur. Den
Verehrer Lessings kann die Wärme, mit
welcher der Verfasser für die Richtigkeit der
Lessingschen Sätze eintritt, nur wohlthuend
berühren; und sollte es selbst manchem Leser
vorkommen, als habe der Verfasser in seinem
Eifer da oder dort des Guten etwas zu viel
gethan und im Bestreben, die Autorität der
Lessingschen Theorie zu stützen, manches aus
dem Buch herausgelesen, was andere beim besten
Willen darin nicht finden können, so wird
man dies doch dem Apologeten gern zu g^te
halten. Die Polemik, welche einen nicht
unbeträchtlichen Raum der Schrift ausmacht,
ist vornehmlich gegen Justi und gegen mich
gerichtet Was meine Wenigkeit anlangt, so
kann ich mich über Ton und Inhalt der gegen
mich gerichteten Bemerkungen nur freuen;
ich bin nicht oft von gegnerischen Kritikern
auf so liebenswürdige Art behandelt worden,
Justi dagegen bekennt der Verfasser selbst,
nicht n allzusanft** behandelt zu haben, und in
der That, wenn sich Fischer bei seiner Kritik
der Justischen Ansichten nach der bekannten
Lessingschen «Tonleiter** gerichtet hat, so
müfste man glauben, dafs er Herrn Justi als
„Stümper, Prahler und Kabalenmacher**
betrachtet hat, so „abschreckend und positiv,**
so „höhnisch** und „so bitter als möglich**
ist sein Ton, wenn er auf ihn zu sprechen
kommt. Ich gestehe, dafs ich dies bedauere;
denn selbst, wenn man dem Verfasser ein-
räumen wollte (und in vielen Fällen muis
man es wirklich), dafs Justis Vorwürfe gegen
Lessing leichtfertig und vom Zaune gebrochen
sind, so sind doch andererseits die Verdienste
des Biographen Winckelmanns so unbestritten,
dafs die Polemik gegen ihn auf einen andern
Ton hätte gestimmt werden sollen, wenn ich
auch zugebe, dafs der im gegebenen Fall
passende in der Lessingschen Tonleiter nicht
vertreten ist.
Doch auf Persönliches haben wir hier
nicht einzugehen, und wenn die polemische
Seite die wesentlichste in Fischers Schrift
wäre, so wäre eine ausführliche Besprechung
derselben vermutlich den wenigsten Lesern
willkommen. Allein das ist keineswegs der
Fall. Die Ansichten, welche Fischer aufstellt,
sind vielfach so originell, so frappierend
und inmier so tief durchdacht, dafs sie zur
Besprechung förmlich herausfordern. Dabei hat
der Verfasser, was ich als eine ganz besonders
verdienstliche Seite seiner Arbeit betrachte,
bei allen von ihm behandelten Fragen die
moderne Kunst bis auf die jüngste Gegen-
490
Besprechung^en.
wart hinab zu Beispielen und Betegfen heran-
gesog^en und damit nicht nur denjenigen Weg
betrete», welcher heutzutage bei Lösung ästhe-
tischer Prägen zweifellos der einzig richtige
ist, sondern auch für solche Leser, welche
die praktisch angewandte Ästhetik den theore-
tischen Grflbeleien vorziehen, seine Schrift an-
ziehender und schmackhafter gemacht. — Es
wäre mir nun das liebste, wenn ich den reichen
Inhalt des Buches hier Kapitel für Kapitel durch-
nehmen und meine Bemerkungen daran an-
knüpfen könnte; allein dadurch würde diese
Besprechung doch zu einem ungebührlichen
Umfange anschwellen. Ich mufs mich daher
damit begnügen, hier nur auf einige Haupt-
punkte näher einzugehen und im übrigen die
Leser dieser Zeitschrift auf Fischers Buch
selbst zu verweisen.
Der gröfsteTeil der Schrift (S. 13-X19)
ist der Betrachtung des Lessingschen Schön-
heitsbegriffcs und dem Nachweis, dafs der-
selbe im wesentlichen durchaus berechtigt ist
und durch die Kunst bis auf den heutigen
Tag seine Bestätigung findet, gewidmet. Mit
Recht wird den Vorwürfen, welche Justi
Lessing wegen seiner Unsicherheit in der
Definition der Schönheit gemacht hat, ent-
gegengehalten, dafs Justi hierbei Lessingsche
Äulserungen, welche aus sehr verschiedenen
Zeiten, aus ganz verschiedenen Schriften
stammen, ja die zum Teil aus dem Zusammen-
hang gerissen und dadurch Mifsverständnissen
ausgesetzt sind, zu seiner Konstruktion des
Lessingschen Schönheitsbegriffes benutzt hat.
Wenn Lessing die Schönheit als Bndzweck
der bildenden Künste angebe, so komme es
ihm dabei nur auf die körperliche Schönheit,
welche vornehmlich auf der Form beruht,
an; geistige oder sittliche Schönheit dagegen
bezeichne er als Vollkommenheit (Seite 16).
Lessing fordert nun, dals die Kunst nicht
blofs durch die Vollkommenheit der Nach-
ahmung, sondern auch durch die Vollkommen-
heit des dargestellten Gegenstandes wirke.
Gerade dieser Satz wird von den neueren
Kunsttheoretikem besonders lebhaft bekämpft,
da unsere Zeit andere Anforderungen stelle,
da unsere Empfindungen und Bedürfnisse sich
gegen früher verändert hätten. Dies wird
aber von Fischer nicht zugegeben. Allerdings
habe sich unsere Zeit in mancher Beziehung
verändert; wir vertrügen stärkere Effekte,
schärfere Gegensätze; aber im allgemeinen
wollten doch auch alle heutigen Künstler,
bildende wie dichtende oder Musiker, auch
durch die Vollkommenheit des Gegenstandes,
nicht blos der Nachahmung, wirken. Möge
es auch viele geben, die sich hiervon ab-
wenden, die Mehrzahl der Kunstgemeinde stehe
doch zu der Lessingschen Forderung (S. 20 ff.).
— Ohne gegen die Richtigkeit der Lessing-
schen Forderung irgendwie Einsprache er-
heben zu wollen, finde ich doch, dafs der
Verfasser hier unserer modernen Kunst etwas
zu optimistisch gegenübersteht Wenn wir
unter „Kunstgemeinde** das für die Kunst
sich interessierende Publikum verstehen, so
mu(s man ihm ja Recht geben; gerade das
Publikum hat sich nach dieser Richtung hin
vielfach einen gesünderen Sinn bewahrt, als
die Kunstrichter und Kritiker, ja als die
Künstler selbst. Aber wer kann die Augen
dagegen verschliefsen , dafs in der Poesie
wie in der Kunst gegenwärtig die realistische
Richtung, welche das Häfsliche gerade um
seiner Häfslichkeit willen, oder sagen wir,
weil es der Wirklichkeit am meisten entspricht,
zum Gegenstande sich wählt, dafs diese
Richtung wenn auch nicht gerade dominiert,
so doch eine sehr hervorragende Rolle spielt?
— Man braucht für die Dichtkunst nicht
gerade Zola zu nennen; der Name Ibsen
genügt auch. Fischer führt Beispiele neuerer
Maler an, welche gegenwärtig besonders Sen-
sation gemacht hätten und alle im Dienste
der Schönheit stünden : Makart, Boecklin, Pi-
loty, Siemiradzky, Gebhardt u. a. Ich will
es von allen zugeben, auch von Gebhardt,
dessen Sujets keinen Vorwurf verdienen, aber
von Boecklin doch nur mit sehr wesentlichen
Ausnahmen. Gerade unter den neuesten
Arbeiten dieses Meisters sind verschiedene
Werke, bei denen der unbefangene Beschauer
(der das freilich in Gegenwart unserer Kunst-
Besprediungfen.
