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Full text of "Zeitschrift für vergleichende Litteraturgeschichte"

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\ 


Zeitschrift 


Vergleichende  Litteraturgeschichte. 


Herausgegeben 

Dr,  Max  Koeh, 

ofesBor   an   der   Univeraitfit  Marburg).  H. 


ERSTER  BAND. 


BERLIN  1887 

DRUCK  UNO  VERLAG  VON  A.  HAACK 

NW.,  Dor<ilh«ii-StT»Mr5S, 


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INHALT. 


Abhandlungen.  «^^^ 

Zur  Einführung.     Von  Max  Koch i 

Das  Hdratsversprechen.     Von  Marcus  Landau 13 

Über  den  Refrain.     Von  Richard  M.Meyer 34 

Über  Goethes  Versuch,  zu  Anfang  unseres  Jahrhunderts    die  römischen   Komiker 
Plautus  und  Terenz  auf  der  weimarischen  Bühne  heimisch  zu  machen.    Von 

Otto  Francke 91 

Ästhetik,  Philologie  und  vergleichende  Litteraturgeschichte.    Von  Joseph  Kohler     117 
Die  ästhetische   Naturbeseelung    in    antiker   und    modemer    Poesie.     Von  Alfred 

Biese 135;  197;     407 

Ein  Problem  der  vergleichenden  Sagenkunde  und  Litteraturgeschichte.     Von  Karl 

Krumbacher 314 

Untersuchungen    zu    dem    mittelenglischen   Fabliau    ,|Dame  Siriz^*.     Von  Walther 

Eisner 231 

Germanische  Sagenmotive  im  Tristan-Roman.     Von  Gregor  Sarrazin    .     .     .     .     363  '' 
Vergleichende  Studien  zu  Heinrich  von  Kleist  L     Von  Richard  Weissenfeis    .     273 
Stoffwandlungen  in  chinesischer  Dichtung.    Von  Woldemar  Preiherrnv.  Bieder- 
mann   *. 395 

Uhlands  Beziehungen   zu   ausländischen  Litteraturen    nebst   Obersicht  der  neuesten 

Uhlandlitteratur.     Von  Hermann  Fischer 365 

Zwei  Kapitel  aus  der  Geschichte  der  Don  Juan-Sage.     Von  KarlEngel      .     .     .     393 

Neue  Mitteilungen. 

Die  Abenteuer  des  Guru  Paramdrtan.     Von  Hermann  Oesterley 4S 

Sechs  französische  Briefe  Gottscheds  an  Baculard  d*Amaud.   Von  Theodor  SQpfle  146 

Fabeln  und  Sagen  aus  dem  Innern  Afrikas.  Von  Robert  W.  Felkin  .  .  .  .  303 
Die  Episode  des  Gottesgerichts  in  „Tristan  und  Isolde**  unter  den  transsilvanischen 

Zeltzigeunem  und  Rumänen.     Von  Heinrich  von  Wlislocki 457 

Armenisches  und  Zigeunerisches  zu  „Barlaam  und  Josaphaf*.    Von  Heinrich  von 

Wlislocki 462 


Seite 

Vermischtes. 

Beiträge  zur  Litteratur  des  Volksliedes.     I.     Von  OttoBoeckel 73 

II.     Von  Alexander  v.  Weilen     .     .     .  319 
Hans  Sachsens  Fastnachtsspiel  von  dem  gestohlenen  Fachen  =  Boccaccio,  Decameron 

Vni,  6.     Von  Fritz  Neumann 161 

Ein  deutsches  Urteil  über  Dante  aus  dem  17.  Jahrhundert.    Von  Johannes  Bolte  164 
Der  Verfasser  des  deutschen  Volksbuches  von  den  Heymonskindem.    Von  Friedrich 

Pfaff 167 

Nachtrag  zum  ,Heirathsversprechen*.     Von  W.  L.  Holland  .  170 
Der  Blankvers   Shakespeares    im    Drama    Lessings,    Goethes    und    Schillers.     Von 

Hermann  Henkel 321 

Ein  Franzose  als  Originalverfasser  eines  deutschen  Theaterstückes.    Von  Theodor 

Süpfle 327 

Nachricht  über  drei  höchst  seltene  Faustbücher.     Von  KarlEngel 329 

Eine  vernachlässigte  Aufgabe  der  Litteraturgeschichte.     Von  Marcus  Landau      .  470 

Theodor  Aubanel,  1829— 1886.     Von  Pol  de  Mont  .     .     - 473 

Beaunoir  und  Reichards  Theaterkalender,     Von  Berthold  Litzmann      .     .     .     .  477 


Besprechungen. 

L.  Proescholdt:     Milton  and  Vondel,  by  Gg.  Edmundson 81 

K.  v.  Reinhardstoettner:     Macropedius,  von  E.  Jacoby 84 

M.  Koch:     Amor  und  Psyche  in  der  französischen  Litteratur,  von  A.  Reimar.n  .     .  85 

J.  Stosch:     Der  Weinschwelg,  übersetzt  von  K.  Lucae 85 

O.  Boeckel:     Lieder  des  Giovanni  Meli,  übersetzt  von  F.  Gregorovius    ....  86 

K.  Engel:     Goethes  Faust  in  England  und  Amerika,  von  W.  Heinemann      .     .  87 

M.  Koch:     Bibliographie  of  Marlowes  Faust,  by  W.  Heinemann 88 

W.  Creizenach:     Mountfords  Faustfarce,  von  O.  Francke  ...          ....  88 

A.  Luber:     Spanische  Neudrucke,  von  k.  v.  Reinhardstoettner 90 

Fr.  Koegel:     Das  Weltalter  des  Geistes,  von  M.  Carriere 171 

H.  Bulthaupt:     Theorie  des  Aristoteles  und  die  Tragödie,  von  A.  Dehlen  .     .     .  173 

H.  Welti:     Die  galante  Lyrik,  von  M.  v.  Waldberg 174 

F.  Muncker:     Petrarka  in  der  deutschen  Litteratur,  von  W.  Söderhjelm  .     .     .     .  177 

W.  Wetz:     Calderons  Dramen  aus  der  spanischen  Geschichte,  von  E.Günther.     .  178 

K.  J.  Schröer:     Goethe,  von  H.  Baumgartner 182 

M.  Koch:     Neue  Goetheforschungen,  von  W.  v.  Biedermann                   188 

H.  Lambel:     Alkeste  in  der  modernen  Litteratur,  von  Gg.  EUinger 191 

J.  Hanusz:     Armenische  Bibliothek,  übersetzt  von  A.  Leist 194 

K.  Krumbacher:     Digenis  Akritas,  übersetzt  von  A.  Luber 195 

Job.  Meyer:      Geschichte    des    deutschen    Kultureinflusses    auf   Frankreich,    von 

Th.  Süpfle.    I.  Teil 334 

K.  Weyman:  Komik  und  Humor  bei  Horaz,  von  Th.  Oesterlen.  I.  und  ü.  Teil  339 
O.  Francke:     Die  klassischen  Schriftsteller  des  Altertums  in  ihrem  Einflüsse  auf 

die  späteren  Litteraturen,  von  K.  von  Reinhardstoettner.     L,  Plautus.  .     .     .  342 

H.  Holstein:     Plautuserneuerungen,  von  O.  Günther 347 

.Marcus  Landau:     Romanisches  und  Keltisches,  von  Hugo  Schuchardt    ....  348 


Seite 
W.  Golther:     Alexandre  le   Grand   dans   la   litt^ature   fran^aise  du  moyen   äge, 

von  Paul  Meyer 351 

F.  Vogt:     Quellenschriften  zur  neueren  deutschen  Litteratur,  I.  Heft,  von  A.  Bieling  354 

W.  Kirchbach:     Lord  Byron,  von  K.  Elze 355 

M.  Koch:     Wencel  Scherffer  von  Scherfifenstein,  von  Paul  Drechsler 359 

R.  Steiner:     Goethes  philosophische  Entwickelung,  von  E.  Melzer  ...  359 

R.  Weissenfeis:     Romantik  und  germanische  Philologie^  von  Fr.  Pfaff  .     .  360 

R.  Dvofäk:     Die  Muse  in  Teheran,  Obersetzungen  von  H.  Brugsch     ....  362 

W.  Wollner:     Der  Bergkranz,  von  J.  Kirste 363 

K.  Sittl:     Geschichte  der  griechischen  Litteratur,  von  Ferdinand  Bender.  478 

Th.  Süpfle:     Geschichte  der  französischen  Litteratur«  von  G.  Bornhack    .     .     .     .  480 
Rieh.  M.  Meyer:     Die  Poetik  der  Renaissance  und  die  Anfänge  der  litterarischen 

Kritik  in  Deutschland,  von  K.  Borinski 482 

A.  Luber:     Robinson  in  Österreich,  von  H.  F.  Wagner 483 

F.  Bobertag:    Die  Anfänge  der  ernsten  bQrgerlichen  Dichtung  des  18.  Jahrhunderts, 

von  W.  Wetz.     I.  Teil 484 

H.  W(elti:     Über    das   Sonett   und   seine  Gestaltung  in  der   englischen   Dichtung, 

von  K.  Lentzner 486 

A  critical  introduction  on  the  sonnet,  by  W.  Sharp 488 

Hugo  BlQmner:     Lessings  Laokoon    und   die  Gesetze  der   bildenden  Kunst,   von 

Heinrich  Fischer 488 

F.  Muncker:     Das  Goethesche  Gleichnis,  von  Hermann  Henkel 496 

Xanthippus:     Goethes  Faust,  von  A.  F.  Louvier 497 


/ 
I 


Die  unterzeichnete  Verlagsbuchhandlung  gedenkt  eine 

Zeitschrift 


'g@S< 


Dr.  Max  Koch, 

Professor  an  der  UDUeriität  Harbaig  i.  H. 

erscheinen  zu  lassen,  deren  erstes  Heft  bereits  im  August  d.  J.  ausgegeben 
werden  wird. 

Obwohl  die  Zeitschrift  einen  streng  wissenschaftlichen  Charakter  tragen 
soll,  glaubt  die  Verlagabuchhandlung  doch  die  Aufmerksamkeit  weiterer  Kreise 
für  das  neue  unternehmen  in  Ansprach  uehmen  zu  dflrfen. 

Es  ist  eine  leider  unleugbare  Tbatsache,  dass,  während  einerseits  das 
Studium  der  Litteraturgeschicbte  in  den  Fachkreisen  immer  eifriger  und  von 
einer  wachsenden  Zahl  betrieben  wird,  andrerseits  die  weiteren  gebildeten 
Kreise  der  Nation  diesen  Studien,  besonders  soweit  sie  sich  auf  die  Geschichte 
der  deutschen  Litteratur  beziehen,  nichts  weniger  als  förderndes  Wohlwollen 
eul^egenhringen.  Mit  dem  Vorwurfe  des  Alexandrinertums  fertigt  man  nui 
allzugeme  die  ernsteren  Bestrebungen  für  eine  historische  Erkenntnis  der 
vaterländischen  Litteratur  ab,  und  wenn  auch  gewiss  manche  ältere  wie  neuere 
Erscheinung  diesem  Vorwurfe  nur  allzu  gegründete  Berechtigung  verleiht,  zum 
grosseren  Teile  muss  er  als  Vorurteil,  als  ein  aus  Unkenntnis  und  Miss- 
verständnis herroi^ehendes  Vorurteil  bezeichnet  werden.  G-oethe  selbst  hat 
bereits  nicht  nur  die  Notwendigkeit  auch  die  neueren  Dichter  wie  die 
geliebten  Alten  mit  kommentierenden  Noten  zu  versehen  hervorgehoben,  sondern 
auch  mit  Nachdruck  betont,  dass  unser  Streben  nunmehr  nach  und  nach 
darauf  hinausgehen  mflsse,  eine  Geschichte  unserer  Poesie  und  poetischen 
Kultur  herzustellen.  Wie  viel  des  Bedeutenden  und  Vortrefflichen  aber  auf 
diesem  Qebiete  auch,  seit  Goethe  die  Forderung  aufstellte,  geleistet  worden 
ist,  gerade  die  eindringendsten  Studien  zeigen,  wieviel  noch  für  eine  historische 
Erkenntnis  der  Litteraturgeschichte  zu  thun  übrig  ist,  wie  sie  auch  zeigen, 
welch  hohe  Bedeutung  der  Litteraturgeschicbte  im  Kreise  der  gesamt- 
geschichÜiehen  Studien  zukommt 


Die  Zeitschrift  für  vergleichende  Litteraturgeschichte 
strebt  darnach,  auch  bei  streng  philologischer  Betrachtung  der  einzelnen  und 
kleinsten  Erscheinungen  doch  stets  den  grossen  Zusammenhang  der  ganzen  Ent- 
wickelung  im  Auge  zu  behalten.  Sie  will,  wie  schon  ihr  Name  sagt,  die 
Entwicklung  der  Ideen  und  Formen,  die  stets  sich  erneuernde  Umgestaltung  der 
gleichen  oder  verwandten  Stoffe  in  den  verschiedenen  Litteraturen  älterer  wie 
neuerer  Zeit  verfolgen;  den  Einfluss  der  einen  Litterätur  auf  die  andere  in  ihren 
Wechselbeziehungen  aufzudecken  suchen.  Der  innige  Zusammenhang  zwischen 
politischer  und  Litteraturgeschichte,  der  vielleicht  meist  nicht  nach  seiner 
ganzen  Tragweite  berücksichtigt  wird,  soll  in  der  Zeitschrift  für  vergleichende 
Litteraturgeschichte  besondere  Beachtung  finden,  ebenso  der  Zusammenhang 
zwischen  der  Litterätur-  und  Kunstgeschichte,  zwischen  der  litterarischen  und 
philosophischen  Entwickelung  u.  s.  w.  Die  von  den  Deutschen  ausgebildete 
Uebersetzungskunst  älterer  wie  neuester  Zeit  soll  besonders  eingehende 
Würdigung  erfahren.  '  Ist  doch  durch  die  Meisterthaten  unserer  grossen 
Uebersetzer  in  Goethe  die  Idee  einer  Weltlitteratur  in  deutscher  Sprache 
angeregt  worden;  die  Betrachtung  der  Weltlitteratur  aber  ist  eben  vergleichende 
Litteraturgeschichte.  Endlich  möchte  die  Zeitschrift  für  vergleichende 
Litteraturgeschichte  noch  zur  Lösung  einer  uns  obliegenden  Aufgabe  beson- 
ders beitragen.  Die  ersten  Anregungen  zu  einer  vergleichenden  üebersicht  der 
Volkslieder  aller  Zeiten  und  Völker  sind  von  Deutschland,  von  Herder  ausgegangen. 
Die  Brüder  Grimm  verglichen  Märchen  alte  Sitten  und  Gebräuche  der  ger- 
manischen Völker.  Theodor  Benfey  stellte  Muster  und  Regel  der  Untersuchung 
über  die  Wanderungen  alter  volkstümlicher  Märchen  und  Sagen  auf,  Karl 
Goedeke  schloss  sich  ihm  an.  Seitdem  hat  sich  hierfür  eine  eigene  Wissen- 
schaft, Folklore,  für  diese  Studien  ausgebildet.  In  den  meisten  europäischen 
Ländern,  in  England,  Frankreich,  Italien,  Spanien,  Portugal,  Schweden,  Däne- 
mark, Holland,  Griechenland  besteben  Vereine  oder  Zeitschriften  für  Folklore- 
Studien.  Deutschland,  von  dem  die  Anregung  für  diese  Studien  ausgegangen, 
hat,  seit  J.  W.  Wolf  und  Mannhardt  zurückgetreten  sind,  keinen  Mittelpunkt 
für  diese  Studien  gleich  den  anderen  Ländern.  Die  Zeitschrift  für  ver- 
gleichende Litteraturgeschichte  wird  es  als  einen  Hauptteil  ihrer 
Aufgabe  betrachten,  diesen  Studien  eine  feste  Stätte  zu  bieten. 

Wir  glauben  so  denmach  wohl  berechtigt  zu  sein,  die  Teilnahme  auch 
weiterer  gebildeter  Kreise  fdr  unser  neues  Unternehmen,  dessen  Plan  bei  den 
berufendsten  Bichtem  freudige  Zustimmung  gefunden  hat,  in  Anspruch  zu 
nehmen.  Aus  der  grossen  Zahl  derjenigen,  welche  bereits  ihre  thätige  Mit- 
wirkung zugesagt  haben,  nennen  wir  nur: 

F.  Antoine,  F.  Avenarius,  J.  Baechtold,  G.  Baist,  E.  Bech- 
stein,  A.  Bettelheim,  A.  Biese,  Th.  Birt,  F.  Bobertag,  0. 
Boeckel,R.  Boyle,H.  Breymann,H.  Bultliaupt,  M.  Carriere, 
W.V.Christ,  H.  Cohen,  W.  Creizenach,  F.  Dahn,  N.  Delius, 

G.  Ellinger,  R.  Felkin,  Kuno  Fischer,  0.  Francke,  L. 
Geiger,  G.  Groeber,  G.Hauff,  W.  Heinemann,  C.Herford, 
W.  Hertz,  C.  Hofmann,  L.  Holland,  H.  Holstein,  C.  Hum- 
bert, W.  Kirchbach,  F.  Koegel,  R.  Koehler,  E.  Koelbing, 
G.  Koennecke,  G.  Koerting,  H.  Koerting,  J.  Kohler, 
K.  Krumbacher,  J.   Kürschner,    H.   Lambel,   M.   Landau, 


« •      •   *     •    • 
•  •       •  •      •  •  • 

••       •  •      •  •  • 


E.  Lichtenberger,  R.  Freiherr  v.  Liiienkron,  B.  Litzmann, 
A.  Luber,  K.  Lucae,  W.  Mangold,  E.  M.  Meyer,  F.  Michel, 
E.  Mogk,  F.  Muncker,  H.  Oesterley,  Fr.  Pfaff,  J.  Poestion, 
C.  V.  Reinhardstoettner,  W.  H.  Eosenstengel,  G.Sarrazin, 
A.  Sauer,  A.  Fr.  Graf  v.  Schack,  J.  Schipper,  F.  Schnorr 
V.  Carolsfeld,  A.  Schönbach,  A.  Schöne,  A.  Schröer,  K  J. 
Schröer,  J.  Stosch,  TB.  Süpfle,  L.  v.  Sybel,  V.Valentin,  W. 
Vietor,  Fr.  Th.  Vischer,  Fr.  Vogt,  C.  Vollmoeller,  J.  E. 
Wackernell,  A.  Wagner,  M.  Freiherr  v.  Waldberg,  A.  v. 
Weilen,  R.  Weltrich,  R.  M.  Werner,  W.  Wetz,  E.  Zarncke, 
J.  Zupitza. 

Der  Inhalt  der  Zeitschrift  wird  sich  in  vier  Abteilungen  gliedern: 

L  Grössere  selbständige  Abhandlungen. 

II.  Neue  Mitteilungen,  üngedruckte  oder  noch  nicht  übersetzte  Texte, 
die  durch  ihren  Inhalt  und  ihre  internationale  Verbreitung  in  der  Litteratur- 
geschichte  eine  hervorragende  Stellung  einnehmen,  ungedruckte  Briefe  u.  s.  w. 
jedoch  mit  strenger  Auswahl  in  Anerkennung  des  so  vielfach  erhobenen 
Vorwurfs  gegen  die  in  der  Gegenwart  beliebte  Drucklegung  auch  unbe- 
deutender und  inhaltsleerer  Dokumente. 

III.  Vermischtes;  kleinere  Beiträge,  einzelne  Bemerkungen  u.  s.  w. 

IV.  Besprechungen.  Auch  in  dem  kritischen  Teile  soll  strenge  Auswahl 
geübt  werden.  Wie  die  Aufforderung  zum  Mitwirken  olme  jede  Berück- 
sichtigung der  Parteistellung  ergangen  ist,  so  wird  auch  die  Zeitschrift 

•  selbst  sich  von  dem  Einflüsse  jeder  Schule  und  Partei  auf  das  Gewissen- 
hafteste freierhalten.  Und  wir  glauben  dem  in  unserer  Litteratur  herrschen- 
den Parteiwesen  gegenüber  gerade  durch  die  strengste  Unabhängigkeit  den 
litterarischen  Studien  und  der  Litteratur  selbst  einen  Dienst  zu  erweisen. 

Wenn  wir  schliesslich  der  Hoffnung  Ausdruck  geben,  dass  die  grössere 
Verbreitung  litterarhistorischer  Kenntnisse  in  weiteren  Kreisen  auch  auf  'das 
Urteil  über  die  neuesten  litterarischen  Erscheinungen  der  Gegenwart  und  so- 
mit auf  die  neuere  Litteratur  selbst  von  günstigem  Einflüsse  sein  werde,  so 
nehmen  wir  damit  für  unsere  Zeitschrift  nur  die  Aufgabe  in  Anspruch, 
welcher  jede  historische  Forschung,  welcher  Art  sie  auch  sei,  zu  dienen  be- 
rufen ist:  durch  Erkenntnis  der  Vergangenheit  die  Gegenwart  und  die  in 
ihr  wirkenden  Kräfte  verstehen  und  die  berechtigten  Bestrebungen  der  Gegenwart 
fördern  zu  helfen. 


Die  Ausgabe  der  Zeitschrift  erfolgt  in  Bänden  von  je  sechs  Heften, 
im  Umfange  von  30  bis  36  Bogen  im  Format  dieses  Prospektes. 

Der  Preis  des  Bandes  (Jahrganges)  beträgt  14  Mark. 
Berlin  SW.  29,  im  Juli  1886. 

Gneisenaustrasse  112. 

Verlagsbuchhaiidlung  Aupst  Hettler. 

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Bei  der  Buchhandlung 

bestelle  ich  hiermit 

Zeitschrift  für  vergleichende  Litteraturgeschichte, 

herausgegeben  von  Prof.  Dr.  Max  Koch.  I.  Jahrgang. 
Heft  1  und  folgende.  Preis  pro  Jahrgang  14  Mark. 
Verlag  von  August  Hettler  in  Bejlin  SW.  29,  Gneisenau- 
strasse  112. 


Ort: 


Name: 


Druck  von  Fr.  Bartholomäus  in  Erfurt. 


Zur  Einführung. 


Von  der  deutschen  Litteratui^eschichte  könnte  man  sagen,  sie  sei  bereits 
in  ihren  Anfängen  als  vergleichende  Litteratui^eschichte  hervoi^etreten. 
Denn  war  es  zum  gröfsten  Teile  auch  nur  durch  die  polyhistorische 
Richtung  aller  Gelehrsamkeit  im  17,  Jahrhundert  veranlagst,  dafs  Daniel  Geoi^ 
Morhof  1682  seinem  Unterrichte  „von  der  teutschen  Poeterey  Ursprung  und 
For^ng"  fünf  Kapitel  „von  dem  Aufnehmen  der  reimenden  Poeterey  bey 
frembden  Völkern"  voranstellte,  nachdem  er  höchst  abenteuerliche  Sprachver- 
gleichungen des  Griechischen,  Lateinischen  und  Deutschen  getrieben  hatte :  so  war 
doch  dem  Vater  der  deutschen  Litteraturgeschichte  auch  das  Bewusstsein  von 
der  Bedeutung  eines  vergleichenden  Ueberblickes  über  die  verschiedenen 
Litteraturen  nicht  fremd.  Er  wirft  die  Frage  auf  „warumb  wir  von  der  auss- 
ländischen  Poesie  zuerst  handeln"  und  beantwortet  sie  mit  der  Erklärung: 
.Allhier  wollen  wir  von  dem  Ursprung  und  Fortgang  der  teutschen  Poeterey 
handeln,  und  damit  solches  desto  gründlicher  geschehen  könne, 
wollen  wir  vorher  der  ausländischen  Völker,  als  der  Franzosen,  Italiener, 
Hispanier  und  dann  auch  der  Engelländer  und  Niederländer  reimende  Poeterey 
anfiihren,  umb  zu  sehen,  ob  etwa  bey  ihnen  dieselbe  eher  als  bey  den  Teut- 
schen entsprungen,  zumahl,  da  fast  unter  allen  denselben,  einige  sich  finden, 
welche  den  Vorzug  ihnen  anmassen."  Morhof  ist  der  Zeitgenosse  des  grossen 
Denkers,  der  die  wüste  Polyhistorie  des  Zeitalters  in  eine  allumfassende  wissen- 
schaftliche Erkenntnis  erfolgreich  umzuwandeln  strebte.  Leibniz,  der  selbst  in 
drei  Sprachen  thätig  war,  gab  an  verschiedenen  Stellen  seiner  Werke  bedeut- 
same Winke  fiir  ein  Studium  der  Litteraturgeschichte,  das  bei  ihm,  der  in 
Ideen  von  der  Einheit  und  Zusammengehörigkeit  der  christlichen  Völker  lebte, 
nur  ein  alle  europäischen  Litteraturen  umspannendes,  vergleichendes  sein  konnte. 

Zuchr.  [.  vgl.  L[ll.-Guch.  1.  l 


Max  Koch. 


Das  1 8.  Jahrhundert,  obwohl  mehr  aesthetisch  als  historisch  urteilend  und 
vergleichend,  wufste  doch  aus  dem  theoretischen  Studium  der  vergleichenden 
Litteraturgeschischte  unmittelbaren  praktischen  Nutzen  zu  ziehen.  Wenn  Gott- 
sched 1730  von  dem  Studium  der  antiken  Litteratur  eine  Erneuerung  der 
vaterländischen  erhoffte,  der  gröfseren  Leichtigkeit  halber  jedoch  statt  der 
griechisch-römischen  Originale  ihre  französischen  Nachahmungen  zum  Studium 
und  zur  neuen  Nachahmung  empfahl,  so  that  er  ungefähr  dasselbe,  was  hundert 
Jahre  früher  Opitz  und  andere  gethan  hatten.  Allein  ein  Vergleich  zwischen 
den  französischen  und  deutschen  Bühnenstücken  führte  zu  einer  tiefgreifenden 
Umgestaltung  des  deutschen  Theaters.  Und  diese  Gottsched'schen  Bestrebungen 
riefen,  ebenfalls  wieder  nach  französischem  und  italienischem  Vorgange,  die 
ersten  Versuche  einer  vergleichenden  Geschichte  des  europäischen  Dramas 
hervor.  Denn  als  solche  Versuche  müssen  die  „Beiträge  zur  Historie  und  Auf- 
nahme des  Theaters",  welche  der  junge  Lessing  1750  herausgab  und  1754  als 
„theatralische  Bibliothek"  fortsetzte,  bezeichnet  werden.  Die  aus  dem  Oktober 
1749  datierte  Vorrede  ist  die  erste  in  Deutschland  erschienene  Abhandlung*) 
über  Wesen,  Aufgabe  und  Nutzen  vergleichender  Litteraturgeschichte.  Wenn 
Lessing  sagte:  „bei  diesen  historischen  Beiträgen  wollen  wir  namentlich  auf  das 
deutsche  Theater  sehen",  so  bewies  er  achtzehn  Jahre  später  mit  der  Hambur- 
gischen Dramaturgie  thatsächlich,  welchen  Nutzen  diese  Studien  dem  deutschen 
Theater  zu  bringen  berufen  seien.  Durch  die  Vergleichung  des  französischen 
mit  dem  hellenischen,  spanischen,  italienischen  und  englisch -Elisabethanischen 
Drama  hat  Lessing  das  deutsche  Theater  von  dem  drückenden  Joche  befreit, 
einer  neuen  Entwicklung  des  deutschen  Dramas  freie  Bahn  gewiesen.  Lessings 
ästhetische  Jugendarbeiten  über  das  Drama  der  verschiedenen  Völker  nahm 
dann  später  August  Wilhelm  Schlegel  als  Historiker  wieder  auf  und  gab  1808 
eine,  trotz  mancher  einseitig  parteilicher  Urteile  vortreffliche  vergleichende 
Geschichte  des  Dramas  in  seinen  „Vorlesungen  über  dramatische  Kunst  und 
Litteratur". 

Wenn  der  Romantiker  August  Wilhelm  Schlegel  fiir  seine  dramatischen 
Studien  auf  Lessing  als  seinen  Vorgänger  hinblicken  mufste,  die  entscheidende 
Anregung  zu  einem  vergleichenden  Studium  aller  Litteraturen  hat  er,  haben 
alle  Romantiker  wie  die  von  der  Romantik  ausgehenden  strengen  Forscher 
von  Herder  empfangen.  Wie  die  römische  Litteratur,  so  hat  sich  auch  keine 
der  ihr  in  Europa  folgenden  selbständig  auf  ausschliefslich  nationaler  Grundlage 
entwickelt.  Schon  das  aus  der  römisch-byzantinischen  Welt  den  anderen  Völ- 
kern überkommene  Christentum  führte  der  einheimischen  Poesie,  den  Litteratur- 
anfängen  jeden  Volkes  mehr  oder  minder  wirkungsreiche  Elemente  der  antiken 
Kultur   und  Litteratur   zu.    Virgilius   bürgerte   sich  als  christlicher  Poet  ein; 


*)  Dafc  Plan  und  Vorrede  der  Beiträge  von  Lessing  selbst,   nicht  von  dem  älteren  Mylius 
herstammen,  hebt  Lessing  selbst  in  der  Vorrede  zur  theatralischen  Bibliothek  hervor. 


Zar  EinfUhrang.  3 


deutsche  Mönche  erzahlten  in  ihm  entlehnten  Hexametern  heidnisch-germanische 
Heldensage.  Die  Sage  von  dem  Kriege,  „der  um  den  Raub  der  schönsten  Frau 
zu  rächen"  die  Achajer  um  Trojas  Mauern  versammelte,  ist  ebenso  wie  die 
Kunde  von  Alexandri  Magni  Heldenfahrten  dem  ganzen  Mittelalter  wohl  bekannt 
gewesen;  französische,  deutsche,  spanische,  slavische  Dichter  haben  in  kurzen 
Reimpaaren  den  einst  in  Homerischen  Hexametern,  in  Curtius'  Prosa  vorgetra- 
genen Stoff  besungen.  Und  wenn  schon  im  Mittelalter  die  antiken  Elemente 
einen  unentbehrlichen  Bestandteil  der  europäischen  Poesie  bildeten,  welche 
Wichtigkeit  mufsten  sie  seit  den  Tagen  der  Renaissance  erlangen!*)  Hatte 
das  Mittelalter  eine  internationale  lateinische  Litteratur  ausgebildet,  so  wurden 
nun  für  alle  Völker  dieselben  unantastbaren  Muster  in  lateinischer  und  bald  auch 
vereinzeint  in  hellenischer  Sprache  aufgestellt  Zugleich  aber  wurde  die  Litteratiu- 
auch  eine  Macht  im  politischen  Leben,  wie  das  Mittelalter  sie  nicht  gekannt 
hatte.  Die  Renaissancelitteratur,  sowohl  die  lateinische  wie  die  in  den  einzelnen 
Landessprachen  entstehende  läfst  bei  aller  Verschiedenheit  ihre  Zusammen- 
gehörigkeit erkennen.  Wie  ihre  einzelnen  Werke  von  einander  abhängig  sind, 
so  lassen  sie  sich  eben  auch  nur  vom  Standpunkte  der  vergleichenden  Litteratur- 
geschichte  aus  erfassen.  Der  Petrarkismus  hat  seine  Geschichte  in  der  eng- 
lischen Poesie,  das  Drama  Lope  de  Vegas  und  Shakespeares  entwickelt  sich 
im  bewufsten  Gegensatze  zu  den  als  Muster  angepriesenen  Tragödien  Senekas, 
nach  denen,  schon  lange  vor  Corneille,  Jodelle  das  französische  Drama,  wie 
seine  Freunde  nach  andern  antiken  Mustern  die  ganze  französische  Litteratur 
zu  regeln  wissen.  Hans  Sachs  und  Shakespeare  entlehnen  ihre  Dramenstoffe 
den  Novellen  des  Dekamerone,  die  Boccaccio  selbst  aus  uralten  Motiven  neu- 
gestaltet hat.  Die  Kunstlehre,  die  Poetik,  welche  sich  in  der  Renaissance  ent- 
wickelt, läfst  sich  in  ihrer  Ausbildung  niu*  wenn  man  den  Blick  vergleichend 
auf  die  antiken  Lehrbücher  und  ihre  Auffassung  bei  den  verschiedenen  Völkern 
richtet,  verstehen.**)  Die  Uebersetzungslitteratur,  welche  den  Einflufs  der  einen 
Litteratur  auf  die  andere  in  augenfälligster  Weise  darstellt,  gewinnt,  nachdem 
sie  schon  im  Mittelalter  eine  wichtige  Rolle  gespielt,  seit  den  Tagen  der  Re- 
naissance eine  immer  wachsende  Ausdehnung  und  Bedeutung. 

Auch  die  deutsche  Litteratur  in  der  ersten  Hälfte  des  i8.  Jahrhunderts 
zeigt  noch  die  wesentlichen  Merkmale  der  Renaissancelitteratur.  Nach  römischer 
Schablone  suchte  man  die  verschiedenen  Fächer  auszufüllen,  deutsche  Horaze, 
Martiale,  Juvenale,  Homere,  Theokrite,  Tyrtaeos  u.  s.  w.  zu  küren.  Herder 
war  es,   der  1767  in  seiner  grofsen  Jugendarbeit  „Fragmente  über  die  neuere 


♦)  C.  L.  Cholevius,  Geschichte  der  deutschen  Poesie  nach  ihren  antiken  Elementen 
Leipzig  1854  und  1856. 

*•)  K.  Borinski,  die  Poetik  der  Renaissance  und  die  Anfänge  der  litterarischen  Kritik  in 
Deutschland.    Berlin  1886. 

1* 


4  Max  Koch. 


deutsche  Litteratur**  diesen  kindischen  Vergleichungen  entschieden  gegenüber- 
trat, als  Kritiker  und  Historiker  wirklich  vergleichende  Litteraturgeschichte 
übend.  Es  bildet  eine  Parallele  zu  Lessings  Bemühungen  in  der  Hamburgischen 
Dramaturgie,  wenn  Herder  dem  übermäfsigen  Einflüsse  der  unselbständigen 
römischen  Litteratur  gegenüber  die  originale  griechische  Litteratur  ihr  und  der 
deutschen  entgegenstellt  Hatte  einst  in  den  der  Reformation  vorangehenden 
Jahren  Reuchlin  das  Studium  der  hebräischen  Sprache  in  die  Wissenschaft  ein- 
geführt, so  suchte  Herder  bereits  in  seiner  Erstlingsschrift  durch  Betrachtung  der 
hebräischen  und  morgenländischen  Poesie  den  Gesichtskreis  der  Vergleichung 
überhaupt  zu  erweitem.  Er  stellte  nun  Johann  Andreas  Cramer  David,  Bodmer 
und  Klopstock  Homer,  Gleim  Anakreon,  die  Karschin  der  Sappho  wirklich 
zur  Seite,  um  durch  diese  Gegenüberstellung  das  Törichte  der  bisherigen  Ver- 
gleichung vor  Augen  zu  führen.  Er  zuerst  zeigte  die  Litteratiu-  im  ganzen  wie 
jede  einzelne  litterarische  Erscheinung  als  im  innigsten  Zusammenhange  stehend 
mit  der  Natur  und  Beschaffenheit  der  Sprache,  den  örtlichen  Verhältnissen,  der 
politischen,  socialen  Entwickelung  eines  Volkes;  er  lehrte  die  Litteratur  als 
Aeufserung  des  Volksgeistes  selbst  verstehen.  Indem  er  die  bisherigen  Ver- 
gleichimgen  lächerlich  machte,  that  sich  ein  ganz  anderer  höherer  Standpunkt 
für  die  vergleichende  Litteratiu-geschichte  auf,  nachdem  eben  Lessings  Laokoon 
Verhältnis  und  gegenseitige  Einwirkur^en  der  redenden  und  bildenden  Künste  in 
vergleichenden  Untersuchungen  festgestellt  hatte.  Den  drei  grofsen  Fragment- 
sammlungen seiner  Jugend,  welche  mittels  Hilfe  der  vergleichenden  Litteratur- 
geschichte einen  neuen,  richtigeren  Standpunkt  für  die  Beurteilung  der  deutschen 
Litteratur  zu  finden  suchten  und  fanden,  liefs  Herder  in  späteren  Jahren  noch 
eine  Reihe  von  Abhandlungen  folgen,  welche  die  in  dem  Jugendwerke  zuerst 
gewonnenen  Anschauungen  über  Litteratur  und  ihren  Zusammenhang  mit  dem 
ganzen  Leben  der  Völker  weiter  ausführten,  begründeten  und  ergänzten.  Von 
ihnen  seien  nur  die  beiden  Preisschriften  „Ursachen  des  gesunkenen  Geschmacks 
bei  den  verschiedenen  Völkern,  da  er  geblühet"  (1775)  und  „vom  Einflufs  der 
Regierung  auf  die  Wissenschaften  und  der  Wissenschaften  auf  die  Regierung** 
(1780)  hier  erwähnt 

Eben  Herder  aber  war  es  auch  vorbehalten,  der  vergleichenden  Litteratur- 
geschichte eines  der  weitesten  und  fruchtbarsten  Gebiete  als  der  erste  zu  er- 
öflFnen.  Hatte  Bischof  Percy  1765  mit  seinen  Reliques  of  ancient  English 
Poetry  das  englisch-schottische  Volkslied  den  litterarisch  Gebildeten  seiner  Zeit 
bekannt  gemacht,  so  fafste  Herder  die  Volkspoesie  in  ihrer  weder  durch  Zeit- 
alter noch  Grenzen  beschränkten  Gesamtheit  auf.  Was  Herder  mit  der  Sanun- 
lung  seiner  Volkslieder  {1778  und  1779),  denen  Johann  von  Müller  1807  den 
Titel  „Stimmen  der  Völker  in  Liedern**  gab,  gewollt  und  geleistet  hatte,  das  hat 
Goethe  selbst  18 18  wieder  in  treffendem  Dichterworte  ausgesprochen,  Herder 
preisend: 


Zur  Einführung. 


Ein  edler  Mann,  begierig,  zu  ergründen 

Wie  überall  des  Menschen  Sinn  erspriefst, 

Horcht  in  die  Welt,  so  Ton  als  Wort  zu  finden, 

Das  tausendquellig  durch  die  Länder  fliefet  .  .  . 

Und  so  von  Volk  zu  Volke  hört  er  singen, 

Was  jeden  in  der  Mutterluft  gerührt  .  .  . 

Sie  meinens  gut  und  fromm  im  Grund,  sie  wollten 

Nur  Menschliches,  was  alle  wollen  sollten. 

Wo  sich*s  versteckte,  wufef  er's  aufzufinden, 

Ernsthaft  verhüllt,  verkleidet  leicht  als  Spiel; 

Im  höchsten  Sinn  der  Zukunft  zu  begründen, 

Humanität  sei  unser  ewig  Ziel. 
Wenn  Herder  zum  Verständnisse  der  Litteratur  Beachtung  der  Volkseigentüm- 
lichkeiten gefordert  hatte,  das  besondere,  abweichende  als  solches  nach  seinen 
Vorbedingungen  zu  beurteilen  verlangt  hatte,  so  sollte  umgekehrt  als  letztes 
Ziel  der  Betrachtung  sich  die  Erkenntnis  ergeben,  wie  allerorten  alle  Herzen 
unter  dem  himmlischen  Tage,  jedes  in  seiner  Sprache  dieselben  verwandten 
Gefühle  zum  Ausdruck  bringen,  wie  es  gelte,  das  ewig  gleichbleibende  rein 
menschliche  unter  den  verschiedensten  Hüllen  und  Verhüllur^en  zu  erkennen. 
Auch  die  vergleichende  Litteratmgeschichte  wird  für  Herder  einer  der  Bausteine 
zu  der  Philosophie  der  Geschichte,  die  dem  Verfasser  der  „Briefe  zur  Beförde- 
rung der  Humanität''  als  Ziel  vorschwebt 

Von  Herder  geht  eine  neue  AufTassur^  der  Litteratiu-  und  Litteraturge- 
schichte  aus.  Von  ihm  haben  die  Romantiker  gelernt  In  den  Plänen  des 
jungen  Friedrich  Schlegel  zu  einer  griechischen  Litteraturgeschichte  als  einem 
Seitenstücke  zu  Winkelmanns  Kunstgeschichte  lebt  etwas  von  Herders  Geist 
Er  will  die  Litteratur  schildern  in  ihrem  innersten  Zusammenhang  mit  Religion 
und  Sitte,  bildender  Kunst  und  Philosophie,  Klima  und  Politik.  Ungefähr  zu 
gleicher  Zeit,  in  der  Friedrich  Schlegel  sich  mit  diesen  Plänen  trug,  stellte 
Schiller  als  Abschlufs  seiner  philosophischen  Studien  die  grofse  Vergleichung 
an  zwischen  antik -heidnischer  und  christlich -moderner  Kunst;  1795  veröffent- 
lichte er  seine  Studie  „über  naive  und  sentimentalische  Dichtkunst",  für  jede 
folgende  Betrachtung  der  Gesamtlitteratur  die  unverrückbare  Grundlage  liefernd. 
Die  seit  dem  Beginne  der  Renaissance  die  Litteratur  beherrschende  Streitfrage 
nach  dem  Verhältnis  der  zur  Herrschaft  auserkorenen  antiken  Muster  zu  den 
selbständigen  Regungen  der  neueren  Dichter,  die  berühmte  Querelle  des  An- 
ciens  et  des  Modernes  hat  durch  Schillers  Untersuchung,  wenn  nicht  ihre  end- 
giltige  Lösung,  so  doch  zum  mindesten  eine  ganz  andere  Gestalt  gewonnen. 
Wenn  Goethes  Dichtung  die  Vorzüge  beider  getrennter  Welten,  der  naiven 
und  sentimentalischen  zu  vereinigen  schien,  so  haben  auch  die  Romantiker  der 
ersten  Generation  nach  solcher  Vereinigung  der  Poesie  des  Altertums  und  der 


6  Max  Koch. 


mittleren  Zeiten  gestrebt.  Lessing  hatte  in  den  Litteraturbriefen  zum  Entsetzen 
der  älteren  Aesthetiker  Sophokles  und  Shakespeare  zusammen  genannt.  Tieck 
vereinigte  im  Garten  der  Poesie  Dante,  Ariost,  Cervantes,  Shakespeare,  Sopho- 
kles, Hans  Sachs,  Bürger  und  Goethe.  1803  und  1804  hielt  August  Wilhelm 
Schlegel  in  Berlin  Vorlesungen  über  schöne  Litteratur  und  Kunst,  die  überall 
vergleichende  Litteraturgeschischte  fordern  und  geben.  Er  klagt  im  dritten 
Teile  seiner  Vorlesungen,  dafe  eine  solche  zusammenfassende  Uebersicht  bisher 
gefehlt  habe.  „Erst  die  Uebersicht  der  gesamten  romantischen  Poesie  läfet 
das  Gesetzmäfsige  in  ihrem  Fortgange  und  den  Stufen  ihrer  Bildung,  die  rein 
künstlerische  Absicht  und  die  Konsequenz  in  den  Maximen  der  Meister,  endlich 
die  durchgängige  Verwandtschaft  und  den  Zusammenhang  der  scheinbar  un- 
gleichartigen Hervorbringungen  bemerken,  vermöge  dessen  sie  sich  zu  einem 
wenn  auch  noch  nicht  geschlossenen  und  fortschreitenden,  dennoch  seiner  Ein- 
heit nach  zu  erkennenden  Ganzen  an  einander  schliefsen."  Diese  Gesamtübersicht 
zu  geben  hat  August  Wilhelm  Schlegel  selbst  rüstig  gearbeitet.  Von  der  pro- 
vencalischen  Litteratur  hat  er  als  der  erste  in  Deutschland  zutreffende  Mittei- 
lungen gemacht,  die  ältere  deutsche  Poesie  zuerst  einem  weiteren  Kreise 
erschlossen.  Während  F'riedrich  Bouterwek  an  seinem  hochverdienstlichen 
gründlichen  Werke  „Geschichte  der  Poesie  und  Beredsamkeit  seit  dem  Ende 
des  13.  Jahrhunderts"  (die  zwölf  Bände  erschienen  ZN^nschen  1801  und  18 19)*) 
arbeitete  und  dadurch  eine  wissenschaftliche  Kenntnis  der  einzelnen  Litteraturen 
ermöglichte,  veröffentlichte  Friedrich  Schlegel  seine  trotz  aller  Einseitigkeit  und 
tendenziösen  Gestaltung  genialen  „Vorlesungen  über  Geschichte  der  alten  und 
neuen  Litteratur**  (gehalten  Wien  181 2),  in  denen  gerade  der  Zusammenhang 
der  einzelnen  Litteraturen,  der  Gang  ihrer  Entwickelung  vergleichend  dargestellt 
wurde.  Friedrich  Schlegel  war  es  aber  auch,  der,  nachdem  Georg  Forster 
schon  1791  Kalidasas  Sakontala  aus  dem  Englischen  übersetzt  hatte,  1808  durch 
seine  Schrift  „über  die  Sprache  und  Weisheit  der  Indier**  wie  der  vergleichen- 
den Sprachwissenschaft,  so  auch  der  vergleichenden  Litteraturgeschichte  eine 
neue  Grundlage  gab.  Man  braucht  nur  an  Theodor  Benfeys  Einleitung  zu  seiner 
Uebersetzung  des  Pantschatantra  (Leipzig  1859)  zu  erinnern,  um  die  ganze  weit- 
tragende Bedeutung  der  indischen  Studien  für  die  vergleichende  Litteratiu-ge- 
schichte  zu  erkennen.  Wie  für  die  vergleichende  Sprachwissenschaft  so  wurde 
auch  für  die  vergleichende  Litteraturgeschichte  erst  durch  Erschliefsung  des  Orien- 
talischen, insbesondere  des  indischen  eine  sichere  Basis  gewonnen.  Von  den  Fabeln 
und  Schwänken  des  Mittelalters,  den  späteren  Novellen  ist  ein  grofser  Teil  während 


*)  Ich  darf  bei  Erwähnung  des  Werkes  von  Bouterwek  nicht  unterlassen,  auf  eine  neuere 
rühmenswerte  Veröffentlichung  hinzuweisen,  die,  wenn  auch  von  ganz  andern  Gesichtspunkten 
ausgehend,  doch  eine  gewisse  Aehnlichkdt  mit  der  älteren  Arbeit  hat,  auf  die  sieben  Bände  von 
Adolf  Sterns  „Geschichte  der  neuem  Litteratur",  Leipzig  1882 — 1885. 


Zur  Einführung. 


der  Kreuzzüge  und  später  aus  dem  Oriente  in  die  abendländischen  Litteraturen 
übertragen  worden.  „Die  vergleichende  Sagenforschung",  schrieb  Karl  Goedeke 
1865*),  „die  sich  in  neuerer  Zeit  mehr  und  mehr  von  dem  Glauben  lossagt, 
dafe  die  Sagen,  Parabeln,  Fabeln  und  Schwanke,  die  mehr  oder  weniger  über- 
einstimmend bei  verschiedenen  Völkern  verschiedener  Zeit  begegnen,  der 
mündlichen  Ueberlieferung  vorzugsweise  oder  gar  ausschliefslich  ihr  Fortleben 
verdanken,  hat  es  zu  einer  ihrer  Aufgaben  gemacht,  die  litterarische  Ueber- 
lieferung von  Volk  zu  Volk,  von  Buch  zu  Buch  nachzuweisen,  ohne  die  von 
den  Büchern  ausfliefsende  und  wieder  in  die  Bücher  zurückströmende  mündliche 
Verbreitung  und  die  dadurch  bedingten  Umgestaltungen  zu  leugnen  oder  gering 
anzuschlagen.  Ihr  genügt  es  nicht,  in  der  Uebereinstimmung  des  Morgen-  und 
Abendlandes  das  blofse  Vorhandensein  eines  poetischen  Gebildes  zu  konstatieren 
und  eine  Verbreitung  auf  dunklen  Wegen  vorauszusetzen;  sie  beruhigt  sich 
nicht  bei  der  Annahme,  dafs  zur  Zeit  des  Zusammenstofses  zwischen  Occident 
und  Orient,  sei  es  in  der  Völkerwanderung,  sei  es  in  den  Kreuzzügen,  eine 
Menge  morgenländischer  Dichtungen  und  Sagen  nach  Europa  gekommen:  sie 
will  vielmehr  erforschen,  von  wem  sie  entlehnt  sind,  wer  sie  zu  uns  verpflanzt 
hat,  wie  sie  bei  der  Veränderung  des  Bodens  und  auf  dem  veränderten  Boden 
sich  selbst  verändert  und  wie  sie  den  Weg  aus  der  buddhistischen  Legende 
oder  der  persischen  Mystik  bis  in  die  Gegenwart  gefunden  haben  und,  wenn 
auch  verändert  und  fast  zur  Unkenntlichkeit  verwandelt,  zur  höchsten  dichte- 
rischen Vollendung  gelangt  oder  bis  zum  Witze  des  Eckenstehers  gesunken 
sind."  Goedeke  selbst  hat,  um  diesen  Studien  eine  feste  wissenschaftliche  Me- 
thode zu  lehren,  in  Gemeinschaft  mit  Oesterley  einmal  begonnen,  „einen  der 
Hauptkanäle,  durch  welche  die  Sagen  des  Orients  nach  Europa  flössen",  zu 
durchforschen.  „Eis  sind  die  kirchlichen  Schriftsteller  des  Mittelalters,  zum  Teil 
auch  die  älteren  Patres,  die  für  die  Kirchen  und  Dogmengeschichte  nicht  vor- 
zugsweise von  Wichtigkeit  erscheinen."  Mit  Unterstützung  König  Maximilians  IL 
von  Bayern  begann  Goedeke  an  der  Herstellung  eines  „Lexikons  der  Kunst- 
stoffe" zu  arbeiten,  das  dann  freilich  nicht  ans  Licht  gelangte. 

Die  älteren  Versuche  auf  dem  Gebiete  der  vergleichenden  Litteratur- 
geschichte,  man  mag  an  Josef  Goerres  oder  an  Rosenkranz  denken,  mufsten 
einen  mehr  oder  minder  dilettantenhaften  Charakter  tragen.  Wie  konnte  man 
eine  vergleichende  Litteraturgeschichte  des  Mittelalters  schreiben  zu  einer  Zeit, 


*)  Every-Man,  Homuliis  und  Hekastus.  Ein  Beitrag  zur  internationalen  Litteraturgeschichte 
von  K.  Goedeke,  Hannover  1865.  Von  den  verhältnismässig  wenigen  Arbeiten  dieser  Art  seien 
nur  erwähnt  M.  Landaus  Untersuchung  über  die  Quellen  des  Dekamerone,  Weilens  Beitrag  zur 
vergleichenden  Litteraturgeschichte  Shakespeares  Vorspiel  zu  der  Widerspänstigen  Zähmung, 
Griesebachs  neueste  Darstellung  von  den  Wanderungen  der  Novelle  von  der  Matrone  von  Ephesus, 
die  Arbeiten  von  Simrock,  Quellen  des  Shakespeare,  Oesterley,  Eitner,  R.  Köhler,  W.  Hertzberg, 
DuDger,  Erwin  Rohde,  Gustav  Meyer  u.  a.  m. 


8  Max  Koch. 


da  man  noch  aus  theoretischen  Gründen  die  Unmöglichkeit  einer  epischen 
Poesie  bei  den  Franzosen  bewies  und  den  jungem  Titurel  für  das  Hauptwerk 
des  deutschen  Mittelalters  erklärte.  Aber  wenn  nicht  diu-ch  iitterarhistorische 
Quellenforschung,  so  hat  die  Zeit  der  Romantik  doch  auf  andere  Weise  der 
vergleichenden  Litteraturgeschichte  die  Wege  gebahnt  durch  die  von  den 
Romantikem  —  sie  folgten  auch  hier  Herders  Spuren  —  ausgehende  Ueber- 
setzungskunst. 

Wenn  Gervinus  gegen  Goethes  Fordemng  einer  Weltlitteratur  in  deutscher 
Sprache  als  einer  romantischen  Grille  polemisiert,  so  hat  er  wenigstens  in 
soweit  recht,  als  er  diese  Fordemng  Goethes  der  romantischen  Richtung  zur 
Last  legt.  Goethe  hat  sich  hier  in  der  That  den  Romantikem  angeschlossen. 
August  Wilhelm  Schlegel,  der  selbst  Dante,  Shakespeare,  Ariost,  Calderon 
durch  seine  Uebertragungen  zuerst  unter  uns  einbürgerte,  aus  dem  Mittel- 
hochdeutschen, den  antiken  und  fast  allen  romanischen  Sprachen  wie  aus  dem 
Indischen  übersetzte,  pries  bereits  1804  in  seinen  Berliner  Vorlesimgen  „die 
vielfache  Biegsamkeit  unserer  Sprache,  wodurch  sie  geschickt  wird,  sich  den 
verschiedensten  fremden  anzuschmiegen,  ihren  Wendungen  zu  folgen,  ihre 
Sylbenmafse  nachzubilden,  ihnen  beinahe  ihre  Töne  abzustehlen."  Klopstock 
hatte  bei  seinen  vielfachen  interessanten  Uebersetzungsversuchen  nur  die  Kürze 
und  Gedmngenheit  der  deutschen  Sprache  gegenüber  den  fremden  erweisen 
wollen.  Schlegel  rühmte:  „Es  gibt  andre  Sprachen,  die,  statt  zu  überseta^en, 
durchaus  nur  manieriert  travestieren  können  und  dadurch  beweisen,  dafe  in 
ihnen  selbst  nur  eine  Manier  und  kein  Styl  herrschend  ist  Die  Deutschen 
hingegen,  wie  in  allen  Dingen  treu  und  redlich,  sind  auch  treue  Uebersetzer." 
Nachdem  er  die  Vorwürfe,  dafs  durch  Uebersetzungen  die  eigene  Produktions- 
kraft geschwächt  werde,  zurückgewiesen,  hebt  er  den  edleren  Zweck  des 
höheren  künstlerischen  Nachbildens  hervor:  „Es  ist  auf  nichts  geringeres  an- 
gelegt, als  die  Vorzüge  der  verschiedensten  Nationalitäten  zu  vereinigen,  sich 
in  alle  hinein  zu  denken  und  hinein  zu  fühlen,  und  so  einen  kosmopolitischen 
Mittelpunkt  für  den  menschlichen  Geist  zu  stiften.  Universalität,  Kosmopolitismus 
ist  die  wahre  deutsche  Eigentümlichkeit  Was  uns  so  lange  im  äufsem  Glänze 
gegen  die  einseitige  beschränkte,  aber  eben  darum  entschiedne  Wirksamkeit 
andrer  Nationen  hat  zurückstehen  lassen:  der  Mangel  einer  Richtung,  welcher, 
in  ein  Positives  verwandelt,  zur  Allseitigkeit  der  Richtungen  wird:  mufs  in  der 
Folge  die  Ueberlegenheit  auf  unsre  Seite  bringen.  Es  ist  daher  wohl  keine 
zu  sanguinische  Hoffnung,  anzimehmen,  dafs  der  Zeitpunkt  nicht  sogar  entfernt 
ist,  wo  das  Deutsche  allgemeines  Organ  der  Mitteilung  für  die  gebildeten 
Nationen  sein  wird."  Als  Schlegel  diese  Worte  sprach,  konnte  er  nicht  wissen, 
dafs  sein  Gegner  Schiller  dieselben  Ideen  bereits  in  einem  Gedichtentwurfe 
ziu-  Antrittsfeier  des  19.  Jahrhunderts  niedergeschrieben  hatte:  „Dem,  der  den 
Geist  bildet,  beherrscht,  muls  zuletzt  die  Herrschaft  werden  und  das  langsamste 


Zur  Einführung.  9 


Volk  wird  alle  die  schnellen  flüchtigen  einholen.  Die  andern  Völker  waren 
dann  die  Blume,  die  abfallt;  wenn  die  Blume  abgefallen  bleibt  die  goldne 
Frucht  übrig,  bildet  sich,  schwillt  die  Frucht  der  Ernte  zu.  Die  Sprache  ist 
der  Spiegel  einer  Nation,  wenn  wir  in  diesen  Spiegel  schauen,  so  kommt  uns 
ein  grofees  treffliches  Bild  von  uns  selbst  daraus  entgegen.  Wir  können  das 
jugendlich  griechische  und  das  modern  ideelle  ausdrücken,  das  tiefste  und  das 
flüchtigste,  den  Geist,  die  Seele  —  die  voll  Sinn  ist,  unsre  Sprache  wird  die 
Welt  beherrschen." 

Goethe  aber,  als  er  einige  Jahre  später  in  Arnim's  und  Brentanos  Samm- 
lung einen  Ueberblick  über  den  grenzenlosen  Reichtum  der  deutschen  Volks- 
lieder gewann,  mahnte,  den  deutschen  Liedern  nun  auch  Uebersetzungen  von 
dem  „was  fremde  Nationen,  Engländer  am  meisten,  Franzosen  weniger,  Spanier 
in  einem  anderen  Sinne,  Italiener  fast  gar  nicht,  dieser  Liederweise  besitzen", 
zur  Seite  zu  stellen.  Erst  dann  würden  wir  „eine  Geschichte  unserer  Poesie 
und  poetischen  Kultur,  worauf  es  denn  doch  nunmehr  nach  und  nach  hinaus- 
gehen mufs,  gründlich,  aufnchtig  und  geistreich  erhalten."  Mit  lebhaftestem 
Anteile  verfolgte  er  alle  Bestrebungen  auf  diesem  Gebiete,  besonders  die  Ueber- 
setzungsarbeiten  der  Romantiker,  deren  Blütezeit  er  erlebte.  Ja  er  selbst  führte 
durch  seinen  westöstlichen  Divan  die  orientalische  Poesie  in  die  deutsche 
Litteratur  ein;  wie  er  selbst  Hammer,  so  folgten  ihm  Rückert  und  Platen. 
Von  den  Brüdern  Grimm  unterstützt  gab  er  in  seiner  Zeitschrift  „Kunst  und 
Altertum"  Proben  serbischer  und  griechischer  Volkspoesie,  übersetzte  Bruch- 
stücke aus  Byron,  Manzoni  und  Euripides.  Erst  wenn  die  jetzt  an  den  ver- 
schiedensten Stellen  der  Werke  zerstreuten  und  versteckten  Uebersetzungen 
Goethes  einmal  übersichtlich  zusammengestellt  würden,  liefse  sich  Goethes 
gewaltige  Thätigkeit  auch  auf  diesem  Gebiete,  die  bis  jetzt  kaum  in  ihrer 
ganzen  Fülle  übersehen  werden  konnte,  völlig  würdigen.  Aber  auch  die 
„Rezensionen  und  Aufsätze  zur  auswärtigen  Litteratur**,  wie  sie  (hrsgb.  v.  W. 
von  Biedermann)  gesammelt  vorliegen,  zeigen,  wie  Goethe  jede  einzelne  Litte- 
ratur stets  im  Zusammenhange  der  allgemeinen  Litteraturentwickelung  ver- 
gleichend betrachtete.  Mit  Befriedigung  auf  die  reiche  Erfüllung  seiner  1806 
in  der  Rezension  von  des  Knaben  Wunderhom  erhobenen  Forderung  blickend, 
dichtete  er  1827  die  Verse: 

Wie  David  königlich  zur  Harfe  sang. 

Der  Winz'rin  Lob  am  Throne  lieblich  klang, 

Des  Persers  Bulbul  Rosenbusch  umbangt. 

Und  Schlangenhaut  als  Wildengürtel  prangt, 

Von  Pol  zu  Pol  Gesänge  sich  emeun, 

Ein  Sphärentanz,  harmonisch  im  Getummelt, 

Lass't  alle  Völker  unter  gleichem  Himmel 

Sich  gleicher  Gabe  wohlgemut  erfreun! 


10  Max  Koch. 


In  eben  demselben  Bande  von  „Kunst  und  Altertum",  der  diese  Verse  enthält, 
entwickelte  Goethe  aber  an  verschiedenen  Stellen  (VI,  2,  280;  nachgel.  Werke 
IX,  131;  134)  seine  Auffassung  der  Weltlitteratiu-,  wie  er  seit  langen  Jahren 
sie  sich  gebildet: 

„Offenbar  ist  das  Bestreben  der  besten  Dichter  und  ästhetischen  Schrift- 
steller aller  Nationen  schon  seit  geraumer  Zeit  auf  das  allgemein  Menschliche  ge- 
richtet In  jedem  Besonderen,  es  sei  nun  historisch,  mythologisch,  fabelhaft,  mehr 
oder  wenig  willkürlich  ersonnen,  wird  man  durch  Nationalität  und  Persönlichkeit 
hin  jenes  allgemeine  immer  mehr  diu-chleuchten  und  durchscheinen  sehen. 

„Was  nun  in  den  Dichtungen  aller  Nationen  hierauf  hindeutet  und  hinwirkt, 
dies  ist  es,  was  die  übrigen  sich  anzueignen  haben.  Die  Besonderheiten  einer 
jeden  mufs  man  kennen  lernen,  um  sie  ihr  zu  lassen,  um  gerade  dadurch  mit 
ihr  zu  verkehren :  denn  die  Eigenheiten  einer  Nation  sind  wie  ihre  Sprache  und 
ihre  Münzsorten,  sie  erleichtern  den  Verkehr,  ja  sie  machen  ihn  erst  voll- 
kommen möglich. 

„Eine  wahrhaft  allgemeine  Duldung  wird  am  sichersten  erreicht,  wenn 
man  das  Besondere  der  einzelnen  Menschen  und  Völkerschaften  auf  sich  beruhen 
läfst,  bei  dgr  Ueberzeugung  jedoch  festhält,  dafe  das  wahrhaft  verdienstliche  sich 
dadurch  auszeichnet,  dass  es  der  ganzen  Menschheit  angehört.  Zu  einer  solchen 
Vermittelung  und  wechselseitigen  Anerkennung  tragen  die  Deutschen  seit  langer 
Zeit  schon  bei.  Wer  die  deutsche  Sprache  versteht  und  studiert,  befindet  sich 
auf  dem  Markte  wo  alle  Nationen  ihre  Waren  anbieten,  er  spielt  den 
Dolmetscher,  indem  er  sich  selbst  bereichert." 

Die  Weltlitteratur  in  deutscher  Sprache,  welche  Goethe  gefordert  und  ge- 
fördert, ist  durch  die  Meisterthaten  unserer  grofsen  Uebersetzer  gegründet  wor- 
den, und  was  Schlegel,  Gries,  Tieck,  Rückert  begonnen,  wird  auch  in  neuester 
Zeit  von  W.  Hertz,  Schack,  Heyse,  Storck,  L.  Fritze,  Gildemeister,  Schipper 
und  andern  würdig  weitergeführt.  Die  Betrachtung  der  Weltlitteratur  aber  ist 
eben  vergleichende  Litteraturgeschichte.  Eine  Zeitschrift  für  vergleichende 
Litteraturgeschichte  wird  der  deutschen  Uebersetzungskunst  eingehende  Aufmerk- 
samkeit zu  schenken  haben.  Dafs  sie  die  Entwickelung  der  Ideen  und  Formen, 
die  sich  stets  erneuernde  Umgestaltung  der  gleichen  oder  verwandter  Stoffe  in 
den  verschiedenen  Litteraturen  älterer  wie  neuerer  Zeit  zu  verfolgen,  den  Einflufe 
der  einen  Litteratur  auf  die  andere  in  ihren  Wechselbeziehungen  aufzudecken 
suchen  mufs,  sagt  schon  ihr  Name.  In  allen  Litteraturen  verbreitete  „Stoffe  in 
Parallele  zu  stellen,  scheint  eine  lohnende  Aufgabe  der  vergleichenden  Litteratur- 
geschichte, deren  Lösung  tüchtige  Werkstücke  zu  dem  Bau  der  neuen  Wissen- 
schaft liefern  wird,  die  wie  jede  andere  nur  durch  den  Verein  vieler  Kräfte  ent- 
stehen und  gedeihen  kann."*)  Bei  streng  philologischer  Betrachtung  der  einzelnen 

*)  Moritz  Carriere:  Die  Poesie.  Ihr  Wesen  und  ihre  Formen  mit  Grundztigen  der  ver- 
gleichenden Litteraturgeschichte.     Leipzig  1884. 


Zur  Einführung.  11 


und  kleinen  Erscheinungen  soll  doch  stets  der  grosse  Zusammenhang  der  Ge- 
samtentwickelung im  Auge  behalten  werden,  neben  philologischem  Fleiss  und 
Gelehrsamkeit  auch  das  ästhetische  Urteil  sein  Recht  behaupten.  „Zwischen 
Philologie  und  Ästhetik",  mit  diesem  Urteile  hat  Wilhelm  Scherer  seine  Ge- 
schichte der  deutschen  Litteratur  geschlossen,  „ist  kein  Streit,  es  sei  denn  dass 
die  eine  oder  die  andere  oder  dafs  sie  beide  auf  falschen  Wegen  wandeln". 
Vielleicht  hat,  nachdem  früher  das  allgemeine  ästhetische  Raisonement  in 
litterarischen  Dingen  nur  allzuviel  die  historische  Kenntnis  der  Thatsachen  er- 
setzen mufste,  manche  kleinliche  Bemühung  der  neueren  Zeit  den  litterar- 
historischen  Studien  nicht  immer  mit  Unrecht  den  Vorwurf  des  Alexandriner- 
tums  zugezogen.  Man  hat  wirklich  manchmal  statt  des  herzustellenden  Werkes 
nur  das  Handwerkszeug  vor  Augen  gestellt.  Meist  aber  beruht  das  thatsäch- 
lich  bestehende  Vorurteil  gegen  Litteratiu-geschichte,*  ziunal  gegen  deutsche 
Litteraturgeschichte  doch  mehr  auf  Unkenntnis  und  Missverständnis.  Man  hat 
ihre  allgemeine  Bedeutung  wohl  unterschätzt,  wie  man  sie  selbst  auch  wohl 
zu  isoliert  zu  behandeln  liebte.  Noch  einmal  möchte  ich  da  an  einen  Ausspruch 
in  August  Wilhelm  Schlegels  Vorlesungen  erinnern.  In  der  Kunst  bedingen 
sich  „Form  und  Stoff  immer  gegenseitig:  die  ganze  Umgebung,  die  Welt  des 
Künstlers,  woraus  er  den  letzten  entlehnt,  indem  er  schon  gebildetes  wieder 
bildet,  muss  also  auch  auf  die  Gestalt  seiner  Hervorbringungen  den  bedeutensten 
Einflufs  haben.  Zur  historischen  Kunstkritik  gehört  es  folglich  auch, 
dass  man  den  anders  woher  bekannten  Geist  des  Zeitalters  auf  den  Charakter 
des  Gedichtes  beziehe  oder  ihn  daraus  errate,  da  oft  eben  in  der  Kunst  und 
Poesie  die  lebendigste  Darstellung  davon  aufbehalten  ist;  und  so  werfen  poli- 
tische und  Kunstgeschichte  gegenseitig  Licht  auf  einander."  Heinrich  von 
Treitschke  hat  uns  in  den  Abschnitten  seiner  deutschen  Geschichte,  welche 
von  Litteratur  handeln  ein  Muster  aufgestellt,  wie  beide  zu  gegenseitiger  Er- 
klärung herangezogen  werden  mü(sen. 

Diesen  Zusammenhang  zwischen  politischer  und  Litteraturgeschichte  mehr 
als  gewöhnlich  der  Fall  ist  zu  betonen,  soll  eine  der  Aufgaben  dieser  Zeit- 
schrift werden,  ebenso  wie  den  Zusammenhang  zwischen  Litteratur  und  bildender 
Kunst,  philosophischer  und  litterarischer  Entwickelung  u.  s.  w.  nachzuweisen, 
der  vergleichenden  Litteraturgeschichte  oblieget  Hat  doch  erst  vor  kurzem 
der  siebente  Band  des  Goethejahrbuchs  mit  Dehios  Nachweis  altitalienischer  Ge- 
mälde als  Quelle  zum  Faust  ein  Beispiel  gebracht,  wie  fruchtbringend  Kunst- 
und  Litteraturgeschichte  vergleichend  zusanmienzuwirken  vermögen. 

Wenn  ich  hervorhob,  dafs  die  ersten  Anregungen  zu  einer  vergleichenden 
Uebersicht  der  Volkslieder  von  Deutschland,  von  Herder  ausgegangen  sind,  so 
mufe  dagegen  auch  zugestanden  werden,  dafs  seit  J.  W.  Wolf  und  Mannhardt 
zurückgetreten  sind,  in  Deutschland  weniger  Teilnahme  als  in  andern  Ländern 
für  die  inzwischen  selbständig  hervorgetretene  Wissenschaft  des  Folklore  sich 


12  Zur  Einführung. 


kundgegeben  hat  In  den  meisten  europäischen  Ländern,  in  Dänemark,  Eng- 
land, Frankreich,  Griechenland,  Holland,  Italien,  Portugal,  Schweden,  Spanien 
bestehen  Vereine  oder  Zeitschriften  für  Folklore;*)  möchte  es  der  Zeitschrift 
fiir  vergleichende  Litteraturgeschichte  vergönnt  sein  zur  Förderung  dieser 
Studien  in  Deutschland  beizutragen. 

Die  deutsche  Litteratur  und  die  Förderung  ihrer  historischen  Erkenntnis 
soll  den  Ausgangs-  und  Mittelpunkt  der  in  der  Zeitschrift  fiir  vergleichende 
Litteraturgeschichte  geförderten  Bestrebungen  bilden,  was  natürlich  keineswegs 
auch  selbständige  Betrachtung  anderer  Litteraturgebiete,  immer  mit  Rücksicht 
auf  die  vergleichende  Litteraturgeschichte,  ausschliesst  Auch  die  neueste 
Litteratur,  soweit  sie  eben  im  Zusammenhange  der  geschichtlichen  Ent- 
wickelung  sich  betrachten  läfst,  soll  Berücksichtigung  finden,  denn  jede  histo- 
rische Forschung,  auf  welchem  Gebiete  sie  sich  auch  bewegt,  hat  das  Recht 
und  die  Pflicht:  durch  Erkenntnis  der  Vergangenheit  und  ihrer  Erscheinungen 
das  Verständnis  fiir  die  Gegenwart  und  die  in  ihr  wirkenden  Kräfte  verbreiten 
und  ihre  berechtigten  Bestrebungen  fördern  zu  helfen. 

Marburg  i.  H. 


*)  Gustav  Meyer:   Essays  und  Studien  zur  Sprachgeschichte  und  Volkskunde.     Berlin  1885. 


Das  Heiratsversprechen. 

Von 
Marcus   Landau. 


Unter  den  Werken  des  griechischen  Dichters  Kallimachos,  der  im  dritten 
Jahrhundert  v.  Chr.  lebte,  wird  ein  Gedicht  Kydippe  genannt,  von 
welchem  nur  einige  Fragmente  erhalten  sind  und  dessen  Inhalt  wir 
nur  aus  spätem  Bearbeitungen,  nämlich  einer  Epistel  des  Aristaenet  (Buch  I  lo), 
der  beinahe  sieben  Jahrhunderte  später  lebte,  und  zwei  Heroiden  Ovids 
{XX  und  XXI)  kennen. 

Der  griechische  Sophist  hat  die  Erzählung  in  seiner  Manier  mit 
geschmacklosem  rhetorischen  Beiwerk  überladen,  der  römische  Dichter  gibt 
sie  in  zwei  Briefen  von  Acontius  an  Cydippe  und  von  dieser  an  Acontius 
wieder*),  eine  Darstellungsform,  welche  dazu  (lihrt,  dafs  die  beiden  Korre- 
spondierenden einander  Dinge  erzählen  müssen,  welche  sie  ohnehin  ganz  gut 
wissen,  die  aber  auf  andere  Weise  nicht  zur  Kenntnis  des  Lesers  gebracht 
werden  konnten.  So  ist  auch  die  Beschreibung,  welche  Acontius  von  dem 
Aeufsern  Cydippe's  gibt 

Tu  facis  hoc  oculique  tui,  quibus  ignea  cedunt 

Sidera,  qui  flammae  causa  fuere  meae; 

Hoc  flavi  faciunt  crines  et  eburnea  cervix 
u.  s.  w.  (Her.  XX  57) 
nur  für  den  Leser  berechnet;    denn  die  Schöne  wird   doch   wohl  gewufst 
haben,  dafs  sie  blondes  Haar  und  einen  weissen  Nacken  hatte. 


*)  Die  Mehrzahl  der  Heroiden -Handschriften  schliefet  mit  dem  zwölften  Verse  der  Epistel 
Cydippe's  an  Acontius  und  werden  die  übrigen  Verse  dieser  zwei  Heroiden  von  den  meisten  Ovid- 
kritikem  jetzt  für  unecht  gehalten.  Auf  die  Frage,  ob  sie  den  Sabinus  einen  Zeitgenossen  Ovids, 
einen  spätklassischen  Dichter  oder  gar  einen  Humanisten  des  fün&ehnten  Jahrhunderts  zum  Ver- 
lasser haben,  kann  hier  nicht  eingegangen  werden,  und  begnüge  ich  mich  dieserhalb  auf  die  zwei 
jüngsten  Publicationen  H.  St.  Sedlmayer's  über  die  Heroiden  (Kritischer  Commentar  zu  Ovids 
Heroiden,  Wien  1881  und  Prolegomena  critica  ad  Heroides  Ovidianas,  Wien  1878)  sowie  auf  dessen 
Ausgabe  der  Heroiden  zu  verweisen.  Wer  aber  auch  der  Verfasser  dieser  Verse  gewesen  sein 
mag,  eine  ältere  Vorlage  mu(s  er  doch  gehabt  haben,  und  diese  dürfte  wohl  die  Dichtung  des 
Kallimachos  öder  eine  Uebersetzung  derselben  gewesen  sein. 


14  Marciu  LAndau. 


Die  gewählte  Form  brachte  es  ferner  mit  sich,  dafs  der  Dichter  trotz 
aller  seiner  Geschwätzigkeit  den  Ausgang  nicht  erzählen  sondern  nur  erraten 
lassen  konnte,  und  wir  würden  von  der  ganzen  Geschichte  eine  sehr  unklare 
Kenntnis  haben,  wenn  wir  nicht  die  Epistel  des  Aristaenetos  besäfsen.*) 

Aus  einer  Vergleichung  dieser  Epistel  mit  den  erhaltenen  Fragmenten 
des  Kallimachos  ergibt  sich,  dafs  Aristaenetos  den  Gang  der  Erzählung  aus 
des  Kallimachos  Gedicht  genommen  hat.  Wir  können  sonach  aus  der  Epistel 
mit  Zuhilfenahme  der  Heroiden  den  ungefähren  Inhalt  der  „Kydippe" 
reconstruieren,  welche,  wie  Buttmann  wahrscheinlich  macht,  einen  Bestand- 
teil der  Aitia  des  Kallimachos  bildete.**) 

Der  griechische  Dichter  erzählte  also  ungefähr  Folgendes: 

Akontios,  ein  Jüngling  aus  Keos,  einer  der  kykladischen  Inseln  ***),  war 
zu  einem  Feste  der  Artemis  nach  Delos  gekommen,  wo  er  im  Tempel  der 
Göttin  ein  sehr  schönes  Mädchen  erblickte,  das  in  Begleitung  ihrer  Amme 
dahin  gekommen  war.  Akontios  verliebte  sich  sogleich  in  die  schöne 
Fremde,  aber  anstatt  ihr  seine  Liebe  zu  erklären  oder  bei  ihrem  Vater  um 
sie  zu  werben,  schrieb  er  auf  einen  Apfel  die  Worte:  ,,Ich  schwöre  bei  dem 
Heiligtum  der  Artemis,  mich  dem  Akontios  zu  vermählen"  und  liefs  den 
Apfel  vor  die  Füfse  des  Mädchens  —  Kydippe's  —  rollen.  Die  Amme  hob 
die  Frucht  auf  und  bat  —  wahrscheinlich  weil  sie  nicht  lesen  konnte  — 
ihre  junge  Herrin,  die  Inschrift  ihr  vorzulesen.  Kydippe  las  laut,  errötete 
und  warf  den  Apfel  weg.  Wir  dürfen  in  der  Wahl  dieses  sonderbaren 
Mittels  nicht  einen  ungeschickten  Kunstgriff  des  Dichters  sehen  f),  sondern 
haben  es  hier  mit  dem  Rest  eines  alten  Mythos  zu  thun,  Aepfel  spielen  in 
der  Liebesmythologie  eine  grofse  Rolle  und  brauche  ich  nicht  erst  an  den 
Apfel  des  Paris  zu  erinnern. 

Von  einem  grofsen  Standesunterschied,  der  dem  Jüngling  den  Mut 
zum  offenen  Werben  benahm,  ist  in  dem  Gedicht  nicht  die  Rede;  in  der 
ursprünglichen  Mythe  bestand  aber  wohl  ein  solcher  —  der  zwischen  Sterb- 
lichen und  Unsterblichen,  wie  wir  später  sehen  werden. 


*)    Aristaeneti    epistolae,    griechisch   und   lateinisch,    herausgegeben    von   J.   C.   de   Pauw, 
Utredit  1736,  lib.  I  lo,  S.  56. 

**)  Vergl.  „Uebcr  die  Fabel  der  Kydippe"  in  Mythologus  von  Philipp  Buttmann.    Berlin  1829. 
Bd.  IL     115  — 143. 

♦*♦)  Bei  Aristaenet  ist  kein  Ort  der  Handlung  angegeben. 

f)  In  der  XXI.  Heroide  fragt  auch  Kydippe: 

Exoranda  tibi  non  capienda  fui. 
Cur,  cum  me  peteres,  ea  non  profitenda  putabas, 
Propter  quae  nobis  ipse  petendus  eras? 
Cogere  cur  potius,  quam  persuadere,  volebas, 
Si  poteram  audita  conditione  capi?     (V.  128.] 


Das  Heiratsverspreclien.  15 


Nach  Hause  zurückgekehrt  wurde  Kydippe  von  ihrem  Vater  ohne 
Widerspruch  ihrerseits  einem  andern  Manne  verlobt.  Als  aber  die  Hochzeit 
gefeiert  werden  sollte,  erkrankte  Kydippe  gefahrlich.  Die  Hochzeit  wurde 
verschoben  und  sie  genafs.  Als  dann  zum  zweiten  Male  die  Hochzeits- 
vorbereitungen getroffen  wurden,  erkrankte  sie  wieder,  und  so  wiederholten 
sich  Erkrankung  und  Genesung  drei  Mal. 

Der  in  seiner  Heimat  in  Sehnsucht  nach  der  fernen  Geliebten  sich  ver- 
zehrende Akontios  erfuhr  davon  und  eilte  nach  ihrem  Wohnort,  wo  er  sich 
täglich  nach  ihrem  Befinden  erkundigte,  so  dafs  man  Verdacht  schöpfte  und 
ihn  der  Zauberei  beschuldigte.  Aber  eine  Anfrage  beim  delphischen  Gott 
klärte  alles  auf:  Die  im  Tempel  seiner  Schwester  laut  verlesenen  Worte 
hatten  die  Kraft  eines  der  Göttin  geleisteten  Eides,  und  Artemis  hinderte 
dessen  Bruch,  indem  sie  Kydippe  vor  der  Vermählung  mit  einem  andern 
als  Akontios  erkranken  liefs.  Nun  erzählte  auch  das  Mädchen  das  Abenteuer 
im  Tempel  zu  Delos,  worauf  ihre  Eltern  sie  mit  dem  Akontios  vermählten. 

So  läfst  der  alte  griechische  Dichter  die  Göttin  die  Heilighaltung  des 
unwissentlich  geleisteten  Eheversprechens  zu  Gunsten  eines  Irdischen  erzwingen. 
Wir  werden  aber  bald  einigen  jungem  Erzählungen  begegnen,  in  denen  die 
Göttin  die  Haltung  eines  ihr  selbst  geleisteten  Versprechens  erzwingt  oder 
zu  erzwingen  sucht,  und  diese  Bearbeitungen  stehen  wohl  der  ursprünglichen 
Mythe  näher. 

Der  Ort,  wo  Kydippe  und  ihre  Eltern  wohnen,  ist  in  den  Heroiden 
nicht  angegeben.  Buttmann  vermutet,  dafs  Athen  gemeint  sei.  Aus  Kydippe's 
Schilderung  ihrer  Fahrt  nach  Delos  über  Mykonos,  Tenos  und  Andros  (XXI  8i) 
könnte  man  eher  auf  Euböa  schliefsen.  Jedenfalls  müfste  man  aber  annehmen, 
dafs  sie  die  Inseln  in  verkehrter  Ordnung  aufzählt,  denn  von  den  drei  liegt 
Mykonos  am  nächsten  von  Delos.  Mir  scheint,  dafs  dieser  Vers  von  Jemanden 
herrührt,  der  die  Lage  der  griechischen  Inseln  nicht  kannte. 

In  neuerer  Zeit  haben  zwei  Engländer  die  Geschichte  von  Kydippe 
und  Akontios  nach  den  zwei  Heroiden  poetisch  bearbeitet:  Charles  Kent 
u.  d.  T.  „The  golden  apple"  in  seiner  „Aletheia"  betitelten  Sammlung  und 
E.  Bulwer  u.  d.  T.  „Cydippe  or  the  apple"  in  seinen  „Lost  tales  of  Miletus." 
Endlich  hat  Ernst  Eckstein  die  kleine  Erzählung  zu  einem  grofsen  Roman 
verarbeitet,  in  welchem  Kydippe's  Vater  Archont  von  Milet  ist  und  das 
Versprechen  im  dortigen  Tempel  der  Aphrodite  geleistet  wird. 

Aus  dem  Altertum  ist  uns  aber  auch  eine  verwandte  Erzählung  auf- 
bewahrt, in  welcher  der  mythische  Kern  wahrnehmbarer  ist.  Wir  finden 
sie  in  der  „Sammlung  von  Verwandlungen"  {M€vafA0Q^(a(f€(OP  avpaycoy^)  des 
Antoninus  Liberalis,  der  zwar  erst  im  zweiten  Jahrhundert  n.  Ch.  lebte,  seine 
Stoffe  aber  aus  älteren  Schriftstellern  nahm.     So   nennt  er  als  Quelle  seiner 


16  Marcus  Landau. 


ersten  Erzählung  „Ktesylla"  das  dritte  Buch  der  Verwandlungen  des  Nikandre 
aus  Kolophon,  der  vielleicht  ein  Zeitgenosse  des  Kallimachos  war,  dessen 
Kydippe  von  Liberalis  in  dieser  Erzählung  citiert  wird. 

Hier  ist  es  der  Athener  Hermochares  der  sich  am  Altare  des  Phöbos 
zu  Karthäa  in  die  schöne  Ktesylla  aus  Julis  verliebt  und  ihr  im  Tempel  der 
Artemis  den  Apfel  mit  der  bekannten  Aufschrift  zuwirft.  Er  begnügt  sich 
aber  nicht  damit,  sondern  hält  auch  um  sie  bei  ihrem  Vater  Alkidamas  an. 
Dieser  verspricht  sie  ihm  auch,  mit  feierlichem  Eide  beim  Phöbos,  vergisst 
aber  später  sein  Versprechen  und  verlobt  sie  einem  Andern.  Ktesylla  aber, 
welche  die  Liebe  des  Hermochares  erwidert,  entflieht  dem  Hause  ihres 
Vaters  und  vereinigt  sich  in  Athen  mit  dem  Geliebten,  dem  sie  einen  Soha 
schenkt.  Aber  zur  Strafe  für  den  Eidbruch  ihres  Vaters  stirbt  sie  im  Kind- 
bett, worauf  bei  der  Beerdigung  ihr  Leib  sich  in  eine  Taube  verwandelt, 
welche  davon  fliegt*) 

Auf  Befehl  des  delphischen  Gottes  erbaute  Hermochares  ihr  einen 
Tempel  in  Julis,  wo  sie  als  Aphrodite  Ktesylla  verehrt  wurde. 

Wir  haben  es  hier  wohl  mit  einer  aitiologischen  Erzählung  zu  thun, 
welche  die  Entstehung  des  Kultus  einer  Aphrodite  Ktesylla  erklären  sollte 
und  die  vielleicht  nur  wegen  desselben  Schauplatzes  mit  der  Kydippe-Sage 
in  Verbindung  gebracht  wurde.  Julis,  der  Geburtsort  Ktesyllas,  und  Karthäa 
waren  die  Hauptorte  der  Insel  Keos,  der  Heimat  des  Akontios,  und  dieser 
spricht  in  der  Heroide  XX  von  den  Carthaeis  Nymphis.  **) 

Der  Ortsname  Karthäa  ist  aber  wahrscheinlich  semitisch  (vergl.  Karthago 
und  das  biblische  Kirjah  für  Stadt)  und  deutet  vielleicht  einen  semitischen 
Ursprung  der  Sage  an. 

Bevor  wir  uns  aber  zu  den  Semiten  wenden,  müssen  wir  noch  ein 
deutsches  Märchen  betrachten,  das  der  griechischen  Sage  nahe  steht. 

Fern  im  schönen  Märchenlande  safs  einmal  ein  König  mit  seinen 
Töchtern  und  Hofleuten  an  der  Tafel,  da  kam  plitsch  platsch,  etwas  die 
Marmortreppe  herauf  gekrochen,  klopfle  an  die  Thür  und  rief  „Königstochter, 
jüngste,  mach  mir  auf!"  Die  Prinzessin  lief  und  wollte  sehen  wer  draufsen 
wäre,  als  sie  aber  aufmachte  da  safs  ein  Frosch  davor.  Da  warf  sie  die 
Thür  hastig  zu,  setzte  sich  wieder  an  den  Tisch  und  war  ihr  ganz  angst. 
Als  aber  der  König  sie  fragte  was  der  Frosch  von  ihr  wolle,  da  mufste  sie 
erzählen,  wie  sie    einen   Tag   vorher  im  Walde  beim  Brunnen   mit   ihrem 

*) antiqaae  Cartheia  moenia  Ceae, 

Qua  pater  Aleidamas  placidam  de  corpore  natae 
Miraturus  erat  nasci  potuisse  columbam. 
(Ovid,  Metam.  VH  368.) 
**)    V.  223  hat  auch  die  Lesart  Coryciis   und  Corinthiis  Nymphis,   die   aber  auf  der  Insel 
Keos  nichts  zu  schaffen  hatten.     Vergl.  Buttmann  1.  c. 


J 


Das  Meiratsversprechen.  17 


liebsten  Spielzeug,  einer  goldenen  Kugel,  gespielt  habe  und  diese  ins  Wasser 
fallen  liefs.  Als  sie  darüber  laut  zu  weinen  und  zu  klagen  anfing,  da  streckte 
ein  Frosch  seinen  dicken  häfslichen  Kopf  aus  dem  Wasser  und  erbot  sich 
ihr  die  Kugel  wieder  zu  bringen,  wenn  sie  ihm  dagegen  verspreche  ihn  zum 
Gesellen  und  Spielkameraden  anzunehmen,  ihn  an  ihrem  Tischlein  sitzen, 
aus  ihrem  goldenen  Tellerlein  essen,  aus  ihrem  Becherlein  trinken  und  in 
ihrem  Bettlein  schlafen  zu  lassen.  In  ihrer  Not  versprach  die  junge  Königs- 
tochter alles  was  der  Frosch  verlangte,  und  dachte  dabei  „was  der  einfaltige 
Frosch  schwätzt,  der  sitzt  im  Wasser  bei  seines  Gleichen  und  quakt,  und 
kann  keines  Menschen  Geselle  sein".  Kaum  hatte  der  Frosch  ihr  Versprechen 
erhalten  als  er  auch  schon  die  goldene  Kugel  aus  dem  Wasser  herausholte 
und  ihr  brachte,  worauf  sie,  ohne  sich  weiter  um  ihn  zu  bekümmern,  mit 
ihrem  Spielzeug  nach  Hause  lief.  Am  andern  Tage  dachte  sie  nicht  mehr 
an  ihr  Versprechen  und  an  den  armen  Frosch.  Der  aber  war  nun  bis  in 
den  Königspalast  gekrochen  und  forderte  sein  Recht.  Und  der  König,  der 
ein  gewissenhafter  Mann  war,  sagte  zu  seiner  Tochter  „was  du  versprochen 
hast,  das  mufst  du  auch  halten".  Trotz  ihres  Absehens  mufste  sie  mit  dem 
häfslichen  Frosch  aus  einem  Tellerlein  essen,  aus  einem  Becherlein  trinken. 
Als  sie  ihn  aber  auch  ins  Bett  nehmen  mufste,  da  warf  sie  ihn  voll  Zorn 
an  die  Wand  und  rief:  „Nun  wirst  du  Ruhe  haben,  du  garstiger  Frosch!** 
Als  er  aber  von  der  Wand  herabfiel,  war  er  kein  Frosch,  sondern  ein  Königs- 
sohn mit  schönen  und  fi-eundlichen  Augen.  Ihn  hatte  eine  böse  Hexe  in 
einen  Frosch  verwandelt  und  die  Königstochter  hatte  ihn  durch  die  etwas 
unsanfte  Behandlung  erlöfst,  worauf  er  ihr  lieber  Geselle  und  Gemahl  ward.*) 

Das  Erlösen  in  Tiere  verwandelter  Menschen  durch  gewaltsame,  scho- 
nungslose Behandlung  ist  ein  in  Märchen  hin  und  wieder  vorkommender 
Zug,  und  mancher  verwunschene  Prinz  hat  sich  noch  ärgere  Behandlung 
gefallen  lassen  müssen,  als  der  Frosch.  Doch  wird  auch  mitunter  die  Erlö- 
sung durch  einen  Kufs  bewirkt.  In  einem  dem  deutschen  sehr  ähnlichen 
gälischen  Märchen  verlangt  der  Frosch  selbst,  dafs  die  Königstochter  ihm 
den  Kopf  abschlagen  soll.  **) 

Das  Motiv  des  Standesunterschiedes,  das  in  den  griechischen  und 
römischen  Erzählungen  kaum  wahrnehmbar  war,  tritt  im  Deutschen  sehr 
scharf  als  Unterschied  zwischen  Mensch  und  Tier  hervor.  Der  Unterschied 
ist  aber  nur  ein  scheinbarer  und  verschwindet  mit  der  Erlösung  des  ver- 
zauberten Prinzen. 


*)  Brüder  Grimm,  Kinder-  und  Hausmärchcn  No.  i.     Der  Froschkönig. 

*♦)  Nr.  33  bei  J.  F.  Campbell,  Populär  tales  of  the  West  Highlands.  Edinburg  1860. 
Englische  und  nordfranzösiche  Versionen  erwähnt  Reinhold  Köhler,  in  seiner  Besprechung  von 
Campbelb  Sammlung  (Orient  und  Occident,  II,  330). 

Ztschr.  f.  vgl  Litt-Gesch.  I.  2 


18  Marcus^Landau. 


Dagegen  ist  die  Leistung  des  Versprechens  als  Lohn  für  den  vom 
Tiermenschen  geleisteten  Dienst  sehr  gut  motiviert. 

War  es  im  deutschen  Märchen  der  in  ein  Tier  verwandelte  Mensch, 
der  selbst  sein  Recht  sucht,  so  tritt  in  einem  altjüdischen  das  Tier  für  den 
in  seinem  Rechte  verkürzten  Menschen  ein  und  zwingt  den  Ungetreuen,  sein 
Versprechen  zu  halten.  Wir  treten  aber  mit  diesem  jüdischen  Märchen  in 
einen  Kreis  ein,  in  welchem  nicht  wie  in  den  bisher  erwähnten  die  Frau  die 
Treulose  oder  Widerstrebende  ist,  sondern  in  welchem  ein  Mann  sich  der 
Treulosigkeit  oder  Vergefslichkeit  schuldig  macht.  Und  gerade  diese 
Fassung  des  Märchenstoffs  ist  die  am  häufigsten  vorkommende. 