491
kritiker nicht laut sagen darf) zwar die Voll-
kommenheit der technischen Ausfthrung, aber
niemals die Vollkommenheit der dargestellten
Gegenstände bewundem wird. Oder soll man
diese ausgesucht hAfslichen Meerwesen, diese
Tritonen mit plumpen, in Verwesungsfarben
schillernden RobbenftUsen, diese Froschkönige,
vor denen schwangere Frauen aus Entsetzen
Fehlgeburten thun könnten, diese Fischweibern
gleichenden Najaden mit den roten Schnaps-
gesichtem u. s. w. als vollkommen in ihrer
Art betrachten? oder glauben, dais der Künst-
ler beabsichtigt hat, mit ihnen etwas Schönes
darzustellen? ^ — Nein, Lessings Satz gilt
durchaus fftr die antike Kunst, er gilt auch
ftkr die weitaus überwiegende Mehrzahl der
modernen Künstler, aber er erleidet doch in
der neueren Kunst eine sehr bedeutende Ein-
schränkung: selbstverständlich nicht hinsicht-
lich seiner Richtigkeit, sondern in Rücksicht
auf seine praktische Durchführung. Auch
zahlreiche der niederländischen Genremaler
haben das Häfsliche und Unvollkommene
mit bewufster Absichtlichkeit zu ihrem Gegen-
stande gemacht Diese trunkenen Bauern,
diese rohen Wirtshaus-Prügeleien — kann
man da noch von Vollkommenheit des Gegen-
standes sprechen? Ja, wenn man den Begriff
des Wortes so weit ausdehnt, dann ist freilich
jedes Ding in seiner Art vollkommen, selbst
die Pferdeäpfel auf dem Prey ersehen ^ Spatzen-
frühstück;** aber man wird mich nicht über-
reden, dais Lessing bei seiner Theorie eine
solche Erweiterung des Begriffes im Sinne
gehabt hat.
Am meisten haben noch zu allen Zeiten
die plastischen Künstler das Gesetz der Schön-
heit festgehalten ; Fischer meint (S. 34), man
mCisse, um auch nur Ausnahmen davon zu
finden, schon zu den ersten Anfängen zurück-
gehen, zu den Metopen von Selinunt, den
Extemsteinen oder den Holzschnitzereien des
Mittelalters: aber nicht einmal diese dürfen
als Ausnahmen galten. Denn wenn uns auch
die Metopen von Selinunt oder die traurigen
nackten Figuren mittelalterlicher Skulpturen
häfslich erscheinen, so erschienen sie so doch
weder dem damaligen Publikum noch den
Künstlern; die Künstler wollten in der Regel
so schön als möglich bilden (die Meduse der
selinuntischen Metope ist selbstverständlich
eine Ausnahme, well hier der abschreckende
Typus gegeben war), sie konnten es nur
nicht besser. Höchstens bei Christusfiguren
lag es wirklich manchmal in der Absicht des
Künstlers, den Leib des Heilandes so ab-
gemagert, vom Leiden verzehrt als möglich
zu zeigen : aus religiösen Gründen, damit der
Beschauer um so mehr zur Andacht gestimmt
würde, wenn er sah, wie entsetzlich sein
Herr und Heiland für die sündige Menschheit
gelitten hatte; — also aus Gründen, die mit
künstlerischen Gesichtspunkten nichts zu thun
haben und das betreffende Kunstwerk nach
Lessings eigenem Willen in die Reihe der
bei aesthetischen Fragen aufser Betracht zu
stellenden rücken. — Anders in der Malerei.
Wenn der Verfasser meint, dafs der Maler
durchweg nicht blos auf Schönheit der Farbe,
sondern auch und vornehmlich auf Schönheit
der Linien der Komposition ausgehe (S. 35 ff.),
so muis man sagen : das sollte wohl so sein,
aber es ist keineswegs allgemein so. Zwar
möchte ich Michel Angelo und Adolf Menzel,
auf die Fischer als auf scheinbare Ausnahmen
hinweist, keineswegs dazu rechnen; aber ich
rekurriere wieder, um bei dem augenblicklich
modernsten und gefeiertsten Künstler stehen
zu bleiben, auf Boecklin. Er, der in seinen
Farben Unübertreffliche, hat er auch bei
seinen steifhalsigen Schwänen in den „Gefilden
der Seligen** wirklich die Schönheit der Linien
beabsichtigt? Der Verfasser selbst weist an
anderer Stelle (S. 165) darauf hin, dafs die
Schwäne durch diese Halsstellung als schwim-
mend bezeichnet werden* sollen; ich lasse es
gelten: aber der Künstler hat dann doch
jedenfalls die Schönheit der Linien der Natur-
wahrheit aufgeopfert. Und wenn man sagt,
das sei nur ein einzelner Zug in einem grolsen
Gemälde und es komme auf die Komposition
des Ganzen an, so verweise ich auf das
neuerlich in der nBtustrierten Zeitung** ver-
öffentlichte Bild Boecklins „Lenzeserwachen**
492
Besprechungen.
(in der Züricher Gemälde-Gallerie) ; wenn man
die dort unter den kahlen Baumstämmen steif
aufgestellten vier Figuren als eine nach den
Gesetzen der Schönheit komponierte Gruppe
betrachtet, — dann strecke ich allerdings die
Waffen und erkläre mich für besiegt, ver-
spreche aber auch, künftighin keine 2^ile
mehr über moderne Kunst schreiben zu wollen.
Dem, was Fischer über die Kunst im
Dienste des Stoffes und über die Verwerflich-
keit der Tendenzmalerei, weiterhin über die
Beschränkung des Kunstgebietes durch die
Rücksicht auf die Wirkung und im Zusammen-
hang damit über die Ausschliefsung des
Empörenden aus den Gegenständen der Kunst
sagt, kann man nur aus vollstem Herzen
beistimmen. Etwas skeptischer stehe ich dem
Versuche des Ver&issers gegenüber, Lessings
Urteil über Historien-, Landschaft- und Por-
traitmalerei zu retten, indem bei der Historien*
und Portraitroalerei der Standpunkt Lessings
bisher nur nicht richtig aufgefafst worden sei,
in der Landschaftsmalerei dagegen Lessing
seine anfängliche Ansicht später zu Gunsten
der Landschaft verändert und die ange-
fochtenen Sätze daher fallen gelassen habe.
Der bekannte Satz Lessings, welcher auf die
Historienmalerei geht, besagt, man sei au
dieselbe verfallen, „um körperliche Schön-
heiten von mehr als einer Art zusammen-
bringen zu können. Der Ausdruck, die Vor-
stellung der Historie, war nicht die letzte Ab-
sicht des Malers. Die Historie war blos ein
Mittel, seine letzte Absicht, mannichfaltige
Schönheit, zu erreichen.** Jetzt freilich, meint
Lessing, sei es anders; man male Historie,
um Historie zu malen. — Allgemein ist an-
erkannt worden, dafs Lessing mit Recht da-
gegen protestiert, die Kunst zur Dienerin
anderer Künste und Wissenschaften zu machen ;
es ist nicht blos ein Protest gegen Programm-
Malerei und gemalte Geschichts- Philosophie,
sondern auch gegen solche Historienbilder,
welche nichts sind und nichts weiter sein
wollen, als gemalte Geschichte, auf die Lein-
wand übertragene photographische Moment-
aufnahmen. Aber trotz dieser Anerkennung
hat man Lessings Standpunkt der Historien-
malerei gegenüber zu beschränkt gefunden,
auch Erich Schmidt meint, das Einseitige und
Gefahrliche des Standpunktes liege auf der
Hand. Nun meint Fischer, jene angeführten
Worte Lessings sollten nichts weiter besagen,
als in anderem, modernerem Deutsch etwa:
„die Historienmalerei giebt dem Künstler
Gelegenheit, mannichfaltige Schönheiten auf
ein imd demselben Gemälde zusammenzu-
bringen.** Das muis ich denn doch bestreiten;
was Lessing sagt, ist nicht blos eine «histo-
risierende Art, allgemeine Gedanken vor-
zutragen,** sondern er sagt ausdrücklich,
mannichfaltige Schönheit zu erreichen, sei
die letzte, d. b. die hauptsächlichste Ab-
sicht des Künstlers, und das besagt bei
weitem mehr, als wenn wir blos von Gele-
genheit, mannichfaltige Schönheiten zusam-
menzubringen, sprechen. Geben wir durch-
aus zu, dais für den Künstler der historische
Vorgang nicht in erster Linie steht, denn ein
echter Künstler wählt sich keinen historischen
Vorgang, mag er sonst an sich noch so inter-
essant und merkwürdig sein, welcher sich
nicht zu einem künstlerischen Schönen ge-
stalten läist, der nicht im strengen Sinn des
Wortes malerisch ist (Gemälde, wie Menzels
Krönungsbild oder v. Werners Kongrefsbild
fallen, als auf Bestellung ausgeführt und nicht
vom Künstler frei gewählt, aufser Betracht).
Aber wenn wir das auch zugeben, so brauchen
wir deswegen doch nicht das andere ebenfalls
zuzugeben, dais die mannichfaltige Schön-
heit der Hauptzweck des Künstlers ist und
der Ausdruck darüber in den Hinterg^nd
tritt Fischer giebt das auch selbst zu ; wenn
er (S. 70) sagt, dais ftir den echten Künstler
der Wert des Stoffes in seiner Fähigkeit
bestehe, im Bilde dargestellt zu werden, dafs
er also den Stoff betrachte und behandele
als das notwendige Substrat des Ausdrucks,
nicht des Ausdrucks als Mittel zur Darstellung
des Stoffes, — wer würde ihm da nicht aus
vollster Überzeugung Recht geben? — Wir
vermissen nur den Nachweis, dafs dies auch
Leasings Meinung war. Fischer handelt im
Besprechungfen.
493
13. Kapitel allerdings über Vertiefung des
Gegenstandes durch den Ausdruck; aber hier
sagt er im Grunde doch nur, daüs Lessing
nicht, wa$ ja auch ganz töricht gewesen
wäre, der Kunst die Beschränkung auf
Formenscbönheit zugemutet und ihr Ausdruck
und Handlung verweigert hätte. Aber es
bleibt doch dabei, dais Lessing für die Histo-
rienmalerei die mannichfaltige Schönheit der
Form als Hauptzweck, die Mannichfaltig-
keit des Ausdrucks als Nebenzweck hin-
stellt, und eben das ist meiner Ansicht nach
der wunde Punkt seiner Definition. Wohin
es f&hrt, mannichfaltige Schönheit zum Haupt-
zweck eines Historienbildes zu machen, lehrt
Makarts Catharina Comaro, wo der Ausdruck
gar keine oder doch nur eine sehr unter-
geordnete Rolle spielt und der Beschauer
sich bald gelangweilt abwendet.
Hinsichtlich des Portraits ist Fischer eben-
falls der Ansicht, dais man Lessing^ Aussprüche
hierüber anders zu verstehen habe, als es
bisher allgemem geschehen ist (S. 1 18). Wenn
Lessing an der bekannten Stelle über das Ge-
setz der Hellanodiken (betreflb der olympischen
Siegerstatuen) sagt, der Grund jenes Gesetzes
sei gewesen, dafs unter den Kunstwerken
der mittelmäfsigen Portraits nicht zu viel
werden sollten, so heüse ^der mittelmäisigen
Portraits" so viel als „der Portraits mittel-
mäßiger Menschen." Vortrefflich; auch ich
habe nie geglaubt, dais in jenem Satz das
^mittelmäisig" ein Epitheton perpetuum zu
^Portraits" sei, sonst würde das darauffolgende
„denn" gar keinen Sinn haben. Aber was
versteht Fischer unter „mittelmäisigen Men-
schen?" Nach der bei ihm folgenden Aus-
einandersetzung, nach seinen Beispielen von
Perikles und Hyperbolos, vom groisen Kur-
fürsten und seinem Kutscher, meint er damit
und meinte nach seiner Ansicht auch Lessing
damit die moralische, geistige Bedeutung eines
Menschen; Menschen, „welche sich selbst zum
Ideal eines Menschen gemacht haben." Neh-
men wir aber dies aiti, so fragen wir selbst-
verständlich weiter: was hat dies mit der
Schönheit als höchstem Prinzip der Kunst zu
Ztochr. f. vgl. Litt.-Gnch. I.
thun? Der vortrefflichste Mensch, der
bedeutendste Staatsmann, Gelehrte etc. kann
physisch der reine Pavian, das gemeinste,
verworfenste Subjekt dagegen ein ApoU
sein. Auch mit dem Gesetz der Hellanodi-
ken kämen wir bei solcher Auffassung etwas
ins Gedränge. Hinsichtlich gymnastischer
Fertigkeit, palästrischer Tüchtigkeit waren
die dreimaligen Sieger nichts weniger als
„mittelmäisige Menschen," vielmehr Ideale in
ihrem Fach; aber, was ihr Äuiseres anlangt,
so sind die Schilderungen, welche uns die
alten Schriftsteller von diesen Klopffechtern
von Beruf machen, keineswegs sehr anziehend,
und die Ausgrabungen von Olympia haben
in dem ungemein charakteristischen Bronze-
kopfe eines Olympioniken dafilr eine auiser-
ordentlich drastische Illustration geliefert.
Hätten die Hellanodiken nach der Lessing-
schen Ansicht ihr Gesetz im Interesse der
Schönheit erlassen, so würde es gerade in
dieser Passung sehr wenig wirksam gewesen
sein: die Künstler suchten sich ihre Ideal-
figuren sicherlich lieber unter den übrigen
Kämpfern, als unter diesen gemästeten, von
übermälsigen Muskeln geschwollenen Apo-
plektikem mit den zerschlagenen Ohren. —
Anders stellt sich die Sache, wenn wir „mittel-
mäisige Portraits" im Sinne von körperlicher
Mittelmäfsigkeit fassen. Hätten alle olym-
pischen Sieger ohne Ausnahme ikonische
Statuen erhalten, so würden darunter, eben
weil bei jedem Portrait trotz der Idealisierung
doch die Ähnlichkeit herrschen mufs, unge-
mein viele gewesen sein, bei denen die Schön-
heit durchaus zurücktrat, weil sie mit der
Forderung der Ähnlichkeit total unvereinbar
war. Beschränkt man die Erlaubnis der
Portraitbildung auf die dreimaligen Sieger,
so wurde zwar die Möglichkeit unschöner
Kunstwerke nicht aufgehoben, aber doch
immerhin bedeutend eingeschränkt, die Zahl
der mittelmäßigen Kunstwerke wurde gerin-
ger. Wenn Fischer mit seiner Umschreibung
der Lessingschen Worte diesen Sinn ver-
bindet, so will ich sie gern unterschreiben
und auch zugeben, dafs ich selbst Lessings
83
494
Ausdrncksweise mit Unroeht als efaen Tadel
oder eine GeriDgsc:hätsuag des Portnlts
geSa£^ habe. Aber noch ia dnem anderen
Punkte muis ich mich g^eg^en Fiadier wenden.