Im  babylonischen  Talmud  ini  Traktat  von  den  Fasttagen  Fol.  8  heifst 
es:  „Sieh,  wie  grofs  die  Macht  des  Glaubens  ist  aus  der  Erzählung  von 
Chulda  und  der  Cisterne.  Wenn  der  Glaube  an  diese  (so  belohnt  wurde), 
um  wie  viel  mehr  wird  der  an  Gott  belohnt  werden." 

Der  Talmud  in  seinem  eigentümlichen  Lakonismus  gibt  uns  keine 
weitere  Erklärung  und  wir  müssen  sie  bei  dessen  Kommentatoren  suchen. 
Wenn  diese  auch  um  mehrere  Jahrhunderte  jünger  sind,  so  genügt  doch 
die  Anspielung  im  Talmud,  um  das  hohe  Alter  des  Märchens  zu  bezeugen. 

Die  älteste  und  ausführlichste  Erklärung  dieser  Anspielung  finden  wir 
in  dem  „Aruch"  genannten  talmudischen  Lexikon  des  Rabbi  Nathan,  Sohn 
des  Jechiel  aus  Rom,  welcher  in  der  zweiten  Hälfte  des  elften  Jahrhunderts 
lebte  und  sein  Werk  um  das  Jahr  iico  vollendete.  Er  verdankte  seine 
Bildung  einem  sicilischen  Gelehrten  Mazliach  ibn  al  Bazak,  der  noch  die 
Vorträge  des  berühmten  Gaon  Hai  in  Babylon  gehört  hatte*),  und  konnte 
also  zu  seinem  Werke  noch  alte  asiatische  Ueberlieferungen  benutzen. 

Rabbi  Nathan  erzählt  nun  zur  Erklärung  der  betreffenden  Tälmudstelle : 
„Ein  Mädchen  ging  einst  um  Wasser  zu  schöpfen  zu  einer  von  menschlichen 
Wohnungen  entfernten  Cisterne  und  stürzte  hinein.  Auf  ihr  Hilferufen  näherte 
sich  ein  gerade  des  Weges  kommender  Jüngling  dem  Rande  der  Cisterne, 
erkundigte  sich  aber,  bevor  er  ihr  seine  Hilfe  anbot,  ob  sie  ein  mensch- 
liches W^esen  oder  ein  Dämon  sei.  —  Es  war  dies  eine  löbliche  Vorsicht, 
denn  es  ist  ja  bekannt,  dafs  einsame  Brunnen  und  Cisternen  in  alter  Zeit 
die  Lieblingsverstecke  böser  Geister  waren,  wo  sie  in  Gestalt  schöner  Frauen 
unerfahrenen  Jünglingen  auflauerten.  In  den  hebräischen  und  griechischen 
Bearbeitungen  der  Sieben  Meister  (Sandabar  und  Syntipas)  wird  von  einem 
Jüngling  erzählt,  der  sich  verleiten  liefs,  ein  sich  für  eine  verirrte  Königs- 
tochter ausgebendes  weibliches  Wesen  auf  sein  Pferd  zu  nehmen,   und  der 


*)    Dr.   M.    Güdemann,   Geschichte    des  Erziehangswesens   und   der   Kultur  der  Juden    in 
Italien.     Wien  1884.     S.  61. 


Das  Heiratsversprechen.  19 


gewifs   ein  klägliches  Ende   genommen   hätte,   wenn   er   nicht  den  Namen 
Gottes  angerufen,  worauf  die  Teufelin  vom  Pferde  stürzte  und  verschied. 

In  einigen  .Bearbeitungen  unseres  Märchens  ist  es  auch  wirklich  eine 
Fee,  welcher  der  Jüngling  Treue  schwört  und  dann  bricht. 

Doch  kehren  wir  zur  Erzählung  des  Aruch  zurück:  Nachdem  der 
Jüngling  sich  überzeugt  hatte,  dafs  die  Hilfeheischende  ein  irdisches  Mädchen 
von  menschlichem  Fleisch  und  Blut  sei,  versprach  er  sie  aus  der  Cisterne 
herauszuziehen,  wenn  sie  dagegen  ihn  zu  heiraten  verspräche.  Das  Mädchen 
ging  ohne  langes  Bedenken  auf  diese  Bedingung  ein,  worauf  der  Jüngling  sie 
herauszog  und  sogleich  von  seinem  künftigen  Eherechte  Gebrauch  machen 
wollte,  wogegen  sich  aber  das  Mädchen  sträubte.  Sie  kamen  daher  über- 
ein, er  solle  bei  ihrem  Vater  um  ihre  Hand  anhalten  und  sie  in  herkömm- 
licher gesetzlicher  Weise  heiraten.  Zu  Zeugen  ihres  Verlöbnisses  nahmen 
sie  die  Cisterne  und  ein  eben  vorbeilaufendes  Chulda*)  (Wiesel  oder  Marder) 
und  schieden  dann  von  einander. 

Eine  ältere  Fassung  lautete  vielleicht,  dafs  der  Jüngling,  wie  im  bald 
zu  erwähnenden  sicilianischen  Märchen,  dem  Mädchen  Gewalt  anthat  und 
wurde  wohl  vom  frommen  Rabbi  aus  moralischen  Rücksichten  geändert, 
da  die  Strafe  des  Jünglings  fiir  das  blofse  Vergessen  der  Verlobung  zu 
hart  erscheint. 

Nach  Hause  zurückgekehrt  stellte  sich  das  Mädchen  von  einem  Dämon 
besessen,  um  den  Werbungen  der  Freier  zu  entgehen,  der  Jüngling  aber 
vergafs  sein  Versprechen  und  heiratete  eine  andere.  Seine  Frau  gebar  ihm 
ein  Kind,  das  wurde  von  einem  Qiulda  gebissen  und   starb.    Ein  zweites 


*)  Was  ftlr  ein  Tier  die  Chulda  eigentlich  war,  lälst  sich  nicht  genau  bestimmen.  Das 
Wort  wird  mit  Marder  oder  Wiesel  übersetzt,  und  ist  in  der  Erzählung  wahrscheinlich  letzteres 
Tier  oder  das  ihm  verwandte  Ichneumon  gemeint.  Denn  das  Wiesel  galt  für  ein  geheimnisvolles, 
zauberkundiges  Tier,  von  dem  im  Altertum  und  Mittelalter  gar  viel  gefabelt  wurde.  Es  war  einst 
ein  Mädchen,  das,  weil  es,  um  die  Geburt  des  Herkules  zu  erleichtem,  eine  Lüge  gesagt  hatte, 
von  der  Göttin  Lucina  in  ein  Wiesel  verwandelt  wurde,  das  die  Jungen  durch  den  Mund  zur 
Welt  bringt: 

Qnae  quia  mendaci  parientem  juverat  ore, 

Ore  parit;  (Ovid.  Metam.  IX,  323) 

Herkules  aber  hatte  alle  Ursache,  der  Lügnerin  dankbar  zu  sein,   errichtete  ihr  später  einen  Altar 
und  brachte  ihr  Opfer.     (Antoninus  Liberalis,  Verwandlungen  29.) 

Während  im  antiken  Aberglauben  das  Wiesel  mit  der  Geburt  des  Herkules  in  Verbindung 
gebracht  wird,  stellt  sich  der  deutsche  die  kranke  Gebärmutter  unter  der  Gestalt  eines  Wiesels  vor. 
(Simrock,  Handbuch  der  deutschen  Mythologie,  }  140,  S.  515.)  Das  Wiesel  kennt  aber  auch  das 
Kraut,  mit  welchem  man  Tote  lebendig  machen  kann  und  die  menschlische  Seele  nimmt  oft  die 
Gestalt  eines  Wiesels  an.  (Simrock  1  c.  J  128,  S.  448;  Liebrecht,  Gervasius  von  Tilbury,  S.  03; 
A.  de  Gubematis,  Zoological  Mythology,  Pars  I  eh.  7,  vol.  II,  51.)  Auf  einen  derartigen  Aber 
glauben  dürfte  wohl  auch  die  Rolle  zurückzuftihren  sein,  welche  das  Wiesel  in  der  talmudischen- 
Erzählung  spielt 

2* 


^ö  Marcus  Landau. 


Kind  wurde  durch  den  Fall  in  eine  Cisterne  getötet  Da  fragte  die  junge 
Frau  ihren  Mann,  warum  denn  ihre  Kinder  in  so  ungewöhnlicher  Weise  das 
Leben  verlören,  und  dieser  erinnerte  sich  nun  seines  ersten  Verlöbnisses. 
Er  erzählte  den  ganzen  Vorfall  seiner  Frau,  schied  sich  von  ihr  und  ging, 
um  die  Verlobte  von  der  Cisterne  aufzusuchen,  welche  sich  aber  wieder 
besessen  stellte,  als  man  ihr  die  Ankunft  eines  neuen  F*reiers  meldete.  Als 
sie  aber  den  Jüngling  erblickte,  gab  sie  die  Verstellung  auf,  worauf  dann 
die  Hochzeit  der  Beiden  stattfand.*) 

Es  ist  merkwürdig,  dafs  in  der  jüdischen  Erzählung  neben  der  wunder- 
baren Strafe   des   treulosen  Mannes   auch  ein  Leiden   des  an   seinem  Ver- 
sprechen festhaltenden  Mädchens  vorkommt.    Freilich  ist  es  niu-  eine  fingierte 
Krankheit,  während  in  der  griechisch-römischen  Erzählung  Cydippe  an  einem 
von    der  Göttin   gesendeten.  Uebel  leidet,-    aber   die  Aehnlichkeit   zwischen 
dem  Besessensein  der  Jüdin  und  der  Krankheit  der  Griechin  — 
Languor  enim  causis  non  apparentibus  haeret, 
Adjuvor  et  nuUa  fessa  medentis  ope  —  (Her.  XXI,  13) 
ist  zu  auffallend,  als  dafs  wir  jeden  Gedanken  an  mögliche  Entlehnung  ab- 
weisen könnten. 

In  einem  sicilianischen  Märchen  (bei  Laura  Gonzenbach  No.  46)  findet 
ein  Königssohn  in  einem  entlegenen  Hause  ein  schönes  Mädchen  und  thut 
ihr  Gewalt  an.  Die  Arme  ruft  vergeblich  um  Hilfe,  denn  weit  und  breit  ist 
niemand  da,  der  sie  hören  könnte.  Da  erblickte  sie  eine  Schlange,  die  eben 
vorüberkroch,  und  sprach:  „Wenn  mich  denn  niemand  hört  in  meiner  Not, 
so  rufe  ich  diese  Schlange  an,  die  soll  für  mich  zeugen,  dafs  du  keine 
andere  heiraten  darfst  als  mich."  —  Einige  Zeit  hernach  wollte  der  Prinz 
sich  mit  einer  schönen  Prinzessin  verheiraten,  da  kam  eine  Schlange,  wand 
sich  um  seinen  Hals  und  war  nicht  wegzujagen.  Versuchte  man  es,  sie 
wegzureifsen ,  ^o  schnürte  sie  sich  nur  fester  um  seinen  Hals  und  erwürgte 
ihn  fast. 

Als  die  entehrte  Jungfrau  davon  erfuhr,  begab  sie  sich  in  die  Stadt, 
wo  der  Prinz  lebte,  ging  ins  Schlofs  und  sagte,  sie  habe  ein  Mittel,  den 
Prinzen  zu  heilen.  Mit  diesem  auf  ihr  Verlangen  allein  gelassen,  fi-agte  sie 
ihn:  „Erkennst  du  mich?"  „Nein",  antwortete  der  Prinz,  da  schlang  die 
Schlange  sich  fester  um  seinen  Hals.  „Wie",  rief  sie,  „hast  du  vergessen, 
wie  du  mich  zwangest,  deinen  Willen  zu  thun,  und  ich  die  Schlange  zum 
Zeugen  anrief?"  Er  wollte  sich  noch  immer  stellen,  als  ob  er  sie  nicht 
kenne;  aber  die  Schlange  zog  fester  an,  und  so  sagte  er  notgedrungen,  dafs 


*)  Etwas  abweichend  wird  die  Geschichte  in  dem  Raschi,  einem  Zeitgenossen  Rabbi 
Nathans,  zugeschriebenen  Kommentar  zur  erwähnten  Talmiidstelle  erzählt.  Es  scheint  aber,  dafs 
gerade  der  Kommentar  dieser  Talmud-Abteilung  nicht  Raschi  selbst,  sondern  einen  etwas  jüngeren 
jüdbchen  Gelehrten  zum  Verfasser  hat 


Das  Heiratsversprechen.  21 


er  sie  wiedererkenne.  Da  liefs  die  Schlange  ein  wenig  nach  mit  ihrem 
Drucke.  So  gelang  es  dem  tapfem  Mädchen,  unterstützt  von  der  Schlange, 
dem  Königssohn  ein  bindendes  Heiratsversprechen  abzuringen.  Er  liefs 
hierauf  die  Prinzessin  zu  ihrem  Vater  zurückschicken  und  heiratete  das 
Mädchen,  das  ihn  von  der  bösen  Schlange  befreit  hatte. 

Während  im  deutschen  Märchen  der  Frosch  selbst  kommt,  um  sein 
Recht  zu  suchen,  im  jüdischen  Tier  und  Cisterne  das  Rächeramt  übernehmen, 
kommt  im  sicilianischen  die  Beschädigte  mit  dem  Tier,  um  den  Treulosen 
zur  Gutmachung  des  Unrechts  zu  zwingen. 

Dafe  hier  statt  des  Wiesels  die  Schlange  das  Rächeramt  übernimmt, 
ist  wohl  nicht  ganz  zufallig.  Orientalischer  und  europäischer  Aberglaube 
bringen  die  Schlange  mit  dem  Wiesel  und  dem  ihm  verwandten  Ichneumon 
in  mannigfaltige  Beziehungen:  Das  Ichneumon  kriecht  dem  Krokodil  in  den 
Rachen  und  tötet  es.  In  einer  Erzählung  des  Pantschatantra  (V,  2)  tötet  das 
Ichneumon  eine  schwarze  Schlange,  welche  ein  Menschenkind  bedroht,  und 
in  manchen  Uebersetzungen  der  indischen  Erzählung  tritt  das  Wiesel  an  die 
Stelle  des  Ichneumon.*)  Das  Wiesel  selbst  kämpft  aber  auch  oft  gegen  die 
Schlange  und  stärkt  sich  zum  Kampfe  durch  das  Essen  von  Raute.**) 

In  einer  griechischen***),  der  des  Pantschatantra  sehr  ähnlichen  Erzählung 
ist  es  dagegen  wieder  eine  Schlange,  welche  das  Menschenkind  vor  dem 
Wolfe  schützt.  Und  so  gut  wie  das  Wiesel,  wenn  nicht  besser,  verstehen 
es  die  Schlangen,  Tote  wiederzubeleben,  und  Menschen  lernen  es  von  ihnen. f) 

Es  ist  eine  ganz  nützliche  Kunst,  nur  darf  man  sie  nicht  so  ungeschickt 
ausüben,  wie  jener  Mann,  von  dem  eine  talmudische  Sage  erzählt  ff)  Er 
versuchte  nämlich  die  Kraft  des  belebenden  Krautes  zuerst  an  einem  toten 
Löwen,  den  er  vor  dem  Thore  von  Tyrus  fand;  und  das  Erste  was  der 
dem  Leben  wiedergegebene  Löwe  that  war,  dafs  er  seinen  Retter  frafs. 

Von  einem  entehrten  und  wegen  einer  Königstochter  verratenen  weib- 
lichen Wesen  erzählt  auch  ganz  kurz  Diodor  von  Sicilien  in  seiner  histo- 
rischen Bibliothek  (IV,  84) :  Daphnis ,  der  reiche  Rinderhirt  und  Sohn  des 
Hermes  wurde  von  einer  Nymphe  geliebt,  welche  ihm  verkündete,  wenn  er 
sich  mit  einer  andern  einliefse,  würde  er  das  Gesicht  verlieren.    Er  liefs  sich 


•)  Th.  Benfey,  Pantschatantra  I,  479—486. 

♦*)  Liebrecht  1.  c  ns;   Gubernatis  Zool.  Myth.  II,  52;  Piinius  Hist  nat.  XX,  51,  XXIX,  t6. 

♦**)  Bei  Pausanias  X,  33.  5.     Diese  Erzählung  scheint  Benfey  gar  nicht  gekannt  zu  haben. 

f )  Grimm,  Kinder-  und  Hausmärchen  III,  26 ;  Erwin  Rohde,  Der  griechische  Roman  S.  125 ; 
Hyginus  fabulae  cap.  136;  Poeticon  astronomicon  II,  14;  I.  G.  v.  Hahn,  Sagwissenschaftliclie 
Studien  239.  Ueber  Tiere  als  Bestrafer  oder  Entdecker  von  Verbrechen  vergl.  noch:  Benfey  1.  c. 
S.  483 — 4;  F«  H.  von  der  Hagen,  Gesamtabenteuer  I,  S.  CIV  E;  F.  Liebrecht,  Zur  Volkskunde, 
Der  Mäuseturm;  Derselbe  zu  Gervasius  von  Tilbury  S.  113,  Anmkg.;  Welcker,  Der  Delphin  des 
Arion,  in  dessen  Kleinen  Schriften  I,  89. 

•J-j*)  Midrasch  Rabbath  zu  Leviticus  cap.  22. 


22  Marcos  Landau. 


von  einer  Königstochter  trunken  machen  und  verfuhren,  worauf  er,   wie  es 
ihm  die  Nymphe  verkündet  hatte,  erblindete. 

Aehnlich  erzählt  Parthenius  von  Nycäa  in  seinen  Liebesgeschichten 
{negl  iQmxixäv  na^fjfKttmv.  29)  nach  der  Sicilischen  Geschichte  des  Timäus. 
Wir  erfahren  bei  ihm,  dafs  die  verliebte  Nymphe  Echenais  hiefs  und  dafe 
Daphnis  nach  langem  Widerstreben  gegen  viele  in  ihn  verliebte  Frauen 
endlich  von  einer  Königin  in  Sicilien  durch  vielen  Wein  berauscht  wurde, 
worauf  er  die  Untreue  beging  und  des  Gesichts  beraubt  wurde. 

Viel  ausfuhrlicher  berichtet'  hierüber  der  Pränestiner  Aelian  in  seinen 
Vermischten  Erzählungen  {noixUy^  iffrogia)  (Buch  X,  18),  der  wahrscheinlich 
einem  Hirtengedicht  des  Stesichoros,  das  aber  nicht  mehr  vorhanden  ist, 
nacherzählt:  Daphnis  und  die  Nymphe  schwören  einander  ewige  Treue,  und 
diese  droht  dem  schönen  Hirten,  er  werde  erblinden,  wenn  er  nicht  Wort 
halte.  Aber  nach  einiger  Zeit  vergafs  er  in  der  Trunkenheit  seinen  Eid  und 
liefs  sich  von  einer  in  ihn  verliebten  Königstochter  verfuhren.  Ueber  diese 
Begebenheit  und  die  Erblindung  des  Daphnis,  setzt  Aelian  hinzu,  hat  man 
zuerst  bukolische  Gedichte  gesungen  und  Stesichoros  aus  Himera  soll  der 
erste  gewesen  sein,  der  diese  Art  Gedichte  verfafst  hat 

Ganz  verschieden  ist  die  Idylle  Theokrits  von  Daphnis,  in  welcher 
dieser  nicht  als  untreu,  sondern  als  unempfindlich  für  die  Liebe  der  Nymphe 
geschildert  wird.  Er  wird  von  Aphrodite  mit  unglücklicher  Liebe  zu  einer 
andern  bestraft.*) 

In  allen  diesen  einfachen  antiken  Erzählungen  wird  der  Treulose  durch 
unmittelbaren  Eingriff  der  Gottheit  bestraft,  während  in  dem  viel  jungem 
sicilischen  Märchen  schon  wie  im  jüdischen  das  zum  Zeugen  angerufene  Tier 
das  Rächeramt  übernimmt  Andererseits  imterscheiden  sich  wieder  alle  diese 
sicilischen  Dichtungen  von  den  früher  besprochenen  (Kydippe,  Froschkönig 
und  Mädchen  am  Brunnen)  dadurch,  dafs  sie  von  keinem  gebrochenen  Ehe- 
versprechen, sondern  von  einer  Entehrung  handeln.  Sowohl  in  dem  Gedichte 
des  Kallimachos  als  in  dem  Märchen  ist  von  irdischen  Mädchen,  in  den 
übrigen  griechischen  Dichtungen  aber  von  Nymphen  die  Rede,  und  solche 
halb  göttliche  oder  teuflische,  halb  menschliche  Wesen  sind  auch  die  Hel- 
dinnen der  noch  zu  betrachtenden  Bearbeitungen. 

Von  diesen  sind  die  ältesten  in  der  Kaiserchronik  und  in  der  Geschichte 
der  englischen  Könige  des  Wilhelm  von  Malmesbury,  beide  Werke  aus  der 
ersten  Hälfle  des  zwölften  Jahrhunderts,  enthalten,  und  sind  beide  Erzäh- 
lungen wohl  aus  einer  Quelle  geflossen. 


*)  Theokrit  Id.  I.     Vergl.  F.  G.  Weicker,   Kleine  Schriften  I,  188  tL     Bonn  1844-     Erwin 
Rohde,  Der  griechische  Roman  S.  29. 


Das  Heiratsversprechen.  28 


Mit  christlicher  Tendenz  erzählt  die  Kaiserchronik*)  von  einem  jungen 
Heiden  in  Rom,  Astrolabius  geheifsen,  dem  beim  Ballspielen  sein  Ball  in 
ein  altes  Gemäuer  fiel.  Als  er  dort  hineinging,  um  den  Ball  zu  suchen, 
erblickte  er  ein  schönes  Frauenbild,  in  das  er  sich  verliebte,  und  dem  er 
seinen  Ring  an  den  Finger  steckte,  ewige  Liebe  versprechend. 

Daz  bilide  was  gewis 
in  honore  Veneris 

sagt  der  deutsche  Dichter  und  erzählt  dann,  wie 

ime  ward  daz  bilide  also  liep 
mit  dem  tiuwele  wart  er  besezzen. 

Der  junge  Mann  konnte  weder  essen  noch  trinken,  noch  schlafen;  immer 
stand  das  Bild  der  Venus  vor  seinen  Augen,  und  er  ward  mit  der  Zeit 
ernstlich  krank.  In  seiner  Not  wendete  sich  Astrolabius  an  Eusebius,  den 
Kapellan  des  Kaisers,  einen  frommen  Mann,  der  aber  in  seiner  Jugend  die 
schwarze  Kunst  studiert  hatte. 

Mit  Hilfe  dieser  Wissenschaft  citierte  Eusebius  den  Teufel  und  verlangte 
die  Rückstellung  des  Ringes,  da  dem  jungen  verliebten  Römer  nicht  anders 
geholfen  werden  konnte.  Der  Teufel  weigerte  sich  unter  allerlei  Vorwänden, 
dem  Befehle  des  Eusebius  Folge  zu  leisten,  mufste  sich  aber  endlich  dazu 
verstehen,  den  Kapellan  in  die  Unterwelt  zu  tragen, 

er  vuorte  in  in  einir  wile 

dreihundert  mile 

in  eines  tiefen  meres  grünt**), 

wo  Eusebius  den  Ring  holte  und  zugleich  erfuhr,  dafs  die  Macht  der  Venus- 
statue von  einer  „Würze"  herrühre,  die  unter  ihr  vergraben  sei. 

Auf  die  Oberwelt  zurückgekehrt  gab  Eusebius  den  Ring  dem  Astro- 
labius zurück,  worauf  dieser  gesund  ward  und  sich  mit  noch  vielen  Heiden 
zum  Christentum  bekehrte.  Die  Bildsäule  aber  wurde  von  ihrer  Stelle 
gerückt  und  zu  Ehren  des   heiligen  Michael   vom  Papste  Ignatius  geweiht 

Von  einer  zweiten  durch  die  Venus  gestörten  Ehe  wird  nichts  gesagt. 
Dagegen  weifs  die  Kaiserchronik  auch  (V.  10795 — 10835)  von  einer  Statue 
des  Merkur  zu  erzählen,  welche  nicht  blos  einen  Ring,  sondern  die  ganze  ihr 
in  den  Mund  gesteckte  Hand  des  Kaisers  Julianus  festhielt  und  nicht  eher 
losliefs,  bis  er  vom  Christentum  abfiel  und  des  Teufels  Anbeter  zu  werden 
versprach. 


*)   Die  Kaiserchronik,   Gedicht  des  zwölften  Jahrhunderts,   herausgegeben  von  H.  F.  Mass- 
mann, Quedlinburg  1849.     V.  13100  ff. 

**)  Von  derartigen  Wunderritten  habe  ich  in  meinen  „Quellen  des  Dekameron",  zweite  Aufl. 
S.  193 — 218  ausführlich  gesprochen. 


24  Marcos  Landau. 


Ohne  christliche  Tendenz,  aber  mit  vielen  Einzelnheiten  ausgeschmückt 
finden  wir  diese  wunderbare  Erzählung  bei  Wilhelm  von  Malmesbury.*)  Er 
berichtet  von  einem  reichen  und  vornehmen  Jünglinge  zu  Rom,  der  zur 
Feier  seiner  Vermählung  ein  prächtiges  Gastmahl  veranstaltete.  Nach  dem 
Essen  begab  er  sich  mit  seinen  jungen  Freunden  ins  Freie,  um  durch  gym- 
nastische Uebungen  und  körperliche  Spiele  die  Verdauung  des  vielen  Ge- 
gessenen und  Getrunkenen  zu  befördern.  Um  sich  freier  bewegen  zu  können, 
zog  der  Bräutigam  seinen  Trauring  vom  Finger,  und  da  sich  in  der  Nähe 
des  Spielplatzes  eine  Bronzestatue  befand,  steckte  er  den  Ring  an  den  aus- 
gestreckten Finger  derselben.  Als  er  dann  den  Spielplatz  verlassen  und 
seinen  Ring  holen  wollte,  fand  er,  dafs  die  Statue  eine  Faust  gemacht  hatte 
und  den  Ring  fest  hielt  Nachdem  er  sich  lange  vergeblich  bemüht,  den 
Finger  abzubrechen  und  den  Ring  zurückzubekommen,  ging  er  nach  Hause, 
ohne  seinen  Freunden  etwas  von  seinem  Verluste  zu  sagen.  Einige  Stunden 
später  kam  er  wieder  und  fand  den  Finger  der  Statue  wieder  gerade  ge- 
streckt, der  Ring  war  aber  verschwunden.**)  Als  er  dann  in  der  Nacht  an 
der  Seite  seiner  Neuvermählten  ruhte,  fühlte  er,  wie  sich  irgend  etwas  g^reif- 
bares  aber  unsichtbares  zwischen  ihn  und  seine  Gattin  drängte,  und  zugleich 
hörte  er  eine  Stimme,  welche  ihm  zurief:  „Bei  mir  ruhe,  denn  mir  hast  du 
dich  heute  vermählt;  ich  bin  Venus,  an  deren  Finger  du  den  Ring  gesteckt 
hast;  ich  habe  ihn  und  gebe  ihn  nicht  zurück."  Der  junge  Ehemann 
erschrak,  konnte  die  ganze  Nacht  nicht  schlafen  und  die  Brautnacht  nicht 
geniefsen.  Der  Spuk  wiederholte  sich  Nacht  für  Nacht.  Der  junge  Mann, 
der  sich  sonst  gesund  und  wohl  befand,  konnte  seine  eheliche  Pflicht  nicht 
erfüllen,  zum  grofsen  Aerger  seiner  jungen  Frau,  auf  deren  Drängen  er 
endlich  den  ganzen  Sachverhalt  den  Eltern  mitteilte.  Diese  wendeten  sich 
an  den  seiner  Zauberkünste  wegen  weit  berühmten  und  berüchtigten  Pres- 
byter Palumbus,  und  dieser  versprach,  für  reiche  Belohnung  die  Sache  wieder 
in  Ordnung  zu  bringen.  Er  gab  dem  jungen  Ehemann  einen  Brief  und 
sagte  ihm:  „Stelle  dich  des  Nachts  an  einen  Kreuzweg,  da  wirst  du  viele 
Männer  und  Frauen,  verschieden  an  Alter,  Stand  und  Aussehen  vorüberziehen 
sehen,  einige  zu  Pferd,  andere  zu  Fufs.  Rede  mit  ihnen  nicht,  aber  wenn 
dann  ein  gröfserer  und  stärkerer  auf  einem  Wagen  kommt,  so  übergebe 
diesem  schweigend  den  Brief  und  was  du  wünschest  wird  geschehen.  Ver- 
liere nur  nicht  die  Geistesgegenwart!"  Der  Mann  that,  wie  Palumbus  ge- 
heifsen.  Er  sah  den  Zug  der  Gespenster,  darunter  auch  ein  auf  einem 
Maultier  reitendes  Weib  mit  aufgelöstem  Haar  und  goldenem  Diadem.  Ihre 
Kleidung  war  so   leicht,  dafs  sie  fast  nackt  erschien;   mit  goldenem  Stab 

*)  De  anulo  statuae  commendato,  in  dessen  De  gestis  regum  Anglorum  lib.  II  bei  G.  Waitz, 
ex  Wilhelmi  Malmesburiensis  scriptis,  in  Monumenta  gennaniae  historica,  Scriptores  tomus  X,  p.  449  sq. 
♦*)  Vgl.  Prospcr  M^rimte  Erzählung:  la  V^nus  dllte.    Paris  1837. 


Das  Heiratsvenprechen  26 


lenkte  sie  das  Maultier  und  machte  dabei  unzüchtige  Geberden.  Zuletzt 
kam  der  Gebieter  auf  herrlichem  mit  Smaragden  und  Perlen  geschmückten 
Wagen.  Strengen  Blicks  fragte  er  nach  dem  Begehren  des  Jünglings,  worauf 
dieser  ihm  schweigend  den  Brief  des  Zauberers  reichte.  Nachdem  der 
Teufel  ihn  gelesen,  rief  er:  „Allmächtiger  Gott!  wie  lange  wirst  du  denn 
die  Schändlichkeiten  dieses  Palumbus  dulden?"  Dann  schickte  er  seinen 
Diener,  um  der  Venus  den  Ring  zu  entreifsen.  Diese  sträubte  sich  zwar 
lange,  mufste  aber  endlich  doch  den  Ring  zurückstellen,  mit  welchem  der 
jimge  Ehemann  froh  zu  seiner  Gattin  eilte,  die  ihr  Eheglück  nun  ungestört 
genie&en  konnte.  Als  aber  der  Presb3rter  Palumbus  erfuhr,  was  der  Teufel 
von  ihm  gesagt,  da  wufste  er,  dafs  sein  Ende  nahe  sei,  bekannte  öffentlich 
vor  dem  Papste  alle  seine  Schandthaten  und  nahm  sich  in  grausanier  Weise 
das  Leben.  „Davon  spricht  noch  jetzt  ganz  Rom,  die  Mütter  erzählen  es 
ihren  Kindern." 

Der  englische  Chronist  hat  im  Geiste  seiner  Zeit  die  schaumgeborene 
Göttin  zu  einer  lüderlichen  Dirne  degradiert,  aber  auch,  indem  er  Gott  durch 
den  Teufel  anrufen  liefs,  einen  Verstofs  gegen  die  Dämonologie  des  Mittel- 
alters begangen. 

Wie  er  dazu  kam,  diese  römische  Begebenheit  in  seine  Geschichte  der 
englischen  Könige  einzuschalten  und  mit  der  Sa^e  von  der  wilden  Jagd  zu 
verbinden,  ist  ebenfalls  schwer  begreiflich;  umsomehr,  da  sie  sich  meines 
Wissens  in  italienischen  Chroniken  und  Legendenwerken  nicht  findet. 

Dagegen  haben  spätere  englische  Chronisten  (Matthäus  von  Westminster, 
Radulphus  von  Diceto,  Johann  Brompton  und  Heinrich  von  Knyghton)  sie 
dem  von  Malmesbury  in  etwas  abgekürzter  Form  nacherzählt. 

Der  von  Westminster  erzählt  das  Geschichtchen  unmittelbar  nach  dem 

von    der    guten  Gräfin  Godiva,   die  zum  besten  der  Stadt  Coventry  ganz 

nackt  spazieren  geritten.    Hat  ihn  der  Ritt  der  frommen  Gräfin  auf  prächtig 

geschirrten  Zelter  nur 

clothed  on  with  chastity 

vielleicht  an  den  Ritt  der  frechen  Venus  erinnert?    Matthäus   gibt  auch  an, 

dafs   die  Geschichte   mit   dem  Ringe  i.  J.  1058  unter  dem   (Gegen-)  Papst 

Benedict  X.  vor  sich  ging.*) 

Radulphus  de  Diceto,  der  am  Ende  des  13.  Jahrhunderts  lebte,  verlegt 
die  Geschichte  vom  Ringe  in  die  Zeit  Papst  Gregors  VI.  (1044 — ^45)  ^^d 
erzählt  atwas  kürzer  als  Malmesbury.**) 


*)  Flores  Historiarum  per  Matthaeum  Westmonasterieosem  collect!  praecipue  de  rebus  Bri- 
tannicia.     London  1573,  IIb.  I,  p.  424. 

**)  Radulphi  de  Diceto,  decani  Londoniensis  Abbreviationes  chroniconim,  in  R.  Twysden 
Historiae  anglicanae  scriptores  X.     London  1652,  col.  471. 


26  Marcus  Landau. 


Johann  Brompton,  der  den  Wilhelm  von  Malmesbury  ausdrücklich  als 
seine  Quelle  nennt,  gibt  noch  aus  eigenem  hinzu,  dafs  der  des  Ringes 
beraubte  junge  Ehemann  Lucius  und  seine  Frau  Eugenia  hiefs,  und  diese 
Namen  finden  wir  auch  in  der  viel  kürzer  gefafsten  Erzählung  des  Heinrich 
von  Knyghton.  *) 

Eine  reinere  edlere,  unser  Interesse  mehr  als  die  Teufelin  der  eng- 
lischen Chronisten  fesselnde,  ja  unser  Mitleid  erregende  Gestalt  ist  die 
geheimnisvolle  Waldfrau  eines  deutschen  Gedichts  aus  dem  dreizehnten 
Jahrhundert,  das  in  Jüngern  Umarbeitungen  seit  Ende  des  fünfzehnten  Jahr- 
hunderts in  Strafsburg  mehrmals  gedruckt,  in  Arnims  „Knaben  Wunderhorn" 
und  Simrocks  ,.Deutsche  Volksbücher"  (Bd.  III)  aufgenommen  wurde.  Nach 
einer  Strafsburger  Handschrift  aus  dem  fünfzehnten  Jahrhundert  hat  es 
Christian  Moriz  Engelhardt  u.  d.  T.  „Der  Ritter  von  Staufifenberg ,  ein  alt- 
deutsches Gedicht  nach  der  Handschrift  der  öffentlichen  Bibliothek  zu  Strafs- 
burg, nebst  Bemerkungen  zur  Geschichte,  Litteratur  und  Archäologie  des 
Mittelalters  ..."  herausgegeben  (Strafsburg  1823). 

Die  Sprache  des  Gedichts  gehört  der  zweiten  Hälfte  des  dreizehnten 
Jahrhunderts  an,  und  nichts  berechtigt  zu  der  Vermutung  des  Herausgebers, 
dafs  es  Umarbeitung  einer  altern  Dichtung  oder  gar  ein  Werk  Hartmanns 
von  der  Aue  sei.  Die  Strafsburger  Handschrift  nennt  keinen  Verfasser,  im 
Epilog  des  ältesten  Drucks  wird  ein  Herr  Eckenolt  genannt,  ob  als  Dichter 
oder  Abschreiber  ist  nicht  klar.**) 

Der  Inhalt  der  Handschrift  stimmt  mit  den  alten  Drucken  ziemlich 
genau  überein  und  auch  die  örtliche  Ueberlieferung  am  Schauplatze  der 
Handlung  stimmt  im  Allgemeinen  mit  dem  Gedichte  überein.  Im  badischen 
Mittelrheinkreise  in  der  Ortenau,  nicht  gar  weit  von  Strafsburg,  wo  das 
Gedicht  wiederholt  gedruckt  und  die  Handschrift  gefunden  wurde,  steht  das 
Schlbfs  Stauffenberg,  das  einst  Ritter  Petermann  von  Temringer  oder  Peter 
Dimringer  bewohnt  hat,  und  am  Thorwege  ist  in  Stein  gehauen  seine 
geheimnisvolle  Herzliebste,  die  Waldfrau  zu  sehen,  die  aber  hier  als  Meerfee 
dargestellt  ist.  Das  junge  Weib  hebt  kummervoll  die  Arme  über  dem 
Haupte  empor,  die  Hände  zerrinnen  in  unförmliches  Gewässer,  Flofsfedem 
überhängen  den  Rücken  und  enden  den  Körper. 

Sagte  es  uns  nicht  der  Inhalt  des  Gedichts,  so  würde  der  Stein  reden 
und  uns  verkünden,  dafs  wir  den  Melusinen -Sagenkreis  streifen. 


*)  Chronicon  Johannis  Brompton  und  Henricus  de  Knighton,  Chronica  de  evcntibiis  Angliae 
lib.  I,  cap.  13  in  Twysdens  obenerwähnter  Ausgabe  col.  950  und  2335. 

**)   Vergl.   die  Rezension  von  Engelhardts  Ausgabe   in  den   Göttinger   gelehrten   Anzeigen 
vom  24.  Mai  1824,     S.  833  ff. 


Das  Heiratsversprechen.  27 


Und  ein  Kind  des  Wassers  ist  auch  das  wunderschöne  Mädchen  Ratna- 
mandschari  (Perlenband),  die,  wie  ein  indisches  Märchen  erzählt*),  alle  vier- 
zehn Tage  aus  dem  Meere  emportaucht,  auf  einem  Lager  von  strahlenden 
Edelsteinen  ruhend. 

Kandarpaketu,  der  Sohn  des  Dschimutakuto  folgt  ihr  kühn  in  die  Tiefe 
des  Meeres,  wo  sie,  die  Tochter  des  Feenkönigs,  in  goldener  Stadt  in  gol- 
denem Palaste  wohnt,  von  dienenden  Feen  umgeben. 

Die  Halbgöttin  schenkt  dem  irdischen  Jüngling  ihre  Liebe  und  verbindet 
sich  mit  ihm  in  Gandharver-Ehe,  d.  h.  ohne  kirchliche  Ceremonien  und  ohne 
Wissen  der  Eltern  und  Verwandten.  Nachdem  die  Ehe  geschlossen  war, 
lebten  sie  in  Freuden  und  Herrlichkeit  bei  einander.  Da  sagte  die  Fee 
ihrem  Gatten:  „Dies  alles  geniefse,  aber  das  Bild  der  Fee  Svarnareka  berühre 
nie."  Aber  Kandarpaketu  mifsachtete  das  Verbot  und  liefs  sich  verlocken, 
das  Bild  zu  berühren,  da  stiefs  es  ihn,  obwohl  nur  gemalt,  mit  dem  Fufse 
von  sich,  sodafs  er  in  die  irdische  Welt  zurückgeschleudert  wurde,  und  Fee 
und  Feenreich  nimmer  wiedersah. 

Nach  dieser  Excursion  nach  Indien  kehre  ich  nach  Deutschland  zurück, 
bitte  aber  den  Leser,  den  Fufs  der  Fee  nicht  zu  vergessen. 

Der  fromme  und  tapfere  Ritter  Peter  Dimringer  von  Stauffenberg  in 
der  Ortenau  am  Rhein  hat  den  Bruch  des  gegebenen  Wortes  noch  härter 
gebüfst  als  Kydippe  und  der  jüdische  Jüngling. 

Auf  einsamen  Ritt  im  Walde  fand  er  einst  ein  wunderschönes  Weib, 
das  ihm  seine  Liebe  gestand  und  ihn  glücklich  zu  machen  versprach  unter 
der  Bedingung,  dafs  er  stets  treu  bleiben  und  keine  andere  Frau  heiraten  sollte. 

Du  darfst  wohl  minnen  doch  nicht  freien; 
Nimmst  du  jedoch  ein  ehlich  Weib, 
So  erstirbt  dein  stolzer  Leib 
Darnach  am  dritten  Tage.**) 

Der  Ritter  ging  auf  ihre  Bedingungen  ein  und  rief  Gott  zum  Bürgen 
seiner  Treue  an. 

Wie  man  sieht,  ging  die  deutsche  Fee  in  ihrer  eifersüchtigen  Strenge 
nicht  so  weit  wie  die  indische  und  der  Ritter  konnte  daher  lange  ein 
wonniges  Leben  mit  ihr  fuhren,  ihre  Reize  und  ihren  unermefslichen  Reich- 
tum geniefsen.     So  oft  er  nur  den  Wunsch  aussprach,   die  Schöne  bei  sich 

zu  haben. 

Eh'  er  das  Wort  zu  Ende  sprach 

Vor  seinen  Augen  im  Gemach 

Stand  das  Fräulein  ohne  gleich. 


*)  Hitopadesha,  Bach  II,  Kap.  7. 
**)  Nach  Simrocks  Uebertragung. 


28  MartQs  Landau. 


Später  ging  es  noch  schneller: 

Wenn  der  Schönen  ihn  Verlangen  nahm, 
Hatt'  er  kaum  den  Wunsch  gedacht, 
Ob  es  Tag  war  oder  Nacht, 
So  war  sie  bei  ihm  gleich  zur  Stund' 
Und  that  ihm  ganze  Freundschaft  kund. 


Hatten  Kurzweile  viel 
Mit  der  süfsen  Minne  Spiel. 
Doch  nicht  blos  ihre  Liebe  schenkte  die  Fee  dem  Ritter,  sie  gab  ihm 
(wie  die  Schöne  in  Goethes  Märchen  von  der  neuen  Melusine)  auch  viel  Geld 
und  Gut, 

Dafs  er  auch  die  Gesellen 

Zufrieden  mochte  stellen 
Mit  den  Gaben  seiner  Hand. 
Lange  lebte  so  der  Ritter  mit  seiner  geliebten  Frau,  alle  Bitten  und 
Zureden  der  Freunde  und  Verwandten  nicht  beachtend,  die  in  ihn  drangen, 
sich  zu  verheiraten.  Wiederholt  beteuerte  er  der  Fee  ihr  bis  zum  Tode 
treu  zu  bleiben,  und  diese  gestattete  ihm  sogar,  im  äufsersten  Falle  von 
seiner  heimlichen  Liebe  zu  erzählen,  um  die  Zudringlichen  loszuwerden; 
nur  zum  Heiraten  solle  er  sich  nicht  überreden  lassen. 

Da  traf  es  sich,  dafs  der  Ritter  zum  Königshofe  nach  Frankfurt  zog 
und  sich  im  Turnier  sehr  auszeichnete.  Der  König,  der  schon  früher  viel 
Gutes  von  ihm  vernommen  hatte,  bot  ihm  seine  Nichte,  die  Fürstin  von 
Kärnten  zur  Frau  an.  Vergebens  versuchte  der  Stauffenberger,  zuerst  unter 
allerlei  Vorwänden  die  hohe  Ehre  abzulehnen;  er  mufste  endlich  von  seinem 
Verhältnis  zu  der  Fee,  ihren  geheimnisvollen  Besuchen,  ihren  reichen  Gaben 
und  seinem  Versprechen,  kein  ehelich  Weib  zu  nehmen,  erzählen.  Als  aber 
ein  Bischof  die  Schöne  zu  sehen  verlangte,  da  antwortete  der  Ritter: 

„Sie  lässt  sich  von  niemand  sehn 
Als  von  mir  nur  ganz  allein." 
Nun  konnte  jeder  verständige  Christenmensch  einsehen,   dafs  es  nicht   mit 
rechten  Dingen  zugehe;  denn  ein  frommes  irdisches  Weib  könne  doch  nicht 
so  blitzschnell  erscheinen  und  verschwinden,  ohne  von  jemand  andern   als 
dem  Liebsten  gesehen  zu  werden. 

„Ihr  verlieret  Seel  und  Leib", 

Sprach  ein  alter  Kapellan, 

„Nun  seid  ihr  doch  ein  Christenmann, 

Wie  seid  ihr  so  gesinnet, 

Dafs  ihr  den  Teufel  minnet? 


Das  Haralsversprechen.  fSl9 


Der  Teufel  umgeschaifen 

Hat  sich  zu  einem  Weibe. 

Die  Seel  in  eurem  Leibe 

Ist  ewiglich  verloren, 

Ihr  habt  reine  Fraun  verschworen; 

Der  Teufel  in  der  Hölle 

Ist  euer  Schlafgeselle." 

Und  der  Ritter,  anstatt  seine  Geliebte  zu  verteidigen,  anstatt  zu  er- 
zählen, wie  oft  und  andächtig  sie  von  Gott  und  der  heiligen  Jungfrau  spreche, 
liefs  sich  von  den  Pfaffen  überreden  und  versprach  des  Königs  Muhme  zu 
heiraten. 

Als  der  Ritter  nach  Hause  kam,  da  erschien  ihm  die  Geliebte  in  der 
Nacht  und  verkündete  ihm  sein  nahes  Ende  als  Strafe  des  gebrochenen 
Wortes.  Da  er  eine  andere  heirate,  müsse  er  am  dritten  Tage  sterben,  .als 
Zeichen  werde  sie  ihn  am  Hochzeitstage  ihren  Fufs  sehen  lassen.  Auch 
jetzt  benahm  die  Fee  sich  wie  eine  gute  Christin  und  ermahnte  ihn  recht- 
zeitig zu  beichten  und  das  Sakrament  zu  empfangen. 

Das  thut  dir  not  sicherlich, 
Gott  erbarme  deiner  Seele  sich. 

Und  als  der  Ritter  mit  seiner  Braut,  der  Fürstin  von  Kärnten  und  allen 
Gästen  beim  Hochzeitsmahle  safs,  da  sah  man, 

Dafs  etwas  durch  die  Decke  stiefs. 

Einen  Menschenfufs  es  sehen  liefs 

Blofs,  in  dem  Saal  bis  an  das  Knie. 

Auf  Erden  ward  so  schöner  nie. 

So  minniglicher  nie  gesehen. 
Der  Fufs  verschwand,  und  in  der  Decke  war  kein  Loch  sichtbar,  obwohl  man 
ein  solches  noch  in  unserm  Jahrhundert  im  Schlosse  zu  Stauffenberg  zeigte. 

Nach  dieser  Erscheinung  starb  der  Ritter  am  dritten  Tage,  wie  ihm 
verkündet  worden,  und  seine  Braut  ging  in  ein  Kloster,  um  für  sein  Seelen- 
heil zu  beten.  Was  mit  der  Fee  geschah,  wird  nicht  berichtet  Nach  einer 
andern  Version  des  Gedichts  sah  man  sie  oft  mit  der  Braut -Witwe  am 
Grabe  des  Ritters  beten. 

Der  Urkern  der  Erzählung,  die  Verbindung  von  sterblichen  und  un- 
sterblichen Wesen,  der  in  den  antik -heidnischen  Dichtungen  verhüllt,  in 
der  jüdischen  ganz  verschwunden  ist,  tritt  in  den  christlich -mittelalterlichen 
wieder  deutlich  zu  tage.  Die  Gottheiten  des  Olymps  spielen  bei  den  grie- 
chischen und  römischen  Dichtern  die  zweite  Rolle,  erst  bei  den  englischen 
Chronisten  wird  Venus  selbst  die  Heldin  der  Erzählung.  Aber  es  ist  nicht 
mehr  die  herrliche  schaumgeborene  Göttin,  sondern   nur  eine  Spukgestalt, 


90  Marens  Lmdmn. 


eine  Teufelin,  die  von  Menschen  besiegt  wird,  denn  sie  mufe  dem  Befehl 
eines  Höhern  gehorchen. 

Im  deutschen  Gedicht  ist  die  in  den  Irdischen  Verliebte  keine  Teufelin 
mehr,  aber  auch  kein  irdisches  Weib.  Sie  ist.  wenn  selbst  keine  Christin, 
doch  eine,  die  an  die  Macht  und  Güte  des  Christengottes  glaubt,  und  des- 
halb kann  sie  auch  lange  Zeit  ihr  Glück  geniefeen.  Sie  verliert  es  zwar  durch 
den  Wortbruch  des  Menschen,  aber  dieser  mufs  dafür  den  Tod  erleiden. 

Doch  erst  in  der  wohl  jüngsten  Gestaltung  der  alten  Mythe  kommt 
die  Göttin  wieder  ganz  zu  ihrem  Recht  Der  Mensch,  der  sich  ihr  ver- 
pflichtet, wird  wie  Kydippe  und  wie  der  Bräutigam  des  Mädchens  von  der 
Cisterne  zum  Worthalten  gezwungen  —  durch  dasselbe  Mittel,  dessen  sich 
die  Venus  der  englischen  Chronisten  bedient  Freilich  ist  es  keine  Teufelin 
und  keine  verdächtige  Waldfee,  sondern  ein  der  Gottheit  sehr  nahe  stehen- 
de§  Wesen,  das  die  Erfüllung  des  gegebenen  Versprechens  erzwingt:  Ein 
französischer  frommer  Dichter  des  13.  Jahrhunderts  hat  aus  der  Venus  der 
Chronisten  die  heilige  Jungfrau  gemacht.  —  Freilich  hatten  ihm  die  noch 
frömmern  Verfasser  von  albernen  Legenden  und  Wundergeschichten  dabei 
vorgearbeitet  In  vielen  ihrer  Erzählungen  spielt  die  Gottesmutter  höchst 
eigentümliche  Rollen.  Sie  erscheint  bald  als  Beschützerin  der  ärgsten  Sünder 
und  Verbrecher,  denen  sie  Straflosigkeit  und  ewigö  Seligkeit  gewährt,  wenn 
sie  nur  fleifsig  zu  ihr  beteten;  bald  als  Liebe  heischende  und  eifersüchtige 
Frau,  die  sich  ihrer  Schönheit  rühmt,  irdischen  Frauen  ihre  Liebhaber  ab- 
spänstig  macht*)  oder  Anbeter,  die  ihr  untreu  geworden  sind,  mit  Wundem 
oder  Gewaltmitteln  zu  ihrer  Pflicht  zurückruft. 

So  wird  in  dem  berüchtigten,  auf  Befehl  Kaiser  Karl  VI.  bis  auf  wenige 
Exemplare  vernichteten,  irrtümlich  dem  Mönche  Potho  zugeschriebenen,  von 
dem  Benediktiner  Bernhardt  Pez  1731  in  Wien  herausgegebenen  Liber  de 
miraculis  sanctae  Dei  Genitricis  Mariae  (cap.  16,  S.  334)**)  von  einem  Kle- 
riker in  Pisa  folgendes  erzählt: 

Er  war  immer  ein  treuer  Anbeter  der  heiligen  Jungfrau  gewesen,  liefs 
sich  aber  endlich  doch  von  seinen  Freunden  bereden  zu  heiraten,  und  begann 
schon  während  der  Vorbereitungen  zur  Hochzeit  in  seiner  Verehrung  der 
Gottesmutter  nachlässig  zu  werden.     Als  er  sich  einmal  doch  in  die  Kirche 

*)  Bei  Caesarius  von  Heisterbach  (Dialogus  miraculorom,  dist.  VII,  cap.  32)  trägt  sich  die 
heil.  Jungfrau  einem  Knappen  zur  Frau  an,  um  ihn  von  der  Liebe  zu  seiner  Herrin  zu  kurieren. 
Ihre  Werbung  lautet:  „Placetne  tibi  species  mea?  .  .  .  Sußiceret  tibi  si  me  posses  habere  uxorem? 
Accede  ad  me  et  da  mihi  osculum." 

*♦)  Ueber  dieses  Buch  und  seine  Schicksale  vergl.:  Die  Garelli,  von  Gustav  Freiherm  von 
Suttner.  Wien  1885,  S.  49.  Doch  ist  von  demselben  noch  mehr  als  ein  Exemplar  vorhanden. 
Dals  Potho  nicht  der  Verfasser  dieser  Manen-Legenden  ist,  wird  in  einer  demnächst  erscheinenden 
Schrift  des  berühmten  Romanisten  Mussafia  nachgewiesen  werden. 


Das  Heiratsversprechen.  31 


begab,  um  zu  ihr  zu  beten,  fuhr  sie  ihn  aufs  heftigste  an  und  liefs  es  auch 
nicht  an  Drohungen  fehlen.  „O  iniquissime  et  stultissime ,  cur  me  dereli- 
quisti,  cum  tua  amica  essem  et  declinasti  in  alterius  amorem?  Moneo  te  ne 
dimittas  me  nee,  me  contempta,  conjugem  ducas",  rief  sie  ihm  zu. 

Der  erschrockene  Kleriker  verliefs  gleich  nach  der  Trauung  sein 
irdisches  Weib  und  entfloh,  man  weifs  nicht  wohin.  Doch  ward  vermutet, 
er  habe  sich  in  der  Einsamkeit  ganz  dem  Dienste  Gottes  und  seiner  Mutter 
gewidmet. 

Einige  Aehnlichkeit  mit  dieser  Erzählung  hat  auch  die  35.  im  eben 
erwähnten  Buche  (S.  389)  und  finden  sich  verwandte  Erzählungen  in  vielen 
Sammlungen  von  Marienlegenden.  Auf  diese  hier  weiter  einzugehen  kann 
ich  aber  um  so  eher  unterlassen,  als  wir  hierüber  eine  abschliefsende  Arbeit 
von  der  Meisterhand  Mussafia's  zu  erwarten  haben. 

Etwas  entfernter  steht  eine  Erzählung  von  einem  Jünglinge,  der  sich 
der  heiligen  Jungfrau  gewidmet  hatte,  und  den  diese  an  seinem  Hochzeits- 
tage sterben  liefs,  in  dem  Bonum  universale  de  proprietatibus  apum  (ü,  29) 
des  Thomas  von  Cantimpr^  (gest.  um  1293).  In  dem  Speculum  historiale 
des  Vincenz  von  Beauvais  findet  sich  aufser  der  Marienlegende  (VIII,  87) 
auch  eine  Erzählung,  welche  der  des  Wilhelm  von  Malmesbury  ähnlich  ist*) 

Der  um  1236  verstorbene  französische  Benediktiner  Gautier  de  Coincy 
war  es  nun,  der  aus  der  einfachen  Marienlegende  und  der  unheimlichen 
Erzählung  der  englischen  Chronisten  ein  höchst  eigentümliches  Gedicht  bil- 
dete. Er  erzählt  uns  in  seinen  Miracles  de  Notre  Dame  von  dem  jungen 
Manne,  der  sich  mit  der  heiligen  Jungfrau  vermählte,  die  ihn  dann  am  Ver- 
kehr mit  irdischen  Frauen  hinderte.**) 

Ganz  wie  bei  den  englischen  Chronisten  treffen  wir  auch  hier  eine 
Gesellschaft  junger  Leute,  die  sich  mit  Ballspielen  unterhalten.  Einer  von 
ihnen  will  seinen  Ring  ablegen  und  weifs  keinen  bessern  Platz  für  ihn  zu 
finden,  als  sich  in  eine  nahe  Kirche  zu  begeben  und  ihn  an  den  Finger 
einer  Statue  der  heiligen  Jungfrau  zu  stecken.  Der  junge  Mann  ist  aber 
noch  nicht  vermalt,  und  sein  Ring  ist  kein  Trauring.  Er  ist  nur  ein  Ge- 
schenk seiner  Liebsten  und  von  ihm  hochgeschätzt.  Das  war  unserm  from- 
men Dichter  aber  nicht  genug,  um  die  Aneignung  des  Ringes  durch  die 
heil.  Jungfrau  zu  entschuldigen.  Er  läfst  daher  den  jungen  Mann  in  einem 
Anfall  von  Frömmigkeit  vor  der  Statue  niederknien  und  sich  ihr  förmlich 
angeloben: 


*)  Nach  A.  Graf,  Roma  nella  memoria  del  medio  evo,  Turin  1883,  II,  392,  402,  wo  noch 
einige  andere  Parallelstellen  angeführt  sind. 

**)  Du  varlet  qui  se  maria  k  Nostre  Dame,  dont  ne  volt  qu'il  habitast  k  autre.  Bei  Bar" 
bazan-M^on,  als  Anhang  zum  Castoiement,  Paris  1808,  S.  420.  Miracles  de  la  Sainte  Vierge  de 
Gaatier  de  G>incy  ed.  Abb6  Poqaet     Paris  1857.     S.  633. 


32  Marcus  LaikUn. 


Dame,  fet-il,  en  mon  aage, 
D'ore  en  avant  vous  servirai, 
Car  onques  mais  ne  remirai 
Dame,  meschine,  ne  pucele 
Qiie  tant  me  fust  plaisant  ne  bele; 

Cest  anei  ci,  qui  moult  est  btaus, 
Te  veil  doner  par  fine  amor, 
Par  tel  convent,  que  ja  nul  jor 
N'arai  mais  amie  ne  fame, 
Se  vous  non,  bele  douce  Dame. 
Als  er  ihr  dann  den  Ring  an  den  ausgestreckten  Finger  steckt  und   sie 
diesen  sofort  umbiegt  und  den  Ring  so  festhält,  dass  kein  Mensch  ihn  herunter- 
ziehen kann,  handelt  sie  in  ihrem  vollen  Recht    Aber  ein  Wunder  bleibt  die 
Sache  immerhin.     Alle  Anwesenden,  die  auf  das  Geschrei  des  jungen  Mannes 
herbeiliefen,  konnten  sich  vor  Staunen  nicht  fassen  und  erklärten  ihm,  er  müsse 
nun  ohne  den   mindesten  Verzug  der  Welt  entsagen  und  ins  Klostser  gehen, 
um  der  Dame  Sainte  Marie  ausschliefelich  zu  dienen. 

Der  junge  Mann  vergafe  aber  bald  Versprechen  und  Wunder  und  heiratete 
die  irdische  Geliebte,  welche  ihm  den  Ring  geschenkt  hatte,  und  die  überdies 
sehr  reich  und  vornehm,  lieb  und  schön  war. 

Trotzdem  konnte  er  sich  ihres  Besitzes  nicht  erfreuen,  denn,  wie  er  nur 
das  Brautbett  bestieg,  schlief  er  gleich  ein. 

Wie  in  der  Erzählung  des  englischen  Chronisten  die  Venus  sich  zwischen 
die  Neuvermälten  drängt  und  den  Bräutigam  für  sich  reklamiert,  so  erscheint 
hier  die  heilige  Jungfrau  dem  jungen  Manne  im  Traum,  zeigt  ihm  den  Ring, 
den  er  ihr  gegeben  und  wirft  ihm  seine  Untreue  vor.  Mit  besonderem  Nach- 
druck erinnert  sie  ihn  daran,  dafs  er  gesagt  habe,  sie  sei  hundertmal  schöner 
als  alle  Mädchen,  die  er  kenne. 

Et  si  disoies  que  cent  tans 
Ere  plus  bele  et  plus  plesans 
Que  pucele  que  tu  seusses. 
Wiederholt   erscheint   sie    dem   jungen   Gatten,    immer   nachdrücklicher 
werden  ihre  Vorwürfe,  immer  schärfer  ihre  Drohungen,  ja  sie  erniedrigt  sich 
sogar  wie  ein  gemeines  eifersüchtiges  Weib,  ihre  Nebenbuhl«in  zu  schmähen 
und  nennt  die  doch  ganz  unschuldige  junge  Gattin  eine  chetive  femme  und 
pullente  pullentie  (stinkendes  Aas). 

Dem  französischen  Dichter  war  die  Erzählung  des  Chronisten  vom  Jüng- 
ling in  Rom  gut  bekannt;  aber  gegen  die  heilige  Jungfrau  konnte  er  nicht  die 
Hilfe  eines  Zauberers  in  Anspruch  nehmen  lassen,  und  würde  er  auch  damit 
gegen  die  erbauliche  Tendenz  seines  Gedichts  verstofeen  haben. 


Das  Heiratsversprechen.  33 

Er  läfst  daher  den  jungen  Mann  in  aller  Frühe,  ohne  seiner  Frau  ein 
Wort  zu  sagen,  davonlaufen  und  in  ein  Kloster  eintreten,  wo  er  Gott  und  der 
heiligen  Jungfrau  bis  an  sein  Lebensende  diente.  • 

Avec  s'amie  ala  manoir. 
Cui  il  avoit  par  amors  mis 
Uanel  oü  doi  com  fins  amis, 
Dou  siecle  toz  se  varia 
A  Marie  se  maria. 

So  wird  das  im  Tempel  gegebene  Versprechen  nach  dem  Willen  der 
Göttlichen  erfüllt,  in  der  Erzählung  des  frommen  Mönchs  so  gut  wie  in  der 
des  heidnischen  Griechen,  von  der  wir  in  dieser  Darstellung  ausgegangen  sind. 
Nur  dafs  die  griechische  Göttin  die  Ehe,  die  christliche  Gottesmutter  die 
Ehelosigkeit  erzwingt. 

Wien. 


Ztschr.  £  vgl.  Litt.-Gesch.  I. 


Ueber  den  Refrain. 

Von 
Richard    M.   Meyer. 


Für  die  vergleichende  Poetik  hat  Scherer  (Anz.  f.  d.  Alt.  I,  199  f.  vgl.  Haupt 
ebd.  II,  322  f.)  mafegebende  Gesichtspunkte  aufgestellt  Seine  Betrachtungen 
zeigen,  dafs  innerhalb  des  grofsen  Gebietes  der  vergleichenden  Litteratur- 
geschichte  die  vergleichende  Poetik  eine  besonders  wichtige  Stellung  beansprucht 
Es  wäre  vielleicht  unrichtig,  zu  sagen,  dafe  hier  eine  gröfsere  Gesetzinäfsigkeit 
der  Entwicklung  walte  als  bei  Produkten  der  Prosa;  aber  die  augenfälligen 
Veränderungen  der  poetischen  Form  und  deren  Einwirkung  auf  das  ganze 
Dichtwerk  lassen  die  Regeln  einer  gesetzmäfsigen  Fortbildung  leichter  beobachten. 
Die  Gesetze  einer  solchen  Entwicklung  für  reine  ausnahmslos  wirkende  Natur- 
gesetze zu  erklären  würde  ich  für  ebenso  unrichtig  halten  als  das  mir  auf 
linguistischem  Boden  zu  sein  scheint;  aber  dem  freien  Willen  der  gestaltenden 
Individualität,  den  schon  so  manche  Schranken  eines  Teils  der  Freiheit  berauben 
(Geschmack  der  Zeit,  Muster,  eigene  Bildung  u.  s.  w.),  legt  die  poetische  Fonn 
noch  drückendere  Fesseln  an,  sodafs  die  Gestaltung  der  Poesie  in  ihren  ver- 
schiedenen Epochen  eine  gröfsere  Einheitlichkeit  erhält.  Solche  Epochen 
indefs  nur  nach  der  Form  abzugrenzen,  wäre  so  einseitig,  wie  sie  nur  nach 
dem  Inhalt  zu  bestimmen.  Entscheidend  ist  das  Verhältnis  des  Inhalts  zur 
Form  und  dies  zeichnet  sich,  wie  ich  glaube,  auf  eine  höchst  merkwürdige 
Weise  ab  in  der  Geschichte  eines  Kunstmittels,  das  weder  ganz  inhaltlicher 
noch  ganz  formaler  Natur  ist,  sondern  eben  vermittelt:  des  Refrains.  — 

Die  Figur  des  Refrains  besteht  in  der  ständigen  Wiederkehr  bestimmter 
Lautgruppen  am  Schlufs  von  Gedichtabschnitten.  Diese  Lautgruppen  können 
von  zweierlei  Art  sein:  entw^eder  bilden  sie  wirkliche  allgemeinverständliche 
Worte,  sodafs  nur  ihre  periodische  Wiederholung  sie  von  dem  übrigen  Texte 
abhebt,  oder  diese  Lautgruppen  ermangeln  eines  fafslichen  Sinns,  sodafe  ein 
sogenannter  sinnloser  Refrain  die  Worte  des  Gedichtkörpers  begleitet  Eine 
besonders  häufige  Abart  des  „sinnlosen  Refrains"  ist  der  sogenannte  laut- 
nachahmende Refrain,   der  richtiger  „musiknachahmender  Refrain"   hiefse,  weil 


Ueber  den  Refrain.  35 


er  den  Klang  bestimmter  Instrumente  oder  auch  Geräusche  wiederzugeben 
sucht.  Ich  will  es  im  Folgenden  versuchen,  die  Entstehung  dieser  Hauptformen 
und  ihr  wahrscheinliches  zeitliches  Verhältnis  zu  untersuchen. 

Wüfsten  wir  von  der  Figur  des  Refrains  nichts  weiter,  als  dafs  sie  der 
Volkspoesie  aller  Zeiten  und  Länder  gemein  ist,  so  würde  schon  das  genügen, 
um  dem  Refrain  in  der  Geschichte  der  Poesie  eine  bedeutungsvolle  Stelle 
anzuweisen.  Dieser  Eindruck  aber  wird  verstärkt,  sobald  wir  die  Eigenart  des 
Refrains  in  ästhetischer  Hinsicht  prüfen.  Der  Refrain  widerspricht  nämlich  ganz 
direkt  und  vernehmlich  der  Aufgabe  der  Poesie,  wie  sie  Lessing  bei  der 
Prüfung  der  gröfsten  poetischen  Leistungen  erkannt  hat.  Er  fand,  es  sei  das 
Ziel  der  Dichtung,  das  zeitlich  Folgende  darzustellen.  Während  aber  alle 
andern  Mittel  der  Poesie  diesem  Zwecke  dienen,  hat  der  Refrain  und  er  ganz 
allein  die  Wirkung,  ein  Nebeneinander  vor  unsere  geistigen  Augen  zu  stellen. 
Wenn  etu'a  in  einer  genealogischen  Stelle  der  Bibel  oder  Homers  das  Geschlecht 
eines  Helden  aufgezählt  wird,  so  wiederholt  sich  unsenn  Geist  ohne  Weiteres 
die  historische  Reihenfolge.  Wenn  aber  in  einer  solchen  Stelle  in  der  Edda 
einer  Gruppe  von  Namen  jedesmal  der  Refrain  folgt:  ,Dies  ist  all  dein  Geschlecht, 
Ottar  du  Blöder*,  so  ruft  dies  Wort  jedesmal  von  neuem  die  mit  der  gleichen 
Marke  versehenen  früheren  Worte  ins  Gedächtnis.  Wir  erhalten  den  Eindruck, 
als  sähen  wir  in  einem  Ahnensaal  die  Bilder  der  Vorfahren  nebeneinander 
hängen,  alle  mit  dem  gleichen  Wappen  bezeichnet. 

Fassen  wir  nun  diese  beiden  Eigentümlichkeiten  des  Refrains  zusammen, 
seine  Unentbehrlichkeit  in  aller  autochthonen  Poesie,  und  seine  psychologische 
W^irkung.  Wir  werden  mit  einem  Schlag  durch  dies  Kunstmittel  zurückgeführt 
in  die  Zeiten  der  ursprünglichsten  Poesie,  die  wir  kennen.  Ueberall  ist  Coordi- 
nation  älter  als  Subordination.  Die  Poesie  uncivilisirter  Völker  ist  noch  nicht 
wie  die  des  logisch  geschulten  Dichters  durch  den  streng  befolgten  Leitfaden 
der  Zeitfolge  zu  einer  übersichtlichen  Einheit  geformt.  Der  Malerei  ohne 
Perspektive  entspricht  vollkommen  diese  Poesie  ohne  Zeitfolge.  Dies  ist  auch 
wohl  begreiflich,  denn  diese  älteste  Zeit  ist  im  Gegensatz  zu  der  Objektivität 
der  alten  Heldendichtung  durchaus  subjektiver  Natur:  ein  mächtiger  Eindruck 
verlangt  Ausdruck  und  bricht  in  verschiedenen  Formen  hervor;  doch  die 
Gnindstimmung  kehrt  immer  wieder  als  Refrain.  So  geartet  ist  alle  älteste 
Poesie,  die  wir  kennen.  Und  wo  wir  bei  tiefstehenden  Rassen  diese  Ursprünge 
des  Liedes  treffen,  da  ist  der  Refrain  nicht  nur  überall  vorhanden,  sondern 
auch  überall  gleichartig:  es  ist  ein  Empfindungslaut  —  der  Keim  des  soge- 
nannten „sinnlosen  Refrains". 

Freilich  ist  in  Bezug  gerade  auf  diesen  „sinnlosen  Refrain"  eine  ganz 
andere  Erklärung  versucht  worden.  A.  W.  Grube  hat  in  seinem  verdienstlichen 
Aufsatz  über  den  Kehrreim  im  deutschen  Volkslied  (Aestlietische  Vorträge  II,  1 1 7) 
die  Ansicht  geäufsert,  die  jüwezunge  —  wie  der  mhd.  Kunstausdruck  lautet  — 


36  Richard  M.  Meyer. 


sei  aus  Mifsverständnis  des  lateinischen  Kirchengesangs  entsprungen.  Dies 
scheint  mir  so  recht  ein  Beispiel  jener  rein  litterarischen  Art  zu  forschen,  die 
nie  vom  Buche  fortkommt,  während  in  Wahrheit  doch  der  Weg  geistiger 
Arbeit  durchaus  nicht  nur  von  Buch  zu  Buch  geht.  Hier  braucht  man  nur 
zu  fragen:  wen  haben  denn  die  ältesten . Sänger  Griechenlands  mifeverstanden ? 
Denn  mit  vollem  Recht  vergleicht  Otfried  Müller  (Gesch.  d.  griech.  Litt.  I,  28) 
den  homerischen  iv^fiog  dem  Juchzer  der  Schweizerbauern,  und  wer  will  da 
Kirchenmusik  heraushören!  Wohl  aber  entsprang  diese  selbst  zum  Teil 
solchen  Refrains  wie  dem  Hallelujah. 

So  weit  sind  solche  Empfindungslaute,  der  Poesie  der  Urvölker  unent- 
behrliche Schlufspartikeln,  so  unendlich  weit  sind  sie  von  verderbter  Nach- 
ahmung kunstvoller  Liturgien  entfernt,  daCs  sie  vielmehr  zum  allerältesten  Schatz 
menschlicher  Ausdrucksweise  gehören.  Ueber  die  Zeiten  hinausgehend,  aus 
denen  uns  wirklich  poetische  Belege  erhalten  sind,  weisen  die  refrainbildenden 
Empfindungslaute  in  die  vorhistorische  Epoche  der  Urpoesie  zurück.  Denn 
sie  liegen  den  ersten  Regungen  des  Sprachvermögens  so  nahe,  dafs  dieser 
Stufe  keimender  Urpoesie  sich  sogar  das  Tier  schon  nähert.  Die  alte  Theorie, 
die  aus  Interjektionen  die  Sprache  entstehen  liefs,  hat  Darwin  in  seinem  Werk 
über  den  Ausdruck  der  Gemütsbewegungen  in  einer  vertieften  und  gegründeten 
Weise  erneuert.  Seiner  Entwicklungslehre  entsprechend  erscheinen  ihm  (vgl. 
aaO.  bes.  S.  85)  als  Wurzeln  der  Sprache  die  unwillkürlichen  Begleit- 
laute  natürlicher  Bewegungen.  Empfindungslaute  und  verschiedene 
Schreie  mit  verschieden  nuancierter  Bedeutung  teilen  daher  alle  höhern  Tiere 
mit  dem  Menschen.  Aber  sie  haben  nicht  nur  die  ersten  Keime  der  Sprache 
gemein,  sondern  auch  Ansätze  zu  einer  gesteigerten  Sprachform.  Eine  Affen- 
art, der  Gibbon,  singt  sogar,  wie  ebenfalls  Danvin  (aaO.  88)  bemerkt.  Und  was 
scheint  tierische  Vokalmusik  von  der  ältesten  Poesie  der  Urvölker  noch  zu 
trennen,  wenn  nach  Brehms  Bericht  (Illustriertes  Tierleben  1,  27.  31.  72)  ver- 
schiedene Affenarten  den  Sonnenaufgang  und  -Untergang  mit  Geschrei  begrüfsen? 
gelten  doch  noch  so  vollkommene  Kunstwerke  wie  die  ältesten  Lieder  der 
Veden  demselben  Gegenstand.  Ja,  wenn  man  Brehms  Angaben  (aaO.  62)  trauen 
darf,  haben  die  Brüllaffen  sogar  einen  Vorsänger,  wie  er  dem  Gesang  der 
Naturvölker  nahezu  unentbehrlich  ist. 

Selbstverständlich  soll  hier  nicht  etwa  ultradarwinianisch  eine  Kontinuität 
angedeutet  werden,  die  ganz  unhaltbar  wäre.  Ich  meine  nur:  die  Ansätze  der 
Urpoesie  stecken  so  tief  in  den  ersten  Regungen  der  Geistesthätigkeit,  dafs  sie 
fast  schon  den  Tieren  erreichbar  waren.  Wir  dürfen  bei  den  Menschen  also 
hier  ganz  sicher  die  älteste  Stufe  vermuten.  Denn  Anfang  der  Poesie  ist  dies 
wirklich  schon.  —  Man  hat  viele  Definitionen  der  Poesie  versucht;  ich  meine 
doch,  dafs  man  sich  am  Ende  entschliefsen  mufs,  fiir  Poesie  alles  gelten  zu 
lassen,    was    bei    irgend    einem  Volk  einmal   die   bei   uns   von   der  Dichtung 


Ucber  den  Refrain.  3' 


besetzte  Stelle  einnimmt  Ist  Poesie  gesteigerte  Sprache,  ist  sie  das  Aufgebot 
aller  Ausdrucksmittel  zur  Auslösung  einer  seelischen  Erregung,  der  Reflex  einer 
gesteigerten  Anschauung  oder  Empfindung  —  ist  sie  das,  so  sehe  ich  nicht, 
wie  man  diese  Benennung  dem  begeisterten  oder  entsetzten  Schrei  des  Ur- 
menschen verweigern  will.  Wie  nach  dem  schönen  Gedicht  von  Anastasius 
Grün  nur  mit  dem  letzten  Menschen  der  letzte  Dichter  ausziehen  wird,  so  war 
der  erste  Mensch  wohl  schon  der  erste  Dichter.  Der  übermächtige  Eindruck 
des  Sonnenuntergangs  prefste  ihm  einen  Schrei  aus  —  andere  Mittel  des  Aus- 
drucks waren  ihm  noch  versagt.  Aber  sein  Enkel  vermochte  schon  deutlicher 
was  er  empfand  verständlich  zu  machen,  doch  blieb  jener  Empfindungslaut  — 
und  in  den  sinnlosen  Refrains  der  Volkslieder  aller  Länder  klingt  einverstanden 
die  Empfindung  des  Urahnen  nach.  — 

Wir  stehen  hier  auf  keinem  Boden,  der  Beweise  zuläfst.  Wird  innere 
Wahrscheinlichkeit  gelegentlich  durch  äufsere  Belege  erhärtet,  so  mufs  fiir  jetzt 
uns  das  genug  sein.  Sei  es  denn  gestattet,  von  dieser  Basis  aus  die  Geschichte 
des  Refrains  kurz  zu  skizzieren  und  damit,  wie  ich  glaube,  die  äufsersten 
Umrisse  der  Geschichte  der  poetischen  Form.  — 

Es  kann  keine  ältere,  keine  einfachere,  rohere,  naturwüchsigere  Poesie 
gedacht  werden  als  diese:  in  gewissen  pathetischen  Momenten  —  wenn  ich 
mich  so  ausdrücken  darf  —  verlangt  die  übermäfeige  Erregung  einen  Ausdruck, 
und  durch  die  Laute,  welche  naturgemäfse  Bewegungen  solcher  Augenblicke 
mit  sich  bringen,  witd  der  Weg  angedeutet,  auf  dem  solcher  Ausdruck  zu 
finden  ist.  Nicht  damit  solche  gesteigerte  Weise  des  Ausdrucks  entsteht,  wohl 
aber  damit  sie  weiter  wirkt,  damit  durch  Nachahmung  und  Anerkennung  die 
ersten  Spuren  einer  poetischen  Konvention  und  Tradition  geschaffen  werden, 
ist  die  Anwesenheit  von  Hörern  gefordert.  Doch  meine  ich  nicht,  dafs  alle 
älteste  Poesie  Chorpoesie  gewesen  sein  müfee.  Kennen  wir  doch  jene  pathe- 
tischen Momente,  die  gesteigerten  Ausdruck  hervorriefen:  es  sind  eben  die, 
welche  schon  das  Tier  mit  gesteigertem  Empfindungslaut  begleitet.  Vor  allem 
ist  es  das  Liebeswerben,  auf  das  Darwin  sogar  —  doch  gewifs  mit  Unrecht  — 
fast  ausschliefslich  Gewicht  legt.  Dies  aber  ist  zu  chorischer  Poesie  begreiflicher- 
weise nicht  geeignet;  der  Einzelne  trägt  es  der  Einzelnen  vor,  grade  wie  noch 
jetzt  beim  Fensterin  die  bajuvarischen  Bauern  ihre  Liedchen  singen.  Ein 
pathetischer  Moment  in  höherem  Sinn  aber  ist  ein  Todesfall  —  und  nirgends 
fehlen  der  ältesten  Poesie  Klagelieder.  Sie  waren  naturgemäfs  Qiorlieder  und 
so  erhielten  sie  sich,  wo  die  Einzeldichtung  verstob.  Dazu  erforderte  das 
strenge  Ceremoniell  aller  Naturvölker  genaue  Wahrung  des  Bestattungsritus 
besonders  bei  den  Häuptlingen.  Und  so  sind  es  fast  überall  solche  Trauer- 
gesänge, die  als  älteste  Poesie  uns  aufbewahrt  blieben.  In  noch  höherem 
Grade  als  die  Wendepunkte  im  Leben  des  Einzelnen  und  des  Stammes  sind 
drittens  die  der  ganzen  Natur  entscheidende  Augenblicke,  deren  durchgreifende 


38  Richard  M.  Meyer. 

Wichtigkeit  die  Nerven  und  Sinne  des  Urmenschen  in  gesteigerte  Bewegung- 
versetzt  Wie  die  Vögel  den  Morgen  mit  Gesang  begrüfeen,  ist  er  zahlreichen 
Tiergattungen  höher  organisierter  Art  das  Zeichen  zum  gemeinschaftlichen 
Geschrei.  Und  den  Beginn  der  schönen  Jahreszeit  läfst  wohl  kein  Volk  unge- 
feiert vorübergehn.  So  haben  wir  vor  der  Entstehung  der  Sprache  die  ersten 
Keime  der  Poesie.  Aus  diesen  Anfangen  sollte  sich  später  die  lyrisch-epische 
Urpoesie  ent\\'ickeln  und  weiterhin  dann  aus  dem  Liebeswerben  des  Einzelnen 
die  reine  Lyrik,  aus  dem  Trauerlied  des  Stammes  die  reine  Epik,  aus  der 
Begrüfeung  der  Sonne  die  nie  rein  lyrische  und  nie  rein  epische  religiöse  Poesie.  — 

Dies  wären  denn  die  ältesten,  für  den  Menschen  prähistorischen  Ansätze 
dessen,  was  bei  weiterer  Entwicklung  des  Intellekts  Poesie  werden  sollte. 
Und  die  Form  ist  nicht  zweifelhaft:  einförmiges  Wiederholen  jener  Empfindungs- 
laute. Noch  für  unendlich  spätere  Zeit  spricht  Otfrid  Müller  (aaO.  S.  30)  von 
den  altgriechischen  Anrufen  ui  und  /jj':  „solche  Ausrufungen,  die,  an  sich  be- 
deutungslos, durch  den  Ton,  mit  dem  sie  ausgestofsen  werden,  eine  Empfindung 
bezeichnen  .  .  .  bilden  gleichsam  die  ersten  Anfänge  und  Keime  zu  den 
Hymnen,  die  mit  ihnen  begannen  und  schlössen."  Also  was  Refrain  (und 
Gegenrefrain)  werden  sollte,  war  damals  noch  zugleich  Text,  wenn  man  so 
sagen  darf 

Aber  dieser  Refrainkeim,  eben  weil  er  noch  zugleich  Liedkörper  ist, 
gewinnt  selbst  einen  typischen  Abschlufs,  und  damit  erreicht  er  eine  neue 
Stufe  seiner  Entwicklung.  —  Hat  man  unter  dem  Druck  ftiner  starken  Erregung 
denselben  Laut  wieder  und  wieder  ausgestofsen,  so  wird  beim  Aufhören  aus 
rein  physischen  Ursachen  leicht  ein  anderer  Laut  ertönen.  Und  wie  überall 
wird  auch  hier  was  zufällig  begleitender  Umstand  war,  selbständig  ausgebildet 
Selbst  diesen  Schritt  noch  thut  der  Mensch  nicht  allein,  ßrehm  spricht  (111. 
Tierleben  IL  S.  XL)  von  „Strophen"  des  Vogelgesangs:  eben  jener  Schlufston 
bezeichnet  sie.  Es  heifst  dort:  „Werden  die  Gesangsteile  oder  Strophen  scharf 
und  bestimmt  vorgetragen  und  deutlich  abgesetzt,  so  nennen  wir  das  Lied 
Schlag,  während  wir  von  Gesang  reden,  wenn  die  Töne  zwar  fortwährend 
wechseln,  sich  jedoch  nicht  zu  einer  Strophe  (richtiger:  zu  Strophen)  gestalten." 
Was  charakterisiert  nun  aber  solchen  „Schlag",  z.  B.  den  der  Finken,  der  am 
genauesten  studiert  und  beschrieben  worden  ist,  wie  man  aus  Brehms  Mit- 
teilungen (aaO.  II,  70)  ersieht:  eben  der  Abgesang.  Allemal  beginnt  der 
Finkenschlag  mit  mehrmaliger  Wiederholung  des  selben  (immer  sehr  hellen 
und  spitzen)  Tones ;  dann  folgt  —  zuweilen  durch  einen  kurzen  Uebergangslaut 
vermittelt  —  die  etw-a  gleich  häufige  Wiederholung  eines  zweiten,  etwas  tieferen 
und  breiteren  Tones;  und  dann  drittens  eine  Reihe  ganz  anderer  Laute,  die 
meist  in  einen  gedehnten  A- Klang  austönt.  Hätte  Bartsch  die  von  ihm  (Alt- 
frz.  Romanzen  und  Pastourellen  Einl.  S.  XV)  versprochene  Sammlung  von 
Refrains  veröffentlicht  —  die  aber  nun  leider  einstweilen  ebensowenig  zu  er- 


Ueber  den  Refrain.  39 


warten  ist  ^^ie  die  von  E.  Schmidt  Q.  F.  IV  S.  9  Anm.  in  Aussicht  gestellte 
Abhandlung  über  Refrain  und  Responsion  im  altern  Minnesang,  so  dankenswert 
dieselbe  auch  wäre  —  so  würde  man  gewifs  noch  recht  häufig  einen  ähnlich 
einfachen  und  natürlichen  Bau  vorfinden.  Wir  könnten  nach  der  antiken  Ter- 
minologie sagen:  auf  eine  Strophe  folgt  eine  nicht  genau  gleiche  Antistrophe 
und  abschliefsend  eine  Epode.  Wir  könnten  nach  der  mhd.  Terminologie 
sagen:  auf  zwei  nicht  genau  gleiche  Stollen  folgt  ein  Abgesang. 

Offenbar  ist  dies  schon  eine  höhere  Form.  Zu  dem  „Schlag**  steht  der 
einfache  „Sang**  der  Vögel,  zu  dem  Refrain  mit  kunstmässigen  Abschlufs  die 
monotone  Wiederholung  des  gleichen  Empfindungslauts  etwa,  wie  die  äolische 
Lyrik  zur  dorischen.  Der  dreiteilige  Bau  stellt  so  eine  Vorstufe  zu  noch  feinerer 
Entu'ickelung  dar.  Hier  also  treffen  wir  den  Refrain  -gewissermafeen  in  der 
zweiten  Potenz:  der  Abschlufslaut  ist  so  zu  sagen  ein  neuer  Refrain,  den  der 
alte  Refrain  ansetzt.  Bald  wird  der  alte  Refrain  sich  in  den  stofflichen  Lied- 
körper, der  neue  Refrainsatz  sich  in  einen  vollen  Chor-Refrain  umwandeln.  — 

Das  wäre  denn  also  der  erste  Fortschritt,  den  wir  in  der  Entwickelung 
der  Vorpoesie  —  wenn  man  das  Wort  gestatten  will  —  voraussetzen  dürfen: 
ein  Fortschritt  in  mufikalischer  Richtung,  ein  Vorrücken  zu  besserer  Gliederung. 
Er  ist  vorbildlich  fiir  die  späteren  Fortschritte. 

Erst  jetzt  kommen  wir  auf  historischen  Boden,  erst  jetzt  zu  den  Zuständen, 
die  für  die  ältesten  zu  gelten  pflegen,  zu  denen  des  artikuliert  redenden  Menschen. 
Noch  nie  hat  man  ja  einen  Menschenstamm  entdeckt,  der  der  Sprache  entbehrte; 
und  auch  noch  nie  ein  Volk  ganz  ohne  Poesie.  Ja  man  hat  sogar  nach  Herder 
wiederholt  behauptet,  die  Poesie  sei  älter  als  die  Prosa.  Aber  mag  das  rück- 
sichtlich des  Inhalts  auch  eine  gewisse  Berücksichtigung  haben  —  hinsichtlich 
der  Form  ist  hiermit  eine  unhistorische  Vorstellung  von  urmenschlicher  Voll- 
kommenheit verbunden.  Die  Form  musste  erst  gewonnen  werden  und  ward 
in  jahrhundertelangem  Ringen  mit  der  Sprache  mühsam  gewonnen.  —  Wir 
sind  hier  wie  so  oft  genötigt,  wo  Zeugnisse  aus  dem  Vorleben  unserer  Kultur- 
völker fehlen,  das  Beispiel  gegenwärtig  kulturloser  Völker  zu  Hilfe  zu  nehmen, 
und  wir  dürfen  das,  mit  Vorsicht  immerhin,  thun,  wo  sich  diese  Beispiele  in 
die  natürliche  Entwickelungsreihe  zwanglos  einfügen.  Für  Furagen  der  ältesten 
germanischen  Poesie  hat  damit  denn  auch  schon  Burdach  (Zs.  f.  d.  Alt  27, 
345  f.)  den  Anfang  gemacht. 

In  der  ältesten  historischen  Epoche  treffen  wir  den  Gesang  der  Menge 
noch  völlig  auf  dem  Punkte,  auf  dem  wir  alle  Poesie  der  Urzeit  vermuten. 
Aber  hier  tritt  der  Vorsänger  auf,  an  dessen  Thätigkeit  die  weitere  Entwickelung 
nunmehr  anknüpft  wie  die  des  Dramas  an  die  Recitation  des  Schauspieles. 
Der  Chor  stösst  auch  jetzt  noch  einförmig  nur  Empfindungslaute  aus.  Ein 
Vorsänger  aber  setzt  in  einzelnen  Abschnitten  den  Grund  dieses  Gesangs  oder 


a*  Richard  M.  Mever. 


Geschreis  in  artikulierter  Rede  auseinander.  —  Am  anschaulichsten  ist  diese 
Art  Volksgesang  im  eigentlichen  Sinne  des  Worts  von  zuverlässigen  Gewährs- 
männern bei  den  Eskimos  beschrieben  worden.  „Ihre  Lieder,"  sagt  Talvj, 
(Versuch  einer  geschichtlichen  Charakteristik  der  Volkslieder,  S.  115)  „haben 
weder  Reim  noch  Metrum,  sie  bestehen  in  kurzen,  unregelmässigen  Sätzen,  die 
mit  einem  gewissen  rhythmischen  Tonfall  abgesungen  werden.  Ein  Vers  oder 
Satz  wird  von  einer  einzelnen  Stimme  gesungen,  die  von  einer  Art  Trommel 
begleitet  wird.  Darauf  fallen  alle  Anwesenden  im  Chor  ein,  indem  sie  einige 
sinnlose  Töne  jauchzend  abschreien."  Aber  nichts  anderes  ist  es  auch,  wenn 
am  Schlufs  der  Rias  Andromache,  Hekabe,  Helena  der  Reihe  nach  Hektors 
Verdienste  preisen,  die  Weiber  ringsum  aber  nur  mit  Klagegeschrei  einstimmen. 
—  Die  Geschichte  der.  vom  Vorsänger  vorgetragenen  Stücke  beschäftigt  uns 
hier  nicht;  der  Refrain  aber  ist  noch  der  alte,  vorhistorische,  nur  nicht  mehr 
in  seiner  ursprünglichen  Einzelstellung  sondern  artikuliertem  Texte  gesellt. 

Nun  aber  geschieht  in  der  Geschichte  des  Refrains  der  gröfste  und  wich- 
tigste Schritt.  Es  wird  von  der  Epoche  der  Urpoesie  zu  der  vorgeschritten, 
die  wir  eigentlich  erst  Volkspoesie  zu  nennen  pflegen.  An  dem  Teil  wieder- 
holt sich  die  Entwicklung  des  Ganzen.  Von  dem  instinktiven  Schrei  waren  wir 
zu  artikulierter  doch  mit  Interjektionen  untermischter  Rede  gelangt  —  in  der 
Alltagssprache  wie  in  der  Poesie.  Diese  beiden  scheidet  nur  die  Form  des 
Vortrags.  Bei  feierlichen  Gelegenheiten,  deren  Zahl  übrigens  zunimmt,  sucht 
man  die  Rede  in  eine  höhere  Region  zu  versetzen, —  noch  kann  man  das  nur 
durch  die  begleitenden  Umstände.  Der  Refrain,  der  Tanz,  das  Musicieren  sind 
also  hier  nichts  anderes  als  ein  Mittel,  die  Rede  den  Göttern  oder  der  Geliebten 
genehm  zu  machen,  indem  man  die  Sprache  gewissermafsen  mit  Schmuck 
behängt,  weil  man  sie  selbst  noch  nicht  schöner  zu  formen  versteht.  Die 
Musik  und  der  Tanz  sind  Symbole  der  Feierlichkeit,  der  Refrain  aber  insbe- 
sondere aber  ist  Zeichen  der  feierlichen  Rede,  ist  Symbol  der  Poesie. 

Und  nun  schreitet  die  Artikulation  weiter  fort  und  ergreift  auch  dies  über 
sie  ursprünglich  erhabene  Symbol.  Dem  Refrain  wird  eine  im  Charakter  der 
betreffenden  Gelegenheit  begründete  gemeinverständliche  Bedeutung  beigelegt. 

Dieser  Fortschritt  zur  Artikulation  des  Refrains  lag  überall  nahe,  da  der 
stoffliche  Text  über  den  formalen  innerhalb  der  Sprache  leicht  den  Sieg  ge- 
winnt. Nur  im  Einzelgesang  konnte  der  Refrain  seine  Natur  wahren :  hier  fehlten 
ja  meist  die  Kunstformen  der  Musik  und  des  Tanzes,  der  Refrain  war  somit 
neben  der  Art  des  Vortrags  das  einzige  Symbol  der  Poesie,  das  einzige  Mittel, 
die  Rede  in  eine  höhere  Sphäre  zu  erheben.  Und  so  hat  in  den  Einzelliedchen 
der  Bauern  das  Holdrio  u.  dgl.  sich  wirklich  bis  in  die  Gegenwart  gerettet. 
In  der  chorischen  Poesie  aber  hatte  der  Refrain  eine  schwierigere  Stellung- 
Der  Vorsänger  trug  einen  allgemein  interessirenden  Text  vor,  die  Menge  wirkte 
durch  Refrain,  Musik  und  Tanz  mit.     All  diese  nachbarlichen  Kunstformen,  be- 


Ucbcr  den  Refrain.  41 

sonders  aber  einerseits  der  Text,  andererseits  die  Musik  wirkten  stark  ein.  So 
entstanden  z\vei  Formen  des  artikulierten  Refrains :  der  in  Worten  ausgedrückte 
und  der  lautnachahiKiende,  eigentlich  musiknachahmende  Refrain. 