Ich habe behauptet, der Grund, welcher die
Hellanodiken bei jenem Gesetae leitete, sei
die Rikdraicht darauf ifowesen, daÜB es lür
die Sieger ein gjGlserer fiiargeis sefai muiste,
in authentischer Portraitbiklung auf dem Fest-
plats aufgestellt su werden, als in irgendwelcher
allgemeiaen, typischen Vorstellung. Fischer
meint dagegen, die Hellanodiken könnten
uamöglidi geglaubt haben, dais an Stelle
eines Diadumenos und Dorjphoros, an Stelle
der Diskoswerfer und Fechter und Ringer
ebensoviele Portraits bdiebiger Sieger dem
HeUigtume zur gleichen oder gar gröiseren
Zierde, der Festrersammlung zur gleichen
Freude gereidhen wOrden. Aber Fischer
scheint su flberaehen, dals ja auch bei den
Portraitstatuen die Sieger nicht ohne jegUche
Handhiag in aieifer Stellung, sondeni eben-
falls als Diadumenoi oder Donrphoroi, als
Diskoswerfer, Faustk&mpfer, Lftufier, Ringer
etc. (freilich nicht als Fechter) dargestellt
wurden; ^bls ferner die Bewohner einer
Stadt, welche «ach Ol3rmpla mr Festfsier
kamen, sicherUcb trotz allen den HsUe-
nen innewohnenden Sehönhcltsgefilhla eine
gröfsere Freude, einen höheren Stolz empftm-
den, wenn sie Ton dieser oder jener Statue
sagen konnten: „das ist unser Landsaunn
so und so,** als wenn die betreffende Figur
nur durch Ihre ftafeere Stellung und Attribute
uad durch die Inschrift an den Sieg ihrer
llitbüiiger erinnert, aber sonst dnmi helicU-
gen Idealtypus vongestelit hfttte.
Endlich die Landschaft. Hier ist
Fischer der Aadcht (S. i is), daisLesslng jene
▼o« ihm ursprttaigUcih aufgestellte Theorie,
wonach der Landsehgft ein Ideal abgehe and
somit der Laadschaftamalerd ein adndercr
Rang zukomme, spftter aufgeg^en habe. Bei
Ausarbeitung des ersten Teils des Laokoon
habe er die Entdeckung geaMclit, dafs der
LandachaAsmaler nicht blois mit dem Auge
und der Hand arbeite^ sondern an seinem
Werk auch das Genie sefaien Anteilhabe. Daram
nahm er jene im Entwurf noch ansgesprocbene
Theorie in die Disposition des «weiten Teiles
idcht mehr au^ seinen Teräaderten Stand-
punkt aber charakterisieren die Worte im
elften Absdinitt des Laokoon: «Der Maler,
der nach der Beschreibung eines Thomsons
eine schöne Landschaft darstellt, hat mehr
gethan, als der sie gerade von der Natur
kopiert. Dieser siebet sein Urbild vor sich,
jener mnis erst seine Einbildungskraft so aa-
strengen, bis er es vor sich zu sehen glaubet
Dieser machet aus lebhaften sinnlichen Ein-
drilcken etwas Schönes; jener aus schwanken
und schwachen Voratellungen wilHcörlicher
Zeichen. ** — Ja, sollen diese Sfttze wkklkh
beweisen, dals Lessing sein Urteil Aber die
Landschaftaamlerei geändert, dais er ttr ein
Ideal zugestanden hat? Wo sieht das? —
Es wäre der Fall, wenn Lcnslng auf die eine
Seite seiner Antithese den Maler «leHle, wel-
cher blois Ton der Natur kapiert, also Vedaten
giebt, auf die andere den, welcher diese Ve-
dute zwar zur Grundlage seiner Landschaft
macht, aber sie idealisiert, iadem er hier etwas
wegnimmt, doit etwas Unxulhut, den Vorder-
grand verlndeft, die Beleuchtung so ka«i-
poniert, wie sie ihm för die dargestellte Saotte
am passendsten scheint u. s. f., kars, der eben
das tfaui, was maa yoa einem Landschaftar
Im besten Siaae des Wortes ▼erlangt Al»cr
f.eBsing spricht von einem Maler, der eine
Landaohaft nach der Bescbroibuag eines
The PH im kosspoaieit, und das ist ganz etwas
anderes. Er stellt ihn aach höher, als den,
der blofii nach der Natur kopiert; aber dafe
er damit zugegebea hat, dafe die Landaehaft
eines Ideals ftbig ssi, kann ich darans nickt
Ein weltBrer Abschnitt dta Flach«
BudMS beschäftigt sieh mit dem «<iaz|gnn
Augenblick.'' Was hier Aber ^Cörper mak
ihren sicbtbaren Eigenschaften als Gegenstand
der Malcftti** gesagt wird, ferner Aber «ein-
ziehe uad kollektive Handlungen,'* über die
«Erweiterung des Moments*' u. s. w^ ist aehr
beachtenswert. Aber in einigen PuaiBtan
BQ8precliimg[€ii.
495
k«qp ich nicht uaUn, abermals m wider-
spreobcB. Über die «Brwdteruog des Mo-
ments** äidsert sich Lesdns^ sowohl in seinem
Urentwurf als im Laokooo s^ttist (Abs€hn.i8).
Fischer ist hier wiederum der Ansicht (S. 133),
Lessing habe das im Urentwurf Gesagte
später als falsch ^ kannt «ad daher . seine
Aasdmcksweise im Laokoon geändert. Ich
kaan beim besten Willen nicht finden, dais
die Worte des Urentwarfr einen anderen
Sinn haben, als die im Laokoon selbst. Hier
wie dort spricht er von Verwendung (d. h.
Abwendung) oder von Entfcinung gewisser
Personen, hier wie dort von Erweiterung des
Moments. Wenn Fischer erweist, das sei
falsch, es finde bei solcher Anordnung gar
keine Erweiterung des Moments statt, so geht
dies ebenso gegen den Wortlaut des Entwurfs,
wie gegen den des Laokoon. Ich gebe su,
dafs es streng genommen keitte Erweiterung
des Moments ist^ wenn einige Personen,
die die Hanpthandlung nicht sehen können,
Siellungen haben, die einem früheren Mo-
ment entsprechen; aber es ist eine Erweiterung
des Moments und Fischer sagt es ja selbst
(S. 134), wenn einige Personen eine spätere
Bewegung oder SteUung haben. Nun, Lessing
spricht an beiden Stellen sowohl von fiüheren
als von späteren Bewegungen und es könnte
höchstens die Frage entstehen, ob die im
Laokoon etwas kürzer ge&iste, im Entwurf
mehr ausgeführte Andeutung, in welcher Weise
der Maler dabei verfahren könne, auf beides
oder nur auf das eine, nämlich auf die fiiUie-
ren Stellungen geht Selbst wenn letsteres der
Fall wäre, würde Fischer damit noch nicht im
Rechte sein: es wäre dann eben nur ein Bei-
spiel gegeben, nichts weiter. Aber die
Sache scheint mir nicht einmal so ausgemacht.
Ich habe zwar selbst in meinem Kommentar
S. 6sa gemeint, in den Worten: »dais er (der
Maler) diejenigen Figuren, die s. B. eine
spätere Bewegung machen, als der Augen-
blick der Haupthandlung erfordert, von der
Haupthandlung wegwendet oder sie so stellt,
dafe sie die jetsige Haupthandlung nicht sehen
kann** (lies „können'*) sei «spätere** eine Art
Privilegium für „eine Bewegung, welche für
die dargestellte Haupthandlung su spät ist,**
also streng genommen eine frühere und Fischer
schreibt auch geradezu „soll hetfsen frühere."*
Allein bei erneuter Erwägung glaube ich,
dafs das „spätere** doch ganz richtig ist.
Der Urentwurf ist, wie auch das „kann** anstatt
»können** zeigt, stilistisch nicht gefeilt; aber
Lessing wollte offenbar sagen: „dafs er z. B.
diejenigen Figuren, welche eine spätere
Bewegung machen, als der Augenblick der
Haupthandlung es erfordert, von der Haupt-
handlung wegwendet, oder dafs er einzelne
Figuren (nämlich solche, die eine frühere
Bewegung machen) so stellt, dafs sie die
jetzige Haupthandlung nicht sehen können.**
Ich muis mich mit dem bisher Gesagten
begnügen. Fischer kommt im weiteren auf
die Wahl des einzigen Augenblicks zu
sprechen und wendet sich speziell im 35. Ka-
pitel gegen die in meinen Laokoon -Studien
ausgesprochenen Ansichten, mit denen sich
schon sein angeführtes Programm beschäftigte.
Punkt für Punkt auf seine Polemik einzugehen,
würde zu weitläufig und für den Leser zu
uninteressant sein, ich kann also hier nur so
viel bemerken, dais mich Fischer in manchen
Punkten überzeugt hat, dafs namentlich ver-
schiedene der Beispiele, die ich anführte, nicht
in den Kreis der bei Behandlung dieser Frage
in Betracht konunenden Denkmäler hinein-
gehören. Ich habe den Begriff der „äufser-
sten Staffel des Affektes** relativ gefaist,
daher auch von Handlungen gesprochen, die
nicht bis zum absolut Äufsersten des Affektes
sich steigern; Lessing aber, darin hat Fischer
ganz Recht, spricht nur von Handlungen,
die bis zum absolut Äufsersten des Affek-
tes sich steigern; damit ist der Kreis der
hier in Frage kommenden Kunstwerke bedeu-
tend verengert, dafür aber auch die Richtig-
keit der Lessingschen Forderung leichter
zu erweisen. — Der letzte Abschnitt des
Buches handelt von den allegorischen Dar-
stellungen; ieh fireue mich, darin mit dem
Verfasser mich in voller Einstimmung zu
finden.
33*
496
Besprechungen.
Möchte das frisch und anregend geschrie-
bene Buch recht viele Leser finden, nament-
lich auch in der Künstlerwelt — doch das
letztere dürfte wohl frommer Wunsch bleiben.
Zürich. Hugo Blümner.
Henkel, Hermann: Das Goet besehe
Gleichnis. Halle a. S. 1886. Verlag der
Buchhandlung des Waisenhauses. 147 S. 8*.
Als eines der wichtigsten Ausdrucksmittel
der Dichtkunst, oft freilich auch nur als ein
leerer Schmuck der Poesie hat von Alters
her das Gleichnis gegolten. Verschiedene
Zeiten und Völker haben es verschieden
behandelt, anders Homer als Euripides, anders
Shakespeare als Ossian, anders Klopstock
als irgend einer seiner grösseren Nachfolger
in unserer Literatur. Keiner von ihnen liebte
es so sehr, sich in Bildern und Gleichnissen
auszudrücken, wie Goethe. Er selbst war
sich dieser Gewohnheit wohl bewusst. Er
suchte sie als eine Stammeseigentümlichkeit
des Oberdeutschen, besonders desjenigen,
der an grösseren Flüssen, am Rhein und
Main, wohne, zu erklären, gin];^ kunstphilo-
sophisch forschend aber auch dem Wesen
und Zweck der gleichnisartigen Rede nach
und stand bei voller Erkenntnis der durch
sie bewirkten Vorteile nicht an, dieselbe als
ein unentbehrliches Bedürfnis seiner Aus-
drucksweise in Anspruch zu nehmen. Sein
Denken und Dichten umspannte den ganzen
Bereich der Welt und des Lebens; aus dem
gesamten Umkreis sinnlich vorstellbarer
Wesen entlehnte seine Phantasie ihre Bilder.
Wie unendlich reich und mannigfaltig diese
Ausbeute war, veranschaulicht der zweite
Teil der Henkeischen Schrift, der in einer
Auswahl der prägnantesten Goetheschen
Gleichnisse den Grundstock und Hauptstanmi,
doch keineswegs ein vollständiges Reper-
torium derselben bringt. Mit grossem Fleisse
hat Henkel zu dem Zwecke nicht nur sämt-
liche Schriften, sondern ganz richtig auch die
Briefe Goethes exzferpiert und selbst gelegent-
liche mündliche Äufserungen des Dichters,
die uns durch andere überliefert worden sind,
beigezogen. Eine selbständigere Geistes-
arbeit erforderte der erste Teil des Buches.
Es handelte sich darum, das eigentümliche
Wesen, den Charakter und den Zweck des
Goetheschen Gleichnisses genau zu bezeichnen.
Henkel that das, indem er zunächst Goethes
eigene Äusserungen über die Natur der bild-
lichen Redeweise zusammenstellt und darauf
das Wesen der Gleichnisse Homers und
Shakespeares untersucht, um aus dem, worin
sich Goethe an diese beiden für seine Dar-
stellungsweise so bedeutenden Dichter an-
schlofs oder von ihnen unterschied, die
Eigenart seiner Gleichnisse kennen zu lernen.
Goethe hat Vergleiche (namentlich in seinen
Jugendwerken), welche ganz und gar
Shak espearisch geartet sind; er braucht in
der Zeit der klassischen Reife Bilder korrekten
Homerischen Stils. Auch an die Einflüsse,
welche die biblische Lektüre auf Goethes
Gleichnisse gehabt hat, erinnert Henkel. Er
hätte noch zahlreicher anderer Schriftsteller
und Werke in deutscher und ausländischer
Literatur gedenken können, die abwechselnd
mehr oder minder bestimmend auf Goethes
Gebrauch der bildlichen Rede eingewirkt
haben. Um sein Thema erschöpfend zu
behandeln — Henkel lehnt dies allerdings
im Vorwort bescheiden ab — hätte er die
Schriften der Dichter, die Goethe besonders
in jungen Jahren las und aus denen er an-
erkanntermafsen unmittelbaren künstlerischen
Gewinn zog, auf ihre Behandlung des Gleich-
nisses hin prüfen sollen. Virgil, Tasso,
Klopstock, Bodmer, Wieland, die Literatur
der Volkslieder, Ossian, die englischen
Romane, die französischen Dramen mussten
unter anderen in den Bereich der Forschung
gezogen werden; die geschichtliche Ent-
wicklung der Goetheschen Dichtung und die
Veränderungen in seinem Gebrauch des
Gleichnisses, die sich daraus ergaben, mussten
stärker, als dies jetzt geschehen ist, betont
werden. Hier, nach der literargeschicht-
lichen Seite hin, sind die Mängel der Henkei-
schen Schrift zu suchen; vom ästhetischen
Standpunkt aus betrachtet, ist sie unein-
geschränkten Lobes würdig. Richtig und
schön bezeichnet der Verfasser den eigen-
Besprechimgeo.