Der  lautnachahmende  Refrain  ist  wohl  älter ;  denn  da  ja  die  Menge  sowohl 
Träger  der  Musik  als  der  Kehrzeile  war,  vermischten  diese  beiden  sich  leichter, 
als  der  Refrain  des  Chors  mit  dem  Text  des  Vorsängers.  Der  lautnachahmende 
Refrain  findet  sich  daher  überall  und  ist  noch  in  den  Volksliedern  höchst  ver- 
breitet Jedes  Volk  ahmt  natürlich  am  meisten  seine  Lieblingsinstrumente  nach : 
der  deutsche  Refrain  gibt  (nach  J.  Grimm,  Gram.  III,  308)  gern  Pfeifen  und 
Trompeten,  der  französische  (nach  Groeber,  Altfr.  Romanzen  und  Pastourellen 
S.  19)  Vogelgesang  und  Flötenspiel  wieder.  Am  liebsten  werden  überall  mili- 
tärische Signale  nachgeahmt;  doch  ist  bei  ihnen  auch  die  Ausdeutung  in 
Worten  allgemein  beliebt  Hat  sich  doch  so  möglicherweise  die  ganze  im 
Mittelalter  eifrig  gepflegte  Gattung  der  Tagelieder  aus  der  Deutung  des 
warnenden  Hornsignals  entwickelt     (Scherer  Deutsche  Studien  II,  491.) 

Denn  dieser  andere  Weg  ward  noch  häufiger  betreten.  Die  Grund- 
stimmung  des  ganzen  Liedes,  die  man  nun  durch  Worte  auszudrücken  gelernt 
hatte,  -zwang  solchen  klaren  Ausdruck  auch  dem  Chor  ab.  Reich  an  der- 
artigen Schall  Versen,  aus  denen  der  ursprüngliche  Empfindungslaut  oft  noch 
hell  heraustönt,  ist  besonders  die  altgriechische  Poesie;  sie  sind  in  der  Ab- 
handlung von  Koester  De  cantilenis  popularibus  veterum  Graecorum  gesammelt. 
Naturgemäfe  ist  der  Sinn  dieser  stehenden  Zeilen  ein  sehr  einfacher  und,  da 
jedes  Volk  die  gleiche  Empfindung  so  kurz  und  schlagend  wie  möglich  aus- 
zudrücken sucht,  und  da  deshalb  nur  die  knappste  Form  sich  behauptet,  treffen 
wir  wiederholt  gleiche  Refrains  auf  Gebieten,  die  jeden  Gedanken  an  Entlehnung 
ausschliefeen.  Dieselbe  Kehrzeile,  welche  nach  Brugsch  (Die  Adonisklage  und 
das  Linoslied  S.  24)  dem  altägyptischen  Maneros  seinen  Namen  gab,  wird  in 
Südwestaustralien  stundenlang  gesungen:  ,Kehre  wieder*!  (Burdach  aaO.  349  Anm.) 
Der  Refrain  der  Kriegslieder  krystallisiert  sich  um  das  Wort  „Speer"  u.  s.  w. 

Diese  beiden  Arten  des  artikulierten  Refrains  haben  nun  auf  die  Ent- 
wicklung dfer  poetischen  Form  unzweifelhaft  sehr  bedeutend  gewirkt  Ja  man 
könnte  sagen,  dafs  von  einer  strengeren  Form  überhaupt  erst  seit  der  Arti- 
kulation des  Refrains  die  Rede  sein  kann.  Dabei  ist  auch  das  nicht  zu  über- 
sehen, dafe  erst  von  dieser  Epoche  an  Lieder  ohne  Refrain  anzunehmen  sind: 
der  stoffliche  Teil,  der  Liedkörper,  konnte  den  formalen,  den  Refrain,  ganz 
erdrücken.  Da  nun  das  gewohnte  Funktionszeichen  der  Poesie  fehlte,  \viirde 
strengere  Form  zuerst  Notwendigkeit.  Wie  aber  diese  zu  finden  sei,  zeigte 
der  formale  Teil  der  alten  refrainierten  Gedichte. 

Der  Refrain,  der  nur  vokale  Nachahmung  der  Musik  ist,  trägt  zur  inhalt- 
lichen Einheit  des  Liedes  natürlich  nicht  so  viel  bei  wie  der  homogene  Refrain, 
der  völlig  in  den  Gedankenkreis  des  Vorsängers  eintritt.     Immerhin  aber  ist 


42  Richard  M.  Meyer. 

doch  auch  er  dem  Texte  näher  gerückt.  So  ist  der  Refrain  nunmehr  nicht 
blos  Symbol  der  Poesie  überhaupt,  sondern  er  hat  weiter  eine  speziell  auf  das 
einzelne  Lied  sich  beziehende  symbolische  Bedeutung.  Die  Klagelieder  wieder- 
holen ihr  ,.Kehre  zurück"  und  so  erhält  dieser  Refrain  verstärkt  den  Sinn  des 
ganzen  Liedes:  ,all  dies  singen  wir  aus  Sehnsucht  nach  dir*.  Oder  wenn  eine 
Reihe  von  Anrufungen  desselben  Gottes  die  Erzählung  von  seinen  Thaten 
unterbricht  oder  vielmehr  zusammenbindet,  so  sagt  dieser  stehende  Kehrreim 
nichts  anderes  als  dies:  ,A11  das  erzählen  wir,  um  dich  zu  preisen  —  und  dich 
dadurch  uns  gnädig  zu  stimmen*.  Der  artikulierte  Refrain  wird  also  in  höherem 
Grad  als  der  unartikulierte  ein  Band,  das  die  losen  Glieder  zu  einer  Einheit 
zusammenfafet;  er  erst  drückt  der  bisherigen  Coordination  gegenüber  den 
herrschenden  Gedanken  aus.  Aber  auch  formell  gibt  er  erst  den  Anstofs  zur 
Einheitlichkeit  des  Gedichts.  Erst  hier  stellt  sich  nämlich  ein  objektives  Mafe 
für  den  Rhythmus  fest.  Zwar  hat  Talvj  in  ihrem  höchst  verdienstvollen 
Buche  „Versuch  einer  geschichtlichen  Charakteristik  der  Volkslieder  germ. 
Nationen"  S.  8  gemeint,  das  ursprüngliche  wilde  Geschrei  habe  zuerst  durch 
begleitende  rohe  Tänze  ein  gewisses  rhythmisches  Mafs  bekommen.  Doch 
möchte  ich  glauben,  die  körperlichen  Bewegungen  seien  zu  unregelmäfsig  und 
ungleichmäfsig  fiir  solche  Wirkung  gewesen.  Vor  allem  aber  ist  zu  bedenken, 
dafs  der  Tanz  zunächst  meist  in  die  Pausen  des  Vortrags  fiel  und  diesen  fiiglich 
nicht  direkt  beeinflussen  konnte;  von  hier  aus  vermittelte  vielmehr  der  Refrain 
die  rhythmische  Begrenzung.  Dafs  auf  diesen  der  Tanz  Einflufe  gewonnen  habe, 
soll  allerdings  nicht  bestritten  werden. 

Der  lautnachahmende  Refrain  hat  nun  gleich  ein  gegebenes  absolutes 
Mafs.  Der  Schall  eines  Beckens,  der  Ton  einer  Flöte  sind  nicht  so  willkürlich 
zu  verlängern  wie  die  Erhebung  der  Stimme  oder  der  Tanzschritt  Aber 
auch  der  in  Worten  ausgedrückte  Refrain  hat  eine  bestimmte  Dauer:  die 
beste  und  schlagendste  Umschreibung  der  ursprünglichen  jüwezungen  wird 
typisch  erstarren.  Beide  Formen  des  artikulierten  Refrains  aber  werden  nun 
aus  einem  Gedicht  in  das  andere  übertragen,  wofiir  besonders  der  Kehr- 
reim in  skandinavischen  Volksliedern  zahlreiche  Belege  liefert;  doch  ist  das- 
selbe z.  B.  auch  bei  den  altfranzösischen  Romanzen  und  Pastourellen  (Groeber 
aaO.  15)  beobachtet  worden.  Es  kann  nicht  fehlen,  dafe  dieser  allbekannte 
Satz  allmählich  auf  die  loseren  Sätze  des  Vorsängers  wirkt.  Es  tritt  wie  vorher 
progressive  so  jetzt  regressive  Assimilation  ein:  der  Gedichtkörper  wird  dem 
Refrain  angeglichen  und  gewinnt  so  rhythmische  Form. 

Die  Araber  erzählen  nach  Frey  tags  Bericht  (in  seiner  Arabischen  Vers- 
kunst S.  18),  Chalil,  der  Erfinder  der  Metrik,  sei  einst  durch  die  Strafeen  von 
Basra  gegangen  und  habe  aus  einem  Hause  den  Schlag  der  Hammer  ,dak*, 
aus  einem  andern  ,dak  dak',  aus  einem  dritten  ,dakak  dakak'  gehört.  Dieser 
abwechselnde  Schall  habe  ihn  zur  Begründung  seiner  Wissenschaft  geführt  — 


Ueber  den  Refrain.  43 

Mit  dieser  Sage  scheint  das  Volk,  welches  von  allen  am  genauesten  die  Lehre 
vom  Versbau  aufgestellt  und  sie  bis  ins  Kleinste  durchgeführt  hat,  eine  dunkle 
Erinnerung  zu  wahren  an  die  Bedeutung,  die  diese  Lautnachahmungen  als  erstes 
Mafs  der  Rhj^hmik  besitzen.  — 

Ueberall  wiederholt  sich  auf  dem  Gebiet  der  Metrik  die  Erscheinung, 
dafe  die  Endabschnitte  zuerst  eine  feste  Form  gewinnen.  Nur  der  Schlufs  der 
indogermanischen  Versmafse,  die  Westphal  entdeckt  hat,  ist  fest,  und  noch  in 
der  so  fein  entwickelten  mhd.  Metrik  gelten  verschiedene  Licenzen,  die  am  Vers- 
ende ausgeschlossen  sind.  Es  ist  auch  wohl  verständlich,  weshalb  grade  am 
Schlufe  der  Rhythmus  reingehalten  werden  mufe.  Hier  beginnt  immerklich 
die  Aufmerksamkeit  vom  Sinn  abzulassen  imd  der  Klang  wird  um  so  kräftiger; 
hier  ist  eine  Grenze  gegen  die  Prosa  der  Alltagsrede  nötig;  hier  endlich  mufs 
die  rhythmische  und  poetische  Wirkung  nachklingend  auch  die  Pause  füllen. 
Wie  begreiflich  ist  es  daher,  dafs  von  dem  ständigen  Schlufsteil  die  Anregung 
zur  rhythmischen  Durchbildung  des  Ganzen  ausging!  — 

Immerhin  können  wir  die  Bedeutung  des  Refrains  für  die  Festigung  des 
Verses  bis  jetzt  nicht  im  Einzelnen  beweisen.  Völlig  sicher  ist  dagegen  der 
Einflufs  der  Kehrzeile  auf  die  Bildung  der  Strophe. 

In  der  ältesten  Zeit  artikulirter  Poesie  trennt,  wie  wir  sahen,  nur  der 
Refrain  die  Abschnitte.  Es  ist  doch  nun  gewifs  kein  zufälliges  Zusammen- 
trefTen,  wenn  die  Poesie  fast  aller  Völker  die  noch  unregelmäfsigen  Abschnitte 
ihrer  Lieder  durch  eine  angehängte  kurze  Zeile  am  Ende  markirt.  Wir  können 
vielmehr  deutlich  diese  Form  in  ihrer  Ausbildung  verfolgen.  —  Bei  den  Mon- 
golen trennt  ein  kurzer  Kehrreim  die  unregelmäfsigen  Abschnitte;  dies  allein 
zeichnet  die  Gedichtstücke  aus,  die  daher  erst  v.  d.  Gabelentz  (Zs.  f.  Kunde 
d.  Morgenlandes  I,  20  f.)  als  Poesie  erkannte.  Grade  so  markiert  z.  B.  in  den 
pseudovergilischen  Dirae  nur  der  Refrain  die  strophische  Gliederung  (vgl. 
TeufTel  Gesch.  d.  röm.  Lit.  200,  2)  ebenso  im  Pervigilium  Veneris  und  andern 
jüngeren  Stücken.  Bei  den  E^ptern  schliefst  er  schon  jede  Strophe,  bei  den 
Negern  aber  steht  er  gar  nach  jedem  Vers.  Und  wenn  wir  nun  in  noch 
unreifer  aber  doch  zivilisierter  Poesie  die  altfranzösischen  Tiraden  genau  in 
derselben  Weise  wie  es  bei  den  mongolischen  Gedichtstücken  der  Fall  ist 
durch  kurze  Schlufsverse  ausgezeichnet  sehen  —  können  wir  zweifeln,  dafs 
wir  den  alten  Refrain  vor  uns  haben,  der  hier  völlig  die  Natur  des  umgebenden 
Liedkörpers  angenommen  hat?  Es  wird  doch  niemandem  einfallen,  hier  gelehrte 
Nachahmung  der  Vergilischen  Halbverse  —  die  freilich  -anderer  Art  sind  —  zu 
vermuten!  In  der  deutschen  Poesie  ist  die  verlängerte  Schlufszeile  (d.  h.  die 
Schlufszeile  mit  kurzem  Anhang)  eine  ungemein  häufige  Erscheinung,  die 
Scherer  längst  aus  dem  musikalischen  Anhalten  der  Schlufszeile  erklärt  hat. 
Ursprünglich  aber  ruhte  dieser  musikalische  Anhang  auf  dem  Refrain.  Ja  für 
das  System  des  mhd.  Strophenbaues  erscheint  der  Refrain  mir  entscheidend 


1 


44  Richard  M.  Meyer. 


ZU  sein.  Hier  hat  nämlich  J.  Grimm  das  fast  ausnahmslos  befolgte  Gesetz  der 
Dreiteiligkeit  entdeckt,  d.  h.  auf  zwei  gleiche  Teile  —  die  Stollen  des  Auf- 
gesangs —  folgt  ein  anders  gebauter  dritter  —  der  Abgesang.  Eine  allgemeine 
Betrachtung  hat  es  daher  nur  mit  dem  Verhältnis  dieser  drei  Teile  zu  einander 
zu  thun  oder  vielmehr,  da  das  Verhältnis  der  Stollen  zu  einander  eben  das 
der  Gleichheit  ist  —  mit  dem  Verhältnis  des  Aufgesangs  zum  Abgesang.  Nun 
war  längst  erkannt,  dafe  am  Schluss  des  Abgesangs  der  Aufgesang  uieder- 
zuklingen  pflegt.  Nähere  Betrachtung  ergab,  dafs  hier  immer  der  Aufgesang 
wirklich  wiederholt  wird,  doch  mit  mannigfachen  Verkürzungen,  die  seine 
minderbetonten  Glieder  zuweilen  fast  unkenntlich  machen.  Hauptfrage  war 
nun:  was  ist  eigentlich  der  Bestandteil,  der  zwischen  dem  Aufgesang  und 
seiner  Wiederholung  steckt?  Ich  hielt  ihn  erst  für  ein  künstliches  Ueber- 
fiihrungsglied ,  mufste  diese  Hypothese  aber  bald  als  gezwungen  aufgeben. 
Vielmehr  ergab  sich  mit  ziemlicher  Sicherheit,  dafs  dies  Stück  nichts  anderes 
ist,  als  der  ursprüngliche  Refrain.  Die  musikalische  Form  hat  somit-  noch  jene 
uralte  Gestaltung  bewahrt,  in  der  die  Textstücke  mehrmals  wiederholt  werden, 
der  Refrain  aber  zur  Bezeichnung  der  Abschnitte  nur  einfach  eingestreut  ward. 
Dieser  nach  J.  Grimms  Abteilung  den  Abgesang  einleitende  Teil  ist  also 
eigentlich  Anhang  zum  Aufgesang,  und  wird  nicht  wiederholt,  eben  weil  er 
Anhang  ist.  Hiemach  ergaben  sich  leicht  drei  Hauptklassen,  in  die  alle  mhd. 
Strophenformen  zwangslos  sich  einzuordnen  schienen  und  die  oft  den  Aufbau, 
wie  ich  glaube,  erst  verständlich  machten. 

Der  Refrain  ist  also  die  Schutzwehr,  die  der  Strophe  zu  fester  Gliederung 
Raum  und  Sicherheit  gewährt.  Ob  Strophe  oder  Vers  eher  eine  gewisse 
Gleichförmigkeit  gewannen,  wird  nicht  so  leicht  auszumachen  sein,  ich  meine 
aber,  doch  wohl  der  Vers,  weil  er  eben  an  dem  Refrain  ein  leichtes  nach- 
zuahmendes, einfaches  zu  übernehmendes  Vorbild  besafs. 

Sobald  nun  aber  beide,  Strophe  und  Vers,  fest  sind,  ist  es  begreiflich, 
wie  sie  ihres  alten  Meisters  Herr  wurden  und  wie  vor  der  Uebermacht  der 
formell  gleich  gestellten,  inhaltlich  übergeordneten  Teile  der  einfache  alte 
Refrain  weichen  mufste.  Er  verkümmerte  und  starb  ab;  nur  das  Volkslied 
behielt  ihn  in  alter  Dankbarkeit  in  Ehren,  und  zuweilen  machten  Kunstdichter, 
oft  höchst  wirksam,  von  ihm  Gebrauch. 

Doch  diese  späteren  Veru^ertungen  und  Schicksale  der  Kehrzeilen,  die 
Systematik  ihrer  Verwendungen,  die  Entwicklung  ihrer  Nebenformen  (wie 
z.  B.  der  Glosse)  erforderte  eine  Abhandlung  für  sich.  —  Ich  bleibe  hier  stehen, 
um  die  Geschichte  des  Refrains  als  dominierenden  Kunstmittels  nochmals  zu 
überblicken.  — 

Der  Refrain  ist,  meiner  Auffassung  nach,  aus  der  ältesten  vorhistorischen 
Form  der  Poesie  entstanden,  oder  richtiger  ist  das  einzige  Rudiment  derselben, 
das  sich  erhalten  hat.    Eben  deshalb  fehlt  er  keiner  ursprünglichen  Poesie.    Sein 


Ueber  den  Refrain.  45 


Keim  ist  der  rohe  Empfindungslaut,  der  vorhistorischer  Zeit  als  einziges  Aus- 
drucksmittel zu  Gebote  stand ;  dieser  Anfang  der  Sprache  wird  Anfang  der  Poesie, 
sobald  eine  besonders  heftige  Empfindung  jene  Laute  beseelt;  denn  Dichtung 
ist,  wie  Mommsen  seine  Schilderung  der  altrömischen  Poesie  einleitet  (Rom. 
Gesch.  I,  219)  leidenschaftliche  Rede.  Diese  Leidenschaft  aber  findet  in  dem 
heftig  bewegten  Ton  der  Interjektion  noch  keine  genügende  Bestätigung;  es 
drängt  sie,  ihn  in  langer  Reihe  zu  wiederholen.  Mechanische  Ursachen  und 
ein  inneres  künstlerisches  Bedürfnis  wirken  zusammen,  um  dieser  Reihe  gleicher 
Töne  in  einem  andern  Ton  einen  Abschlufs  zu  gewähren ;  dies  ist  die  höchste 
Stufe,  die  dem  vorhistorischen  Refrain  und  zugleich  der  vorhistorischen  Poesie 
zuzutrauen  ist. 

In  historischer  Zeit  ist  das  unartikulierte  Geschrei  überall  schon  artikulierte 
Rede  geworden.  Auch  die  Poesie  ist  vom  Empfindungslaut  zu  Worten  auf- 
gestiegen, doch  nur  in  dem  Vortrag  des  Vorsäi^ers;  der  Empfindungslaut 
ist  noch  immer  der  einzige  Anteil  des  Chors;  den  Vorträgen  des  Festleiters 
angehängt  ergibt  er  die  Form  des  sogenannten  „sinnlosen  Refrains",  die  sich  z.  T. 
bis  auf  die  Gegenwart  behauptet  hat  Solche  Chorgesänge,  in  ältester  Zeit  nur 
der  unwillkürliche  Ausdruck  pathetischer  Empfindung,  werden  jetzt  schon  mit 
Bewufstsein  als  Feierlichkeiten  bei  bestimmten  Gelegenheiten  abgehalten ;  diesen 
Charakter  sollen  die  begleitenden  Kunstformen  der  Musik  und  des  Tanzes 
erhöhen.  Diese  Periode  der  Naturpoesie  schildern  z.  B.  für  die  altgriechische 
Dichtung  O.  Müller  (aaO.  31),  für  die  altrömische  Corssen  (Origines  poesis 
Romanae  6)  und  Mommsen  (Rom.  Gesch.  I,  220),  für  die  altgermanische  Müllen- 
hoflf  (de  antiquissima  Germanorum  poesi  chorica  3),  welche  sämtlich  hervor- 
heben, dass  dies  eine  nirgends  fehlende  Stufe  der  poetischen  E^ntwicklung  ist. 
Aus  dem  Leben  unzivilisierter  Völker  läfst  diese  Stufe  sich   reichlich  belegen. 

Eigentliche  Poesie  im  üblichen  Sinne  des  Wortes  ist  erst  auf  der  dritten 
Stufe,  der  der  eigentlichen  Volksdichtung  möglich.  Hier  durchdringen  der 
bedeutungstragende,  stoffliche  Anteil  des  Vorsängers  und  der  symbolische, 
formale  des  Chors  sich  gegenseitig.  Der  Refrain  pafst  sich  dem  Text  an, 
indem  er  artikuliert  wird;  der  Text  pafst  sich  dem  Refrain  an,  indem  er 
rhytmisch  gefestigt  wird.  Die  Artikulation  des  bis  dahin  sinnlosen  Refrains 
aber  ist  von  zweifacher  Art:  entweder  geht  der  Refrain  ganz  in  die  Natur  des 
Textes  über,  indem  ihm  wirkliche  Worte  untergelegt  werden  oder  er  wird  dieser 
nur  genähert,  bleibt  aber  vorzugsweise  unter  dem  Einflufs  der  Musik,  indem 
er  den  Klang  der  Instrumente  der  menschlichen  Stimme  beizulegen  sucht. 
Der  musiknachahmende  Refrain  sowohl  als  der  in  Worten  ausgedrückte  sind 
in  aller  Volksdichtung  zu  häufig,  als  dafs  es  hierfür  der  Belege  bedürfte. 

Viertens  tritt  dann  endlich  die  Stufe  der  Kunstpoesie  auf,  neben  der 
natürlich  die  Volkspoesie,  bis  zu  einem  gewissen  Grade  sogar  auch  die  Natur- 
poesie  fortdauern   kann.     Vom  Standpunkt  dieses  Vortrages   aus    ist  sie   nur 


46  Richard  M.  Meyer. 


dahin  zu  charakterisieren,  dafs  unter  dem  Uebergewicht  des  stofflichen  Elements, 
des  Textes,  der  Refrain  hier  völlig  verkümmert  und  nur  gelegentlich  in  Nach- 
ahmung des  Kehrreims  der  Volkspoesie  mit  be^\'ulster  Absicht  verwandt  wird.  — 
Diese  vier  Stufen  bilden  somit  eine  fortlaufende  Reihe  von  Siegen,  die 
das  Bedürfnis  nach  deutlichem  und  spezifischem  Ausdruck  über  die  instinktiven 
und  symbolischen,  mit  der  Zeit  deshalb  rein  formal  gewordenen  Ausdrucks- 
mittel der  Urpoesie  davonträgt.  Insofern  entsprechen  diese  Stufen  völlig  denen 
der  Sprachentwicklung,  wie  ja  überhaupt  ein  diu-chgängiger  Parallelismus  in 
der  Entwicklung  von  Sprache  und  Poesie  in  ihrer  innem  Wesensgleichheit 
begründet  ist  Nur  darf  man  nicht  aufeer  Acht  lassen,  dafs  in  der  Poesie  die 
Form  denn  doch  eine  ganz  andere  Rolle  spielt  als  in  der  Sprache.  Aber 
auch  für  die  Sprache  hat  man  ja  längst  den  fonnalen  Elementen  grössere 
Bedeutung  zuerteilt  als  es  einst  geschah:  längst  hat  man  auf  dem  Boden  der 
Sprachvergleichung  mit  jener  Theorie  gebrochen,  der  zufolge  die  Endungen 
aus  dem  Wortstamm  „organisch"  hervorwuchsen.  Man  glaubt  wohl  allgemein 
die  Flexion  aller  Art  aus  Zusammensetzung  bedeutungstragender  und  modi- 
fizirender  ursprünglich  selbständiger  Worte  erklären  zu  müssen.  Ich  glaube, 
dafs  auch  innerhalb  der  Poetik  von  entsprechenden  Anschauungen  ausgegangen 
werden  muss,  so  z.  B.  in  der  Lehre  vom  Strophenbau,  wo  man  auf  diese  W^ise 
vielleicht  die  noch  vielfach  verbreitete  wilde  Etymologie  der  Strophenformen 
durch  gesetzmäfsige  Abwandlungen  ersetzen  kann.  Aber  nicht  minder  scheint 
für  die  Entwicklung  der  poetischen  Form  im  Ganzen  diese  Auffassung  not- 
wendig. Jener  älteren  Anschauung  vom  organischen  Hervorblühen  der  Endungen 
entspricht  es  nahezu,  wenn  z.  B.  F.  Zimmer  in  einem  Vortrag  „Zur  Charak- 
teristik des  deutschen  Volksliedes  der  Gegenwart"  die  Kehrverse  in  den 
deutschen  Liedern  für  nichts  anders  hält  als  für  „Sprossen,  die  die  Melodie 
hervorgetrieben  hat**  (aaO.  6),  während  er  im  selben  Atem  die  Untrennbarkeit 
von  Text  und  Melodie  behauptet.  Die  Melodie  wie  jede  Kunstform  schafft 
nichts,  'sie  modifiziert  nur.  —  So  liefse  sich  wirklich  fiir  die  Epochen  der 
poetischen  Form  dieselbe  Stufenleiter  skizzieren,  die  Pott  u.  A.  für  diejenige  der 
Sprachentwicklung  annehmen.  Unartikulierte  Rede  wie  unartikuliertes  Geschrei 
liegen  voraus.  Die  Zeit  aber,  in  der  unvermittelt  und  gleichberechtigt  der  stoffliche 
Teil,  der  Prosavortrag  des  Vorsängers,  neben  den  Chorgesängen,  dem  formalen 
Teil,  steht,  entspricht  der  Periode  isolierender  Sprachen.  Wird  der  Refrain 
artikuliert  und  damit  dem  Text  untergeordnet,  doch  so,  dafs  er  noch  immer 
kenntlich  bleibt  und  bis  zu  einem  gewissen  Grade  auch  selbständig,  so  ist  die 
affigierende  Periode  erreicht.  Geht  endlich  der  Refrain  aller  Bedeutung  ver- 
lustig und  erinnert  nur  noch  gelegentlich  in  Resten  an  seine  alte  Stellung,  so 
haben  wir  die  agglutinierende  Periode.  —  Es  versteht  sich,  dafs  zeitlich  die 
Epochen  der  Sprachgeschichte  und  der  poetischen  Entwicklung  nicht  entfernt 
sich  decken  sollen.  — 


Ueber  den  Refrain.  47 


Es  handelt  sich  eben  ganz  einfach  um  die  natürlichen  Stufen  der  Ent- 
wicklung von  der  Coordination  zur  Subordination.  Wenn  wir  aber  für  diese 
Stufen  einen  Mafsstab  gefunden  hätten,  der  ablesen  läfst,  welche  Höhe  der 
Ausbildung  die  einzelnen  Volkslitteraturen  in  bestimmten  Zeitpunkten  erlangt 
haben,  so  wäre  das  wohl  nicht  ohne  Wert  für  die  junge  Wissenschaft  der  all- 
gemeinen Litteraturgeschichte.  Und  ein  solcher  Mafestab  scheint  denn  eben 
der  Refrain  zu  sein. 

Somit  würde  ich  vorschlagen,  vier  Epochen  in  der  poetischen  Entwick- 
lungsgeschichte anzunehmen,  unterschieden  durch  das  verschiedenartige  Ver- 
hältnis des  Inhalts  zum  Stoff,  wie  es  durch  den  Refrain  markiert  wird:  Urpoesie  — 
Naturpoesie  —  Volkspoesie  —  Kunstpoesie.  Nur  mufs  man  stets  im  Auge 
behalten,  was  bei  solchen  Scheidungen  gar  zu  oft  aufser  Acht  gelassen  wird, 
dafs  sich  diese  Perioden  nicht  mit  mechanischer  Regelmäfeigkeit  und  absoluter 
Konsequenz  ablösen.  Das  Aeltere  dauert  noch  in  die  spätere,  vielleicht  selbst 
noch  in  die  späteste  Epoche  hinein,  und  nicht  das  Aussterben  der  älteren 
Gattung  bezeichnet  eine  neue  Zeit,  sondern  allein  das  Auftreten  der  neuen, 
über  deren  Siegeskraft  man  die  Fortdauer  überlebter  Arten  bald  vergifst. 

Berlin. 


NEUE  MITTEILUNGEN. 


Die  Abenteuer  des  Guru  Paramärtan. 

Von 
Hermann    Oesterley. 

Einleitung. 

Das  Taniulische  Volksbuch  Paramarta  Guruvin  Kadei'  ist  eins  der  inter- 
essantesten und  witzigsten  Produkte  seiner  Art.  Es  ist  von  dem  bekannten 
Jesuitenmissionar  Constantin  Ptenjamin  B  e  s  c  h  i  zusammengestellt  und  redi- 
giert, der  1680  im  V^enetianischen  geboren,  um  das  Jahr  1700  als  Mitglied  der  Ost- 
indischen Mission  in  Avur,  Distrikt  Trichinopolis,  sich  niederliefs,  und  dort,  um 
seiner  Mission  erfolgreicher  dienen  zu  können,  vollständig  nach  der.  Sitte  des 
indischen  Südens  lebte.  Bald  nach  dem  Regierungsantritte  des  Nabob  von 
Trichinopolis,  Chanda  Sahib  (1736),  wurde  Beschi  erster  Minister  desselben, 
mufste  aber  schon  1740  flüchten,  als  sein  Herr  von  der  Mahrattischen  Armee 
unter  Morary  Rao  angegriffen  und  gefangen  genommen  wurde,  erhielt  dann 
eine  Anstellung  als  Rektor  in  Manapar  und  starb  dort  einige  Jahre  später,  wahr- 
scheinlich 1 746.  Er  hat  eine  grofse  Ajizahl  von  bedeutenden  poetischen,  theo- 
logischen und  linguistischen  Werken  sowohl  im  hohen  wie  im  niedrigen  Dia- 
lekte des  Tamulischen  verfafst  und  dieselben  zum  Teile  ins  Lateinische  über- 
setzt; auch  bei  der  Bearbeitung  der  folgenden  Schwanke  hatte  er  einen  ernsteren 
Zweck  als  den  der  blofsen  Unterhaltung  im  Auge,  er  schrieb  sie  nieder,  um 
den  europäischen  Missionaren  die  Erlernung  der  Tamulischen  Umgangssprache 
zu  erleichtern. 

Die  Abenteuer  des  Guru  Paramärtan  sind  auch  in  Europa  schon  seit 
längerer  Zeit  bekannt.  Benjamin  Babington  gab  1822  in*London  den  Original- 
text nebst  englischer  Uebersetzung  heraus,  und  J.  A.  Dubois  übersetzte  sie  ins 
Französische  (hinter  der  Uebersetzung  des  Pantschatantra,  Paris  I826),  freilich 
nicht  zum  ersten  Male,  wie  er  angibt,  da  aufser  Babington  schon  Beschi  selbst 
eine  (lateinische)  Uebersetzung  geliefert  hatte.  Babington  hat,  wie  die  Engländer 
überhaupt  pflegen,   möglichst  treu  übersetzt,   die  Arbeit  von  Dubois  dagegen 


Die  Abenteaer  des  Guru  Paramärtan.  49 


ist  viel  zu  fliessend  und  voll,  um  treu  sein  zu  können,  sie  ist  eine  Paraphrase, 
die,  obwohl  ihr  ein  Stück  ganz  fehlt,  doch  fast  den  doppelten  Umfang  des 
Originals  hat.  Ein  grofser  Teil  der  Erweiterungen  mufs  dem  Französischen 
Wortschwalle  zugerechnet  werden,  ohne  den  Französisch  nicht  lesbar  ist  und 
der  namentlich  bei  der  im  Originale  meist  sehr  losen  logischen  Verbindung 
der  einzelnen  Sätze  und  Perioden  hervortritt ;  ein  anderer  Teil  des  Ueberschusses 
liegt  aber  unzweifelhaft  im  Originale  selbst,  und  Dubois  mufs  also  nach  einer 
anderen  als  der  von  Babington  veröffentlichten  und  zwar  nach  einer  moderni- 
sierten, in  der  Darstellung  sogar  vielfach  outrierten  Rezension  gearbeitet  haben: 
es  wird  sich  das  aus  den  folgenden  Vergleichungen  ergeben.  In  deutscher 
Sprache  ist  bis  jetzt  nur  eine  Analyse  von  H.  Brockhaus  in  den  Berichten  der 
Sachs.  Akademie  der  Wissensch.  1850,  S.  18  bekannt  geworden,  denn  Grässe's 
Verwässerung  der  Dubois'schen  Fassung  zu  einem  Kinderbuche  unter  dem 
Titel:  „Fahrten  und  Abenteuer  Gimpels  und  Compagnie"  gehört  kaum  hierher. 
Neben  der  vortrefflichen  Anlage  des  Ganzen  und  der  musterhaften,  fein 
satirischen  Darstellung  des  Einzelnen,  deren  Verdienst  natürlich  dem  Pater 
Beschi  ausschliefslich  gebührt,  ist  besonders  interessant  die  Uebereinstimmung 
der  indischen  Schwanke  mit  europäischen  Volkserzählungen.  Es  ist  mehrfach 
darüber  gestritten,  ob  Beschi  die  in  seiner  Komposition  mit  einander  verfloch- 
tenen Anekdoten  aus  europäischen  Quellen  geschöpft,  oder  ob  er  sie  wirklich 
indischen  Traditionen  entnommen  habe.  Im  ersteren  Falle  würde  das  Werk  nur 
eine  geschickte  Bearbeitung  und  Uebertragung  europäischer  Erzählungsstoffe 
nach  Indien  sein,  es  scheint  indessen  keinem  Zweifel  zu  unterliegen,  dafs  Beschi 
seine  Stoffe  zum  gröfsten  Teile  aus  dem  Munde  von  Eingeborenen  aufgefafst 
hat,  dafs  diese  Stoffe  also  zur  Zeit  des  Bearbeiters  in  dem  Volke  des  südlichen 
Indiens  lebendig  gewesen  sind.  Zunächst  ist  nicht  anzunehmen,  dafs  Beschi 
bei  dem  Gange,  welchen  sein  Studium,  sein  Beruf  und  sein  ganzes  Leben  ge- 
nommen hat,  mit  europäischen  Traditionen  bekannt  geworden  sein  sollte,  die  zum 
Teil  erst  später  aufgezeichnet,  zum  Teil  in  ftir  ihn  unzugänglichen  Schriften 
enthalten  sind,  wenn  ihm  andere  auch  aus  den  Klassikern  oder  aus  den  älteren 
Kirchenschriftstellem  bekannt  geworden  sein  konnten.  Femer  tragen  die  Er- 
zählungen, mit  Ausnahme  natürlich  der  offenbar  dem  Occident  entstanunenden, 
ein  so  entschieden  indisches  Gepräge,  dafs  kaum  daran  gedacht  werden  kann, 
Beschi  habe  die  Uebertragung  europäischer  Stoffe  auf  orientalische  Sitten  und 
Verhältnisse  vorgenommen,  so  vollständig  er  auch  selbst  in  dem  indischen 
Leben  aufgegangen  sein  mag,  denn  die  Geschichte  wirklicher  Volkserzählungen 
beweist  unwiderleglich,  dafs  zu  ihrer  Uebertragung  und  Belebung  in  einem 
anderen  Volke  das  Umschleifen  durch  vielfaches  Erzählen  und  damit  eine  ver- 
hältnismäfsig  lange  Zeit  erforderlich  ist  Endlich  aber  und  hauptsächlich  kann 
für  die  meisten  der  von  Beschi  gegebenen  Erzählungen  auch  eine  ältere  orien- 
talische Quelle  nachgewiesen  werden,  wenn  über  ihre  Verbreitung  überhaupt 
etwas  bekannt  geworden  ist,  und  das  Vorkommen  eines  reinen  Sanskrit-Spruches 
zu  einer  Zeit,  wo  weder  die  in  Europa,  noch  selbst  die  in  Südindien  lebenden 
Europäer  an  Sanskrit  dachten,  wiegt  vielleicht  schwerer  als  alle  übrigen 
Gründe.  Die  folgenden  Vergleichungen  werden  die  ausgesprochene  Ansicht 
im  Einzelnen  begründen. 


Ztscfar.  f.  vgl.  Lttt.-Gesch.  I. 


50  Hermann  Oesterley. 


Unter  den  Volkserzählungen,  welche  die  Bewohner  einer  Landschaft  oder 
Stadt,  die  Mitglieder  einzelner  Stände  oder  Genofeenschaften,  überhaupt  eine 
Gruppe  von  Personen  zum  Gegenstande  einer  harmlosen  Satire  machen  und 
welche  sämtlich  mehr  oder  weniger  gemeinschaftliche  Züge  tragen,  steht  keine 
den  Abenteuern  des  Guru  Paramartan  näher,  als  die  GescWchte  von  den  sieben 
Schwaben.  Es  korrespondiert  der  ganze  Aufzug  der  beiden  Gesellschaften,  in 
beiden  ist  eins  der  Abenteuer  auf  cfis  plötzliche  Aufspringen  eines  Hasen  ge- 
gründet und  auch  in  dem  Durchwaten  des  Flufses  zeigt  fich  Paralleles;  besonders 
aber  zeichnen  sich  beide  durch  die  ganze  Anlage  vor  den  meisten  Kompositionen 
ähnlicher  Richtung  aus,  welche  den  einzelnen  Erzählungen  einen  innem,  logischen 
Zusammenhang  gibt,  wo  jene  meistens  nur  äuiserlich  an  einander  gereiht  sind. 

Die  bereits  erwähnte  Verschiedenheit  der  beiden  bekannten  Recensionen 
tritt  schon  in  dem  ersten  Abenteuer  hervor.  Statt  mit  der  Cigarre  den  Span 
anzuzünden,  der  zur  Prüfung  dienen  soll,  nimmt  Stupide  bei  Dubois  den  Span, 
mit  dem  er  sich  eben  eine  Cigarre  angezündet  hat  Ferner  ist  die  Beschreibung 
des  Durchwatens  bei  Dubois  etwBs  übertrieben,  z.  B.  wenn .  die  Schüler  den 
einen  Fufs  niedergesetzt  haben,  heben  fie  den  anderen  mit  beiden  Händen 
in  die  Höhe.  Weiter  verrichtet  dort  das  zweite  Zählen  ebenfalls  der  Schüler, 
nicht  der  Guru,  und  endlich  spricht  dort  bei  der  Verwünschung  des  Flufees 
jeder  einen  Fluch  aus,  wo  in  unserm  Original  der  Fluch  fortlaufend  gegeben  wird. 

Ueber  die  Verbreitung  der  Fabel  vom  Hunde  und  Schatten,  welche  keine 
wesentlichen  Umwandlungen  erfahren  hat,  verweise  ich  auf  meine  Ausgabe  von 
Pauli's  Schimpf  und  Ernst  Nr.  426. 

Die  Scene  des  Zählens  wird  mit  überraschender  Übereinstimmung  erzählt 
in  dem  englischen  Schwankbuche  „Merie  tales  of  the  mad  men  of  Gotam** 
(älteste  datierte  Ausgabe  v.  J.  161 3)  cap.  10 :  „Einst  gingen  zwölf  Männer  aus 
Gotham  auf  den  Fischfang ;  einige  wateten  im  Wasser,  andere  standen  auf  dem 
trocknen  Lande,  und  auf  dem  Heimwege  sprachen  sie  zu  einander:  „Wir  haben 
heute  Ausserordentliches  im  Waten  geleistet,  Gott  gebe,  dafe  niemand  von  uns 
ertrunken  ist"  „Bei  Gott,"  sprachen  sie,  „lafst  uns  nachsehen,  wir  waren  unser 
zwölf,  als  wir  auszogen."  Da  zählten  sie  sich,  ein  jeder  zählte  elf,  aber  niemand 
zählte  sich  selbst  „Wehe",  klagten  sie  unter  einander,  „einer  unter  uns  ist 
ertrunken."  Sie  gingen  zu  dem  Wasser  zurück,  an  dem  sie  gefischt  hatten, 
suchten  auf  und  ab  nach  dem  Ertrunkenen  und  erhoben  grofse  Klage.  Da  ritt 
ein  Edelmann  des  Weges,  der  sie  fragte  was  sie  suchten  und  weshalb  sie  so 
traurig  wären.  „Oh,"  sprachen  sie  „wir  sind  heute  zu  zwölfen  ausgezogen,  an 
diesem  Wasser  zu  fischen,  und  da  ist  einer  ertrunken."  „Wie",  sprach  der 
Edelmann,  „zählt,  wie  viele  ihr  eurer  seid."  Da  zählte  einer  Elf  und  zählte 
fich  selbst  nicht  mit  „Wohlan,"  sprach  der  Edelmann,  „was  wollt  ihr  mir 
geben,  wenn  ich  den  zwölften  kann  ausfindig  machen?"*  „Herr,"  antworteten 
sie,  „alles  Geld  was  wir  besitzen."  Da  sprach  jener:  „Gebt  mir  das  Geld;" 
dann  fing  er  bei  dem  Ersten  an,  gab  ihm  einen  gehörigen  Schlag  über  den 
Rücken,  dafs  er  aufheulte,  und  sprach:  „Da  ist  der  Erste."  So  machte  er  es 
mit  allen,  dafs  sie  alle  aufschrieen.  Als  die  Reihe  an  den  letzten  kam,  bediente 
er  diesen  besonders  gut  und  sprach :  „Da  ist  der  zu'ölfte  Mann."  „Gottes  Segen 
über  euch"  sagte  die  ganze  Gesellschaft,  „dass  ihr  unsem  Nachbarn  wiedei^e- 
funden  habt."  —  Der  letzte  Zug  ist  bei  Dubois  sogar  noch  schärfer  ausgeprägt: 
Der  Letzte,   als  der,  welcher  gefehlt  hatte,   erhält  einen  so  starken   Schlag, 


Die  Abenteuer  des  Giirii  Paramdrtan.  51 


ilafs  er  zu  Boden  fallt.     Sehr  nahe  mit  dieser  Fassung  verwandt  ist:  Campbell, 
Gälische  Märchen,  S.  576,  vgl.  Köhler  in  Orient  und  Occident  II,  697. 

Eine  entfernter  verwandte  Erzählung  findet  sich  bei  Helmhack,  121,  wo 
ein  Müller  seine  Esel  zählt  und  denjenigen,  auf  welehem,  er  selbst  reitet,  nicht 
mitzählt;  wie  denn  ähnliche  Fälle  im  wirklichen  Leben  gar  nicht  selten  vorzu- 
kommen scheinen. 

Auch  der  zu  Anfang  des  zweiten  Abenteuers  von  einem  alten  Weibe 
vorgeschlagene  Zählungsmodus  durch  Eindrücken  der  Nase  in  einen  Kuhfladen 
ist  bei  uns  bekannt.  In  den  ,JH[istörchen  von  den  Büsumern"  von  R.  Kobisch 
steckt  man  die  Nase  zwar  nur  in  den  Sand,  aber  bei  Birlinger,  Volkstümliches 
aus  Schwaben,  i,  No.  691,  findet  fich  eine  einschliefslich  des  Kuhfladens  voll- 
ständig übereinstimmende  Fassung. 

In  dem  zweiten  Abenteuer  zeigen  die  beiden  Recensionen  unseres  Werkes 
ebenfalls  bedeutendere  Abweichungen.  Bei  Dubois  läfst  sich  Matti  erst  von 
einem  Arbeiter  sagen,  dafs  die  Kürbisse  Pferde-Eier  sind,  wähFend  er  in 
unserm  Original  selbst  auf  den  Gedanken  kommt  und  sich  denselben  von  dem 
Reisenden  nur  bestätigen  läfst.  Auch  fehlt  dort  die  Gröfsenbestimmung,  dafs 
die  Eier  mit  beiden  Armen  kaum  zu  umspannen  seien,  vielmehr  wird  nur  an- 
gegeben, eins  sei  eine  Last  für  einen  kräftigen  Mann,  obwohl  später  auf  jene 
Bestimmung  bezug  genonrunen  wird.  Um  den  Einwurf  Mudans  in  bezug  auf 
das  Bebrüten  gründlich  zu  überlegen,  zieht  sich  bei  Dubois  der  Guru  auf  drei 
Stunden  in  die  Einsamkeit  zurück;  als  er  sich  zu  dem  Geschäfte  des  Brütens 
erbietet,  sagt  er  noch,  er  wolle  allerlei  scharf  gewürzte  Speisen  essen,  um  den 
nötigen  Wärmegrad  herzustellen.  Bei  dem  Ankaufe  des  Eies  läfst  Dubois  die 
beiden  Schüler  behaupten,  sie  hätten  solche  Geschäfte  schon  oft  gemacht  und 
wären  daher  mit  dem  Preise  genau  bekannt.  Endlich  geht  bei  Dubois  die 
Unterredung  auf  dem  Wege  ausdrücklich  auf  das  citieren  von  Sprüchwörtem  aus. 

Die  Spottgeschichte  von  dem  Ausbrüten  eines  Pferde-Eies  ist  in  Deutschland 
weit  verbreitet.  In  Meyer,  Deutsche  Sagen,  Sitten  und  Gebräuche  aus  Schwaben, 
No.  404,  S.  362  mufs  der  Bürgermeister  einen  Kürbis  bebrüten;  als  derselbe 
faul  fortgeworfen  wird,  springt  ein  Hase  auf,  und  dieser  wird  als  der  erwartete 
junge  Esel  betrachtet.  Aehnliche  Traditionen  bei  Birlinger,  volkstümliches  aus 
Schwaben,  Bd.  i,  S.  436,  443,  445,  und  im  bayerischen  Volksbüchlein,  Bd.  II, 
S.  275.  (In  oberbayerischen  Schnadahüpfln  verkauft  die  Sennerin  dem  Berliner 
Krautköpfe  als  Gemseneier.)  In  Schmitz,  Sitten  und  Sagen  des  Eifler  Volkes, 
Bd.  I,  S.  104  gibt  ein  lustiger  Kauz  eine  Runkelrübe  für  ein  Eselei  aus,  läfst 
sich  während  der  Brütezeit  reichlich  mit  Speise  und  Trank  versorgen,  bis  er 
einem  bereit  gehaltenen  Hasen  die  Freiheit  gibt.  In  etwas  abweichender  Gestalt 
ist  sie  auch  im  Venetianischen  bekannt,  s.  Widder  und  Wolf,  venetianische 
Märchen  No.  18,  im  Jahrbuch  für  romanische  Litteratur  1866,  S.  278;  sie  steht 
aber  der  indischen  Darstellung  zu  fern,  um  die  Annahme  zu  begründen,  dafs 
Beschi  sie  benutzt  habe.  Noch  femer  steht  das  englische  Gedicht :  The  hunting 
of  the  hare,  in  Weber,  Metrical  Romances,  11,  S.  277. 

Aus  dem  dritten  Abenteuer  ist  nur  eine  Abweichung  des  Dubois'schen 
Textes  anzumerken,  die  sich  in  der  Erzählung  vom  Bratendufte  findet.  Bei 
Dubois  wird  nämlich  das  Reisbündel  längere  Zeit  dem  Bratendufte  ausgesetzt, 
sogar  darin  umgewendet,  um  es  möglichst  mit  Bratenduft  zu  imprägnieren,  und 
dann,  als  der  Braten  vom  Feuer  genommen  ist,  in  einem  andern  Winkel  verzehrt. 


52  Hermann  Üesterley. 


Offenbar  ist  dies  nur  eine  Uebertreibung  der  einfachen  und   natürlichen  Dar- 
stellung unseres  Textes. 

Die  Geschichte  vom  Schatten  des  Ochsen  ist  im  Altertume  so  verbreitet 
gewesen,  dafs  sie  zum  geläufcen  Sprüchworte  geworden  ist,  und  hat  sich  von 
Griechenland  aus  über  ganz  Europa  verbreitet.  So  nahe  nun  die  Vermutung 
liegt,  dafs  sie  von  Griechenland  aus  ihren  Weg  auch  zum  Orient  gefunden 
habe,  so  glaube  ich  doch,  dafe  diese  Vermutung  unrichtig  ist,  und  zwar  aus 
dem  einfachen  Grunde,  weil  die  Geschichte  im  Oriente  vollständig,  naturgemäfs 
abgeschlossen  erzahlt  wird,  während  der  ganze  Occident  niemals  über  die  erste 
Hälfte  hinausgekommen  ist.  Leider  ist  gerade  von  dieser  Erzählung  die  ältere 
orientalische  Quelle  noch  nicht  aufgefunden.  Die  Form,  welche  den  meisten 
europäischen  Darstellungen  zu  Grunde  liegt,  gibt  Plutarchs  Vitae  et  Orat, 
Demosthenes,  am  Ende:  Eines  Tages,  da  die  Athener  ihn  in  einer  Volksver- 
sammlung nicht  wollten  fortreden  lassen,  erklärte  Demostenes,  er  habe  ihnen 
nur  noch  ein  paar  Worte  zu  sagen.  Nach  eingetretenem  Stillschweigen  begann 
er:  „Ein  junger  Mensch  mietete  einst  einen  Esel,  um  von  Athen  nach  Megära 
zu  reisen.  Um  Mittag,  als  die  Sonne  glühend  brannte,  wollten  beide,  der 
Jüngling  wie  der  Eigentümer,  sich  in  dem  Schatten  des  Esels  lagern,  und 
drängten  einander  fort,  indem  dieser  erklärte,  er  habe  nur  den  Esel,  nicht  aber 
dessen  Schatten  vermietet,  jener  dagegen  behauptete,  der  gemietete  Esel  stände 
mit  allem  was  zu  demselben  gehöre,  zu  seiner  Verfiigung."  Damit  schweigt 
Demosthenes  und  will  die  Bühne  verlassen,  die  Athener  aber  bitten  ihn,  die 
Erzählung  zu  Ende  zu  fuhren;  da  spricht  Demosthenes:  „Wie,  ihr  habt  also 
Lust  mich  anzuhören,  wenn  ich  euch  ein  Märchen  vom  Eselsschatten  erzähle, 
nicht  aber,  wenn  ich  von  wichtigen  Angelegenheiten  zu  euch  rede !"  In  genau 
derselben,  oder  einer  nur  wenig  abweichenden  Fassung  wird  diese  Geschichte 
im  Altertum  sehr  häufig  erzählt,  bis  der  „Eselsschatten"  ein  in  Griechenland 
allgemein  geläufiges  Sprüchwort  wurde,  und  sie  ist  in  derselben  unvollständigen 
Gestalt  auch  in  spätere  Schriften  übergegangen,  z.  B.  in  Kirchhofs  Wend- 
unmut V,  I20,  in  Ursinus,  Acerra  philologica  1670,  i,  33,  und  breit  ausgeführt 
in  Wielands  Abderiten.  Sie  ist  aber  nur  ein  einzelnes  Glied  einer  ganzen 
Familie  von  Erzählungen,  aus  welcher  gleich  die  nächste  Einschaltung  unserer 
Abenteuer  einen  neuen  Zweig  darbietet,  die  Bezahlung  mit  dem  Klange  des 
Geldes  für  den  Duft  des  Bratens.  Diese  findet  sich  mit  wenig  bedeutenden 
Abweichungen  weit  verbreitet,  in  den  Cento  novelle  antiche  No.  8  und  der 
Scelta  di  facetie,  S.  140;  in  des  Otomar  Suscinius  joci  ac  sales  1524,  66  und 
Lange*s  Democritus  ridens,  1649,  S.  143;  im  Eulenspiegel  cap.  80,  in  Gerlachs 
Eutragelien  1,944  und  in  Paulis  Schimpf  und  Ernst,  48,  wo  weitere  Nach- 
weisungen zu  finden  sind.  Eine  nahe  verwandte  Erzählung  ist  die  von  der 
Bezahlung  der  Musik  mit  Hoffnung,  die  in  verschiedenen  Fassungen  vorkommt 
Im  Occident  ist  sie  meines  Wissens  zuerst  von  Aristoteles  erzählt,  und  zwar 
in  der  Nicomach' sehen  Ethik,  IX,  i,  weitläufiger  im  Commentar  des  Eusthatius; 
eine  Andeutung  auch  in  der  Endemischen  Ethik,  VII,  10.  Später,  z.  B.  von 
Plutarch  (de  auditione  und  de  fortuna  Alexandri  orat.  II)  wird  sie  meistens  auf 
den  Tyrannen  Dionysius  übertragen,  der  einst  einem  ausgezeichneten  Zither- 
spieler eine  reiche  Belohnung  versprochen,  auf  dessen  Erinnerung  an  sein 
Versprechen  aber  erwidert  haben  soll:  „So  lange  du  mich  durch  deinen  Ge- 
sang ergötztest,  habe  ich  dich  durch  die  Hoffnung  ergötzt,  du  hast  also  deine 
Belohnung    empfangen".    Diese  Fassung  ist  unter  anderm  wiedergegeben  in 


Die  Abenteuer  des  Guru  Paramärtan.  53 


Gasts  Convivales  serones  i,  46,  Scherz  mit  Wahrheit,  8,  Eutragelien  III,  45,  Acerra 
Philologica  von  Ursinus  VI,  83,  von  Lauremberg  I V,  2 1 ;  im  Englischen  Jack  of 
Dover  cap.  8  mufe  der  Musiker  mehrere  Stunden  warten,  und  so  seinen  Lohn 
recht  reichlich  empfangen.  An  orientalischen  Fassungen  sind  zwei  anzugeben, 
eine  chinesische  (Stan.  Julien,  Avodänas,  No.  25, 1,  S.  108),  die  der  griechischen 
sehr  nahe  steht,  und  eine  persische  im  Tofet  al  Mujjaliss  (bei  Scott,  tales, 
S.  267),  wo  der  Sänger  nur  durch  einen  Dichter  ersetzt  ist.  Eine  weitere, 
vielleicht  noch  ältere  Form  ist  die  Bezahlung  geträumten  Genusses  mit  einem 
imaginären  Preise,  dem  Klange  oder  dem  Schatten  des  Geldes,  wie  in  Plutarchs 
Demetrius,  27  (vergl.  AUian,  Var.  hist.  XII,  63),  nacherzählt  von  Coguatus,  105, 
Petr.  Aerodius,  rer.  judicat.  pandecta,  X,  19,  8,  der  auch  die  Erzählung  vom 
Zitherspieler  wiedei^bt  und  anderen,  oder  mit  dem  Spiegelbilde  des  Geldes, 
wie  in  den  türkischen  Vierzig  Vezieren,  Nacht  38  und  in  den  Nugae  curiales 
von  Walter  Map,  II,  22  (vergl.  Germania,  V,  53).  In  einer  anderen  orientalischen 
Darstellung,  der  Sammlung  Uzzulleaut  Ubbeed  Zakkaunee  (Scott,  tales,  339) 
wird  ein  verbrecherischer  Traumgenufs  mit  Schlägen  bestraft,  die  der  Schatten 
des  Uebelthäters  erhält,  und  dieses  stimmt  mit  den  verschiedenen  Arten  von 
Scheinbufsen  überein,  welche  in  Grimms  Rechtsaltertümem  S.  677  eingehend 
behandelt  sind.  Eine  letzte,  freilich  schon  ferner  liegende  Form  ist  die,  dafs 
die  Absicht  einer  bösen  That  durch  den  Vorsatz  der  Bufse  gesühnt  wird,  wie 
sie  in  Waldis  Esopus  IV,  14,  Paulis  Schimpf  und  Ernst  298,  Scherz  mit  der 
Wahrheit  80  und  vielen  Nachahmungen  dargestellt  ist  Ueber  den  ganzen  Kreis 
vergleiche  man  Benfays  Pantschatantra  i,  127. 

Die  dem  fünften  Abenteuer  eingefügte  Anekdote  von  Vespasian  und  Titus 
ist  natürlich  occidentalischen  Ursprunges;  sie  stammt  aus  Sueton,  Vespas.  23, 
oder  Dio  Cassius  LXVI,  14;  in  der  Uebersetzung  von  Dubois  ist  sie  unterdrückt. 

Das  sechste  Abenteuer  erzählt  die  bei  uns  im  Volksmunde  wie  in  Schrift 
und  Bild  weit  verbreitete  Geschichte  vom  Abhauen  des  Astes  auf  dem  der 
Hauende  sitzt;  dasselbe  ist  unstreitig  aus  dem  Sanskritwerke  Bharataka-dvätrinsati, 
einer  Sammlung  von  Spottgeschichten  auf  Bettelmönche,  in  das  sechste  Aben- 
teuer aufgenommen.  Sie  ist  in  Aufrechts  Cataloge  der  in  der  Bodleyschen 
Bibliothek  aufbewahrten  Sanskrithandschriften  abgedruckt  und  ich  gebe  sie  nach 
VV'ebers  Uebersetzung  in  den  Monatsberichten  der  Berliner  Akademie  der  Wissen- 
schaften, 1860,  S.  71:  In  Eläkapura  wohnten  viele  Bettelmönche.  Einer  von 
ihnen  namens  Dandaka  (Stock)  ging  einst,  als  die  Regenzeit  kam,  in  den  Wald, 
um  für  seine  Zelle  einen  Pfosten  zu  holen,  Dort  sah  er  an  einem  Baume  einen 
weit  hervorgebogenen  Ast  und  stieg  hinauf,  um  ihn  abzuhauen;  und  zwar  setzte 
er  sich  auf  diesen  selben  Ast  und  begann  ihn  an  der  Wurzel  abzuschneiden. 
Da  kamen  einige  Wandersieute  des  Weges,  sahen  was  er  machte  und  sprachen: 
„He,  Mönch,  erster  aller  Dummköpfe,  du  mufst  doch  nicht  einen  Ast  abhauen, 
auf  dem  du  selbst  sitzest!  Denn  wenn  du  es  so  machst,  so  wirst  du,  wenn  der 
Ast  bricht,  herunterfallen  und  sterben."  Drauf  gingen  die  Leute  ihres  Weges. 
Der  Mönch  aber  beachtete  ihre  Rede  nicht,  blieb  sitzen,  hieb  den  Ast  ab, 
und  als  derselbe  zur  Erde  herabfiel,  fiel  er  auch  mit  ihm  nieder.  Da  dachte 
er  in  seinem  Geiste:  „Jene  Wandersieute  waren  in  der  That  einsichtsvoll  und 
wahrheitsredend,  weil  alles  so  eingetroffen  ist,  wie  sie  es  gesagt  haben :  folglich 
mufs  ich  auch  tot  sein."  Damit  geht  die  Erzählung  zu  einem  andern  Kreise 
über.     Von  abweichenden  Darstellungen  finde  ich  nur  Hogarth's  Parlamentswahl 


54  Hermann  Oesterley. 


ZU  erwähnen,  in  welcher  ein  Narr  auf  der  äufsersten  Spitze  eines  Wirtshaus- 
schildes sitzt  und  die  Stange  desselben  absägt,  während  das  Schild  von  unten 
mit  einem  Stricke  herabgerissen  wird. 

Das  sechste  Abenteuer  enthält  ferner  die  Prophezeihung  des  Brähman, 
auf  welcher  der  weitere  Verlauf  und  der  Schlufs  des  ganzen  Werkchens  be- 
gründet ist.  Obwohl  mit  den  gewöhnlichen  tamulischen  Buchstaben  geschrieben^ 
ist  dieser  Spruch  doch  reines  Sanskrit  und  lautet  in  europäischer  Transkription: 
asmain  gitain  jivananacam.  Die  Wichtigkeit  dieses  Spruches  für  die  Entscheidung^ 
über  den  Ursprung  der  Sammlung  ist  schon  oben  hervorgehoben.  Dafs  der- 
selbe, wenn  auch  in  derberer  Form,  bei  uns  noch  heutigen  Tages  im  Volks- 
munde lebendig  ist,  wird  wohl  bekannt  sein. 

Die  den  Kern  des  siebenten  Abenteuers  bildende  Geschichte  von  dem 
Notieren  der  Dienstpflichten  auf  einen  Zettel  findet  sich  im  Occident  zuerst 
bei  Felix  Hemmer lin,  De  institutione  novorum  officiorum,  und  diese  Fassung 
steht  der  Darstellung  Beschi's  sehr  nahe,  obwohl  dort  wie  in  allen  anderen 
europäischen  Parallelen  das  abschliefsende  Nachtragen  der  verlangten  Dienst- 
leistung fehlt.  Eine  andere  Form  gibt  die  74.  Novelle  Morlino's,  in  welcher 
der  Diener  ebenfalls  den  Pakt  zu  lesen  beginnt  und  der  Herr  von  Vorüber- 
gehenden herausgezogen  wird.  Sie  ist  zunächst  von  Straparola  XIII,  7  verar- 
beitet, dann  von  einer  grofeen  Anzahl  Schwanksammlungen  aufgenonunen,  unter 
denen  ich  nur  Maulius,  loci  comm.  442,  Nugae  doctae  188,  Sussinius  162,  Ur- 
sinus  VI, 96,  Helmhack  iii,  Schreger  XVII,  11,  Eutrapeliae  II,  775,  Memel  288 
hervorhebe,  und  endlich  auch  dramatisch  bearbeitet  bei  Violet  le  Duc  in  der 
Farce  nouvelle  du  cuvier  i,  32  und  von  Ayrer  in  den  beiden  Fastnachtspielen 
Jann  Posset,  Bl.  106.  In  Paulis  Schimpf  und  Ernst  139  (wo  weitere  Nach- 
weisungen gegeben  sind)  und  von  dort  im  Scherz  mit  der  Wahrheit  34  ist  der 
Diener  durch  die  Ehefrau  ersetzt. 

Die  im  achten  Abenteuer  erzählte  Geschichte  von  dem  Reisschläger- 
Opfer  wurde  bei  uns  schon  im  Mittelalter  vielfach  bearbeitet,  freilich  in  einer 
den  europäischen  Verhältnissen  angepafeten  Form,  die,  wie  es  scheint,  zuerst 
in  den  französischen  Fabliaux  festgestellt  wurde:  eine  naschhafte  Magd  oder 
Frau  verzehrt  zwei  für  die  Mahlzeit  bestimmte  Hühner  und  eröffnet  dann  dem 
Gaste,  ihr  Herr  wolle  ihm  die  Ohren  abschneiden;  als  der  Herr  erscheint,  wird 
ihm  vorgespiegelt,  der  Gast  habe  die  Hühner  mitgenommen  und  der  Herr 
eilt  ihm  mit  dem  Vorlegemesser  nach.  Wegen  den  einzelnen  Bearbeitungen 
verweise  ich  auf  Paulis  Schimpf  und  Ernst  364. 

Fast  am  Schlüsse  des  Ganzen  zeigt  sich  wieder  eine  bedeutendere  Ab- 
weichung des  Dubois*schen  Textes,  die  wie  gewöhnlich  auf  eine  Verzerrung 
unserer  Darstellung  hinausläuft:  dort  erholt  der  Guru  sich  im  Bade  von  seiner 
Ohnmacht,  die  Schüler  bemerken  die  Lebenszeichen,  sind  aber  sämtlich  der 
Meinung,  dafs  dieselben  zu  unpassender  Zeit  erscheinen  und  dafs  der  Meister 
nicht  daran  denken  dürfe  zu  leben,  wenn  die  Stunde  seines  Todes  gekommen 
sei.  In  dieser  Ueberzeugung  stofsen  sie  ihm  den  Kopf  unter  das  Wasser  und 
ersticken  ihn. 

Breslau. 


Die  Abenteuer  des  Guru  Paramärtan.  55 


Erstes  Abenteuer. 

Das  Waten  dnreh  den  Flnss. 

Es  war  einmal  ein  Guru*)  mit  Namen  Paramartan,**)  welcher  fünf  Schüler 
in  seinen  Diensten  hatte,  Matti,  Madeiyan,  Pedei,  Mileichan  und  Mudan.***) 
Einst  hatten  sie  alle  Sechs  zu  Fusse  die  umliegenden  Dörfer  besucht,  um  sich 
nach  andern  Schülern  zu  erkundigen,  und  waren  auf  dem  Rückwege  zu  ihrem 
Mattam,i)  als  sie  gegen  Mittag  an  das  Ufer  eines  Flufses  gelangten. 

Der  Guru  überlegte,  dafs  es  ein  grausamer  Strom  sei,  den  man  nicht 
passieren  könne,  so  lange  er  wache,  und  schickte  deshalb  Mileichan  mit  dem 
Auftrage  ab,  sich  zu  überzeugen,  ob  er  schlafe.  Dieser  zündete  mit  seiner 
Zigarre  einen  Span  an,  den  er  in  der  Hand  trug,  und  tauchte  ihn,  ohne  dem 
Flufse  zu  nahe  zu  kommen,  mit  weit  ausgestrecktem  Arme  in  das  Wasser. 

Mileichan  bemerkte,  dafs  das  Wasser  mit  Zischen  aufdampfte,  sobald  er  den 
Span  eintauchte,  rannte  holpernd  und  stolpernd  fort  und  schrie :  „Meister,  Meister 
es  ist  jetzt  nicht  Zeit  den  Fluss  zu  passieren,  er  ist  wach;  sobald  ich  ihn  an- 
rührte, zischte  er  wie  eine  giftige  Schlange,  dampfte  in  wilder  Wut  und  stürzte 
auf  mich  zu ;  es  ist  ein  Wunder,  dafs  ich  mit  dem  Leben  davongekommen  bin." 
Der  Guru  erwiderte:  „Was  können  wir  gegen  den  Willen  der  Gottheit  thun, 
lafst  uns  eine  Weile  warten."  So  setzten  sie  sich  in  den  dichten  Schatten  eines 
nahen  Gehölzes  nieder,  um  dort  die  Zeit  zu  verbringen.  Jeder  erzählte  von 
dem  Flufse,  und  Matti  berichtete  Folgendes: 

Ich  habe  meinen  Grofsvater  viele,  viele  Male  von  der  Grausamkeit  und 
Hinterlist  dieses  Stromes  erzählen  hören.  Mein  Grofsvater  war  ein  bedeutender 
Kaufmann.  Eines  Tages  trieb  er  nebst  einem  Genossen  zwei  mit  Salzsäcken 
beladene  Esel  des  Weges,  und  als  sie  bis  zur  Mitte  des  Flufses  gekommen 
waren,  wollten  sie  in  der  drückenden  Hitze  sich  ein  wenig  erfrischen,  und  badeten 
in  dem  kühlen  Wasser,  das  ihnen  bis  an  die  Brust  reicnte ;  dann  hielten  sie  die 
Elsel  an  und  wuschen  sie  ebenfalls.  Als  die  Beiden  nun  zum  andern  Ufer  ge- 
langten, bemerkten  sie,  dafs  der  Flufs  nicht  allein  das  sämtliche  Salz  verzehrt, 
sondern  dafs  er  es  auch  auf  wunderbare  Weise  geraubt  hatte,  nämlich  ohne 
die  festen  Säcke,  die  gut  genäht  waren,  zu  öffnen  oder  im  Geringsten  zu  ver- 
letzen. Da  sprachen  sie  voller  Freude:  „Ha,  ha,  ist  es  nicht  ein  grofses  Glück, 
dafs  der  Fluss  uns  verschonte,  nachdem  er  dieses  Salz  verschlungen  hatte?"  So 
sprach  Matti. 

Dann  erzählte  Pedei  eine  andere  Geschichte?  „Die  Künste,  Betrügereien 
und  Streiche  dieses  Flufses  sind  auch  zu  meiner  Zeit  zahlreich  gewesen.  Hört 
Einst  schwamm  ein  Hund  mit  einem  gestohlenen  Stück  Hammelfleisch  in  der 
Mitte  des  Stromes,  als  dieser  betrügerischer  Weise  ein  anderes  Stück  Fleisch 
in  seinem  Wasser  erscheinen  liefs.  Der  Hund  sah,  dafs  dieses  gröfser  war  und 
iiefs  deshalb  das  gestohlene  Stück  fallen;  als  er  aber  untertauchte,  um  den 
gröfseren  Bissen  zu  erschnappen,  verschwanden  sie  beide,  und  der  Hund  ging 
leer  nach  Hause."    So  sprach  er. 

♦)  Meister,  geistlicher  Lehrer,  Priester. 

♦*)  Einfalt 

*♦*)  Dummkopf,  Pinsel,  Klotz,  Tropf  und  Narr. 

t)  Die  klosterähnlich  abgeschlossene  Wohnung  des  Guru  und  seiner  Schüler. 


56  Hermann  Oesterley. 


Während  sie  sich  so  unterhielten,  sahen  sie  einen  Reiter  vom  andern  Ufer 
her  kommen.  Da  er  nur  eine  Faust  hoch  Wasser  im  Flusse  fand,  blieb  er 
auf  seinem  Pferde  und  ritt  eilig  und  ohne  die  geringste  Besorgnis  hindurch. 
Bei  diesem  Anblicke  riefen  sie:  „Ach,  ach,  wenn  unser  Guru  auch  ein  Pferd 
hätte,  so  könnten  wir  Alle  ohne  Furcht  in  den  Flufs  hinabsteigen.  Meister,  ihr 
müfst  unter  jeder  Bedingung  ein  Pferd  kaufen."  Der  Guru  Paramärtan  indessen 
erwiderte :  „Wir  wollen  später  davon  reden",  und  da  der  Tag  sich  neigte  und 
es  Abend  wurde,  liefs  er  nochmals  untersuchen,  ob  der  Flufs  schliefe. 

Madeiyan  nahm  also  denselben  Span  und  tauchte  ihn  prüfend  in's  Wasser; 
als  dieses  nicht  im  geringsten  aufzischte,  weil  das  Feuer  schon  vorher  verlöscht 
war,  rannte  er  hoch  erfreut  zurück  und  rief:  „Jetzt  ist  es  Zeit,  jetzt  ist  es  Zeit: 
kommt  schnell  her,  ohne  den  Mund  zu  öffnen  und  ohne  einen  Laut  von  euch 
zu  geben,  der  Flufs  liegt  in  tiefem  Schlafe  und  wir  haben  keinen  Grund  zu 
Furcht  oder  Besorgnis." 

Nach  Verkündigung  dieser  guten  Botschaft  standen  sie  eilig  auf  und  alle 
Sechs  stiegen  lautlos  und  vorsichtig  in  den  Strom  hinab.  Bei  jedem  Schritte 
traten  sie  so  leise  auf,  dafs  selbst  die  Berührung  der  Wellen  kein  Geräusch 
verursachte ;  bei  jedem  Schritte  hoben  sie  die  Füfse  über  das  Wasser,  bewegten 
sie  vorsichtig  weiter  und  setzten  sie  eben  so  leise  nieder;  auf  diese  Weise 
wateten  sie  klopfenden  Herzens  Schritt  vor  Schritt  durch  den  Flufs. 

Sobald  sie  das  Ufer  erreicht  und  erstiegen  hatten,  waren  sie  eben  so 
vergnügt,  wie  sie  vorher  bekümmert  gewesen  waren;  amd  als  sie  fröhlich  um- 
hersprangen, zählte  Mudan,  im  Hintergrunde  stehend,  die  Uebrigen,  ohne  sich 
selbst  mitzuzählen.  Da  er  bei  seinem  Zählen  nur  fünf  Personen  fand,  rief  er 
laut:  „Wehe,  der  Flufs  hat  Einen  hinweggenommen.  Seht,  Meister,  nur  fünf 
von  uns  stehen  hier**.  Der  Guru  stellte  sie  in  Reihe  und  Glied  auf,  und  zählte 
selbst  zwei,  drei  Mal,  aber  da  er  immer  zählte,  ohne  sich  mitzurechnen,  erklärte 
er  ebenfalls,  dafs  nur  fiinf  anwesend  wären.  Dann  zählten  auch  die  Uebrigen, 
aber  Jeder  liefs  sich  selbst  aus  und  rechnete  nur  die  Anderen  zusammen,  und 
so  wurde  es  zur  Gewifsheit  unter  ihnen,  dafs  der  Strom  Einen  verschlungen  habe. 

Sie  weinten  bitterlich,  riefen  Wehe,  fielen  sich  in  die  Arme  und  klagten: 
„O  grausamer  Flufs,  hartherziger  als  ein  Fels,  wilder  als  ein  Tiger;  Elender, 
hast  du  dich  nicht  im  geringsten  gescheut,  einen  Schüler  des  Guru  Paramärtan 
zu  verschlingen,  der  begrüfst,  geachtet  verehrt  und  gepriesen  wird  von  einem 
Ende  der  Welt  bis  zum  andern?  Hast  du  ein  so  verwegenes  Herz,  du  Sohn 
eines  schwarzen  Bären,  Sprofse  eines  grausamen  Tigers?  Wirst  du  in  einer 
künftigen  Welt  leben,  wird  auch  in  Zukunft  dein  kühles  Wasser  fliefsen?  Möge 
dein  Quell  gänzlich  vertrocknen  und  verdorren,  möge  der  Sonnenglanz  auf  den 
Sand  deines  Bettes  schiessen,  möge  Feuer  deine  Wellen  verzeliren;  möge  dein 
Bauch  verbrennen  und  verwelken,  mögen  deine  Tiefen  mit  Dornen  sich  füllen. 
Ohne  Feuchtigkeit,  ohne  Kühlung,  ohne  eine  Spur  deines  Daseins  mögest  du 
vernichtet  werden." 

So  ergingen  sie  sich  in  Schimpfreden  und  Lästerungen,  streckten  die 
Hände  aus  und  knackten  mit  den  Fingern.*)  Gleichwohl  wufste  in  ihrer  vor- 
eiligen Dummheit  bis  zu  diesem  Augenblicke  niemand,  welcher  unter  ihnen 
von  dem  Flufse  hinweggeführt  war,  und   niemand  fragte   danach,   welcher  es 

*)  Die  Indier  pflegeYi  beim  Fluche  die  Hände  zu  falten  und  von  sich  zu  stofsen,  wobei 
die  Finger  knacken. 


Die  Abenteuer  des  Guru  Paramdrtan.  57 


wäre.  Da  kam  ein  vernünftiger  Mensch,  ein  Reisender,  des  Weges  und  fragte 
teilnehmend:  „Wie,  Meister,  wie?  was  für  ein  Unglück  ist  geschehen?**  Sie 
erzahlten  ihm  der  Reihe  nach  was  passiert  war,  er  durchschaute  ihre  Einfaltig- 
keit  und  erwiderte:  „Was  geschehen  ist,  ist  geschehen;  wenn  ihr  mir  aber 
eine  angemessene  Belohnung  geben  wollt,  so  werde  ich  den  Verlorenen  zurück- 
rufen, denn  ihr  müist  wissen,  dafs  ich  ein  grofeer  2^uberer  bin."  Der  Guru 
antwortete  erfreut:  „Wenn  du  es  thust,  fo  wollen  wir  dir  fiinfundvierzig 
Fanams*)  geben,  die  zu  unserer  Reise  bestimmt  waren."  Da  schwang  jener 
den  Stock,  den  er  in  der  Hand  trug  und  sprach :  „In  diesem  Stocke  liegt  meine 
Kunst.  Stellt  euch  in  eine  Reihe;  jeder  zählt  und  ruft  seinen  Namen,  wenn 
er  einen  Schlag  auf  den  Rücken  erhält,  und  ich  will  machen,  dafe  alle  sechs 
hier  sind"  Er  stellte  sie  in  Reihe  und  Glied  und  gab  zuerst  dem  Guru  einen 
Schlag  auf  den  Rücken.  Dieser  schrie:  „Hier!  ich  bin  es,  der  Guru."  „Eins", 
sagte  der  Reisende.  In  solcher  Weise  erhielt  jeder  einen  Schlag,  rief  seinen 
Namen  aus  und  zählte,  und  so  fanden  sie,  dafs  keiner  von  ihnen  fehlte.  Da 
gaben  sie  voll  Bewunderung  und  Preis  dem  göttlichen  Zauberer  den  verab- 
redeten Lohn  und  gingen  fort. 


S 


Zweites  Abenteuer. 

Der  Ankauf  des  Pferde-Eies. 

Nachdem  der  Guru  Paramärtan  und  seine  ftinf  Schüler  im  Mattam  an- 
ekommen  waren,  gingen  sie  umher  und  erzählten  die  Verlegenheiten,  in  welche 
der  Flufs  sie  gebracht  hatte. 

Ein  altes  einäugiges  Weib,  welches  den  Mattam  auszukehren  pflegte  und 
welchem  alles  Geschehene  ausfuhrlich  erzählt  war,  sprach:  „Ich  bin  der  Meinung, 
dafe  ein  Irrtum  in  der  Weise  des  Zählens  vorgekommen  ist.  W^enn  man  zählt 
und  sich  oder  einen  andern  ausläfet,  so  mufs  das  Resultat  unrichtig  sein;  aber 
für  eine  ähnliche  Gelegenheit  will  ich  euch  einen  Weg  angeben,  auf  dem  ihr 
dergleichen  Irrtümer  vermeiden  könnt.  Sammelt  den  Mist,**)  der  auf  der  Weide 
liegt,  und  wenn  ihr  ihn  glatt  getreten  habt,  so  stellt  euch  herum,  bückt  euch 
nieder  und  steckt  die  Nasenspitze  in  den  Haufen.  Dann  zählt  die  Eindrücke 
eurer  Nasen  und  dadurch  könnt  ihr  ohne  Rechnungsfehler  erfahren,  wie  viele 
ihr  seid.  Auf  diese  Weise  haben  wir  vor  fünfzig  oder  sechzig  Jahren  eine 
Anzahl***)  von  Weibern  gezählt,  die  bei  einander  waren." 

Sie  erwiderten  Alle:  „Das  ist  wirklich  ein  vortrefflicher  Vorschlag,  der 
kein  Geld  kostet;  keiner  von  uns  hat  daran  gedacht.  Unter  allen  Umständen 
wird  es  aber  das  beste  sein,  dafs  wir  ein  Pferd  kaufen;  Meister,  ihr  müfst  auf 
jeden  Fall  ein  Pferd  anschaffen."  Der  Guru  fragte,  wie  hoch  der  Preis  eines 
Pferdes  sich  belaufen  würde,  als  sie  aber  auf  eingezogene  Erkundigung  erfuhren, 
dafe  es  mindestens  fünfzig  bis  hundert  Pagodas  kosten  würde,  erklärte  der 
Guru,  dafe  er  nicht  im  stände  sei,  eine  solche  Summe  zu  bezahlen. 

*)  Eine  Silbermünze,  deren  fünfundyierzig  einen  Pagoda  ausmachen;  es  gibt  indessen  auch 
Gold -Fanams,  die  in  Dubois'  Uebersetzung  ausschliesslich  erwähnt  werden. 

••)  Der  Mist  wird  in  der  Sonne  getrocknet  und  allgemein  als  Feuenmgsniaterial  benutzt. 
*)  wörtlicli:  zehn. 


58  Hennann  Oesterley. 


So  blieb  die  Saehe  eine  g^te  Weile  liegen,  bis  sie  eines  Tages  bemerkten, 
dafs  ihre  Milchkuh,  die  zur  Weide  getrieben  war,  abends  nicht  snirückehrte. 
Sie  suchten  dieselbe  im  ganzen  Dorfe;  als  sie  aber  trotz  aller  Nachforschungen 
nicht  zu  finden  war,  ging  Matti  am  andern  Morgen  aus,  sie  zu  suchen. 

Als  er  am  dritten  Tage  in  den  Mattam  zurückehrte,  ohne  eine  Spur  von 
ihr  entdeckt  zu  haben,  rief  er  voll  Entzücken  aus:  „Die  Kuh,  Meister,  kann  ich 
nicht  finden,  aber  das  schadet  nichts,  denn  ich  habe  zu  einem  sehr  billigen 
Preise  ein  Pferd  für  uns  gefunden.**  „Wie  ist  das  zugegangen?"  fragte  eifrig  der 
Guru.  Matti  antwortete:  „Nachdem  ich  von  Dorf  zu  Dorf,  von  Weide  2ai 
Weide,  von  Stück  zu  Stück  gesucht  hatte,  um  die  Milchkuh  zu  finden,  und  auf 
dem  Rückwege  war,  bemerlcte  ich  vier  oder  fiinf  Stuten,  die  am  Ufer  eines 
grofsen  Teiches  weideten  oder  ruhten.  Als  ich  weiter  ging,  fand  ich  an  einem 
benachbarten  Orte  eine  Anzahl  von  Pferde -Eiern  nach  allen  Richtungen  hin 
niederhängen,  die  man  mit  beiden  Armen  nicht  umspannen  konnte.  Ich 
erkundigte  mich  bei  einem  Vorübergehenden,  und  dieser  bestätigte  mir,  dafs 
es  wirklich  Pferde-Eier  seien  und  dafs  jedes  nur  vier  oder  fiinf  Pagodas  kostete. 
Dies  ist  eine  günstige  Gelegenheit,  Meister.  Wir  können  für  einen  billigen 
Preis  ein  edles  Pferd  erhalten,  und  was  seine  Gelehrigkeit  anlangt,  so  wird 
alles  davon  abhängen,  wie  wir  es  aufziehen  und  zureiten."  Sie  stimmten  alle 
diesem  Vorschlage  bei,  gaben  ihm  Madeiyan  zur  Begleitung  mit,  händigten  ihnen 
fünf  Pagodas  ein  und  sandten  sie  unverweilt  auf  die  Reise. 

Als  Matti  und  Madeiyan  sich  auf  den  Weg  gemacht  hatten,  um  das 
erwähnte  Pferde-Ei  zu  kaufen,  warf  Mudan  folgendes  Bedenken  auf:  „Ich  gebe 
zu,  dafs  wir  das  Ei  eines  edlen  Renners  erlangen;  aber  wenn  es  in  unserm 
Besitze  ist,  so  kann  es  doch  nur  auskommen,  nachdem  es  bebrütet  ist;  wer 
aber  in  aller  Welt  es  ausbrüten  soll,  das  weifs  ich  nicht.  Matti  sagt,  dafs  man 
es  mit  beiden  Armen  nicht  umspannen  kann;  wenn  wir  also  auch  zehn  Hennen 
darauf  setzten,  so  könnten  sie  es  nicht  einmal  bedecken,  viel  weniger  bebrüten; 
sagt  uns,  wie  wir  das  einrichten  sollen."  Bei  diesem  Ein^^aufe  stierten  sie  be- 
stürzt einander  an,  öffneten  den  Mund  nicht  und  schwiegen.  Nach  einer  langen 
Pause  richtete  der  Guru  an  jeden  Einzelnen  der  drei  Anwesenden  das  Wort 
und  sprach:  „Ich  sehe  keinen  andern  Weg,  als  dafs  einer  von  uns  sich  darauf 
setzt".  Das  suchte  jeder  von  sich  abzulehnen.  „Es  ist  mein  Geschäft",  sagte 
der  eine,  „täglich  zum  Flufse  zu  gehen  und  das  nötige  Wasser  zu  holen,  ebenso 
in  den  Wald  zu  gehen  und  Brennholz  zu  sammeln,  wie  kann  ich  also  brüten?*' 
Der  Andre  sprach:  „Wie  kann  ich  das  Brüten  besorgen,  wo  ich  Tag  und  Nacht 
ohne  Unterbrechung  in  der  Küche  bin,  für  Jedermann  Reis  bereite,  allerlei 
Arten  Speise  zurichte,  Kuchen  backe,  Wasser  koche,  und  mich  so  am  Herde 
aufreibe?"  Der  Dritte  sprach:  „Vor  Tagesanbruch  gehe  ich  zum  Flufse,  reinige 
mir  die  Zähne,  spüle  mir  den  Mund  aus,  wasche  mir  Gesicht,  Hände  und  Füfse 
und  verrichte  der  Vorschrift  gemäfs  alle  Ceremonien;  dann  gehe  ich  in  den 
Blumengärten  umher,  sammle  die  jungen  Knospen,  bringe  sie  mit  schuldiger 
Ehrerbietung  hierher,  winde  lange  Kränze,  streue  Blumen  auf  verschiedene 
Götterbilder,  bete  sie  an  und  helfe  täglich  bei  dem  Opfer  der  Gottheit.  Das 
ist  meine  Beschäftigung,  nichtwahr?   Wie  kann  ich  bei  alle  dem  brüten?** 

Darauf  entgegnete  der  Guru:  „Das  ist  alles  vollkommen  wahr  und  eben 
so  wenig  können  es  die  beiden  anderen  übernehmen,  die  fortgegangen  sind, 
denn  der  eine  von  ihnen  hat  mehr  zu  thun  als  er  ausrichten  kann;  er  mufs 
Erkundigungen  über  die  Leute  einziehen,   mit  denen  wir  zu  thun  haben,   die 


Die  Abenteuer  des  Guru  Paramärtan.  59 


Fragen  beantworten,  welche  sie  vorbringen,  und  die  Streitigkeiten  schlichten, 
die  ihm  zur  Entscheidung  vorgelegt  werden.  Matti  endlich  ist  der,  welcher 
bei  allen  Gelegenheiten,  wo  wir  Geschäfte  zu  besorgen  haben,  zu  den  Laden, 
auf  die  Jahrmärkte  und  in  die  Dörfer  geht  Ihr  könnt  euch  also  den  Be- 
schäftigungen nicht  entziehen,  die  fortwährend  eure  Aufmerksamkeit  in  Anspruch 
nehmen.  Ich  für  meinen  Teil  aber  habe  hier  nichts  zu  thun;  ich  will  also  das 
Ei  in  meinen  Schoss  nehmen,  es  mit  den  Armen  umfassen,  mit  dem  Saume 
meines  Kleides  bedecken,  an  die  Brust  drücken,  mit  Zärtlichkeit  behüten  und 
auf  diese  Weise  ausbrüten.  Es  ist  genug,  wenn  wir  nur  das  Pferd  ausbringen, 
und  wir  wollen  die  Mühe  nicht  ansehen,  die  es  uns  kostet. 

Während  im  Mattam  diese  Beratung  stattfand,  wendeten  Matti  und  Madeiyan, 
die  sich  in  der  dritten  Woche  mit  dem  aufgehenden  Monde  aufgemacht  hatten, 
nach  einer  Reise  von  mehr  als  drittehalb  Kädam*)  ihre  Schritte  der  Stelle  zu, 
welche  sie  schon  von  weitem  erblickt  und  beobachtet  hatten,  und  gelangten 
an  das  Ufer  des  Teiches,  wo  sie  einen  Ueberflufs  von  Kürbisfrüchten  fanden. 

Sie  gerieten  beim  Anblicke  derselben  in  Entzücken,  gingen  zu  dem  Bauer, 
der  dort  beschäftigt  war,  und  sprachen  bittend  zu  ihm:  „Meister,  wir  beschwören 
dich  ernstlich,  gib  uns  eins  von  diesen  Eiern."  Der  Bauer  sah  ihre  Dummheit 
und  antwortete:  „Ho,  ho!  glaubt  ihr,  ihr  könntet  so  edle  Pferde-Eier  kaufen, 
wie  diese  sind?*'  Sie  en^'iderten:  „Nun,  nun,  Meister,  wifsen  wir  nicht,  dafs 
das  Stück  fünf  Pagodas  kostet?  Seht  hier,  Freund,  nehmt  eure  fünf  Pagodas 
und  gebt  uns  ein  gutes  Ei."  Er  antwortete:  „Ihr  seid,  meiner  Treue,  gute, 
rechtschaffene  Burschen.  In  anbetracht  eurer  guten  Eigenschaften  willige  ich 
ein,  sie  euch  zu  diesem  Preise  zu  lassen;  sucht  euch  also  nach  Gutdünken  ein 
Ei  aus  und  geht  eurer  Wege;  sprecht  aber  nicht  darüber,  dafs  ihr  es  zu  so 
niedrigem  Preise  erhalten  habt."  Sie  wählten  also  gemeinschaftlich  eine  Frucht 
aus,  die  gröfser  war,  als  alle  Uebrigen,  standen  am  nächsten  Morgen  früh  auf 
und  begaben  sich  auf  den  Weg,  als  eben  der  Tag  graute. 

Matti  nahm  mit  grofser  Sorgfalt  das  Ei  und  hob  es  sich  auf  den  Kopf; 
der  andere  ging  den  Weg  weisend  voran.  Während  sie  so  vorwärts  gingen, 
fing  Matti  an  zu  sprechen:  „Ja,  ja,  unsere  Voreltern  haben  gesagt:  ,W^er  Bufse 
thut,  arbeitet  an  seinem  Glücke*.  Wir  haben  den  Beweis  davon  jetzt  mit  eignen 
Augen  gesehen.  Dies  ist  zuverläfsig  der  Segen,  welcher  aus  der  unabläfsigen 
Bufsübung  unseres  Guru  erwachsen  ist.  Ein  edles  Pferd,  das  hundert  oder 
hundert  und  fünfzig  Pagodas  wert  ist,  kaufen  wir  und  bringen  wir  ihm  für 
fünf."  Madeiyan  erwiderte:  „Bedarf  das  einer  Ueberlegung?  Hast  du  nicht 
den  Spruch  gehört:  ,Nur  aus  guten  Werken  entspringt  Genufs,  alles  Andere 
ist  gleichgültig  und  des  Lobes  unwert*?  Aus  Tugend  entsteht  nicht  allein 
Vorteil,  sondern  auch  Freude;  und  wo  die  Tugend  fehlt,  ist  alles  andere 
Elend  und  Schande.  Hat  mein  Vater  nicht  lange  Zeit  hindurch  viele  Tugenden 
geübt?  und  er  fand  seinen  Lohn  und  seine  Lust  am  Ende,  als  ich  ihm 
geboren  wurde."  Der  Andre  versetzte:  „Unterliegt  das  einem  Zweifel? 
Kann  man  einen  Ebenbaum  ziehen,  wenn  man  Ricinus  säet?  Aus  guten 
Handlungen  entsteht  Gutes,  aus  bösen  Handlungen  Böses.** 

Als  sie  unter  solchen  Gesprächen  eine  beträchtliche  Strecke  zurück- 
gelegt hatten,    stiefs    der  Kürbis  gegen  einen  Baumast,   der  niedergebeugt 


*j  Ein  Kädam  =  c.  50  engl.  Meilen. 


60  Hermann  Oestcrley. 


herabhing;  er  flog  Matti  aus  den  Händen,  fiel  auf  das  Gesträuch,  das  am 
Boden  wuchs,  und  brach  in  Stücke. 