497
artigen, individuellen Charakter des Goethe-
schen Gleichnis. Es ist weder ein Kind der
Not noch ein Erzeugnis des Luxus. Viel-
mehr greift der Dichter nach Bildern ^aus
innerer Nötigung, aus dem Bedürfnis einer
harmonischen Natur, die Einzelerscheinung
im Zusammenhang des Weltganzen zu schauen
und zur Anschauung zu bringen.** Goethes
Gleichnis, meist in ruhig -epischer Weise aus-
gemalt, vorwiegend der veranschaulichenden
Darstellung des Obersinnlichen, des geistigen
und seelischen Lebens gewidmet, dient doch
nicht blofs dieser sinnlichen Veranschau-
lichung, sondern ihm ist zugleich ein sym-
bolischer Charakter aufgeprägt: es erscheint
„in tieferem Sinne als Vermittler der sitt-
lichen und natürlichen, der geistigen und
Erscheinungswelt.* *
Bayreuth. Franz Muncker.
Louvier, August Ferdbiand: Sphinx
locuta est. Goethes Faust und die
Resultate einer rationellen Methode
dier Forschung. Berlin 1887, George
und Fiedler i.Bd., VI, 443 S. 3. Bd., 488 S.
Nachträge 60 S. 8 * M. 1 2,50.
Eine fast unerschöpfliche Fundgrube fQr
Feuilletonisten, die ohne Aufwand eigenen
Witzes ihren Lesern ein vergnügtes Viertel-
stflndchen bereiten wollen. Es reizt mich
nicht, die gar zu billigen Späfse über dieses
eben nicht ernst zu nehmende Werk von
^3 Bogen in grofsem Oktav, zu vermehren.
Im Grunde ist es ja etwas recht betrübendes,
einsehen zu müssen, dafs die tollsten geistigen
Verirrungen in keinem Volke der Erde häufiger
anzutreffen sind, als in dem mit Bildung
überfütterten deutschen. Es ist wahrhaft
schmerzlich zu erfahren, dals der Verfasser
dieses wüsten Hexensabbaths von hyper-
schlauer Deutelei ein zwanzig Jahre lang als
Direktor im höheren Schulwesen thätig
gewesener Mann sei, der volle f&nf Jahre
seines Lebens — als wenn der Wert des
Lebens im leeren Gedankenspiel bestände ! —
solchen Öden Witzen aufopfern mochte. Hier
ist ein in der That hochgebildeter Mensch,
der der Welt ein wahres Paradigma von echt
deutschem Gelehrten-Blödsinn darbietet, ohne
ein Fünklein von Humor, mit dem bitteren
Ernste, der den deutschen Dunkler in solchen
Dingen auszeichnet.
Es läge ja nahe, die Tendenz der Ver-
höhnung, wie sie in köstlicher Weise Friedrich
Theodor Vischer in seinem „Faust^% der
Tragödie drittem Teil (Tübingen 1886),
befolgte, anch unserm Kommentator zuzu-
, trauen, aber es ist in der That reiner sein
selbst unbewufster Unsinn.
Um es kurz zu sagen, es handelt sich um
eine Verflüchtigung der gesamten Faust-
dichtung, auch des ersten Teiles, in blofse
Abstraktionen und Allegorien, Auflösung tief-
innerst erlebter Poesie in Lettern, in ganz
nichtswürdige und verruchte Vokabeln,
Vokabeln mit denen zum g^ten Teile freilich
— leider Gottes I — die deutsche Jugend von
ihren grolsen Philosophen sich lange genug
hat verführen lassen. Wie drollig ist doch
z. B., wie das lebenstrotzende Gretchen von
dem Deutobold untergekriegt und als die
„Naivität" erkannt wird, die ihrer Mutter,
„dem Unbewufstsein*S die „drei Tropfen*
„I — c • h" eingiebt und sie dadurch tötet
Der „Verstand'^ (Faust) aber reicht diese
drei Tropfen (die Apperceplion !) dar!*) Bd. I,
S. 47, heifst es: „Die Gestalt (Gretchens) ist
so wundert)ar naturgetreu gezeichnet, dafs
sie an und für sich als ein konkretes Wesen,
als ein Bürgermädchen aufgefafst werden
könnte, und glebt es sicher noch heute
[sie] eine grolse Zahl dieser einfachen,
*) Neuerdings hat V. Hehn «Gedanken
über Goethe" (Berlin 1887) eine Studie über
Goethes „Gleichnisse" veröffentlicht; vgl. auch
Goethe -Jahrbnch VIH, 193. [Anm. d. Red.]
*) Welche Albernheit selbst in den
drei Tropfen, als ob das Wort drei hier
anders zu fassen wäre, als bei dem Italiener
wenn er einen kleinen Spaziergang mit due
passi, zwei Schritte, bezeichnet! Ganz abge*
sehen davon, dals das Ich nicht aus dreien,
sondern zweien Buchstaben (Tropfen) be-
steht, denn „ch*^ ist ein einfacher Laut
4M
liebenswürdigen £racheinungea in dar
deutschen Mädchenwelt. Auch nkhl mit der
leisesten Aadeutung im Weike wird Yer-
raten [um so bewvndemswerter die Schlai»-
hett Louvieral] dafe eine Allegorie uad
nichts weiter unser herriicIiBteB Interesse
uad lütleid ge&ngen hfth; keinerlei PUloso-
phie, kein dunkler Ausspruch verrät d«a
Bestreben des Dichters, stets etwas su ouüeni
was den Hintergrund verdecken uad sugleich
chirchscheinen lassen soll. — Und dennoch
ist der positive Beweis [NB!] tan Stande,
auch von dieser Figur sii seigen, da& sie
Allegorie ist und da6 eben die Naivität
sich hinter des Bilde verbirgt'* —
Was aber der „positive Beweis" sei, sagt ans
Herr Louvier sdber, S. 27, nämlich der „Ble-
ph a n t , der Alles niederstamplf Ich kann das
lediglich bestätigen ; es herrscht in der That aaf
jeder Seite dieses aeuscbolastischen Höllen-
breugbels eine zermahaende Gewalt des Bil-
dungs- Blödsinns, vor dem uns grauen nrafti
wie Greiehen vor Heinrich Faust.*)
Ein näheres Eingehen In dieses «Buch
Mormon**, dem wir äbrigens seiner vollendeten
Tollheit wegen begeisterte Anliänger in
sichere Aussicht stellen (vielleicht erleben
wir sogar noch die Ausbreitung dieses
neuesten Volapfik der Faustsprache und
eine damit zusammenhängende neue Religion),
nrikssen wir uns versagen, nicht blofs aus
Rücksicht auf die vorgedruckte Warnung,
*) Auch das hat Louvier Kopfzerbrechen
gemacht, warum Faust nicht Johann, wie
der historische wirklich hieis, sondern
Heinrich genannt wird. Es ist ja eine
Aufgabe för die «Goethe - Philologie*^;
[vgl. Goethe -Jahrbuch VIII, 331. Anm.d.Red.].
Louvier findet, Heinrich sei der an Hainen,
Wäldern reiche, da aber Wald in der von
Louvier entdeckten Faustsprache so viel
als Philosophie, so wird Faust, sobald
er philosophiert, Heinrich genannt O Fer-
dinand August!
dali aogar der KacMmck einzelner
RätseUtaugea strafrechtlich veribigt werden
soll. Wir dOrffceo also woU gar nicht ver-
raten, dal« die «Blondine** «der junge
Werther** ist? Das wtMe ans indes nicht
sdirecken, da es blois eine alberne Drohuag
gegen die Kritik i^.
Ich will viefaMhrsogar dies sagen : es finden
sich in all dem Wust Dhige, die.der Goethe-
forscher beachten darf. Dahin rechne ich
Bd. H, S. t66y den Nachweis der OkA Iniquity
bei Ben Jonson. Ob Louvier gerade «zum
ersten Mal** die Stelle erklärt, ist mir
zweifelhaft An altengliache Moralities zu
denken, lag nahe geavg und Döntzer wuiate
das z. B. auch. [Vgl. Goethe -Jahrbuch V, 9S0
Anm. d. Red.]
Möglich wohl, das Goethe mit den Pyg-
mäen, welche als Schätzen gegen die
Kraniche aufgeregt werden, wie Louvier
glaubt bewiesen zu haben, wirklich das
Resensentenvolk der Allgemeinen Jenaer
Litteraturzeitung, herausgegeben von Schätz,
hat bezeichnen wollen. So mag noch hie
und da im Wust ein brauchbares Körnlein
sich auffinden lassen.
Wir wissen Alle, dais der senile Goethe
durch all das krause Zeug, was er in den
zweiten und nachträglich sogar in den ersten
Teil seiner herrlichen Dichtung hinein geheim-
nifst, den Deutobolden einen Vorwand ge-
schaffen hat, aber das hat er nicht verdient,
dais ihm sein eigner törichter, poesiefeindlicher
Krtaukram von polemisch-invektivem Xenien-
Abfall seine lebensvollen Menschen aufifressen
sollte, die uns su allen Zeiten diesseits des
«Letternphantasmus** stehen werden.
Nach allem wfifste ich Aber unsem Sphinx
loquadssima nichts paislicheres zu sagen als
was Faust von der Hexe:
Was sagt sie uns f&r Unsinn vor?
Es wird mir gleich den Kopf zerbrechen.
Mich dünkt, ich hör* ehi ganzes Chor
Von hunderttausend Narren sprechen.
Moabit Xanthippua.
-•o#-
Druck von A. Hsack, Beilin MW., Dorothcswtr. 55.
Selbstverlag von Joseph Kürschner in Stuttgart
Soeben erschien und ist durch alle Buchhandlungen zu beziehen :
Zeitgemässl
R.ich9^Pd Höchst zeitgemässl
Wagner-Jahrbüch
von
Joseph Kürschner.
Inhalt.
Vorwort. Dr. Heinr. Bulthaupt: Zu Wagners
Gedächtnis. — Prof. Dr. Max Koch: Ziele
und Zwecke.
Biographisches. K. Fr. Glasenapp: Annalen
zur Familiengeschichte R. Wagners. (Mit
Orientierungsplan der Stadt Leipzig und einer
Abbildung des Geburtshauses Wagners.
Srinnerungen und Begeg^nungen. A. Löhn-
Siegel: K. Wagner auf der Nikolaischule zu
Leipzig. Dr. Joh. Nordmann: Eine Begeg-
nung mit R. Wagner in Dresden (1847).
Rieh. Pohl : Liszt's Besuch in Triebschen (1867).
Aug. Lesimple : Persönliches über R, Wagner
(1873/77). Mart. Plüddemann : Eine Geburts-
tagsfeier bei R. Wagner in Neapel (1880).
Stellung zu Kunst und Lieben. Dr. F'ritz
Koegel: Aesthetische Hinweise auf da;» Musik-
drama bei Batteaux, Sulzer, Wieland, Schel-
ling, Solger, Schleiermachcr. A. Ettlinger:
Die romantische Schule und R. Wagner.
Frhr. E. v. Wolzogen: Der Naturalismus in
der modernen Litteratur und R. W^agner.
Dr. Frhr. Heinr. von Stein: Die Darstellung
der Natur in den Werken R. W^agners.
Das Werk von Bayreuth. Karl Heckel : Die
Bühnenfestspiele in Bayreuth. Ein Beitrag
zu ihrer Entwickelangsgeschichte (1876). Dr.
Franz. Muncker: Eine unveröflfentlichte Rede
R. Wagners (1877).
Einzelne Werke. Dr. R. W^oerner : Eine deutsche
Komödie (Die Meistersinger). Dr. H. Wcltl :
Wagner und Lortzing (Die Meistersinger).
Dr. M.Wirth: Die König-Mark-Frage (Tristan).
Prof. Joseph Kürschner: R. Wagners Pariser
Berichterstattung (1840/41). Varianten zur
„Autobiographie".
Das Ausland. Dr. L. Schemann: R. W' agner
und das Ausland. Dr. Paul Marsop: Die
Aussichten der Wagnerschen Kunst in Frank-
reich.
Chronik und Miscellen. Das Vereinswesen.
Frhr. Paul v. Wolzogen: Der Allg. R. Wagner-
Verein. Die Lokalverdne und ürtsvertreter
des Allg. R. Wagner -Vereins. Bibliogra-
phie 1029 — 36 mit Nachbildungen von
Titeln etc.: 1885: Ausgaben von Werken
Wagners. Selbständige Schriften über W^agner
und seine Kimstrichtung, Zeitungsaufsätze,
Porträts, Kuriosa etc. Theatralische Auf-
führungen: Tabellarische Uebersicht der
seit dem Jahre 1842 (erste Auffuhrung des
Rienzi) bis 1885 aufgeführten Werke der Opern-
bühnen. (L 1842 — 45 und 1885.) Konzert-
Aufführungen: im Jahre 1885. Briefe Wag-
ners in den Jahren 1836 — 1840. Notizen ver-
schiedener Art. Register.
Mit einem Lichtdruck nach einem von Ernst Kietz gezeichneten Porträt Wagners.
Ausgabe auf einfachem Papier, grofs Oktav, ganz in Leinwand geb., elegante
Ausstattung, Kunstbeilage, Umfang 34 Bogen. Preis 10 Mark.
Prachtausgabe auf Büttenpapier, ganz in Kalbleder gebunden m. Goldpressung.
Nur 100 nummerierte Exemplare. Preis 20 Mark.
Verlag von August l
ii'
e r 1 i n.
Goethes x dujt
1X1 E
8^
ziarleixidL vLzidL .^zxierllca.
Bibliographische Zusammenstellung
von
W. Heinemann.
VII, 32 S. (Auf Schreibpapier.) Preis i M. 50 Pf.
Verlag von F. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erschien;
Gesammelte Werke
von
Moritz Carriere.
Neun Bände. 8. Geh. 76 M. Geb. (in 8 Bänden) 88 M.
Inhalt:
Aesthetik. Dritte Auflage. 2 Teile. — Die Poesie. Zweite Auflage. — Die Kunst
im Zussmmenhsng der Kulturentwicklung. Dritte Auflage. 5 Teile in 6 Bdn.
Die vorliegende Gesamtausgabe enthält Carriere's Schriften zur Philosophie des
Schönen und zur Geschichte der Kunst und bildet eine abgeschlos^sene Sammlung. Ein
Prospekt über dieselbe ist in allen Buchhandlungen gratis zu haben.
Verlag von Otto Wigand in Leipzig.
Geschichte
der
Einwirkungen der deutschen Litteratur
auf die Litteraturen
der übrigen europäischen Kulturvölker der Neuzeit.