Darüber  sprang  ein  Hase  auf,  der  unter  den  Büschen  gesessen  hatte, 
und  rannte  fort.  Erschreckt  riefen  sie  aus:  „Sieh  da!  das  Füllen  läuft  fort, 
das  in  der  Schale  war",  und  rannten  hinterher,  um  es  zu  fassen  und  zu  fangen. 
Unbekümmert  um  Berg  oder  Thal,  Wald  oder  Weide,  stürzten  sie  dahin, 
ihre  Kleider  verwickelten  sich  in  den  dornigen  Büschen,  wo  sie  zerrissen 
oder  hängen  blieben.  Sie  liefsen  in  der  Verfolgung  nicht  nach,  obgleich 
ihnen  das  Fleisch  von  den  Baumwurzeln  zerfetzt  wurde,  auf  welche  sie  traten, 
obgleich  ihr  Blut  flofs  infolge  der  Dornen,  die  ihnen  im  Körper  steckten; 
ihr  ganzer  Leib  strömte  von  Schweifs,  das  Herz  schlug  ihnen,  ihre  Ohren 
hatten  sich  verstopft,  sie  keuchten  und  schnauften  vor  Anstrengung  und  ihr 
Eingeweide  schüttelte  sich;  aber  trotz  alledem  fingen  sie  den  Hasen  nicht 
und  endlich  fielen  sie  beide  ermattet  und  erschöpft  zu  Boden.  Indessen 
rannte  der  Hase  immer  weiter,  bis  er  ihnen  zuletzt  aus  den  Augen  ent- 
schwand und  geborgen  war.  Da  erhoben  sie  sich  wieder  und  suchten  ohne 
Rücksicht  auf  ihre  Ermüdung  in  allen  Richtungen  weiter,  mit  lahmen  Beinen 
und  verwundet  von  Dornen,  Steinen  und  Baumstümpfen.  In  diesem  jammer- 
vollen Zustande  litten  sie  den  ganzen  Tag  Hunger  und  Durst  und  kehrten 
endlich  nach  Sonnenuntergang  in  den  Mattam  zurück. 

Als  sie  in  das  Thor  traten,  schlugen  sie  sich  auf  den  Mund,  schrieen  Wehe, 
Wehe  und  stürzten  unter  ihren  eignen  Schlägen  zu  Boden.  „Was  ist?  was 
ist  geschehen?  welches  Unglück  ist  euch  begegnet?**  fragten  die  übrigen, 
indem  sie  hervortraten,  sie  bei  der  Hand  fassten  und  aufhoben.  Nachdem 
die  beiden  ausfuhrlich  alles  berichtet  hatten,  was  geschehen  war,  sprach 
Matti:  „O  Meister!  seit  dem  Tage  meiner  Geburt  habe  ich  kein  so  schnelles 
Pferd  gesehen,  wie  dieses;  es  war  von  aschgrauer  Farbe  mit  schwarz  ver- 
mischt, in  Gestalt  und  Gröfse  wie  ein  Hase  und  eine  Elle  lang.  Obgleich 
ein  Füllen  noch  im  Ei,  spitzte  es  beide  Ohren,  hob  den  Schwanz  in  die 
Höhe,  der  in  der  Länge  von  zwei  Fingern  aufrecht  stand,  streckte  seine 
vier  Beine  aus  und  rannte,  den  Leib  dicht  an  der  Erde,  mit  einer  Schnellig- 
keit und  Heftigkeit,  die  sich  weder  beschreiben  noch  begreifen  läfst" 

Alle  wehklagten  über  das  Unglück,  nur  der  Guru  beruhigte  sie  und 
sprach:  „Die  fünf  Pagodas  sind  freilich  verloren,  aber  gleichwohl  ist  es  gut, 
da(s  das  Füllen  entlaufen  ist,  denn  wenn  ein  Füllen  auf  solche  Weise  rennt, 
wer  wird  im  stände  sein,  darauf  zu  reiten,  wenn  es  ein  ausgewachsenes  Pferd 
geworden  ist?  Ich  bin  ein  alter  Mann;  wenn  mir  ein  Pferd  von  solcher 
Beschaffenheit  auch  umsonst  geboten  \vürde,  meine  Freunde,  ich  würde  es 
nicht  annehmen." 


Drittes  Abenteuer. 

Die  Reise  auf  gemietetem  Ochsen. 

Nach  Verlauf  einiger  Zeit  sahen  sie  sich  genötigt,  eine  weite  Reise  zu 
unternehmen.  Da  sie  zu  Fufse  nicht  so  weit  gehen  konnten,  kamen  sie  überein, 
einen  Ochsen  mit  abgesengten  Hörnern  zu  mieten.  Sie  verabredeten  einen 
Mietpreis  von  drei  Fanams  für  den  Tag,  und  nachdem  die  erste  Woche  nach 


Die  Abenteuer  des  Guru  Paramärtan.  61 


Sonnenaufgang  in  verschiedenen  Besorgungen  hingegangen  war,  begaben 
sie  sich  auf  die  Reise. 

Es  war  eine  entsetzlich  heifse  Jahreszeit,  die  Sonnenstrahlen  schofsen 
unterwegs  gerade  auf  sie  nieder,  und  dabei  befanden  sie  sich  auf  einer  offnen 
Ebene,  ohne  einen  einzigen  Baum  oder  Busch,  und  ohne  Schirm  und  Schatten. 
Während  sie  so  dahin  schlichen,  geriet  der  alte  Guru,  unfähig,  die  drückende 
und  unablässig^e  Hitze  zu  ertragen,  und  gebeugt  wie  grünes  Gras,  in  Gefahr 
von  dem  Ochsen  herabzufallen.  Als  seine  Schüler  die  Gefahr  bemerkten, 
ergriffen  sie  ihn  und  hoben  ihn  herab;  da  aber  kein  anderer  Schatten  zu 
finden  war,  setzten  sie  ihn  in  den  Schatten  des  Ochsen,  den  sie  anhielten, 
und  fächelten  den  Meister  mit  ihren  Kleidern.  Als  er  dadurch  bedeutend  ge- 
stärkt war,  und  ein  kühles  Lüftchen  sich  erhob,  bestieg  er  den  Ochsen  wieder, 
und  so  zogen  sie  langsam  weiter,  bis  sie,  noch  ehe  der  Tag  sich  geneigt 
hatte,  bei  einem  kleinen  Dorfe  anlangten,  wo  sie  Halt  machten. 

Sobald  sie  die  kleine  Karawanserai  des  Dorfes  betreten  hatten,  zahlten 
sie  dem  Ochsentreiber  seine  drei  Fanams  aus,  aber  dieser  behauptete,  das 
sei  nicht  genug.  „Wie  hängt  das  zusammen",  entgegneten  sie,  „war  dies  nicht 
der  tägliche  Mietpreis,  den  wir  von  vorn  herein  mit  dir  verabredet  haben ^* 
Jener  aber  wendete  ein:  „Es  ist  allerdings  richtig,  dafs  für  die  Benutzung  des 
Ochsen  als  Transportmittels  dieser  Preis  festgesetzt  war;  aber  aufserdem  hat 
mein  Ochse  mitten  auf  dem  Wege  als  Schirm  gegen  die  Hitze  gedient;  mufs 
ich  dafür  nicht  ebenfalls  Bezahlung  erhalten?**  Sie  erklärten  das  für  eine 
Prellerei,  gerieten  in  heftigen  Zorn,  widersprachen  ihm  und  erhoben  einen 
lauten  Streit  Als  der  Zank  lebhafter  wurde,  blieben  alle  Dorfbewohner, 
Männer  und  Weiber,  die  ab  und  zu  gingen,  stehen  und  hörten  zu.  Indessen 
hatte  ein  Padeipäschi,*)  der  das  Amt  des  Richters  bekleidete,  die  Streitenden 
beschwichtigt,  hörte  beide  Teile  an  und  fragte  sie,  ob  sie  sich  der  Entscheidung 
fugen  wollten,  welche  er  aussprechen,  und  dem  Urteile  unterwerfen,  welches 
er  fallen  würde;  dann  sprach  er  wie  folgt: 

„Ich  reiste  einst  in  meiner  Heimat,  und  brachte  die  Nacht  in  einer  grofsen 
Karawanserai  zu,  wo  man  aufser  der  Wohnung  für  Geld  auch  Speisen  und 
Getränke  erhalten  konnte.  Da  ich  indessen  nicht  Reisegeld  genug  besafs,  so 
sagte  ich,  dafs  ich  nichts  bedürfte.  Man  steckte  eine  grofse  Hammelkeule  an 
einen  eisernen  Bratspiefs,  um  sie  für  die,  welche  an  jenem  Tage  angekommen 
waren,  durch  Drehen  über  glühenden  Kohlen  zu  rösten.  Dabei  dampfte  der 
Braten  in  der  Hitze  fortwährend,  und  weil  der  Geruch,  den  er  ausströmen 
liefs,  sehr  angenehm  war,  glaubte  ich,  es  würde  lecker  sein,  bei  dem  würzigen 
Dufte  meinen  gekochten  Reis  zu  efsen,  den  ich  bei  mir  trug,  und  ich  erbat 
mir  deshalb  die  Erlaubnis,  den  Spiefs  für  einige  Zeit  drehen  zu  dürfen.  Ich 
hielt  also  meinen  Reis  über  den  Dampf,  drehte  mit  der  einen  Hand  den 
Bratspiefs,  und  afs  mit  der  andern,  den  duftigen  Bratengeruch  zugleich  mit- 
geniefsend.  Später,  als  ich  abreisen  wollte,  forderte  der  Meister  der  Kara- 
wanserai Bezahlung  für  den  genofsenen  Duft.  Ich  wies  auf  die  Ungerechtig- 
keit seines  Verlangens  hin,  und  wir  begaben  uns  streitend  zu  dem  Richter 
des  Dorfes.  Dieser  war  ein  grofser  Schastri  und  ein  höchst  verständiger 
Mann,  tief  gelehrt  und  sehr  bewandert  in  der  Kunst  des  Gesetzes.  Hört  die 
Entscheidung,  die  er  aussprach:     Für  den,  der  von  dem  Braten  geniefst,  ist 

♦)  Besondere  Art  Landbauern. 


62  Hermann  Oesterlcy. 


Geld  der  Preis;  aber  für  den  Genufs  des  Duftes,  der  dem  Braten  ent- 
strömt, ist  der  Geruch  des  Geldes  der  Preis:  Das  ist  mein  Bescheid.  Mit 
diesen  Worten  berief  er  den  Meister  der  Karawanserai  in  seine  Nähe,  drückte 
ihm  einen  Beutel  mit  Geld  unter  die  Nase,  und  rieb  und  scheuerte  sie  damit 
Dieser  rief:  ,Wehe,  wehe!  meine  Nase  fällt  ab,  ich  habe  hinreichende  Be- 
zahlung*. Hört  ihr  das?  ist  das  nicht  Gerechtigkeit,  ist  das  nicht  Gesetz? 
dasselbe  Urteil  findet  auf  euch  auch  Anwendung.  Für  die  Reise  mit  dem 
Ochsen  hierher  ist  Geld  der  angemessene  Mietpreis,  aber  für  das  Sitzen  im 
Schatten  des  Ochsen  ist  der  Schatten  des  Mietgeldes  genügend." 

Da  indessen  die  Sonne  bereits  untergegangen  war,  bestimmte  er  den 
Klang  des  Geldes  als  den  Preis  für  den  Schatten  des  Ochsen,  ergriff  plötzlich 
den  Ochsentreiber,  schlug  ihm  den  Beutel  mit  Geld  wiederholt  um  die  Ohren 
und  rief;  ,, Hörst  du?*'  worauf  dieser  erwiderte:  „Ach  ja,  Herr,  ach  ja,  Herr, 
ich  habe  es  gehört,  ich  habe  es  gewifs  gehört,  mein  Ohr  ist  wund;  genug 
Vater,  genug  der  Miete?"  Dann  sprach  der  Guni:  „Was  ich  bis  jetzt  erduldet 
habe,  genügt  mir;  ich  kann  diesen  Aerger  nicht  ertragen.  Nimm  deinen 
Ochsen  fort,  der  Rest  der  Reise  ist  kurz,  und  morgen  will  ich  gemütlich 
zu  Fufse  gehen.**  Mit  diesen  Worten  schickte  er  ihn  fort,  dann  gab  er  unter 
Lob  und  Preis  dem  Richter  seinen  Segen,  der  den  Streit  so  geschickt  bei- 
gelegt hatte,  und  entliefs  ihn. 


Viertes  Abenteuer. 

Das  Fischen  des  Pferdes. 

Aus  Furcht  vor  der  Hitze  machte  sich  der  Guru  mit  seinen  Schülern  am 
folgenden  Tage  bereit,  sobald  der  Hahn  krähte,  und  sie  begaben  sich  auf  den 
Weg.  Da  sie  einen  trägen  Schritt  gingen,  so  bemerkten  sie,  dafs  die  Hitze 
anfing,  sie  auszudörren,  noch  ehe  sie  einen  Kadam  zurückgelegt  hatten,  und 
machten  deshalb  in  einem  kühlen  Wäldchen  Halt.  Während  sie  sich  dort 
erholten,  schlug  Millichan  sich  in  die  Büsche  und  ging  dann  in  einem  nahe- 
liegenden Teiche,  sich  die  Füfse  zu  waschen. 

An  dem  Ufer  desselben  befand  sich  ein  Tempel  Apinars*),  an  welchem 
ein  Pferd  von  neugebranntem  Thone  stand,  das  infolge  eines  Gelübdes  dorthin 
gebracht  und  aufgestellt  war.  Da  der  Teich  voll  Wasser  und  das  Wasser  klar 
war,  erblickte  Millichan  das  Bild  dieses  Thon- Pferdes  im  Wasser;  er  ver- 
wunderte sich,  ein  Pferd  im  Wasser  zu  finden,  aber  als  er  bemerkte,  dafs  es 
in  Parbe,  Gröfse  und  Gestalt  dem  Thon -Pferde  ähnlich  war,  welches  am  Ufer 
stand,  stieg  der  Verdacht  in  ihm  auf,  dafs  es  vielleicht  das  Abbild  desselben 
wäre,  welches  sich  unten  zeigte. 

In  diesem  Augenblicke  indessen  schaukelte  und  kräuselte  ein  Windhauch 
das  Wasser  und  dadurch  wurde  auch  das  Pferd  darin  bewegt;  als  er  nun 
bemerkte,  dafs  das  Pferd  am  Ufer  keinerlei  Bewegung  machte,  kam  er  zu  der 
Ueberzeugiing,  dafs  das  Pferd  im  Wasser  ein  anderes  und  lebendiges  sei;  er 
schrie  deshalb  auf,  um  es  fortzutreiben  und  warf  mit  einem  Steine  danach. 
Das  Wasser  geriet  dadurch  in  stärkere  Bewegung,  und  auch  das  Pferd  schien 

*)  Der  Sohn  Vischnus. 


Die  Abenteuer  des  Guru  Paramartan.  63 


den  Kopf  zu  erheben,  mit  den  Beinen  auszuschlagen  und  am  ganzen  Körper 
lebend  aufzuspringen.  Da  lief  er  erschreckt  zu  den  Uebrigen  und  erzählte 
ihnen  alles,  was  er  gesehen  hatte. 

Infolge  dessen  standen  sie  augenblicklich  auf  und  eilten  zur  Stelle,  blickten 
dort  umher  und  erkannten,  dafs  Millichan  die  Wahrheit  berichtet '  hatte.  Dann 
beratschlagten  sie,  wie  das  Pferd  gefangen  werden  könnte,  aber  als  keiner  von 
ihnen  sich  bereit  fand  in  das  Wasser  hinabzusteigen  und  es  zu  holen,  und  nach- 
dem verschiedene  Vorschläge,  die  der  eine  und  der  andere  machte,  bekämpft 
und  zurückgewiesen  waren,  kamen  sie  überein,  das  es  das  beste  sei,  eine  Angel 
auszuwerfen,  das  Pferd  zu  fangen,  wie  man  einen  Fisch  zu  fangen  pflegt,  und 
es  dann  ans  Land  zu  ziehen. 

Als  Angel  benutzten  sie  eine  Sichel,  die  einer  von  ihnen  mit  sich  fiihrte, 
und  als  Köder  brauchten  sie  ein  Bündel  Reis,  welches  sie  bei  sich  trugen, 
während  sie  als  Leine  den  Turban  des  Guru  verwendeten.  Sie  stachen  also 
die  Sichel  durch  den  Reis,  banden  den  Turban  daran,  und  warfen  sie  an  der 
Stelle  aus,  wo  das  Pferd  sich  zeigte.  Durch  die  starke  Wellenbewegung  des 
Wassers,  hervorgebracht  durch  die  Kraft,  mit  welcher  die  Angel  hineingeworfen 
wurde,  schien  das  Pferd,  welches  sich  darin  zeigte,  ebenfalls  aufzuspringen,  infolge 
dessen  sie  alle  vor  Angst  ergriffen  fortliefen.  Nur  einer  von  ihnen,  der,  welcher 
den  Turban  hielt,  liefe  nicht  los,  sondern  behielt  ihn  fest  in  den  Fäusten.  Nach- 
dem die  Wellen  des  Teiches  sich  beruhigt  hatten,  ging  er  vorsichtig  näher, 
und  da  er  fortu-ährend  die  Sichel  ins  Wasser  hielt  bifs  ein  grofser  Fisch  im 
Teiche  an  das  Zeug.  Als  er  dies  bemerkte,  winkte  er  die  anderen  mit  der 
Hand  herbei  und  rief:  „Seht  hier,  das  Pferd  beifst  an".  Nach  einiger  Zeit  zog 
er  den  Turban  herauf,  aber  Beutel  und  Reis  waren  fort,  und  infolge  dessen 
steckte  die  am  Turban  befestigte  Sichel  in  einer  grofsen  Pflanze,  die  sich  unter 
dem  Wasser  ausgebreitet  hatte.  Da  schrieen  alle  voll  Entzücken:  „Wenn  die 
Angel  im  Maule  des  Pferdes  fest  sitzt,  ist  es  unser".  Dann  zogen  sie  mit  ver- 
einten Kräften  an  dem  Turban;  aber  er  war  alt,  gab  nach  und  plötzlich  fielen 
sie  alle  auf  den  Rücken. 

In  dem  Augenblicke  als  sie  niederstürzten,  kam  ein  gutmütiger  Mensch 
des  Weges,  und  fragte,  was  geschehen  sei.  Sie  berichteten  ihm  alles,  wie  es 
gekonunen  war,  er  erkannte  ihre  Einfaltigkeit,  verschleierte  das  Thonpferd  am 
Ufer  mit  einem  Tuche,  zeigte  ihnen,  dafs  das  Pferd  im  Wasser  auf  dieselbe 
Weise  verdeckt  war,  und  benahm  ihnen  so  ihre  Täuschung. 

Sie  zeigten  dem  Manne  dann  den  Guru,  erzählten  ihm  aufs  Genaueste, 
wie  sie,  ohne  Mittel,  ein  Pferd  zu  kaufen,  das  ihnen  bei  der  Altersschwäche 
des  Meisters  unentbehrlich  geworden  wäre,  ein  Pferde -Ei  gekauft  hätten,  wie 
es  zerbrochen  sei,  und  welchen  Aerger  sie  mit  dem  gemieteten  Ochsen  gehabt 
hätten.  Er  sah,  dafs  sie  gutgesinnt  und  Menschen  ohne  Falsch  waren,  hatte 
Mitleid  mit  ihnen  und  sprach:  „Ich  besitze  ein  lahmes  Pferd,  es  ist  zwar  alt, 
aber  es  wird  für  Reisen,  wie  ihr  sie  macht,  brauchbar  sein ;  Fanam  und  Kahu*) 
sind  unnötig,  ich  gebe  es  euch  umsonst.  Kommt  alle  zu  meinem  Hause". 
So  sprechend  nahm  er  sie  mit  sich  fort. 

*)  Engl.  cash. 


04  Hermann  Ocsterley. 

Fünftes  Abenteuer. 

Die  Heimkehr  zu  Pferde. 

Der  gutmütige  Mann  brachte  sie  also  zu  dem  Dorfe,  in  welchem  er  wohnte. 
Eis  war  kein  reicher  Mann,  er  war  sogar  arm,  aber  er  war  wohlthätig;  so  setzte 
er  ihnen  eine  Mahlzeit  vor,  bei  welcher  weder  Ghi,  noch  Milch,  noch  Tyer 
fehlte,  gab  ihnen  Betel -Blätter,  Nüsse  und  Tabak  und  versah  sie  mit  allem 
Erforderlichen  im  Ueberflusse. 

Am  folgenden  Morgen  liefs  er  das  Pferd  holen,  welches  auf  seinen  Feldern 
graste,  stellte  es  vor  den  Guru  und  über^b  es  ihm  als  Geschenk.  Neben 
seinem  Alter  war  das  Tier  auf  einem  Auge  blind,  eines  Ohres  beraubt,  auf 
einem  Vorderbeine  lahm  und  auf  einem  Hinterbeine  hinkend,  so  dafs  es  zu 
der  Jammergestalt  des  Guru  sehr  gut  pafste.  Trotz  dieser  seiner  Beschaffen- 
heit waren  sie  alle  hoch  erfreut,  dafs  sie  ein  Pferd  besafsen  und  dafs  sie  es 
umsonst  erhalten  hatten.  Sie  umstanden  es  und  überhäuften  es  mit  Liebkosungen: 
dieser  klopfte  es  mit  der  Hand,  jener  ergriff  ein  Bein  und  umschlang  es;  der 
eine  erfafste  es  beim  Schwanz  und  zog  daran,  der  andere  wischte  ihm  die 
Augen  aus,  während  der  dritte  es  futterte  und  ihm  Gras  ins  Maul  zwängte. 

Dann  suchten  sie  nach  dem  Sattelzeuge,  und  der  Geber  des  Pferdes 
schenkte  ihnen  auch  einen  alten  zerrissenen  Sattel.  Da  indessen  der  Schwanz- 
riemen fehlte,  pchafflen  sie  Stengel  von  Pdleikodi*)  herbei  und  banden  sie 
daran;  und  da  ferner  am  Zaume  kein  Zügel  war,  ersetzten  sie  ihn  durch 
zusammengedrehtes  Heu.  Nachdem  sie  sich  alle  mögliche  Mühe  gegeben 
hatten,  einen  Bauchriemen  und  Sattelgurt  zu  erhalten,  aber  keinen  schaffen 
konnten,  ging  Matti  zu  einem  benachbarten  Dorfe  und  kaufte  beides  nebst 
einem  Sprungriemen. 

Als  sie  so  ein  vollständiges  Reitzeug  besafsen,  waren  die  Tage  des 
Unglücks  vorüber,  und  im  glücklichen  Zeitpunkte,  den  Regeln  der  Astrologie 
gemäfe,  begleitete  sie  das  ganze  Dorf  rufend  und  schreiend  hinaus,  und  der 
Guru  Paramärtan  wurde  zu  Pferde  an  die  Spitze  des  Zuges  gestellt.  Einer 
von  den  fünf  Schülern  hatte  den  Zügel  erfafst  und  zerrte  das  Tier  von^'ärts, 
ein  anderer  ging  am  Schwänze,  schrie  und  trieb  es  an.  Zwei  andere  gingen 
zu  beiden  Seiten,  hielten  die  Beine  des  Guru  und  stützten  ihn,  während  der 
letzte  voraus  ging,  als  Herold  fungirte  und  ausrief:  „Seht  euch  vor,  seht  euch 
vor;  nehmt  euch  in  Acht";  und  so  zogen  sie  dahin. 

Als  sie  vergnügt  eine  beträchtliche  Strecke  zurückgelegt  hatten,  kam 
der  Weggeld -Sammler  hinter  ihnen  her  gerannt,  hiefs  sie  anhalten,  und  ver- 
langte fiinf  Fanams  für  das  Pferd.  Auf  dieses  Ansinnen  erwiederten  sie 
schreiend:  „Was!  Zoll  für  ein  Pferd,  welches  ein  Guru  reitet?  Hat  das  irgend 
etwas  mit  Geschäften  zu  thun?  Dieses  Pferd  ist  die  milde  Gabe  eines  Mannes, 
der  einsah,  dafs  der  Guru  nicht  im  stände  war,  zu  Hause  zu  gehen:  welchen 
Zoll  gibt  es  dafür?  Es  ist  eine  Ungerechtigkeit".  Als  er  sie  aber  bis  zum 
späten  Nachmittage  nicht  frei  lassen  wollte,  sahen  sie  keinen  andern  Ausweg 
und  gaben  ihm  die  fünf  Fanams.  Der  Guru  indessen  überlegte,  dafs  dieser 
Verdrufs  nicht  vorgekommen  sein  würde,  wenn  er  ohne  Pferd  gewesen  wäre, 
und  war  in  grofser  Not. 


*)  Schmarotzer  -  Pflanze. 


Die  Abenteuer  des  Gum  Paramärtan.  65 


Sie  gingen  dann,  sich  in  einer  naheliegenden  Karawanserai  zu  erfrischen, 
und  der  üuru  äufeerte  sich  in  bitteren  Klagen  einem  gutmütigen  Manne 
gegenüber,  den  er  dort  traf.  „Seit  dem  Tage  meiner  Geburt",  sprach  er, 
„habe  ich  kein  Pferd  bestiegen,  und  heute,  wo  ich  zum  erstenmale  reite, 
mufs  ich  eine  solche  Ungerechtigkeit  erdulden.  Kann  das  Geld  ihnen  Vorteil 
bringen,  welches  sie  auf  so  ungerechte  Weise  erlangen,  wie  Diebe,  die  ver- 
brecherisch den  Weg  belagern?  Wird  das  Geld,  bei  dessen  Empfang  mir 
das  Herz  brennt,  ihnen  nicht  zu  Feuer  werden?"  Der  Andere  erwiderte: 
„Das  ist  der  Charakter  der  Zeit,  Meister;  heutzutage  ist  Geld  der  Guru, 
Geld  die  Gottheit;  wir  kennen  seit  alfer  Zeit  den  Spruch:  Wo  das  Geld  nur 
erwähnt  wird,  da  öffnet  selbst  eine  Leiche  den  Mund.  Heutzutage,  Meister, 
gibt  es  keine  andre  Sorge  oder  Liebe,  als  Geld".  Der  Guru  erwiderte: 
„Es  gibt  jetzt  Menschen,  die  sich  nicht  bedenken  würden,  das  Geld  selbst 
vom  Miste  aufzulecken*-.  Jener  versetzte:  „Kann  man  daran  zweifeln?  und 
selbst  das,  Meister,  finden  sie  nicht  stinkend;  hört  einen  Beweis  davon: 

Ein  gewisser  König,  der  seinem  Reiche  schon  alle  Arten  von  Steuern 
auferlegt  hatte,  die  bis  dahin  nicht  bekannt  waren,  erhob  endlich  auch  auf 
den  Urin  eine  Steuer.  Dies  war  selbst  für  seinen  Sohn  zu  viel;  er  machte 
seinem  Vater  Vorstellungen,  und  erklärte  es  fiir  eine  Schande,  eine  so 
stinkende  Steuer  einzufordern.  Der  König  entliefs  indessen  seinen  Sohn  ohne 
Antwort.  Es  vergingen  viele  Tage,  und  nachdem  das  Geld  für  die  neue 
Steuer  eingegangen  war,  liefs  der  König  seinen  Sohn  kommen,  forderte  ihn 
auf  an  das  Geld  zu  riechen,  und  fragte:  „Stinkt  es?"  Der  Sohn  dachte  an 
keinen  geheimen  Sinn  und  antwortete,  es  röche  ganz  gut,  worauf  der  König 
erwiderte:  „Es  ist  das  Geld  von  der  Urinsteuer!  Versteht  ihr?  es  ist  genug, 
wenn  das  Geld  nur  kommt;  gleichviel,  woher  es  kommt". 

Nachdem  sie  auf  solche  Weise  den  Tag  in  lebhafter  Unterhaltung  ver- 
bracht hatten,  bestieg  der  Guru  abends  wieder  sein  Pferd,  und  als  sie  eine 
Strecke  zurückgelegt  hatten,  machten  sie  in  einem  Weiler  Halt.  Sie  banden 
das  Pferd  nicht  an,  sondern  liefsen  es  während  der  Nacht  auf  der  Weide, 
und  als  sie  es  am  andern  Morgen  suchten,  war  es  nicht  zu  finden.  Sie  gingen 
suchend  von  Haus  zu  Haus,  und  erfuhren  endlich,  dafs  ein  Mann  das  Pferd 
auf  seinem  Felde  fest  gebunden  habe.  Als  sie  diesen  baten,  es  ihnen  zurück- 
zugeben, antwortete  er:  „Es  hat  die  ganze  Nacht  von  meinem  Korn  gefressen, 
wodurch  ich  schweren  Schaden  erlitten  habe,  und  ich  werde  es  bestimmt 
nicht  hergeben".  Infolge  dessen  ging  der  Richter  des  Dorfes  selbst  zu  ihm, 
aber  obwohl  dieser  mit  Bitten  und  Drohungen  ihn  umzustimmen  versuchte, 
erklärte  er,  er  werde  das  Pferd  nur  unter  der  Bedingung  hergeben,  dafs  er 
seinen  Schaden  ersetzt  bekomme.  Es  versammelte  sich  also  eine  Anzahl*)  von 
Leuten,  die  den  Schaden  untersuchten,  der  durch  das  Grasen  entstancfen  war; 
sie  schätzten  ab,  was  niedergetreten  und  was  abgeweidet  war,  und  erklärten 
endlich,  dafs  der  Schaden  zehn,  oder  zum  mindesten  acht  Fanams  betrage. 
Schliefslich  vereinigten  sie  sich  zu  einem  Ersätze  von  vier  Fanams,  der  Mann 
erhielt  sein  Geld,  und  gab  das  Pferd  zurück. 

Was  den  Guru  anlangt,  so  war  er  in  grofser  Not  und  sprach:  „Wozu 
besitze  ich  dieses  Pferd?  Wie  viele  Ausgaben,  wieviel  Verdrufs,  wie  viele  Herab- 
setzung ist  aus  seinem  Besitze  entstanden,  und  alles  dieses,   meine  Freunde, 


*)  Wörtlich:  vier. 
Ztschr.  f.  vgl.  Litt-Gesch.  L 


66  Hermann  Oesterley. 

vereinigt  sich  schlecht  mit  meiner  Würde,"  dabei  fafste  er  den  festen  Entschlufs, 
za  Fufse  zu  gehn.  Aber  sowohl  seine  Schüler  wie  die  Dorfbewohner  riefen: 
„Pfui,  pfui,  das  schickt  sich  schlecht  für  euch,  und  aufsedem  seid  ihr  nicht  im 
Stande  zu  Fufse  zu  gehn."  Dies  alles  hörte  ein  gewisser  Nalluvan*)  und  sprach: 
„Ihr  braucht  euch  nicht  zu  sorgen,  Meister.  Ohne  Zweifel  ist  all  dieses  Unglück 
durch  einen  Zauber  über  euch  gekommen,  mit  dem  das  Pferd  behaftet  ist 
Wenn  ihr  eine  Ausgabe  ein  für  allemal  nicht  scheut  und  mir  fünf  Fanams 
gebt,  so  will  ich  diesen  Zauber  beschwören  und  beseitigen.  Sie  dachten  an 
den  Spruch:  „Kein  Geschäft  kann  gemacht  werden,  wenn  man  Ausgaben 
scheut",  willigten  ein,  ihm  das  Geld  zu* geben,  und  sagten  ihm,  er  möge  den 
Zauber  austreiben. 

Da  verrichtete  der  Nalluvan,  um  sie  zu  tauschen,  verschiedene  Zere- 
monien, pflückte  einige  grüne  Blätter,  streute  sie  über  das  Pferd  und  rief: 
„Muna,  muna!  ach!  oh!"  Er  ging  dreimal  rechts  um  das  Pferd  herum,  be- 
tastete und  streichelte  es  vom  Schwänze  bis  zum  Kopfe,  ergrif!"  das  übrig- 
gebliebene Ohr  und  sprach:  „In  diesem  Ohre  sitzt  der  ganze  Zauber.  Um 
einen  ähnlichen  Zauber  auszutreiben,  ist  in  früherer  Zeit  das  andere  Ohr  ab- 
geschnitten. Wenn  wir  nun  dieses  Ohr  ebenfalls  abschneiden,  wird  der  gegen- 
wärtige Zauber  gelöst  und  beseitigt  werden."  Damit  wetzte  er  sein  Messer, 
schnitt  das  Ohr  ab  und  trug  es  schnell  an  einen  entlegenen  Ort,  dafs  der 
Zauber  niemand  Schaden  thäte.  Dort  gruben  sie  eine  tiefe  Grube,  warfen  es 
hinein  und  bedeckten  es  mit  Erde,  bezeichneten  den  Ort  und  gingen  fort 
Als  der  Tag  damit  zu  Ende  war,  reisten  sie  am  andern  Morgen  ab  und 
kehrten  nach  ihren  vielen  Widerwärtigkeiten  in  den  Mattam  zurück. 


Sechstes  Abenteuer. 

Die  Prophezeihung  des  Brähman. 

Nach  seiner  Ankunft  im  Mattam  war  der  Guru  in  hohem  Grade  nieder- 
geschlagen. Das  geschenkte  Pferd  war  freilich  sehr  mangelhaft,  aber  es  war 
doch  ein  sehr  grofees  Glück  für  ihn,  dafs  er  es  ohne  Ankauf  erhalten  hatte; 
er  grübelte  indessen  den  Widerwärtigkeiten  und  Unglücksfallen  nach,  die  aus 
dem  Besitze  des  Pferdes  entstanden,  sie  unterwegs  heimgesucht  hatten;  er  litt 
schwer  unter  seinen  Sorgen,  versammelte  deshalb  seine  Schüler  um  sich  und 
erteilte  ihnen  seinen  weisen  Rat  „Ich  erkenne  täglich  mehr  und  mehr,  meine 
Brüder,  dafs  die  Freuden  der  Welt  nur  falsche  Freuden  sind.  Gutes  unver- 
mischt  mit  Bösem,  Süfses  unvermischt  mit  Bitterm  und  Freude  unvermischt 
mit  Kummer  ist  hier  unerreichbar.  Weh,  weh!  waren  wir  nicht  hocherfreut, 
als  wir  durch  Mildthätigkeit  ein  Pferd  erhalten  hatten,  ohne  dafür  zu  bezahlen? 
Ihr  seid  Zeugen  der  traurigen  Vorkommnisse  gewesen,  welche  an  demselben 
Tage  unmittelbar  diesem  glücklichen  Ereignisse  folgten.  Müssen  wir  solche 
Bitterkeit  schlucken,  um  einen  einzigen  Tropfen  Honig  zu  lecken?  Ach,  selbst 
das  Reiskorn  hat  seine  Hülse  und  alles  Obst  hat  Schale  und  Stein.  Das  ist 
freilich  alles  wahr;  aber  gleichwohl  war  es  des  Bösen,  welches  ich  im  Laufe 
eines  Tages  erduldet  habe,  zu  viel.     Es  ist  sicherlich  ungesund  fiir  mich,  auf 

*)  Eine  Art  Parias,  die  sich  auch  mit  Beschwören  beschäftigen 


Die  Abenteuer  des  Guru  Paramdrtan.  67 


hinein  Pferde  reitend  umherzuziehen.  Soll  ich  die  Kühnheit  haben,  mich  wider 
das  Schicksal  des  Himmels  aufzulehnen?  Nein,  nein.  Es  wird  also  angemessen 
sein,  das  Pferd  wieder  zurückzuschicken."  Diesen  Worten  widersprachen  aber 
alle  Schüler  aus  einem  Munde :  „Das  darf  nicht  sein,  das  darf  nicht  sein.  Redet 
nicht  so,  Meister.  Ist  dies  ein  Pfera,  das  wir  gekauft  haben?  Ist  es  ein  Pferd, 
um  welches  \vir  uns  bemüht  haben?  Gewife  nicht;  es  ist  freiwillig  gekommen, 
als  eine  Hülfe  der  Vorsehung;  ist  es  nicht  so?  Wenn  wir  es  ziuückschicken, 
werden  wir  im  Widerspniche  mit  dem  göttlichen  Willen  handeln;  würde  das 
recht  sein?  Es  würde  im  Gegenteil  eine  Sünde  sein,  Meister.  Zudem  haben 
wir  jetzt  nichts  mehr  zu  besorgen,  wo  der  Nalluvan  den  Zauber  ausgetrieben 
hat,  der  das  Pferd  beherrschte." 

Indem  sie  diese  wie  manche  andere  Gründe  weitläufig  auseinandersetzten, 
fafete  der  Guru  wieder  guten  Mut  und  sprach:  „Sei  es,  wie  ihr  sagt.  Damit 
indessen  für  die  Zukunft  ein  Unglück  vermieden  wird,  wie  es  uns  damals  be- 
troffen hat,  wird  es  nicht  angehen,  das  Pferd  nachts  auf  die  Weide  zu  schicken, 
sondern  wir  müssen  es  entschieden  im  Hause  festgebunden  halten  und  ich 
weifs  dafür  keinen  Ort  Da  sprach  P6dei :  „Was  bedarf  es  dabei  langer  Ueber- 
legung?  Ich  will  gleich  gehen  und  einige  Aeste  abhauen  und  herbringen; 
dann  will  ich  in  kurzer  Zeit  an  der  Ecke  einen  hübschen  Stall  aufbauen." 

Er  machte  sich  sofort  auf  den  Weg,  kletterte  auf  einen  grofsen  Pagoden- 
baum, der  am  Wege  stand,  und  begann  mit  der  Axt  einen  gerade  hervor- 
stehenden Ast  abzuhauen.  Aber  er  safs  dabei  am  Ende  und  hieb  den  Teil 
zunächst  am  Stamme  ab.  Dies  sah  ein  reisender  Brähman,  der  des  Weges 
kam,  und  rief:  „Höre,  Bruder,  setze  dich  nicht  so,  sonst  wirst  du  mit  dem 
Aste  herabfallen."  Jener  erwiderte:  „Kommst  du  mir  mit  dieser  bösen  Pro- 
phezeihimg?"  Damit  schleuderte  er  ein  Messer  auf  den  Brähman,  welches  er 
im  Kleide  stecken  hatte,  der  andre  aber  dachte:  „Lafs  den  Narren  durch 
Schaden  klug  werden",  ging  fort  und  machte  sich  aus  dem  Staube. 

Was  P^dei  anlangt,  so  hieb  er  weiter,  blieb  ebenso  sitzen,  wie  er  vorher 
gesessen  hatte  und  als  der  Ast  halb  durchgehauen  war,  brach  er  und  Pedei 
fiel  mit  ihm  herab.  „O  weh,  o  weh!"  klagte  er,  „der  Brähman  ist  ein 
grofser  Schästri,  ein  mächtiger  Prophet;  es  ist  genau  so  gekommen,  wie  er 
vorausgesagt  hat"  Mit  diesen  Worten  stand  er  rasch  auf  und  rannte  dem 
Brähman  nach,  um  ihn  einzuholen.  Als  dieser  ihn  plötzlich  auf  sich  zueilen 
sah,  blieb  er  erschreckt  stehen,  ungewifs,  was  dieses  sinnlose  Geschöpf  vor- 
hätte. Pedei  näherte  sich,  machte  seine  Verbeuguug  und  sprach:  „Meister, 
ihr  seid  ein  g^rofser  Schästri,  ich  bitte  euch,  prophezeit  mir  noch  einmal; 
ich  bin  der  Schüler  des  Guru  Paramärtan,  für  welchen  ich  tiefe  Zuneigung 
fühle.  Da  er  alt  und  schwach  ist,  so  befiirchte  ich,  dafs  er  in  kurzer  Zeit 
sterben  wird.  Deshalb  bitte  ich  nun,  sagt  mir  zu  meinem  Tröste,  wann  sein 
Ende  kommen  wird  und  welches  die  Zeichen  sind,  die  vorher  erscheinen 
werden." 

Der  Brähman  machte  verschiedene  Ausflüchte,  um  von  ihm  loszu- 
kommen; als  aber  der  andre  ihn  nicht  verlassen  wollte,  sprach  er  endlich: 
^.Asanam  schitam  jfvananäscham".  „Was  heifst  das,  bitte,  sagt  mir,  was  es 
bedeutet,"  flehte  der  andre  ungestüm.  Der  Brähman  erwiderte:  „Sobald 
die  Lenden  deines  Guru  kalt  werden,  wirst  du  ein  Zeichen  haben,  dafs  sein 
Tod  herannaht." 

5* 


68  Hermann  Ocstcrley. 

Darauf  machte  Pedei  seine  Verbeugung  und  entfernte  sich.  Dann 
schleppte  er  den  Ast,  den  er  abgehauen  hatte,  zum  Mattam  und  berichtete 
in  allen  Einzelnheiten,  was  geschehen  war.  Der  Guru  versank  darüber  in 
tiefe  Traurigkeit  und  sprach  also:  „My  kann  nicht  behaupten,  dafs  der 
Brähman  nicht  ein  grofser  Schästri  ist,  denn  alles  ist  dir  genau  so  begegnet, 
wie  er  vorausgesagt  hatte.  Ebenso  mufs  die  Prophezeihung  unfehlbar  sein, 
die  er  ausgesprochen  und  mir  zugeschickt  hat.  ,Asanam  schitam  jivana- 
nascham^  ist  ein  wahres  Wort.  Für  die  Zukunft  ist  grofse  Vorsicht  nötig; 
meine  Füfse  dürfen  nie  mehr  gewaschen  werden,  und  im  übrigen  geschehe 
der  Wille  der  Gottheit." 


Siebentes  Abenteuer. 

Der  Fall  vom  Pferde. 

Nachdem  die  obenerwähnte  Vorsicht  eine  Zeitlang  geübt  war,  begaben 
sie  sich  auf  eine  Reise  durch  die  Dörfer,  getrieben  durch  die  Betrachtung, 
dafs  die  Schüler  ihr  Geld  sammeln  könnten,  wenn  sie  im  Bezirke  umher- 
zögen, dafs  sie  aber  im  Mattam  keine  Einnahme  zu  erwarten  hätten. 

Auf  ihrem  Rückwege  zum  Mattam  stiefs  der  Turban  des  Guru,  der 
auf  seinem  Pferde  einherzottelte ,  an  einen  herabhängenden  Baumast  und 
fiel  zur  Erde.  Er  glaubte,  seine  Schüler  würden  ihn  aufheben,  ritt  eine  gute 
Strecke  weiter  und  fragte  dann:  „Wo  ist  mein  Turban?  gebt  ihn  mir."  Sie 
antworteten:  „Er  ist  dort  und  liegt  vermutlich  noch  an  der  Stelle,  wo  er 
niedergefallen  ist."  Der  Guru  wurde  ärgerlich  darüber  und  sprach:  „Mufs 
man  nicht  alles  aufnehmen,  was  heruntergefallen  ist?"  Madeipan  lief  also 
unverzüglich  fort  und  als  er  den  herabgefallenen  Turban  zurückbrachte,  den 
er  aufgehoben  hatte,  legte  er  etwas  dünnen  Mist  hinein,  der  von  dem  Pferde 
ausgeleert  war  (denn  es  hatte  Gras  gefressen,  welches  infolge  nächtlicher 
Regenschauer  ungesund  geworden  war)  und  übergab  ihm  dem  Guru. 

Dieser  geriet  darüber  in  heftigen  Zorn  und  rief:  „Pfui,  pfui!"  Sie 
aber  entgegneten  einmütig:  „Wieso,  Meister?  Habt  ihr  uns  vorhin  nicht  an- 
gewiesen und  gesprochen,  man  müsse  alles  aufheben,  was  herabfalle?  und 
jetzt,  wo  Madeipan  dieser  Anweisung  gemäfs  handelt,  geratet  ihr  in  Zorn? 
warum  das?"  Der  Guru  erwiderte:  „Nicht  also.  Es  gibt  einige  Dinge,  die 
man  aufheben  mufs,  und  andre,  die  man  nicht  aufheben  mufs.  Ihr  solltet 
mit  einiger  Einsicht  handeln."  Sie  entgegneten  darauf:  „Dazu  sind  wir  nicht 
gescheut  genug."  Dann  baten  sie  ihn,  alles  einzeln  niederzuschreiben,  was 
sie  aufzuheben  hätten,  und  er  schrieb  es  demgemäfs  nieder. 

So  zogen  sie  weiter,  und  da  der  Boden  feucht  und  schlüpfrig  war, 
stolperte  das  lahme  Pferd,  das  bei  jedem  Schritte  wankte,  und  fiel  nieder. 
Der  Guru  stürzte  kopfüber  in  ein  grofses  Loch,  schrie  um  Hilfe  und  brüllte: 
„Lauft  und  hebt  mich  auf".  Die  Schüler  eilten  herbei.  Einer  von  ihnen 
zog  den  Kadjan*)  hervor,  den  jener  vorher  beschrieben  und  ihnen  gegeben 
hatte,  und  begann  folgendermafsen  zu  lesen:  „Aufzuheben  ein  gefallener 
Turban;   aufzuheben   ein  gefallenes   Brusttuch  und  Schultertuch;  aufzuheben 


*)  Palmblatt,  zum  Schreiben  benutzt. 


Die  Abenteuer  des  Guru  Paramärtan.  69 


gefallene  Jacken  und  Hosen.  Dabei  nahmen  sie  ihm  jedes  Kleidungsstück 
einzeln  ab,  wie  es  verlesen  wurde,  bis  der  Guru  nackt  dalag,  und  sie  be- 
harrten trotz  all  seiner  Bitten  und  all  seiner  Wut  bei  ihrer  Weigerung,  weil 
es  auf  dem  Kadjan  nicht  geschrieben  stände.  „Meister",  sprachen  sie,  „wo 
steht  es  geschrieben,  dafs  ihr  aufgehoben  werden  müfet?  zeigt  es  uns;  wir 
wollen  genau  thun,  wie  es  geschrieben  steht,  aber  wir  werden  niemals  ein- 
willigen, etwas  zu  thun,  was  nicht  niedergeschrieben  ist."  Da  er  bei  ihrer 
Halsstarrigkeit  keinen  anderen  Weg  zur  Rettung  fand,  nahm  er  Kadjan  und 
Stift  und  schrieb  auf  der  Stelle  wo  er  lag:  „Und  wenn  ich  falle,  so  müfst 
ihr  mich  aufheben." 

Als  die  Schüler  sahen,  dafs  es  geschrieben  stand,  kamen  sie  einmütig 
herbei  und  hoben  ihn  auf.  Sein  Körper  war  vollständig  mit  Schmutz  be- 
deckt, da  das  Loch,  in  welchem  er  gelegen  hatte,  voll  Kot  war,  und  sie 
wuschen  ihn  deshalb  in  einem  nahestehenden  Wasser  ab.  Darauf  legten  sie 
ihm  seine  Kleider  wieder  an,  hoben  ihn  aufs  Pferd  und  führten  ihn  zum 
Mattam. 


Achtes  Abenteuer. 

Der  Tod  des  Guru. 

In  der  grofsen  Aufregung  und  Geschäftigkeit  bei  dem  Falle  des  Guru 
in  das  Loch  dachte  niemand  an  die  Prophezeihung,  welche  der  Brahman 
früher  ausgesprochen  hatte.  Erst  als  er  wieder  aufs  Pferd  gestiegen  war  und 
die  Kälte  seiner  Lenden  bemerkte,  erinnerte  er  sich  derselben  mit  schwerer 
Sorge.  Gleichwohl  sprach  er  nicht  davon,  bis  sie  in  den  Mattam  zurück- 
gekehrt waren. 

Bei  der  Schwere  des  Falles  in  seinem  hinfälligen  Alter  fand  er  während 
der  Nacht  keinen  Schlaf,  sondern  warf  sich  ruhelos  umher  und  litt  grofse  Not 
bei  dem  Gedanken  an  die  erwähnte  Prophezeihung.  Er  täuschte  sich  nicht 
mit  der  Annahme,  dafs  die  Schmerzen,  die  seinen  Körper  durchwühlten  und 
seine  Schlaflosigkeit  veranlafsten,  in  dem  Sturze  vom  Pferde  ihren  Grund  hätten, 
er  hegte  vielmehr  die  feste  Ueberzeugung,  dafs  alles  von  seinem  herannahenden 
Tode  herrühre,  herbeigeführt  durch  die  Kälte  seiner  Lenden.  Dieser  Gedanke 
entsetzte  und  peinigte  ihn  die  ganze  Nacht  hindurch;  und  unfähig,  auch  nur 
für  einen  Moment  die  Augen  zu  schliefsen,  stöhnte  er  häufig,  und  liefs  bei 
Tagesanbruch,  getrieben  von  den  ruhelosen  Zustande  seines  Innern,  seine 
Schüler  herbeirufen. 

Als  sie  kamen  und  ihn  erblickten,  bemerkten  sie  mit  Schrecken,  dafs 
sein  Aussehen  sich  verändert  hatte :  die  beiden  Augen  waren  in  ihre  Höhlen 
eingesunken,  sein  Gesicht  war  verwelkt  und  susammengeschrumpft  und  hatte 
eine  blasse,  mit  braun  untermischte  Farbe  angenommen,  sein  Mund  war 
trocken,  seine  Sprache  verwirrt  und  er  stierte  wie  ins  Leere.  Er  ächzte  tief 
auf  und  sprach:  „O  meine  Brüder,  legt  mich  ins  Grab,  und  verrichtet  die 
Begräbnis -Ceremonien  über  meiner  Leiche".  „Wie  so,  Meister?"  fragten  sie 
entsetzt.  „Wie  so!"  erwiederte  der  Guru,  „habt  ihr  denn  die  Worte  ver- 
gessen: Asanam  schitam  jivananäscham?  Das  Loch,  in  welches  ich  gestern 
fiel,  war  voll  Schmutz  und  Wasser,  und  infolge  dessen  wurden  meine  Lenden 


70  Hermann  Ocstcrlcy. 


nafs.  In  meinem  Unglücke  dachte  ich  nicht  daran,  später  aber  bemerkte 
ich,  dafs  meine  Lenden  sehr  kalt  waren,  und  ich  gedachte  des  Schäster, 
welchen  der  Brähman  ausgesprochen  hatte.  Daher  habe  ich  die  ganze  Nacht 
hindurch  Schmerzen  an  Leib  und  Seele  erduldet,  habe  nicht  den  geringsten 
Schlaf  gefunden,  und  also  ist  es  mir  völlig  klar,  dafs  mein  Tod  herannaht 
Weitere  Ueberlegung  ist  unnütz,  trefft  schleunig  Vorbereitungen  zu  meinem 
Begräbnisse**. 

Die  Schüler  waren  bei  dem  Gedanken  an  jene  Voraussagung  ebenfalls 
entsetzt,  aber  obwohl  entsetzt,  verrieten  sie  sich  doch  nicht,  sondern  unter- 
drückten ihre  innere  Angst  und  wandten  jede  Art  von  Trost  an,  um  die 
Seele  des  Guru  zu  beruhigen.  Als  sie  sahen,  dafs  trotz  allem,  was  sie 
sagten,  die  Not  seines  Herzens  nicht  nachliefs,  liefsen  sie  Asangadan*),  den 
Sohn  Aschedanamurtis**)  holen,  der  früher  der  Wahrsager  des  Dorfes  gewesen 
war,  und  trugen  ihn  auf,  den  bösen  Geist  auszutreiben,  von  dem  ihr  Guru 
besessen  sei,  und  ihm  Trost  zu  bringen.  Nachdem  Asangadan  alles  erfahren 
hatte,  was  vorgegangen  war,  erschien  er  und  fragte,  Augen,  Mund  und  Nase 
verzerrend:  „Was  fehlt  euch,  Meister?  Sprecht,  welches  Leiden  ist  über  euch 
gekommen,  welcher  Schmerz,  welcher  Kummer,  welche  Betrübnis?  Mein 
Guru!  mein  Meister!  mein  Vater?**  Auf  alles  dieses  hatte  der  Guru  keine 
andere  Antwort,  als  den  Spruch:  Asanam  schftam  jivana  nascham.  Jener 
erwiderte  darauf:  „Wohlan  denn,  der  Brahmann  hat  erklärt,  dafs  die  Kälte 
der  Lenden  euer  Tod  sein  werde  und  ich  will  machen,  dafs  die  Hitze  seines 
Rückens  sein  Tod  wird.  Zeigt  tnir  jenen  Brähman,  ich  will  das  Reisschläger- 
Opfer  auf  ihm  verrichten,  und  damit  alles  Uebel  austreiben  und  beseitigen» 
welches  durch  seine  Schuld  angerichtet  ist:  zeigt  ihn  mir,  zeigt  ihn  mir  augen- 
blicklich**. 

„Gibt  es  ein  Opfer,  welches  das  Reisschläger -Opfer  heifst?**  fragte  der 
Guru,  „ich  habe  niemals  von  einem  solchen  Opfer  gesehen  oder  gehört;  sagt 
mir  was  es  ist**.  Da  antwortete  Asangadan  und  sprach:  „Diese  Art  des 
Opfers  ist  freilich  ein  Opfer,  welches  unter  den  Udsamayams  und  Purrech- 
chamayamsl)  nicht  gefunden  wird;  hört  mir  aufmerksam  zu. 

„Es  lebte  einst  ein  Kaufmann,  der  ein  grofser  Verehrer  Schivans  war, 
und  der  in  dem  Wunsche,  täglich  an  Pandärams++)  Speise  auszuteilen,  sie  zu 
einer  Mahlzeit  einzuladen  pflegte,  wo  er  sie  auch  traf.  Er  besafs  keine  Kinder; 
aber  was  die  Frau  anlangte,  die  er  geheiratet  hatte,  so  war  es  eine  grofse 
Plage  für  sie,  auf  solche  Weise  täglich  einigen  Pandärams  Reis  zu  bereiten 
und  aufzutragen,  und  die  Handlungsweise  ihres  Gatten  war  ihr  durchaus  nicht 
angenehm.  Da  sie  indessen  wufste,  dafs  er  es  nicht  dulden  würde,  wenn  sie 
ihm  über  diesen  Gegenstand  etwas  sagte,  so  verfiel  sie  auf  eine  List  Als 
der  Kaufmann  eines  Tages  auf  den  Bazar  war,  rief  er  einen  Pandarara  an, 
dem  er  begegnete  und  sprach:  Meister,  ich  wünsche  heute  in  meinem  Hause 
Almosen  zu  verteilen,  und  da  dieser  die  Einladung  annahm,  fügte  er  hinzu  i 
Ich  bin  in  diesem  Augenblicke  noch  auf  dem  Bazar  beschäftigt,  geht  in  mein 


*)  Der  Spötter. 

**)  Der  Widersinnige. 

t)  Indisciie  Secten. 

tt)  Eine  Art  Bettelmönche. 


Die  Abenteuer  des  Guru  Paramärtan.  71 


Haus,  bringt  meiner  Frau  Nachricht,  und  wartet  bis  ich  komme.  Der  Pan- 
däram  ging  fröhlich  fort  und  überbrachte  die  Botschaft  des  Kaufmannes  an 
dessen  Gattin.  Diese  sah,  dafs  er  niemals  vorher  dagewesen  war,  und  ant- 
wortete: „Gut;  ich  bitte  euch,  bleibt  hier".  Mit  diesen  Worten  bereitete  sie 
eine  Matte  auf  der  Bank  des  Hauses  aus.  Dann  begann  sie  sofort  den  Vor- 
platz gründlich  zu  reinigen,  bestreute  ihn  überall  mit  gedörrtem  Kuhmist, 
wusch  sich  Füfse  und  Hände  und  ergriff  dann  mit  grofser  Feierlichkeit  den 
Reisschläger.  Sie  bestrich  ihn  überall  mit  Asche,  rieb  sich  gleichfalls  ein, 
stellte  ihn  dann  mitten  in  den  Vorplatz,  warf  sich  dreimal  vor  ihm  nieder 
und  murmelte  Zaubersprüche.  Als  sie  diese  vollendet  hatte,  wischte  sie  den 
Reisschläger  wieder  ab  und  stellte  ihn  an  seinen  alten  Ort.  Der  Pandäram, 
der  alles  beobachtet  hatte,  sprach  voll  Erstaunen:  „Ich  bin  eben  Zeuge  einer 
Scene  gewesen,  die  ich  bis  zu  diesem  Tage  niemals  gesehen  habe.  Bitte, 
sagt  mir,  welche  Art  von  Opfer  dieses  ist'*.  Sie  erwiderte:  „Dieses  Opfer 
ist  der  Gottheit  unserer  Kaste  eigentümlich,  ihr  werdet  es  nachher  gut  genug 
verstehen".  Indem  sie  ins  Haus  trat  fugte  sie,  wie  zu  sich  selbst  sprechend, 
leise  hinzu:  „Es  wird  auf  eurem  Kopfe  zu  Ende  gebracht  werden".  Obwohl 
sie  leise  sprach,  erreichten  doch  ihre  Worte,  wie  sie  beabsichtigt  hatte,  das 
Ohr  des  Pandäram.  Dieser  dachte:  „Ich  bin  durch  die  Vorsehung  dem  Tode 
entronnen",  und  machte  sich  geräuschlos  aus  dem  Staube,  sobald  die  Kauf- 
mannsfrau ins  Haus  getreten  war.  Kaum  war  er  fortgegangen,  als  der  Kauf- 
mann zurück  kam  und  fragte:  „Weib,  wo  ist  der  Pandäram,  den  ich  her- 
geschickt habe?"  Sie  erwiderte:  „Das  war  ein  schöner  Pandäram,  den  ihr 
diesmal  hergeschickt  habt,  nicht  wahr?  Sobald  er  ankam,  bat  er  mich,  ich 
möchte  ihm  den  Reisschläger  geben;  ich  antwortete,  der  Kaufmann  würde 
im  Augenblicke  hier  sein,  ich  dürfe  ihn  ohne  Erlaubnis  nicht  hergeben,  er 
möge  ein  Weilchen  warten.  Mit  diesen  Worten  breitete  ich  die  Matte  für 
ihn  aus,  wie  ihr  seht,  aber  er  ging  augenblicklich  fort  ohne  auf  meine 
Worte  zu  hören".  Der  Kaufmann  entgegnete:  „Nicht  also,  Weib;  du  hast 
die  Erlaubnis,  den  Pandärams  alles  zu  geben,  was  sie  auch  verlangen 
mögen".  Mit  diesen  Worten  nahm  er  den  Reisschläger  in  die  Hand  und 
ging  auf  die  Strafse  um  den  Pandäram  zu  suchen  und  ihn  ihm  zu  geben. 
Der  Pandäram  hatte  sich  in  der  Strafse  versteckt,  um  zu  sehen,  wie  die 
Sache  ablaufen  werde,  und  als  er  bemerkte,  dafs  der  Kaufmann  mit  seinem 
Reisschläger  herankam,  dachte  er:  „Sieh,  sieh,  er  kommt,  das  Opfer  auf 
meinem  Kopfe  zu  vollenden",  und  machte  sich  davon.  Der  Kaufmann  rannte 
hinter  ihm  her  und  rief:  „Pandäram,  Pandäram",  während  dieser  immer  eiliger 
lief,  bis  endlich  der  Kaufmann  seines  vorgerückten  Alters  und  seines  dicken 
Bauches  wegen  nicht  mehr  laufen  konnte  und  nach  Hause  ging.  Das  ist  das 
Reisschläger -Opfer;  und  ihr,  Meister,  werdet  eben  so  wenig  sterben,  wie  der 
Rücken  des  Brähman  heifs  werden  wird,  wenn  ich  dasselbe  auf  seinem 
Hinterteile  vollbringe." 

Der  Guru  Paramärtan  lachte  darüber  und  sprach:  „Mit  Recht  werdet 
ihr  Asangadan  genannt,  denn  ihr  treibt  immer  Späfse."  Da  der  andere  sah, 
dafs  der  Guru  lachte,  liefs  er  den  Scherz  fallen,  und  nahm  seine  Rede  wieder 
auf.  „Die  Worte  Meister,  welche  der  Brähman  gesprochen  hat,  sind  freilich 
der  Wahrheit  gemäfs;  man  mufs  indessen  die  Bedeutung  derselben  richtig 
verstehen.  Es  ist  wahr,  dafs  es  ein  Zeichen  des  Todes  ist,  wenn  man  Kälte 
in  den  hinteren  Teilen  bemerkt;   aber  nur  dann  wird  geschehen,   was  jener 


72  Die  Abenteuer  des  Guru  Paramärtan. 

ausgesprochen  hat,  wenn  eure  Lenden  ohne  äufsere  Ursache  kalt  geworden 
sind.  Ihr  seid  in  Wasser  und  Schmutz  gefallen;  ist  es  ein  grofses  Wunder, 
wenn  infolge  davon  eure  Lenden  kalt  wurden?  Es  würde  vielmehr  ein 
Wunder  sein,  wenn  ihr  in  diesem  Falle  nicht  kalt  geworden  wäret.  So  lafet 
nun  diesen  Kummer  fahren.  Wenn  ihr  in  Zukunft,  ohne  euch  in  den  Schmutz 
zu  setzen  und  ins  Wasser  zu  fallen ,  oder  ohne  irgend  eine  andere  äu&ere  Veran- 
lassung den  Asanam  schitam  bemerkt,  dann  mögt  ihr  daraus  schliefeen,  dafs 
der  jirana  näscham  nahe  ist.  Alles  weitere,  Meister,  ist  Unsinn."  Was  Asan- 
gadan  sprach,  leuchtete  dem  Guru  ein  und  erschien  ihm  vernünftig;  er 
erholte  sich  daher  einigermafsen,  stand  auf  und  begann  wieder  zu  essen,  zu 
plaudern  und  umherzugehen. 

Aber  es  waren  nur  wenige  Tage  auf  diese  Weise  vergangen,  als  nachts, 
während  der  Guru  schlief,  ein  langer  und  heftiger  Regenschauer  fiel  Infolge- 
dessen träufelte  das  Wasser  vom  Dache  herab  auf  das  Bett  des  Guru,  dicht 
bei  seinen  Lenden;  er  bemerkte  das  indessen  nicht,  weil  er  schlief.  Nachdem 
nun  der  Regen,  und  damit  auch  das  Tröpfeln  aufgehört  hatte,  drehte  er  sich 
im  Schlafe  herum  und  legte  sich  mit  dem  Rücken  unmittelbar  auf  den  nafsen 
Fleck.  Dadurch  kalt  geworden,  erwachte  er  plötzlich,  und  als  er  bemerkte, 
dafs  seine  Lenden  vollständig  kalt  waren,  gelangte  er  zu  der  Ueberzeugung, 
dafe  diesmal  keinerlei  äufeere  Veranlafsung  des  Kaltwerdens  vorläge,  und  dafe 
die  Stunde  seines  Todes  gekommen  sei. 

Die  Schüler,  die  ebenfalls  keine  äufsere  Ursache  für  die  Kälte  entdeckten, 
nahmen  sog^r  an,  dafe  die  Kälte  des  Bettes  von  der  Kälte  der  Lenden  her- 
rühre, und  glaubten  deshalb,  die  Zeit  sei  gekommen,  in  der  die  Prophezeihung 
des  Brahman  sich  erfüllen  sollte.  Auch  die  Genofeen  seiner  Kaste,  welche  ihn 
zu  besuchen  kamen  und  die  ungefähr  eben  so  viel  V^erstand  hatten,  wie  er 
selbst,  stimmten  mit  allem  überein,  was  ges*^  wurde,  während  der  Guru  keine 
andere  Ant\vort  für  die  Besuchenden  hatte,  als:  Jetzt,  ohne  Zweifel  Asanam 
schftam  jivana  näscham. 

Unfähig,  die  zunehmende  Niedergeschlagenheit  und  die  fortwährende 
Abnahme  seiner  Körperkräfte  zu  ertragen,  die  er  von  Tag  zu  Tag  erdulden 
mufste,  fiel  er  eines  Tages  in  Ohnmacht.  Da  begannen  sie  alle  zu  klagen, 
legten  sich  die  Hände  auf  den  Kopf,  weinten  und  heulten  und  riefen:  Wehe, 
wehe!  er  ist  gestorben,  er  ist  tot!**  und  nachdem  sie  die  Totenzeremonien 
verrichtet  hatten,  machten  sie  Anstalten,  ihn  zu  baden. 

Zu  diesem  Zwecke  füllten  sie  einen  grofsen  Trog,  den  sie  im  Mattam 
hatten,  vollständig  mit  Wasser,  stiefsen  den  vermeintlichen  Leichnam  hineia, 
drückten  ihn  nieder,  und  einige  von  ihnen  begannen  ihn  zu  reiben  und  zu 
waschen.  Während  dieser  Waschung  erwachte  er  aus  seiner  Ohnmacht,  aber 
da  er  unter  dem  Wasser  keinen  Athem  schöpfen  konnte,  und  unfähig  war, 
irgend  welche  Zeichen  mit  Händen  oder  Füfeen  zu  machen,  welche  die 
Schüler  zusammenprefsten,  fand  der  Guru  durch  die  Hand  dieser  Dumm- 
köpfe seinen  Tod. 

Es  versammelte  sich  dann  eine  grofse  Menge  Menschen,  die  ihn  auf- 
recht auf  eine  mit  Blumen  geschmückte  Bahre  setzten,  ihn  aufhoben  und 
sich  vorn,  hinten  und  von  den  Seiten  zusammendrängten.  Darauf  kamen 
seine  Schüler  und  brachten  ihn  unter  dem  Gesänge  „Asanam  schftan  jivana 
näscham"  fort,  senkten  ihn  in  die  Grube  und  bestatteten  ihn. 


VERMISCHTES, 


Beiträge  zur  Litteratur  des  Volksliedes. 

Von 
Otto   Boeckel. 

n  meiner  Sammlung  „Deutsche  Volkslieder  aus  Oberhessen"  (Marburg  1885) 
habe  ich  Lieder,  wie  sie  gegenwärtig  in  bestimmten  örtlichen  Bezirken 
gesungen  werden,  veröffentlicht.  Ich  teile  hier  noch  weitere  Lieder  mit,  die 
ich  als  noch  lebende  aus  dem  Volksmund  aufzeichnen  konnte.  Wenn  es 
meist  auch  allbekannte  Texte  sind,  so  ist  es  doch  einerseits  wichtig  festzu- 
stellen, wie  viel,  wir  müssen  leider  sagen,  wie  wenig  von  dem  alten  uner- 
mefslichen  Reichtum  sich  heute  noch  lebendig  im  Besitze  des  Volkes  erhalten 
hat,  andererseits  zu  sehen,  welche  Aenderungen  mit  dem  Texte  vor  sich  ge- 
gangen, welche,  sei  es  nun  mehr  oder  weniger  einschneidende  Umgestaltung 
das  Lied  erfahren  hat.  Wenn  ich  daran  anknüpfend  der  internationalen 
Verbreitung  des  einzelnen  Volksliedes  vergleichend  nachgehe,  so  mag  wie 
für  mich  selbst  so  auch  fiir  manch  anderen  es  doch  einen  eignen  Reiz  haben, 
zu  verfolgen,  wie  das  in  unseren  Tagen  noch  von  Bauern  eines  entlegenen 
Dorfes  gesungene  echt  deutsche  Lied  zugleich  der  Weltlitteratur  angehört 
Ich  beginne  mit  einem  der  bekanntesten  und  schönsten  Volkslieder,  das  ich 
in  der  hier  folgenden  Form  zu  Lohra  bei  Frohnhausen  aus  dem  Volksmunde 
aufgezeichnet. 

i)  Liebesprobe. 

i)  Es  stand  eine  Lind  im  tiefen  Thal, 
War  oben  breit  und  unten  schmal. 

2)  Darunter  zwei  Verliebte  safsen. 
Die  Freud'  fiir  Leid  vergafsen. 

3)  „Feines  Liebchen,  wir  müssen  auseinander, 
Ich  mufs  noch  sieben  Jahr  wandern.*' 

4)  „Mufst  du  es  noch  sieben  Jahr  wandern, 
Heirat*  ich  mir  keinen  andern." 


74 


Otto  Boeckel. 


5)  Und  ak  nun  sieben  Jahr  um  waren, 
Da  ging  sie  in  den  Garten, 
Feinsliebchen  fein  zu  erwarten. 

6)  Ich  ging  wohl  in  das  grüne  Holz, 

Da  kam  ein  Reiter  geritten,  war  stolz. 

7)  „Gott  griifs'  dich,  du  Hübsche  und  du  Feine, 
Was  machst  du  hier  alleine?** 

8)  Ist  dir  dein  Vater  oder  Mutter  gram, 

Oder  hast  du  es  heimlich  einen  neuen  Mann?** 

9)  „Mein  Vater  und  Mutter  sind  mir  nicht  gram, 
Und  ich'  hab'  auch  heimlich  keinen  Afann. 

lo)  Heut  sinds  drei  Wochen  über  sieben  Jahr', 

Dafs  mein  Feinsliebchen  gewandert  war. 
ii)  Gestern  bin  ich  geritten  durch  eine  Stadt, 

Dadrin  Feinsliebchen  Hochzeit  hat. 

12)  Was  thust  du  ihm  denn  wünschen  all', 
Dafs  er  seine  Treu  nicht  gehalten  hat?** 

13)  „Ich  wünsche  ihm  all'  das  Beste, 
So  viel  der  Baum  hat  Aeste. 

14)  Ich  wünsche  ihm  auch  so  viel  gute  Zeit, 
So  viel  auch  Stern  am  Himmel  sein. 

*    15)  Ich  wünsche  ihm  so  viel  Glück  und  Segen, 

So  viel  als*  Tropfen  in  das  Meer  'nein  regnen." 

16)  „Ich  that  dich  wohl  versuchen. 
Ob  du  mir  scheltest  oder  fluchest. 

17)  Hättest  du  einen  Fluch  oder  Schwur  gethan. 
So  war'  ich  von  Stund'  an  geritten  davon.** 

18)  Was  zog  er  aus  der  Tasche,- 
Ein  Tuch,  schneeweifs  gewaschen. 

19)  „Trocken   ab,  trocken'  ab  die  Aeugelein, 
Du  sollst  hinfort  mein  eigen  sein.** 

20)  Was  zog  er  von  dem  Finger  sein. 
Ein  Ring  von  Gold  und  Süber. 

21)  Er  warf  den  Ring  in  ihren  Schofs 
Und  sie  weinte,  dafs  das  Ringlein  flofs. 

Von  dieser  reizenden  Ballade,  eine  der  schönsten  und  fiir  das  deutsche 
Gemüt  charakteristischsten  Schöpfung  unserer  Volksmuse  besitzen  wir  bereits 
Texte  aus  dem  16.  Jahrhundert.  Und  zwar  scheiden  wir  hier  bereits  in  alter 
Zeit  deutlich  zwei  Gestaltungen  des  Liedes.  (Der  Kürze  halber  mit  A  und  B 
bezeichnet.) 

A.  Text  in  dem  hessischen  Liederbuche  der  Ottilie  Fenchlerin  von 
Strafsburg  1592  (früher  im  Besitze  des  Freihern  von  Lafsberg,  jetzt  zu 
Donaueschingen  Bl.  59b;  veröffentlicht  in  Birlingers  Alemannia  I,  i  ff.;  wo- 
selbst unser  Lied  Seite  55  also  anhebt: 

Es  stett  ein  lindt  in  jenem  thal, 
ist  oben  breytt  und  unden  schmal 
darauff  da  sitzt  frau  nachtigall 
une  andere  vogel  vor  dem  wald. 


Beiträge  zur  Litteratur  des  Volksliedes.  75 


SO  sing,  so  sing  frau  nachtigall 

und  andere  v6gel  vor  dem  waldt 

so  sing,  so  sing  du  schönes  mein  lieb, 

wir  beede  müssen  unss  scheyden  hie.  ä  4  Z.  15  Str. 

Vgl.  dazu  Liliencron,   Deutsches  Leben   im  Volkslied   um  1530,     S.  416  ff. 

Nächst  ältester  Text  ist  ein  fliegendes  Blatt  von  1677,  16  Str.  von 
Uhland  (ebenso  wie  No.  i)  zu  seinem  Volkslied  No.  116  benutzt.  Sehr 
ähnlich  ist  ein  Text  von  17  Strophen,  der  in  dem  zu  Ulm  1690  erschie- 
nenen „Tugendhaffter  Jungfrauen  und  Junggesellen  Zeit-Vertreiber"  enthalten 
und  im  Wunderhorn  IV,  3,  sowie  bei  Erk,  Liederhort  3  abgedruckt  ist. 
Dieser  Text  schliefst: 

Wer  ist,  der  uns  dies  Liedlein  sang 

Das  hat  gethan  ein  Reitersmann; 

Er  singt  uns  das  Lied  noch  vielmehr 

Gott  behüt  allen  Jungfrauen  ihr  Ehr! 

Er  hats  so  frei  gesungen 

Hat  ihm  ganz  wohl  gelungen; 

Er  hats  seinem  Buhlen  zu  Ehren  gemacht; 

Wünscht  ihr  darbei  viel  gute  Nacht. 

Erk  Liederhort  3  verzeichnet  auch  ein  fl.  Bl.  ums  Jahr  1760.  Böhme 
(altd.  Ldb.  1 16)  hat  eine  Melodie  zu  dem  alten  Text  selbst  nicht  finden  können, 
wohl  aber  eine  alte  niederländische  Volksweise  aus  dem  Sonterliederkens  von 
1540  ad  Ps.  66  mit  der  Tonangabe  „Daer  springt  een  boom  aen  ghenem 
dol*'  hinzugesetzt.  Ob  er  hiermit  das  Richtige  getroffen,  ist  schwer  zu  ent- 
scheiden, Bei  Fischart  findet  sich  in  der  Geschichte  Klitterung  (1575)  Zeile 
I  und  2  in  ähnlicher  Form  citiert.     Ob  damit  unser  Lied  gemeint  ist? 

B.  Zweiter  alter  Text,  ebenfalls  die  Strophe  zu  4  Zeilen,  mit  dem  Anfang : 

Es  het  ein  meidlein  ein  reiter  hold 

für  Silber  und  für  rotes  gold, 

Dafs  sie  nit  lassen  wolt  von  im 

sie  bschied  in  unter  ein  linden,  was  grün. 

aus:  „Zehen  Schöner  Lieder,  das  erste:  Es  hatt  ein  Meidlein  ein  Reuter  hold. 
In  seiner  eygen  Melodey.  Gedr.  zu  Augspurg  bey  Mich.  Manger  o.  f.  (i  580 
bis  1600),  auf  der  Kgl.  Bibl.  zu  Berlin,  abgedr.  in  Hoffmann  Findlingen  I,  366 
und  Weimar  Jahrbuch  V,  255.  Böhme  (Ldb.  11 80)  hat  in  Ermangelung  der 
alten  deutschen  Melodie  dem  Liede  die  Melodie  beigesetzt,  welche  sich  in 
der  Sonterliedekens  von  1340  ad  Ps.  63  mit  der  Zuschrift  „Dat  had  een 
meisken  een  ruyter  wat  lief.** 

C.  Niederländisch.  Hoffmann,  niederl.  VolksL,  8  vierzeil.  Str.  Anfang. 

Doar  zon  er  den  magetje  vroeg  opstaan 
om  haar  zoetelief  te  zoeken  gaan, 
en  zij  zocht  hem  onder  de  linden 
maar  kon  er  haar  liefje  niet  vinden. 

(vgl.  Willems,  onde  vi.  liederen,  219  ff.)  Der  unerkannte  Geliebte  sucht  das 
Mädchen  durch  Angebot  einer  goldenen  Kette  zu  verfuhren,  wird  aber  abge- 
wiesen und  gerührt  gibt  er  sich  ihr  zu  erkennen. 


76  Otto  Boeckel. 

D.  Neuere  Texte. 

a)  zweizeilig:  Unbestimmt:  Simrock,  d.  Volksl.  170  ff.,  Eric  Liederhort  1, 
Kretzschmer  I,  62  ff.,  Büsching-Hagen  193,  Wunderhom  und  Birlinger-Cre- 
celius  I,  60.  Provinzielle  Versionen:  Preuss.  Provinzialbl.  XXVÜ,  Afi6  (Sam- 
land);  Firmenich  Völkerstimmen  II,  236  (Gegend  von  Merseburg);  Prutz, 
Deutsches  Museum  1857,  700  (Altmark  und  Herzogtum  Magdeburg;  Münste- 
rische Geschichten  206—208  (Münster);  Reifferscheid  26  (Westfalen);  Hoff- 
mann-Richter 41  (Schlesien);  Pröhle  29  (Harz);  Weimarer  Jahrbuch  HI  (Thü- 
ringen); Fiedler,  Volksreime  etc.  147  (Anhalt-Dessau);  Köhler,  Volksbrauch, 
Aberglauben  im  Voigtlande  300  (Voigtland);  Album  fürs  Er^ebirge  81 
(Erzgebirge);  Mittler  49  (Hessen);  Meinert  (Kuhländchen)  243 — 245;  Ditfiirth 
II,  22  (Franken).  — 

Unauffindbar  ist  nur  geblieben  die  Version,  welche  Kriebitzsch  in  der 
„Euterpe"  1865  No.  4  mitgeteilt  hat. 

b)  vierzeilig:  Simrock  172: 

Es  hatt  ein  Mädchen  einen  Pferdsknecht  lieb 
Viel  lieber  als  sich  selber 

Sie  bestellten  sich  an  die  grüne  Linde,  'a  Linde 
Wo  die  beiden  sich  wollten  finde. 
(MdL  aus  Menzenberg).    Hoffmann  von  Fallersleben  zeichnete  in  seiner  Stu- 
dienzeit in  Kessenich  bei  Bonn  ein  Lied  auf  mit   dem  Anfang  (Alemannia 
von  Birlinger  IV,  284): 

Es  hat  ein  Jungelein  ein  Mädelein  lieb 
Viel  lieber  als  sich  selber 
Er  hatt'  es  beschieden  zu  kommen 
Unter  den  Lindenbaum  grone. 
Diese  Version  ist  recht  altertümlich,  besonders  folgende  Strophe: 

Der  Reiter  tat  ab  seinen  eisernen  Hut, 
Dafs  ihn  das  Mädchen  kennen  tut: 
„ach  Mädchen,  du  bist  fromme, 
Sonst  war  ich  nicht  zu  dir  kommen!" 
Ohne  Zweifel  ist  das  vierzeilige  Lied  das  ältere,  merkwürdig  ist,  dafs 
Simrock  und  Hoffmann  beide  dasselbe  am  Rhein  aufzeichneten.    Melodie  ist 
leider  nicht  aufgezeichnet,  ein  bedauerlicher  Verlust,  da  wir  nun  nicht  wissen, 
ob  die  alte  Melodie  der  neueren  ähnlich  ist  oder  nicht. 

E.  Wendisch-Deutsch.  Haupt-Schmaler,  Volkslieder  der  Wenden  in 
der  Ober-  und  Niederlausitz  I,  72  ff.,  2  Strophen  zu  2  und  3  Zeilen.    Anfang: 

Dort  unten  in  dem  Thal 
Steht  eine  Linde  schön  und  grüne. 
Das  Lied  ist  wie  so  viele  der  Wenden   dem  deutschen  Volksgesange 
entlehnt.     Es  schliefst  sich  ziemlich  eng  an  die  Versionen  D  an. 

Lieder  von  erprobter  Frauentreue  besitzen  fast  alle  Volkslitteraturen 
Europas.  Es  sei  hier  gestattet,  auf  einige  hervorragende  Repräsentanten 
kurz  hinzuweisen: 

i)  Französisches  Volkslied. 

Hier  unterscheiden  wir  zwei  Versionen  deutlich.  Die  erstere  kurz  betitelt 
„La  Porcheronne"  besingt  die  treue  Liebe  einer  Frau,  die  nach  der  Abreise 


Beiträge  zur  Litteratur  des  Volksliedes.  77 


ihres  Gatten  von  der  Schwiegermutter  gedemütigt  die  Schweine  hüten  mufs, 
aber  trotz  dieser  Erniedrigung  dem  Geliebten  treu  bleibt,  ja  selbst  dann,  als 
dieser  unerkannt  zurückkehrt,  und  die  Schwiegermutter  in  schnöder  Weise 
die  Ehre  der  Verstofeenen  opfert,  ihre  Treue  an  den  Fernen  beweist 
Ueberwältigt  gibt  sich  der  Gatte  zu  erkennen  und  bestraft  die  Schwiegermutter. 
Die  Ballade,  welche  zu  den  schönsten  der  ganzen  französischen  Volks- 
poesie gehört,  ist  nicht  sehr  weit  verbreitet,  z.  B.  Romania  I,  und  in  Provenge 
s.  Artand,  chants  pp.  de  la  Provence  92  ff.  Die  zweite  ist  kurzweg  „Germine** 
betitelt.  (Champfleury)  195  (Ile  de  France)  Lothringen  (Pugmaigre  8  (Nor- 
mandie  (Beaurepoire  75),  Campagne  (Tarbe,  romancers  II,  221).  Haute-Loire, 
Romania  I,  352,  ist  eine  moderne  Bearbeitung  unter  Weglassung  des  alter- 
tümlichen Zuges,  dafs  die  Schwiegermutter  ihre  junge  Schwiegertochter  zur. 
Schweinehirtin  degradiert.  Mehrere  andere  weniger  bedeutende  französiche 
Volkslieder  behandeln  ähnliche  Themata  z.  B.  Bajeand  I,  237  „Le  retour  de 
grenadier",  ib.  II,  84  ff.  „En  revenant  de  ma  patrie'S  ib.  II,  215  „Le  chant 
Jousseaume". 

2)   Italienisches  Volkslied. 

In  einem  Liede  aus  Oberitalien  (Bolza,  conzoni  comasche  674)  erkennt 
ein  Mädchen  den  zurückkehrenden  Liebsten  nicht  wieder  und  fällt  in  Ohn- 
macht, als  dieser  von  dem  angeblichen  Tod  des  Geliebten  erzählt.  Als  sie 
wieder  erwacht,  gibt  er  sich  der  Jungfrau  zu  erkennen.  Wesentlich  ähnlich 
ist  nun  eine  Reihe  italienischer  Versionen:  eine  venetianische  (Wolf  71),  mon- 
ferrinische  (Faroso  60),  genuesische  (Merwaldi,  canti  pop.  ined.  151)  römische 
(Reifferscheidt,  westf.  Volksl.  1 56),  sowie  eine  aus  der  Mark  (Giananden  270). 
In  einem  anderen  Volksliede  aus  Venedig  (Wolf  69,  Bernoni  canti  IX,  No.  7) 
und  Monferrat  (Ferraro,  canti  pop.  Monf.  33);  Istrien  (Ive,  canti  pop.  Istriani 
334)  macht  der  Liebende  in  Pilgertracht  seiner  Erkorenen  Anträge,  um  ihre 
Liebe  zu  erproben.  Als  sie  ihn  mit  Entrüstung  abweist,  gibt  er  sich  ihr 
durch  einen  Ring  zu  erkennen.  Ein  drittes  italienisches  Volkslied,  welches 
unseren  Stoff  behandelt,  ist  „La  sposa  del  crociato"  im  Inhalt  ähnlich  der  fran- 
zösischen „La  porcheronne".    Es  ist  überliefert  bei  Ferraro,  canti  monferrini  5 1 . 

3)  Volkslied  der  iberischen  Halbinsel. 

a)  Katalonisch.     i.  Briz,  consons  de  la  terra   161,   „La  porqueyrola'* 

I,  173,  Milo,  p.  Fontanols  romanceillo  catalan  200,  ähnlich  Wolf,  Proben  145 
La  vulta  de  D.  Guillermo.  Gehört  inhaltlich  zur  Gruppe  „La  Porcheronne". 
—  2.  „Biancaflor".  Der  Gatte  der  Dame  kehrt  zurück,  ohne  von  ihr  erkannt 
zu  werden,  sie  fragt  ihn  nach  dem  fernen  Gemahl,  imd  er  erzählt  ihr,  dafe 
dieser  die  Tochter  des  Königs  von  Frankreich  geheiratet  habe  und  ihr  be- 
fehle, einen  andern  Mann  zu  nehmen.  Sie  wünscht  ihm  Glück  und  gelobt, 
um  sieben  Jahr  auf  ihn  zu  warten,  wenn  er  dann  nicht  zurückkehre,  wolle 
sie  ins  Kloster  gehen.  Der  Gatte  gibt  sich  ihr  zu  erkennen,  gerührt  durch 
ihre  Treue.     (Text:  Milä  g.  Fontanols,  observacions  iio;  Briz  II,  191). 

b.  spanisch.  Eine  alte  Romanze,  welche  in  zwei  Varianten  des  16. 
ev.  Anf.  17.  Jhds.  vorliegt.     (Wolf  y  Hofmann,  primavero  y  flor  de  romances 

II,  87.  88.  yl.  Duran  romancers  general,  I,  175.  Depping,  romancers  castal- 
lano  n,  195)  hat  folgenden  Inhalt:  Eine  verlassene  Dame  fragt  einen  des 
Weges  kommenden  Ritter  nach  ihrem  fernen  Gatten.  Sie  trägt  ihm  Grüfse 
auf  und  bittet  dem  Geliebten  zu  sagen,   er  möge   doch  bald   zurückkehren. 


78  Otto  Boeckel. 


Der  Ritter  erzählt  nun,  wie  der  Gatte  erschlagen  und  längst  begraben  sei,  sie 
möge  also  nicht  mehr  auf  ihn  hoffen,  sondern  einen  andern  Gatten  nehmen. 
Die  Dame  erklärt,  dafe  sie  niemals  ihre  Treue  aufgeben,  sondern  ins  Kloster 
gehen  werde.     Da  gibt  sich  der  fremde  Ritter  zu  erkennen  als  ihr  Gatte. 

c.  portugiesisch.  Hier  haben  wir  mehrere  Versionen,  die  im  Ein- 
zelnen stark  von  einander  abweichen.  Diese  Romanzengruppe  wird  unter 
dem  Gesamttitel  „Romances  da  Obella-Infanta"  rubriciert  Zwei  vollständige 
Texte  sind  uns  von  Almeida-Garrett  (romancero  port.  11,  i  ff.)  überliefert 
Leider  sind  die  Texte,  welche  dieser  portugiesische  Dichter  uns  erhalten  hat 
nicht  über  den  Verdacht  erhaben,  stark  interpretiert  zu  sein.  Besser,  weil 
kritische,  sind  die  zwei  Versionen,  welche  Theophil  Braga  (romana  i — 7)  aus 
Portugal  selbst  und  die  Variante  von  den  Azoren,  welche  derselbe  Heraus- 
geber überliefert  hat  (Cant.  pop.  do.  Agor.  298 — 300),  sowie  ein  Text  von 
der  Insel  Madeira  in  Azevedo's  romanceiro  do  archivelago  da  Madeira  202). 
Inhalt:  Die  Infantin  ergeht  sich  im  Garten  und  blickt  hinauf  aufs  Meer,  da 
sieht  sie  ein  Schiff  kommen,  dessen  Kapitän  sie  nach  ihrem  fernen  Gatten 
fragt.  Der  Kapitän  fragt  sie,  was  sie  ihm  gebe,  wenn  er  ihren  Gatten  zur 
Stelle  brächte.  Gold  und  Silber,  zuletzt  ihre  Töchter  will  sie  ihm  geben, 
als  er  aber  ihre  Treue  fordert,  braust  sie  auf  und  ruft  ihre  Diener,  um  den 
Frechen  zu  züchtigen,  da  gibt  sich  ihr  Gatte,  denn  er  war  der  Kapitain,  zu 
erkennen. 

4)  Slavische  Volkspoesie. 

Aehnlich  dem  deutschen  Liede  ist  ein  mährisches.  (Wenzig,  westslav. 
Märchenschatz  248).  Das  Mädchen  wünscht  dem  Geliebten,  der  ihr  angeblich 
treulos  geworden ,  viel  Glück  und  Segen,  worauf  dieser  sich  zu  erkennen  gibt. 
Ein  böhmisches  Volkslied  (Waldau,  böhmische  Granaten  I,  60)  gibt  im 
wesentlichen  den  Grundgedanken  des  deutschen  Volksliedes  wieder.    Es  lautet: 

i)  Soldat  wurde  der  Geliebte 

Sprach  die  Braut  an  die  Betrübte. 

2)  „Deine  Treu  mir  fest  bewahre. 
Harre  auf  mich  sieben  Jahre. 

3)  Heim  kehr'  ich  nach  sieben  Jahren, 
Will  den  Goldring  treu  bewahren."  — 

4)  Als  die  sieben  Jahre  schwanden. 
Mäht  sie  Gras  in  grünen  Landen. 

5)  Und  als  das  Geschäft  beendet, 
Sie  die  Blicke  ringsum  wendet 

6)  Und  sie  sieht,  dafs  in  der  Nähe 
Einsam  still  ein  Krieger  steht. 

7)  „Herr,  könnt  ihr  —  so  thut  sie  fragen  — 
Nichts  von  meinem  Schatz  mir  sagen?" 

8)  „Gatte  ist  dein  einstiger  Freier, 
Ich  war  bei  der  Hochzeitsfeier. 

9)  Nun,  was  lassest  du  ihm  sagen, 
Mädchen,  ähnlich  Rosenhagen  r" 

lo)  „Dieses  lasse  ich  ihm  sagen: 

Mag  der  Blitz  in  ihm  einschlagen!*' 


Heiträge  zur  Litteratiir  des  Volksliedes.  79 

ii)  Lächeln  glänzt  ihm  am  Gesicht, 
Ringlein  blitzt  im  Sonnenlicht. 

12)  „Ach,  dies  Ringlein,  dies  ist's  eben, 
Das  ich  scheidend  ihm  gegeben!" 

13)  „Was  noch  lassest  du  ihm  sagen, 
Mädchen,  ähnlich  Rosenhagen?'' 

14)  „Lasse  ihn  so  zahlreich  grüfsen, 
Als  hier  Gräserhalme  spriefsen. 

15)  Send  so  oft  ihm  meinen  Segen, 
Als  es  Tröpflein  gibt  im  Regen.*' 

Das  Lied  ist  lange  nicht  so  fein  empfunden  als  unser  deutsches  Volks- 
lied. Der  Schlufs,  die  Versöhnungsscene,  welche  im  deutschen  Volkslied 
so  unnachahmlich  fein  geschildert  ist,  fehlt  hier  ganz.  Zu  den  slavischen 
Bearbeitungen  des  Grundgedankens  zählen  wir  auch  ein  selbständiges  Lied 
der  Wenden  in  der  Oberlausitz.  (Die  Uebersetzung  des  deutschen  Volks- 
liedes ins  Wendische  rubrizierten  wir  oben  unter  den  deutschen  Varianten.) 
Dasselbe  steht  bei  Haupt-Schmaler,  Volkslied  der  Wenden  I,  44 ff.  Dieses 
Lied  ist  hübsch  und  originell.  Das  Mädchen  läuft  über  Berg  und  Thal  und 
sucht  den  Geliebten.  Da  kommt  er  geritten  und  fagtT  wo  sie  hin  wolle. 
„Ich  will  meinen  Liebsten  suchen",  spricht  das  Mädchen.  „Ich  kenne  ihn, 
er  ist  weit  weg,  sein  Barthaar  ist  grau  geworden,  seine  Wange  bleich,  zer- 
rissen sein  Hauskleid,  doch  willst  du  ihm  Grüfse  schicken,  ich  bringe  sie 
ihm.''    Da  spricht  sie: 

So  viel  als  es  Riedgras  nach  Dresden  hin  gibt. 

An  jedem  Riedgras  es  Blümelein  gibt, 

Auf  jedem  der  Blümelein  ein  Tröpflein  perlt. 

So  viele  Mal  grüfse  den,  den  ich  geliebt. 

Mag  er  alt  und  grau  geworden  sein. 

So  will  ich  doch  immerdar  treu  ihm  sein. 

Gleichwie  in  dem  Wasser  die  Lilie  rein." 


Der  Reiter  gibt  sich  zu  erkennen  und  sagt: 

„So  tritt  nun,  mein  Mägdlein,  auf  mein  Schwert, 
Von  meinem  Schwert  steig'  auf  mein  Pferd. 
Von  meinem  Schwerte  steig'  auf  mein  Pferd. 
Denn  nun  sollst  ewig  mein  eigen  du  sein."  — 

5)   Bretonisches  Volkslied. 

Hier  liegt  uns  eine  vielfach  entstellte  und  interpolierte  Version  vor  bei 
Vill^marque,  Barzag-Breiz  I,  241  „L'eponse  du  croise".  Es  ist  dies  Lied  zu- 
sammengeschmolzen aus  den  beiden  Liedern  „Le  Chevalier  et  la  bergere" 
bei  Luzel,  Gwerzion  Breiz-dezel  I,  195  und  „Les  deux  freres"  (ib.  I,  197). 
Der  Stoff  gleicht  dem  französischen  „La  Porcheronne".  Der  zurückkehrende  Ritter 
findet  seine  Frau  als  Hirtin  auf  dem  Felde,  stellt  sie  auf  die  Probe,  findet 
sie  aber  treu  und  gibt  sich  ihr  später  zu  kennen.  Beide  Lieder  bei  Luzel 
sind  nur  Fragmente,  weshalb  der  Gang  der  Erzählung  nicht  vollständig 
klar  ist. 


80  Beiträge  zur  Litteratur  des  Volksliedes. 


6)  Albanesisch-neugriechisches  Volkslied. 

Ein  albanesisches  Volkslied  hat  de  Rada.  (rapsodie  d'un  poema  albanese. 
Firenze  1866,  Buch  III  No.  12)  uns  überliefert.  Derselbe  erzählt,  wie  ein 
junges  Weib  von  ihrem  in  den  Krieg  ziehenden  Gatten  der  Obhut  seiner 
Mutter  anvertraut  wird,  wie  letztere  aber  nach  seinem  Weggange  alsbald 
dieselbe  mifehandelte ,  sie  in  Männertracht  aufs  Feld  schickt,  um  Vieh  zu 
weiden.  Der  Krieger  kehrt  nach  fünfzig  Wochen  zurück  und  erfahrt  von 
seiner  Mutter,  dafs  seine  Frau  untreu  geworden,  von  einem  vorüberziehenden 
Italiener  entfuhrt  worden  sei.  In  diesem  Moment  tritt  die  Frau  des  Kriegers 
herein  und  straft  die  Schwiegermutter  Lügen,  worauf  diese  zur  Strafe  aus 
dem  Hause  gejagt  wird  (vgl.  Liebrecht  in  G.  G.  A.  1867.  2207). 

Die  Neugriechen  besitzen  zwei  Versionen  unseres  Stoffes,  i.  Fauriel  II, 
397,  Marcellus  chant  pop.  155,  Tommaseo  conti  greci  141,  Passow  carm 
pop.  328.  Eine  Gattin  klagt  am  Ufer  über  die  Abwesenheit  ihres  Mannes, 
der  Kapitän  eines  vorüberfahrenden  SchifTes  gibt  sich  als  solcher  zu  er- 
kennen. 2.  Passow  441 — 6.  Jeannorakis  Kretische  Volkslieder  No.  127 
'0&  JltQx^H'^i  "j^yav^txov  (die  Heimat  des  Geliebten,  und  No.  261.  *Ö  Idi^uy- 
vo)Qi(y/Mug  und  No.  300  *Ö  XoqoC  nQafjkfiarevr^c.  (der  Tod  als  Kaufmann). 
In  letzterem  Lied  klingt  der  Schlufs  wesentlich  anders.  Der  heimgekehrte 
Gatte  ist  der  Tod;  als  die  Gattin  am  Morgen  erwacht,  findet  sie  statt  des 
Gemahls  den  Tod  neben  sich  im  Bette.  Ein  anderer  Text  stammt  aus 
Epirus  (Chasiotis  89). 

Der  Inhalt  dieser  Versionen  ist  etwa  folgender:  Der  Heimkehrende  trifft 
eine  junge  Frau  in  Thränen,  er  fragt  sie,  warum  sie  weine  und  sie  erzählt, 
dafs  seit  10  Jahren  ihr  Gatte  in  der  Ferne  weile,  dessen  sie  harre.  Wenn 
er  nicht  komme,  werde  sie  in  ein  Kloster  gehen.  „Dein  Mann  ist  tot",  sagt 
der  Fremdling,  „ich  selbst  habe  den  Priester  bezahlt,  der  ihn  zu  Grabe 
brachte."  Einen  Kufs,  um  den  der  Fremde  bittet,  verweigert  sie  ihn.  Da 
gibt  er  sich  als  ihr  Gatte  zu  erkennen,  mufs  aber,  um  erkannt  zu  werden, 
erst  ein  Examinatorium  bestehen  (übersetzt  von  Kind,  Anthol.  neugr.  Volks- 
lieder 127): 

So  sag'  des  Hauses  Zeichen  mir  und  will  ich  dann  dir  glauben- 
„Ein  Apfelbaum  ist  an  der  Thür,  ein  Weinstock  steht  im  Hofe, 
Auch  ein  Limonenbaum  steht  dort  und  hab'  ihn  selbst  gepflanzet" 
„Das  hat  dein  böser  Nachbar  wohl  gesagt  dir  und  du  weifst  es. 
Des  Körpers  Zeichen  sag'  mir  an  und  will  ich  dann  dir  glauben." 
An  deiner  Brust  hast  du  ein  Mal,  ein  Mal  hast  du  am  Halse, 
Und  mitten  auf  der  Brust  trägst  du  das  Bildnifs  deines  Mannes." 
„Ja,  Fremdling,  ja,  du  bist  mein  Mann,  ja,  du  bist  mein  Geliebter." 
Zum  Schlüsse  verdient  noch  bemerkt  zu  werden,  dafs  auch  die  Chinesen 
unseren  StofT  von  der  Rückkehr  des  Geliebten  bearbeitet  haben.    Liebrecht 
(zur  Volkskunde  213)  weist  die  Bearbeitungen  derselben  nach,  welche  mitunter 
in  frappanter  Weise  an  europäische  Versionen  anklingen. 

Hiermit  schliefsen  wir  die  Rundschau  über  die  Bearbeitungen  dieses 
Stoffes,  dessen  jüngsten  Zweig  wir  in  Hessen  gepflückt  haben. 

Marburg  i.  H. 


BESPRECHUNGEN. 


—    — ••« 


Eine  neue  Quelle  Miltons.    Seit  Vol- 
taires flüchtig  hingeworfener  Bemerkung,  Mil- 
tOD  habe  während  seines  Aufenthalts  in  Italien 
zu    Florenz   einer  AufHihrung   von   Andreinis 
„Adamo"  beigewohnt  und   hieraus  die    erste 
Anregung  zur  Abfassung  seines  groisen  Epos 
vom  Sündenfalle  geschöpft,  ist  die  Frage  nach 
den  prima  stamina  des  „Verlorenen  Paradieses*' 
nie  mehr  von  der  Tagesordnung   der  litterar^ 
historischen  Erörterung  verschwunden.     Mehr 
als  zwanzig  Dichter  vornehmen  und  niederen 
Ranges  sind  namhaft  gemacht  worden,   wel- 
chen   Milton    entweder    die   allgemeine    Idee 
oder    einzelne   Episoden   seines   Dichtwerkes, 
oder    aber    gewisse   Ausdrücke,    Bilder    und 
Gleichnisse    entlehnt    haben   soll.    Nichts   ist 
natürlicher  als  anzunehmen,   dals  Milton   den 
„Adamus  Exul*'  von   Grotius   (1601)  gekannt, 
dals   er  Giles  Fletchers  „Christ's  Victory  and 
Triumph*'  (1610)  sowie  Sylvesters  Uebersetzung 
des     du    Bartas    gelesen    habe.     Ebensowohl 
muste  ihm  durch  seinen  Freund  Francis  Junius 
das    unter    dem   Namen    Caedmons    gehende 
angelsächsische    Gedicht    bekannt    geworden 
sein,  in  welchem  die  Verführung  Evas  als  des 
Satans  Rache  ftlr  seine  Vertreibung  aus  dem 
Himmel  zur  Darstellung  gebracht  wird.     Und 
in  der  That  lassen  sich  in  Miltons  Epos  An- 
klänge nicht  nur  an  alle  die  genannten,   son- 
dern noch  an  eine   ganze  Reihe  anderer  alter 
und    neuer    Dichter    nachweisen.     Was    aber 
auch    die  litteraturvergleichende  Bergmannsar- 
beit in  bezug    auf  das  „Verlorene  Paradies'* 
zu  Tage  fördern  mag,  es  wird  schliefslich  immer 

Ztschr.  L  vgl.  Litt.-Gesch.  I. 


nur  zur  Erhärtung  der  Thatsache  dienen,  dafs 
Milton  sowohl  durch  seine  eigene  Geistesrichtung 
als  auch  durch  die  seine  Zeit  bewegenden  Ge- 
danken mit  einer  Art  von  Naturnotwendigkeit 
zur  Wahl   seines  Vorwurfes   getrieben   wurde, 
und  dafs  er  alles  was  ihm  im  Bereiche  seiner 
weitausgedehnten  Belesenheit  an  Schönem  und 
Brauchbarem     begegnet    war,    in     originaler 
Weise  für  sein  Dichtwerk  zu  verwerten  wufste. 
Einen  Beleg  dafür  liefert  ein   neuerdings 
erschienenes  Buch*),  welches  sich  die  Aufgabe 
stellt,    zu    der    grossen    Zahl    von    Dichtem, 
welchen    Milton   zu    Danke    verpflichtet    war, 
noch  einen  neuen  hinzuzugesellen;   und  zwar 
handelt   es   sich   dies  Mal  um  den  Holländer 
Joost    van  den   Vondel.     Auf   die  That- 
sache,   dafs  Milton    mit   den   Werken    dieses 
hervorragenden  Dichters  bekannt  gewesen  sei, 
war  bereits  1854  in   einem  Aufsatze  des  Rev. 
A.  Fishel**)  hingewiesen  worden.  Desgleichen 
bemächtigte  sich  Edmund  W.  Gosse  der  Sache 
in  seinen  Studies  in  the  Literature  of  Northern 
Europe.***)    Aber  er  sowohl  wie  die  wenigen 
anderen,  die  seitdem  darauf  zurückgekommen 
sind,  begnügen  sich  damit,   die  Bekanntschaft 
Miltons    mit    Vondels    „Luisevaer**    und    den 
Einfluis    dieses    letzteren    auf   das    „Verlorene 
Paradies**     nachzuweisen.       Dem     gegenüber 


*)  Milton  and  Vondel:  a  Curiosity  of 
Literature.  By  GeorgeEdmundson.  Lon- 
don, Trübner  &  Co.,  1885. 

**)  The  Life  and  Writings  of  Joost  van 
den  Vondel. 

***)  In  dem  Essay  „Milton   and  Vondel**. 


^2 


Besprechungen. 


ftucht  nun  Edmnnd«on  darzuthun,  daSs  Milton 
aü('*tj  dem  „Lutsevaer^  auch  noch  andere 
Werke  VondeU  f1ei(»ig  studiert  habe  und  dats 
.sich  deren  Spuren  nicht  nur  im  „Verlorenen 
Paradie>e^,  sondern  ebensowohl  aucli  im 
^^Wiedergewonnenen  Paradiese"  und  in  „Sam- 
son  Agonistes''  deutlich  verfolgen  lassen. 

Wohl  ist  bekannt,  da(s  Milton  nach  seiner 
Erblindung  sich  täglich  von  seinen  Töchtern 
aus  hebräischen,  oder  griechischen,  lateinischen, 
italienischen,  spanischen  und  französischen 
BUchem  vorlesen  liels.  Befremdlicherweise 
tritt  uns  aber  aus  des  Dichters  Leben  nirgends 
der  direkte  Hinweis  entgegen,  da(s  er  auch 
der  holländischen  Sprache  mächtig  gewesen 
sei.  Nichtsdestoweniger  möchte  man  von  vorn- 
herein als  sicher  voraussetzen,  dafs  der  sprachen- 
kundige Sekretär  des  auswärtigen  Amtes  das 
Holländische  verstanden  haben  m  ü  s  s  e  zu  einer 
Zeit,  da  England  und  Holland  in  hartem 
Kampfe  um  die  Oberhoheit  zur  See  rangen, 
und  im  Anschlüsse  daran  unausgesetzt  die 
wichtigsten  Verhandlungen  herüber  und  hinüber 
gepflogen  wurden.  Zudem  lag  Milton  gerade 
damals  mit  seinen  beiden  in  Holland  ansässigen 
Gegnern  Morus  und  Salmasius  in  heftiger 
litterarischer  Fehde,  bei  welcher  er  sich  nicht 
nur  über  die  gesamten  öffentlichen  Verhältnisse 
Hollands,  sondern  selbst  Über  die  Tagesge- 
spräche der  Hauptstadt  und  über  persönliche 
Streitigkeiten  bi.s  ins  Kleinste  unterrichtet  zeigte. 
Von  anderer  Seite  her  ist  aber  glücklicherweise 
auch  ein  direktes  2Seugnifs  dafUr  beigebracht 
worden,  da&  Milton  der  holländischen  Sprache 
kundig  war,  und  zwar  in  Gestalt  eines  Briefes, 
den  Roger  Williams,  der  berühmte  Begründer 
des  Staates  von  Rhode  Island,  am  12.  Juli 
1654  an  seinen  Freund  John  Winthrop  in 
Pegnod  geschrieben  hat.  Darin  erzählt  Wil- 
liams, dafs  er  während  seines  mehrjährigen 
Aufenthaltes  im  Mutterlande  (1651 — 54)  mit 
Milton  befreundet  worden  sei,  und  dafe  dieser 
ihm  aus  dem  reichen  Schatze  seiner  Sprach- 
kenn tnisse  gar  vieles  mitgeteilt  habe.  Als 
Gegenleistung  dafUr  habe  er  seinerseits  Milton 
in  der  holländischen  Sprache  Unterweisung 
gegeben. 

Der  Beweis   für    die    äufsere   Möglichkeit, 
dafs  Milton  die  Werke  Vondel»  gelesen  haben 


könne,  muf^  somit  für  erbracht  angesehen 
werden ;  der  Beweis  für  die  innere  Notwendig- 
keit, da&  Milton  sie  gekannt  haben  müsse, 
liegt  fiir  Edmondson  in  der  geistigen  Ver- 
wandtschaft der  in  betracht  kommenden  bei- 
derseitigen Werke.  Auf  Seiten  Vondels  sind 
dies  anfser  dem  „Luisevaer"  (1654),  „Samson, 
of  de  heilige  wraak"  (1660),  „Joannes  Boet- 
gezant*'  (1661),  „Bespiegelingen  van  God  en 
Godsdiensf  *  (i66t)  und  „Adam  in  Ballingschap" 
(1664).  Die  Dichtungen  Miltons,  die  den 
Vondel'schen  Einfluls  verraten,  sind,  wie 
bereits  erwähnt,  das  „Verlorene  Paradies" 
(1667),  das  „Wiedergewonnene  Paradies"  (1670) 
und  „Samson  Agonistes"  (1670). 

Der  „Luisevaer"  behandelt  in  dramatischer 
Form  denselben  Stoff  wie  das  grolse  Epos 
Miltons.  Der  stolze,  ehrgeizige,  blind  selbst- 
süchtige Erzengel  Lucifer  beneidet  Gott  um 
seine  anendliche  Gröfse  und  den  Menschen 
um  die  ihm  von  Gott  verliehene  Macht  über 
das  Erdreich.  Sein  Neid  wird  noch  gesteigert, 
da  Gabriel  ab  Herold  Gottes  die  Engel  für 
nur  dienende  Geister  erklärt  und  ihnen  die 
Geheimnisse  der  künftigen  Menschwerdung 
Gottes  offenbart,  durch  welche  die  Menschen- 
natur über  die  der  E^gel  erhoben  und  unlös- 
lich mit  Gott  verbunden  werden  soll.  Dagegen 
empört  sich  Lucifer  und  reizt  ein  unzähliges 
Heer  von  Engeln  gegen  den  göttlichen 
Schöpfer  auf.  Im  Kampfe  von  dem  Erzengel 
Michael  niedergeworfen,  schwört  er  dadurch 
Rache  nehmen  zu  wollen,  dais  er  den  Menschen 
zum  Ungehorsam  gegen  Gott  verführt,  wird 
aber  dafür  samt  seinen  Schaaren  der  Hölle 
und  ewigen  Verdammnis  überantwortet  — 
Die  Aehnlichkeit  zwischen  dem  „Verlorenen 
Paradiese"  und  „Luisevaer**  findet  ihre  Erklä- 
rung in  dem  Umstände,  dals  Milton,  der,  wie 
bekannt,  den  Sündenfall  ursprünglich  als 
Drama  zu  bearbeiten  geplant  hatte,  in  seinem 
Epos  zahlreiche  dramatische  Elemente  ver- 
wertet, während  das  Vondel'sche  Drama  bei 
seiner  rhetorischen  Behandlung  des  Stoffes 
mehr  epische  als  dramatische  Eigenschaften 
aufweist.  Die  bei  Milton  ins  Ungemessene 
gehende  Zeichnung  der  Charaktere  mufs  in 
VondeLs  „Luisevaer**  natürlich  soweit  auf 
das    gewöhnliche    Mals    herabgemindert    wer- 


Besprechungen. 


83 


den,  dals  die  einzelnen  Gestalten  sich  in 
den  Rahmen  des  Dramas  fugen.  Im  allge- 
meinen jedoch  ist  die  Auffassung  der  Charak- 
tere bei  beiden  Dichtem  dieselbe.  Was  die 
Gestalt  des  Erzfeindes  angeht,  so  scheint  die- 
selbe von  beiden  im  Hinblick  auf  den  „grolsen 
Rebellen*^  entworfen  worden  zu  sein,  nur  mit 
dem 'Unterschiede,  dafe  Vondel  den  Lucifer- 
Cromwell  als  warnendes  Beispiel  für  alle 
Undankbaren  und  Ehrgeizigen  hinstellt,  „die 
da  kühnlich  wagen,  sich  gegen  geheiligte  Mächte 
und  Majestäten  und  gegen  gesetzliche  Autori- 
täten aufzulehnen",  während  unter  Miltons  Hän- 
den Satan  sich  zum  gewaltigen,  achtungsge- 
bietenden  Helden  gestaltet. 

Aber  nicht  nur  in  der  Charakterzeichnimg, 
sondern  auch  in  Sprache  und  Ausdnicksweise 
zeigt  das  „Verlorene  Paradies"  den  Einflufs 
Vondels.  Bisher  hat  man  denselben  —  wohl 
zumeist  auf  Grund  des  Gosse'schen  Aufsatzes 
—  nur  im  sechsten  Buche  wiedererkennen 
wollen ;  an  zahlreichen  nebeneinander  gestellten, 
Citaten  weist  ihn  Edmundson  indessen  in  jedem 
der  ersten  neun  Bücher,  besonders  aber  im 
ersten,  zweiten,  vierten  und  neunten  Buche 
nach.  So  wenig  nun  auch  den  Ergebnissen 
der  gründlichen  Forschungen  Edniundsons  im 
allgemeinen  hier  widersprochen  werden  soll, 
so  darf  doch  nicht  verschwiegen  werden,  dals 
der  Verfasser  in  seinem  Eifer  hier  und  da  zu 
weit  gegangen  ist  Denn  einmal  dürfte  die 
Gemeinsamkeit  mancher  Ausdrücke,  Bilder 
und  Gedanken  ihren  Grund  in  der  Gemein- 
samkeit ihrer  biblischen  Quelle  haben ,  und 
dann  ist  nicht  selten  eine  gröfsere  Ueberein- 
Stimmung  dadurch  erzielt  worden,  dafs  Edmund- 
son die  gereimten  Alexandriner  Vondels  imter 
glücklicher  Verwertung  Milton'schen  Sprach- 
materials  in  Blankverse  übertragen  hat  Die 
Beibringung  der  holländischen  Originalstellen 
im  Anhange  des  Ed^undson'schen  Buches 
kann  an  dieser  Beeinflussung  des  Endergeb- 
nisses nichts  ändern. 

Wenn  es  sich  darum  handelt,  den  Einwir- 
kungen von  „Joannes  Boetgezant^S  <^c°  »Bc- 
spiegelingen"  und  „Adam  in  Ballingschap" 
auf  das  „Verlorene  Paradies"  nachzuspüren, 
so  muG»  zuvörderst  der  Frage  begegnet  werden, 
ob  mit  Rücksicht  auf  ihre  späte  Entstehungs- 


zeit eine  Einwirkung  von  ihrer  Seite  überhaupt 
möglich    war.     Bekanntlich    fallen    die    ersten 
Anfange   des  „Vei'lorenen   Paradieses"  in   das 
Jahr    I6SS.     Der    Tod    Cromwells    und     das 
nahende  Ende   der   Republik    führten   Milton 
aber   wieder  zurück  auf  den  Kampfplatz   der 
politischen  Tageslitteratur;   und  so  vollständig 
ging  er  in  derselben  auf,  dafs  er  während  der 
ganzen  2^it  bis  zur  Restauration  unmöglich  zu 
der  inneren  Sammlung   gelangen  konnte,  die 
zu    dichterischem    Schaffen    unentbehrlich    ist. 
Auch  nach   der  Wiedereinsetzung  des  König- 
tums liefs  die   beständige  Besorgnis  um  seine 
persönliche  Sicherheit  schwerlich  eine  poetische 
Begeisterung  in  ihm  aufkommen.     Erst  als  er 
durch  Erlafs  der  Indemnitätsakte  aller  Unnihe 
überhoben  war,  konnte  er  sein  grolses  Helden- 
gedicht wieder  aufnehmen.    Nach  dem  Berichte 
von  des  Dichters  Neffen  Edward  Phillips  soll 
das  Werk  1663  vollendet  gewesen  sein;  That- 
sache  ist,    dafs  Milton  das  fertige  Manuskript 
im  Herbste  1665  seinem  jungen  Freunde,  dem 
Quäker  Ellwood,  zur  Einsicht  und  Beurteilung 
überreichte.     In     die    Zwischenzeit    füllt    nun 
das  Erscheinen  der  obengenannten  Vondel'schen 
Werke,  mit  welchen  sich  Milton  sofort  bekannt 
gemacht    haben    mufs.     Und  wenn    sich,    wie 
Edmundson   darthut,   nicht  nur  in   den   nach 
der  Restauration   entstandenen,  sondern   auch 
in    den    vor  dieselbe    fallenden    Büchern    des 
„Verlorenen  Paradieses"  Anlehnungen  an  Von- 
del finden,  so  können  sie  in  die  letzteren  nur 
durch  nachträgliche  Einschaltungen  gekommen 
sein.     Gerade    solche     nachträgliche     Zusätze 
und  Verbesserungen  liegen   aber  ganz  in  dem 
Wesen  von  Miltons  Dichtvveise,  wie   dies  aus 
den  noch  erlialtenen  Entwürfen  seiner  früheren 
Gedichte  deuüich  hervorgeht    Bei  seinem  aner- 
kannt grofsartigen  Gedäciitnisse  verfügte  Milton 
vollständig  frei  über   den  Wortlaut  des  „Ver- 
lorenen  Paradieses",    so    weit    dies    jeweilen 
gediehen    war.     So    oft    er    nun    sein    Werk 
wieder   überdachte,   verbesserte  er   hier  einen 
Ausdruck,  fügte  dort  einzelne  Zeilen  und  ganze 
Stellen   ein,   wenn   er   dadurch   die  Schönheit 
oder   die  Kraft  des  Ganzen  heben  oder  einen 
neuen,  ihm  in  der  Zwischenzeit  zugekommenen 
Gedanken   verwerten   konnte. 

Für  das  „Wiedergewonnene  Paradies"  und 


6* 


84 


Besprechungen. 


„Samson  AgonUtes*'  kommt  diese  letztere  Frage 
überhaupt  nicht,  oder  doch  nur  teilweise  in 
betracht.  Denn  die  erstere  Dichtung  ist  nach- 
weislich nicht  vor  1665,  die  letztere  zwischen 
1663  und  1667  entstanden,  also  zu  einer  Zeit, 
da  der  Vondd'sche  Samson  schon  seit  Jahren 
Milton  bekannt  sein  konnte.  Auf  den  Nach- 
weis der  näheren  Beziehungen  der  einzelnen 
Werke  zu  einander,  sowie  der  zahlreichen 
Stellen,  an  welchen  der  EinAuls  Vondels  in 
den  Dichtungen  Miltons  besonders  stark  her- 
vortritt, müssen  wir  hier  verzichten  und  den 
Leser  auf  das  Edmundson'sche  Buch  selbst 
verweisen.  Nach  sorgfältiger  Prüfung  aller 
darin  angezogenen  Parallelstellen  wird  die 
Mehrzahl  der  Leser  mit  uns  zu  dem  Urteile 
gelangen,  dafs  der  Verfasser  in  dem  Nachweise 
von  Entlehnungen  aus  Vondel  zwar  vielfach 
zu  weit  gegangen  ist,  dals  er  aber  die  Bekannt- 
schaft Miltons  mit  dem  groCsen  holländischen 
Dichter  und  dessen  Einflufe  auf  die  drei  größten 
der  Milton'schen  Dichtwerke  ein  fUr  allemal 
festgestellt  haben  dürfte.  Wie  Milton  sprach- 
liche und  gedankliche  Schönheiten  aus  Euri- 
pides  und  Vergil,  aus  Dante  und  Tasso,  aus 
Spenser,  Fletcher  und  Sylvester  sich  ange- 
eignet, dem  fremden  Metalle  aber  stets  seine 
eigene  Prägung  gegeben  hat,  so  hat  er  auch, 
was  die  Vonderschen  Werke  ihm  an  glücklichen 
Wendungen,  Bildern  und  Gedanken  darboten, 
frei  nach  dem  von  ihm  selbst  aufgestellten 
Grundsatze  verwertet:  „To  borrow  and  better 
in  the  borrowing,  is  no  plagiarie". 

Homburg  v.  d.  H.     Ludwig  Proescholdt. 

Jacoby,  Daniel :  Georg  Macropedius. 
Ein  Beitrag  zur  Litteraturgeschichte  des  16. 
Jahrhunderts.  Programm  des  Königstädtischen 
Gymnasiums.     Berlin  1886.     31  S.     4^ 

In  richtiger  Würdigung  der  hohen  Be- 
deutung, welche  das  lateinische  Schauspiel  des 
16.  Jahrhunderts  nicht  nur  filr  die  Geschichte 
des  Humanismus,  sondern  ebenso  sehr  fUr  die 
Entwickelung  des  deutschen  Dramas  hat, 
machen  sich  mehr  und  mehr  die  Forscher  an 
die  Darstellung  der  Lebensverhältnisse  und 
der  litterarischen  Arbeiten  einzelner  dieser 
lateinischen  Dichter,  unter  denen  Georg 
Macropedius  ohne  Zweifel  eine  der  ersten 


Stellen  einnimmt.  Das  Verdienstvolle  solcher 
Monographien  liegt  nicht  nur  darin,  dass  sie 
minder  gekannte  Autoren  und  ihren  litterari- 
schen Einfluss  beleuchten,  sondern  dafs  sie 
ak  Abhandlungen,  die  mit  Hingabe  und  nach 
eigener  Wahl  geschrieben  wurden,  dem  Ober- 
flächlichen und  Lückenhaften  entgehen,  das 
mehr  oder  minder  encyklopädischen  Unter- 
nehmungen anhaften  muss.  Erst  auf  solchen 
gelegentlich,  oft  auch  durch  lokale  Anregung 
entstandenen  Vorarbeiten  vermag  sich  eine  ge- 
diegene und  verlässige  Gesamtarbeit  aufzu- 
bauen. Mit  grofsem  Fleifse  hat  Jacoby  üb^ 
Leben  und  Schriften  des  Macropedius,  sowie 
über  die  Bibliographie  Bericht  erstattet  Die 
Abhandlung  „Macropedius  als  Dramatiker*'  gibt 
uns  eine  ästhetische  Beurteilung  des  Dichters, 
dessen  Asotus,  Josephus  und  Petriscus 
dann  eingehender  besprochen  werden. 

Macropedius,  zunächst  an  Reuchlin  heran- 
gebildet, hat  mit  diesem  zahlreiche  Berührungs- 
punkte; doch  hat  er  in  manchen  Dingen  sein 
Vorbild  schon  weit  überholt.  Dafs  auch  Macro» 
pedius  4cm  Terenz  den  Vorzug  vor  dem 
Plautus  erteilt,  hat  er  mit  allen  Zeitgenossen 
gemeinsam ;  denn  ihnen  galt  als  Grundsatz  für 
den  Dichter: 

„volvat  perpetua  manu  Terenti 
versus,  quo  melior  poeta  nullus*^ 
u.  s.  w.  Und  hatte  ja  auch  Melanthon  die 
Komödien  des  Terenz  über  jene  des  Aristo- 
phanes,  wenigstens  als  „(»*ijTftif*xo;T*pa»"  ge- 
stellt Macropedius  gehört  in  die  Reihe  jener 
Männer,  welche  wie  Boltz  von  Ruf&ch,  Luther 
u.  a.  die  antiken  Klassiker  gegen  den  alku- 
grossen  Glaubenseifer  verteidigten.  Bei  diesem 
engen  Anschlüsse  an  das  Altertum  übersieht 
aber  Macropedius  nicht,  dass  eine  andere 
Moral  als  jene  des  Heidentums  Gnmdlage 
seiner  Komödie  wird,  die  er  treffend  „eine 
Weckerin  der  Tugend,  des  täglichen  Lebens 
Spiegel,  ein  Bild  der  Wahrheit"  nennt  Und 
nach  dieser  Hinsicht  mag  wohl  Jacobys  Urteil 
angehen,  dals  Macropedius  „an  Tiefe  der 
Stimmung^*  selbst  den  Terenz  übertreffe.  An 
den  genannten  drei  Stücken  wird  erschöpfend 
die  Art  des  Macropedius  gekennzeichnet  und 
sein  Verhältnis  zu  Terenz  dargelegt  Vor  allem 
wird  richtig  gezeigt,  wie  der  Parasit  bei  unserm 


Besprechungen. 


85 


Dichter  schon  einen  Schritt  weiter  geht,  als 
in  den  römischen  Vorbildern,  und  daCs  man  in 
•dem  Kolax  des  Asotus  bereits  „einen  Hauch 
von  dem  Geiste'*  verspürt,  y^mit  welchem 
Shakespeare  seinen  Falstaff  geschaffen  haf 
In  wohlgelungenen  Uebersetsungsproben  wer- 
-den  wir  über  die  frische  Schreibart  des  Macro- 
pedius  belehrt  So  ist  ein  Muster  eines  Trink- 
liedes jenes  des  Galen  im  Petriscns  (S.  25): 
,,Und  treibt  der  Feind  die  Herden  fort*'  u.  s.  w., 
das  genau,  auch  inhaltlich,  an  einige  der  besten 
Lieder  dieser  Art  des  Olivier  Basselin 
•erinnert. 

Ohne  Zweifel  hat  Macropedius  verdient, 
^,aus  dem  Staube  der  Bibliotheken  gezogen 
2U  werden",  und  das  Wort  „für  jetzt**,  mit 
dem  Jacoby  schliesst,  berechtigt  uns  zu  der 
Hoffnung,  dafs  wir  von  ihm  weiteres  über 
den  „gröisten**  lateinbchen  Dramatiker  des 
16.  Jahrhunderts  bald  hören  werden. 

Sachlich  möchte  ich  zur  Note  2,  S.  19. 
über  die  Einführung  neuer  Personen  bei 
Schonäus  mit  dem  ständigen  „set  eccum, 
ecce  illum  u.  dgl.**,  die  Jacoby  freilich  mit 
Recht  „unaustehlich  eintönig"  nennt,  nur  be- 
merken, dafs  dies  eben  die  sklavische  Nach- 
bildung des  Terenz  durch  Schonäus  beweist, 
was  u.  a.  Seuffert  (Schnorrs  Archiv  VIII, 
S.  361  ff.)  auch  in  dem  Jesuitendrama  „Geno- 
vefa**  (1673)  an  ähnlichen  Formeln  (Et  ecce  .  .  . 
alloquar)  zeigt. 

München.  Karl  v.  Reinhardstöttner. 

Reimann,  A«:  des  Appulejus  Märchen 
von  Amor  und  Psyche  in  der  franzö- 
sischen Litteratur  des  XVIL  Jahrhun- 
derts. Programm  des  Städtischen  G3rmnasiums 
zu  Wohlau  1885.    18  S.     4 ".     (Progr.-Nr.  191). 

Der  Verfasser  begnügt  sich,  den  Inhalt  von 
Lafontaines  Roman  „les  Amours  (im  Programm 
steht  dafür  der  Druckfehler  les  Romans)  de 
Psycho  et  de  Cupidon  und  Molieres  Comädie- 
Ballet  Psycho  zu  erzählen,  nebenbei  noch  kurz 
die  von  Lulli  komponierte  Oper  Psycho  er- 
wähnend. Er  bietet  damit  nicht  nur  „nicht 
den  Kennern  der  Litteratur  unserer  westlichen 
Nachbarn**,  sondern  Niemandem  etwas  Neues. 
Dem  Verfasser  selbst  freilich  wird  es  neu  sein 


zu  erfahren,  dass  die  verlockende  Aufgabe, 
„das  antike  Märchen  von  Amor  und  Psyche 
auf  seinem  Gange  durch  die  Welditteratur  zu 
begleiten**  bereits  vor  längerer  Zeit  in  er- 
schöpfender Weise  von  Gustav  Meyer  gelöst 
worden  ist,  der  seine  Untersuchung  „Amor 
und  Psyche**  als  ,, Beitrag  zur  vergleichenden 
Märchenkunde**  in  der  trefflichen  Sammlung 
seiner  „Essays  und  Studien**  (Berlin  1885)  zu 
neuem  Abdrucke  gebracht  hat.  Den  von 
Meyer  erwähnten  Behandlungen  des  alten 
Stoffes  kann  noch  ergänzend  Carrieres  Dich- 
tung „Eros  und  Psyche**  (Liebeslieder  und 
Gedankendichtungen**,  Leipzig  1883)  angereiht 
werden.  Goethe  hat  wenigstens  einmal  den 
Plan  gehabt,  die  Fabel  von  Amor  und  Psyche 
zu  behandeln  (Kuno  Fischer,  „Erinnerungen 
an  Moritz  Seebeck**,  Heidelberg  1886.     S.  135). 

Marburg  i.  H.  Max  Koch. 

Der  Weinschwelg.  Ein  altdeutsches  Ge- 
dicht aus  der  zweiten  Hälfte  des  13.  Jahr- 
hunderts. Mit  einer  Uebersetzung  von 
Karl  Lucae.   Halle,  Niemeyer,  1886.  59  S.  8  ^. 

Das  vortreffliche  kleine  Gedicht  „Der  Wein- 
schwelg**, keine  Satire  auf  das  einsame  Trinken, 
wofUr  es  Gervinus  hielt,  sondern  eine  humo- 
ristische Verherrlichung  des  Weines,  die  der 
Ver£suser  seinem  unvergleichlichen  Zecher  in 
den  Mund  legt,  erscheint  hier  im  Originaltext 
mit  daneben  stehender  Uebersetzung.  Die  Her- 
stellung des  ersteren  ist  mit  Sorgfiilt  geschehen 
und  hat,  obwol  das  Gedichtchen  schon  mehr- 
fach ediert  ist,  doch  noch  eine  Reihe  hübscher 
Berichtigungen  ergeben.  Ausser  der  Wiener 
Handschrift  nach  einer  neuen  Kollation  ist 
auch  die  kürzlich  von  Bartsch  veröffentlichte 
Karlsruher  Handschrift  benützt  worden,  die 
allerdings  für  die  Kritik  von  sehr  geringem 
Wert  ist  Man  wird  der  Textgestaltung  Lu- 
caes  in  allem  Wesentlichen  beistimmen  können. 
Der  Druckfehler  V.  382  (l.  du  Hute)  corrigiert 
sich  von  selbst.     V.  69  fehlt  der  Punkt. 

Recht  gelungen,  stellenweise  den  Eindruck 
einer  Originaldichtnng  machend,  ist  die  Ueber- 
setzung. Es  ist  doch  möglich,  mittelhoch- 
deutsche Gedichte  auch  mit  Beibehaltung  des 
Reims,  der  ohne  Frage  eine  wesentliche  Zierde 


m 


Besprechungen. 


der  mei&ten  bildet*),  glatt  und  charakteristisch 
ins  Neuhochdeutsche  zu  übertragen,  wofür  wir 
leider  noch  so  wenig  mustergültige  Beispiele 
besitzen.  Aber  freilich:  auch  die  treueste 
poetische  Uebersetzung  ist  in  gewissem  Grade 
eine  Nachdichtung  des  Originals,  und  das 
Dichten  ist  nicht  Jedermanns  Sache.  Lucaes 
Uebersetzung  ist  stets  geschmackvoll,  die  Reime 
fügen  sich  ihm  leicht  und  ungezwungen.  Bis- 
weilen scheint  er  ziemlich  frei  zu  übersetzen, 
wenn  er  z.  B.  den  Ehrentitel  Ungerwz^  den 
sich  V.  389  der  Weinschwelg  beilegt,  nach 
Goethes  „Hans  Ohnesorgen*'  in  einen  „Hans 
Ohnegleichen"  umwandelt;  wenn  er  V.  277 
Horant  nicht  „halb  so  schön"  singen  lässt, 
statt  des  im  Original  stehenden  daz  driiieil ; 
wenn  er  V.  76  aus  einer  halben  Mark  sogar 
25  nach  unserer  heutigen  Währung  macht, 
u.  a.  m.  .  .  .  immer  ist  damit  der  Sinn  des  Ori- 
ginals für  uns  treffender  wiedergegeben,  als 
mit  einer  wörtlichen  Uebertragung.  Schade, 
dafs  in  dem  jeden  Abschnitt  beginnenden 
Vers :  do  huob  er  üf  ünde  tranc,  wo  der  mittel- 
hochdeutsche Dichter  zwischen  zwei  Hebungen 
die  Senkung  auslassen  konnte,  in  der  Ueber- 
setzung eine  schleppende  Wiederholung  des 
einen  Wortes:  „Da  hub,  da  hub  er  auf  und 
trank**  eintreten  musste.  Aehnlich  V.  95:  des 
habe  nun  V%p  immer  danc  —  „wofür  man  Dank 
mir  zolle.  Dank**. 

Die  Anmerkungen  am  Schluss  der  Aus- 
gabe sind  bald  kritischer,  bald  texterklärender 
Art,  oder  dazu  bestimmt,  die  Uebersetzung  zu 
rechtfertigen.  Zu  V.  113  hätte  viellieicht  noch 
auf  Haupts  Anm.  zur  Erzählung  „Von  dem 
übelen  Weibe**  V.  163  und  Martins  zur  „Kud- 
run**  721,  3  verwiesen  werden  können.  Zu  V. 
257  vgl.  Haupt  zum  übelen  Weibe  V.  i.  — 

Die  hübsche  Ausstattung  des  Büchleins  ist 
noch  besonders  hervorzuheben. 

Marburg  i.  H.  Joh.  Stosch. 

Lieder  des  Giovanni  Meli  von  Palermo. 

Aus  dem  Sicilianischen  von  Ferdinand  Gre- 
gor o  vi  us.  Mit  einer  geschichtlichen  Skizze 
der  poetischen  Nationalliteratur  Siciliens.  Zweite 
verbesserte  Auflage.    Leipzig.    Brockhaus  1886. 


■*)  Anders    freilich  urteilt  G.  Rötticher  im 
Vorwort  zu  seiner  Farzivalübersetzung  S.  VI. 


Zum  zweiten  Male  wandern  diese  Lieder 
des  grössten  National poeten  Siciliens  in  der 
meisterhaften  Uebersetzung  Ferdinand  Gregoro- 
vius*  in  die  Welt.  Wir  kennen  Gregorovius  als 
gewandten  Uebersetzer  volkstümlicher  Poesieen 
schon  aus  seiner  herrlichen  Schilderung  von 
Korsika  (1854),  wo  er  die  Klagegesänge  der 
Frauen  geradezu  unnachahmlich  übersetzt  hat 
Auch  seine  Wanderjahre  in  Italien  (5  Bde.)  ent- 
halten manches  von  Gr.  anmuthig  verdeutschte 
italienische  Volkslied.  Als  Uebersetzer  im 
engsten  Sinne  des  Wortes  zeigte  sich  Gregoro- 
vius erst,  als  er  Meli's  bis  dahin  in  Deutsch, 
land  wenig  bekannte  Poesieen  der  Lesewelt 
vorführte.  Herder  und  Goethe  Itatten  Meli  ge- 
kannt, ja  der  erstere  hatte  ein  Lied  Meli's 
„Die  Lippe**  übersetzt  und  in  die  „Stimmen 
der  Völker**  aufgenommen ;  im  vollen  Umfange 
lernte  man  Meli  erst  durcli  Gregorovius'  Ueber- 
setzung, die  zuerst  im  Jahre  1856  erschienen, 
kennen.  Karl  Rosenkranz,  dem  das  Werk 
gewidmet  wurde,  begrüsste  die  Poesieen  mit 
lebhafter  Freude,  doch  blieb  das  Büchlein, 
des  seltsamen  fremdartigen  Gehaltes  wegen, 
im  Stillen  und  wurde  bald,  wie  so  manches 
Gute,  vergessen. 

Erst  nach  30  Jahren  erlebte  es  eine  Auf- 
erstehung, der  Burns  Siciliens,  wie  man  Meli 
nicht  mit  Unrecht  genannt  hat,  tritt  aufs  Neue 
vor  das  deutsche  Publikum. 

Meli  ist  in  erster  Linie  Anakreontiker.  In 
'tändelndem  Tone  besingt  er  Amor  mit  Pfeil 
und  Bogen,  die  Augen,  den  Mund,  die  Stimme 
der  Geliebten,  alles  recht  niedlich,  doch  ohne 
irgend  wie  tiefere  Gefühle  anklingen  zu  lassen. 
Zu  dieser  Gattimg  seiner  Poesie  gehört  auch 
das  von  Herder  übersetzte  Lied  „Die  Uppe" 
(bei  Gregorovius  S.  160).  Besser  und  eigen- 
artiger sind  die  Lieder,  in  welchen  Meli  das 
Glück  der  Zufriedenheit  besingt,  z.  B.  „Der 
Frieden**,  „Die  Grille**.  Hier  pulsiert  warmes 
Leben  und  ist  wirklich  Poesie  zu  ftnden.  Ein 
merkwürdiges  Sittenbild  entrollt  das  Gedicht 
„Leben  und  Treiben**  (S.  76),  noch  toller,  ja 
in  kraftgenialischen  Sprüngen  bewegt  sich  der 
„Dithyrambus**,  in  dem  Kneipscenen  mit  dem 
grotesken  Pinsel  eines  Fischart  geschildert 
werden. 

Recht  anmutig  erzählt  sind  Meli's  Fabeln, 


Besprechungen. 


87 


deren  Gregoiovius  ungeßüir  ein  Dutzend  über- 
setzt hat 

Das  Wichtigste,  was  Meli  geschaffen  hat, 
sind  seine  Idyllen,  denen  nuin  plastische  Schil- 
derung, und  poetischen  Dufl  nicht  absprechen 
kann.  Es  ist  ein  ganz  merkwürdiges  Faktum, 
da£s  in  demselben  Land,  wo  das  Hirtengedicht 
entstanden  ist,  nach  anderthalb  Tausend  Jahren 
wiederum  ein  Volksdichter  theokritische  Idyllen 

geschaffen   hat.     Die  Hirtenwelt  Siciliens   hat 
das  Altertum  überdauert  und  ist  bis  auf  unsere 

Tage  unverändert  geblieben.  „Wer  die  Thälcr 
und  Berge  von  Enna  und  Segesta  oder  die 
Abhänge  des  Aetna  durchstreift,  sieht  die 
idyllischen  Fluren  mit  Schafen  und  Rindern 
bedeckt,  und  die  Hirten  in  derselben  Gestall 
wieder,  wie  sie  der  griechische  Dichter  ge- 
sehen hat  Im  Anblick  antiker  TempeltrUmraer 
„schauend  die  wimmelnden  Schaf  und  das 
sikelische  Meer'*  wird  man  immer  wieder  an 
Theokrit  erinnert,"  sagt  Gregorovius  selbst 
(S.  XXXV.)  Meli's  Idyllen  sind  ungemein 
lebensvoll  und  fein  empfunden,  durch  die. 
antiken  Anspielungen  und  Namen  blickt  echtes 
modernes  Volksleben  hindurch,  sehr  anmuthig 
z,  B.  ist  die  Fischer -Idylle,  (S.  193)  ein  Ge- 
spräch zwischen  drei  Mädchen,  die  sich  über 
ihren  Geliebten  unterhalten,  ein  ganz  dem 
Volksleben  abgelauschtes  naives  Stimmungsbild. 
Leider  bat  Meli  nicht  immer  aus  der  Poesie 
des  Lebens  selbst  geschöpft,  nur  zu  oft  hat 
ihn  die  Nachahmung  Theokrits  verführt.  — 

Von  weitgehender  Bedeutung  fUr  die  Welt- 
litteratur  ist  Meli  allerdings  nicht  Seine  Grösse 
und  Bedeutimg  besteht  nur  im  Rahmen  der 
italienischen  und  speciell  der  sicilianischen 
Litteratur.  Als  populärster  Dichter  der  Insel, 
dessen  Gesänge  das  Volk  kennt  und  liebt, 
wird  er  stets  Interesse  und  Wert  behalten,  von 
irgend  welchem  höheren  Werte  muss  man 
absehen.  Meli  gehört  nicht  zu  den  Dichter- 
fürsten, welche  Zeiten  und  Litteraturgattungen 
ihren  Stempel  aufdrucken.  Er  ist  ein  Sänger 
für  sein  Volk,  darin  liegt  ebenso  wie  sein 
Wert  auch  die  Begrenzung  seines  Talentes. 

Immerhin  schulden  wir  Gregorovius  für  die 
Verdeutschung  der  Lieder  Meli's  grossen  Dank, 
er  hat  besonders  den  Freunden  der  Volks- 
poesie eine  hübsche  Gabe   geboten   und  auch 


durch  die  geschichtliche  Skizze  der  poetischen 
Nationallitteratur  Siciliens  unsere  Kenntnisse 
bereichert  Hoffen  wir,  dafs  er  uns  recht  bald 
mit  weitern  Spenden  italienischer  Volkspoesie 
erfreut,  und  das  in  Deutschland  noch  lange 
nicht  nach  Gebühr  gewürdigte  Volkslied  Italiens 
zu  verdienter  Anerkennung  bringt. 

Marburg  i.  H.  Otto  Boeckel. 

Goethes  Faust  in  England  und  Amerika. 
Bibliographische  Zusammenstellung  von  W. 
Heinemann.  Berlin  1886  August  Hettler. 
VII,  32  S.     M.  1,50. 

Der  Verfasser  gibt  in  dieser  kleinen  Schiift 
ein  genaues  Verzeichnis  der  in  englischer 
Sprache  erschienenen  Uebersetzungen  des 
Goetheschen  Faust,  zu  denen  sachliche  Be- 
merkungen, hinsichtlich  der  Art  der  Ueber- 
setzungen, Weglassungen  etc.  meistens  hinzu- 
gefugt sind.  Es  ist  immer  ein  erfreuliches 
Zeichen  des  allgemeinen  Interesses,  welches 
die  Faustlitteratur  erweckt,  wenn  derartige 
Spezialarbeiten  erscheinen,  wodurch  die  genaue 
Kenntnis  dieser  Litteratur  wesentlich  gefordert 
wird  und  besonders  muis  man  dieselben  an- 
erkennen, wenn  sich  Berufene  finden,  welche 
diesen  speziellen  Forschungen  sich  widmen. 
Die  Arbeit  von  W.  Heinemann  zeigt  ent- 
schiedenen Fleifs  und  verdient  um  so  mehr 
Beachtung,  da  der  Verfasser  in  London  an- 
sässig und  wie  aus  seinen  Bemerkungen  zu 
schliessen  wohl  meistens  die  besprochenen 
Bücher  selbst  in  Händen  gehabt  hat;  ersteres 
ist  ein  Vorteil  den  der  auswärts  lebende 
Forscher  wohl  zu  schätzen  weiCs.  Es  durfte 
also  vorausgesetzt  werden,  dafs  das  kleine 
Werk  nur  Richtiges,  Begründetes  darbietet, 
was  sich  bei  einer  genaueren  Prüfung  denn 
auch  thatsächlich  erwies.  Wenn  in  dem  Vor- 
wort der  Verfasser  bemerkt,  das  Engel's 
Bibliotheca  Faustiana  (Oldenburg  1885)  in  dem 
Abschnitt  der  englischen  Faustschriften  einige 
Ungenauigkeiten  zeigt,  so  erklärt  sich  solches 
dadurch,  dafs  dem  Verfasser  der  B.  F.  die 
betreffenden  Schriften  in  fremden  Sprachen 
nicht  immer  zugänglich  waren  und  er  sich  des- 
halb oft  nur  auf  Kataloge  und  Citate  stützen 
konnte,  deren  angegebene  abgekürzte  Titel 
mit  den  vollständigen  Originaltiteln  manchmal 


88 


Besprechungen. 


schwanken.  Diese  Ungenauigkeiten  wie  auch 
etwaige  Lücken,  werden  seiner  Zeit  in  einem 
Nachtrag  zur  Bibl.  Faustiana  ausgeglichen 
werden.  Dieser  Nachtrag  wird  schon  dadurch 
zur  Notwendigkeit,  da(s  besagtes  Werk  die 
Aufzählung  der  Schriften  mit  Mitte  18S4  be- 
schliefst,  Heinemann  beendigt  die  seinen  mit 
dem  Jahre  1886,  demnach  die  auf  allen  Ge- 
bieten nachgefolgten  Erscheinungen  hinzugefügt 
werden  müssen. 

Mögten  sich  noch  mehr  berufene  Kräfte 
finden,  welche  in  speziellen  Forschungen  alle 
Lücken  ausfüllen,  damit  auf  diese  Weise  mit 
der  Zeit  eine  tadellose  Zusammenstellung  der 
gesamten  Faustlitteratur  erzielt  wird. 

Dresden.  Karl  Engel. 

Im  Anschluüs  an  die  neueste  bibliographische 
Zusammenstellung  Heinemanns,  welche  als  ein 
Beitrag  zur  Geschichte  der  deutschen  Dichtung 
in  England  erscheint,  möchte  ich  auf  eine 
ältere,  ebenfalls  ins  Gebiet  der  Faustlitteratur 
gehörige  Arbeit  verweisen,  deren  weder  Karl 
Engel  in  seinem  vortrefflichen  grossen  Werke, 
noch  die  Bibliographie  des  Jahrbuchs  der 
deutschen  Shakespearegesellschaft  bisher  ge- 
dacht hat: 

An  essay  towards  a  Bibliographie  of 
Marlowe'8  tragical  history  of  Dr.  Faustus. 
CompUed  by  William  Heinemann.  London 
1884.  (Berlin,  A.  Hettler.)  30  S.  8«».  M.  3. 
Der  bibliographische  Versuch  zählt  71 
Nummern  auf.  Nach  Vollständigkeit  strebt 
nur  die  erste  Abteilung,  welche  die  alten 
Ausgaben  des  Marloweschen  Faust  verzeichnet 
Die  Anführung  der  angekündigten  kritischen 
Ausgabe  von  Breymann  -  Wagner  für  das  Jahr 
1884  hat  freilich  leider  das  von  Heinemann 
beigefügte  Fragezeichen  verdient  Die  Ueber- 
setzungen  verzeichnen  aufser  sechs  deutschen 
Ausgaben,  —  A.  Boettger,  Bodenstedt,  van 
der  Velde  imd  (in  drei  Drucken  vorliegend) 
Wilhelm  Müller  —  je  eine  französische,  por- 
tugiesische und  schwedische  üebertragung;  die 
portugiesische  enthält  allerdings  nur  ein  Bruch- 
stück und  dieses  nicht  auf  dem  englischen 
Texte  sondern  auf  Victor  Hugos  Uebersetzung 
beruhend.  Aus  der  umfangreichen  Litteratur 
über  Marlowes  Faust  strebte  Heinemann  nur 
das  wichtigste  auszusuchen,  dabei  drei  Gruppen 


bildend :  English  and  foreign  Criticism  on 
Marlowes  Doctor  Faustus  und  wiebtigere 
Untersuchungen  und  Aeufserungen  über  Mar- 
lowe  in  Works  on  Goethes  Faust.  DaCs  eine 
solche  Auswalil  nicht  durchweg  Billigung 
finden  kann,  liegt  in  der  Natur  der  Sache, 
doch  wird  man  im  grofsen  und  ganzen  Heine- 
manns Auswahl  eine  treffende  nennen  müssen. 
Die  ganze  Arbeit  aber  ist  ein  schätzenswerter 
Beitrag  zur  vergleichenden  Geschichte  der  Faust- 
dichtungen. 

Marburg  i.  H.  Max  Koch. 

Prancke,  Otto:  the  life  and  death  of 
Doktor  Faustus  made  into  a  Farce  by  Mr. 
Mountford.  Mit  Einleitung  und  Anmerkungen 
herausgegeben.  (Englische  Sprach-  und  Littera- 
turdenknnale  des  t6.,  17.  und  18.  Jahrhunderts 
herausgegeben  von  Karl  Vollmöller,  3.  Heft.) 
Heilbronn,  Verlag  von  Gebrüder  Henninger. 
1886.    XXXVm.,  44  S.    8«.    M.  1,20. 

Wenn   auch   Mountford's  Farce   „life   and 
death  of  Doktor  Faustus*'   (zuerst  gedr.  1697) 
weder  in  ästhetischer  noch  in  litterarhistorischer 
Hinsicht  als  ein  bedeutendes  Werk  bezeichnet 
werden  kann,  so  mufs  es  doch  den  zahlreichen 
Gelehrten,   die  sich  mit   der  Entwicklung  der 
Faustsage  beschäftigen,  willkommen  sein,  der 
Vollständigkeit  wegen  auch  von  diesem  Stücke 
Kenntnis  zu  nehmen  und  da  dasselbe  nicht  sehr 
umfangreich  ist,  so  wird  diese  Kenntnisnahme 
doch   wohl   am   bequemsten   auf  dem   „nicht 
mehr  ungewöhnlichen  Wege"  eines  Neudrucks 
vermittelt     Otto  Francke  gebührt  für  die  Be- 
sorgung dieses  Neudrucks   um  so   mehr  unser 
Dank,  da  er  sich  offenbar  redlich  bemüht  hat, 
durch  eine  ausführliche  Einleitung  und  durch 
Erklärung    einzelner   schwieriger   Stellen    das 
Verständnis  zu  erleichtern.     Im  ersten  Kapitel 
der   Einleitung    „Mountfort    als   Schauspieler 
und  Dichter**  orientiert  er  uns  über  Mountforts 
Leben  (1660 — 92)  und  über  die  Stellung,  die 
Mountfort  im  damaligen  LondonerTheaterwesen 
einnahm.     Im  zweiten  Kapitel  „Zur  Geschichte 
des  Schauspiels  Dr.  Faust  in  England**  nimmt  der 
Verfasser  zunächst  Stellung  zu  einigen  der  Streit- 
fragen, die  sich  an  Marlowes  Faust  anknüpfen. 
Was  er  zur  Begründung  der  Ansicht  vorträgt, 
dafs  Marlowe  nicht  nach  der  englischen  Ueber- 


Besprechungen. 


89 


Setzung  des  Volksbuchs,  sondern  nach  dem 
deutschen  Original  gearbeitet  habe,  ist  sehr 
wenig  überzeugend.  Er  weist  auf  die  Ver- 
mutung Wagner's  hin,  dals  die  Entziehung 
der  Spielerlaubnis,  die  1589  über  die  Ad- 
mirals-Truppe  verhängt  wurde,  vielleicht  damit 
im  Zusammenhang  stehe,  da(s  diese  Truppe 
im  Jahre  zuvor  den  Faust  des  atheistischen 
Marlowe  aufgeführt  habe.  Und  nun  fahrt 
Francke  fort  „Wäre  dem  so,  dann  müsste  der 
Faust  im  Jahre  1588  entstanden  sein,  eine  An- 
nahme, der  nicht  das  geringste  entgegensteht, 
wenn  man  genau  wü(ste,  dafs  Marlowe  das 
deutsche  Faustbuch  gekannt  hat'*  Aber  selbst 
wenn  man  die  vage  Vermutung  Wagner's  und 
im  Zusammenhang  damit  die  Entstehung  des 
Marlowe'schen  Faust  im  Jahre  1588  annimmt, 
so  folgt  daraus  doch  noch  lange  nicht,  dafis 
Marlowe  gerade  das  deutsche  Original  benutzt 
habe,  der  undatierte  Druck  der  englischen 
Uebersetzung  kann  damals  sehr  wohl  schon 
existiert  haben,  da  diese  Uebersetzung  nach 
der  editio  princeps  von  1587  abgedruckt  ist 
Wenigstens  ist  dies  das  Ergebnis  der  neuesten 
bibliographischen  Untersuchungen  (vgl.  Zamcke 
im  Braune'schen  Neudruck  S.  X.)  und  wenn 
der  Herausgeber  dem  gegenüber  die  An- 
sicht äulsert,  da(s  die  englische  Uebersetzung 
,yhöchst  wahrscheinlich**  nach  der  deutschen 
Ausgabe  von  1590  angefertigt  sei,  so  hätte  er 
doch  hierfür  eine  ausführlichere  Begründung 
vorbringen  müssen  und  sich  nicht  blos  darauf 
berufen  dürfen,  da(s  im  Jahre  1846  Düntzer 
die  Ausgabe  von  1590  als  die  Vorlage  be- 
zeichnete. Im  Zusammenhang  damit  citiert 
der  Herausgeber  zwei  Stellen  aus  der  zeit- 
genössischen Litteratur,  die  eine  aus  „Nash's 
Martius  Mouths  minde**  (1589),  durch  welche 
die  Annahme  imterstützt  werden  soll,  „daCs 
der  Faust  wenigstens  schon  1588  gespielt  wor- 
den ist*',  die  andere  aus  einer  Schrift  „four 
letters  and  certain  sonnets  etc.**  (1592)  wegen 
eines  darin  enthaltenen  „bisher  übersehenen 
zwingenden  Zeugnisses  dafür,  daCs  Faust  keines- 
falls später  als  1592  anzusetzen  sei.**  Die  erste 
Stelle,  in  welcher  es  heisst  „vices  make  plaies 
of  Churche  matters**  beweist  natürlich  gar 
nichts,  in  der  zweiten  Stelle  werden  die  Worte 
Fauste  precor  gelida  citiert,   die  beiden 


letzten  Worte  sollen  einen  „unverständlichen 
Kabbalismus**  enthalten,  „unzweifelhaft  aber**, 
wie  der  Herausg.  meint,  „kann  hier  nur  an  den 
damals  allbekannten  Marlowe'schen  Helden 
gedacht  werden**.  In  Wirklichkeit  haben  die 
Worte  mit  dem  Magier  Faust  gar  nichts  zu 
thun,  es  handelt  sich  hier  vielmehr  um  ein 
Citat  aus  einem  damals  weit  verbreiteten,  in 
Schulen  vielgelesenen  Werke,  nämlich  den 
Eclogen  des  Baptista  Mantuanus;  die  erste 
Ecloge  beginnt  mit  den  Worten: 
Fauste  precor  gelida  quendo  pecus  omne 

sub  umbra 
Ruminat,   antiquos   paulum   redtemus  amores. 

Der  Anfang  dieser  Ecloge  ist  übrigens  den 
Freunden  Shakespeares  dadurch  bekannt,  dafs 
der  Pedant  Holofemes  in  Love's  Labour's  lost 
(Akt  IV.,  Sc.  2)  ihn  citiert 

Mannigfaches  Interesse  gewährt  die  Zu- 
sammenstellung von  Anspielungen  auf  Mar- 
lowe's  Drama  und  auf  die  Faustsage  über- 
haupt, die  sich  in  der  englischen  Litteratur 
bis  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  fmden. 
Hier  wüIste  Ref.  wenig  nachzutragen.  Aus 
den  merry  wives  of  Windsor  wäre  nicht  nur 
die  bekannte  Stelle  Akt  IV.,  Sc  5  von  den 
„three  Doktor  Faustuses**  zu  citieren  gewesen, 
sondern  auch  die  für  die  vorliegende  Einleitung 
noch  wichtigere  Stelle  Akt  I.,  Sc  i,  wo  Pistol 
den  Slender  wegen  seiner  Magerkeit  mit 
Mephistopheles  vergleicht,  eine  Stelle,  die  auch 
für  die  Geschichte  der  traditionellen  Theater- 
maske des  bösen  Geistes  von  Bedeutung  ist. 
Ausserdem  hätte  noch  auf  das  Auftreten  des 
Mephistopheles  in  Randolph's  Komödie  „tlie 
Muse's  looldng-glass**  hingewiesen  werden 
müssen.  Die  Zusammenstellung  ergibt  übrigens, 
wie  gegen  Ende  des  17.  Jahrhunderts  das 
Faust-Drama  durch  Zusätze  und  Umarbeitungen 
immer  mehr  auf  das  Niveau  eines  gewöhn- 
lichen Possenspiels  herabgedrückt  wurde.  In 
Kapitel  III.  „Zur  Mountfort'schen  Farce*, 
(s.  XXXV.— XXXVIII.)  weist  der  Herausgeber 
darauf  hin,  dafs  Mountfort,  indem  er  die 
Masken  des  Harlekin  und  des  Scaramoucbe 
in  seine  Farce  einführte,  einer  Geschmacks- 
richtung folgte,  die  damals  schon  auf  dem 
Theater  seiner  Heimat  eingebürgert  war.  Wir 
fmden  indess  hier  den  Gesichtspunkt  nicht  be 


90 


B«sprechiiDgen. 


rücksichtigt,  von  welchem  aus  die  Mount- 
fort'sche  Farce  gerade  fiir  die  vergleichende 
Litteraturgeschichte  von  besonderem  Interesse 
ii«t.  Das  Eindringen  der  italienischen  Manier, 
das  wir  um  dieselbe  Zeit  auch  auf  dem  Theater 
anderer  Nationen  beobachten  können,  hat  näm- 
lich offenbar  in  England  auf  den  Marlowe'schen 
Faust  in  ganz  ähnlicher  Weise  eingewirkt,  wie 
in  Deutschland  auf  das  Volksschauspiel,  das 
ja  bekanntlich  aus  dem  Marlowe'schen  Faust 
entstanden  ist.  Manche  von  den  conventio- 
nellen  Harlekin-Spässen,  die  sich  leicht  und 
ungezwungen  an  die  überlieferte  Fabel  an- 
schlössen, tinden  wir  im  deutschen  wie  im 
englischen  Drama  wieder,  so  z.  B.  Harlekin's 
Versuche  aus  dem  Zauberbuch  zu  buchstabieren. 

Die  Anmerkungen  sind  hauptsächlich  der 
Worterklärung  gewidmet;  „arsefetito"  (vgl. 
Anm.  z.  525)  ist  offenbar  eine  burleske  Ent- 
stellung von  assa  foetida. 

Krakau.  Wilhelm  Creizenach. 

Sammlung  spanischer  Neudrucke  des 
XV.  und  XVI.  Jahrhunderts.  Herausgegeben 
von  Karl  von  Reinhardstöttner.  Erstes 
Bändchen:  Der  Amphitrion  des  Fernan  Perez 
de  Oliva.  München  1886.  P.  Zipperers  Buch- 
handlung.   75  S.     8*. 

Ein  Unternehmen,  welches  sich  zur  Auf- 
gabe stellt,  selten  gewordene  spanische  Littera- 
turdenkmäler  in  orthographisch  völlig  getreuen 
Abdrücken  und  billigen  Ausgaben  zu  reprodu- 
zieren, kann  nur  bestens  begrüfst  werden,  weil 
es  angethan  ist,  das  Studium  der  spanischen 
Sprache  und  Litteratur  in  mächtiger  Weise  zu 
fördern,  welches  gerade  durch  die  Schwierig- 
keit der  Anschaffung  wichtiger  Denkmäler  bis- 
her ungemein  erschwert  war.  Dieses  Unter- 
nehmen gewinnt  ferner  noch  dadurch  an  Be- 
deutung, dafs  auch  solche  spanische  Litteratur- 
werke,  welche  für  die  vergleichende  Litteratur- 
geschichte Stoff  bieten,  zur  Ausgabe  gelangen 
werden.  Da  die  Redaktion  den  bewährten 
Händen  Professors  Dr.  von  Reinhardstöttner 
anvertraut  ist,  so  kann  mit  Fug  und  Recht 
nur  das  Beste  erwartet  werden.  Das  bis  jetzt 
vorliegende  erste  Bändchen  der  Sammlung,  von 
dem  oben  genannten  Gelehrten  herausgegeben, 
bietet  uns   eine  Bearbeitung   des  Plautinischen 


Amphitruo  von  Feraan  Perez  de  Oliva  unge- 
fähr aus  dem  Jahre  1530,  einer  Zeit,  deren 
Bestrebungen  auf  dem  Gebiete  der  dramatischeD 
Poesie  der  berühmte  spanische  Dichter  und 
Litterarhistoriker  Don  Alberto  Lista  in  seinen 
„Lecciones  de  literatiura  espanola  mit  folgen- 
den Worten  charakterisiert:  „Tiempo  era  jra 
de  que  se  dilatase  la  esfera  de  la  accion 
dramätica.  Conocianse  en  toda  Europa,  y  eran 
comunes  en  todas  las  librerias  de  los  hombres 
de  gusto,  las  obras  cldsicas  de  la  antigüedad 
en  este  g^nero.  Söfocles,  Euripides,  Terencio, 
S^neca  y  Planto  empezaron  d  ser  familiäres  A 
nuestros  literatos.  Era  necesario,  pues,  para 
llamar  la  atencion,  6  inspirar  inter6s  al  publice, 
dar  mas  complicacion  A  la  fdbula,  aamentar 
el  nümero  des  los  personagcs,  y  las  riquezas 
de  la  escena.  Procurdronse  estos  resultados 
por  dos  caminos  diferentes.  Uno,  que  pareda 
entonces  el  mas  natural,  la  traducdon  ö  imi- 
tacion  de  los  antiguos:  otro,  mas  dificil  por 
mas  original,  pero  que  logrö  al  fln  la  prefe- 
rencia,  la  creacion  de  fdbulas  novelescas**. 
(3a  leccion.)  Der  Amphitrion  des  Fernan 
Perez  de  Oliva,  gehört  der  ersteren  der  beiden 
erwähnten  Richtungen,  dem  „uso  antiguo"  an 
und  bietet  uns  ein  instnictives ,  aber  freilieb 
kein  erfreuliches  Bild  von  der  Art  und  Weise> 
wie  man  in  Spanien  antike  Meisterwerke  be- 
arbeitete. Der  ästhetische  Wert  des  spanischen 
Amphitruo  von  Fernan  Perez  de  Oliva  ist 
null  und  vermag  auch  die  von  Alberto  Lista 
als  wunderbar  bezeichnete  Prosa  desselben 
keinerlei  Ersatz  zu  bieten.  Vom  litterar- 
historischen  Standpunkt  gewinnt  die  Sache 
freilich  ein  anderes  Aussehen  und  wird  sowohl 
der  klassische  wie  der  moderne  Philologe  mit 
hohem  Interesse  die  in  Rede  stehende  Be- 
arbeitung seinem  Studium  unterziehen.  Und 
so  haben  wir  allen  Grund  zu  wünschen,  dafs 
die  uns  versprochenen  Farsas  von  Fernan 
Lopez  de  Yanguas,  Juan  de  Paris,  Bartho- 
lome  Palau,  Fernando  Diaz  sowie  die  Komö- 
dien Tidea  von  Francisco  de  las  Natas,  The- 
sorina  von  Jaime  de  Guete,  Florisea  von 
Francisco  de  Avendano  u.  s.  f.  recht  bald  er- 
scheinen und,  wie  wir  nicht  zweifeln,  der  Aus- 
gabe des  Amphitruo  gleichwertig  sein  mögen 
St.  Johann  i.  P.  A.  Luber. 


über  Goethes  Versuch, 

zu  Anfang  unseres  Jahrhunderts  die  römischen  Komiker 

Plautus  und  Terenz  auf  der  weimarischen  Bühne 

heimisch   zu   machen. 


Von 
Otto  Francke. 


Ihr  wilst,  auf  unsern  deutschen  Bühnen 
Versucht  ein  jeder,  was  er  mag. 

Man  kann  unmöglich  behaupten,  dafs  es  eine  blofse  Redensart  war, 
wenn  jüngst  von  berufener  Seite  die  Behauptung  aufgestellt  wurde, 
dafs  durch  die  Eröffnung  des  Goethe- Archivs  nicht  nur,  wie  ja  das  durch 
die  letzten  Ausgrabungen  in  Olympia  und  Pergamon  ermöglicht  ward, 
unsere  genaue  Kenntnis  einer  g^ofsen  Kulturströmung  vergangener  Zeit 
sich  erweitern  oder  abklären  mufs,  sondern  dafs  dadurch  vielmehr  das 
rollende  Rad  der  Civilisation  einen  beschleunigenden  Anstois  erhalten  hat. 
Goethes  Wort:  „Was  du  ererbt  von  deinen  Vätern  hast,  erwirb  es, 
um  es  zu  besitzen,**  welches  im  vorigen  Jahre  Kuno  Fischer  in  geweihter 
Stunde  den  in  Weimar  versammelten  Goethefreunden  ins  Gedächtnis 
zurückrief,  möge  daher  zur  Wahrheit  werden  im  weitesten  Sinne  und  auf 
allen  Gebieten  des  menschlichen  Wissens.  Freilich  mufs  sich  dann  ein 
jeder  gewöhnen,  auch  das  scheinbar  Geringfügige  in  Wissenschaft  und 
Kunst  nicht  zu  verachten;  er  mufs  sich  vielmehr  den  Naturforscher  Goethe 
zum  Muster  nehmen,  dem  auch  das  kleinste  Stäubchen  in  der  Gottes- 
natur Anlafs  zum  Nachdenken  bot.  Und  nicht  möge  man  deshalb  durch 
Schillers  Wort:  „Wenn  die  Könige  bau*n,  haben  die  Kärrner  zu  thun*^  ein 
falsches  Schamgefühl  der  Röte  in  sich  aufsteigen  lassen.  Es  lohnt  sich  viel- 
mehr, den  Bau  eines  Königs  zu  untersuchen,  nicht  nur  um  die  Zieraten  der 
Architektur  der  Fa9ade  zu  bewundem,  sondern  um  einen  Einblick   zu 

ZCtchr.  f.  ygt  Litt-G«ach.  I^  ^ 


92  Otto  Francke. 


gewinnen  in  das  Gefuge  des  Ganzen,  und  dabei  darf  man  sich  gelegent- 
lich einen  Seitenweg  nicht  verdriefsen  lassen. 

Einen  solchen  Seitenweg  im  folgenden  fuhren  zu  dürfen,  dazu  bitte 
ich  den  gütigen  Leser  um  seine  geneigte  Erlaubnis.  Das  Urteil  der  sach- 
verständigen Kenner  und  der  gebildeten  Welt  über  die  grofsartigen  Ver- 
dienste, welche  Goethe  in  Gemeinschaft  mit  Schiller  sich  um  Hebung 
des  weimarischen  Theaters  und  somit  der  gesamten  deutschen  Bühne 
erworben  hat,  ist  ein  feststehendes  geworden,  seit  Männer,  wie  L.  Devrient, 
A.  Scholl  u.  a.  „das  Thatsächliche  von  Goethes  dramaturgischen  Absichten 
und  Einflüssen  achtsam  zusammengestellt  haben."  Durch  Goethes  Führung 
hat  die  deutsche  Schauspielkunst,  wie  A.  Scholl  sich  gelegentlich  äufsert, 
den  erhabensten  Aufschwung  genommen,  eine  innere  Veredelung,  die 
sie  zu  der  Poesie  und  der  Befriedigung  der  Gebildetsten  in  ein  würdiges 
Verhältnis  brachte;  und  bekannt  ist,  dafs  Goethe  die  Bühnenpraxis  der 
besten  Schauspieldirektoren  in  einer  Handhabung  der  Studien  und  Proben 
zu  vereinigen  wufste,  welche  die  Wirkungen  bis  an  die  Grenze  des 
Möglichen  sicher  stellte.  Um  sich  eine  lückenlose  Vorstellung'  vom 
ganzen  Umfange  der  wahrhaft  sittlichen  That,  die  Goethe  am  weimarischen 
Theater  verübt  hat,  zu  machen,  bedarf  es  allerdings  eingehender  Studien; 
allein  auch  derjenige,  dem  sich  die  Möglichkeit  verschliefst,  selber  forschend 
zu  den  Quellen  hinabzusteigen,  wird  eine  im  ganzen  richtige  Anschauung 
der  von  Goethe  in  bezug  auf  das  Theater  verfolgten  Ideale  gewinnen 
können,  wenn  er  weiter  nichts,  als  die  gesammelten  Prologe  und  Epiloge 
oder  die  auf  Personen  vom  weimarischen  Theater  bezüglichen  Gedichte 
des  Meisters  lesen  wollte,  wie  z.  B.  das  bekannte  „auf  Miedings  Tod" 
oder  die  wundervolle,  dem  Andenken  der  lieblichen  Christiane  Neumann 
gewidmete  Elegie  „Euphrosyne^'. 

Seit  1791  war  in  Weimar  eine  stehende  Bühne  errichtet  worden, 
deren  Leitung  Goethe  bis  zum  Anfang  des  Jahres  181 7  oblag.  Von 
Anfang  an  war  er  um  Verdrängung  des  Naturalistischen,  um  harmonisch 
abgerundetes  Zusammenspiel  eifrig  bemüht  gewesen;  an  trefflichen  Schau- 
spielern, an  talentvollen  Künstlern  fehlte  es  zwar  damals  nicht;  allein  die 
meisten  waren  doch  mehr  oder  weniger  reine  Naturkinder,  ohne  den 
Vorteil  einer  gediegenen  Künsderschule  hinter  sich  zu  haben. 

Wie  sah  es  dagegen  um  1791  mit  dem  deutschen  Drama  aus? 
Schiller  und  Goethe  hatten  zwar  schon  unsterbliche  Meisterwerke  geliefert; 
doch  bildeten  neben  denselben  nur  noch  die  Dramen  Lessings  die  einzige 
Quelle,  von  welcher  aus  der  fast  noch  dürre  Boden  des  damaligen 
Theaters    hätte    befruchtet    werden    können.      Leider    war    freilich    der 


Goethes  Versuch,  Plautus  u.  Terenz  auf  d,  weimarischen  Bühne  heimisch  zu  machen.       93 

herrschende  Geschmack  der  achtziger  Jahre  durch  Kotzebue  und  zum 
Teil  auch  durch  Ifflands  Rührstücke  bedeutend  herabgesetzt  worden. 
An  fruchtbaren  und,  was  mehr  ist,  an  gediegenen  Dramendichtern  war 
grofser  Mangel.  So  wird  Goethes  Klage  begreiflich,  die  er  in  einem 
Briefe  an  Schiller  am  29.  Dezember  1795  in  die  Worte  kleidet:  „Alles 
will  schreiben  und  schreibt,  und  wir  leiden  auf  dem  Theater  die  bitterste 
Not."*)  Darauf  antwortete  Schiller  noch  an  demselben  Tage:  „Sie  sprechen 
von  einer  so  grofsen  Teuerung  in  der  Theaterwelt.  Ist  Ihnen  nicht  schon 
der  Gedanke  gekommen,  ein  Stück  von  Terenz  fiir  die  neue  Bühne  zu 
versuchen?  Die  Adelphi  hat  ein  gewisser  Romanus  schon  vor  dreifsig 
Jahren  gut  bearbeitet,  wenigstens  nach  Lefsings  Zeugnis.  Es  wäre  doch 
in  der  That  des  Versuches  wert.  Seit  einiger  Zeit  lese  ich  wieder  mehr 
in  den  alten  Lateinern  und  der  Terenz  ist  mir  zuerst  in  die  Hände 
gefallen.  Ich  übersetzte  meiner  Frau  die  Adelphi  aus  dem  Stegreif,  und 
das  grofse  Interesse,  das  wir  daran  genommen,  läfst  mich  eine  gute 
Wirkung  erwarten.  Gerade  dieses  Stück  hat  eine  herrliche  Wahrheit 
und  Natur,  viel  Leben  im  Gange,  schnell  decidirte  und  scharf  bestimmte 
Charaktere,  und  durchaus  einen  angenehmen  Humor." 

Allein  Goethe,  der  bereits  als  Knabe,    wie    er    in    „Dichtung  und 
Wahrheit"  erzählt,  den  Terenz  nachzuahmen  wagte,  und  den  es  dereinst, 


•)  Im  Zusammenhange  mit  dieser  Briefstelle  gewinnt  folgende  Bemerkung  ein  ver- 
stärktes Licht. 

Im  III.  Bde.  der  „Propylaeen**  (2.  Stück)  S.  169  ff.  für  1801  war  nämlich  eine  „ drama- 
tische Preisaufgabe**  ausgeschrieben,  wobei  es  u.  a.  heilst:  —  ^Man  g^ebt  hierbei  dem 
Lustspiel  den  Vorzug  vor  dem  Trauerspiel,  weil  an  jenem  überhaupt  noch  ein  gröfserer 
Mangel  ist  und  das  Neue  darin  am  meisten  gefordert  wird.  Denn  ob  wir  gleich  an  guten 
Tragödien  vielleicht  noch  ärmer  sind,  so  kann  unsere  Bühne  sich  hier  weit  mehr,  als  dort  durch 
das  Ausland,  ja  selbst  durch  das  Altertum  bereichem  jund  das  Vortreffliche  in  dieser 
Gattung  veraltet  nie.  —  —  Man  klagt  mit  Recht,  dais  die  reine  Komödie,  das  lustige  Lust- 
spiel, bei  uns  Deutschen  durch  das  sentimentalische  zu  sehr  verdrängt  worden  und  es  ist 
allerdings  ein  herrschender  Fehler  auf  unserer  komischen  Bühne,  dals  das  Interesse  noch  viel 
zu  sehr  aus  der  Empfindung  und  sittlichen  Rührung  geschöpft  wird.  Das  Sittliche  aber  sowie 
das  Pathetische  macht  immer  ernsthaft  und  jene  geistreiche  Heiterkeit  und  Freiheit  des 
Gemüts,  welche  in  uns  hervorzubringen  das  schöne  Ziel  der  Komödie  ist,  läfst  sich  nur 
durch  eine  absolute  moralische  Gleichgültigkeit  erreichen;  es  sei  nun,  dais  der  Gegenstand 
selbst  schon  diese  Eigenschaft  habe,  oder  dais  der  Dichter  die  Kunst  besitze,  die  moralische 
Tendenz  seines  Stoffes  durch  die  Behandlung  zu  überwinden." 

Im  folgenden  wird  auf  die  mangelnde  Fähigkeit  des  Deutschen,  eine  Charakterkomödie 
zu  schaffen,  hingewiesen;  daher  heilst  es  S.  171  weiter:  „Es  bleibt  also  nur  das  Feld  der 
Intriguenstücke  offen,  das  Feld  ist  reich  und  nicht  so  leicht  als  das  der  Charakterstücke  zu 
erschöpfen. . . .  Ein  Preis  von  dreiisig  Dukaten  wird  hiermit  auf  das  beste  Intriguenstück  g^etzt.** 
(Am  35.  Dez.  1800  hatte  Goethe  Rochlitz  aufgefordert,  sich  um  diesen  Preis  zu  bewerben). 

7* 


94  Otto  Prancke. 


wie  er  gleichfalls   mitteilt,    ,ygar  sehr  verdrofs,    als  er  vernahm,  Grotius 
habe  übermütig  geäufsert,    er  lese  den  Terenz  anders  als  die  Knaben," 
mochte  doch  einen  derartigen  Versuch  auf  seinem  Theater  noch  für  ver- 
früht halten.    Freilich  hatte   er    schon    früher   lebhaften   Anteil    an    den 
Wiederbelebungs- Versuchen    genommen,    welche    Jacob    Michael    Rein- 
hold Lenz  im  Anfang  der  siebziger  Jahre  an  Plautus  gemacht  hatte; 
man   war   sogar  in  folge    der  Bemerkung    des  Verlegers  Weygand    in 
seinen  Verlagskatalogen  von   1774:    „von  Goethe  und   Lenz"    lange 
geneigt  gewesen,  die  Urheberschaft  der  fünf  „Lustspiele  nach  dem 
Plautus  fürs  deutsche  Theater"   beiden  Freunden  gemeinsam  zuzu- 
sprechen.   Es  mag  sein,  dafs  Goethe  Lenz  gelegentlich  bei  der  Bearbeitung 
mit   seinem   Rate    zur   Seite    gestanden   hat;    wie   sehr  er  sich  aber  im 
Hinblick    auf  die  Bühne   für  Lenzens    Bestrebungen    erwärmen   konnte, 
geht  aus  ein  paar  Briefen  hervor,  die  er  an   den  Aktuar  Salzmann  in 
Strafsburg  geschrieben  hat.     Eine  bezeichnende  Stelle  im  ersten  Briefe 
vom  6.  März  1773  lautet  so:     „Die  Komödien  belangend  geht  ja  alles 
nach  Wunsch,  ein  Autor  der  sich  raten  läfst,  ist  eine  seltene  Erscheinung, 
und  die  Herren  haben  auch  meist  nicht  Unrecht,  jeder  will  sie  auf  seine 
Art  zu  denken  modeln.     Also,  lieber  Freund,  hier  keine  Kritik,  sondern 
nur    die   Seite,  von    der  ich*s   ansehe.     Unser    Theater,    seit   Hanswurst 
verbannt  ist,  hat  sich  aus  dem  Gottschedianismus  noch  nicht  losreifsen 
können.    Wir  haben  Sittlichkeit  und  lange  Weile;  denn  an  jeux  d'esprit, 
die  bei  den  Franzosen  Zoten  und  Possen  ersetzen,  haben  wir  keinen  Sinn, 
unsre    Sozietät   und    Charakter   bieten    auch   keine   Modele    dazu,    also 
ennuyiren  wir  uns  regelmäfsig  und  willkommen  wird  jeder  sein,  der   eine 
Munterkeit,    eine    Bewegung   aufs    Theater    bringt.     Und   ich  hoflfe   von 
dieser  Seite  werden  diese  Lustspiele  sehr   Beifall    haben.     Nur    wissen 
Sie,    um   eine    honette  Gesellschaft   zu   entriren,    bedarfs    eines    Kleids, 
zugeschnitten  nach  dem  Sinn  des  Publikums,  dem  ich  mich  produziren 
will,  und  über  dies  Röckgen  wollen  wir   ratschlagen.     Zuvörderst  keine 
Singularität  ohne  Zweck.     Das  ist  was  gegen    die    lateinischen  Namen 
spricht.     Leander,  Leonora  sind  Geschöpfe,  mit  denen  wir  schon  bekannt 
sind,  wir  sehen  sie  als  alte  gute  Freunde  wieder  auftreten.     Besonders 
da  übrigens  das  Costüm  neu  ist,  der  König  in  Preufsen  vorkommt  und 

der  Teufel Denn  was  die  innere  Ausfuhrung  betrifft,  wie  ich  wünsche, 

dafs  er  an  einigen  Stellen  dem  Plautus  wieder  näher,  bei  andern  noch  weiter 
von  ihm  abrücken  möchte,  wie  der  Sprache,  dem  Ausdruck,  dem 
Ganzen  der  Szenen  an  Rundheit  nachgeholfen  werden  köimte;  darüber 
möcht  ich  mich  in  kein  Detail  einlassen.     Der  Verfasser  mufs  das  selbst 


Goethes  Versuch,  Plautus  u.  Terenx  auf  d.  weimarischen  BOhne  heimisch  zu  machen.      95 

fühlen,  und  wenn  er  mir  seine  Gedanken  über  das  Ganze  mitzuteilen 
beliebt,  will  ich  auch  die  meinigen  sagen;  denn  ohne  das  würd  ich  in 
Wind  schreiben.  Was  ihm  alsdann  an  meiner  Vorstellungsart  beliebt, 
dafs  er's  in  sein  Gefühl  übertragen  kann,  und  ob  er  nach  einem  neu 
bearbeiteten  Gefühl  wieder  den  Mut  hat,  hier  und  da  umzuarbeiten,  das 
mufs  der  Ausgang  lehren.  Ich  hasse  alle  Spezialkritik  von  Stellen  und 
Worten.  .  .  .  Nur  müssen  wir  bedenken,  dafs  wir  diesmal  mit  dem 
Publikum  zu  thun  haben,  und  besonders  alles  anwenden  müssen,  den 
Direktors  der  Truppen  das  Ding  anschaulich  und  gefallig  zu  machen, 
welches  vorzüglich  durch  ein  äufserlich  honettes  Kleid  geschieht.  Denn 
gespielt  machen  sie  ihr  Glück.  Nimmt  man  aber  lebendige  Stimmen, 
Theaterglanz,  Carikatur,  Aktion  und  die  Herrlichkeit  weg,  verlieren  sie 
gar  viel;  selbst  im  Original  versetzen  uns  wenig  Szenen  in's  gemeine 
Leben;  man  sieht  überall  die  Frazzen-Masquen,  mit  denen  sie  gespielt 
wurden.*' 

Ein  paar  Monate  später  schreibt  Goethe  gleichfalls  an  Salzmann 
u.  a.  folgendes:  „Sie  haben  lange  nichts  von  mir  selbst,  wohl  aber 
gewils  von  Lenz  und  einigen  Freunden  allerlei  von  mir  gehört.  Ich 
treibe  immer  das  Getreibe;  denn  Plaut,  (sie)  Komödien  fangen  an  sich 
herauszumachen.  Lenz  soll  mir  doch  schreiben.  Ich  habe  was  für  ihn 
aufm  Herzen." 

Noch  in  demselben  Jahre,  am  3.  November,  schickte  Goethe  an 
Helene  Elisabet  Jacobi  die  ersten  Bogen  der  Komödien  mit  dem  Ver- 
sprechen, die  nächsten  folgen  zu  lassen;  und  in  dem  Briefe  von  Anfang 
Dezember  1773  abermals  an  Betty  schrieb  er:  „Mit  der  fahrenden 
kriegen  Sie  ein  Allerlei,  darinn  die  folgenden  Bogen  zum  Väterchen, 
davon  Sie  zum  Tröste  Jungs  kristgläubiger  Seele  sagen  können,  dafs 
ichs  nicht  gemacht  habe.  Ich  habs  nicht  gemacht.  Mamachen,  aber 
ein  Junge,  den  ich  liebe  wie  meine  Seele,  und  der  ein  treflflicher 
Junge  ist."*)  — 

Die  Kritik  verhielt  sich  diesen  Versuchen  gegenüber  entschieden 
aufmunternd;  sehr  günstig  wurde  das  neue  Buch  von  Wieland  im  7.  Bande 
des  „Teutschen  Merkur"  1774,  S.  355  f.  beurteilt;**)  von  anderer  Seite 


*)  Vgl.  S.  Hirze],  der  junge  Goethe,  I,  S.  351  ff;  385;  397. 

**)  Die  Wielandscbe  Kritik  lautet  so:  „Lustspiele  nach  dem  Plautus,  fürs  deutsche 
Theater.     Frankfurt  und  Leipzig,  23  Bogen  8/* 

„Jetzt  da  man  so  geschäftig  ist,  die  grolsen  Geister  der  Alten  wieder  zu  erwecken, 
hat  jemand  hier  auch  den  Plautus  beschworen,  der  zwar  schon  oft  in  Deutschland  als 
Gespenst,  aber  noch  nie  so  erschienen  war,  dafs  die  Deutschen  seine  wahre  Physiognomie 


96  Otto  Francke. 


hingegen,  wie  von  Eschenburg  (Allgemeine  deutsche  Bibliothek  1775 
XXVI.  Band  2,  470 — 474),  wurde  die  erfolgreiche  Wirkung  einer  Auf- 
führung, falls  eine  solche  gewagt  werde,  ernstlich  angezweifelt.  Soviel 
man  weifs,  sind  jedoch  die  Lenzschen  Übersetzungen  niemals  irgendwo 
aufgeführt  worden.  Auf  sie  wollte  und  konnte  Goethe  daher  trotz 
Schillers  Anregung  nicht  zurückkommen,  da  es  ihm  vor  allem  darauf 
ankam,  zuvor  die  durch  Schröder  und  IfFland  begünstigte  Richtung  der 
Schauspieler  nach  zu  natürlicher  Wiedergabe  des  dichterischen  Gedankens 
zu  beseitigen.  Goethe,  der  dem  klassischen  Altertum  urverwandte  Geist, 
hatte  schon  längst  in  der  Erkenntnis  der  antiken  Kunst  sein  eigenes  Ich 
wiedergefunden  und  in  Werken,  wie  Tasso  und  Iphigenie,  seiner  Gesinnung 
den  rechten  Ausdruck  verliehen.  Und  Schiller  konnte  hinter  Goethe 
nicht  zurückbleiben;  mit  der  Wallenstein-Trilogie  ward  für  alle  Zeiten  der 
dramatischen  Kunst  der  Deutschen  dir  richtige  Weg  gewiesen. 