Von Dr. F. H. Otto Weddigen.
8^ 2 M. 50 Pf.
Verlag von August Hettler in Berlin.
Soeben erschien vollständig:
Vierteljahrsschrift
für
Kultur und Litteratur
der
Renaissance.
Herau^egeben
von
Dr. Ludwig Geiger,
Professor an der Universität Berlin.
Erster Band (1886). — Preis 16 Mark.
In Ix alt-*)
Abhandlungen.
Studien zur Geschichte des französischen Humanismus. Von Ludwig Geiger. Nebst Nachtrag. —
Michelangelo betreffend. Von Hermann Grimm. — Die mittelenglischen Bearbeitungen der Er-
zählung Bocaccios von Ghismonda und Guiscardo. Von Julius Zupitza. — Der älteste römische
Musenalmanach. Von Ludwig Geiger. — Geistliches Schauspiel und kirchliche Kunst Von Karl
Meyer. — Das Epos der Renaissance. Von Karl Borinski. — Johannes Hadus -Hadelius. En
Beitrag zur Geschichte des Humanismus an der Ostsee. Von Gustav Bauch. — Isota Nogarola.
Von E. Abel.
Neue Mitteilungen.
Briefe des Guarino von Verona, mitgeteilt von Remigio Sabbadini. — Fünf Briefe Reuchlins, mit-
geteilt von Ludwig Geiger. — Analekten zur Geschichten des Humanismus in Südwestdeutschland,
mitgeteilt von Karl Hartfelder. — Neun Briefe von und an Jakob Wimpfeling, mitgeteilt von
Gustav Knod. — Lorenzo Vaila Über Thomas von Aquino. Von J. Vahlen. — Einige ungedruckte
Briefe und Verse von Antonio Panormita, mitgeteilt von A. Gaspary. — Ein Schwank des 15. Jahr-
hunderts, mitgeteilt von Johannes Bolte. — Hutteniana, mitgeteilt von Gustav Bauch.
Mijcellen.
Die Ashburnham-Handschrift des Dino Compagni. Von H. Bresslau. — Eine neue Handschrift von
Benedictus de'Accoltis Geschichte des ersten Kreuzzuges. Von Hermann Hagen. — Robert von
Anjon und die jüdische Litteratur. Von Moritz Steinschneider. — Bebel und Etterlin. Von
L. Geiger. — Ueber Huttens Charakter. Von Georg Ellinger. — Ein Dialog des Erasmus. Von
L. Geiger. — Eine Flugschrift des Jahres 1521. Von L. Geiger. — Zur Vita Geilleri des Beatus
Rhenanus. Von G. Knod. — Baidassar Castiglione. Von A. von Reumont — Zur Erklärung
einiger Stellen der Mutianischen' Briefe. Von C. Krause.
Rezensionen.
A. Horawitz: Erasmiana IL — Karl Steif: Der erste Buchdruck in Tübingen. — Neue Schriften
zur Geschichte des deutschen Humanismus. Besprochen von K. Geiger. — D. Reichling: Ortwin
Gralius; J. G. Liessem: Hermann von dem Busche. Besprochen von L. Geiger. — Karl Frey:
Die Loggia dei Lanzi in Florenz. Besprochen von S. Löwenfeld. — R. Sabbadini: Studi Ver-
giliani. Se Guarino Veronese abbia fatto una recensione di Catullo. Besprochen von K Abel.
— Leonis X. Pontificis maximi regesta etc. — F. X. Wegele: Geschichte der deutschen Historio-
graphie in Deutschland seit dem Auftreten des Humanismus. — Joseph Bayer: Aus Italien. —
A. Tilley: The literature of the french Renaissance. Besprochen von L. Geiger.
*) Die nicht unterzeichneten Artikel sind vom Herausgeber.
Anfang Oktober c
Vierteljahrs-f '»rift
für
Kultur und Litteratur
der
Renaissance.
Herausgegeben
von
Dr. Ludwig Geiger,
Professor an der Universität Berlin.
Zweiten Bandes erstes Heft.
«
Inhalt.
Abhandlungen.
Die Renaissance in Süditalien. Von Ludwig Geiger. — Thomas Morus und Machiavelli. Von
Georg Ellinger. — Giordano Bruno. Von Niccoladoni. — Die angeblichen Dialoge Petrarkas
über die wahre Weisheit. Von J. l'ebingcr. — Die deutsche Humanistenfamilie Reiffenstein.
Von Eduard Jacobs.
Neue Mitteilungen.
Eine Humanistentragödie. Mitgeteilt von Ludwig Geiger.
Miscellen.
Noch einmal über Huttens Charakter. Von Georg Ellinger. — Das Bild der Isola Nogarola.
Von Ludwig Geiger.
Rezensionen.
Neue wSchriften zur Geschichte des deutschen Humanismus. Boprochen von Ludwig Geiger.
Einzelpreis des Heftes 4 Mark.
Preis pro Band von 4 Heften 16 Mark.
Berlin S\V. 29, Gneisenaustras>e 112.
Augast Hettler.
Ende 1885 erschien:
Eine Bibliographie.
Nebst einem Verzeiehnis der Ausgaben sämtlieher Werke Sehillers
von
August Hettler.
gr. 80. IV, 57 S.
Freis 3 3w£slx]s.
Gegen Einsendung des Betrages erfolgt die Zusendung franko von der Verlagsbuchhandlung
Berlin 8. 14^ Kommandantenstrafse 43.
Waldemar Wellnitz,
Verlag von iVugust Hettler in Berlin
Grieehisehe Reise,
Blätter aus dem
Tagebuehe einer Reise in Griechenland und in der Türkei
von
Karl Krumbacher.
1886. 8«. XLVIII, 390 S.
Preis broch. 7 Mark.
In eleg. Halbfranzband 9 Mark.
Der Verfasser — Privatdocent für mittel- und neugriechische Philologie an der Universität
München — gibt in vorstehendem Werke eine Beschreibung seiner halbjährigen Reise durch
Griechenland und die Türkei. Neben bekannteren Reisestationen, wie Athen, Smyrna, Ephesus
Sardes, Pergamon, Konstantinopel etc. hat der Verfasser besucht und erfahren wir Neues über die
Inselreihe der Sporaden, nämlich Rhodos, Kalymnos, Leros, Patmos, Samos, Chios und Lesbos.
Gründlichste Kenntnis der neugriechischen Volkssprache befähigten den Verfasser, namentlich
über die genannte Inselreihe aus eigener Anschauung zu berichten, wodurch sich das Werk vor-
teilhaft vor ähnlichen früher erschienenen Reisebeschreibungen auszeichnet
Das Vorwort enthält eine orientierende Darstellung der politischen Verhältnisse Griechenlands
während für die gelehrten Leserkreise eine Besprechung der neugriechischen Sprachfrage mit völlig
neuen Gesichtspunkten gegeben ist.
Das Werk ist dem grofsen Philhellenen
Ludwig dem Ersten
König von Bayern '
zur Feier seines
Hundertsten Oebartstages
am 25. August 1886
gewidmet.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen. Auch gegen Einsendung des Betrages direkt von der
Verlagsbuchhandlung August Hettler,
Berlin SW. 29, Gneisenaustrafse nz.
I
In meinem Verlage erscheint im Laufe der nächsten Wochen
Heinrich der Löwe.
Schauspiel in fünf Akten
von
In eleganter Ansstattnng.
Mitteilung über Preis und Umfang erfolgt im nächsten Heft.
Berlin SW. 29.
August Hettler,
Verlagsbuchhandlung.
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