Worin  bestand  aber  vornehmlich  die  Neuerung,  die  durch  die 
genannten  Meisterwerke  für  das  deutsche  Drama  so  einflufsreich  wurde? 
Mit  einem  Worte  —  man  kann  ohne  eingehendes  Studium  der  Urteile 
der  Freunde  und  zahlreichen  Gegner  der  Neuerung  die  weittragende 
Bedeutung    der   grofsen   That    Goethes    und  Schillers    nicht    hinlänglich 


hätten  kennen  lernen.  —  Weder  buchstabierende  Übersetzung,  noch  freie  Nachahmung, 
sondern  eine  Art  von  Nachbildung  erhalten  wir  hier,  wie  wir,  so  viel  ich  weifs,  noch  von 
keinem  alten  Dichter  besitzen.  Treue  war  nur  ein  Gesetz  des  Verfassers  in  Ansehung  des 
Plans  und  der  wesentlichen  Gedanken;  hingegen  dichtete  er  sich  in  die  Person  seines  Plautus 
so  sehr  hinein,  dafs  er,  gleich  einem  Schauspieler  von  Genie,  ihm  Ideen  und  Worte  unter- 
schieben konnte,  die  Plautus  selbst  billigen  muiste.  Nie  suchte  er  ihn  zu  verschönern,  sondern 
er  versteckte  nur  zuweilen  einen  Zug,  damit  er  einleuchtender  würde,  rückte  näher  zusammen, 
was  zu  weit  entfernt  stand,  füllte  kleine  Lücken  aus,  die  sonst  ein  gelehrter  Kommentar 
ausfüllen  mufste.  Die  leichteste  Arbeit  war,  neue  Sitten  mit  alten  zu  vertauschen,  weg- 
zuwischen, was  den  letzteren  zu  sehr  entgegen  lief,  Auswüchse  wegzuschneiden,  beschwerlichen 
Überflufs  zu  tilgen  und  dergleichen.  Da  sich  durch  solche  sorgfilltige  Bemühungen  und 
durch  die  eigene  komische  Anlage  des  Übersetzers  die  Sprache  zum  Original  umgebildet 
hat,  so  könnte  man  wohl  wünschen,  da(s  er  sich  auch  in  der  Oekonomic  der  Stücke  dieselbe 
Freiheit  erlaubt  hätte.  Ein  verstärkteres  Interesse,  ausgearbeiteter e  Charaktere,  verbesserte 
EntWickelungen,  würden  ihm  noch  grösseren  Ruhm  erworben  haben.  Nichts  ist  willkürlicher, 
als  die  Titel  des  Plautus,  und  daher  sind  auch  diese  abgeändert  worden.  Die  Asmarta 
heifst  das  Väterchen,  weil  der  Vater  seinem  Sohne  in  allen  Ausschweifungen  Gesellschaft 
leistet,  Auluiaria  die  Aussteuer,  weil  der  Geizige  doch  zuletzt  eine  Mitgift  geben  muis, 
At:x  Miles gloriofus  A\^  Entführungen,  weil  dem  Prahler,  der  eine  Frau  zu  entführen 
meinte,  seine  Geliebte  entfuhrt  wird,  Truculentas  die  Buhl  Schwester,  weil  mehr  die  Sitten 
dieser  Gattung  von  Menschen  den  Inhalt  ausmachen,  als  die  Grobheiten  eines  Landjunkers, 
der  Curculio  die  Türkensklavin,  weil  die  Erkennung  und  Befragung  derselben  das 
Hauptinteresse  ist," 


•  

Goethes  Versuch,  Plautus  u.  Terenz  auf  d.  weimarischen  Bühne  heimisch  zu  machen.      97 

würdigen  —  mit  einem  Worte,  es  war  die  Einführung  des  funfFüfsigen 
Jambus.  Die  weimarische  Bühne,  die  Geburtsstätte  des  idealen  Dramas, 
sollte  nunmehr  auch  die  Wiege  der  idealen  dramatischen  Darstellung 
werden.  Die  Schauspieler  litten,  wie  Goethe  es  einmal  nannte,  an  der 
Rhythmophorbie,  an  der  Vers-  und  Taktscheu;  sie  sudeln  gern,  sagte 
Schiller,  wenn  sie  nicht  durch  den  Vers  in  Respekt  erhalten  werden. 
Wie  natürlich  daher,  dafs  die  beiden  grofsen  Dichter,  je  klarer  sie  sich 
darüber  wurden,  dafs  einzig  das  Versdrama  und  die  durch  den  Vers 
bedingte  Idealität  der  Motive  und  Charaktere  aus  der  Plattheit  der 
herrschenden  Bühnendichtung  herausfuhren  könne,  als  eine  ihrer  dringend- 
sten Pflichten  erkannten,  sich  ein  Schauspielergeschlecht  zu  erziehen,  dem 
wörtliches  Memorieren,  gehaltener  Vortrag,  gemessene  Aktion  eine  zweite 
Natur  sei.  Nun  ist  es  geschichtlich  nachweisbar,  dafs  in  dieser  unerläfs- 
lichen  Umbildung  der  Kunst  dramatischer  Darstellung  vieles  mit  festem 
Hinblick  auf  die  französischen  Bühnengewohnheiten  geschah.  Wilhelm 
von  Humboldt  hatte  in  den  „Propylaeen"  eine  sehr  eingehende  Schilderung 
des  Pariser  Theaters  und  insbesondere  des  grofsen  Schauspielers  Talma 
gegeben.  Hier  sind  die  tiefsinnigsten  Gedanken  über  das  Wesen  der 
Schauspielkunst  und  über  den  Unterschied  der  französischen  und  deutschen 
Künstler  in  einer  bis  auf  den  heutigen  Tag  unübertroffenen  Art  aus- 
einandergesetzt. Es  lohnt  sich  daher  die  Mühe,  an  dieser  Stelle  ein  paar 
der  gediegenen  Äufserungen  herauszugreifen,  die  für  das  Verständnis  des 
späteren  Versuches,  den  Terenz  und  den  Plautus  zu  neuem  Leben  zu 
erwecken,  nicht  ohne  Bedeutung  sind.  „Bei  allem  Kunstgenufs,"  sagt 
Humboldt,  „macht  die  Einbildungskraft  allein  die  Unkosten;  es  ist  nie 
das  Kunstwerk  selbst  und  allein,  was  uns  entzückt;  es  ist  das  Bild,  das 
wir  durch  dieselbe  begeistert,  vielleicht  ebenso  sehr  in  dasselbe  hinein, 
als  aus  demselben  heraussehen."  An  einer  anderen  Stelle  heifst  es: 
„Man  hat  oft  geklagt,  dafs  es  auf  unserer  Bühne  an  graziösem  und  feinem 
Anstand  fehle;  es  fehlt  aber  mehr:  es  fehlt  das  sinnliche  Moment  neben 
dem  ästhetischen  vollständig.  Denn  für  den  Schauspieler  bleibt  immer 
das  Wesendiche  das,  dafs  er  das  Dichterische  und  Malerische  seiner  Kunst 
nicht  trenne.  Wir  sind  nicht  sinnlich  genug  ausgebUdet,  unser  Ohr  nicht 
musikalisch,  unser  Auge  nicht  malerisch  genug.  Zudem  denken  unsere 
deutschen  Schauspieler  gar  nicht  an  den  Zuschauer,  sondern  spielen  ohne 
Rücksicht  auf  die  Umgebung,  derentwegen  si«  spielen  sollten."  Goethe 
zollte  dem  Aufsatze  Humboldts  den  wärmsten  Beifall  und  fühlte  sich 
durch  denselben  nach  zwei  Seiten  hin  angeregt;  einmal  hoffte  er, 
in    Anlehnung    an    die    hier    ausgesprochenen    Grundsätze,    die    durch 


98  Otto  Francke. 


Begünstigung  des  einseitigsten  Realismus  verderbte  Richtung  der  damaligen 
Dramatiker  zu  beseitigen,  und  zum  anderen  —  worauf  nicht  weniger 
Gewicht  zu  legen  ist  —  die  durch  jene  Bestrebungen  beeinflufste  Kunst 
des  Schauspielers  vollständig  umzugestalten.  So  entstanden  seine  Über- 
setzungen von  Voltaires  Mahomet  und  Tankred*),  um,  wie  er  selbst  sagt, 
die  Schauspieler  in  der  Ausübung  rednerischer  Deklamation  und  in  der 
Übung  fester  Gebundenheit  in  Schritt  und  Stellung  zu  fordern.  Keines- 
wegs war  es  Goethes  Absicht,  undankbar  gegen  die  Schule  Lessings^ 
die  seichte  Nachahmung,  die  geistlose  Regelmäfsigkeit  wieder  aufzubringen, 
welche  einst  die  Wiege  unserer  dramatischen  Kunst  schwer  drückte. 
Schiller  schlofs  sich  von  ganzem  Herzen  auf  der  neueingeschlagenen 
Bahn  an  (sein  Prolog  zu  Goethes  Mahometübersetzung);  in  kurzer*  Zeit 
lieferte  er  seine  Bearbeitungen  von  Shakespeares  „Makbeth",  Gozzis 
„Turandot"  und  Racines  „Phaedra.*'  Die  weimarische  Schauspielerschule, 
die  sich  unter  solchen  Einflüssen  bildete,  war  der  Ausdruck  der  Epoche 
des  hohen  klassischen  Dramas;  ihre  künstlerische  und  geschichtliche  Be- 
deutung ist  eine  unvergefsliche.  Allein  Goethen  genügte  auch  diese  nie 
wieder  erreichte  Höhe  noch  nicht;  er,  der  eine  ganze  Welt  in  sich  fühlte, 
mufste  in  allumfassender  Weise  das  Altertum  auch  auf  dem  Gebiete  des 
Dramas  reproduzieren. 

;  :  Nach  zwei  Richtungen  hin  versuchte  er  schon  im  Jahre  1800  mit 
seinem  Festspiele  „Palaeophron  und  Neoterpe"  eine  Wiederbelebung 
desselben;  einmal  wandte  er  hier  zuerst  den  antiken  jambischen  Trimeter 
an,  allerdings  in  freier  Behandlung,  und  zweitens  führte  er  den  Gebrauch 
der  alten  Masken  wieder  ein,  worin  die  plastische  Seite  des  darzustellenden 
Dramas  gipfeln  sollte.  Es  kam  ihm  vor  allem  darauf  an,  durch  dieses 
Mittel  die  Schauspielkunst  nach  allen  Seiten  hin  zu  vervollkommnen  oder 
vielmehr  sie  ganz  auf  die  Bahn  des  Idealen  hinzulenken.  Zudem  sollte 
das  Publikum,  wenn  auch  erst  im  Scherz,  d.  h.  in  der  Komödie,  an  diese 
Darstellungsform  gewöhnt  werden,  in  der  „die  Persönlichkeit  der 
wohlbekannten  Künstler  vollkommen  aufgehoben  ist",  indem 
sie  andere  Personen  darstellen  und  so  wirklich  als  „fremde  Männer" 
erscheinen.  Auch  Lessing,  der,  um  dies  beiläufig  zu  erwähnen,  den 
Schauspielern  seiner  Zeit  ein  eingehendes  Studium  des  Terenz  mit  Hilfe 
des  Donat  dringend  ans  Herz  legte,**)  hatte  gelegentlich  die  Abschaffung 
der  Masken  bedauert.  „Der  Schauspieler"  —  so  sagt  er  in  der  Hamburger 
Dramaturgie  (56.  Stück,  vom  13. November  1767)  —  „kann  ohnstreitig  unter 

*)  Vgl.  Joh.  Weiss,  Goethes  Tankredübersetzung.  Eine  literarische  Studie,  Troppau  1886. 
**)  Vgl.  Hamburger  Dramaturgie  72.  Stück,  vom  S.Januar  1768. 


Goethes  Versuch,  Plautus  u.  Terenz  auf  d.  weimarischen  Bfihne  heimisch  zu  machen.      99 

der  Maske  mehr  Contenance  halten;  seine  Person  findet  weniger  Gelegen- 
heit auszubrechen,  und  wenn  sie  ja  ausbricht,  so  werden  wir  diesen 
Ausbruch  weniger  gewahr."  Von  der  Naturwahrheit  also  sollten  so 
Schauspieler,  wie  Publikum  zur  Kunstwahrheit  erhoben  werden,  um  einen 
charakteristischen  oder  schönen  Kunststil  auf  dem  Theater  begründen  zu 
helfen.  Die  Aufführung  von  „Palaeophron  und  Neoterpe"  aber  bereitete, 
wie  Goethe  in  den  „Annalen  oder  Tag-  und  Jahresheften'*  (von  1800) 
schreibt,  ,Jene  Maskenkomödien  vor,  die  in  der  Folge  eine  ganz  neue 
Unterhaltung  Jahre  lang  gewährten." 

Von  den  angedeuteten  Grundsätzen  geleitet,  mochte  sich  Goethe 
nunmehr  der  oben  angeführten  Briefetelle  Schillers  erinnern,  und  so 
veranlafste  er  einen  in  dem  weimarischen  Hof-  und  Gelehrtenkreise  mit 
Recht  aufserordentlich  geachteten  und  ihm  selbst  nahe  befreundeten 
Mann,  den  Kammerherm  Friedrich  Hildebrand  von  Einsiedel,  die 
„Adelphi"  des  Terenz  für  die  deutsche  Bühne  im  Versmafs  des  Originals 
zu  bearbeiten.  Die  Wahl  eben  dieses  Stückes  mochte  von  Schiller 
beeinflufst  worden  sein;  sicher  zeigte  sie  den  verständigen  Kenner. 
Man  weifs,  dafs  gerade  „die  Brüder"  nach  Anlage  und  Ausfuhrung  das 
am  feinsten  durchgeführte  Lustspiel  des  alten  Komikers  ist.  Das  Stück 
mit  seinem  Reichtum  an  feinen  Motiven,  mit  seiner  trefflichen  Charakter- 
zdchnung  war  zu  einer  Bearbeitung  in  deutscher  Sprache  durchaus 
geeignet,  daher  man  sicherlich  viele  Stellen,  die  der  Kenner  des  Originals 
sich  zwar  ungern  entrissen  sieht,  bei  der  Aufführung  gar  nicht  vermifst 
haben  mochte.  Übrigens  hatte  sich  Einsiedel  die  Sache  nichts  weniger 
als  leicht  gemacht.*)  Man  kann,  den  Terenz  in  der  Hand,  der  Über- 
setzung Schritt  für  Schritt  folgen,  und  wenn  man  hier  etwas  ausgelassen, 
dort  etwas  zugesetzt  findet,  so  entdeckt  man  doch  zugleich  auch,  dafs 
der  Grund  davon  im  regen  Gefühl  des  für  die  moderne  Zeit  Schicklichen 
und  Ausfuhrbaren  lag.  Oft  findet  man  den  Ausdruck  etwas  verstärkt, 
das  Komische  etwas  freigebiger  aufgetragen.  Aber  nur  selten  schreitet 
dieses  über  die  feine  Linie  des  klassischen  Altertums  zum  Modernen 
herüber,  und  selbst  dabei  ist  der  passendste,  gangbarste  Ausdruck  fast 
überall  glücklich  gefunden  worden. 

Die  erste  Auflfuhrung  war  einem  besonderen  Festtage  vorbehalten. 
Sie  erfolgte  am  24.  Oktober,  am  Geburtstage  der  verwitweten  Herzogin 
Amalie  von  Weimar;  und  Goethe  schreibt  davon  in  den  „Tag-  und  Jahres- 
heften" (zu  i8ot):  „Am  24.  Oktober,  als  am  Jahrestag  des  ersten  Masken- 
spiels, „Palaeophron  und  Neoterpe",   wurden  die  „Brüder",    nach 

*)  Vgl-  „Zeitschrift  för  die  eleg;ante  Welt"  vom  la.  November  1801,  S.  X096. 


100  Otto  Francke. 


Terenz  von  Ein  sie  de  1  bearbeitet,  aufgeführt,  und  so  eine  neue  Folge 
theatralischer  Eigenheiten  eingeleitet,  die  eine  Zeit  lang  gelten,  Mannig- 
faltigkeit in  die  Vorstellungen  bringen  und  zur  Ausbildung  gewisser 
Fertigkeiten  Anlafs  geben  sollten.'*  Es  sei  mir  gestattet,  mit  Benutzung 
der  zwei  zuerst  über  dieses  Ereignis  erschienenen  Berichte,  wie  sie  sich 
in  der  „Zeitung  fiir  die  elegante  Welt"  vom  lo.  und  t2.  November  des 
Jahres  1801  (S.  1088  flf.)  finden,  eine  Schilderung  der  theatralischen 
Darstellung  zu  geben. 

Die  Direktion,  die,  wie  es  an  einer  Stelle  wörtlich  heifst,  so  gern 
alles  unterstützt,  was  den  einfachen,  geläuterten  Geschmack  der  Alten 
wiederherzustellen  vermag,  hatte  von  ihrer  Seite  nichts  imterlassen,  was 
der  Vorstellung  die  höchste  Täuschung  leihen  konnte.  Schon  die 
Dekoration  war  ganz  dazu  gemacht,  in  das  Privadeben  der  Alten  zu 
versetzen.  Die  eine  Hälfte  des  Hintergrundes  nahm  das  Haus  des  Micio 
ein,  das  durch  geschmackvolle  Zierlichkeit  einen  begüterten  Bewohner 
ankündigte,  ohne  durch  seine  Gröfse  oder  Pracht  über  eine  einfache 
und  beschränkte  Nettigkeit  hinauszugehen.  Im  unteren  Stockwerk  waren 
gar  keine  Fenster,  sondern  zu  beiden  Seiten  über  der  Thüre  zwei  Ein- 
senkungen  in  die  Mauer  über  einander ;  die  untere  mit  Figuren,  die  obere 
mit  Zieraten  in  Basrelief  gefüllt.  Über  der  Thüre  war  gleichfalls  eine 
solche  Einsenkung,  und  rechts  und  links  eine  Fensteröffnung,  oben  ein 
breiter  Sims,  das  Dach  platt  und  also  nicht  zu  sehen.  Anstofsend  an 
dieses  Haus  war  ein  niedrigeres  mit  zwei  heruntergehenden  Dächern,  die 
Wohnung  der  armen  Sostrata,  welche  demgemäfs  gar  keine  Verzierungen, 
sondern  blofs  eine  sehr  niedere  Thüre  hatte.  Eine  verständige  Enthalt- 
samkeit war  es,  keine  Aussicht  in  die  Ferne  angebracht  zu  haben,  wobei 
sich,  da  der  Schauplatz  in  Athen  liegt,  architektonische  Pracht  und 
Gelehrsamkeit,  nach  Art  der  Meininger  etwa,  glänzend  hätte  anbringen 
lassen.  AUein  Goethe  hatte  sich  sicherlich  mit  seinem  Freunde 
Heinrich  Meyer,  nach  dessen  Angaben  Dekorationen  und  Costüme 
angefertigt  worden  waren,  im  voraus  über  die  notwendig  einzuhaltenden 
Grenzen  verständigt.  Freilich  wufste  ein  erbitterder  Feind  der  Goethe- 
schen  Direktion  in  einem  kuriosen  Büchlein,  das  im  Jahre  1808  unter  dem 
Titel  erschien:  „Saat  von  Goethe  gesäet  dem  Tage  der  Garben  zu 
reifen"  (Weimar  und  Leipzig)*),  mancherlei  daran  auszusetzen;  indessen, 


*)  Eine  hierher  gehörige  Stelle  aus  dem  seltenen  Büchlein,  welche  auf  die  Auflfuhning 
der  „Brüder^*  Bezug  nimmt,  ist  charakteristisch  genug,  um  hier  mitgeteilt  zu  werden.  Auf 
S.  1 37  f.  heilst  es  so :  „Wahrlich  diese  Deutsch-Atheniensische  Schauspielergesellschaft  trotzt 
recht  auf  die  Milde  des  nachsichtigen  Publikums.     Kaum  hat  es  sich  in   den  Schlaf  gegähnt, 


Goethes  Versuch,  Plautus  u.  Terenz  auf  d.  weimarischen  BQhne  heimisch  zu  machen.     101 

da  man  aus  jedem  Worte  dieser  bissigen  Kritik  persönlichen  Groll  heraus- 
zulesen vermag,  so  will  ich  mit  Anfuhrung  von  Einzelheiten  nicht 
fortfahren.  Mit  gröfster  Einsicht  hatte  man  die  Trachten  und  die  ganze 
Erscheinung  der  Personen  angeordnet. 


so  soll  es  bei  seinem  Erwachen  mit  den  ekelhaftesten  Plattheiten  bewirtet  werden,  welche 
aber  freilich  das  grofse  Verdienst  haben  —  antik  zu  sein.  Der  Raum  dieser  Blätter  erlaubt 
es  ebenso  wenig,  als  der  Plan  dieser  Revision,  ausfuhrlich  darzuthun,  welche  eine  Satire  auf 
den  guten  Geschmack  und  den  gesunden  Menschenverstand  es  ist,  in  unserm  Zeitalter,  wo 
unsere  dramatische  Literatur  Meisterstücke  aufzuweisen  hat,  welche  jedes  Zeitalter  ehren 
würden,  solche  abgeschmackte  zotenhafte  Possen  aufzutischen,   welche  höchstens  beweisen, 

auf  welcher  Stufe  der  Unvollkommenheit  die  dramatische  Kunst  bei  den  Alten  stand 

Ebenso  wenig  werde  ich  mich  dabei  aufhalten,  die  in  die  Sinne  fallende  Unzulänglichkeit 
der  Masken  für  die  Bühne  zu  erweisen,  welche  beinahe  den  gröfsten  Teil  der  Kunst,  die 
Mimik,  gänzlich  ausschlie&en,  sondern  einen  flüchtigen  Überblick  auf  die  Darstellung  selbst 
werfen.**  Auf  diese  allgemeiner  gehaltenen  Bemerkungen  folgt  eine  hämische  Kritik  der 
einzelnen  Schauspieler;  der  Schlufs  des  Ganzen  aber  lautet  (S.  141):  „Ich  schlieise  die 
Revision  dieser  über  alle  Begriffe  elenden  Masken-Darstellung  mit  dem  Bemerken,  dafs  die 
Dekorationen  dem  Übrigen  angemessen  waren.  So  z.  6.  hat  man  auf  der  Strafse  zu  Athen 
eine  Haustüre,  auf  welcher  Perücken  mit  Haarbeuteln  gemalt  waren.'*  —  Wie  unwürdig 
und  boshaft,  zum  mindesten  im  Tone,  die  Kritiken  über  die  weimarische  Bühne  vom  Ver- 
fasser dieses  Pasquills  gehalten  sind,  kann  man  am  ehesten  ermessen,  wenn  man  damit  etwa 
nur  Goethes  Bemerkungen  zu  „einigen  Szenen  aus  Mahomet'^  in  den  „Propylaeen"  III,  1,  S.  169  f. 
oder  Humboldts  zitirten  Aufsatz:  „Über  die  gegenwärtige  französische  tragische  Bühne,** 
ebenda  S.  66  ff.  oder  endlich  die  verschiedenen  ästhetisch-kritischen  Abhandlungen  in  der 
„Zeitung  für  die  elegante  Welt"  in  den  Jahren  i8ox  bis  1815,  besonders  vom  Jahre  1807 
die  Nummer  113,  S.  897  S.  vergleicht.  Gegen  eine  nur  Einzelheiten  tadelnde  kritische  Methode 
mancher  Gegner  der  neuen  Unternehmungen  Goethes  richtet  sich  J.  D.  Falks  Aufsatz: 
„Ueber  die  Iphigenie  von  Göthe  (sie!)  auf  dem  Hoftheater  zu  Weimar"  (in  den  „kleinen  Ab- 
handlungen", Weimar  1803),  wo  sich  auf  S.  n6  die  folgende  Verteidigung  der  Goetheschen 
Betrebungen  fmdet:  „Wer  daher  geneigt  ist  —  und  das  sind  die  Meisten  —  am  Einzelnen 
zu  hängen;  wer  ein  Konzert  nicht  sowohl  nach  dem  Wohllaut  und  Einklang  des  Ganzen,  als 
nach  der  Kostbarkeit  der  Instrumente,  oder  gar  der  Futterale,  worin  sie  gesteckt  sind,  zu 
beurteilen  gewohnt  ist:  der  wird  hier  notwendig  sehr  schlecht  seine  Rechnung  finden,"  wozu 
die  Fulsnote  gehört:  „So  z.  B.  wer  bei  Aufführung  der  „Brüder"  vom  Terenz  aus  kleinlichen 
(sicl)  Pedantisro,  der  unsere  Kunstkenner  noch  immer  chikanirt,  an  Seidenzeug  oder  Atlas 
irre  wird,  und  Anstols  nimmt,  gehört  in  diese  Rubrik.  Die  hiesige  Direktion,  die  sehr  wohl 
weifs,  was  antik  ist,  sucht  dergleichen  Albernheiten,  aus  reinem  Wohlgefallen  und  a  dessein 
alle  drei  bis  vier  Wochen,  förmlich  einmal  zu  briskiren;  denn  Urteile  dieser  Art  hängen 
mit  einer  lächerlichen  Buchstabenkritik,  die,  wo  sie  auf  dem  Theater  gilt,  alles  Grofse  der 
Erscheinung  vernichtet,  nur  zu  genau  zusammen."  Eine  abfertigende  Anzeige  von  dem  merk- 
würdigen oben  genannten  Büchlein  findet  sich  übrigens  in  der  „Bibliothek  der  redenden  und 
bildenden  Künste,  vierten  Bandes  erstes  Stück"  Leipzig  1807,  S.  397  f.  Da  heifst  es  u.  a.: 
„Wie  schwankend  in  Deutschland  überhaupt  noch  die  Urteile  über  theatralische  Vor- 
stellungen sind,  ergiebt  sich  aus  einer  soeben  erschienenen  Schrift,  welche  den  sonderbaren 
Titel  fiihrt:     „Saat  von  Goethe  gesäet,  den  Tag  der  Aeren  zu  reifen"  (sie  II)  .  .  .    Dais  ein 


108  Otto  Pranckc. 


Von  einigen  derselben  können  wir  uns  das  genaue  Bild  vergegen- 
wärtigen, da  in  Einsiedeis  Übersetzung  der  Lustspiele  des  Terenz,  die  in 
Leipzig  1806  bei  Göschen  in  zwei  Bänden  erschien,  acht  von  den  Haupt- 
personen im  bunten  Kostüm  abgebildet  sind.  Die  Masken  der  edleren 
Personen  bestanden  nur  in  Stirn  und  Nase,  die  mit  dem  Haarwuchs  ver- 
einigt und  kunstlich  an  das  Gesicht  angefugt  war,  welches  dadurch  einen 
griechischen  Schnitt  erhielt,  ohne  die  belebte  Bewegung  der  sprechenden 
Züge  einzubüfsen.  Bei  den  Alten  kam  noch  der  Bart  zu  Hilfe,  um  dsis 
Ganze  in  Harmonie  zu  bringen.  So  machte  Graff  als  Hegio  einen  schönen 
Greisenkopf;  Herrn  Vohs  kam  seine  grofse  Statur  sehr  zu  statten,  um 
als  Micio  eine  würdige  Erscheinung  darzubieten:  der  faltenreiche  Mantel 
von  leichtem,  wollenem  Zeuge,  gelblich,  unten  mit  einem  roten  Streifen 
und  goldener  Leiste  verziert,  und  sein  schöner  Wurf  über  die  linke 
Schulter,  so  dafs  der  Arm  ganz  davon  bedeckt  war,  pafst  zu  dem  ruhigen 
Geberdenspiel,  welches  die  Rolle  fordert.  Weniger  vorteilhaft  waren 
die  beiden  Jünglinge  gekleidet,  da  ihre  Chlamys  zu  kurz  und  nicht  falten- 
reich genug  waren.  Desto  vortrefflicher  waren  dagegen  Tracht  und 
Masken  des  Demea  und  der  beiden  karikirten  Hauptrollen,  des  Kupplers 
Sannis  und  des  Sklaven  Syrus  nach  den  noch  vorhandenen  Reliefs  in 
der  Villa  Albani  und  den  herkulaneischen  Gemälden  entsprechend  kopirt 
Demea  hatte  über  einem  violetten  Leibrock  von  steifem  Zeuge  einen 
weitläuftigen  Mantel  von  roter  Wolle,  der  in  reichen  Falten  über  die 
Schultern  zurückgeworfen  war,  und  den  Leib  nebst  beiden  bekleideten 
Armen  freiliefs.  Alles  an  ihm,  die  Art,  wie  er  gegürtet  war  und  den 
Mantel  trug,  die  Stiefeln,  der  grofse  weifse,  auf  den  Rücken  zurück- 
geschlagene Hut,  der  rohe  Baumstamm,  den  er  als  Stab  führte,  zeigte 
den  ländlich  arbeitsamen,  jetzt  zur  Reise  geschürzten  Mann;  sowie  die 
Maske  mit  grofser  starkgebogener  Nase,  und  nach  innen  zu  herunter- 
gezogenen und  stärker  werdenden  Augenbrauen,  durch  Bart-  und  Haar- 
wuchs und  durch  dasjenige,  was  von  der  Physiognomie  des  Schauspielers 
Malcolmi  zum  Vorschein  kam,  unterstützt,  seinen  zornmutigen  Charakter 
offenbarte.  Becker  als  Syrus,  in  echter  Sklaventracht,  hatte  eine  Maske, 
die  das  Oberteil  des  Gesichtes  freiliefs  und  sich  dagegen  mit  breiten  imd 
kupferichten  Backen  unten  herum  anschlofs,  jedoch  ohne  die  Bewegungen 
des  Mundes  im  mindesten  zu  hemmen.    Bei  ihm  stimmten  Gang,  Haltung, 


Schüler  von  Engel  im  Einzelnen  manches  richtige  Urteil  fällt,  ist  natürlich:  nur  den  Witt 
seines  Lehrers  hat  er  sich  nicht  zu  eigen  gemacht,  wie  schon  der  Titel,  und  so  auch  jede 
Seite  seines  Buches  zeig^  das  er,  da  er  ein  Mann  von  gesundem  Verstände  zu  sein  scheint, 
in  kurzem  nicht  geschrieben  zu  haben  wünschen  wird/* 


Goethes  Versuch,  Plautus  u.  Terens  auf  d.  weimarischen  Bflhne  heimisch  zu  machen.     103 

breite  Stellung  der  Beine,  Geberdenspiel  und  Stimme  auf  das  vorteil- 
hafteste zusammen,  um  in  erster  Linie  eine  mit  den  Sitten  der  freien 
Griechen  stark  kontrastirende  Menschenart,  und  dann  die  bestimmte 
Laune  der  Person  zu  verlebendigen.  Die  gegen  das  Parterre  hinge- 
wandten Lazzis,  wenn  es  ihm  gelang,  den  Demea  zu  betrügen  oder  bei 
ähnlicher  Gelegenheit,  verbreiteten  eine  grofse  Behaglichkeit,  und  ihrer 
komischen  Wirkung  war  nicht  zu  widerstehen.  Kurz,  wenn  die  Kunst 
des  Schauspielers  zum  Teil  darin  besteht,  sich  gänzlich,  doch  auf  eine 
in  sich  zusanmienhängende  Art  zu  verwandeln,  so  mufs  Becker  dieselbe 
an  jenem  Abende  in  einem  hohen  Grade  ausgeübt  haben.*) 

Naturgemäfs  muiste  sich  bei  dieser  Gelegenheit  jedem  nachdenkenden 
Zuschauer  die  Frage  aufdrängen,  ob  und  warum  Terenz  gerade  in  Masken 
aufgeführt  werden  mufs,  da  seine  Komödien,  ganz  wie  unser  bürgerliches 
Schauspiel,  das  häusliche  Leben  in  seiner  Wahrheit  abbilden.  Lassen 
wir  einen  Augenzeugen,  den  Kritiker  in  der  „Zeitung  für  die  elegante  Welt" 
(i2.  November  1801)  die  Antwort  daraufgeben.  Derselbe  —  möglicherweise 
war  es  der  bekannte  Rektor  des  weimarischen» Gymnasiums  C.  A.  Böttiger — 
schreibt:  „Die  Notwendigkeit  fühlte  sich  bei  dem  Anblicke  überzeugend; 
aber  das  Vergnügen,  einmal  fremde  und  zwar  für  dieses  Mal  griechische 
Physiognomien  zu  sehen,  möchte  als  Erklärungsgrund  schwerlich  aus- 
reichen. Es  liegt  darin,  dafs  bei  der  komischen  Darstellung  einer 
bestimmten  Nationalität  gewisse  Charaktere  unausbleiblich  wieder  kommen 
müssen.  Erkennt  der  Dichter  dies  nun  an,  setzt  er  den  Charakter  als 
bekannt  voraus,  und  wendet  seinen  ganzen  Scharfsinn  nur  auf  die  sinn- 
reichste Entwickelung  desselben,  so  denkt  er  ihn  schon  in  der  Kom- 
position als  Maske.  So  verhielt  es  sich  in  der  neueren  attischen 
Komödie,  wie  selbst  die  beständige  Wiederkehr  der  Namen  beim  Plautus 
und  Terenz  zeigt,  so  bei  dem  ebenfalls  bürgerlichen  Goldoni  auf 
andere  Weise.  Unsere  bürgerlichen  Schauspieldichter  sind  mit  all- 
gemeiner Wahrheit  nicht  zufrieden;  sie  wollen  porträtmäfsige  Wirklichkeit 
aufstellen,  und  über  diesem  Haschen  nach  Individualität  in  den  Teilen 
fallt  die  Komposition  des  Ganzen  schlecht  aus.  Und  doch  werden  sie 
von  beständig  wiederkehrenden  Charakteren  beschlichen,  ohne  es  zu 
wissen,  noch  zu  wollen.  So  haben  wir  das  muntere  und  schalkhafte, 
und  wiederum  das  zärtlich  empfindsame  Mädchen,  auf  ähnliche  Weise 
wie  Goldoni  sie  zusammenstellt ;  einen  dritten  Charakter  von   eigentümlich 


*)  Vgl.  Ed.  Genast,  Aus  dem  Tagebuche  eines  alten  Schauspielers,  2  Teile,  Leipzig 

1863,  I,   S.  X2I    f. 


104  Otto  Francke. 


deutscher  Empfindung,  das  naive  oder  gänzlich  alberne  Mädchen  haben 
wir  hinzugefugt.  Femer  der  aufbrausende,  aber  gutmütige  Biedermann^ 
der  schlichte  ländliche  Oekonom,  der  Hofrat,  der  Sekretär,  —  sie  sind 
sämmdich  Masken.  (Vgl.  damit  Schillers  Gedicht  „Shakespeares  Schatten**). 
Es  wäre  daher  für  einen  grofsen  Fortschritt  zu  rechnen,  wenn  unsere  Schau- 
spielschreiber und  Schauspieler  erst  bis  zum  Bewufstsein  der  Maskencharak- 
tere hindurchgedrungen  wären:  sie  würden  lernen,  die  Masken  für  sich 
spielen  zu  lassen  und  wiederum  genötigt  sein,  sich  anzustrengen,  um  sie 
gehörig  auszufüllen;  sie  würden  in  ihrer  Darstellung  aus  dem  platten 
Kopieren  der  Natürlichkeit  heraustreten,  und  einen  Styl  gewinnen." 
Und  wieder  auf  die  Aufführung  der  „Brüder"  zurückommend,  fahrt  der 
Kritiker  fort:  „Die  Wiederholung  dieses  theatralischen  Experiments  auf 
andern  Bühnen  mögte  nicht  anzuraten  sein,  da  sich  soetwas  nicht  ohne 
gründliche  Kenntnis  des  Altertums  mit  Geschmack  vereinigt  glücklich 
anordnen  läfst.  Allein  man  freut  sich,  bei  dem  jetzigen  Zustande  unseres 
Theaters,  jeder  Lebensregung;  und  der  Grundsatz  wenigstens,  vermöge 
dessen  auf  dem  Weimarischea  dergleichen  Versuche  am  besten  gelingen, 
nehmlich  die  Unterordnung  der  Teile  unter  das  Ganze,  ohne  welche 
auch  ein  Reichtum  isolirter  Talente  nichts  vermag,  die  Gewöhnung  der 
Schauspieler,  nicht  ihre  Personen,  sondern  das  Stück  als  die  Hauptsache 
zu  betrachten,  das  Zusammenspielen  in  einem  gemeinschaftlichen  Styl  — 
verdient  als  Muster  für  die  allgemeine  Nachfolge  aufgestellt  zu  werden." 
Übrigens  möchte  ich  es  mir  nicht  versagen,  als  Probe  der  Uber- 
setzungskunst  Einsiedeis  nur  den  ersten  Monolog  des  Micio,  der  seines 
Bruders  Dem ea  ältesten  Sohn  Aeschinus  an  Kindesstatt  angenommen, 
hier  mitzuteilen:*) 

„Es  bleibt  ein  wahres  Wort:  „vermissest  du 
Den  Freund,  der  fem  verweilt,  so  segne  sein 
Gestirn,  wenn  ihm  nichts  SchUmmVes  widerfahrt, 
Als  was  mit  Groll  die  junge  Gattin  scheut: 
Nicht,  was  die  Sorge  banger  Eltern  furchtet."  — 
Die  Eifersüchtige  sieht  den  Mann  im  Arm 
Der  Liebe;  beim  Bokal;  im  Rausch  der  Freude; 
Indefs  sie  einsam  harrt,  und  jede  Lust 
Entbehrt.  —  Doch  vor  des  bangen  Vaters  Auge 
Stehen  tausend  Schreckensbilder;  überall 


*)  Die  fiinf  ersten  Verse  dieses  Monologs  finden  sich  in  der  gedruckten  Übersetzung  von 
1 806  auf  nur  drei  reduziert ;  die  obige,  im  übrigen  mit  der  Originalausgabe  übereinstimmende 
Übersetzung  ist  ein  wortgetreuer  Abdruck  aus  der  „Zeit.  £  d.  eleg.  Welt",  1801,  a.  Teil, 
Nr.  135  vom  10.  November. 


Goethes  Versuch,  Plautus  u.  Terenz  auf  d.  weimarischen  BQhne  heimisch  zu  machen.     105 


Schaut  er  in  einen  Abgrund  von  Gefahr. 

Ein  Sturz,  ein  Beinbruch  —  denkt  er  —  hält  den  Sohn 

Zurück!  er  schmachtet  hülflos    —  liegt  vom  Frost 

Erstarrt,  auf  abgelegnem  Wege!  —  Ach! 

Ich  bin  nicht  besser  dran  als  andre  Väter! 

Ein  fremdes  Kind,  der  Sohn  des  Bruders,  macht 

Mir  gleichen  Kummer.     Mein  ganzes  Herz  hängt  an 

Dem  Knaben.     Doch  sein  rauher  Vater  ist 

Mir  fremd  und  fern  —  wir  stimmten  nie  zusammen. 

Mein  frühes  Erbteil  war  ein  milder  Sinn; 

Die  Stadt  gefiel  mir;  ich  gesellte  mich 

Zu  frohen  Leuten,  war  der  Freude  hold. 

Und  fand  es  besser  keine  Frau  zu  haben. 

Doch  Er,  der  Bruder,  nistet  auf  dem  Lande, 

Lebt  karg  und  kümmerlich;  hat  volle  Kasten 

Und  sorg^  und  klagt!  Er  nahm  ein  Weib,  bekam 

Zwei  Knaben,  und  der  Erstgebor'ne  ward 

Mein  Pflegesohn.     Von  Kindheit  an  erzieh' 

Ich  ihn;  ich  halte  ihn;  ich  liebe  ihn 

Wie  meinen  Sohn  —  und  lebe  nur  für  ihn. 

Ich  schenke,  dulde,  schone  —  bin  ihm  nie 

Ein  strenger  Vater.     Ich  gewinne  ihn 

Durch  Freundlichkeit.     Die  Lüge  ist  ihm  fremd. 

Ich  weifs  um  Alles,  was  er  thut,  und  nichts 

Verhehlt  er  mir.     Ich  öffne  sein  Gefühl 

Für  Schaam  und  Ehre;  treib  ihn  nie  durch  Zwang 

An  seine  Pflicht.  —  Die  Sanftmut  schilt  mein  Bruder; 

Sie  ärgert  ihn;  wir  liegen  oft  im  Streit. 

Er  überläuft  mich  oft  und  schnurrt  mich  an, 

Dafs  ich  so  mild  mit  seinem  Sohn  verfahre. 

„Hast  Du  kein  Auge?"  frag^  er  mürrisch;  „merkst 

Du  nichts?  Dein  saub'rer  Pflegling  hält  Mätressen. 

„Er  zecht!  er  spielt;  ist  kostbar  angekleidet. 

„Dem  Allen  siehst  Du  zu?  und  obendrein 

„Schwelgt  er  aus  deinem  eigenen  Beutel!"  —  So 

Eifert  sich  der  harte  Mann.     Er  hält 

Auf  strenge  Zucht;  er  zwingt  Gehorsam.     Ich 

Will  Liebe,  Zuneigung.  —  Die  Strenge  ziemt 

Dem  Herrn  —  dem  Vater  nie.     Der  baut  getrost 

Auf  seiner  Kinder  eigene  Tugend  —  und 


106  Otto  Francke. 


Fährt  wohl  dabei.     Wer  diesen  Weg  verschmäht, 
Verfehlt  das  Ziel,  und  darf  an  Kinderzucht 
Nie  Anspruch  machen."  — 

Man  sieht,  die  Übersetzung  ist  echt  deutsch,  in  Empfindung  und 
Ausdruck,  ohne  dafs  der  Charakter  des  Originals  im  mindesten  wäre 
geschädigt  worden.  Und  die  Aufführung  war,  wie  gesagt,  so  vortrefflich, 
dafs  ein  Kritiker,  wie  Aug.  Wilhelm  v.  Schlegel  sie  als  „einen  wahr- 
haft attischen  Abend"  bezeichnen  konnte. *)  Dafs  auch  das  Publikum 
an  der  Neuigkeit  wirklichen,  über  den  Reiz  der  Mode  hinausgehenden 
Geschmack  fand,  beweisen  die  vielen  Wiederholungen  des  Stückes 
innerhalb  der  Jahre  1801  bis  1807,  in  welcher  Zeit  die  „Brüder"  allein 
vierzehnmal  gespielt  wurden,  während  von  Goethes  eigenen  Dramen 
inder  gleichen  Zeit,  z.B.  der  „Clavigo"  nur  sechsmal,  „die  Geschwister" 
siebenmal,  „Iphigenie"  (erste  Aufführung  am  15.  Mai  1802)  nur  zehn- 
mal (zuletzt  am  26.  Juni  1807)  aufgeführt  worden  sind.**) 

*)  Aug.  Wilh.  y.  Schlegel  schreibt  im  I.  Bd.  seiner  ^ Vorlesungen  Über  dramatische 
Kunst  und  Litteratur**  S.  247  (Böckings  Gesammtausg.,  V.  Bd.)  zur  Sache  folgendes: 

„Unter  anderm  haben  die  Masken  im  Lustspiel  den  Vorteil,  bei  der  unvermeidlichen 
Wiederkehr  der  Charaktere  den  Zuschauem  gleich  in's  Klare  zu  setzen,  was  er  zu  erwarten 
hat.  Ich  habe  einer  Vorstellung  der  „Brüder*'  des  Terenz,  ganz  im  antiken  Kostüm,  in  Weimar 
beigewohnt,  die  unter  Goethe*s  Leitung  einen  wahrhaft  attischen  Abend  gewährte. 
Man  bediente  sich  dabei  partialer,  an  das  wirkliche  Gesicht  geschickt  angefügter  Masken; 
ich  £and  nicht,  dafs  sie  ungeachtet  der  Kleinheit  des  Theaters  der  Lebendigkeit  Abbruch 
thäten.  Besonders  war  die  Maske  der  Spässe  des  verschmitzten  Sklaven  günstig:  er  wurde 
durch  seine  barocke  Physiognomie  wie  durch  seine  Tracht  gleich  zu  einer  eigenen  Menschen- 
art gestempelt,  wie  es  die  Sklaven  ja  der  Abstammung  nach  zum  Teil  wirklich  waren 
und  durfte  daher  auch  anders  sprechen,  sich  anders  geberden,  als  die  übrigen.** 

**)  Vgl.  dazu  Genast,  Aus  dem  Tagebuche  eines  alten  Schauspielers,  LBd.  s.  12  z.  123.  095. 

Sonnabend,  den  24.  October  1801. 

DIE    BRÜDER. 

Lustspiel  in  vier  Aufzügen  nach  Terenz. 


Micio Vohs. 

Demea,  dessen  Bruder Malcolm!. 

Aeschinus,  Demeas  ältester 

Sohn,  Micios  Pflegesohn .  .  .  Cordemann. 
Ktesiphon,  Aeschinus  Bruder, 

Demeas  zweiter  Sohn  ....  Haide. 
Sostrata,  die  Mutter  von 

Aeschinus  Geliebter Teller. 

Canthara,  Sostratas  Vertraute  .  Malcolmi. 


Eine  Sklavin,KtesiphonsGeliebte     Goetz. 
Hegio,  Sostratas  Verwandter 

und  Freund Graff. 

Sirus,  Aeschinus  Diener  ....     Becker. 

Geta,  Sostratas  Diener Schall. 

Sannio,  ein  Sklavenhändler    .  .     Genast. 
Strato      1  r  Bender. 

Dromo      >   Sklaven l  Ehlers. 

Parmeus  j  \  Eilenstein. 

Das  Stück  spielt  in  Athen. 
Darauf  folgte  ein  pantomimisches  Ballet  in  zwei  Aufzügen;  die  Preise  waren  für  Parket 
und  Balkon    12  Groschen,  für  Parterre  8  Groschen  und  für  die  Gallerie  4  Groschen.     Das 


Goethes  Versuch^  Plautus  u.  Terenz  auf  d.  weimarischen  BQhne  heimisch  zu  machen.     107 

Was  Wunder  also,  wenn  Goethe  an  diesen  ersten  wohlgelungenen 
Versuch  die  kühnsten  Hoffnungen  knüpfte,  wenn  er  mit  demselben 
geradezu  eine  Epoche  in  der  Entwickelung  des  weimarischen  Theaters 
bezeichnete?  Daher  schreibt  er  in  seinen  Memoiren:  „Zur  Geschichte  des 
weimarischen  Theaters"  (ii.  Februar  1802),  wie  folgt:  „Auf  dem 
weimarischen  Hoftheater,  das  nunmehr  bald  eilf  Jahre  besteht,  darf  man 
sich  schmeicheln,  in  diesem  Zeiträume  solche  Fortschritte  gemacht  zu 
haben,  wodurch  es  die  Zufriedenheit  der  Einheimischen  und  die  Auf- 
merksamkeit der  Fremden  verdienen  konnte;  es  möchte  daher  nicht 
unschicklich  sein,  bei  dem  Berichte  dessen,  was  auf  demselben  vorgeht, 
auch  der  Mittel  zu  erwähnen,  wodurch  so  manches,  was  andern  Theatern 
schwer,  ja  unmöglich  fallt,  bei  uns  nach  und  nach  mit  einer  gewissen 

Leichtigkeit    hervorgebracht    worden Die    Geschichte    des    noch 

bestehenden  Hoftheaters  möchte  denn  auch  wieder  in  verschiedene 
Perioden  zerfallen.  Die  erste  würden  wir  bis  auf  Ifflands  Ankunft,  die 
zweite  bis  zur  architektonischen  Einrichtung  des  Schauspielhauses,  die 
dritte  bis  zur  Aufführung  der  „Brüder  nach  Terenz**  zählen,  und  so 
möchten  wir  uns  dermalen  in  der  vierten  Periode  befinden."  Welch 
hohen  Wert  Goethe  >  auf  die  Wiedereinführung  der  Maske  legfte,  erhellt 
u.  a.  aus  seinem  anmutigen  Festspiel:  „Was  wir  bringen",  das  er  zur 
Eröffnung    des    neuen   Schauspielhauses   in   Lauchstädt    bei  Halle    (am 


Abonnement  war  aufgehoben  und  die  Vorstellung  begann  ungewöhnlich  V>^  ^^^-  ^^ 
Montag  darauf  fand  im  Abonnement  eine  Wiederholung  der  Brüder  und  des  Ballettes  statt. 
Zum  dritten  Male  wurden  „die  Brüder^^  am  30.  Nov.  1801,  zum  vierten  Male  am  21.  Dez.  1801 
zugleich  mit  dem  darauf  folgenden  „Wallensteins  Lager^^  und  zum  fünften  Male  ebenfalls 
dem  „Lager^*  vorausgehend  am  31.  May  1802,  zum  sechsten  Male  in  Lauchstädt,  den 
27.  Juni  1802  mit  vorausgehendem  Vorspiel:  „Was  wir  bringen"  von  Goethe,  zum  siebenten 
Male  in  Lauchstädt  mit  darauffolgendem  „Bürger-General^^  am  31.  Juli  1802;  zum  achten 
Male  am  22.  August  1802  in  Rudolstadt  mit  darauf  folgendem  „Bürger -General".  Zum 
neunten  Male  in  Weimar  „den  16.  October  1802"  in  Verbindung  mit  dem  „Bürger-General", 
zum  zehnten  Male  in  Weimar  „den  8.  November  1802",  zum  eilften  Male  in  Lauchstädt 
„den  7.  Juli  1803",  zum  zwölften  Male  in  Weimar,  „den  16.  November  1803,"  zum  13.  Male 
in  Weimar,  „den  22.  Februar  1804";  zum  14.  Male  in  Weimar,  „den  6.  Juni  1807",  obgleich 
auf  dem  Zettel  vermerkt  ist,  „zum  Erstenmale";  die  Besetzung  der  Rollen  ist  zum  Teil 
eine  andere,  als  die  bisherige;  überhaupt  hatte  schon  vorher  mancher  Rollentausch  statt- 
gefunden, wie  aus  den  verschiedenen  Zetteln  ersichtlich  ist.  Auch  der  Titel  des  Stückes  ist 
etwas  ge&ndert,  seit  dem  6.  Juni  1807  heisst  er  so:  „Die  Brüder,  Lustspiel  in  vier  Aufzügen, 
nach  Terenz,  mit  Masken".  So  kann  man  von  1 801  — 1807:  14  Aufführungen  der  Brüder 
verfolgen,  während  von  Goethes  Dramen  in  der  gleichen  Zeit  z.B.  derClavigo  nur  sechs 
mal,  die  Geschwister  sieben  mal,  Iphigenie  (erste  Aufführung  am  15.  Mai  1802)  zehn 
mal,  zuletzt  am  26.  Juni  1807)  aufgeführt  worden  sind. 

Ztschr.  f.  verg^l.  Litt.-Gesch.  I,.  o 


108  Otto  Prancke. 


27.  Juni  1812)  geschrieben  hat.  Es  genügt  ein  Hinweis  auf  die  bekannte 
Stelle  im  neunzehnten  Auftritt,  wo  der  Reisende  als  Merkur  die  Aufgabe 
des  ungeduldigen  Knaben  mit  der  Maske,  der  die  Nymphe,  die  Vertreterin 
der  naiven  Sentimentalität,  verfolgt,  also  kommentirt: 

„Wohl  billig  kommt  die  Reihe  nun  an  Dich, 

Doch  produzire  Dich  nur  selbst!  Frisch  und  beherzt 

Hervor  und  sprich:  „Der  Jüngste  bin  ich  dieses  Chors, 

Das  maskenhafte  Spiel,  das  ein  gewandter  Freund 

Aus  Roms  verfallnem  Schutte,  ja  was  mehr. 

Aus  altem  Schulstaub  uns  herangeführt." 

Lafs  Deine  Maske  sehen!  Diese  da! 

Dies  derbe,  wunderliche  Kunstgebild 

Zeigt,  mit  gewalt*ger  Form,  das  Fratzenhafte. 

Doch  dieses  läfst  vom  Höheren  und  Schönen 

Den  allgemeinen,  ernsten  Abglanz  ahnen. 

Persönlichkeit  der  wohlbekannten  Künstler 

Ist  aufgehoben;  schnell  erscheinet  eine  Schaar 

Von  fremden  Männern,  wie  dem  Dichter  nur  beliebt, 

Zum  mannigfaltigen  Ergötzen,  eu*rem  Blick. 

Daran  gewöhnt  euch,  bitten  wir,  nur  erst  im  Scherz; 

Denn  bald  wird  selbst  das  hohe  Heldenspiel, 

Der  alten  Kunst  und  Würde  völlig  eingedenk. 

Von  uns  Kothurn  und  Masken  willig  leihen. 

Ein  Andres  bleibt  uns  übrig,  dieses  holde  Kind, 

Das  Dich  so  schüchtern  floh,  Dir  zu  versöhnen. 

Drum  heb*  ich  meinen  Stab,  den  Seelenfiihrer, 

Berühre  dich  und  sie.     Nun  werdet  ihr, 

Natürliches  und  Künstliches,  nicht  mehr 

Einander  widerstreben,  sondern  stets  vereint 

Der  Bühne  Freuden  mannigfaltig  steigern." 
Durch  diese  Rede  wird  die  scheue  Nymphe  versöhnt  und  so  beglückt, 
dafs  sie  den  kleinen  Genius  mit  der  Maske  liebevoll  umschlingt.  Den 
Gedanken  aber  von  der  soeben  entstandenen  Vereinigung  der  beiden 
Gegensätze  führte  Goethe  weiter  aus  in  dem  berühmten,  an  dieser  Stelle 
folgenden  Sonett:  „Natur  und  Kunst". 

Lediglich  im  Dienste  höherer  Ziele  stand  also  Goethes  Versuch  mit 
den  „Brüdern"  nach  Terenz,  und  die  Erfahrung  hatte  gelehrt,  wie  es 
an  einer  andern  Stelle  mit  Bezug  darauf  heifst,   „dafs  das  Publikum  sich 


Goethes  Versuch,  Plautus  u.  Terenz  auf  d.  weimarischen  Bühne  heimisch  zu  machen.     109 


an  einer  derben,  charakteristischen  und  sinnlich  künstlichen  Darstellung 
erfreuen  könne.  Sind  wir  so  glücklich,  noch  mehrere  antike  Lustspiele 
auf  das  Theater  einzuführen,  dringen  unsere  Schauspieler  noch  tiefer  in 
den  Sinn  des  Maskenspiels,  so  werden  wir  auch  in  diesem  Fache  der 
Erfüllung  unserer  Wünsche  entgegengehen/*  Dazu  sollte  sich  bald 
Gelegenheit  finden.  Als  Goethe  bei  einem  Gastspiele  der  Weimaraner 
zu  Lauchstädt,  Ende  des  Jahres  1802,  in  Halle  den  Canzler  Niemeyer 
kennen  lernte,  veranlafste  er  auch  diesen  zur  Bearbeitung  eines  Terenzischen 
Stückes.*)  Er  hatte  die  Andria  gewählt,  welche  unter  dem  Titel: 
„Die  Fremde  aus  Andros,  Schauspiel  in  fünf  Aufzügen,  nach 
dem  Terenz**  zum  ersten  Male  in  Weimar,  den  sechsten  Juni  1803  auf- 
geführt und  zum  ersten  Male  in  Lauchstädt  am  23.  Juni  desselben  Jahres 
wiederholt  ward,  worauf  sich  Goethes  Bemerkung  in  den  „Annalen** 
bezieht:  „Die  „Andria**  des  Terenz,  von  Herrn  Niemeyer  bearbeitet, 
ward  ebenmäfsig  wie  die  „Brüder**  mit  Annäherung  ans  Antike  aufgeführt. 
Auch  von  Leipzig  fanden  sich  Zuschauer**  u,  s.  w.**) 

Wie  es  scheint,  ist  diese  Bearbeitung  nicht  im  Druck  erschienen, 
noch  uns  handschriftlich  erhalten;  sie  mag  auch  wohl  den  Erwartungen 
nicht  ganz  entsprochen  haben,  da  später  Einsiedel  die  „Andria**  selbst  in 
Angriff  nahm.  Vorher  jedoch  sollte  der  „Eunuch**  noch  für  die  weimarische 
Bühne  gewonnen  werden.  Wer  die  Bearbeitung  dieser  Komödie  durch 
Congreve,  den  einflufsreichen  Dichter  der  englischen  Restaurationszeit 
kennt,  wird  im  Gegensatz  zu  dieser  schmutzigen  und  widerwärtigen  Um- 
gestaltung die  geschickte  Veränderung,  die  Einsiedel  mit  dem  Stücke 
vorgenommen  hat,  billigen  müssen.  Er  hatte  den  „Eunuch**  in  eine 
Mohrensklavin  verwandelt.  Allein  auch  so  mufste  er  kurz  vor  der  Auf- 
fuhrung noch  einige  Änderungen,  die  sich  freilich  nicht  mehr  verfolgen 
lassen,  anbringen,  da  Herzog  Karl  August,  der  sich  die  Handschrift  von 
der  Direktion  hatte  geben  lassen,  sich  gegen  die  unveränderte  Dar- 
stellung auf  seiner  Hofbühne  erklärt  hatte.  ***)     Hierauf  nimmt  Goethe  in 

*)  In  den  „Annalen  oder  Tsig-  und  Jahresheften  zu  1802*'  heilst  es  von  ihm:  —  f,der 
so  thätigen  Teil  unsem  Bestrebung^en  schenkte,  dafs  er  die  Andria  zu  bearbeiten  unternahm, 
wodurch  wir  denn  die  Summe  unserer  Maskenspiele  zu  erweitem  und  zu  vermannigfaltigen 
glücklichen  Anlals  fanden." 

♦•)  Vgl.  hierzu  Schillers  Brief  an  Goethe  vom  21.  Mai  1803.  Weitere  Aufführungen 
dieses  Stückes  fanden  statt  zu  Rudolstadt  am  7.  September  1803,  zu  Weimar  den 
21.  November  1803  und  den  25.  Januar  1804,  dann  muls  dasselbe  vom  Repertoire  ganz 
verschwunden  sein. 

***)  Nämlich  in  seinem  Briefe  an  Einsiedel  von  Anfang  Februar  d.  J.,  welcher  lautet: 
n Verzeih,  alter  Freund,  wenn  ich  eine  Bitte  an  Dich  gelangen  lasse,   die  beinahe  ebenso 

8* 


110  Otto  Prancke. 


seinem  Brief  an  Schiller  vom  5.  Februar  1803  (Nr.  883)  Bezug,  wenn  er 
schreibt:  „Auch  ich  bin  mit  Einsiedeln,  wegen  der  veränderten  Mohren- 
sklavin, völlig  einig  und  erwarte  nur  die  Ansicht  von  höheren  Orten." 
Und  hierher  gehört  auch  ein  noch  ungedruckter,  in  der  Grofsherzoglich 
weimarischen  Bibliothek  befindlicher  Brief  Goethes  an  Einsiedel,  der  von 
Weimar  aus  den  1 2.  Februar  datirt  ist  und  in  welchem  der  Dichter  seinem 
„Freund  und  Bruder",  wie  er  schreibt,  davon  „mit  vielem  Vergnügen 
Nachricht  giebt,  dafs  in  der  gestrigen  Leseprobe  die  Mohrin 
recht  gut  vorbereitet  worden"  u.  s.  w.  „Im  Ganzen,"  schreibt 
Goethe  am  Schlüsse  des  Briefes,*)  „bin  ich  überzeugt,  dafs  es  einen 
recht  guten  Effekt  machen  wird."  Am  Tage  zuvor  hatte  Einsiedel 
an  Knebel  von  Weimar  aus  geschrieben:  „Die  ,Mohrensklavin*  wird 
vielleicht  schon  in  der  nächsten  Woche  gegeben.  Ich  habe  sie  ganz 
und  gar  umgearbeitet:  weil  man  Vieles  noch  sehr  unsittlich  fand  —  ich 
glaube  mit  Recht,  weil  das  Haus  der  Thais  und  ihr  Verhältnifs  zu 
hetärenmäfsig  ist,  und  Chäreas  Triumph  über  die  vidirte  Pamphila  zu 
klar  und  zu  laut.  Der  erste  Akt  ist  ganz  neu  erfunden  und  der  vierte 
fast  auch.  Es  hat  mir  Mühe  gemacht:  doch  nun  ist  die  Mohrensklavin 
ganz  weifs  gewaschen!  Ich  spreche  von  dieser  Arbeit,  weil  Du  Dich 
derselben  so  freundschaftlich  erinnerst."**)  Zum  ersten  Male  wurde  so 
„die  Mohrin,  Lustspiel  in  fünf  Aufzügen,  nach  Terenz"  zu 
Weimar  am  19.  Februar  1803  mit,  wie  es  den  Anschein  hat,  nur  mäfsigem 
Beifall  aufgeführt,  obwohl  das  Stück  in  demselben  Jahre  doch  noch  vier 


unbescheiden  ist  wie  die,  welche  Jehova  an  den  Erzvater  Abraham  adversirte.  Sie  besteht 
in  nichts  Wenigerem,  als  dafs  Du  mir  zuliebe  Deine  „Mohrensklavin^^  nicht  eher  einstudiren 
liefsest,  bis  dafs  ich  ausfuhrlich  mit  Dir  über  diesen  Gegenstand  gesprochen  habe,  was 
baldigst  erfolgen  soll.  Ich  liefs  mir  das  Stück  heute  Nachmittag  von  Kirmfsen  holen,  um 
mir  einen  vergnügten  Abend  zu  machen,  und  las  es  mit  vieler  Aufmerksamkeit  durch.  Ich 
leugne  nicht,  dafs  ich  Deinen  Kunstfleifs  bewunderte,  wie  Du  die  grobe  Antike  zu  einer 
ziemlich  honetten,  schlüpfrigen  Modernen  gesittet  hast;  aber  ich  bekenne  Dir  aufrichtig,  dafs 
ich  nicht  begreife,  wie  mit  unsem  Gewohnheiten  und  Begriffen  das  Stück  auf  einem  Hof- 
theater wird  gegeben  werden  können.  Um  gänzlich  unbefangen  zu  sein,  habe  ich  das  Stück 
alleweile  meiner  Frau  gegeben,  dafs  sie^s  lesen  solle  und  ihre  Meinung  über  die  Ausführ- 
berkeit  desselben  mir  mitteile.  Bis  dahin  gedulde  Dich;  lais  Dir  darum  keine  böse  Nacht 
werden;  sondern  schlafe  wohl.     C.  A," 

*)  Dieser  Brief  soll  zugleich  mit  einem  andern  auf  die  Binsiedelsche  Bearbeitung  des 
„Gespenst  nach  Plautus^^  vom  11.  März.  1807  im  nächsten  Goethejahrbuch  veröffentlicht  werden. 

**)  Vgl.  R.  L.  von  Knebels  „literar.  Nachlafs  und  Briefwechsel**.  Herausgegeben  von 
Varnhagen  von  Ense  und  Th.  Mundt,  3  Bde.,  Leipzig  1835/36.     I,  S.  a47. 


Goethes  Versuch,  Plautus  u.  Terenz  auf  d.  weimarischen  BQhne  heimisch  zu  machen.     11 1 

Wiederholungen  erlel^^e*)  und  die  Schauspieler  Hai  de  als  Thraso  und 
Becker  als  Gnatho  besonders  gerühmt  wurden.  In  dem  Bericht  über 
den  Erfolg  dieses  Stückes,  welcher  sich  in  der  „Zeitung  für  die  elegante 
Welt"  (Nr.  31  vom  12.  März)  findet,  heifst  es  (S.  247)  wörtlich  so: 
„Die  ,Mohrensklavin'  vom  Kammerherrn  v.  Einsiedel,  ist  neulich 
gegeben.  Der  geschmackvolle  Verfasser,  wie  es  sich  erwarten  liefs, 
hat  das  Möglichste  gethan;  aber  wie  es  nun  so  geht,  und  wie  sich  hier 
Jemand  darüber  ausdrückte: 

Heidnisch  zerrissen  und  christlich  geflickt 
Ist  noch  niemals  dem  Verfasser  geglückt. 

Man  müfste  eben  ein  solches  Stück,  mit  dessen  Pivot,  der  Geschlechts- 
liebe, alles  Interesse  steht  oder  fallt,  entweder  gar  nicht  geben,  oder 
dem  Publikum  über  diesen  Punkt  etwas  Herzhaftes  zumuten.  Das  will 
man  aber  nicht ;  und  in  diesem  Nichtwollen  zeigt  sich  eine  grofse  Inkon- 
sequenz  Kurz,  mit  diesem  Eunuchus  iterum  mutilatus  wird,    was 

diesen  Punkt  betrifft,  —  denn,  wie  eingeräumt,  hat  die  Bearbeitung 
anderweitige  Vorzüge  —  Niemand  so  leicht  zufrieden  sein,  aufser  viel- 
leicht dem  Herrn  (sie!)  v.  Kotzebue,  der  sich  neuerdings  der  zehn 
Gebote,  mit  denen  er  sonst  in  seinen  Schriften  ziemlich  brouillirt  war, 
wieder  in  etwas  gegen  die  Schlegel  angenommen."  War  es,  weil  Goethe 
und  Einsiedel  von  dem  nur  schwer  zu  verkennenden  Mifserfolg  der  „Mohrin** 
nicht  vollauf  überzeugt  waren  oder  glaubten  sie,  denselben  durch  die 
Bearbeitung  eines  anderen  Stückes  des  Terenz  wieder  wett  machen  zu 
können:  kurz,  Einsiedel  war  schon  im  nächsten  Jahre  mit  einer  neuen 
Überraschung  zur  Hand:  „Der  Heautontimorumenos  des  Terenz. 
Ein  Lustspiel  in  fünf  Aufzügen"  wurde  auf  dem  weimarischen  Hof- 
theater zum  ersten  Male  am  30.  April  1804  aufgeführt  und  ward  bis  zum 
II.  März  des  folgenden  Jahres  noch  viermal  wiederholt.**)  Auf  welche 
Vorstellung  die  Bemerkung  'Einsiedeis  in  seinem  Briefe  an  C.  A.  Böttiger 
vom  2.  Februar  1821:  „Der  Selbstpeiniger  ist  in  Weimar  aufgeführt 
worden  aber  mit  wenig  Beifall"  Bezug  nimmt,  ist  nicht  recht  verständlicl^ 
da  unter  den  Theaterzetteln  vom  Januar  1821  sich  keiner  findet,  worauf 
der  Selbstpeiniger  angekündigt  ist  Von  den  zwei  übrigen  Lust- 
spielen des  römischen  Komikers,  welche  Einsiedel  in    der   gedruckten 


*)  Zuerst  am  23.  Februar,  dann  am  7.  März,  am  27.  März  und  schlieislich  in  Lauch- 
städt  am  25.  Juli. 

**)  Zuerst  in  Weimar  am  30.  Mai,  sodann  zweimal  in  Lauchstädt  während  des  Juli  und 
zum  vierten  Male  wieder  in  Weimar  den  11.  März  1805. 


112  Otto  Francke. 


Übersetzung*)  herausgab,  hat,  wie  die  Zettel  des  weimarischen  Theaters 
aus  den  fraglichen  Jahren  ausweisen,  keines  auf  der  herzoglichen  Bühne 
eine  Aufführung  erfahren.**)  Dagegen  hat  sich  Einsiedel  später  mit 
Glück  auch  in  der  Übertragung  einiger  Plautinischer  Stücke  versucht.***) 


*)  „Lustspiele  des  Terenz  in  freyer  metrischer  Übersetzung,**  a  Bde.  Leipzig, 
bey  Georg  Joachim  Göschen,  1806. 

**)  Dals  Einsiedel  auch  daran  dachte,  die  zwei  übrigen  Stücke  des  Terenz  auf  die 
weimarische  Bühne  zu  bringen,  geht  aus  seinem  Briefwechsel  mit  C.  A.  Böttiger  hervor,  der 
abgedruckt  ist  im  zweiten  Bäodchen  der  „Literarischen  Zustände  und  Zeitgenossen.  In 
Schilderungen  aus  Carl  August  Böttigers  handschriftlichem  Nachlasse.**  [Herausgegeben  von 
K.  W.  Böttiger,  Leipzig,  F.  A.  Brockhaus  1838.]  Hier  finden  sich  auf  S.  228  ff.  einige  darauf 
bezügliche  Bemerkungen,  wie  z.  B.:  „Dafe  „Phormio**  auf  dem  hiesigen  Theater  gespielt  wird, 
ist  mein  Wunsch,  auch  habe  ich  schon  von  den  Oberen  die  Versicherung  darüt>er.  Wenn 
ich  der  Vorstellung  zuhöre,  giebt  es  mir  immer  Gelegenheit,  dies  und  jenes  zu  bessern**,  und 
dann  weiter:  „Sie  verwöhnen  Ihre  Freunde;  das  beweist  die  Beilage,  die  nicht  ohne  An- 
sprüche an  Sie  erscheint.  Viele  moralische  Sprüche  und  was  auf  den  Hetärenständ  sich  auf- 
fallend bezieht,  habe  ich  übersprungen.  Dies  Bekenntnils  mu(s  ich  über  dies  angeschlossene 
Stück  im  Ganzen  vorauschicken.  Verzeihen  Sie,  dafs  ich  Sie  so  g^ewissenlos  gleich  beim 
Wort  nehme,  indem  Sie  der  „Hecyra**  gedachten.** 

***)  Bereits  Böttiger  hatte  im  zweiten  Bande  des  Neuen  teutschen  Mercur  vom 
Jahre  1801,  S.  218  ff.  «Übersetzungsproben  aus  dem  Plautinlschen  Trinummus** 
veröffentlicht,  die  vorzüglich  gelungen  sind.  Bei  dieser  Gelegenheit  macht  Böttiger  folgende 
beherzigenswerte  Bemerkungen  über  die  Kunst  zu  übersetzen,  die  dem  Geschmacke  des  viel- 
geschmähten Mannes  ein  ehrenvolles  Zeugnis  ausstellen.  Er  schreibt:  nEine  metrische 
Übersetzung  .  .  .  muis  das  Alte  neu  machen,  ohne  es  zu  travestiren  und  ohne  dem  Alten 
ganz  moderne  Begriffe  aufzuheften.  Der  Leser  muls  zu  ihrem  Verstehen  keiner  tiefem  Schul- 
gelehrsamkeit  bedürfen Den    Plautinischen    Text   mit   allen    seinen    Redundanzen, 

Ueppigkeiten  und  Wortspielen  wiederzugeben,  wäre  ebenso  unausführbar  als  abgeschmackt. 
Niemand  unter  uns  könnte  dies  aushalten!     Hier  läfst  sich   nur  durch  Approximationen  und 

Compensationen  zum  Ziel  kommen Verschiedene  Veranlassungen,  die  hier  nichts 

zur  Sache  thun,  bewogen  mich,  einige  Proben  vorzulegen.  Man  wird  ihnen  ihre  schnelle 
Entstehung  ansehen,  und  nichts  wird  leichter  sein,  als  sie  zu  übertreffen.  Aber  sie  sind  auch 
nur  dazu  bestimmt,  um  meine  Vorstellungen  von  den  Pflichten  eines  Plautinischen  Übersetzers 
im  Allgemeinen  anschaulicher  zu  machen.  Weiter  bedarf  es  hier  nichts.  Denn  der  Zdi- 
punkt  ist  da,  wo  sich  von  mehreren  Seiten  rüstige  Wettkämpfer  auch  um  diesen  Preis  in  die 
Schranken  stellen.  'A/at^ip  tw/j;.'*  Es  folgt  dann  die  lebenswahre  und  in  der  That  ganz 
ausgezeichnete  Übersetzung  der  ersten  zwei  Szenen  des  ersten  Aktes,  sowie  der  ersten 
Szene  des  zweiten  Aktes  vom  „Trinummus**.  In  dem  dritten  Band  der  Zeitschrift  vom  Jahre 
1801,  S.  250 — 255  lieferte  Böttiger  eine  Übersetzung  vom  „ersten  Akte  aus  der  Aulularia 
des  Plautus";  und  im  ersten  Bande  der  Zeitschrift  des  Jahres  1802,  S.  7  ff.  findet  sich  die 
„Probe  einer  Übersetzung  des  Grofesprechers**  von  Danz  (aus  Jena).  Angeregt  von  solchen 
„rüstigen  Wettkämpfern",  wie  Böttiger,  Niemeyer  und  vor  allen  Einsiedel  es  waren,  veröffent- 
lichte J.  D.  Falk  seinen  „Amphitruon,  Lustspiel  in  fünf  Aufzügen**,  Halle  1804  mit 
höchst  lesenswerter  Vorrede. 


Goethes  Versuch,  Plautus  u.  Tereos  auf  d.  weiraarischen  Bühne  heimisch  zu  machen.     113 

• 

„Die  Gefangenen,  Lustspiel  in  fünf  Aufzügen  nach  Plautus*' 
wurde  in  Weimar  zum  ersten  Male  am  23.  April  1806  aufgeführt,  blieb 
aber,  wie  Genast  (a.  a.  O.  S.  159)  erzählt,  „in  seiner  Wirkung  weit  hinter 
den  „Brüdern"  des  Terenz  zurück  und  fand  bei  der  Wiederholung  — 
ebenfalls  keinen  Beifall,"*)  obwohl  der  jugendliche  Lessing  die  „Captivi" 
des  Plautus  bekaimtlich  für  das  beste  aller  ihm  bekannten  Lustspiele 
erklärt  hatte.  Noch  weniger  nachhaltig  kann  der  Erfolg  von  Einsiedeis 
Bearbeitung  der  Plautinischen  „Mostellaria"  gewesen  sein,  welche  unter 
dem  Titel:  „Das  Gespenst,  Lustspiel  in  fünf  Aufzügen  nach 
Plautus"  am  29.  April  1807  zum  ersten  und  soweit  die  von  mir  nach- 
gesehenen Theaterzettel  einen  Schlufs  gestatten,  zugleich  letzten  Male 
in  Weimar  aufgeführt  wurde.  Die  Vorbereitungen  zu  der  Aufluhning 
waren  schon  seit  Anfang  des  März  im  Gange,  wie  der  oben  erwähnte 
ungedruckte  Brief  Goethes  an  Einsiedel  vom  11«  März  1807  beweist,  der 
mit  den  Worten  anfangt:  „Die  Rollen  Deines  Stückes,  mein  lieber 
Freund,  sind  ausgeschrieben.  Hierbei  folgt  die  Austeilung, 
wenn  Du  sie  billigst  sie  also  abgehen"  u.  s.  w.  Darauf  antwortete 
Einsiedel  wörtlich,  wie  folgt:**) 

Die  Austheilung  der  Rollen  entspricht  ganz  meinem  Wunsche:  es 
ist  weit  besser,  dafs  Genast  den  Wucherer  spielt,  statt  der  minder 
bedeutenden  Rolle  des  Grumio,  die  ich  ihm  zugedacht  hatte. 

Ich  werde  für  die  Toilette  der  Philematium  glänzende  Beyträge  zu 
verschaffen  suchen;  solche  feine  äufserliche  Zucht  ist  der  Bühne  sehr 
wohlthätig. 

In  der  Leseprobe  werde  ich  mich  einfinden ;  jede  Stunde  ist  mir  recht 

Empfange,  verehrtester  Freund,  meinen  wärmsten  Dank  für  Deine 
Theilnahme)  die  Du  meinem  Stück  zuwendest. 

Donnerstags  den  12  Merz.  1807.  Einsiedel. 

Aufser  diesen  zwei  Stücken  nach  Plautus  war  auch  der  „Trinummus", 
den  Einsiedel  schon  am  4.  September  1806  an  Böttiger  geschickt  hatte, 
zur  Auf!uhrung  in  Aussicht  genommen.  Allein  „das  Genialische  im 
Plautus"  machte  ihn,  wie  er  selbst  in  seinem  Briefe  an  Böttiger  vom 
4.  September  1806  sich  ausdrückt,  diesen  dramatischen  Dichter  schwer 
verstehen.     „Er    erinnert    mich",    schreibt   er   an    den    Allerweltsmann, 


*)  Die  erste  Wiederholung  des  Stückes  erfolgte  am  23.  Juli  1806  in  Lauchstädt;  die 
letzte  AufiÜhrung  fand  statt  am  27.  Februar  1809  zu  Weimar.  Damach  sind  Genasts 
Bemerkungen  I,  S.  159  und  297  zu  berichtigen, 

**)  Ffir  die  gütige  Mitteilung  des  im  Besitze  des  Herrn  Professor  Dr.  Ludwig  Geiger 
befindlichen  Originalschreibens  bin  ich  demselben  zu  yerbindlichstem  Danke  verpflichtet. 


114  Otto  Francke. 


„oft  an  Shakespeare,  der  auch  auf  die  ungewöhnlichsten  Ausdrücke 
und  sehsamsten  Ideen  verfallt  uncji  seine  komische  Kraft  dadurch 
am  vorzüglichsten  äufsert.  Ich  habe  mir  den  sogenannten  grofsen 
Scheller  anschaffen  müssen,  der  auf  Plautus  viel  Rücksicht  nimmt. 
Doch  finde  ich  überall  Schwierigkeiten.  Ihr  freundschaftliches  Wohl- 
wollen hat  mir  allerdings  den  Weg  zu  einem  hülfreichen  Quell  gebahnt, 
wo  ich  meine  Ohnmacht  stärken  kann.  Erlauben  Sie  mir  indefs,  dafs  ich 
Ihnen  aufrichtig  bekenne:  es  dünkt  mich  gar  zu  unbescheiden,  wenn  ich 
meine  Autorschaft  auf  Unkosten  Ihrer  Zeit  übe  —  so  gern  Sie  sich 
auch  aus  Freundschaft  dafür  interessiren  und  —  um  mit  einem  Worte 
Alles  zu  sagen  —  wenn  ich  meinen  Autorvorteil  mit  Verlust  Ihrer 
Zeit  befördern  soll.  Dieser  Gedanke  beschäftigt  mich  um  so  mehr  und 
macht  mich  wirklich  verlegen,  wenn  ich  die  20  Lustspiele  des  Plautus  die 
ich  übersetzen  will,  vor  den  Augen  habe.  Sie  könnten  mir,  verehrtester 
Freund,  diese  Sorge  vom   Herzen  nehmen,  wenn  Sie  an  meinem  Vorteil 

—  der  vom  Absatz  abhängen  und  nächste  Ostermesse  klar  werden  wird 

—  einen  Anteil  anzunehmen,  die  mich  sehr  beruhigende  Gewogenheit 
hätten.  —  Darf  ich  noch  mit  einem  Worte  meiner  Ansicht  gedenken,  mit 
der  ich  den  Plautus  übersetzen  will?  Dielästigen  Wiederholungen,  das  allzu- 
viele  Moralisiren,  und  alles  Schlüpfrige  lasse  ich  vorsätzlich  weg.  Auch 
überspringe  ich  zuweilen  einige  Reden,  wenn  es  mir  unwahrscheinlich 
scheint,  sie  vorzubringen  —  ich  glaube,  dafe  Sie  dies  billigen."  —  — 
Ferner  dürfte  folgende  einem  Briefe  Einsiedeis  an  Böttiger  vom  26.  Dezember 
1806  entnommene  Stelle  von  Interesse  sein:  „Auch  die  gewohnten 
Winterergötzlichkeiten  haben  wieder  begonnen.  Seit  dem  Weihnachts- 
Feste  ist  das  Theater  wieder  geöffnet.  Ich  könnte  es  in  gleichem  Sinne 
auch  eine  Gewohnheit  nennen,  dafs  ich  mich  wieder  mit  dem  Plautus 
beschäftige;  er  steht  des  Morgens  mit  mir  auf  und  würde  am  Abend 
mit  mir  schlafen  gehen,  wenn  ich  bei  Licht  nicht  ein  blinder  Mann  wäre. 
Die  Aulularia  und  Pseudolos  sind  nach  und  nach  fertig  geworden;  wenn 
ich  nicht  ein  todter  Mann  werde,  so  hoffe  ich  den  ganzen  Plautus  in 
vier  Jahren  zu  übersetzen.  Sie  sehen  daraus,  mein  verehrter  Freund, 
welch   eine  Burg  von  Vertrauen  ich  auf  Ihre    grofsmütige  Hülfe    setze.** 

Am  22.  November  des  Jahres  1807  sandte  Einsiedel  den  Rudens 
und  den  Pseudolos  an  Böttiger  und  konnte  ferner  melden:  „Aulularia, 
Stich  US,  Curculio,  Cistellaria  sind  vollendet  und  copirt,  aber  ich  wage 
es  nicht,  Alles  mit  Einemmale  zu  senden.**  Und  in  dem  letzten  der  im 
„literarischen  Nachlafs"  abgedruckten  Briefe  an  Böttiger  (2.  Februar  1821) 
teilt  Einsiedel   ersterem   den  Gedanken  mit,   statt  einer  Gesammtausgabe 


Goethes  Versuch,  Plautus  u.  Terenz  auf  d.  weimarischen  Bühne  heimisch  zu  machen.     115 

des  verdeutschten  Plautus  nur  etwa  acht  bis  zehn  Stücke  davon  unter 
dem  Titel:  „Ausgewählte  Lustspiele  des  Plautus"  drucken  zu  lassen,  ein 
Plan,  der  jedoch  niemals  zur  Ausfuhrung  kam.  Wir  würden  daher  über 
die  letzten  Versuche  Einsiedeis,  auch  den  Plautus  für  die  deutsche 
Bühne  umzugestalten,  kein  Urteil  gewinnen  können,  hätte  uns  der  Zufall 
nicht  zwei  handschriftlich  überlieferte  Stücke  erhalten.  Die  Weimarische 
Staatsbibliothek  besitzt  nämlich  zwei,  vermutlich  von  der  Hand  eines 
Schreibers  angefertigte  Hefte,  von  denen  das  eine  den  Titel  trägt:  „Der 
Geitzhals,  ein  Lustspiel  in  fünf  Akten  nach  Plautus  (Aulularia)",  während 
die  Aufschrift  des  anderen  lautet:  „Der  Schiffbruch  ,Rudens'  von  Plautus". 
Beide  aber,  deren  genauere  Prüfung  ich  einer  späteren  Mitteilung  vorbe- 
halte, sind  die  einzigen  noch  übrigen  handschriftlichen  Zeugnisse  für 
die  Bestrebungen  eines  Mannes,  die  wohl  verdienen,  der  Vergessenheit 
entrissen  zu  werden.  Der  Grofsherzoglich  sächsische  Oberhofmeister 
und  Kammerherr  Friedrich  Hildebrand  von  Einsiedel*),  ein  Mann  von 
echt  adliger  Gesinnung  hatte  bereits  durch  die  im  Jahre  1797  anonym 
erschienenen:  „Grundlinien  zu  einer  Theorie  der  Schauspielkunst," 
den  ihn  ehrenden  Beifall  Schillers  erhalten,  welcher  mit  Bezug  darauf 
an  Goethe  vom  12.  Dezember  1797  schreibt:  „Einsiedeis  Schrift  über  das 
Theater '  enthält  doch  manches  Gutgedachte.  Es  ist  mir  unterhaltend, 
wie  diese  Art  von  Dilettanten  sich  über  gewisse  Dinge,  die  nur  aus  der 
Tiefe  der  Wissenschaft  und  der  Betrachtung  geschöpft  werden  können, 
ausspricht,  wie  z.  B.  was  er  vom  Stil  und  der  Manier  sagt  u.  s,  f."  Es 
war  daher  nur  natürlich,  dafs  Goethe  ihn  zur  Bearbeitung  der  alten 
Komödien  heranzog;  aber,  wie  es  so  häufig  bei  Dilettanten  der  Fall  ist, 
auch  Einsiedel  schofs  schliefslich  über  das  von  dem  grofsenFreund  ins  Auge 
gefafste  Ziel  hinaus,  wenn  er  noch  mehr,  als  die  bereits  aufgeführten 
Stücke  des  Terenz  und  des  Plautus  auf  die  Bühne  zu  bringen  wünschte. 
So  wird  es  wohl  Goethe  selber  gewesen  sei,  welcher  schliefslich  einer 
weiteren  Vermehrung  des  Repertoires  durch  die  Antike  Ende  und  Ziel 
setzte;  und  Karoline  von  Herder  hatte  ohne  Zweifel  Recht,  wenn  sie  an 
Knebel  von  Goethe  schrieb:  „Dafs  Goethe  lebt,  darüber  wollen  wir 
Gott  danken.  Es  möchte  ohne  ihn  nicht  gut  in  Weimar  werden.  Er  ist 
doch  immer,  welcher  Schranken  setzt,  wenn  es  zu  bunt  werden  will."**) 
Jedenfalls  hatte  Goethe  erkannt,  dafs  er  auch  mit  dem  Geschmacke 
des  Publikums  rechnen  mufste,  das  doch  nicht  aus  lauter  Kunstrichtern 

*)  Vgl.  über  ihn  den  Artikel  von  Fritzsches  in  „Weimars  Album  zur  IV.  Säkularfeier 
der  Buchdruckerkunst,  am  34.  Juni  1840,'^  S.  165  ff. 

**)  Caroline  von  Herder  an  Knebel,  21.  Januar  1801. 


116  Otto  Francke. 


bestand  und  zum  grofsen  Teil  jedenfalls  die  IfFlandschen  und  Kotzebueschen 
Rühr-  und  Intriguenstücke  den  in  einer  unbekannten  Welt  spielenden 
Komödien  der  alten  Lustspieldichter  vorzog.  Auch  hatte  er  ja  so  ziemlich 
erreicht,  was  er  wollte.  Man  kennt  Schillers  absprechendes  Urteil  über 
Ifflands  Theaterstücke,  welche  Tieck  mit  dem  Ausdruck:  „rührende 
Trivialitäten  bezeichnete***)  und  mufs  Wieland  beipflichten,  wenn  er  sich 
darüber  also  ausläfst:  „Die  alten  Schauspieler  arbeiten  nie  auf  Illusion. 
Sie  waren  ze^viKot.  Ihr  Spiel  sollte  idealisirtes  Kunstwerk  sein.  Daher 
lassen  sich  Masken  und  all  ihr  Theaterpomp,  in  dem  die  Choragen  sich 
selbst  zu  übertreffen  strebten  erklären.  Unsre  neue  Schauspielkunst 
jagt  dem  leeren  Phantome  nach,  sich  mit  der  vorgestellten  Person  selbst 
zu  identifiziren;  daher  die  höchst  natürlichen  Carikaturen  derlfiland*schen 
Schlafrockstücke,  wobei  man  vor  lauter  Nachahmung  der  lieben  einfaltigen 
Natur  unaussprechlich  platt  und  fade  wird  und  endlich  ganz  vergilst,  da(s 
dramatische  Darstellung  Kunstideal  und  Spiel  dieser  Stücke  Kunst- 
werk ist.****) 

Es  war  daher  bei  Wiederbelebung  der  alten  Maskenkomödie  Goethes 
Bestreben  gewesen,  wie  wir  bereits  im  Vorhergehenden  mit  Goethes 
eigenen  Worten  es  ausgesprochen  haben,  „die  Persönlichkeit  der 
wohlbekannten  Künstler  vollkommen  aufzuheben;**  sie  sollten, 
indem  sie  „andere  Personen**  darstellten  als  „fremde  Männer** 
erscheinen  und  so  „in  ihrer  Darstellung  aus  dem  platten  Copiren 
der  Natürlichkeit  heraustreten**,  um  einen  „Stil  zu  gewinnen**. 
Dafs  diese  Goetheschen  Bestrebungen  lediglich  von  der  reinsten  Kunst- 
begeisterung eingegeben  und  getragen  waren,  dafs  sie  also  nicht  mit 
einem  Schriftsteller***)  Frankreichs,  wo  vor  nicht  langer  Zeit  Augier  und 
Ponsart  die  alte  Komödie  wieder  zu  beleben  versuchten,  kurzweg  „comme 
une  chose  extraordinaire**  zu  betrachten  sind,  dafs  sie  vielmehr  das  Büd 
des  genialen  WoUens  unseres  gröfsten  Dichters  vervollkommnen  und  da(s 
sie  zum  Heile  der  Schauspielkunst  in  jener  Zeit  nicht  am  wenigsten 
beigetragen  haben:  ich  denke,  darüber  kann  für  denjenigen,  der  offienen 
Blickes  eine  vorurteilsfreie  Untersuchung  anstellen  will,  nicht  der  geringste 
Zweifel  obwalten. 


*)  Vgl.  Schiller  an  Goethe,  31.  August  1798. 
♦*)  Vgl.  Böttigers  „litterarischen  Nachlafe"  I,  S.  146. 

***)  Vgl.  F.  Scholl,    Histoire    abrdg^e    de  la    Litt^rature  Romaine,    Paris,   Tome  I 
p.  135.  Anm.  I. 

Weimar. 

••• 


Ästhetik,  Philologie, 
Vergleichende  Litteratur-Geschichte. 


Von 

Josef  Kohler. 


§.    I. 

Dafs  mein  Werk  über  ^Shakespeare  vor  dem  Forum  der  Jurispru- 
denz" (Würzburg  1884)  manchen  Widerspruch  hervorrufen  mufste,  war 
vorauszusehen.  War  doch  das  von  mir  gestellte  Problem,  das  Problem  näm- 
lich :  nicht  die  wirklichen  juristischen  Kenntnisse  des  Dichters,  sondern  die 
in  seiner  Intuition  implicite  enthaltenen  Rechtsideen  zu  analysieren,  das  Pro- 
blem, in  seiner  intuitiven  Schöpfung  die  Entwicklungszüge  der  Weltge- 
schichte aufzuweisen,  ein  ganz  neues*)  —  ein  neues  für  unsere  Zeit;  denn  in 
der  klassischen  Zeit  war  man  diesen  Problemen  sehr  nahe,  und  mit  genialen 
Worten  hat  es  bereits  Schiller  ausgesprochen,  dafs  zwar  jedes  dichterische 
Werk  Charakter  haben  müsse,  —  „aber  der  vollkommene  Dichter  spricht 
das  Ganze  der  Menschheit  aus;"**)  —  fürwahr,  unserer  Zeit  thut  nichts 
nötiger,  als  auf  die  Ästhetik  unserer  grofsen  Geister  zurückzugreifen 
und  dort  anzuknüpfen:  man  wird  dann  erfahren,  dafs  jedes  wahre 
künstlerische  Schaffen  ein  unbewufstes,  intuitives  ist,  dafs  allem  Technischen 
eine  „dunkle  aber  mächtige  Totalidee"  vorhergehen  mufs  und  dafs  es 
eben  die  Sache  des  Dichters  ist,  diese  Idee  „in  ein  Objekt  zu  über- 
tragen" d.  h.  zu  individualisieren;***)  man  wird  erfahren,  dafs  es  nicht 
das  erste  Ziel  des  Dichters  ist,  nach  dem  Effekte  hin  zu  arbeiten  und 


*)  Treffend  ist  diese  Idee   erfa&t   von  Girard,   Noovelle  Revue  historique  de  droit 
fran^ais  et  ^tranger  x886  p.,  238  f. 

**)  Briefwechsel  mit  Goethe,  Brief  vom  27.  März  i8ox.     4.  Aufl.  ü,  379. 
***)  Vergl.  den  erwähnten  grofsartigen  Brief  Schillers  a.  a,  O.  II,  278. 


118  Josef  Kohler. 


buhnenwirksame  Szenen  zu  schaffen,  sondern  dafs  vor  allem  Effekt, 
welcher  ja  doch  nur  ein  Äufserliches  bildet,  eine  innere  Idee  walten 
mufs,  welche  nichts  anderes  ist,  als  die  Wiederspiegelung  des  in  der 
ewigen  Schöpfung  waltenden  göttlichen  Wesens;  man  wird  erkennen 
dafs  eine  solche  Idee  in  dem  Kunstwerk  walten  mufs,  *)  soll  dieses  nicht 
zu  ödem  Flitter,  hohlem  Pathos  oder  humorloser  Witzkomödie  herabsinken. 

§.  2. 

War  einmal  diese  ästhetische  Grundwahrheit  pointiert,  so  mufste 
sofort  ein  Zwiespalt  zu  Tage  treten,  welcher  zwar  von  jeher  innerlich 
bestand,  aber  täglich  klaffender  wird  —  der  Zwiespalt  zwischen 
Ästhetik  und  Philologie. 

Sache  des  Philologen  ist  es,  die  richtige  Lesung  des  Autors  her- 
zustellen; seine  Sache  ist  es,  dem  Autor  und  seiner  Zeit  nachzuforschen: 
die  Lebensschicksale  des  Autors,  die  charakteristischen  Ereignisse  jener 
Zeit  sind  Sache  seiner  Behandlung;  es  steht  daher  auch  ihm  anheim,  zu 
erfassen,  wie  ein  Dichter  im  Rechte  seiner  Zeit  bewandert  gewesen  ist, 
wobei  ihm  allenfalls  ein  tüchtiger  Jurist  behülflich  sein  kann.  Von  dieser 
Forschung  habe  ich  ziemlich  abgesehen,  weil  meines  Erachtens  die  zu- 
fällige Konstellation,  welche  das  Recht  zur  Zeit  des  Dichters  hatte,  auf 
seine  universalhistorische  Richtung  keinen  grofsen  Einflufs  ausübte;  sein 
Geist  erhob  sich  von  der  Zeitlichkeit  der  Erscheinung  zu  den  ewigen 
Ideen,  welche  in  der  Weltgeschichte  walten;  und  ich  halte  es  für  ebenso 
verfehlt,  die  Shakespeareschen  Werke  nach  dem  konkreten  Recht  seiner 
Zeit  zu  messen,  als  sie  zu  messen  nach  einer  speziellen  Kirchen- 
anschauung, welche  in  seinen  Tagen  herrschend  war. 

Eben  in  der  Darstellung  dieser  ewigen  Ideen,  welche  in  dem  Dichter 
walten,  liegt  die  Aufgabe  des  Ästhetikers;  und  wenn  er  diese  Ideen  nach 
der  Seite  der  Rechtsentwickelung  hin  verfolgt,**)  wenn  er  verfolgt,  wie 


*)  Wie  vortrefFlich  sag^  nicht  Schiller  in  dem  Briefe  vom  23.  August  17^4  (in  der 
cit.  Ausgabe  I,  5)  über  Goethe:  „In  Ihrer  richtigen  Intuition  liegt  alles  und  weit  voll- 
ständiger, was  die  Analysis  mühsam  sucht,  und  nur  weil  es  als  ein  Ganzes  in  Ihnen  liegt, 
ist  Ihnen  Ihr  eigener  Reichtum  verborgen ;  denn  leider  wissen  wir  nur  das,  was  wir  scheiden.*^ 
Wie  vortrefFlich  ist  nicht  hier  ausgedrückt,  dafs  das  Genie  die  Welt,  die  Weltgeschichte  mit 
allen  ihren  Faktoren  und  damit  auch  die  Rechtsentwicklung .  unbewufst  in  sich  trägt;  wobei 
es  eines  zweiten  analytischen  Verstandes  bedarf,  um,  was  intuitiv  in  jenem  liegt,  zu  scheiden 
und  dadurch  zur  Erkenntnis  zu  bringen. 

*)  Denn  „Gerechtigkeit  ist  die  Seele  der  Welt,  die  das  Weltall  als  Körper  zusammen- 
hält.^*     Omar  Chajjam,  Lieder  und  Sprüche,  von  Bodenstedt.  S.  42. 


Ästhetik,  Philologie,  vergleichende  Litteratur-Geschichte.  119 

die  Intuition  des  Dichters  mit  dem  Menschenfortschritt  auch  den  Rechtsfort- 
schritt in  Betracht  zieht,  so  ist  dies  eine  ästhetische  Leistung,  welche  aller- 
dings von  der  Forschungsphäre  des  Philologen  abliegt,  aber  nicht  nur  in  das 
Gebiet  der  Jurisprudenz,  sondern  auch  in  das  Gebiet  der  Ästhetik  einschlägt. 

Die  Annahme,  als  ob  nur  dasjenige  den  Ästhetiker  berühre,  was 
zugleich  den  Charakter  philologischer  Forschung  an  sich  trägt,  ist  so 
unrichtig,  dafs  sie  einer  besonderen  Widerlegung  nicht  bedürfte,  böte  sie 
uns  nicht  Gelegenheit,  den  Unterschied  zwischen  Ästhetik  und  Philologie 
und  ihre  beiderseitige  Berechtigung  darzulegen.  Wer  es  versucht,  den 
ästhetischen  Gehalt  eines  grofsen  Dichters,  wenn  auch  nur  nach  einer 
Seite  hin  zu  zergliedern,  und  wer  es  mit  einem  seither  wenig  benutzten 
Apparat  von  Hülfsmitteln  thut,  kann  verlangen,  dafs  seine  Forschungen 
von  Ästhetikern  nach  ästhetischen  Grundsätzen  berücksichtigt  werden; 
und  diejenigen,  welche  das  Gewicht  ihrer  Studien  nicht  in  das  ästhetische 
Erfassen  der  Dichterprobleme,  sondern  in  philologische  Details  verlegen, 
mögen  auf  ihrem  Gebiete  zur  ästhetischen  Erkenntnis  indirekt  beitragen, 
die  ästhetische  Würdigung  des  Dichters  ist  Sache  ästhetischer  Wissenschaft. 

Dafs  die  Ästhetik  als  Wissenschaft  in  den  Banden  der  Philologie 
liegt,  ist  einer  der  Hauptfehler  unserer  deutschen  wissenschaftlichen 
Richtung,  ein  Fehler,  welcher  noch  auf  lange  hinaus  die  wissenschaftliche 
Fortbildung  der  Ästhetik  unterbinden  mufs.  Denn  wenn  zwei  Wissenschaften 
einander  Antipoden  sind  und  in  ihrer  ganzen  Arbeitsmethode  einander 
schroff  gegenüber  stehen,  so  sind  es  Ästhetik  und  Philologie.  Die 
Ästhetik  geht  von  den  Höhen  der  Philosophie  aus;  aus  der  Erkenntnis 
des  Unendlichen,  welches  im  Endlichen  sich  in  tausend  Formen  mani- 
festirt,  entwickelt  sie  den  unendlichen  Gehalt,  der  im  Endlichen  lieget,  und  sie 
weist  nach,  wo  derselbe  in  bedeutenden  charakteristischen  Manifestationen 
hervortritt:  die  Allgewalt  des  Geistes,  welcher  die  Welt  durchleuchtet, 
bricht  in  mehr  oder  minder  getrübter  Gestalt  zu  Tage;  ihn  in  seiner  Rein- 
heit und  seinem  Glänze  darzustellen,  so  dafs  uns  sein  Wirken  in  entzündender, 
erschütternder  Weise  vor  die  Seele  tritt,  dies  ist  Aufgabe  der  Kunst ;  und 
in  dem  Kunstwerke  diese  geistige  Objektivation  des  Göttlichen  nachzu- 
weisen,  dies  ist  Aufgabe  des  Ästhetikers.  Die  Ästhetik  verlangt  daher 
vor  allem  Nachfühlen,  Nachempfinden  des  Kunstwerkes;  sie  verlangt 
aber  weiter  die  Kraft  des  Geistes,  welche  diesem  Gefühlsleben  objektiv 
entgegentritt  und  dasselbe  in  seiner  Qualität  und  Quantität  zu  schätzen 
weifs:  erst  eine  solche  Charakteristik  des  dem  Werke  innwohnenden  und 
in  der  Seele  des  Hörers  resonierenden  Empfindungsgehaltes  eines  Kunst- 
werkes  macht   den  Ästhetiker   aus.     Der  Ästhetiker   steht    daher  dem 


120  Josef  Kohler. 


Kunstwerke  nicht  unmi^elbar  gegenüber,  er  steht  ihm  gegenüber  kraft 
des  durch  das  Kunstwerk  erregten  ästhetischen  Hochempfindens,  er  steht 
ihm  gegenüber  als  einem  Organismus,  welcher  Empfindungen  in  uns 
erregt  und  in  unserem  Gefühlsleben  eine  dem  Werke  adäquate  Stimmung 
hinterläfst;  nur  die  Empfindung  ist  im  Stande,  das  Göttliche  in  sich  auf- 
zunehmen, ebenso  wie  nur  des  Dichters  Intuition,  nicht  seine  reflexive 
Thätigkeit,  Kunstwerke  zu  schaffen  vermag.  Je  feiner  und  empfanglicher 
das  Gemütsleben  angelegt  ist,  desto  mehr  wird  es  nachempfinden  und 
anempfinden  können: 

„Wer  empfinden  und  sich  unterwinden,  zu  sagen,  ich  glaub*  ihn  nicht?" 
Nur  durch  das  Medium  der  Empfindung  hindurch  gelangen  wir  zur 
ästhetischen  Erkenntnis.  Allerdings  ist  mit  dem  Empfinden  noch  nicht 
der  Ästhetiker  gegeben;  sonst  wäre  der  reproduktive  Künstler,  der 
Schauspieler,  der  Musiker  gerade  der  beste  Ästhetiker,  und  dies  ist 
regelmäfsig  gerade  nicht  der  Fall.  Das  Empfindungsleben  hat  der 
Ästhetiker  mit  dem  reproducierenden  Künsder  gemein;  von  nun  an  scheiden 
sich  ihre  Wege:  der  Künsder  hat  das  Empfindangsieben  in  adäquater 
Aufserung  zur  Darstellung  zu  bringen,  der  Ästhetiker  hat  es  zu  analysieren: 
er  hat  die  Art  und  Weise  kundzugeben,  wie  das  Göttliche  in  die  spröde 
Masse  des  Endlichen  seinen  Weg  genommen  hat,  wie  seine  Lebenskraft 
den  öden  Stoff  ergriffen,  ihn  beherrscht,  ihn  veredelt,  ihn  vergeistigt  hat, 
wie  dasselbe  aus  einer  todten  Masse  etwas  lebendes  geschaffen  hat,  von  Geist 
zu  Geist  wirkendes;  der  Ästhetiker  hat,  soweit  es  unserer  philosophischen 
Reflexion  möglich  ist,  die  Gründe  aufzuweisen,  durch  welche  das  Göttliche 
in  dem  Endlichen  wirkt;  er  hat  nicht,  wie  der  Blumenenthusiast,  blofs 
die  Blumen  zu  be^yundern,  sondern,  wie  der  Botaniker,  dieselben  wissen- 
schaftlich zu  analysieren,  er  hat  als  Kunstwerkphysiologe  des  in  dem 
Kunstwerk  waltende  Leben  zu  erklären.  Das  ist  seine  Aufgabe  —  eine 
Aufgabe,  welche  er  nur  erfüllen  kann,  wenn  er  das  Kunstwerk  zuerst  in 
sein  Inneres  aufgenommen  hat  —  ebenso  wie  ein  wissenschaftlicher  Aufsatz 
nur  dann  verstanden  werden  kann,  wenn  man  seine  Sprache  versteht 
und  die  Gedanken  desselben  in  seinem  Innern  zu  rekonstruieren  vermag. 
Daher  kann  selbstverständlich  nur  derjenige  über  die  Ästhetik  eines  Ton- 
werkes handeln,  welcher  selbst  für  Musik  empfanglich  ist,  und  nur  der- 
jenige ist  in  der  Lage,  eine  Dichtung  zu  analysieren,  welchem  innigstes 
Mitempfinden  für  die  Poesie  gegeben  ist. 

Aber  auch  das  andere  Extrem  ist  zu  vermeiden.    Ein  Ästhetiker  kann 
selbst  Dichter  und  Künstler  sein,  aber  er  braucht  es  nicht  zu  sein;  oft 

99 

ist   sogar   gerade    die    Künsdernatur    dem  Ästhetiker  hinderlich.     Denn 


Ästhetik,  Philologie,  vergleichende  Litteratur-Geschichte.  121 

einmal  ist  nicht  jeder  produzierende  Künstler  auch  für  die  Schöpfungen 
Anderer  empfanglich;  wer  den  eigenen  Pegasus  reitet,  hat  nicht  immer 
die  Weite  des  Blickes,  um  auch  dem  Pegasus  anderer  zu  folgen  —  das 
hat  oft  ein  Nichtdichter  in  höherem  Grade,  sobald  er  sich  nur  auf  den 
erhabenen  Standpunkt  gestellt  hat,  von  welchem  aus  er  den  Zug  Anderer 
zu  überschauen  vermag.  Aber  auch  wo  dieser  Mangel  nicht  zutrifft, 
liegt  meist  ein  zweiter  noch  wichtigerer  Mangel  vor:  der  Künstler 
empfindet,  er  empfindet  tief  und  voll,  aber  er  ist  nicht  in  der  Lage, 
diese  Empfindung  zu  analysieren  und  wissenschaftlich  zu  erklären:  er  ist 
Blumenerzeuger  und  Blumenenthusiast,  aber  er  ist  nicht  Botaniker  und 
Fflanzenphysiologe.  Nur  wenigen  Geistern  ist  es  gegeben,  eine  solche 
Vielseitigkeit  zu  erreichen,  dafs  ihnen  auch  dieses  Gebiet  offen  steht. 
Schiller  war  Ästhetiker  und  Dichter,  er  war  sogar  als  Ästhetiker  gröfser 
denn  als  Dichter;  Richard  Wagner  war  Musiker,  Dichter  und  Ästhetiker  zu- 
gleich. Diese  Geister  aber  sind  gezählt,  und  die  Meinung,  als  ob  ein 
Dichteram  besten  einen  andern  Dichter  ästhetisch  erklären  könnte,  ist  grund- 
irrig; der  gröfste  deutsche  Dichter  hat  in  der  Erklärung  des  Hamlet 
bedeutend  fehlgegriffen,  —  da  kann  es  uns  nicht  wundem,  dafs  auch 
manch*  anderer  fehlging,  welcher  noch  kein  Goethe  ist. 

Ist  auf  diese  Weise  festgestellt,  was  der  Ästhetiker  haben  mufs,  dafs 
ihm  nämlich  zu  gleicher  Zeit  künsderisches  Nachempfinden  und  philoso- 
phisches Reflexionsvermögen  zu  Gebote  stehen  mufs,  so  ist  zugleich 
ersichtlich,  wieweit  seine  Studien  von  denen  des  Philologen  verschieden 
sind.  Der  Philologe  ist  vor  allem  Sprachkenner,  und  zwar  zunächst 
Sprachkenner  überhaupt,  sodann  Kenher  der  Spracheigentümlichkeiten 
eines  bestimmten  Autors,  zu  welcher  Kenntnis  auch  die  Kenntnis  der 
Lebensverhältnisse  des  Autors  hinzutreten  mufs,  weil  sie  für  die  Auffassimg 
seiner  Sprachbildung  mafsgebend  sind.  Ein  solches  Studium  des  Lebens 
einzelner  Autoren  führt  zur  äufseren  Litteratur-Geschichte,  und  diese  ist 
vöUig  die  Domaine  des  Philologen.  Eine  korrekte  Ausgabe  des  Schrift- 
stellers zu  schaffen,  die  Zeit  und  Umstände  der  Abfassung  festzusetzen, 
die  Werke  des  Autors  sprachlich  zu  erklären,  die  für  die  individuelle 
Auffassung  des  Autors  mafsgebenden  zeitgeschichtlichen  Momente  anzu- 
merken, das  ist  vöUig  die  Sphäre  des  Philologen;  diese  philologische 
Thätigkeit  ist  diu-chweg  notwendig:  denn  sie  ist  die  Grundlage  eines 
jeden  ästhetischen  Erfassens ;  sie  ist  eine  Thätigkeit,  welcher  der  Ästhetiker 
gewöhnlich  nicht  fähig  ist:  sie  verlangt  vor  allem  Sprachkenntnis,  aber 
nicht  blols  die  gewöhnliche,  sondern  philologische  Sprachkenntnis,   sie 


122  Josef  Kohler. 


verlangt  vor  allem  Detailstudien  auf  dem  Gebiete  der  Biographie  und 
Geschichte;  sie  verlangt  vor  allem  Exaktheit,  Promptitude  und  Akribie. 
Dagegen  verlangt  sie  kein  philosophisches  Versenken  in  den  Geist  des 
Werkes  —  vielmehr  verlangt  sie  grofse  Enthaltsamkeit,  um  nicht  in 
wilde  Hypothesen-  und  Konjekturensucht  auszuarten.  Gerade  was  den 
Ästhetiker  auszeichnet,  dafs  er  die  äufseren  Formen  hintansetzt  und  in 
das  Innere  eindringt,  das  wäre  dem  Philologen  zimi  Verderben.  Der 
Philologe  mufs,  wie  der  Architekt,  uns  zuerst  die  zerfallenen,  durch  die  Zeit 
abgebröckelten  Steine  des  Bauwerkes  suchen  und  nach  den  statischen 
Gesetzen  zusammenfügen;  dann  beginnt  die  Tbätigkeit  des  Ästhetikers, 
welcher  über  den  Baustil  zu  philosophieren  hat;  nicht  als  ob  nicht  auch 
umgekehrt  der  Ästhetiker  dem  Philologen  zu  Hülfe  kommen  könnte, 
sofern  die  aus  anderen  Schriften  geschöpfte  ästhetische  Auffassung  auch 
bei  der  Rekonstruktion  des  Textes  forderlich  sein  kann;  und  auch  das 
ist  möglich,  ja  es  wäre  der  Gipfel  des  Erstrebbaren,  dafs  ein  und  der- 
selbe Forscher  zugleich  Philologe  und  Ästhetiker  wäre,  wie  es  ja  vor- 
kommt, dafs  ein  Forscher  ziugleich  Philologe,  Jurist  und  Historiker  ist. 
Aber  das  ifaufs  festgehalten  werden,  dafs  es  sich  um  zwei  verschiedene 
Wissenschaften  handelt,  mit  verschiedenen  Ausgangspunkten,  mit  ver- 
schiedener Methode  und  verschiedenen  Zielen;  um  zwei  Wissenschaften, 
welche  friedlich  zusammenwirken  und  ineinandergreifen  müssen,  von  welchen 
jede  ihre  Sonderbestimmung  und  ihre  Existenzberechtigung  hat. 

Nichts  ist  daher  sonderbarer,  als  wenn  Ästhetiker  über  die  mühsame 
und  tüchtige  Arbeit  des  Philologen  gering  denken,  aber  auch  umgekehrt 
ist  es  höchst  seltsam,  wenn  Philologen  mit  ihrer  spezifischen  Thätigkeit 
die  ästhetische  Arbeit  bereits  als  vollzogen  erachten  oder  die  Ästhetik 
als  etwas  unsolides  oder  unwissenschaftliches  ansehen,  welches  dem 
Laien,  aber  nicht  dem  Manne  der  Wissenschaft  zukomme,  oder  wenn  sie 
annehmen,  dafs  die  ästhetische  Arbeit  eines  Shakespeareforschers  nicht 
ebenso  bedeutsam  sei,  als  die  Arbeit  des  Philologen,  welcher  die  Texte 
rekonstruiert  oder  das  Zeitalter  der  Schöpfungen  des  Dramatikers  und 
ihre  historischen  Schicksale  erforscht.  Erst  wenn  erkannt  ist,  dafs  beide 
Wissenschaften  ihre  selbständige  Berechtigung  haben,  erst  dann  wird  der 
gegenseitige  Streit,  als  ob  die  eine  oder  andere  Methode  die  richtige 
wäre,  aufhören  —  beide  sind  richtig,  jede  hat  eben  nur  ihre  verschiedenen 
Zwecke  und  Ziele.*)     Der  Philologe  wird  uns  Plato  oder  Bhagavad-Gita 


*)  „Zwischen  Philologie  und  Ästhetik**  sagt  W.  Scherer  am  Schlüsse  seiner  Litteratur- 
geschichte,  „ist  kein  Streit,  es  sei  denn,  dafs  die  eine  oder  die  andere  oder  dafs  sie  beide 
auf  falschen  Wegen  wandeln**.     (Anm.  d.  Red.) 


Ästhetik,  Philologie,   vergleichende  Litteratur-Geschichte.  133 

phSologisch  nahelegen;    aber  nur  der  Philosophe    hat    die  Aufgabe    zu 
erfüllen,  die  Philosophie  der  Inder  und  der  Griechen  zu  rekonstruieren  und 
ihretiefenSchätze  auszubeuten;  ebenso  istesaber  auch  Sache  des  Ästhetikers, 
den  unendlichen  Gehalt  in  den  Werken  der  Dichter  darzulegen:    er  wird 
dem    Philologen   für  jede  Hülfe  dankbar  sein,    er  wird  sich  aber   nicht 
daran  kehren,  wenn  Philologen  es  mifskennen,  dafs^  nachdem  die  philolo- 
gische  Arbeit  gethan  ist,  die  That  des  Ästhetikers  beginnt,  und  dafs  die 
innere  Zergliederung  des  geistigen  Gehaltes  der  Dichtung  dem  Ästhetiker 
und  nur  ihm  obliegt,  er  wird  sich  nicht  daran  kehren,   wenn  etwa  philo- 
logische Forscher  es  verkennen,  dafs  erst  mit  der  ästhetischen  Erklärung 
der  Dichter  verstanden  ist,   und  dafs  eine  Erklärung,  welche  den  universal- 
historischen Gehalt  der  intuitiven  Dichteridee  darlegt,  einen  Beitrag  liefert 
zum  Verständnis  des  Dichters.     Nur    wenn  Philologie  und  Ästhetik  sich 
gegenseitig  als  gleichberechtigte  Wissenschaften  anerkennen,  von  welchen 
jede  ihren   verschiedenen  Beruf  hat,    ihre    verschiedene  Arbeitsmethode 
verfolgt,  nur  wenn  beide  Wissenschaften  ihre  Pflege  finden,  können  beide 
gedeihlich  fortschreiten.     Seit  den  Tagen  Schillers  und  Schlegels  hat  die 
Ästhetik  nicht  diejenigen  Fortschritte  gemacht,  welche  man  nach  diesem 
grofsartigen  Beginne  hätte  erwarten  sollen;  dies  hängt  von  vielen  anderen 
Umständen  ab,  zumeist  aber  davon,  dafs  man  ihre  richtige  Beziehung  zur 
Philologie  verkannt,   dafs  man  übersehen  hat,  dafs  die  philologische  und 
die  ästhetische  Behandlung  eines  Dichters  zwei  Dinge  sind,  welche  sich 
gegenseitig   beeinflussen,    aber    doch    wieder  beide  selbständig  gepflegt 
i?rerden  müssen.     Je  schärfer  die  verschiedenen  Probleme  erfafst  werden, 
um  so  sicherer  können  die  verschiedenen  Ziele  —  um  so  sicherer  auch 
das  letzte  gemeinsame  Endziel  erreicht  werden. 

§.  4. 

Aus  dem  Obigen  geht  von  selbst  hervor,  dafs,  wie  die  Litteratur- 
Geschichte  überhaupt,  so  insbesondere  die  vergleichende  Litteraturgeschichte 
der  Ästhetik  in  die  Hände  arbeitet:  nur  das  Studium  der  Erzeugnisse 
der  verschiedensten  Länder  und  Zeiten  kann  dem  Ästhetiker  die  Viel- 
seitigkeit und  Tiefe  geben,  um  aus  den  konkreten  Manifestationen  der 
Kunst  heraus  zu  den  Grundgesetzen  zu  gelangen.  Wir  müssen  Shakespeare 
und  Äschylus,  Goethe  und  Byron,  Aristophanes  und  Moliere,  Walter 
Scott,  Turgenjew  und  SchefiFel  zugleich  in  Betracht  ziehen,  Homer,  Edda 
und  Kalewala  zugleich  wissenschaftlich  erfassen,  um  zu  einem  ausgiebigen 
Verständnisse  der  Probleme  des  Tragischen  und  des  Humoristischen  zu 
gelangen,  oder  um  die  Grundzfige  der  ästhetischen  Wahrheit  im  Gegen- 

Ztschrft.  f.  vgl  Lttt.-Geach.  I,.  ^ 


124  Josef  Kohler. 


satz  zur  prosaischen  Wirklichkeit  zeichnen  zu  können.  Erst  die  Ver- 
gleichung  setzt  uns  in  den  Stand,  entscheiden  zu  können,  wo  der  wahre 
Realismus  aufhört  und  zum  unkünsderischen  Naturalismus  wird  und  wo 
der  berechtigte  Idealismus  in  vage  Zerflossenheit,  in  schwächlichen 
Quietismus  oder  in  unwahre  Phantastik  übergeht. 

So  ist  es  uns  ermöglicht,  ohne  in  einseitigen  Doktrinarismus  zu  ver- 
fallen, die  ewigen  Prinzipien  der  Kunst  zu  zeichnen ;  so  ist  uns  ermöglicht 
aufzuweisen,  wie  diese  ewigen  Prinzipien  nicht  zur  doktrinären  Erstarrung 
der  Kunst  fuhren,  sondern  eine  Fülle  des  reichsten  Lebens  in  ihrem 
Schofse  bergen,  wie  sie  nicht  die  Träger  einer  einförmigen  Schablone, 
sondern  die  Quelle  sind,  aus  welcher  ein  überreiches  stets  wechselndes, 
aber  doch  innerlich  gesundes  und  wahres  geistiges  Leben  entspriefst 
Und  so  wird  es  endlich  gelingen,  neben  der  äufseren  Litteraturgeschichte 
eine  innere  Litteraturgeschichte,  die  Geschichte  des  menschlichen  Greistes 
in  seiner  ästhetischen  Kunstentwickelung  zu  bieten. 

Der  Ästhetiker  wird  daher  jede  wahre  Leistung  des  Litteratur- 
Historikers  willkommen  heifsen,  er  wird  aber  insbesondere  die  vergleichende 
Litteraturgeschichte  begrüfsen;  und  wenn  seine  Bestrebungen  von  Seiten 
des  Litteraturhistorikers  mit  gleicher  Gunst  aufgenommen  werden,  so  wird 
das  gedeihliche  Zusammenwirken  beider  Teile  es  vermögen,  dem  grofsen 
Ziele  zuzustreben :  der  Erkenntnis  des  menschlichen  Geistes  und  der  Er- 
kenntnis der  in  ihm  waltenden  göttlichen  Macht 

Würzburg. 

f 


..».- 


Die  ästhetische  Naturbeseelung 
in  antiker  und  moderner  Poesie. 


Von 

Alfred  Biese. 


I. 

Der  Mensch  begreift  niemals,  wie  anthropomorphisch  er  ist"  sagt 
Goethe  einmal  in  seinen  Sprüchen.  Und  in  der  That  vermag  der 
Mensch  bei  Betrachtung  des  Höchsten  wie  des  Geringsten  niemals  die 
Grenzen  seiner  Menschlichkeit  zu  überschreiten;  will  er  ein  konkretes 
Wesen,  und  wenn  es  auch  das  höchste  ist,  sich  vorstellen  oder  begreifen, 
nie  kann  er  völlig  von  sich  selber  abstrahieren;  für  den  Menschen  ist 
immer  wieder  nur  der  Mensch  das  Mafs  aUer  Dinge;  im  eigentlichen 
Sinne  versteht  der  Mensch  aus  dem  Grunde  —  nur  sich  selbst.  Alles 
andere  wird  ihm  erst  verständlich,  deutbar  und  erklärlich,  indem  er  sich 
selbst,  sei  es  nun  anthropopathisch  in  seiner  Geistigkeit  oder  anthro- 
pomorphisch in  seiner  Leiblichkeit,  dem  anderen  aufser  ihm  anpafst  oder 
einfühlt,  sein  eigenes  Wesen  dem  anderen  leiht,  um  so  sich  selbst  nur 
immer  in  dem  anderen  wiederzufinden.  Diese  Fähigkeit  oder  vielmehr 
diese  immanente  Nötigung,  immer  wieder  nur  sich  selbst  in  die  Aufsen- 
dinge hineinzulegen,  um  sie  völlig  zu  ergründen,  —  die  also  nicht  blofs 
eine  Kraft,  sondern  zugleich  eine  Schranke  menschlichen  Wesens  be- 
zeichnet, —  dieser  Prozefs  des  Anpassens  und  Einfuhlens  erstreckt  sich 
auf  Personen  wie  auf  leblose  Dinge.  Wie  tiefen  Sinn  hat  unser  Wort 
Mitleid!  Wenn  wir  den  Schmerz  des  Freundes  nachempfinden,  so  ver- 
setzen wir  uns  in  ihn,  denken  uns  ganz  in  seine  Lage  und  Stimmung 
hinein,  d.  h.  eben  leiden  mit  ihm. 

Mitleid  und  Furcht  bedingen  die  Wirkung  der  Tragödie,  jene  beruht 
also  wesentlich  auf  solcher  Supponierung  des  eigenen  Ichs  in  ein  anderes. 
Aber  auch  jedes  Verständnis  des  Schönen  überhaupt  setzt  solche  Uber- 

9* 


126  Alfred  Biese. 


tragung  voraus,  die,  wenn  Verwandtes  zu  Verwandtem  harmonisch  sich 
findet,  zum  ästhetischen  Genufs  fuhrt. — Das  bekannte  Wort  der  g^echischen 
Philosophie  tlfuoiov  bfioup  pp/afoxerat  „Gleiches  wird  nur  durch  Gleiches 
erkannt"  bedeutete  bei  den  Pythagoräern,  dafs  der  mathematisch  gebildete 
Verstand  das  Organ  der  Erkenntnis  des  mathematisch  geordneten  Kosmos 
sei.  Aber  er  läfst  sich  auch  zu  einem  Fundamentalsatz  der  Ästhetik 
machen.  Der  Reiz  auch  des  kleinsten  lyrischen  Liedes  basiert  auf  der 
Übertragung  des  eigenen  Ichs  in  die  vom  Dichter  gezeichnete  Situation 
oder  Stimmung,  auf  diesem  Widerspiel  von  Subjekt  und  Objekt,  auf  dem 
geheimnisvollen  Rapport  zwischen  dem  Anschauenden  und  dem  Ange- 
schauten. Es  beruht  eben  alles  im  Leben  des  Geistes  auf  Apperzeption. 
Nur  das  reizt  zum  Schauen,  zum  Nachdenken,  zum  Nachempfinden,  was 
eine  verwandte  Saite  in  unserm  Innern  in  Schwingung  versetzt.  ^Du 
gleichst  dem  Geist,  den  Du  begreifst!"  An  einem  Kunstwerk,  mag  es 
nun  ein  musikalisches,  plastisches,  poetisches  oder  malerisches  sein,  haben 
wir  nur  dann  echtes,  rechtes,  von  nachfühlendem  Verständnis  getragenes 
Wohlbehagen,  wenn  sich  die  goldene  Brücke  der  Sympathie  von  unserer 
Empfindung  zu  dem  Gegenstande  der  Betrachtung  hinüberbaut,  wenn 
der  Schönheitsgehalt,  den  der  Künstler  in  sein  Werk  gelegt  hat,  wie 
ein  elektrischer  Strom  hinübergeleitet  wird  in  die  eigene  Seele  und  das 
Heterogene  sich  in  Einklang  löst.  Welche  Wonne  überrieselt  den 
Musikfreund  beim  Hören  einer  schönen  Komposition,  und  wie  durch- 
schauert uns  der  Eindruck  eines  Dramas  oder  eines  Liedes,  wenn  die 
Saiten  unsers  Innern  miterzittern  und  mitklingen  —  denn  das  Schaudern 
ist  der  Menschheit  bestes  Teil,  heifst  es  im  Faust.  Ist  es  die  reinste 
Freude  für  den  sterblichen  Menschen,  zu  produzieren  —  in  welcher 
Kunst  oder  Wissenschaft  auch  immer,  —  wenn  ein  höherer  Geist  ihn 
erleuchtet,  wenn  die  Natur  selbst  im  Künstler  unaufhaltsam  schafft,  mit 
den  regsten  Impulsen,  die  ihm  selber  wie  Offenbarungen  erscheinen, 
so  ist  auch  das  rezeptive  Aufnehmen  des  Schönen  schon  eine  Lust, 
aber  nur  dann  recht,  wenn  es  kein  passives  Empfangen  bleibt,  sondern 
aktiv  die  Gedanken  des  Künstlers  nachdenkt,  sein  Werk  nachschafft. 

Selbst  erfinden  ist  schön;  doch  glücklich  von  andern  Gefundenes, 
Fröhlich  erkannt  und  g^chätzt,  nennst  du  das  weniger  dein? 

fragt  Goethe  in  den  „Vier  Jahreszeiten",  und  in  den  Aphorismen  lesen 
wir  zur  Bestätigung  des  oben  Angedeuteten:  „Wir  wissen  von  keiner 
Welt  als  in  Bezug  auf  den  Menschen;  wir  wollen  keine  Kunst,  als  die 
ein  Abdruck  dieses  Bezuges  ist*'  und  weiter:  „Suchet  in  euch,  so  werdet 
ihr  alles   finden,   und  erfreut  euch,  wenn  da  draufsen,   wie  ihr  es  immer 


Die  ästhetische  Naturbeseelun^^  in  antiker  und  moderner  Poesie  I.  127 

heifsen  möget,  eine  Natur  lieget,  die  Ja  und  Amen  zu  allem  sagt,  was 
ihr  in  euch  selbst  gefunden  habt."  —  Und  fürwahr,  die  Natur  bringt  dem 
menschlichen  Geiste  zum  nachempfindenden,  nachschaffenden  Verständnis 
noch  weit  weniger  entgegen  als  die  Kunst;  daher  mufs  der  Mensch  das 
Meiste  selbst  hinzuthun.  Der  Zauber  einer  Landschaft  besteht  wesentlich 
darin,  dafs  sie  uns  wiederzustrahlen  scheint,  was  wir  selbst  an  Geist, 
Gemüt,  Stimmung  in  sie  hineingelegt  haben. 

Sich  selbst  nur  sieht  der  Mensch  im  Spiegel  der  Natur, 
Und  was  er  sie  befragt,  das  wiederholt  sie  nur, 

sag^  Rückert,  und  Ebers  mahnt: 

Ja  legt  nur  in  die  ewige  Natur 
Aus  Geist  und  Herzen  euer  Bestes  nieder, 
Sie  giebt  euch  alles,  alles  —  wartet  nur  ^ 
Mit  vollen  Händen  tausendfältig  wieder. 

Erst  wirklich  schön  wird  die  Natur  im  Auge  des  Beschauers,  in  der 
Seele  des  Menschen,*)  der  sein  eigenes  Empfindungsleben  in  die  an  und 
für  sich  starre,  tote  Natur  taucht.  Und  da  dieses  immer  wechselt  in  den 
Jahrhunderten,  so  hat  auch  jedes  Zeitalter  nicht  blofs  seine  eigene  Welt- 
anschauung, sondern  auch  seine  eigenartige  Naturanschauung,  sein  eigenes 
„landschaftliches  Auge^^  wie  Riehl  es  in  seinen  schönen  Kulturstudien 
nennt.  Die  Natur  bleibt  kalt,  wenn  nicht  ein  Strom  seelischen  Lebens 
durch  sie  hindurchgleitet,  sie  belebt  und  beseelt 

Schön  ist,  Mutter  Natur,  deiner  Erfindung  Pracht, 
Auf  die  Fluren  verstreut,  schöner  ein  froh  Gesicht, 
Das  den  grolsen  Gedanken 
Deiner  Schöpfung  noch  einmal  denkt. 

Die  Entwickelungsgeschichte  antiken**)  und  modernen  Naturgefiihls 
lehrt,  da£s  immer  ein  hochentwickeltes  Gedanken-  und  Empfindungsleben 
erst  der  Natur  eine  Sprache  leiht,  dafs  nur  der  in  ihr  ein  Spiegelbild 


*)  Vischer  sagt  in  seinen  Krit.  G.  N.  F.  V,  p.  183:  So  grofs  ist  auch  das  Grofsartigste 
nicht  in  der  Natur,   dafs  es  wirken  könnte,  wo  die  Gemfltslage  nicht  darauf  eingerichtet  ist 

**)  Ich  verweise  auf  mein  Buch  „Die  Entwicklung  des  Naturgefühls  bei  den  Griechen 
und  Römern",  Teil  I,  Kiel,  Lipsius  &  Tischer  1882  (£.  d.  N.  bei  d.  Griechen.  Erstes  Kapitel: 
Das  naive  Naturgeföhl  in  Mythologie  und  bei  Homer;  zweites  Kapitel:  Das  sympathetische 
Naturgef&hl  in  Lyrik  und  Drama;  drittes  Kapitel:  Das  sentimental-idyllische  NaturgefQhl  des 
Hellenismus  und  der  Kaiserzeit),  Teil  II,  Kiel  1884  (E.  d.  N.  bei  d.  Römern.  Erstes  Kapitel: 
Das  mythologische  NaturgefQhl  und  die  Poesie  im  ersten  Zeitalter  der  Republik;  zweites 
Kapitel:  Lucretius.  Cicero.  Catullus  (sympathetisches  Naturgefühl);  drittes  Kapitel:  Das 
elegisch-idyllische  NaturgefÜhl  im  Augusteischen  Zeitalter;  viertes  Kapitel:  Die  gesteigerte 
Sentimentalität  der  Kaiserzeit). 


1 


128  Alfred  Biese. 


seines  eigenen  Ichs,  einen  mitfühlenden  Freund  sieht,  in  sie  mit  sympathe- 
tischem Genufs  sich  versenkt,  mit  Andacht  und  Begeisterung  sich  in  die 
Anschauung  derselben  vertieft,  der  kraft  seiner  Geistes-  und  Herzens- 
Bildung  eben  eine  Welt  von  Ideen  und  Stimmungen  zu  der  Welt  der 
Erscheinungen  in  Beziehung  zu  setzen  vermag.  Und  vor  allem  unter 
dem  Zauberstabe  der  dichterischen  Phantasie  löst  sich  der  Bann,  der  über 
der  Natur  liegt,  da  beginnt  sie  zu  erwarmen  wie  der  Stein  am  Herzen 
des  Pygmalion  — 

Da  lebte  mir  der  Baum,  die  Rose, 
Mir  sang^  der  Quellen  Silberfall; 
Es  fühlte  selbst  das  Seelenlose 
Von  meines  Lebens  Wiederhall. 

In  des  Dichters  Gesänge  leben  die  Wälder,  die  reifsenden  Ströme, 
die  schnellen  Winde  —  willenlos  fiigt  sich  die  Natur  dem  gottbegnadeten 
Sänger,  wie  es  keine  Sage  schöner  symbolisiert  hat,  als  die  von  Orpheus, 
der  mit  dem  Schmeichelton  der  Saiten  die  horchenden  Wälder,  Flüsse 
und  Tiere  mit  sich  führte.  Und  in  wem  nicht  selbst  etwas  vom  Künsder 
steckt,  der  wird  nie  etwas  anderes  in  der  Natur  sehen  als  Blätter,  Bäume, 
Berge,  als  Himmel,  Wasser,  Erde.  Der  einfache  Naturmensch,  der  sich 
seine  Mythen  schafft,  ist  unbewufst  ein  solcher  Künstler,  der  alles  Gegen- 
ständliche in  Poesie  wandelt.  Und  wie  unsere  Sprache  eine  abgeblafste, 
immer  mehr  im  Abstrakten  erstarrende  Bildersprache  ist  und  bei  näherer 
Betrachtung  von  mehr  oder  minder  durchsichtigen  Metaphern  durchwirkt 
ist,  so  kommt  derjenige  Dichter  der  sprachschöpferischen  Phantasie 
am  nächsten,  wie  zugleich  der  mythenbildenden,  der  alle  Anschauung 
in  lebensvolle  Metapher  umsetzt,  der  die  Erscheinungswelt  in  konkrete 
Gestalten  mit  individuellem  Gefühlsinhalt  umwandelt.  Mythologie  und 
Poesie  sind  in  ihrem  Kern  eins.  — 

Wie  das  Kind  mit  allen  Gegenständen  seiner  kleinen  Welt  auf  du 
und  du  steht,  zärtliche  Dialoge  mit  Ball  und  Tisch  und  Stuhl  führt,  den 
Stuhl  schlägt,  an  den  es  sich  gestofsen,  und  ihn  streichelt,  um  ihn  zu 
trösten,  wie  es  sein  eigenes  kleines  Füfschen  sogar  als  aufser  ihm 
befindlich,  als  fremd  betrachtet  und  so,  sein  eigenes  Begehren  auf  dieses 
übertragend,  ihm  zu  trinken  und  zu  essen  geben  will,  kurz:  überhaupt 
nur  das  begreift,  was  den  kleinen  Anschauungskreis  nicht  überschreitet 
und  in  das  es  sich  mit  Wollen  und  Fühlen  hineinversetzen  kann:  so 
schafft  auch  der  primitive  kindliche  Menschengeist  seine  Mythen,  indem 
er  allenthalben  das  sich  regende  Leben  oder  die  ein  Leben  voraussetzende 
Bewegung  in  der  Natur  einem  Wesen  zuschreibt,  das  ihm  ähnlich  ist  an 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  moderner  Poesie.    I.  129 

Gestalt  und  an  seelischem  Empfinden.  Alle  Mythologie  ist  andachtsvolle, 
von  religiöser  Scheu  getragene  Symbolik,  welche  die  Aufsenwelt  anthro- 
pomorphisch  oder  anthropopathisch  belebt  und  beseelt.  So  ward  der 
Götterglaube  der  Griechen  zu  jenem  Pandämonismus,  dessen  duftiges, 
poesievolles  Gewebe  die  ganze  Natur  mit  einer  Fülle  erhabener  und 
lieblicher  Wesen  umspann.  Doch  ein  leicht  erkennbarer  Unterschied 
waltet  ob  zwischen  der  mythologischen  und  der  poetischen  Phantasie. 
Jene  vertauscht  die  auf  Grund  des  in  der  Natur  sich  manifestierenden 
Lebens  geahnten  und  geglaubten  Wesen  mit  den  Erscheinungen  selbst: 
die  so  sinnvollen  Personifikationen  werden  zu  Gottheiten,  denen  der 
Mensch  Verehrung  weiht.  Diese  aber  bleibt  ketzerisch,  ihre  Gestalten 
bleiben  Gebilde  freischaffender  Einbildiuigskraft,  bleiben  freier,  schöner 
Schein.  Der  Grieche  sah  in  den  hurtig  dahin  eilenden,  mit  lustigem 
Geplätscher  sich  überstürzenden  WeUen  schöne  Mädchen  {y6/i<pai)  und 
hörte  ihr  silberhelles  Gekicher.  Die  Sonne  war  ihm  nicht  ein  lohender 
Feuerball,  sondern  ein  herrlicher  Jüngling  auf  glänzendem  Wagen  mit 
der  Strahlenkrone  auf  dem  goldgelockten  Haupte  u.  s.  f.  Jede  Bewegung 
in  der  Natur,  jeden  Ton  deutete  er  menschlich  um;  in  Wald  und  Feld, 
in  Meer  und  Seen  waltete  eine  Fülle  von  Dämonen.  „Überall  in  seinen 
Wäldern  und  Grotten,  seinen  Bergen  und  Schluchten,  seinen  Quellen  und 
Wellen  empfing  er  den  Eindruck  eines  Lebens,  eines  anmutigen,  üppigen 
Lebens  so  lebendig,  so  innig,  so  hehr,  dafs  sich  ihm  die  empfundene 
Wirkung  sogleich  in  göttliche  Wirksamkeiten  umsetzte,*)  Der  Himmel 
mit  seinen  Wolken  und  Blitzen  ward  ihm  zum  Wolken  sammelnden  Zeus, 
das  Meer  mit  den  roUenden  und  sich  wild  überschlagenden  Wellen  zum 
Poseidon,  der  mit  eilenden  Rossen  dahinfahrt,  der  Mond,  die  bleiche 
Schwester  des  leuchtenden  Sonnengottes,  zur  wald-  und  jagdfrohen  Artemis, 
indem,  „die  ahnungsvolle  Wirkung  der  irrenden  Mondstrahlen  in  Wald- 
Einsamkeit,  das  Schlüpfende  der  Mondbeleuchtung,  das  Säuseln,  Rascheln, 
Hallen  und  Wiederhallen  im  Walde  in  seiner  Phantasie  zum  Bilde  der 
schlanken,  leichtfufsigen  Jägerin  wurde,  die  mit  ihren  Nymphen  und  ihrer 
Meute  durch  die  Wälder  streift."**)  So  beseelte  der  Grieche  die  ganze 
ihn  umgebende  Natur  und  bevölkerte  sie  mit  den  anmutigsten  Gestalten; 
und  die  Prägfstätte,  aus  welcher  diese  Wunderwelt  hervorging,  war  der 
plastische  Sinn  der  Hellenen,  der  innere  Trieb,  den  empfangenen  Natur- 
eindruck in  eine  klare,  fest  umrissene,  der  Idee  und  Form  nach  harmonische 


*)  Lehrs,  Populäre  Aufsätze  aus  dem  Altertum,  a.  Auflage  1875,  S.  iio, 
*♦)  Vischer,  Ästhetik,  II,  448. 


180  Alfred  Biese. 


d.  h.  schöne  Gestalt  auszuprägen.  Alle  diese  dämonischen  Wesen,  wie 
sie  in  Wald  und  Feld,  im  Strom  und  Meer  ihr  Wesen  treiben,  sind  nichts 
anderes  als  der  ^plastisch-religiöse  Ausdruck  eines  innigen  Natur- 
gefuhls."*)  —  Wie  rührend  sinnvoll  ist  namentlich  in  den  schlichteren 
Mythen,  in  den  Naturmärchen,**)  die  Übertragung  des  Menschlichen  — 
des  Körperlichen  wie  des  Seelischen  —  bis  in  die  Details  der  Natur- 
erscheinung hinein!  Ich  erinnere  nur  an  den  Mythus  von  Narkissos, 
dessen  Kern  nichts  anderes  ist  als  die  Geschichte  der  Narzisse.***)  Jene 
Blume  mit  ihrem  narkotisch  betäubenden  Dufte,  ihrer  kalten,  starren 
Schönheit  senkt  am  Rande  des  Wassers  ihren  Kelch  nach  unten,  ihr 
Abbild  zeigt  der  Wasserspiegel,  sie  scheint  in  Selbstbetrachtung  ver- 
sunken, allmählich  verwelkt  sie,  und  absterbend  gleitet  sie  in  die  Flut 
hinab.  Ahnlich  lassen  sich  die  Mythen  von  Hyakinthos,  von  Endymionf) 
und  Hylas  deuten.  Kurz:  Die  seelischen  Eigenschaften,  die  der  Grieche 
in  der  Natur  den  Gegenständen  vindizierte  und  die  wieder  auf  seine 
eigene  Seele  wirkten,  fafste  er  nicht  auf  als  Eigenschaften  an  einem 
Körper,  sondern  empfand  sie  als  Lebensäufserungen,  als  göttliche 
Wirksamkeiten,  ff)  — 

Aber  auch  wenn  der  Mensch  längst  die  Stufe  naiver  Mythenbildung^ 
überschritten  hat,  kann  er  es  nimmer  lassen,  Gestalt  und  Seele  der  Natur 
zu  leihen,fff)  denn  die  Metapher  ist  kein  poetischer  Tropus,  kein  fremd- 
artiges Ornament,  sondern  eine  notwendige  Form  der  Anschauung  und 
des  Denkens;  aber  sie  ist  nicht  mehr  frommer  Glaube,  sondern  schöner 
Schein.  Es  ist  unmöglich,  das  Sehen  und  Hören  der  Farben-,  Licht-  und 
Tonverhältnisse,  das  Schauen  vom  Beseelen  zu  trennen,    der  Akt,  sagft 

*)  Lehrs  a.  a.  O.     Die  Entwickelung  des  NaturgefÜhls  bei  den  Griechen,  S.  9. 

**)  Z.  B.  von  der  Kalyke  vergl.  Preller,  Griech.  Mythologie,  I,  p.  186,  der  Boline, 
Britomartds  und  Psappha,  vergl.  Kock,  Alcaeus  und  Sappho  p.  93  ff.,  der  Daphne,  Leukothea  u.  a. 

***)  Vergl.  Wieseler,  Narkissos  Goettingen  1856,  bes.  S.  81. 

t)  Welcker,  Götterlehre  I  p.  557;  in  der  Sage  von  Bndymion  und  Selene  ist  der 
Monduntergang  mit  engem  Anschlufs  an  die  Lokalität  des  Latmos-Gebirges  in  Karien 
symbolisiert.  „E^  mufs  ein  reizender  Anblick  sein,"  sag^  derselbe,  „wenn  hinter  der  im  tief- 
blauen Äther  scharf  geschnittenen  Linie  des  herrlichen  Latmos,  der  das  weite  Flufstal  wie 
eine  Mauer  abschliefst,  der  Mond  untergeht  nnd  die  weiisgraue  Felsenwand  mit  zartem 
Schimmer  übergiefst.  Wenn  je,  so  mufs  dort  die  Sympathie,  die  uns  der  Natur  Gefühle  gleich 
den  unsrigen  leihen  läfst,  sich  regen.** 

ff)  Lehrs  a.  a.  O.,  vergl.  auch  die  schöne  Deutung  von  dem  Pan-Mythus  p.  135,  und 
zu  derjenigen  von  den  Nymphen,  speziell  was  die  Grotten  betrifft,  Vischer,  Erinnerungen 
und  Eindrücke  aus  Griechenland,  Basel,  1857,  p.  59:  Grotte  von  Vari. 

ttt)  Vergl.  auch  Carriere,  die  Poesie,  2.  Auflage,  S.  41. 


Die  ästhetische  Naturbeseeluflg  in  antiker  und  moderner  Poesie    I.  131 

Vischer,*)  wodurch  wir  in  dem  Unbeseelten  unserem  Seelenleben  zu 
begegnen  glauben,  ruht  an  sich  ganz  einfach  anf  einem  Vergleichen. 
Das  physikalisch  Helle  vergleicht  sich  dem  geistig  Hellen.  Das  Trübe, 
Düstere  dem  gemüdich  Trüben  und  Düsteren,  dann  aber  legen  wir  — 
ohne  gleichwie  —  geradezu  die  Seelenstimmung  als  Prädikat  dem  seelen- 
losen Gegenstande  bei  und  sagen:  diese  Gegend,  Luft,  dieser  Farbenton 
des  Ganzen  ist  heiter,  ist  melancholisch  u.  s.  f.  Uns  beseelt  ein  unent- 
wickeltes, unbenutztes  Bewufstsein  darüber,  dafs  eigentlich  nur  verglichen 
wird,  während  wir  dem  Scheine  hingegeben  doch  verwechseln  1"  —  So 
scheint  der  Fels  voll  Trotz  in  die  Luft  zu  ragen  —  wir  denken  und 
fühlen  uns  in  ihn  hinein,  passen  uns  ihm  an,  und  so  scheint  er  nicht  nur, 
sondern  er  ragt  voll  Trotz  in  die  Luft  empor.  So  stürzt  sich  der  Bach 
in  ausgelassenem  Mutwillen  den  Berg  hinab,  streckt  der  Baum  sehnsüchtig 
die  Arme  gen  Himmel  oder  senkt  sie  melancholisch  zu  Boden;  der  Regen 
rinnt  mit  schwermütigem  Weinen  durch  das  Laub ;  das  Feuer  breitet  mit 
wütigem  Grimm  sich  über  das  Gebälk,  und  mit  jauchzendem  Jubel  wälzen 
die  von  Eis  befreiten  Wasser  sich  durch  die  duftigen,  leuchtenden  und 
lachenden  Frühlingsauen.  —  Aber  die  äufsere  Natur  würde  nicht  so  zum 
Symbol  eines  menschlichen  Innern  werden,  wenn  nicht  eben  ein  innig 
Verwandtes  zwischen  der  menschlichen  Innenwelt  und  der  Aulsenwelt 
bestände,  wenn  nicht  geheimnisvoll  ein  Geist  uns  in  der  ganzen  Natur 
entgegenträte,  vernehmlich  zu  uns  redete,  ahnungsvolle  Bezüge  in  uns 
weckte,  der  dem  unseren  innig  vertraut  ist.  Ist  alles  Schöne  ausdrucks- 
volle, seelenvolle  Form,  so  wird  es  das  Naturschöne  durch  die  Seele, 
die  der  Beschauer  selbst  ihr  leiht  oder  die  er  andachtsvoll  in  ihr  ahnt 
und  verehrt.  — 

Die  ästhetische  Beseelung  der  Naturerscheinungen  hat  in  antiker  und 
moderner  Poesie  ihre  eigene  Geschichte.  Mit  ihr  thut  sich  ein  immens 
g^oises  Beobachtungsfeld  auf,  wenn  man  die  verschiedenen  Völker- 
Individualitäten  der  pantheistischen  Inder,  der  theistischen  Hebräer,  der 
pandämonistischen  Griechen  und  der  nicht  minder  mannigfaltige  Denkart 
offenbarenden  modernen  Völker  betrachtet.  Zu  dieser  hochinteressanten 
Aufgabe  aus  dem  Bereiche  der  Völkerpsychologie  und  der  vergleichenden 
Geschichte  der  Weltlitteratur  können  die  folgenden  Blätter  nur  skizzenhafte 
Umrisse  bieten.  — 


**)  N.  Kritische  Gänge    5.  Heft   p.  142,    vergl.   Rob.  Vischer,    „Ober  den  optischen 
Ponssinn**,  bes.  S.  20  £f.,  Carl  du  Prel,  Psychologie  der  Lyrik,  p.  94  ff. 


182  Alfred  Biese. 


Während  uns  in  den  Veden  der  Inder  ein  tiefreligiöses  Naturgefuhl 
entgegentritt,  zeigen  uns  die  epischen  Dichtungen  derselben  das  herzlichste 
Verhältnis  der  Menschen  zu  der  Natur,  besonders  zu  Pflanzen  und  Tieren. 
Als  Ausflufs  desselben  göttlichen  Lebens  sind  Mensch  und  Aufsenwelt 
eng  miteinander  verwandt  und  vertraut,  so  da(s  jener  diese  sich  eben&lls 
empfindend  und  mitfühlend  vorstellt  und  ihr  sein  Glück  entgegenjubelt 
oder  sein  Leid  klagt;  Naturschilderungen  nehmen  einen  beträchtlichen, 
selbständigen  Raum  ein ;  auch  im  Drama  spielt  die  Natur  mit.  Teilnahme 
und  Mitgefühl  setzt  der  Mensch  bei  allen  einzelnen  Naturerscheinungen 
voraus.  Wenn  Damajanti  im  Walde  umherirrend  den  verlorenen  Nalas 
sucht  und  des  Waldes  erhöhte  Warte,  den  König  der  Berge,  ragen 
sieht,  fragt  sie  ihn  nach  ihrem  König:  „O  seliger  Berg,  lusttauender, 
Himmelgleich  anzuschauender,  Einsiedlerhort,  o  Beschützer,  Grufs  dir,  du 
Weltbaustützer!  .  .  vom  Glück  geschieden.  Den  Gatten  suchend  ohne 
Frieden,  komm  ich  zu  dir  in  die  Einsamkeit  —  O  umschauender  weit  und 
breit,  Mit  deiner  Gipfel  Tausenden,  Hast  du  den  hierum  hausenden, 
Irgend,  o  höchster  der  Erdenvesten,  Nala  gesehn,  der  Männer  besten? 
Mich  klagen  hörend,  ununterjochter.  Was  tröstest  du  mich  nicht  wie 
deine  Tochter  Mit  einem  Worte  väterlich.  Wo  ist  mein  Gatte,  mein  Nala, 
sprich."  Und  als  sie  zu  dem  Baume  Asoka,  Kummerlos,  kommt,  fleht 
sie :  „Beglückter  Baum  in  Waldesmitte,  Der  du  ragest  nach  Königssitte, 
Von  vielen  Kronen  behangen,  Von  keinem  Kummer  umfangen,  Kummer- 
los, mach  mich  kummerlos!  Hast  du,  o  blühender  Asoka,  Hier  nicht 
gesehn  den  Punjasloka,  Den  Damajantigatten,  Nal,  Den  Nischaderfürsten, 
meinen  Gemahl?".  . 

In  dem  Epos  „der  Tod  des  Sisupala"  von  Maghas  treiben  Pflanzen 
und  Tiere  ein  gleich  üppiges  Liebesleben  wie  die  „vollbusigen,  hüfte- 
schweren Mädchen"  mit  den  glühenden  Männern.  „Der  Berg  Raivataka 
berührt  mit  tausend  Häuptern  den  Äther,  mit  tausend  Füfsen  die  Erde; 
Sonne  und  Mond  sind  seine  Augen;  den  nach  dem  Gekose  mit  den 
eigenen  Gattinnen  lüsternen  Vögeln,  die  vor  Wonne  beben  und  matt  sind, 
gewährt  er  Schatten  mit  den  Lotossonnenschirmen  .  .  .  Wer  in  der  Welt 
erstaunt  nicht,  wenn  er  den  Fürsten  der  Berge  sieht,  der  die  weithin- 
gestreckten  Weltgegenden  und  den  Äther  beschattet,  der  dasteht  mit 
emporragenden  mächtigen  Felszacken,  nachdem  er  die  hohe  Erde  be- 
stiegen, auf  dessen  Spitze  die  Sichel  des  Mondes  zittert."  —  Im  „Urwasi" 
des  Kalidasa  sucht  der  Verlassene  sein  Weib,  fragt  die  Wasservögel, 
den  Bergrücken,  ob  sie  sein  Weibchen  nicht  gesehen;  „Herrscher  du 
der  blaugekehlten  Pfauen,  Solltest  du,  hier  schwärmend  in  dem  Walde, 


Die  ästhetische  Naturbeseeluog  in  antiker  und  moderner  Poesie  I.  188 

Ja  mein  liebes  Weibchen  schaun,  O  verkünd'  es  mir,  ich  flehe,  balde, 
baldel  Höre  zu,  ich  will  sie  dir  jetzt  nennen:  Ihr  Gesicht  ist  wie  des 
Mondes  Angesicht  .  .  .  Sahst  du  im  Thale  mein  Weibchen,  das  schlanke 
nicht,  Sage,  breitrückiger  Berg,  die  Entzückende,  Ob  du  im  Walde 
erblicktest  die  Huldgestalt,  Die  wie  das  Weib  des  Ananga  so  schön  von 
Leib?".  .  Als  er  sich  dann  am  Rande  des  Bergstromes  niederläfst,  fragt 
er  sich,  woher  das  Entzücken  stamme,  das  ihm  der  Strom  gewähre. 
Freilich, 

Seine  Wellen  sind  die  Brauen,  scheuer  Vögel  Schar  der  Gürtel, 
Und  der  Schaum,  der  hochgeworfen,  ist  das  flatternde  Gewand, 
Grade  so  wie  die  Geliebte,  rauscht  er  krumm  und  strauchelnd  fort, 
Ja,  sie  ist  in  ihrem  Zorne  ganz  gewife  zum  Fluis  geworden  I  .  .  . 

Lais  doch  dein  Grollen,  du  Flfiischen,  warum  Auch  die  bekümmerten  Vögel  verscheuchen, 
Warum  denn  mir  zum  Meere  entweichen.  Rauschend  wie  schwärmender  Bienen  Gesumm? 

Schau,  wie  der  Ozeansherr  die  von  Winden  geschaukelten  Wellen  als 

Arme  im  heiteren  Tänzchen  umschlingt  um  den  Wolkenhals. 

Hansa,  Rathanga  und  Muschel,  die  dienen  zum  goldenen  Handgeschmeid, 

Dunkler  von  Meeresgetieren  durchwimmelter  Lotos  zum  Panzerkleid, 

So  nach  dem  Takte,  geschlagen  vom  Flutengebrause,  den  Himmelsraum 

Füllt  er,  bis  endlich  ihn  bändigt  der  gegenankämpfendc  Regenschauer  .  .  ."^ 

Weiter  irrend  erblickt  er  eine  blütenlose  Winde;  wunderbares  Ent- 
zücken erfafst  ihn,  es  zieht  ihn  seltsam  hin,  sie  zu  umarmen,  die  seiner 
Geliebten  so  gleiche:  „Siehe,  mein  Herz  ist  gebrochen,  o  Winde,  Hat 
das  Geschick  es  doch  also  gewollt,  Dafs  ich  anstatt  der  Geliebten  Dich 
finde.  Sei  denn  auch  du  wie  das  Liebchen  mir  hold!"  Die  Winde  ver- 
wandelt sich  dann  in  Urwasi.  —  Bekannt  ist  die  reizende  Scene  in  des- 
selben Dichters  Sakuntala,  wo  die  schönen  Mädchen  die  Bäume  des 
Gartens  begiefsen,  nicht  blofs  nach  Vaters  Geheifs,  sondern,  wie  Sakuntala 
sagt:  „ich  selbst  fühle  zu  ihnen  die  Liebe  einer  Schwester."  Und  eine 
gleiche  Neigung  auch  zu  ihr  selbst  bei  dem  Mangobaum  voraussetzend, 
ruft  sie:  „Mir  scheint  der  Mangobaum  durch  seine  Finger  —  ich  meine 
seine  windbewegten  Zweige  —  etwas  zu  sagen."  Und  das  eigene  Liebes- 
sehnen verhehlt  die  jungfräuliche  Scheu  des  Mädchens,  indem  sie  das- 
selbe den  Pflanzen  vindiziert:  „Siehe  doch  diese  Nawamalika,  wie  sie 
selbst  den  Sahakara  hier  zum  Gatten  sich  erwählt  hat.  Welch  eine 
liebliche  Zeit,  die  diesem  Baumpärchen  sein  Entzücken  gewährt!  Wie 
ist  so  reizend  doch  der  Bund  von  diesem  Pflanzenpaar,  o  meine  Freundin ; 
mit  neuem  Blütenschmuck  bedeckt  steht  sie  in  Jugendfiille,  —  er,  der 
Früchte  ansetzt,  ist  fähig  zum  Geniefsen!"    Die  Freundin  mahnt:  „Sakuntala, 


134  Alfred  Biese. 


die  Madhaviliani  hast  du  ganz  vergessen!"  „Thät*  ich  das,  so  würde 
ich  mich  selber  auch  vergessen.  Als  meine  Schwester  gilt  die  Ranken- 
pflanze mir"  u.  s,  f. 

Wolken,*)  Vögel  und  Wellen  sind  auch  dem  Inder  die  Boten  der 
Liebesgrüfse;  die  ganze  Natur  trauert,  wenn  der  Geliebte  scheidet;  so 
heifst  es,  als  Sakuntala  sich  von  ihrem  Walde  trennt:  „Betrachte  doch 
des  Waldes  Zustand  nur,  der  im  Begriff  ist,  sich  von  Dir  zu  scheiden: 
das  Antilopenweibchen  läfst  den  Bissen  von  Dharba  fallen,  und  ihr 
Tanzen  stellt  die  Pfauenhenne  ein,  man  möchte  meinen,  es  senkten  ihre 
Glieder,  schlaff  vor  Gram,  die  Schlinggewächse,  welche  auf  den  Boden 
die  bleichgewordenen  Blätter  fallen  lassen." 

Diese  überschwenglichen  Beseelungen  und  Personifikationen,  die 
zugleich  aber  etwas  rührend  Ansprechendes  in  ihrer  sinnigen  und  innigen 
Sympathie  des  Menschen  mit  der  gegenständlichen  Welt  haben,  stehen 
im  engsten  Kausalnexus  mit  der  Naturanschauung  der  Inder  überhaupt, 
sowie  mit  ihrer  auch  sonst  ins  Ungemessene  schweifenden  Phantasie. 
Vor  allem  die  Gedichte,  die  lediglich  der  Naturbeschreibung  gewidmet 
sind,  bieten  zahllose  kühne  und  groteske  Beseelungen.  Ich  hebe  nur 
noch  aus  des  Kalidasa  Ritusanhare  d.  i.  "die  Versammlung  der  Jahres- 
zeiten" die  Schilderung  der  Regenzeit  heraus:  „Die  Wolken  ziehn  mit 
ihrer  Last  hernieder.  Begleitet  von  der  durst'gen  Vogelschar;  Mit  ohr- 
entzückendem Getöne  spenden  AUmälig  sie  den  reichen  Segen  dar  .  . 
Die  wilden  Ströme,  gleich  den  losen  Mädchen,  Ergreifen  liebelüstern  wie 
im  Nu  Die  Uferbäume,  welche  ringsum  taumeln,  Und  eilen  rasch  dem 
Ozeane  zu  .  .  Der  Zephyr  nimmt  gefangen  des  Wandernden  Gemüt, 
Wenn,  von  der  Wolke  gekühlet,  er  durch  die  Wälder  zieht.  Er  schaukelt 
wie  ein  Tänzer  die  Bäume  von  Blüten  schwer  Und  streut  der  Ketaki 
Düfte  mit  Blumenstaub  einher.     Es  spricht  die  müde  Wolke:  hier  oben 

*)  So  redet  eine  nach  dem  fernen  Gatten  sich  sehnende  Frau  in  der  Elegie  Ghatakarparam 
die  Wolken  an:  Saget  dem  Pilger,  ihr  Wolken,  den  staubbedecket  ihr  antrefit,  denn  ihr 
wandelt  ja  schnell  hin  auf  der  luftigen  Bahn :  Heute  mufst  du  verlassen  die  Schönheit  fremder 
Gefilde,  Hast  du  vernommen  denn  nicht,  wie  die  Geliebte  dort  klagt?  Jetzo  ziehen,  o  Gatte! 
die  fröhlichen  Reihen  der  Flamingos  Dorthin,  wo  sie  das  Herz,  zärtliche  Liebe  sie  ruft, 
Und  der  Chatakas  (Kukuk)  auch,  er  folget  der  rieselnden  Quelle,  Du  vergissest  allein, 
Wandrer,  dein  trauriges  Weib.  Sieh,  wie  das  liebliche  Gras  mit  zartem  Triebe  hervorsprofst, 
Und  wie  ambrosischer  Trank  jetzo  den  Chatakas  letzt.  Wie  das  Gejauchze  der  Plauen  die 
Wolken  freudig  begrüfset:  Könntest  du  heute  denn  wohl  ohne  die  Gattin  dich  freuen?  .  .  . 
Hielte  deiner  gedenk  nicht  einzig  mich  die  ErinnVung,  Längst  in  den  Fluten  des  Grams 
wäre  versunken  ich  wohl  .  .  .  vgl.  Das  alte  Indien  v.  Bohlen  11  S.  384,  Cotta,  Kommentar 
zu  Humboldts  Kosmos^  II,  1850  p.  74. 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  neuer  Poesie  I.  135 


find'  ich  Ruh!  Und  träufelt  in  linden  Schauern  den  Windhyabergen  zu, 
Legt  nieder  die  schwere  Bürde,  und  wo  sie  ausgeruht.  Erquickt  sie  das 
Gebirge  nach  schwüler  Sonnenglut."   — 

Der  Pantheismus  ist  bei  den  Indern  die  Geburtsstätte  dieses  sympa- 
thetischen Naturgefuhls,  dieses  herzlichen  Verkehrs  mit  der  Erscheinungs- 
welt; ihre  Naturanschauung  bildet  den  Gegenpol  der  monotheistisch- 
jüdischen. Wohl  ist  das  Einzelwesen  auch  für  den  Inder  dem  AU-Einen, 
Brahma,  gegenüber  nichts  Dauerndes,  aber  das  Göttliche  durchdringt 
immanent  alle  Dinge,  heiligt  sie  und  giebt  ihnen  somit  doch  wieder  einen 
gewissen  Wert;  dagegen  vor  dem  Jehovah,  dem  allmächtigen  Einen,  ist 
das  All  nichts;  er  thront  erhaben  über  der  Welt,  und  diese  ist  nichts 
als  Staub;  der  Inder  versenkt  sich  mit  stiller  Beschaulichkeit  in  "das 
Leben  und  Weben  der  Natur,  schildert  in  seinen  Dichtungen  sie  mit 
aller  Beschaulichkeit  und  Breite  —  um  ihrer  selbst  willen,  der  Jude  nur  — 
um  des  Schöpfers  willen. 

Sie  hat  keine  selbständige  Bedeutung,  sondern  nur  in  Bezug  auf 
Gott.  Er  sieht  die  Welt  nur  an  sub  specie  aeterni  dei,  im  Spiegel 
des  ewigen  Gottes,  vor  dem  alles  Rauch,  Asche,  Traum  ist.  Die 
Phantasie  durchschweift  mit  den  Flügeln  der  Morgenröte,  mit  den  Fittichen 
des  Windes  und  der  Wolken  Himmel  und  Erde,  Luft  und  Meer,  aber 
nirgend  rastet  der  Blick,  ins  Ungemessene  hastet  der  hohe  Flug,  nimmer 
entrinnend  dem  Auge  des  Allwissenden,  dessen  Kleid  das  Licht  ist, 
dessen  Gezelt  der  Himmel,  dessen  Schemel  die  Erde,  dessen  Boten  die 
Winde  und  die  Blitze  sind.  Wohl  weifs  der  lyrische  Hymnensänger  ein 
Einzelbild  scharf  hinzustellen,  aber  sofort  verdrängt  dieses  ein  anderes; 
wohl  ist  die  Innerlichkeit  eine  riefe  —  es  ist  das  Herz  ein  trotzig  und 
verzagt  Ding,  wer  kann  es  ergründen?  Jer.  17,  8,  —  aber  das  rein 
individuell  Menschliche  kennt  keinen  anderen  Ausdruck  als  in  seiner 
Beziehung  zu  dem  auch  in  der  Natur  furchtbaren  oder  friedsamen  Jehovah. 
Die  Phantasie  des  Psalmisten  umspannt  Himmel  und  Erde,  Land  und 
Meer,  die  Berge  mit  dem  Wild  und  ihren  Wäldern,  die  Fläche  mit  ihrem 
Fruchtbaum,  die  Blumen  und  das  Gras.  Aber  alles  legt  er  dem  einen 
Herrn  zu  Füfsen,  vor  dem  die  Erde  bebet,  die  Berge  hüpfen  wie  Widder, 
die  Hügel  wie  junge  Lämmer.  Die  Himmel  erzählen  die  Ehre  Gottes, 
und  die  Feste  verkündiget  seiner  Hände  Werk,  ein  Tag  sagt  es  dem 
andern,  und  eine  Nacht  thut  es  kund  der  andern  (Ps.  i9).  Himmel  freue 
dich  und  Erde  sei  fröhlich,  das  Meer  brause  und  was  darinnen  ist,  das 
Feld  sei  fröhlich  und  alles,  was  darauf  ist,  und  lasset  rühmen  alle  Bäume 
im  Walde  vor  dem  Herrn,  denn  er  kommt  zu  richten  das  Erdreich  (96) ; 


136  Alfred  Biese. 


das  Meer  brause  und  was  darinnen  ist,  der  Erdboden  und  die  darauf 
wohnen,  die  Wasserströme  frohlocken,  und  alle  Berge  seien  fröhlich  vor 
dem  Herrn  (98).  Es  erheben  die  Ströme,  Ewiger,  es  erheben  die  Ströme 
ihre  Stinmie,  Lafs  erheben  die  Ströme  ihre  Stimme,  ihr  Brausen!  Mehr 
als  die  Stimme  der  weiten  Gewässer  Ist  majestätisch  der  WeUensturz  des 
Meeres,  —  Majestätischer  in  der  Höhe  Gott!  (93).  —  Wie  der  Mensch 
furchtet  auch  die  Natur  Gott:  Das  Meer  sah  ihn  und  floh,  der  Jordan 
wandte  sich  zurück,  die  Berge  hüpften  wie  die  Lämmer  (114);  die  Wasser 
sahen  dich,  Gott,  die  Wasser  sahen  dich  und  ängsteten  sich,  und  die 
Tiefen  tobten  (77).  —  Aber  alle  diese  noch  so  erhabenen  Beseelungen 
der  leblosen  Natur  charakterisieren  die  einzelnen  Erscheinungen  nidit 
nach  ihrem  konkreten  individuellen  Wesen,  nach  ihrer  Eigenart,  sondern 
nur  in  ihrem  Verhältnis  zu  einem  anderen  —  und  nicht  dem  Menschen, 
sondern  dem  -Höchsten,  dem  Schöpfer.  Die  Natur  ist  nur  ein  Buch,  in 
dem  man  von  den  Wunderthaten  Gottes  lesen  kann;  durch  ihn  hat  alles 
seine  Grenze,  seine  Bestimmung,  nichts  ist  Selbstzweck.  Und  daher 
konnte  der  Jude  sich  auch  nicht  mit  sympathetischem  Empfinden  in  die 
Natur  versenken,  sie  um  ihrer  selbst  willen  suchen.  Sie  ist  ihm  nur  eine 
Offenbarung  Gottes  —  aber  mit  welcher  Glut  der  Empfindung  deutet 
er  sie  aus,  welch  Feuerstrom  der  Begeisterung  wallt  durch  den  Psalm  104, 
durch  Hiob  Kap.  38  und  Jesaias  Kap.  40!  —  Doch  nur  ganz  vereinzelt 
wird  die  Natur  zur  Teilnahme  am  menschlichen  Leid  aufgefordert,  wie 
2.  Sam.  I,  wo  es  heifst:  „Ihr  Berge  zu  Gilboa,  es  müsse  weder  tauen 
noch  regnen  auf  euch,  noch  Acker  sein,  von  denen  Hebopfer  kommen, 
denn  daselbst  ist  den  Helden  ihr  Schild  zerschlagen,  der  Schild  Saul's, 
als  wäre  er  nicht  gesalbet  mit  Öl."  —  Die  Naturanschauung  der  Hebräer 
bleibt  lieber  beim  Allgemeinen  stehen  oder  irrt  rastlos  von  Einzelnem  zu 
Einzelnem,  um  es  aUes  synthetisch  unter  den  höchsten  Begriff  der  Gottheit 
zu  steUen.  Die  Natur  ist  nur  insofern  da,  als  sie  Gottes  ist,  und  die 
Phantasie  des  Menschen  hebt  sich  empor  zum  Throne  Jehovahs  und 
überblickt  von  dieser  Höhe  die  Schöpfung.  — 

Ganz  anders  steht  der  Grieche  der  Natur  gegenüber.  Mit  Wonne 
weilt  er  auf  der  Erde,  auf  seinem  heimatlichen  Boden,  inmitten  einer 
Landschaft,  die  in  gleicher  Weise  zur  Arbeit  wie  zum  Geniefsen  mahnt 
Sein  Blick  haftet  mit  Liebe  am  Einzelnen,  während  er  für  das  All  als 
Ganzes  erst  in  einer  späten  Kulturepoche  seinen  Sinn  öffnet.  Seine 
Mythologie  ist  aber  der  Niederschlag  einer  andachtsvollen,  sinnigen  Natur- 
betrachtung. Doch  vor  dem  Gott  trat  die  Erscheinung  selbst  in  den 
Hintergrund,    und   die  Natur   gewann  erst  ihre  Selbständigkeit   wieder. 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  modemer  Poesie  I.  137 

ak  die  Naturgötter  zu  ethischen  wurden  und  die  mythologfische  Welt 
durch  die  Reflexion  zersetzt  wurde.  Erst  die  rein  poetische  Beseelung 
abstrahiert  von  den  göttlichen  Wesen,  die  der  Mythus  geschaffen,  und 
pafst  der  freien  Natur  mit  freiwaltender  Phantasie  das  eigene  Ich  an. 
Erst  durch  sie  wird  eine  seelenvolle  Naturauffassung  möglich,  sie  ist 
Vorstufe  und  Bedingung  des  sympathetischen  Naturgefuhls. 

Bei  Homer  begegnen  uns  erst  die  geringfügigsten  Formen  ästhetischer 
Beseelung.  Die  Natursphäre  ist  nur  ein  dienendes  Element  dem  in  ihr 
waltenden  Gott  gegenüber,  ist  selbst  göttlich,  heilig,  wie  die  Erde,  der 
Flufs,  der  Äther  u.  s.  f.  Alles  geschieht  auf  Gebot  der  Götter;*)  freudig 
trennt  sich  die  Woge,  da  Poseidon  seinen  Wagen  durch  die  Flut  lenkt 
(H.  Xni,  i'j)^  oder  sie  giebt  Raum  der  trauernden  Thetis  pCVIII.  67),  und 
die  Erde  schmückt  das  Braudager  des  Zeus  mit  köstlichen  Blumen  (XIV,  346). 
Nur  in  leisen  Anfangen  bricht  die  poetische  Beseelung  hhidurch,  wenn 
es  n.  XIX,  362  und  Hymn.  Cerer.  1 3  heifst :  „Der  weite  Himmel  und  die 
ganze  Erde  darunter  lachte  und  die  graue  Flut  des  Meeres."  Erst  in  der 
lyrischen  Poesie  wird  der  Natur  ein  persönliches  eigenes  Leben  verliehen. 
Aber  wir  wandern  über  ein  Trümmerfeld,  wenn  wir  die  griechischen 
Lyriker  durchgehen;  es  sind  nur  spärliche  Reste,  die  uns  von  einer 
Sappho  oder  einem  Simonides  überliefert  sind,  aber  sie  fuhren  uns  trotz- 
dem weiter.     So  ist  das  schöne  Nachdied  des  Alkman  erhalten: 

Schlummernd  liegten  die  Gipfel  der  Berge  und  die  Schluchten, 

Hügel  insgesammt  und  Klüfte, 

All  die  Scharen,  so  kriechen  umher  auf  dunkeler  Erde, 

Tiere  des  Hochwalds  und  der  Bienen  fleifsig  Völklein, 

Die  Ungetüme  in  dem  Schoofs  des  blauen  Meeres, 

Schlummernd  auch  der  Vögel  fittiggewandtes  Geschlecht.**) 

Höchst  Stimmungsvoll  schliefst  das  Schlummerlied,  das  Simonides 
v.  Keos  der  unglücklichen  Danae,  die  auf  sturmgepeitschtem  Meere  mit 
dem  kleinen  Perseus  umhertreibt,  in  den  Mund  legt,  mit  der  schönen 
Beseelung: 

Schlafe,  mein  Kind,  o  schlafe  du  See,  Schlafe  mein  unermefsliches  Wehl 


*)  Vergl.  die  Entwickelung  des  NaturgeÄhls  bei  den  Griechen  S.  18. 
♦*)  So  Teuffei.  Brandes  überseut  moderner:  Der  Berge  Häupter  ruhn,  es  ruht  das 
Tal,  Die  Blätter  in  den  Wäldern  rings  verstummen.  Es  schläft  auch  das  Gewürm,  das  ohne 
Zahl  Die  Erde  nährt,  es  schweigt  der  Bienen  Summen,  Es  schläft  der  Vogel  müde  in  den 
Zweigen,  das  Wild  im  Waldesgrunde,  Es  ruhn  in  tiefem  Schweigen  die  Ungeheuer  in  des 
Meeres  Schlünde. 


138  Alfred  Biese. 


In  einem  Fragment,  dessen  Zusammenhang  nicht  näher  klar  ist,  heifst 
es  bei  Pindar  (fr.  113):  „Auch  die  Gestirne,  die  Bäche,  die  Wogen  des 
Meeres  beweinen  dein  frühzeitiges  Sterben."  Häufiger  vindizieren  die 
Tragiker*)  der  Natur  Teilnahme  an  dem  Geschick  der  Menschen.  Es 
stöhnt  die  Tiefe  der  Salzflut,  es  stöhnen  die  Quellen  der  Flüsse  über  das 
herbe  Loos  des  Prometheus.  Feuer  und  Wasser  verschwören  sich  zur 
Vernichtung  der  persischen  Flotte;  im  Frühling  sehnt  der  Himmel  sich, 
die  Erde  zu  umfahen,  —  wie  Äschylos  höchst  wirkungsvoll  in  dem 
fr.  41  die  Aphrodite  ihre  allbezwingende  Macht  schildern  läfst: 

Es  sehnt  der  keusche  Himmel  sich,  zu  umfahn  die  Erd* 
Sehnsucht  ergreift  die  Erde,  sich  zu  vermählen  ihm; 
Vom  schlummerstillen  Himmel  strömt  des  Regens  Gufs: 
Die  Erd*  empfängt  und  gebiert  dem  Sterblichen 
*  Der  Lämmer  Grasung  und  Demeters  milde  Frucht) 
Des  Waldes  blOhenden  Frühling  läfst  die  regnende 
Brautnacht  erwachen;  alles  das,  es  kommt  von  mir. 

An  Simonides  erinnert  die  Beseelung  Agam.  565 :  „Wenn  um  Mittags- 
zeit die  See  in  wellenlos  windstiller  Ruh  sich  legend  schlief  .  .  ** 
Schlummerlos  nennt  Sophocles  die  Quellen  im  Oedipus  Koloneus; 
Elektra  (v.  86)  ruft  das  Licht  und  die  Luft,  die  den  Erdkreis  rings 
umflutet,  zu  Zeugen  ihres  Wehes  an;  Hafs  vermutet  der  unselige  Aias 
auch  bei  den  Fluren  Trojas  (459),  und  im  Oedipus  Tyrannus  wird  die 
Natur  als  mitempfindende  Zeugin  menschlichen  Leidens  betrachtet,  wie 
in  den  rührenden  Worten  des  Oedipus  (v.  1398): 

Ihr  dreigespaltnen  Pfade,  du  verborgnes  Tal, 

Du  Wald,  ihr  engen  Schluchten  dort  am  Scheideweg, 

Die  meines  Vaters  Blut  ihr  einst,  das  meine  Hand 

Vergossen,  tränket,  denkt  ihr  noch,  welch  schwere  That 

Ich  dort  vor  euch  verübte,  was,  hierher  gelangt,   ich  wiederum  verbrochen? 

Innige  Sympathie  zeigen  Buchten  und  Felsen  und  Bergwild  dem  ein- 
samen PhÜoktet,  auf  seiner  Insel  die  einzigen  Genossen  des  Grames ;  und 
die  in  den  Tod  Gehenden  wie  Aias  und  Antigone  nehmen  rührenden 
Abschied  von  Tal  und  Wald  und  Luft  und  Meer,  von  denen  sie  sich 
geliebt  wissen  und  die  sie  wieder  lieben.  Doch  wird  das  alles  nur  in 
wenigen  Ausrufen  mit  bündigen  Worten  ausgedrückt,  die  mehr  ahnen 
lassen,  als  sie  aussprechen.  Im  geraden  Gegensatze  zu  den  über- 
schwenglichen Indern. 


*)  Vergl.  die  Entw.  des  Naturgefllhls  bei  den  Griechen  S.  37  f.,  44  f.,  53  f,  57  f. 


Die  ästhetische  Naturbeseelong  in  antiker  und  moderner  Poesie  I.  139 

Mit  Euripides  steigert  sich  die  Sentimentalität'*')  auch  der  Besseelungen, 
Wie  modern  ruft  der  Chor  der  Hiketiden  (v.  79.):  „Der  Wehklagen  un- 
selig unersättliche  Wollust  ergreift  uns,  wie  von  erhabenem  Fels  der 
Tropfen  feucht  dahinrinnt,  unablässig  in  ewigem  Klagen!"  Wer  dächte  nicht 
an  Lenau*s  „Bächlein,  das  die  welken  Blätter  davonträgt  mit  halbersticktem 
Weinen,"  oder  an  Platens  Wort:  „es  scheint  ein  langes,  ewiges  Ach! 
zu  wohnen  in  diesen  Lüften,  die  sich  leise  regen"? 

Besonders  die  Anrufe  der  Naturerscheinungen  fuhren  zu  Beseelungen, 
so  Herakliden  748,  wo  in  raffinierter  Uberschwenglichkeit  Erde  und  Mond 
und  die  Strahlen  des  Helios  zugleich  (!)  aufgefordert  werden,  Kunde  zu 
bringen  und  hell  aufzujauchzen  in  den  Himmel,  auf  zu  Zeus*  Thron!  In 
den  Bakchen  wird  auch  die  Natur  von  dionysischem  Taumel  ergriffen,  das 
Land  hebt  sich  wirbelnd  im  Tanze;  der  Berg  und  das  Wild  stimmen  ein 
in  den  Jubel.  Hafs  wird  der  Natur,  wie  schon  im  Aias  des  Sophokles, 
beigelegft,  Ion  919:  „Dich  hafst  Delos,  die  Zweige  des  Lorbeers  hassen; 
es  hafst  dich  der  Palmbaum,  prangend  in  zartem  Laub^^  Die  Gestade 
des  Meeres  jammern  laut  über  den  Fall  Trojas,  Troades  826.  Der  Friede 
und  die  Stille  in  der  Natur  wird  schön  als  Schweigen  gedeutet  Bakchen  1084: 

Stumm  schwieg  der  Äther,  Schweigend  hielt  das  Wiesental  die  Blätter, 
Nirgend  hörtest  Du  des  Wildes  Laut'; 

Ebenso  Iphigenie  in  Aulis,  v.  9:  „Weitum  schallt  kein  Vogelgesang, 
kein  Meeresgeräusch,  und  die  Winde  verstummt  Ruhn  rings  um  den  Strand 
des  Euripos".  Aristophanes**)  läfst  den  Diener  des  dem  Dichten  müh- 
selig obliegenden  Agathon  auch  der  Natur  ein   favete    Unguis    zurufen: 

Lafs  ruhn  Dein  Wehen,  windschlummemde  Luft! 

Und  brause  Du  nicht,  blauschimmernder  See  Schaumflut! 

Ihr  Gattungen  all  der  Befiederten  ruhtl 

Lais  ruhen,  des  Wildes  waldlaufend  Geschlecht, 

Unermüdlichen  Fulsl 

Das  Rauschen  der  Blätter  deutet  er  als  ein  Flüstern  (Wolken  1006), 
wenn  er  den  Hain  Akademos'  schildert,  „wo  du  wandeln  wirst  in  des 
Geisblatts  Duft,  in  der  Mufse  Genufs,  in  der  silbernen  Pappeln  Umlaubung, 
in  des  blühenden  Frühlings  Lust,  wenn  sich  still  zuflüstert  Platane  und 
Ulme*^  — 

So  wirkungs-  und  stimmungsvoll  aber  alle  diese  Beseelimgen  auch 
sind,  so  leuchtet  doch  schon  jetzt  ein,  dafs  sie  sich  nur  auf  einen  geringen 


•)  Vgl.  Die  Entw.  d.  N.,  S.  46  f. 

*♦)  Vgl.  a.  a.  O.  S.  57,  Thesmophoriazusen.  43. 

Ztfchr.  f.  TergU  Litt.-Geich.  I,.  10 


140  Alfred  Biese. 


Kreis  von  Anschauungen  (Lachen,  Weinen,  Schlafen,  Klagen,  Schweigen) 
beschränken. 

Eine  Sonderstellung  nehmen  in  der  vorhellenistischen  Poesie  die 
Äsopischen  Fabeln  ein.  Da  denkt  und  handelt  ja  nicht  blofs  nach  Menschen- 
art das  Tier,  sondern  auch  die  Pflanze  ist  mit  Empfindung  und  Sprache 
begabt.  Eiche  und  Olive  und  Feige  unterhalten  sich  da  wie  Kinder,  ver- 
lachen sich  oder  weinen;  die  Fichte  brüstet  sich  stolz  vor  dem  Dorn- 
strauch; der  gemifshandelte  Nufsbaum  klagt;  Frühling  und  Winter  streiten 
sich  —  wie  anmutig  klingt  das  Eigenlob  des  ersteren:  „Traun,  von  dir 
wären  gerne  befreit  die  Menschen,  während  allein  mein  Name  schon  ihnen 
schön  erscheint,  ja  beim  Zeus  von  allem  der  schönste;  daher  gedenken 
sie  meiner,  wenn  ich  von  ihnen  ging,  und  jubeln  vor  Freude,  wenn  ich 
wiederkehre."  Solche  Beseelungen  sind  in  althellenischer  Zeit  ohne 
fremden  Einfiufs  imdenkbar.  Sind  auch  Mythus  und  Märchen  nahe 
verwandt  und  die  Fabel,  je  naiver  und  freier  von  Didaktik,  desto  näher 
dem  Märchen,  so  ist  doch  die  Fabelbeseelung  eine  andere  als  die  mythische 
und  auch  wieder  als  die  poetische.  Die  Fabelwesen  sind  Zwitterwesen, 
halb  Tier  oder  Pflanze  und  halb  Mensch;  schalkig  wird  das  menschliche 
als  ein  fremdartiges  Reis  auf  das  Naturreich  aufgepfropft  und  der  Fabulist 
stellt  sich  dem  Kinde  gleich,  das  mit  allem  und  jedem  auf  du  und  du 
steht.  So  steht  aber  der  Grieche  in  der  ältesten  Zeit  —  und  dieser 
gehört  Äsop  an  —  der  Natur  nicht  gegenüber,  sondern  nur  der  träiunerische 
Orientale.  So  werden  denn  auf  Windesflügeln  der  Volksüberlieferung 
die  Fabeln  aus  Indien,  Ägypten  über  Assyrien  zu  den  Phrygern  und 
und  von  da  nach  Griechenland  gekommen  sein,  wo  sie  allmählich  aufser- 
ordentlich  beliebt  wurden.  — 

Der  Hellenismus'*')  mit  seinem  Individualismus,  Kosmopolitentum  und 
Pantheismus  zeitigt  manche  individuellere  und  tiefere  Beseelung  als  die 
frühere  Zeit.  Vor  allem  ist  es  die  Liebesleidenschaft  und  Liebessehnsucht, 
die  in  der  Natur  ein  Widerspiel,  ein  Gegenbild  findet.  Der  unglückliche 
Liebhaber  —  wie  Akontios  in  den  Aitien  des  Kallimachos  —  irrt  einsam 
im  Walde  umher,  klagt  den  tauben  Winden  sein  Leid,  begnügt  sich  nicht, 
den  Namen  der  Geliebten  in  die  Baumrinde  zu  schneiden,  sondern  er 
ruft:  „O  Bäume,  warum  ist  euch  nicht  Verstand,  nicht  Stimme  gegeben, 
auf  dafs  ihr  alle  das  eine  riefet:  „Schön  ist  Kydippel"  O  dafs  ihr  auf 
jedem  Blatt  soviel  Buchstaben  eingegraben  trüget,  wie  viele  schön  nennen 
Kydippel"  Und  wie  er  in  seinem  Liebesgrübeln  sich  immer  mehr  in  das 

*)  ^S^'  IQ«  Buch  S.  64  S,y  sowie  meinen  Aufsatz,  die  Naturanschauung  des  Hellenismus 
und  der  Renaissance.  Preuis.  Jahrb.  Juni-Heft  1886. 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  modemer  Poesie  I.  141 

Stille  Leben  der  Bäume  hineindenkt,  ruft  er:  ,,Kennt  auch  ihr  etwa,  meine 
Bäume,  gegenseitiges  Verlangen?  Ist  etwa  die  Fichte  sterblich  verliebt  in  die 
Kypresse?  . .  Doch  ich  glaube  nicht,  denn  dann  würdet  ihr  nicht  nur  die  Blätter 
verlieren  und  würde  die  Sehnsucht  nicht  nur  eure  Zweige  des  Haars  und 
des  Blütenglanzes  berauben,  sondern  bis  ins  Mark  des  Stammes,  bis  in 
die  Wurzel  hinab  würde  sie  mit  ihrem  verzehrenden  Feuerbrande  dringen!" 
Diese  sentimental  phantastische  Übertragung  der  eigenen  Liebesglut  auf 
die  stummen  Zeugen  des  Sehnsuchtsschmerzes  dürfte  selbst  in  der  modernen 
Poesie  ihresgleichen  wenig  finden.  — 

Auch  bei  Theokritos  sind  die  Beseelungen  individueller  und  charak- 
teristischer als  bei  früheren  Dichtem.  Bäume,  Sterne,  Schluchten,  Flüsse, 
und  Tiere  werden  oft  als  Zeugen  angerufen  oder  wie  mitempfindende 
Wesen  begrüfst;  das  Säuseln  der  Pinienblätter  klingt  ihm  wie  Liebes- 
gekose;  in  der  stillen  Mondnacht  klagt  die  unglücklich  Liebende  (id.  II,  37): 
„  Schau,  wie  schweiget  das  Meer,  wie  schweigen  nun  alle  die  Winde  — 
aber  es  schweigt  nur  nicht  in  dem  innersten  Busen  der  Kummer!"  Bei 
der  Trauer  um  Daphnis  werden  nicht  nur  Schakale,  Wölfe  und  Löwen 
als  mitfühlend  gedacht,  sondern  auch  die  Eichen  beweinen  ihn;  ja  nach 
seinem  Tode  mufs  sich  alles  in  sein  Gegenteil  verkehren.  Mit  dem 
Frohen  freut  sich  auch  die  Natur,  selbst  der  Stein  klingt  freudig  unter 
dem  Tritte  des  Heimkehrenden,  und  die  Insel  Kos  jauchzt,  als  auf  ihr 
Ptolemaios  geboren,  und  wiegt  ihn  mit  segnenden  Worten  in  ihren  Armen. 
Und  gleich  dem  verschwiegenen  Vögelein  in  dem  reizenden  Liede  unseres 
Walther  v.  d.  Vogelweide  „Unter  der  Linde  an  der  Haide"  sind  in  der 
Pseudo-Theokriteischen  ^oapiavk  die  Kypressen  die  einzigen  Zeugen  des 
Liebesbundes:  „nur  sie  erzählen  sich  deine  Vermählung."  — 

Die  späteren  Bukoliker  variieren  und  übertreiben  das  Mitempfinden 
bis  zum  Aufsersten.     So  heifst  es  im  Epitaphios  auf  Bion: 

Gramvoll  seufzt  ihr,  Täler,  und  du,  o  dorische  Welle, 
Und  ihr  Ströme,  beweint  den  Sehnsucht  weckenden  Bion, 
Tränen  vergieist  mir,  Kräuter,  und  klagt,  o  schattige  Haine  I 
Jetzt  mit  hängender  Krone  verhauchet  den  Odem,  o  Blumen, 
Rosen,  es  werd*  euch  zur  Trauer  das  Rot,  und  euch  Anemonen: 
Nun  sprich  aus,  Hyakynthos,  die  Schrift,  die  du  trägst,  und  des  Wehes 
Flüstern  mehr  mit  den  Blättern:   dahin   ist  der  liebliche  Sänger!** 

Bei  Apollonios  Rhodios  begegnen  uns  weniger  bezeichnende  Be- 
seelungen: die  Wiese  lächelt  im  Tau,  der  Wind  wird  vom  Dunkel  der 
Nacht  zur  Ruhe  gebettet,  die  Wiesen  zittern  beim  Nahen  der  Hekate  und 
ihrer  wilden  Meute,  und  als  Eos  die  Nacht  mit  ambrosischem  Lichte  ver- 

10* 


143  Alfred  Biese. 


drängt,  lacht  ringsum  das  Inselgestad'  und  auch  fem  die  betauten  P&de 
in  dem  Gefilde.*)  » 

Bei  den  späteren  griechischen  Epigrammendichtem  der  Anthologie 
finden  sich  recht  moderne  Beseelungen,  doch  sind  sie  in  ihrer  stereotypen 
Wiederholung  etwas  monoton.  Immer  wieder  klagen  die  Flüsse  und 
Täler,  weinen  die  Blumen,  lächeln  die  sich  kräuselnden  Wellen,  plaudert 
der  Wind  in  den  Zweigen;  oder  es  sollen  die  Kranzesrosen  Tränen  auf 
den  Scheitel  der  Geliebten  träufeln;  schadenfroh  lacht  das  Morgenlicht 
die  Kosenden  an;  selbst  die  Pflanzen  kosen  mit  einander.  Ein  gewisses 
Mafshalten  ist  auch  in  dieser  späten  Zeit  noch  Regel  —  wenigstens  in 
den  lyrischen  Dichtungen,  der  Epiker  Nonnos  übertreibt  und  outriert 
allerdings  weit  über  das  Schönheitsmafs  hinaus.  — 

Nur  Einiges  will  ich  aus  der  Anthologie  herausgreifen. 

Ein  liebliches  Frühlingslied  des  Leonidas  von  Tarent  lautet:  „Die 
Fahrt  ist  günstig!  Die  geschwätzige  Schwalbe  hat  sich  aufgemacht,  imd 
der  anmutige  Zephyr;  die  Wiesen  blühen,  in  Schweigen  hat  sich  das 
Meer  gehüllt,  das  im  Wogenschlag  und  im  Windesbrausen  rauschte. 
Nun  hebe  die  Anker,  nun  löse  die  Ketten,  o  Schiflferl"  — Recht  raffiniert 
und  refiektiert-sentimental  ist  die  Beseelung  in  einem  Meleager  sehen 
Gedichte,  das  Brandes  so  wieder  giebt: 

Mische,  wenn  du  wieder  Allst  den^Becher, 
Heliodoras  Namen  mit  hinein  I 
Winde  mir  ums  Haupt  den  Kranz,  dem  Zecher, 
Den  sie  gestern  mir  gereicht  beim  Wein! 
Doch  die  Ros*  im  Kranze  scheint  betaut, 
Wie  von  Tränen.     O  sie  hat  Erbarmen, 
Weinet,  daüs  sie  heut'  in  meinen  Armen 
Nicht  die  sflise  Heliodora  schaut. 

Rührend  klagt  er  in  einem  andern  Liede  um  die  Tote  und  bittet  die 
Allmutter  Erde: 

Hab  Erbarmen  —  Allen  Wesen  bist  du  mild  gesinnt  — 
Mild*  empfang'  in  deinen  Mutterarmen, 
Auch  mein  vielbeweintes  sülses  Kind. 

Antiphilos  deutet  einmal  das  Versiegen  einer  Quelle  als  Folge  der 
Trauer  um  den  Tod  Agrikola's:  „Hinschwanden  wir",  antworten  die 
Wellen  auf  die  Frage  des  Dichters,  „Tränen  vergiefsend;  Alles  das 
Wasser  in  uns  schlürfte  der  durstende  Staub."  Satyrios  findet  für  die 
schlichtere  Ausdrucksweise  „das  Meer  ist  schweigend  eingeschlafen", 
die  individuellere:  „es  hat  die  Augen  geschlossen,  ist  eingenickt"  [fiifmxe). 

*)  Argon.  I  880,  n  729,  ffl  1195,  1217,  IV  1x68;  m.  B.  S.  83. 


Die  ästhetische  Natnrbeseelung  in  antiker  und  modemer  Poesie  I.  143 

Nonnos  *)  erzählt  immer  wieder  von  Eichen,  Felsen,  Wäldern,  Hügeln 
u.  s.  f.,  dafs  sie  flüstern,  brüllend  erdröhnen,  klagen,  stöhnen«  lachen, 
jauchzen  u.  dgl.  m.  Besonders  gern  schildert  er  die  Liebe  der  Pflanzen  zu 
einander.  So  erregt  der  Palmbaum,  seine  männlichen  Blätter  schüttelnd, 
Sehnsucht  der  weiblichen  Genossin,  und  der  Birnbaum  flüstert  in 
rauschenden  Wipfeln  mit  der  Gefährtin ;  Narzisse  und  Anemone,  Krokos 
und  Taxus  liebeln  miteinander,  ja  sogar  eine  Vermählung  wird  vom 
Weinstock  und  der  Tteuxri  (Fichte)  berichtet.**)  — 

Stimmungsvoll  werden  in  des  Musaios  lieblicher  Dichtung  das  Dunkel 
der  Nacht  und  das  Schweigen .  als  die  einzigen  teilnehmenden  Zeugen 
des  Bundes  zwischen  Hero  und  Leander  also  bezeichnet: 

Hochzeit  war,  doch  kein  Tanz,  und  Brautnacht,  aber  kein  Brautsang,  , 

Nicht  pries  jauchzend  ein  Sänger  die  Ehestifterin  Here  — 
Sondern  es  schlois,  für  der  Hochzeit  Stunden  das  Lager  bereitend, 
Schweigsamkeit  das  Gemach,  und  die  Finsternis  schmückte  die  Jungfrau; 
Nacht  war  den  Beiden  des  Brautfests  RQsterin;  aber  der  Tag  sah 
Nie  auf  dem  festlich  bereiteten  Pfühl  als  Gatten  Leander.  — 

Das  modernste  in  späterer  Zeit  ist  aber  die  Schilderung  des  Sommers 
bei  Longos,  die  in  ihrer  „romantischen"  Färbung  an  Heines  „klingende 
Wälder",  „liebende  Bäume  und  Blumen",  „lachend  den  Berg  hinab- 
hüpfende Flüsse  erinnert",  I,  23:  „Der  Frühling  war  zu  Ende.  Der 
Sommer  hatte  begonnen,  und  alles  stand  in  reichster  Blüte.  Die  Bäume 
waren  mit  Früchten,  die  Ebenen  mit  Saaten  bedeckt.  Lieblich  war  das 
Schwirren  der  Kikaden,  erfreulich  das  Blöken  der  Heerden,  süfs  auch 
der  Duft  des  Obstes.  Schien  es  doch,  als  sängen  die  ruhig  dahinziehen- 
den Bäche,  als  flöteten  die  Lüfte,  die  in  den  Fichten  rauschten,  als 
senkten  die  Äpfel  sich  voll  Liebe  gegen  die  Erde,  als  enthüllte  die 
Sonne,  der  Schönheit  hold,  alle  Sterblichen.  Daphnis,  von  alledem  im 
Innersten  durchglüht,  tauchte  sich  in  die  Flüsse."   — 

Wir  sehen  also,  wie  die  Griechen  hinsichdich  der  ästhetischen  Natur- 
beseelung erst  allmählich  die  herzlichere  und  innigere  Form,  wie  sie 
uns  bei  den  Indern  begegnete,  finden,  ohne  in  deren  Überschwenglich- 
keiten  lang  ausmalender  Schilderungen  zu  verfallen,  wie  sie  die  Hebräer 
weit  übertreffen  an  individualisierender  Auffassung,  ohne  aber  die  Weite 
und  Tiefe  des  Himmel  und  Erde,  die  ganze  Schöpfung  umfassenden  und 
ausmessenden  Blickes  jener  zu  gewinnen.  Aber  eins  leuchtet  vor  allem 
hervor,  wie  selbst  in  der  Beschränkung  auf  diese  eine  Seite  poetischer 

♦)  Vcrgh  d.  Entw.  d.  N.,  S.  116.  ff. 

**)  Vcrgl.  Dionysiaka  IE  142,  XXXH  92»  XLH  30a,  XXXH  86,  XVI  370,  XH  133. 


144  Alfred  Biese. 


Darstellung,  jener  wunderbare  genetische  Prozefs  ihres  Geisteslebens  sich 
offenbart,  wie  aus  geringen  Anfangen  und  Keimen  sich  immer  seelen- 
vollere und  charakteristischere  Beseelungen  entwickelten,  die,  wenngleich 
auf  gewisse  Seelenzustände  sich  meistenteils  beschränkend,  schließlich 
zu  Äufserungen  führten,  die  von  unsern  modernen  nur  noch  g^raduell 
verschieden  sind,  — 

Eine  solche  Wärme  und  Innigkeit  der  Naturbeseelung,  wie  wir  bei 
Indern  und  Griechen  fanden,  bieten  die  römischen  Dichter  nur  selten. 
Es  hat  nur  einen  echten  Gefuhlslyriker  der  Römer  gegeben,  der  wirklich 
schon  in  der  Anschauung  dichtet,  direkt  im  Drange  eines  übervollen 
Herzens,  —  das  ist  der  Veroneser  CatuUus.*)  Hierher  gehört  sein 
reizendes  Gedicht  auf  seine  heimatliche  Insel  Sirmio,  in  dem  Natur-  und 
Heimatgefühl  harmonisch  zusammenklingen  (C.  31): 

Von  allen  Inseln,  Sirmio,  und  Halbinseln 
Mein  Augenstern,  so  viel  in  klaren  Landseen 
Und  Meeres  Weite  rings  der  Wassergott  hQtet, 
Wie  froh  erblick'  ich,  wie  zufrieden  dich  wieder!  .  . 
Heil  dir,  o  schönes  Sirmio,  sei  dem  Herrn  freundlich; 
Ihr  alle  freut  euch,  meine  muntren  Seewellen, 
Und  was  daheim  vor  Wonne  lächeln  mag,  lächle! 

Bei  den  übrigen  Dichtern  kehren  stereotyp  wieder:  die  trügerischen 
Lüfte,  die  zwieträchtigen  Winde;  es  schweigen  und  rufen  oder  zittern 
und  stöhnen  Winde,  Wellen  und  Wälder  u.  dgL  m.  Bei  Ennius  lacht 
der  heitere  Himmel  und  lachen  die  Lüfte  beim  Lachen  des  allmächtigen 
Jupiter;  bei  Vergil**)  beweinen  der  Hain  und  die  krystallene  Welle  und 
die  klaren  Seen  den  gefallenen  Helden  oder  es  wundern  sich  der  Hain 
und  die  Welle,  es  schweigen  und  rufen  die  Winde  und  die  Gehölze; 
wenn  Jupiter  spricht,  schweigt  die  hohe  Götterburg,  erzittert  die  Erde, 
und  es  schweigt  der  erhabene  Äther,  Zephyrn  atmen  kaum,  und  sanft 
ruhn  die  Gewässer  des  Meeres  (X^  100).  Die  flammenden  Blitze  und  der 
Äther  sind  Zeugen  der  Minnestunde  des  Aeneas  und  der  Dido  (TV,  167). 
Liebe  vindiziert  auch  Ovid  den  Pflanzen  an,  11,  16:  „Liebt  doch  die 
Ulme  die  Rebe,  und  die  Rebe  verläfst  nicht  den  Ulmbaum:  Weshalb 
werde  so  oft  ich  von  der  Herrin  getrennt? .  ."  In  den  Metamorphosen***) 
sind  häufig  die  primitiven  Beseelungen  wie:  Der  Zorn  des  Meeres,  das 
Schweigen  der  Nacht,  die  im  Rohr  klagenden  Winde,  die  schmeichelnden 


*)  Vergl.  die  Entwicklung  des  Naturgefühls  bei  den  Römern,  S.  41  f. 

**)  Aen,  Vn,  760 ;  vergl.  im  übrigen  die  Entwicklimg  des  Naturgefühls  bei  den  Römern,  S.78 

***)  Vergl.  o.  Werk  S.  114. 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  moderner  Poesie  I.  145 

Wogen,  die  verstummenden  Wellen ;  vor  allem  ist  schön  die  Schilderung 
der  Nachtstille  VII,  184:  ^Sobald  im  vollsten  Glänze  der  Vollmond  auf 
die  Erde  herabschaute,  wandelte  Medea  durch  die  mitternächtliche  Stille, 
Menschen  und  Vögel  hatte  tiefe  Ruhe  befallen:  rings  schweigt  die  Hecke 
g^eräuschlos,  rings  das  unbewegte  Laub,  es  schweigt  die  tauige  Luft, 
nur  die  Sterne  blinken."  Dem  Orpheus  nahmen  Eiche,  Linde,  Buche  und 
Lorbeer  .  .  „auch  du  kamst,  krummfufsiger  Epheu,  und  du,  weinlaubige 
Rebe  und  von  ihr  umschlungen,  du  Ulme"  .  . .  den  Erschlagenen  beweinen 
die  Vögel,  die  wilden  Tiere,  die  starren  Felsen,  die  Wälder,  die  vor 
Trauer  das  Laub  abwerfenden  Bäume  (XI,  44)  u.  s.  f. 

Besonders  bei  den  späteren  Dichtern  zeigt  sich,  wie  die  römischen 
Poeten  weit  ärmer  an  echten  und  zarten  Beseelungen  sind  als  die 
Alexandriner;  es  ist  immer  wieder  dieselbe  Skala  bei  dem  Tragiker 
Seneca,  bei  Papinius  Statins,  Valerius  Flaccus  und  Claudian.  Staunen, 
schaudern,  klagen,  schlafen,  schweigen  —  ist  die  dürftige  Tonleiter  dieser 
Beseelungen,  die  in  ihrer  Abtönung  zu  denen  eines  Vergil,  Ovid  etc. 
sich  ähnlich  verhalten  wie  die  des  Nonnos  und  Lykophron  zu  denen  der 
hellenistischen  Dichter.  An  die  Stelle  der  poetischen  Beseelung  tritt 
z,  B.  bei  Claudian  *)  nur  zu  oft  die  frostige  Allegorie,  die  tote  Abstraktion. 
Als  der  siegreiche  Held  sich  lagert,  kränzt  die  Erde  freudig  ihren  Herrn, 
und  es  heben  sich  die  Kräuter  (I,  1 1 5),  Roma  selbst  steigt  aus  den  Lüften 
zu  ihm  nieder;  mitwissend  tönt  der  Fels  und  schauert  der  dunkle  Hain 
vor  der  Majestät  der  Erscheinung.  Die  Insel  Delos  leckt  der  Latona 
freundschaftlich  die  Füfse,  es  lacht  der  Aegaeus  und  bezeugt  seine  Freude 
mit  sanftem  Geplätscher.  —  So  zeigt  sich  auch  hierin  der  angeborene 
Sinn  der  Römer  für  Abstraktion,  das  vorwiegend  Verstandesmäfsige 
und  Reflektierende  ihrer  Geistesanlage.  — 


*)  Vergl.  die  Entwicklung  des  Naturgefühls  bei  den  Römern,  S.  180. 

Kiel. 


■*•*" 


NEUE  MITTEILUNGEN. 


-•••- 


Sechs   französische  Briefe    Gottscheds  an 
Baculard  d'Arnaud  in  Dresden. 


Von 
Theodor  SOpfle. 


In  dem  weit  ausgedehnten  Briefwechsel  Gottscheds  nimmt  die  Korre* 
spondenz,  welche  er  mit  französischen  Schriftstellern  in-  und  aufser- 
halb  ihres  Landes  führte,  nicht  die  unbedeutendste  Stelle  ein.  Während 
aber  die  von  Fontenelle,  Riccoboni,  d'Arnaud,  Voltaire,  Formey  u.  s.  w. 
an  den  Gesetzgeber  des  deutschen  Parnasses  gerichteten  Schreiben  fast 
sämmtlich  erhalten  und  teilweise  sogar  —  in  dem  Werke  von  Danzel  — 
der  Öffentlichkeit  seit  längerer  Zeit  übergeben  worden  sind,  so  war  bis 
vor  ganz  kurzem  von  keinem  einzigen  derjenigen  Briefe,  welche  Gottsched 
an  seine  französischen  Korrespondenten  gerichtet  hatte,  irgend  eine  Spur 
aufgefunden  worden. 

Durch  einen  glücklichen  Zufall,  oder,  richtiger  gesagt,  durch  die 
gütige  Zuvorkommenheit  des  mir  befreundeten  Archäologen  W.  Fröhner 
in  Paris  kamen  mir  im  Herbste  des  Jahres  1881  wenigstens  einige  derselben 
zu  Gesichte,  nämlich  diejenigen,  welche  der  Leipziger  Diktator  an  Baculard 
d'Arnaud  innerhalb  eines  Zeitraumes  von  etwa  dreizehn  Monaten  zwischen 
dem  Jahre  1751  und  1752  geschrieben  hatte.  Diese  Briefe  —  sechs  an 
der  Zahl  —  waren  später  mit  dem  Adressaten  in  die  französische 
Hauptstadt  zurückgewandert,  wo  sie  zuletzt  in  den  Besitz  des  genannten 
Gelehrten  kamen,  welcher  mir  in  dankeswertester  Weise  gestattete,  von 
denselben  eine  Abschrift  zu  nehmen,  sie  zu  benützen,  teilweise  oder  ganz 
zu  veröflfentlichen, 


Sechs  französische  Briefe  Gottscheds  an  Baculard  d'Amaud.  147 

Obgleich  ich  nun  manches  aus  diesen  Briefen,  gelegentlich  der  Fest- 
stellung der  vielseitigen  Beziehungen  Gottscheds  zu  Frankreich,  schon 
vor  einiger  Zeit  mitzuteilen  veranlafst  war*),  so  ist  doch  das  Interesse, 
welches  sich  an  diesen  Fund  knüpft,  ein  so  mannigfaltiges,  dafs  ein 
vollständiger  Abdruck  sämmtlicher  Briefe  als  hinlänglich  begründet 
erscheinen  wird.  Abgesehen  nämlich  von  dem  Inhalte,  welcher  uns  einen 
näheren  Einblick  in  mehrere  auf  die  deutsche  und  französische  Litteratur 
bezügliche  Punkte  thun  läfst,  sind  diese  sechs  aufgefundenen  Briefe  —  wenn 
man  von  dem  an  den  Grafen  Ernst  Christoph  von  ManteufFel**)  im  Jahre 
1737  gerichteten  Schreiben  absieht  —  die  einzigen,  welche  man  in 
französischer  Sprache  von  der  Hand  Gottscheds  besitzt. 

Zu  leichterem  Verständnis  des  Ganzen  sowie  mehrerer  Einzelheiten 
wollen  wir  als  Erläuterung  nicht  blos  einige  sachliche  Bemerkungen  vor- 
ausschicken, sondern  auch  die  entsprechenden  Briefe  seines  fi-anzösischen 
Korrespondenten  ganz  oder  im  Auszuge  mitteilen,  von  welchen  Danzel 
nur  den  ersten  der  zehn  auf  der  Leipziger  Universitätsbibliothek  auf- 
bewahrten veröffentlicht  hat***).  Hierbei  spreche  ich  Herrn  Professor 
Dr.  O.  Knauer  in  Leipzig,  welcher  auf  meine  Bitte  schon  vor  vier  Jahren 
die  Güte  hatte,  von  den  übrigen  neun  Briefen  d'Arnauds,  welche  meist 
sehr  nachlässig  und  undeutlich  geschrieben  sind,  eine  Abschrift  für  mich 
anfertigen  zu  lassen  und  dieselbe  sodann  noch  selbst  einer  genauen 
Kollation  unterzog,  meinen  lebhaftesten  Dank  auch  öffentlich  aus. 

Dazu,  dafs  der  in  Paris  geborene  und  in  seinem  tonangebenden 
Vaterlande  nicht  blos  als  fruchtbarer,  sondern  auch  warmfuhlender 
Dichter  sogar  von  J.  J.  Rousseau  gefeierte  Fran9ois  Thomas  Marie  Baculard 
d'Arnaud  —  auch  d'Arnaud  Baculard  geschrieben  —  gewissermassen  als 
Bittender  sich  an  den  Leipziger  Professor  wandte,  dazu  bedurfte  es 
nichts  weniger  als  der  jähen  Wendung,  welche  sein  Glückstem  plötzlich 
genommen  hatte. 

Nachdem  d'Arnaud  als  vielversprechender  Knabe  durch  einige 
Jugendarbeiten  die  Aufmerksamkeit  und  Gunst  Voltaires  auf  sich 
gelenkt  hatte,  wurde  er  späterhin  durch  dessen  allmächtige  Empfehlung 
litterarischer  Korrespondent  für  Friedrich  den  Grofsen,  ähnlich  wie  Raynal 
und  ganz  besonders  Grimm  es  später  für  mehrere  deutsche  Höfe  und 
die  Kaiserin  von  Rufsland  wurde.  Der  königliche  Dichterfreund  berief 
den  noch  jungen  d'Arnaud  einige  Zeit  darauf,  im  Jahre  1750,  in 
welchem  er  etwa  32  Jahre  zählte,  sogar  nach  Berlin,  nahm  ihn  mit  Aus- 
zeichnung auf,  veranlafste  seine  Aufnahme  in  die  königliche  Akademie, 
nannte  ihn  seinen  Ovid,  und  richtete  einige  Verse  an  ihn,  in  welchen  er 
ihn  als  den  Nachfolger  Voltaires  bezeichnete,  dessen  Geistessonne  schon 
im  Niedergange  begriffen  sei.     Der  lebhaft  gereizte  Voltaire  rächte  sich 


*)  Vgl.  Th.  SüpflCf  Geschichte  des  deutschen  Kultureinflusses  auf  Frankreich,  mit 
besonderer  Berücksichtigung  der  litterarischen  Einwirkung,  Gotha  x886,  J.  Bd.  S.  286, 
Anm.  298. 

**)  Vgl.  Danzel,  Gottsched .  und  seine  Zeit,  S.  18  —  19. 

***)  Vgl.  Danzel,  Gottsched  und  seine  Zeit,  S.  341. 


148  Theodor  Süpfle. 


dafür  an  seinem  früheren  Schützling,  welchen  er  für  seinen  gefährlichen 
Nebenbuhler  und  Feind  ansah,  und  betrieb  bei  dem  Könige  so  nach- 
drücklich dessen  Entfernung  vom  Hofe,  dafs  letzterer  nach  einem  Auf- 
enthalt von  etwa  sechs  Monaten  die  Weisung  erhielt,  Potsdam  sofort 
zu  verlassen.  Von  diesem  unerwarteten  Schlage  schwer  getroffen  und 
über  Verleumdungen  klagend,  zog  sich  d'Arnaud  nach  Dresden  zurück, 
wo  er  an  dem  Hofe  des  Kurfürsten  einen  Stützpunkt  suchte  und  auch 
fand.  Von  hier  aus  wandte  sich  der  frühere  Günstling  Voltaires  und 
Friedrich  des  Grofsen  am  20.  Februar  1751  mit  dem  Ausdrucke  der 
Hochachtung  und  Bewunderung  für  die  deutsche  Litteratur  überhaupt 
und  deren  damaligen  Hauptvertreter  insbesondere  an  Gottsched,  offenbar 
um  durch  den  einfiufsreichen  Manne  einen  Anhalt  oder  wenigstens  wirksame 
Beachtung  in  litterarischen  Kreisen  zu  gewinnen. 

Gleichzeitig  mit  diesem  Schreiben  übersandte  er  ein  Exemplar  von 
zwei  dichterischen  Episteln  und  vergafs  dabei  auch  nicht  Frau  Gottsched, 
für  welche  er  in  huldigender  Weise  seine  Dichtung  auf  den  Tod  des 
dem  französischen  Ruhme  dienenden  Moritz  von  Sachsen  —  „la  Mort  du 
Marechal  Comte  de  Saxe,  poeme,  Dresde"  —  beilegte,  welche  Gottsched 
kurz  zuvor  in  „das  Neueste  aus  der  anmutigen  Gelehrsamkeit**,  1751, 
S.  213 — 217,  in  lobender  Weise  besprochen  hatte.  Am  Schlüsse  seines 
Briefes  endlich  hatte  d'Arnaud  seine  baldige  Reise  nach  Leipzig  ange- 
kündigt, um  bei  dieser  Gelegenheit  Gottsched  seine  Aufwartung  zu 
machen. 

Auf  dieses  schmeichelhafte  Schreiben  antwortete  Gottsched  in  der 
möglichst  verbindlichen  Weise,  und  damit  war  der  Briefwechsel  zwischen 
Dresden  und  Leipzig,  zwischen  den  zwei  der  Nationalität  und  den  schrift- 
stellerischen Zielen  nach  so  verschiedenen  Männern  eingeleitet,  welcher, 
obgleich  mit  einigen  Unterbrechungen,  längere  Zeit  hindurch  einen  leb- 
haften Verlauf  nahm. 

Was  nun  die  Sprache  betrifft,  in  welcher  die  sechs  Briefe  Gottscheds 
abgefafst  sind,  so  sieht  man  leicht  aus  ihnen,  dafs,  abgesehen  von 
Germanismen  und  grammatischen  Verstöfsen,  der  Verehrer  der  gallischen 
Muse  das  Französische  mit  nicht  zu  unterschätzender  Gewandtheit  und 
sogar  mit  einer  gewissen  Zierlichkeit  zu  handhaben  verstand.  Selbst 
Franzosen  haben  diese  Fähigkeit  Gottscheds  ausdrücklich  und  unzwei- 
deutig anerkannt.*)  Dieselbe  ist  umsomehr  zu  würdigen,  als  er  nach 
eigener  Aussage  vor  seinem  zwanzigsten  Jahre  kein  Wort  von  dieser 
Sprache  gewufst  hatte. 

Wir  lassen  nunmehr  den  ersten  der  wieder  aufgefimdenen  Briefe 
Gottscheds  an  d' Arnaud  auf  Grund  der  Originalhandschrift  folgen,  weldie 
sehr  leserlich  und  mit  nur  seltenen  Korrekturen  auf  sechs  einzelnen 
Blättern  in  Grofsquart  geschrieben  sind.  Die  Orthographie  ist  von  uns 
unverändert  beibehalten. 


*)  Vergl.   Th.  Süpfle,    Geschichte    des    deutschen   Kultureinflusses  auf  Frankreich,  I, 
S.  285,  A.  294-  295. 


Sechs  französische  Briefe  Gottscheds  an  Baculard  d'Arnaud.  149 

Monsieur, 

Apres  quelques  Lettres  de  la  Part  de  Mr.  de  Fontenelle,  et  une 
autre  de  la  main  de  Mr.  de  Montcrif,  que  j'avois  Thonneur  de  recevoir 
il-y-a  plus  de  dix  ans,  je  n'en  ai  re^ü  guere  d'aussi  flateuses  que  celle, 
dorn  il  Vous  a  plü,  Monsieur,  de  m'honorer.  La  piece  heroique,  dont 
Vous  venez  de  chanter  un  Heros,  egalement  eher  ä  la  Saxe  et  a  la 
France,  augmente  de  beaucoup'  la  Gloire,  dont  Vous  etiez  deja  en 
Possession,  par  tant  d*Ouvrages  excellens,  et  connus  dans  toute  TAllemagne. 
Je  Tai  lue  avec  un  plaisir  extreme;  charme  de  ce  destin  heureux,  qui 
a  s^u  reunir  dans  un  seul  Homme  tant  de  Qualites  exceUentes,  et  qui 
l'a  rendu  THonneur  de  ce  Tems,  et  de  deux  Pais  tant  eloignez  Tun  de 
Tautre. 

n  meritoit,  sans  doute  d'etre  celebre  d'un  Poete  comme  Vous, 
Monsieur,  dont  le  Genie  eleve  promet  a  la  France,  tout  ce  qu'eUe  peut 
avoir  perdüe  dans  plusieurs  grands  Hommes  du  Siecle  de  Louis  le  grand. 
Vous  pourrez  toujours  compter  sur  mes  applaudissemens ;  en  Vous 
voyant  luttÄr  si  heureusement  contre  la  decadence  du  bon  Gout,  qui 
semble  menacer  la  France  depuis  quelque  Tems;  selon  Tavis  meme  de 
plusieurs  de  Vos  Compatriotes.  Rien  ne  me  sera  plus  agreable,  que  de 
jouir  de  THonneur  de  Votre  Presence,  dont  Vous  promettez  de  favoriser 
notre  Ville,  et  de  Vous  assurer  de  bouche,  comme  je  fais  par  ecrit,  que 
je  suis  avec  une  consideration  parfaite, 

Monsieur 

Votre  tres  humble  et  tres  obeiss.  Serv. 

Gottsched. 
A  Leipsic  le  s/m«  du  Fevr.  1751. 

Apostille.  Mme.  Gottsched  Vous  assure,  Monsieur«  de  son  estime 
et  de  sa  Reconnoissance  toute  particuliere.  Elle  ne  manqueroit  pas  de 
Vous  en  assurer  de  sa  Main,  si  eile  n*esperait  pas,  de  le  pouvoir  faire 
de  vive  voix,  en  peu  de  tems,  quand  Vous  passerez  par  ici;  ayant  ete 
fort  sensible  ä  Thonneur,  que  Vous  venez  de  lui  faire. 

La  Piece  cy-jointe  est  une  faible  echantillon  de  notre  Poesie  heroique, 
comme  de  TArt  Typographie  de  Leipsic.  II  me  semble,  Monsieur,  que 
je  gagne  beaucoup,  quand  je  pense,  que  Vous  n'entendez  pas  assez  notre 
Langue,  pour  Vous  pouvoir  appercevoir  des  foiblesses  de  ma  Muse. 

Die  im  Nachworte  dieses  Briefes  erwähnte,  aber  nicht  näher  bezeichnete 
Dichtung  von  Gottsched,  von  welcher  er  ein  Exemplar  an  den  des 
Deutschen  etwas  kundigen  d'Amaud  sandte,  ist  wahrscheinlich  das  Lob- 
gedicht, welches  jener  imter  der  Aufschrift  „Das  erhöhte  Preufsen  oder 
Friedrich  der  Weise"  am  18.  Januar  1751  hatte  erscheinen  lassen,  und 
welches  dann  noch  in  demselben  Jahre  in  dem  zweiten  Teile  seiner 
Gedichte  (Leipzig,  Breitkopf,  1751,  S.  345 — 370)  unter  der  Abteilung 
„Heroische  Gedichte"  aufgenommen  wurde. 

Statt  einer  Antwort  auf  dieses  Schreiben  kam,  wie  aus  dem  Brief- 
wechsel  hervorgeht,    d'Arnaud    in    eigener   Person    nach   Leipzig    und 


160  Theodor  Söpfle. 


Stattete  Gottsched  seinen  in  Aussicht  gestellten  Besuch  ab.  Bei  dieser 
Gelegenheit  liefs  der  französische  Gast  einige  seiner  neuesten,  noch  nicht 
gedruckten  Dichtungen  mit  der  Bitte  oder  wenigstens  dem  Wunsche 
zurück,  dafs  jener  dieselben  in  seiner  schon  vielgelesenen  neuen  Zeitschrift 
erscheinen  lassen  möge.  Dies  wurde  zugesagt,  und  das  Versprechen 
wurde,  worauf  auch  der  zweite  Brief,  gleich  im  Anfang,  Bezug  nimmt, 
fiir  alle  drei  gehalten.  So  erschienen  diese  Erzeugnisse  der  d'Arnaud'schen 
Muse  zuerst  in  einer  deutschen,  nicht  in  einer  französischen  Zeitschrift. 
Zuerst  nun  liefs  Gottsched  das  umfangreichste  derselben  einrücken,*) 
welches  eine  Beleuchtung  der  Zustände  bei  den  Landsleuten  des  franzö- 
sischen Dichters  darbietet  und  welches  letzterer  unter  der  Bezeichnung 
als  „Epitre",  unter  der  Aufschrift  „L'Heraclite  moderne",  verfafst  hatte. 
Gottsched  aber  bezeichnete  diese  Dichtung  in  seiner  Zeitschrift  als 
Satire  (L'Heraclite  moderne,  satire  de  M.  d'Arnaud,  membre  de  TAcademie 
royale  de  Berlin),  woran  dann  d'Arnaud  einigen  Anstofs  nahm,  wie  wir 
aus  dessen  Brief  sehen  werden. 

Bei  der  Veröffentlichung  dieser  Dichtung  kamen  trotz  der  Bemühungen 
Gottscheds  und  seiner  Frau  mehrere  Drucfiehler  und  Versehen  zu  Tage. 
Hinsichdich  letzterer  hatte  Gottsched  die  Textesworte  „la  sage  gaiete" 
in  „la  sagacite"  umgeändert,  da  er  aus  ungenügender  Kenntnis  der 
französischen  Versmessung  das  Wort  gaiete  für  dreisilbig  ansah  und  so 
den  Vers,  in  welchem  es  stand,  um  eine  Silbe  zu  lang  hielt.  Die 
Berichtigung  erfolgte  dann  durch  d*Arnaud. 

In  demselben  Briefe  bespricht  Gottsched  die  Übertragung  in  das 
Französische  von  zwei  deutschen  Theaterstücken,  von  denen  das  eine 
ein  Lustspiel  aus  der  Feder  von  Frau  Gottsched,  das  andere  ein  Trauer- 
spiel von  Derschau  war.  Zunächst  hatte  von  beiden  ein  gewisser  Frauen- 
dorf eine  Übersetzung,  aber  nur  eine  ganz  wörtliche,  anzufertigen  unter- 
nommen. Von  dem  nie  mit  seinem  Namen  angeführten  Lustspiele  hatte 
d'Arnaud,  gelegentlich  seines  Besuches,  den  ersten  Akt  —  sei  es  aus 
eigenem  Antrieb,  sei  jss  auf  Wunsch  seiner  Gastfreunde  —  in  der  vor- 
läufigen französischen  Übersetzung  zur  Umarbeitung  in  g^tes  Französisch 
mit  nach  Dresden  genommen.  Später  wurden  ihm  zu  demselben  Zwecke 
die  noch  fehlenden  Akte,  sowie  die  fünf  Akte  von  „Orestes  und  Pylades" 
zugeschickt.  Diese  Sache,  welche  der  Familie  Gottsched  weit  mehr  als 
dem  französischen  Dichter  am  Herzen  lag,  wird  in  dem  Verlaufe  des 
Briefwechsels  wiederholt,  zum  Teil  unter  freundlicher  Mahnung,  berührt, 
ohne  dafs  letzterer  trotz  mehrmaliger  Zusage  die  französische  Bearbeitungen 
vollendet  zu  haben  scheint. 

Wir  lassen  nunmehr  den  zweiten  Brief  von  Gottsched  im  Wortlaute 
folgen. 

Monsieur, 

Voici  Taccomplissement  de  ma  promesse.  Des  belles  pieces,  que 
Vous  me  confiates,  avant  votre  Depart  d*ici,  j*ai  choisi  la   plus   bdle. 


^)  Vergl.  „das  Neueste  aus  der  anmutigen  Gelehrsamkeit'',  1751»  S.  450—460. 


Sechs  französische  Briefe  Gottscheds  an  Baculard  d^Amaud.  151 

c'est  a  dire  la  plus  longue,  pour  la  mettre  dans  mon  Journal.  Les  autres 
suivront  dans  les  mois  de  Juillet  et  d'Aout. 

Mr.  Frauendorf,  qui  s*est  Charge  de  la  Traduction  litterale  d*une 
Comedie  Allemande,  dont  Vous  aves  dejä,  Monsieur,  le  premier  Acte 
aupres  de  Vous,  vient  d'achever  le  dnquieme.  Mais  je  n*ose  pas  Vous 
envoyer  ce  reste  de  quatre  Actes,  avant  d*en  avoir  obtenu  la  Permission: 
ne  sachant  encore  si  Vous  le  trouverez  ä  propos  de  rendre  ä  cette 
piece  le  tour  comique  dans  l'expression  (vis  comica)  qu'elle  a  quasi 
perdue  tout  ä  fait  par  la  Translation.  II  travaille  actuellement  a  traduire 
la  Tragedie  d'Oreste  et  Pylade  de  Mr.  de  Derschau. 

Si  Vous  trouvez  Monsieur,  que  dans  Votre  Heraclite  il  se  soit 
glissee  quelque  faute  d'Impression,  Vous  aurez  la  bonte  de  me  la  marquer, 
pour  en  avertir  les  Lecteurs  dans  le  Mois  qui  vient.  II  est  certain 
pourtant,  que  le  nombre  en  seroit  de  venu  plus  considerable,  si  mon  amie 
ne  s*etoit  donnee  la  peine  de  copier  Votre  Mst.  Cependant  nous  nous 
doutons  fort,  si  a  la  page  452116  yers  la  fin,  nous  avons  bien  attrape 
la  veritable  fa9on  de  lire;  ayant  fait  imprimer,  Ou  ce  Railleur,  dont  la 
Sagacite.  Votre  Mst.  portoit  assez  distinctement  la  sage  gaiete. 
Mais  le  Vers  en  devenant  trop  long  d*une  Syllabe,  nous  preferämes  la 
Sagacite,  qui  au  moins  ne  gäte  pas  la  mesure. 

J'ai  rhonneur  d'etre  avec  beaucoup  de  Consideration,  et  d  attachement 

Monsieur 

Votre  tres  h.  et  tres  ob.  Serviteur 

Gottsched. 
A  Leipsic  le  3>»e  du  Juin  1751. 

P.  S.     Mes  tres  humbles  Complimens  k  Madame  Schubb. 

Beinahe  drei  Wochen  erst  hierauf  kam  ein  Antwortschreiben  von 
d'Arnaud,  in  welchem  er  an  die  von  Gottsched  berührten  Punkte  ein- 
gehend anknüpft,  hinsichdich  seiner  persönlichen  Verhältnisse  die  Nachricht 
mitteilt,  dafs  er  durch  die  Gnade  des  Königs  zur  Würde  eines  kur- 
sächsischen Legationsrates  erhoben  worden  sei,  und  am  Schlüsse  dank- 
erfüllt um  die  gütigejBewahrung  der  Freundschaft  Gottscheds  angelegentlich 
bittet.  Wir  lassen  den  Brief,  welcher  vom  22.  Juni  1751  datiert  ist,  mit 
einigen  wenigen  hinsichtlich  der  Orthographie  und  Interpunktion  für  das 
Verständnis  nötigen  Ergänzungen  nachstehend  folgen. 

Monsieur 

je  vous  suis  infiniment  oblige  d^avoir  bien  voulu  inserer  une  piece  aussi 
mediocre,  que  Test  la  mienne,  dans  votre  recueil  en  faveur  de  mon 
amour  pour  la  verite;  vous  m'aves  bien  passe  des  fautes,  je  souhaite 
que  mes  lecteurs  partagent  votre  indulgence. 

Votre  premier  acte  est  presque  fait;  sans  des  affaires  que  j'ai  eües, 
il  seroit  acheve;  j'attends  avec  impaüence  les  4  autres;  vous  ne  doutes 
pas  que  je  n'employe  tous  mes  soins  a  rendre  supportable  la  copie  d'un 
excellent  originad. 


152  Theodor  Süpfle. 


Je  ne  scaurois  trop  remercier  Madame  d^avoir  pousse  la  complaisance 
jusqu  a  s*etre  charge  de  copier  mon  manuscrit.  Voici  les  petites  fantes 
qui  se  sont  glissees  dans  rimprime. 

lo  D'abord  sage  gaiete  doit  etre  mis  ä  la  place  de  sagadte; 
gaiete    quoiqu'il   paroisse   y   avoir    une    de   trop,    n'est    que 
d'une  siUabe. 
2o  riambe  vengeur  et  non  Lycambe. 
30  Nessus  et  non  Clessus. 

U  y  a  encore  ce  mot  de  satire  qui  meffi-ayait:  celui  d'epitre  me 
paroissoit  moins  preceptoral;  dire  aux  hommes  qu'on  va  les  decrier,  ce 
n^est  pas  lä  le  moyen  de  les  seduire,  car  il  faut  dans  tout  un  peu  de 
seduction. 

D^ailleurs  la  piece  est  tres  bien  imprimee,  je  ne  scaurois  trop  vous 
marquer  ma  reconnoissance. 

Je  serai  charme  de  voir  cet  Oreste  et  Pilade;  tout  ce  que  je  puis 
dire,  c*est  que  le  sujet  m*en  paroit  beau  et,  traite  habilement,  il  foumit 
beaucoup. 

Vous  aures  donc  dans  peu  la  comedie;  sans  doute  que  vous  n'ignorez 
pas  les  bontes  du  roi  pour  moi,  il  m'a  cree  conseiller  de  legation,  aussi 
me  yoÜa  au  moins  des  trois  carts  Saxon. 

Continues  moi,  je  vous  prie,  votre  amitie;  je  ferai  tout  pour  la 
meriter,  j'assure  Madame  de  mes  respects;  je  vous  prie  d'inserer  les  autres 
poesies  dans  les  feuilles  de  votre  Journal.  Mettes  moi  ä  meme  de  vous 
donner  des  preuves  de  mon  estime  et  de  ma  consideration,  et  je  saisirai 
les  occasions  avec  empressement.  —  Dans  peu  de  jours  vous  aves  votre 
I«"  acte. 

Je  suis  avec  beaucoup  d'attachement  et  de  consideration 

Monsieur 
Votre  tres  humble  et  tres  obeissant  serviteur 

D'Amaud. 

Nur  wenige  Tage  später  erfolgte  eine  Antwort  Gottscheds,  in  welcher 
er  unter  anderem  die  zwei  anderen  ihm  eingehändigten  Dichtungen 
d'Amauds  erwähnt.  Die  erstere  „Clitus  mourant  ä  Alexandre  le  Grand** 
wurde  in  „das  Neueste  aus  der  anmutigen  Gelehrsamkeit",  1751,  S.  537  bfa 
540,  veröffentlicht.  Hinsichtlich  des  bald  erfolgenden  Erscheinens  der 
anderen  Dichtung,  „Le  Bel-Esprit,"  bietet  Gottsched  an,  er  wolle  den  von 
dem  Könige  von  Polen  verliehenen  Titel  dem  Namen  des  Dichters  in 
seiner  Zeitschrift  beifügen,  damit  diese  Auszeichnung  weiterhin,  besonders 
auch  in  Berlin,  bekannt  würde.  In  der  That  wurde  bei  der  Veröffent- 
lichung dieser  Dichtung  in  „das  Neueste  aus  der  anmutigen  Gelehrsam- 
keit" 1751,  S.  681 — ^688  der  Angabe  des  Verfassers  der  Titel  „Conseiller 
de  Legation  du  Roi  de  Pologne"  in  erster  Linie  beigefügt. 

Dagegen  finden  wir  von  der  im  nachstehenden  Briefe  Gottscheds  im 
Nachworte  in  Aussicht  gestellten  Erwähnung  der  deutschen  Übertragung, 
welche  von  dem  schon  genannten  Gedichte  d'Amaud's  auf  den  Tod  von 


Sechs  französische  Briefe  Gottscheds  an  Baculard  d*Arnaud.  158 

Moritz  von  Sachsen  unterdessen  erschienen  war,  weder  im  Monate  August 
noch  in  einem  anderen  Monate  der  Gottschedschen  Zeitschrift  irgend 
eine  Spur. 

Monsieur. 

C*est  avec  un  plaisir  infini,  que  j'apprends,  que  le  Roi  Vous  a  fait 
la  justice  de  Vous  declarer  son  Conseiller  de  Legation.  Vous  voila 
donc  devenu  le  Notre,  Monsieur,  et  peutetre  pour  toujours,  comme  je 
le  souhaite  pour  le  bien  des  beUes  Lettres,  et  au  profit  meme  de  nos 
Muses  Allemandes;  aux  quelles  Vous  promettez  Votre  assistance,  pour 
les  tirer  de  Tobscurite,  dans  la  quelle  elles  sont  par  rapport  aux  Etrangers, 
qui  ne  connoissent  pas  notre  Langue.  Ayant  obtenu  la  Permission,  de 
Vous  envoyer  les  demiers  Actes  de  la  Comedie  en  question,  j'ai  Thonneur 
Monsieur,  de  les  envoyer.  J'y  joins  les  trois  premiers  Actes  de  la 
Tragedie,  de  Mr.  de  Derschau;  et  ü  me  semble  que  le  Traducteur  a  assez 
conserve  Tesprit  tragique  de  la  piece.  Sous  Votre  plume  eile  ne  perdra 
rien;  au  contraire  efle  gagnera  infailliblement.  Et  quant  a  la  piece 
comique,  TAuteur  Vous  prie,  d'y  mettre  toujours  quelque  chose  de 
Votre  esprit,  pour  suppleer  a  maint  tour  comique  qu'elle  a  necessairement 
du  perdre,  en  passant  par  les  mains  du  Traducteur,  qui  n*entendoit 
meme  toutes  les  finesses  de  Texpression,  ayant  ete  assez  longtemps  hors 
de  l'Allemagne. 

Je  suis  fort  fache  qu'il  s'est  glisse  quelque  fautes  d'impression  dans 
Votre  excellente  piece.  Mais  il  sera  facile  d*y  remedier,  par  un  errata, 
que  je  mettrai  ä  la  fin  de  la  troisieme;  en  y  ajoutant  Celles,  qui  se 
pourront  etre  glissees  dans  le  discours  de  Clitus  mourant,  qui  paroitra 
en  peu  de  jours,  dans  le  mois  de  Juillet,  et  qui  est  deja  imprimee. 
Pour  ce  qui  regarde  Tinscription  de  Satire,  que  j'ai  mise  dessus  THera- 
clite  moderne;  il  me  semble,  que  rien  ne  lui  convenoit  mieux,  que 
cptte  Rubrique:  le  Nom  d'Epitre  suppossant,  qu'elle  fut  adressee  a 
quelque  Ami,  ou  feint,  ou  veritable;  ce  qui  ne  paroissoit  pas  dans  la 
piece.  Devant  la  troisieme,  je  ne  manquerai  pas,  si  Vous  le  trouvez 
apropos,  Monsieur,  de  mettre  Votre  nouveau  Caractere,  pour  le  rendre 
un  peu  plus  connu,  sur  tout  a  Berlin. 

Ayez  la  bonte  Monsieur,  de  me  conserver  toujours  Votre  amitie, 
comme  je  tacherai  de  la  meriter  de  plus  en  plus,  etant  avec  une  Con- 
sideration  parfaite 

Monsieur 

Votre  tres  humble  et  tres  ob.  Serviteur 

Gottsched. 
A  Leipzic  26  m«  du  Juin  1751. 

J*ai  re^ü  la  traduction  ou  translation  allemande  de  Votre  Poeme  sur 
le  Marechal  de  Saxe.  Elle  est  tres  bien  faite,  et  je  ne  manquerai  pas 
d'en  &ire  mention  dans  le  Mois  d*Aout,  de  mon  Journal.  Si  Vous 
connoissez  TAuteur,  je  Vous  prie  Monsieur,  de  lui  faire  mon  Compliment 
la  dessus. 


154  Theodor  Sfipfle. 


Nach  einer  Lücke  oder  Unterbrechung  im  Briefwechsel,  welche  etwa 
sechs  Wochen  umfafst,  finden  wir  einen  von  d'Arnaud  am  9.  August  1751 
geschriebenen  Brief,  in  welchem  derselbe  lebhafte  Besorgnis  über  das 
Befinden  der  FamiUe  Gottsched  ausspricht,  von  welcher  er  seit  längerer  Zeit 
keine  Nachricht  erhalten  habe.  Das  Interessanteste  in  diesem  nachstehend 
mitgeteilten  Schreiben  ist  die  bezeichnende  Äufserung  d'Amauds  über  die 
nach  seiner  Ansicht  erlaubte  Beimischung  einer  „pincee  de  libertinage" 
zu  den  Schöpfungen  der  Dichtkunst. 

Monsieur 

Je  suis  extremement  inquiet  de  Tetat  de  votre  sante  et  de  celle  de 
Madame.  Je  me  flatois  que  vous  me  donneries  de  vos  nouvelles  et  que 
vous  auries  la  bonte  de  menvoyer  la  brochure  ou  sont  les  vers  sur 
Clitus,  je  suis  veritablement  chagrin  de  votre  silence. 

Dans  peu  vous  aures  la  comedie  ou  je  trouve  un  excellent  fond  de 
comique  et  digne  de  la  plume  qui  l'a  composee.  Pour  la  tragedie,  je 
n'ai  pu  encore  y  mettre  la  main,  mais  je  ne  la  perds  point  de  vüe. 
Je  serai  toujours  charme  de  vous  raontrer  le  cas  singulier  que  je  fais 
de  votre  genre  et  de  ceux  qui  vous  imitent. 

Je  ne  saurois  trop  vous  marquer  ma  reconnoissance  sur  la  bonte 
que  vous  aves  d'inserer  mes  faibles  ouvrages  dans  votre  excellent  Journal; 
ä  propos  de  mes  ouvrages,  j'apprends  qu'ils  sont  enfin  imprimes  a  part 
en  3  volumes  (j'entends  mes  pieces  fugitives,  car  je  garde  encore  dans 
mon  porteieuille  Celles  qui  sont  un  peu  de  longue  Haieine,  je  me  souviens 
du  precepte  d*horace  nonumque  prematur  in  annum).  Sitot  que  les 
exemplaires  me  seront  pervenus,  et  j'en  aurai  tres  peu,  je  vous  en  ferai 
part,  persuade  que  vous  aures  quelque  indulgence  pour  des  bagatelles 
qui  sont  les  fruits,  si  je  puis  parier  ainsi,  de  mon  enfance,  vous  y  verres 
respirer  Tamour  du  vrai  et  de  Thumanite,  quelquefois  aussi  celui  du 
plaisir,  vous  n'ignores  pas  que  la  poesie  admet  une  pincee  de 
libertinage  qui  la  rend  plus  brillante,  quand  cela  ne  va  pas  jusqua 
la  corruption  des  moeurs  ou  la  detractation  de  la  religion. 

Daignes  donc  me  donner  de  vos  nouvelles  et  me  tirer  d'inquietude. 
Je  brule  de  vous  revoir  et  de  jouir  de  vos  solides  conservations,  j'assure 
la  Madame  Dacier  ou  plustot  les  graces  unies  ä  la  science  meme  de  mes 
tres  humbles  respects,  mille  compliments  a  toutes  les  personnes  qui 
daignent  se  ressouvenir  de  moi.  J'ai  l'honneur  d*etre  avec  les  sentiments 
de  Testime  la  plus  parfaite  et  de  la  consideration  la  plus  distinguee 

Monsieur 

Votre  tres  humble  et  tres  obeissant  Serviteur 

D^amaud. 
Le  9me  aout  1751  a  Dresde. 

Auf  diesen  Brief  antwortete  Gottsched  mit  folgendem  Schreibeq, 
welches  in  der  Hauptsache  über  schon  wiederholt  besprochene  Gegen- 
stande sich  verbreitet 


Sechs  französische  Briefe  Gottscheds   aa  Baculard  d*Arnaud.  155 


Monsieur 

Par  Malheur  nous  avons  ete  dans  le  meme  cas:  Vous,  attendant  la 
nouvelle  piece  de  mon  Journal,  et  moi  an  attendant  un  mot  de  reponse 
de  Votre  part;  et  ne  sachant,  ce  que  Vous  eties  devenu,  ou  si  ma 
Lettre  Vous  n'etait  peutetre  point  rendüe?  Enfin  cette  crainte  etant 
dissipee  par  Votre  chere  Lettre,  j*ai  l*honneur,  de  Vous  envoyer  Texcellente 
harangue  de  Clitus;  pour  savoir  au  premier  jour,  si  par  hazard  ils  s*y 
seront  glissees  des  fautes  d*Imprimerie ;  pour  etre  remarquees  dails  le 
Mois  de  Septembre,  qui  s'imprime  actuellement,  et  qui  contiendra  entre 
autres  pieces,  Votre  troisieme  piece  de  Poesie. 

Je  suis  fort  charme  d  TEsperance  de  Voir  arriver  Vos  Ouvrages, 
Monsieur,  qui  viennent  d*etre  imprimees  a  Paris.  Mademoiselle  de  Belleville 
s'en  informoit  il  y  a  huit  jours,  quand  j'eus  Thonneur  de  la  voir,  se 
plaignant  aussi  de  n*avoir  point  de  Vos  Nouvelles.  Je  lui  ai  communique 
les  pieces-  de  Votre  fapon  imprimees  icL 

Voici  le  Vme  Acte  da  la  Tragedie  d*Oreste.  Je  suis  fort  curieux, 
d'en  voir  quelque  echantillon  de  Votre  plume,  qui  certainement  en  fera 
augmenter  les  beautes.  Ce  que  Vous  avez  la  bonte  de  marquer  touchant 
la  piece  de  mon  Amie,  est  trop  flatteur,  pour  ne  pas  ressembler  ä  la 
Complaisance,  si  ordinaire  ä  Votre  Nation  pour  le  Sexe.  Si  pourtant 
eUe  est  susceptible  dans  Votre  Langue  de  quelques  beautes,  c'est  assure- 
ment  sous  Vos  mains  Monsieur,  qui  lui  pretera  un  peu  de  ces  graces 
comiques,  qui  fönt  valoir  aujourd'hui  les  Ouvrages  du  Theatre  Franpois. 
Ma  Femme  Vous  remercie  humblement  des  sentiments,  que  Vous  venez 
de  marquer  sur  son  sujet,  en  Vous  assurant  de  sa  Consideration  parfaite. 

Ayez  la  grace,  Monsieur,  de  faire  rendre  la  Lettre  incluse  a  Mr.  le 
Conseiller  de  Cour  Richter,  Antiquaire  de  S.  A.  R.  le  Prince  Electoral. 

J'ai  Thonneur  d'etre  avec  un  zele  parfait  et  d'une  Estime  toute 
particuliere 

Monsieur 

Votre  tres  h.  et  tres  ob.  Servit. 

Gottsched. 
A  Leipsic  le  i5me  d'Aout  1751. 

Schon  zwei  Tage  darauf,  17.  August  1751,  antwortete  d*Arnaud  mit 
einem  längeren  Briefe,  in  welchem  er  um  das  Urteil  Gottscheds  über  den 
in  Dresden  viel  gelesenen  „Hermann"  von  H.  v.  Schönaich  bittet,  wieder- 
holt von  dem  baldigen  Erscheinen  seiner  gesammelten  pieces  fugitives 
spricht,  im  Anschlüsse  an  das  der  Frau  Gottsched  im  vorhergegangenen 
Schreiben  gespendete  Lob  erklärt,  dafs  er  nunmehr  an  die  Möglichkeit 
einer  Vereinigung  der  Bescheidenheit  mit  dem  Talente  fest  glaube,  die 
MUe.  de  Belleville  zu  grüfsen  ersucht  und  lebhafte  Sehnsucht  nach  Leipzig, 
besonders  der  anregenden  und  belehrenden  Unterhaltung  Gottscheds  äufsert. 

Dieses  Schreiben  wurde  von  dem  mit  Arbeit  überhäuften  Gottsched 
einige  Zeit  darauf  mit  folgendem  ganz  kurzem  Briefe  beantwortet,  in 
welchem  er  eine  Gelegenheit  geschickt  benutzte,  um  ihn  auf  die  ungemeine 
Schwierigkeit,  seine  Schriftzüge  zu  entziffern,  aufmerksam  zu  machen. 

Ztachr.  f.  vgl    Litt-Gesch.  I^  j[l 


156  Theodor  Süpfle. 


Monsieur. 

Voici  la  derniere  piece  de  Votre  excellente  Muse,  dans  le  Mois  de 
Sept  qui  vient  de  paroitre.  J*ai  profite  de  Vos  Corrections  des  Errata 
de  la  premiere,  comme  Vous  verrez  a  la  fin  du  Mois:  mais  pour  les 
fautes  que  Vous  me  communicates  dernierement,  il  ne  m'a  pas  ete  possible 
de  les  trouver,  dans  le  Clitus  mourant.  Ayez  donc  la  bonte  Monsieur, 
si  elles  s'y  trouvent  effecrivement,  de  m'en  marquer  les  pages,  et  le 
Nombre  des  Lignes;  et  d*y  ajouter  Celles,  qui  se  pourront  etre  glissees 
dans  cette  derniere,  comme  je  craint  fort.  Car  il  m'a  ete  impossible 
de  dechiffrer  toutes  les  paroles  et  Syllabes,  de  Votre  chere 
Plume,  qui  ne  peint  gueres  si  bien  qu'elle  n'ecrit. 

Etant  presse  par  des  occupations  differentes,  qui  ne  me  permettc&t 
pas  le  plaisir  de  Vous  entretenir  plus  long  temps ;  je  me  vois  oblige  de 
Vous  marquer  seulement  le  Remerciment  de  Mademoiselle  de  Belleville, 
sur  Vos  Complimens,  et  de  la  part  de  mon  Amie  de  meme.  etant  avec 
une  Estime  parfaite 

A  Leipsic  le  agme  d'Aout  1751. 

Monsieur 

Votre  tres  h.  et  tres  ob.  Serviteur 

Gottsched. 

In  seiner  schon  am  2.  September  erfolgten  Antwort  beteuert 
d'Arnaud  seine  Dankbarkeit  für  die  vielfachen  Aufmerksamkeiten  Gott- 
scheds, verbessert  einige  Druckfehler,  welche  sich  in  die  Veröffentlichung 
seines  „Clitus"  und  den  übersandten  Druckbogen  seines  ^Bel-Esprit'' 
eingeschlichen  hatten,  äufsert  wiederholt  seine  Sehnsucht  nach  Leipzig, 
verspricht  baldige  Einhändigung  des  Lustspieles  an  Frau  Gottsched, 
stellt  von  neuem  ein  Exemplar  der  nun  erschienenen  Ausgabe  seiner 
Gedichte  in  Aussicht  und  bittet  Gottsched  zugleich,  die  Entrüstung  des 
Verfassers  über  die  unverzeihlichen  Druckfehler  derselben  zur  öffentlichen 
Kenntnis  zu  bringen.  In  seinem  Ärger  entfahrt  ihm  die  Aufserung: 
„les  libraires  sont  de  grands  fripons;  pourvu  qu'ils  vendent  du  papier, 
ils  sont  Contents.'* 

Die  Antwort  Gottscheds  auf  diesen  Brief  d'Arnauds  sowie  auf 
mehrere  folgende  scheint  verloren  gegangen  zu  sein.  Jedenfalls  findet 
sich  in  den  uns  vorliegenden  Briefen  kein  weiteres  Schreiben  Gottscheds 
mehr  bis  zum  4.  März  1752.  Wir  teilen  als  Ersatz  für  diese  längere 
Lücke  einiges  aus  den  Briefen  d*Arnauds  mit. 

Am  29.  November  1751  überschickte  letzterer  an  seinen  Leipziger 
Gönner  ein  Exemplar  einer  von  ihm  gedichteten  Ode,  mit  der  Bitte, 
dieselbe  in  seiner  Zeitschrift  gerade  so  abdrucken  zu  lassen,  wie  sie  in 
der  in  Berlin  erscheinenden  „AbeiUe**  mitgeteUt  worden  war.  Diese  nicht 
näher  bezeichnete  Ode  ist  höchst  wahrscheinlich  diejenige,  welche  er 
auf  die  Geburt  des  Herzogs  von  Burgund,  dessen  Mutter  eine  sächsisch^ 
Prinzessin  war,  gedichtet  hatte.  Dem  Wunsche  des  Verfassers  entsprach 
aber  Gottsched  jedenfalls  nur  insoweit,  dafs  er  gelegentlich  einer  neuen 


j 


Sechs  französische  Briefe  Gottscheds  an  Baculard  d*Arnaud.  157 

Auflage  dieser  französischen  Dichtung  unter  der  Aufschrift  ^La  naissance 
de  monseigneur  le  Duc  de  Bourgogne,  Ode,  etc.  par  Mr.  D'Arnaud  etc."  (a 
Berlin  chez  Etienne  de  Bourdeaux)  in  der  „Anmutigen  Gelehrsamkeit,** 
1752,  S.  79 — 80,  eingehend  anzeigte,  ohne  den  Text  selbst  zu  bieten. 
Übrigens  hatte  früher  schon  Gottsched  selbst  die  Geburt  desselben 
Prinzen,  besungen  und  seine  Ode  in  der  genannten  Zeitschrift  1751, 
S.  818 — 824,  veröffentlicht 

Von  gröfserem  Interesse  ist  der  am  8.  Januar  des  folgenden  Jahres 
geschriebene  Brief,  in  welchem  d  Arnaud  unserem  Gottsched  mit  Beziehung 
auf  dessen  ihm  übersandten  Oden  die  gröfsten  Lobeserhebungen  macht 
und  sich  in  übertriebener  Bescheidenheit  als  dessen  Schüler  bezeichnet. 
Zugleich  überschickt  er  ihm  die  neueste  seiner  eigenen  Dichtungen,  eine 
Ode  auf  das  Geburtsfest  des  Prinzen  Friedrich  August  von  Sachsen, 
durch  welche  der  französische  Dichter  seine  Dankbarkeit  gegen  das 
sachsische  Fürstenhaus  und  seine  Achtung  für  das  ganze  sächsische 
Volk  öffendich  aussprechen  wölke. 

Le  8  Jan.  1 752  a  Dresde. 
Monsieur 

n  y  a  longtems  que  j*aurois  eu  l'honneur  de  vous  repondre  si  une 
maladie  asses  longue  ne  m'en  eut  empeche;  ä  peine  recus  je  vos  ödes, 
que  je  les  remis  entre  les  mains  des  personnes  que  vous  m'aves  indiquees. 
Je  ne  sui  ici  que  Techo  du  public,  mais  je  puis  vous  assurrer,  que  c'est 
avec  un  plaisir  bien  sincere  que  je  vous  dis  que  tout  le  monde  est 
content  de  cet  ouvrage.  Autant  que  j'en  puis  juger  par  la  traduction 
que  m'en  a  faite  en  courant  M<Je  Schubb,  j'aurois  tout  lieu  de  vous 
porter  envie,  mais  on  est  force  d'aimer  et  d'estimer  des  rivaux  tels  que 
vous.  Ma  vanite  trouve  son  compte  a  repeter  les  eloges  que  tout 
Dresde  vous  a  donnes;  c*est  ä  vous  ä  me  servir  de  modele,  et  non  a 
m'imiter.  Je  ne  suis  point  la  dupe  de  cette  modesde  dissimulee,  c^est 
moi  qui  suis  Tecolier.  C*est  ä  ce  titre  que  je  vous  ofFre  une  nouvelle 
ode  que  je  viens  de  composer,  on  en  paroit  asses  content  ä  la  cour,  je 
souhaitte  meriter  votre  suflFrage,  cette  piece  est  une  espece  de  temoignage 
public  de  mon  estime  pour  la  nation  et  en  meme  tems  de  ma  reconnaissance, 
je  n*en  ai  fait  imprimer  que  50  exemplairs,  si  vous  souhaittes  la  faire 
reimprimer  a  leipsUc  en  la  donnant  a  quelque  libraire,  vous  etes  bien  le 
.  maitre,  ou  je  vous  prie  d*avoir  la  bonte  de  Tinserer  dans  Votre  excellent 
Journal;  mon  ode  sur  le  Duc  de  bourgogne  y  est  eile?  je  vous  serai 
bien  oblige  de  m'envoyer  le  Journal  qui  la  renferme. 

Voyes  vous  mdelle  de  belleville?  c'est  une  paresseuse,  dont  on  ne 
scauroit  arracher  un  mot  de  reponse,  malgre  tout  cela  je  n'en  suis  pas 
moins  son  serviteur  et  je  Tassure  de  mes  respects. 

Jattends  toujours  mes  ouvrages  avec  impatience  pour  vous  en  offrir 
i;n  exemplair,  toute  miserable  que  soit  Tedition.  Mde.  Schubb  vous 
remercie  infintment  de  votre  politesse;  eile  vient  de  perdre  Mr.  son  pere 
qui  est  mort  il  y  a  deux  jours.     Je  vous  prie  d'assurer   de    mes  tres 

ir 


158  Theodor  SQpfle. 


humbles    respects  Madame,  vous  etes  bien  heureux  dans  vos   travaux 
litteraires  d*avoir  une  pareUle  rivale,  eile  est  digne  de  yo.us. 

Daignes  me  donner  de  vos  nouvelles  et  de  Celles  de  Madame  et 
me  continuer  vos  bons  sentiments,  je  ne  scache  rien  de  nouveau  dans 
notre  litterature  fraacoise  que  je  puisse  vous  mander;  tous  nos  auteurs 
sont  silentieux,  peutetre  que  le  public  gagne  a  ce  siience.  Vous  verres 
dans  mon  ode  ce  que  je  pense  de  Leipsik,  c^est  un  hommage  que  j*ai 
cru  vous  devoir  ä  vous  et  ä  vos  illustres  compatriotes. 

Je  suis  avec  la  plus  gfrande  consideration 

Monsieur 

Votre  tres  humble  etc. 

Da  Gottsched  diesen  Brief  nicht  rasch  beantwortete,  so  fragt  d*Aniaud 
unter  dem  ii.  Februar  1752  an,  ob  ersterer  seine  ihm  übersandte  und 
im  vorigen  Briefe  besprochene  „Ode  sur  Taniversaire  de  la  oaissance 
du  prince  Frederic  Auguste"  erhalten  habe. 

Hierauf  nun  antwortete  Gottsched  endlich  nach  weiterem  längerem 
Schweigen  mit  nachfolgendem  Briefe,  welcher  der  letzte  der  sechs  wieder- 
aufgefundenen ist.  Er  teilt  darin  d'Arnaud  mit,  dafs  er  dessen  Ode  auf 
das  erste  Geburtsfest  des  Erbprinzen  August  von  Sachsen  in  seiner  Zeit- 
schrift, vgl.  „Anmutige  Gelehrsamkeit",  Februar,  1752,  S.  152 — 155 
„L*Aimiversaire  de  la  naissance  de  son  Altesse,  Monseigneur  le  Prince 
Frederik  Auguste,  Ode,  etc.,  par  Mons.  d*Amaud,  Cons.  de  Leg.  de 
S.  M.,  Membre  de  TAcad.  roy.  des  Sei.  de  Prusse,  ä  Dresde  in-4  im 
Auszuge  vorgelegt  habe.  Die  gleichzeitig  erwähnte  Ode  sur  la  naissance 
du  Duc  de  Bourgogne  war,  wie  schon  berichtet  im  Januarmonate  derselben 
Zeitschrift  (1752,  S.  70—80)  anerkennend  besprodien  worden. 

Ob  Gottsched  zuletzt  wirklich  ein  Exemplar  der  oft  versprochenen 
Gesanuntausgabe  der  leichteren  Dichtungen  d*Arnauds  (oeuvres  diverses, 
Paris,  1851,  3  vol.  in -12),  welche  er  wegen  der  vielen  Druckfehler  bald 
desavöuirte,  erhalten  hat,  können  wir  nicht  angeben.  Wahrscheinlich  erhiek 
er  keines  zugeschickt.  Denn  sonst  würde  er  wohl  das  in  dem  nach- 
folgenden Briefe  gemachte  Anerbieten,  dieselben  in  seiner  Zeitschrift  zu 
besprechen,  verwirklicht  haben. 

Monsieur, 

Une  infinite  d'Occupations  m*a  empeche  plus  de  dix  fois  de  repondre 
ä  Votre  chere  derniere ;  et  ce  pourquoi  j*espere  que  Vous  me  pardonnerex 
gracieusement  ce  delai  involontaire.  Cependant  j'ai  lü  avec  beaucoup 
de  plaisir  Votre  exellente  piece,  et  j'en  ai  fait  un  Extrait  dans  le  mois 
de  Fevrier,  comme  Vous  verrez  dans  le  Jan  vier  la  premiere  de  Vos 
Ödes.  II  ne  m'a  pas  ete  possible  d'en  donner  des  copies  entieres:  nos 
Lecteurs  allemands  n^entendant  pas  assez  de  fran9ois,  pour  ne  pas  etre 
rebutes,  quand  je  leur  donne  trop  de  ces  delices. 

J'attend  avec  impatience  un  Exemplaire  de  Vos  ouvrages,  pour  en 
donner  un  Extrait.     Faites  en  faire,  Monsieur,  par  Mr.  Walther  ä  Dresde, 


Sechs  französische  Briefe  Gottscheds  an  Baculard  d'Arnaud.  159 


qui  fait  imprimcr  Voltaire,  Mauperdus  dans  une  Edition  nouvelle,  augmentee, 
corrigee,  etc.  pour  braver  les  Libraires  Parisiens.  Ma  compagne  Vous 
salGe  tres  humblement,  et  moi  je  suis  avec  toute  cordialite 

Monsieur 

Votre  tres  h.  et  tres  ob.  Serviteur 

Gottsched. 
A  Leipsic  le  4^6  du  Mars  1752. 

Auf  diesen  Brief  antwortete  ihm  d*Amaud  mit  einem  längeren 
Schreiben,  in  welchem  besonders  seine  freie  Äufserung  über  einige 
Mängel  der  französischen  Dichtersprache  bemerkenswert  ist.  Die  von  ihm 
erwähnten,  in  Deutschland  gedruckten,  Lamentations  de  Jeremie,  welche 
in  das  Gebiet  der  ödes  sacrees  gehören,  erschienen  etwas  später,  als 
der  Dichter  beabsichtigte,  im  Jahre  1757  in  einer  besseren  Ausgabe  in 
Paris;  vgl.  Annee  litteraire,  1757,  t.  V,  p.  169.  Obgleich  diese  Dichtung 
d'Amauds  wiederholt  aufgelegft  wurde,  ist  sie  doch  sehr  mittelmäfsig,  und 
Voltaire  machte  sich  über  sie  in  dem  bekannten  quatrain  lustig: 

Savez-vous  pourquoi  Jeremie 
A  tant  pleure  pendant  sa  vie? 
Cest  qu'en  prophete  il  prevoyait 
Que  Baculard  le  traduirait. 

Späterhin  setzte  Voltaire  den  Namen  Pompignan  an  die  Stelle  des- 
jenigen von  Baculard. 

Wir  lassen  nunmehr  dessen  Brief  an  Gottsched  folgen: 

« 

Monsieur 

Je  ne  scaurois  trop  vous  temoigner  ma  reconnoissance  sur  les 
procedes  estimables  que  vous  aves  avec  moi,  vous  aves  daigne  parier 
de  mes  ödes  dans  vos  deux  excellents  joumaux,  je  vous  en  ai  mille 
vraies  obligations.  Voici  un  nouvel  ouvrage  de  ma  fa^on  que  je  vous 
pric  d'accepter,  je  souhaitte  qu'il  soit  de  votre  gout;  la  reine  ainsi  que 
l*auguste  famille  roiale  Ta  re9u  avec  bonte;  vous  aves  bien  raison  de 
xne  recommander  de  faire  une  edition  ches  Walter,  car  celle  de  Paris 
est  affreuse,  je  ne  Tai  point  encore  repüe,  je  compte  Tannee  prochaine 
donner  une  nouvelle  edition  de  mes  lamentations  de  Jeremie  avec  des 
notes,  c'est  un  des  ouvrages  qui  m*a  coute  le  plus  de  peine  et  en  meme 
tems  de  plaisir.  il  y  a  un  sublime  dans  Toriginal  que  notre  langue 
franpaise  n*atteint  qu  avec  peine.  Car  je  suis  persuade  plus  que  jamais 
que  ma  langue  est  bien  au  dessous  de  la  grecque  et  de  la  latine,  je 
dirai  meme  de  Titalienne  pour  la  grande  poesie.  Cest  une  servitude 
continuelle,  d*ailleurs  les  metaphores  qui  fönt  Tornement  du  Stile  poetique 
demandent  beaucoup  de  menagement  dans  notre  langue.  je  ne  scais  si 
Tallemand  est  aussi  ingrat  pour  la  poesie,  je  vous  laisse  decider  cette 
question,  vos  lumieres  la  dessus  sont  si  generalement  connues  que  vous 
pouves  prononcer  en  maitre. 


160  Theodor  Süpfle. 


Mille  respects  ä  Madame,  je  compte  avoir  l'honneur  de  vous  voir 
fa  foire  prochaine. 

je  suis  avec  la  plus  haute  consideration 

Monsieur  Votre  etc. 

Le  8  av.  1753  ä  Dresden. 

Nun  folgt  eine  Lücke  von  etwa  vier  Monaten  in  dem  Briefwechsel. 
Wie  d*Amaud  der  erste  gewesen  war,  welcher  ihn  einleitete,  so  ist  auch 
sein  Brief  vom  14.  August  derjenige,  welcher  ihn  abschliefst,  jedenfalls 
der  letzte,  welcher  auf  der  Leipziger  Universitätsbibliothek  aufbewahrt  ist. 

Durch  die  in  diesem  Schreiben  erwähnte  Ode,  welche  die  Aufschrift 
„La  Convalescence  de  Son  A.  R.  Mons.  le  Prince  Charles"  trägt,  wollte 
d'Arnaud  dem  Kurfürsten  von  Sachsen  seine  anhängliche  und  dankbare 
Gesinnung  gleichfalls  bezeugen.  Sie  wurde  später  in  der  ^Anmutigen 
Gelehrsamkeit",  1752,  S.  421— 424,  vollständig  mitgeteilt. 

Der  letzte  Brief  d'Arnauds  lautet  folgendermafsen: 

Monsieur 

Series  vous  indispose?  je  suis  inquiet  de  ne  recevoir  aucune  de  vos 
nouvelles.  j*ai  par  hasard  lu  mon  ode  dans  votre  Journal  qui  est  tombc 
entre  mes  mains,  je  vous  en  ai  mille  obligations,  je  suis  bien  fache  de 
ne  vous  avoir  pas  encore  envoye  votre  comedie,  je  Tavois  commence. 
Des  maladies  continuelles  m'empechent  de  me  livrer  ä  mes  travaux  et 
me  forcent  pour  quelque  tems  de  les  suspendre.  je  compte  profiter  de 
Tabsence  de  la  cour  pour  aller  faire  un  voyage  en  Dannemarck.  Si  je 
puis  vous  etre  bon  ä  quelque  chose  en  ce  pays,  parles,  je  suis  pret  a 
vous  servire,  je  reviens  ä  Dresden  au  mois  de  janvier  prochain.  Mes 
respects  ä  Madame  votre  epouse,  je  suis  avec  la  plus  haute  consideration 

Monsieur 

Votre  tres  humble  etc. 
A  Dresden  ce  14  aout. 

Ob  der  Dichter  seine  Reise  nach  Dänemark  wirklich  ausgeführt  hat, 
wissen  wir  nicht.  Jedenfalls  aber  verliefs  er  nach  einiger  Zeit  Dresden 
für  immer,  um  nach  Paris  zurückzukehren,  wohin  ihn  zunächst  das  Heim- 
weh, zugleich  aber  auch  eine  Einladung  des  Grafen  von  Friesen  zog, 
welcher  bekanntlich  ein  Neffe  des  von  Baculard  besungenen  Grafen  Moritz 
von  Sachsen  war.  In  seiner  Heimat  und  bei  den  vollständig  veränderten 
Verhältnissen  scheint  er  aber  den  vordem  eifrig  umworbenen  Gottsched 
vollständig  vergessen  zu  haben.  Jedenfalls  finden  wir  seinen  Namen  und 
seine  Erzeugnisse  in  des  letzteren  Zeitschrift  nie  mehr  erwähnt. 


-.•.■ 


VERMISCHTES. 


■  •••• 


Hans  Sachsens  Fastnachtspiel  von   dem  gestohhien 
Fachen  =  Boccaccio,  Dekameron  VIII,  6. 


Von 
Fritz  Neumann. 


In  seiner  Ausgabe  der  Hans  Sachsischen  Fastnachtspiele  (Sämmtliche  Fast- 
nachtspiele von  H.  S.  in  chronolog.  Ordnung  nach  den  Originalen  heraus- 
gegeben vonE.Goetze;  Halle,  Niemey er = Neudrucke  deutscher  Litteratur- 
werke  des  XVL  u.  XVII.  Jahrhunderts.  26/27,  3^/3^1  39/40»  4^/431 
51/52,  60/61)  hat  der  verdiente  Herausgeber,  so  weit  es  möglich  war, 
auch  stets  kurz  über  die  Quellen  des  Dichters  Aufschlufs  gegeben. 
Ein  solcher  Aufschlufs  fehlt  jedoch  für  das  41.  Fastnachtspiel  von  dem 
gestohlnen  Fachen  (IV.  Bändchen  S.  36  fF. ;  vgl.  ebenda  S.  VII,  der  Einl.;  in 
der  Keller-Goetzeschen  Ausgabe  für  den  Stuttgarter  Lit.  Verein  Bd.  XIV, 

5.  220  ff.);  es  heifst  vielmehr  in  der  Einleitung  der  erstgenannten  Ausgabe: 
„Der  Meistergesang  in  Frauenlobs  Zug  weise  mit  dem  Anfange:  Ein 
karger  pawer  het  ein  Saw  gestochen.  .  .  .,  der  denselben  Stoff  behandelt, 
giebt  über  die  Quelle,  der  der  Dichter  folgte,  auch  keine  Auskunft." 
Da  es  nun,  wie  der  Herausgeber  a.  a.  O.  S.  XXI  mit  Recht  bemerkt, 
„von  grofser  Wichtigkeit  ist,  zu  wissen,  woher  der  Dichter  die  Fabel 
zu  seinen  Geschichten  genommen,"  so  möge  hier  in  Kürze  der  Nachweis 
der  Goetze  noch  unbekannt  gewesenen  Quelle  für  das  in  Frage  stehende 
Fastnachtspiel  folgen.  Die  Fabel  stammt  auch  hier,  wie  in  so  vielen 
andern  Fastnachtspielen  des  Hans  Sachs  aus  Boccaccios  Dekameron;  es 
ist  die  Geschichte  von  Calandrinos  gestohlenem  Schwein  (Dek.  VIII.  Tag, 

6.  Novelle;  bei  Steinhöwel  in  der  Kellerschen  Ausgabe  S.  489  ff.), 
die  H.  Sachs  in  seinem  Spiel  dramatisiert  hat.  Der  wesentliche  Erzählungs- 
inhalt —  auf  denselben  hier  näher  einzugehen,  wird  nicht  nötig  sein,  da 
wohl  jeder  H.  Sachs  und  Boccaccio  zur  Hand  hat,  und  nachlesen  kann  — 
ist  bis  zu  einem  solchen  Grade  übereinstimmend,  dafs  ein  Abhängig- 
keitsverhältnis, sei  es  nun  ein  direktes  oder  indirektes,  zwischen  H.  Sachs 


162  Fritx  Neumann. 


und  Boccaccio  unbedingt  angenommen  werden  mufs.  Nur  hat  H.  Sachs 
mit  dem  ihm  überkommenen  Stoff  frei  geschaltet  und  sich  eine  Reihe 
Änderungen  erlaubt,  die  jedoch  den  Kern  der  Erzählung  in  keiner  Weise 
treff^en.  Vor  allem  ist  aus  der  „Künstleranekdote"*)  des  Boccaccio  bei 
Hans  Sachs  ein  derber  Bauemscherz  geworden.  Aus  den  beiden  Künstlern 
Bruno  und  Buifalmacco  sind  die  zwei  Bauern  Heintz  Knol  und  Cuntz 
Drol  geworden,  aus  Calandrino  Herman  Doli;  letzterer  aber  sowohl  bei 
H.  Sachs  wie  bei  Boccaccio  der  Geizhals  (der  karg  pawr,  filtz  —  avaro), 
der  wegen  seines  Geizes  von  den  zwei  Freunden  um  sein  Schwein 
geprellt  wird.  Der  Pfarrer  tritt  bei  beiden  Dichtern  auf,  nur  hat  H.  Sachs 
seine  Rolle  zu  einer  Hauptrolle  erweitert,  während  derselbe  bei  Boccaccio 
völlig  Nebenfigur  ist.  Bei  H.  Sachs  ist  der  Pfarrer  weit  mehr  aktiv  am 
Verlauf  der  Handlung  beteiligt:  er  ist  es  hier,  der  den  scherzhaften 
Betrug  mit  den  Ingwer-  und  Aloe-Pillen,  wodurch  Herman  Doli  selbst 
als  der  Dieb  des  Schweines  hingestellt  wird,  ins  Werk  setzt,  während 
bei  Boccaccio  dem  Bruno  diese  Rolle  zufallt.  Derartiger  kleiner  Änderungen 
sind  noch  manche  zu  verzeichnen.  *  So  ist  vor  allem  der  Eingang  der 
Boccaccioschen  Erzählung  von  H.  Sachs  ganz  weggelassen.  Dort  wird 
erzählt,  wie  die  beiden  Freunde  den  Calandrino  bereden  wollen,  er  möge 
das  Schwein  verkaufen  und  dann  das  Geld  mit  ihnen  vertrinken,  wogegen 
er  seiner  Frau  vorlügen  solle,  das  Schwein  sei  ihm  gestohlen;  Calandrino 
geht  jedoch  aus  Furcht  vor  seiner  Frau  auf  diesen  Vorschlag  nicht 
ein;  die  Freunde,  unterstützt  vom  Pfarrer,  machen  Calandrino  dann 
betrunken,  und  dieser  läfst  in  der  Betrunkenheit  das  Haus  offnen,  so  dafs 
jene  das  Schwein  ohne  Schwierigkeiten  ausfuhren  können.  Anders 
bei  Hans  Sachs.  Das  Stück  beginnt  gleich  mit  einem  Zwiegespräch 
zwischen  Heintz  Knol  und  Cuntz  Drol,  worin  dieselben  beschliefsen, 
dem  filzigen  Herman  Doli  sein  Schwein  zu  stehlen.  Sie  machen  ihn  aber 
nicht,  wie  bei  Boccaccio  geschieht,  zu  diesem  Zwecke  betrunken,  sondern 
brauchen  für  Ausfuhrung  ihres  Diebstahls  eine  besondere  List.  Die 
Umgestaltung  dieses  Eingangs  und  die  erweiterte  Rolle,  die  Hans  Sachs 
dem  Pfarrer  zuteilt,  sind  übrigens  die  zwei  bedeutendsten  Abweichungen, 
die  der  Dichter  gegenüber  Boccaccio  aufweist.  Die  übrigen  Unterschiede 
betreffen  Einzelheiten  und  Nebensächliches.  So  hat  Hans  Sachs  einiges 
weggelassen;  bei  Boccaccio  findet  das  Manöver  mit  den  Aloe-PiUen 
zweimal  statt,  bei  Hans  Sachs  nur  einmal;  die  bei  Boccaccio  statt  der 
Aloe-Pillen  zuerst  vorgeschlagene  Probe  mit  geweihtem  Brot  und  Käse 
fehlt  ganz  bei  Hans  Sachs  u.  dgl.  m.  Auf  der  anderen  Seite  jedoch 
sehen  wir  Hans  Sachs  selbst  kleine  Nebenzüge  aus  seiner  Vorlage  hin- 
übernehmen, wenn  er  sie  auch  bisweilen  anders  verwendet  und  an  anderer 
Stelle  anbringt,  als  bei  Boccaccio  geschieht.  Wenn  Heintz  Knol  zu 
Beginn  des  Fastnachtspiels  (Vers  12)  sagt: 

Ich  zecht  nechten  mit  vnserm  Pfaffen, 

so  erinnert  das  sofort  an  die  schon  vorhin  erwähnte  Zeche,  zu  der  sich 


*)  S.  Marcus  Landau,  Die  Quellen  des  Dekameron,  3.  Aufl.,  Stuttgart  1884,  S.  335£ 


j 


Hans  Sachsens  Fastnachtspiel  von  dem  grestohlenen  Fachen.  163 

bei  Boccaccio  Bruno,  Buffalmacco  und  Calandrino  mit  dem  PfafFen  vereinen, 
nur  dafs  bei  dem  italienischen  Dichter  diese  Zeche  eine  weitere,  tiefere  Be- 
deutung für  den  Gang  der  Erzählung  hat,  während  sie  bei  Hans  Sachs 
nichts  zu  bedeuten  hat.  Die  Angst  vor  der  Frau  ist  ein  öfters  hervor- 
gehobener gemeinsamer  Charakterzug  des  Herman  Doli  und  Calandrino. 
Das  gestohlene  Schwein  tragen  Bruno  und  BufFalmacco  bei  Boccaccio  zum 
Pfarren  der  sich  schon  vorher  in  Bezug  auf  den  dem  Calandrino  zu  spielen- 
den Streich  gern  einverstanden  erklärt  hat.  Man  vergleiche  damit  die 
Verse  in  ff.  bei  Hans  Sachs: 

Cuntz  Drol:     Wo  wöl  wir  mit  dem  bachen  naufs? 

Heintz  Knol:     Wir  wollen  zu  dem  Pfarrer  tragen, 

Ich  thet  jm  heut  frü  daruan  sagen. 
Ach,  wie  lacht  sein  der  frölich  Man! 

Bei  Haps  Sachs  fordert  der  Pfarrer  den  Herman  Doli  auf,  er  soUe 
^die  Nachtbawm  allhie  her  in  die  KirchhoflF  mawrn"  zusammenfordem, 
um  dort  das  Mittel  mit  den  Ingwerpillen  an  ihnen  zu  versuchen  (V.  185); 
bei  Boccaccio  versammeln  sich  die  Nachbaren  ebenfalls  „dinanzi  sdla 
chiesa  intomo  all'  olmo."  Weiterhin  (V.  198)  läfst  Hans  Sachs  die  zum 
Betrug  zu  verwendenden  Pillen  „von  Aloe  vnd  Huntzdreck  gemacht" 
sein;  es  ist  das  ein  Misverständnis  der  Stelle  bei  Boccaccio,  wo  es  heifst: 
y,Bruno  ....  comperö  una  libbra  di  belle  galle  di  gengiovo,  e  fecene 
far  due  di  quelle  del  cane,  le  quali  egli  fece  confettare  in  uno  aloe 
patico  fresco";  vgl.  auch  Steinhöwel,  der  in  gleicher  Weise  von  „zwu 
fallen  von  aloe  vnd  hunczkote"  spricht,  (a.  a.  O.  S.  492).  Bei  Boccaccio 
ist  vom  Einsegnen  (benedire)  des  Ingwer  die  Rede;  Hans  Sachs  läfst  im 
Anschlufs  daran  den  Pfarrer  einen  „starcken  Segen"  über  den  Ingwer 
sprechen  (V.  220  ff.).    Auch  die  Stellen  bei  Hans  Sachs 

V.  132  ff.     Cuntz  Drol  spricht: 

Du  hast  jn  (den  bachen)  etwan  selb  verholen, 
Weil  niemandt  kundt  hat  in  dein  Haufs, 
Hast  du  jn  selber  tragen  aufs. 
Wirst  jn  der  Strigel  Christen  schenken. 

V.  270  ff.     Heintz  Knol  .  .  .  spricht: 

Nein,  Cuntz,  das  thu  ich  euch  verneinen. 

Wir  wollen  jn  wol  herter  hawen. 

Wir  wöllens  sagen  seiner  Frawen, 

Er  hab  den  bachn  aufstragen  eben 

Vnd  den  der  Strigel  Christen  geben. 

haben  ihr  Vorbild  bei  Boccaccio  in  jener  Stelle  gegen  Ende  der  Er- 
zählung, wo  Bruno  zum  Calandrino  sagt:  '  „Intendi  sanamente,  Calandrino, 
che  egli  fu  tale  nella  brigata  che  con  noi  mangiö  e  bevve,  che  mi  disse 
che  tu  avevi  quind  su  una  giovinetta  che  tu  tenevi  a  tua  posta,  e  davile 
ciö  che  tu  potevi  rimedire,  e  che  egli  aveva  per  certo  che  tu  Tavevi 
mandato  questo  porco,  nur  dafs  Hans  Sachs  seiner  Gewohnheit  gemäfs 


164  Johannes  Bolte. 


der  bei  Boccaccio  unbestimmt  gelassenen  ^giovinetta"  einen  bestimmten 
Namen  lieh.  Als  Bufse  legen  die  zwei  Bauern  dem  Herman  Doli  bei 
Hans  Sachs  auf,  ihnen  einen  Gulden  zum  Vertrinken,  dazu  20  Bratwürste 
zu  geben;  eine  ähnliche  Buise  legen  Bruno  und  Buffalmacco  zum  SchluCs 
auch  Calandrino  auf,  nur  besteht  die  Bufse  hier  in  zwei  Kapaunen. 

Diese  Einzelheiten,  zusammen  genommen  mit  der  völligen  Überein- 
stimmung im  Haupterzählimgsinhalt  werden  den  engen  Zusammenhang 
zwischen  Hans  Sachsens  Fastnachtspiel  von  dem  gestohlnen  Fachen  und 
der  Boccacdo'schen  Erzählung  von  Calandrinos  gestohlenem  Schwein 
wohl  als  aufser  Zweifel  stehend  erscheinen  lassen. 

Freiburg  i.  Br. 


••••- 


Ein  deutsches  Urteil 
über  Dante  aus  dem  17.  Jahrhundert, 


Von 
Johannes  Bolte. 


Der  Fürst  Ludwig  von  Anhalt-Cöthen  (1579 — 1650),  den  die 
Litteraturgeschichte  als  den  Begründer  und  langjährigen  Vorstand  der 
fruchtbringenden  Gesellschaft  kennt,  erzählt  in  der  gereimten  Beschreibung 
seiner  1599  nach  Italien  unternommenen  Reise  (Beckmann,  Accessiones 
historiae  Anhaltinae,  Zerbst  17 16,  S.  288)  von  seinem  Aufenthalte  zu 
Neapel: 

Nun  wir  Pozzuolo  einst  zur  lust  noch  solten  sehen, 

Dar  die  Malteser  dan  mit  uns  hin  wolten  gehen, 

Mehr  zur  erlustigung  da  dan  bey  ihnen  war 

Ein  mann  von  Napoli  von  der  nicht  klugen  schar, 

Diensthaftig  er  sich  zeigt,  und  Dante  ward  geheissen. 

Er  redte  Beyrisch  deutsch,  kont  manchen  Possen  reissen, 

Mit  Pommerantzen  dicht  gar  oflft  geworffen  ward. 

Und  an  sich  hatte  doch  stets  sein  hochsteigend*  art 

Ihm  zwen  Sprichwörter  auch  im  zorne  waren  eigen, 

Die  er,  wan  er  gerührt,  mit  heftigkeit  thet  zeigen, 

Das  eine  war,  das  er  Bier  Esel  einen  nent. 

Im  andern  schmäht  er  auch,  und  schrie:  heraus  Hans  Bend. 

Die  Ritter  ihre  zeit  mit  ihme  wol  vertrieben. 


Bin  deutsches  Urteil  über  Dante  aus  dem  1 7.  Jahrhundert.  165 

Und  gute  freund*  iedoch  by  g^ter  kurtzweil  blieben, 

Er  von  der  freündschaft  sich  aus  den  Poeten  gab, 

Der  aus  Florentz  sehr  wol  gefuhrt  den  dichterstab*) 

Drey  schöne  Bücher  hat  Reimweise  wol  geschrieben, 

In  reiner  Tuscier  sprach*,  und  die  sehr  hoch  getrieben, 

Vom  Fegefeür,  der  Hell*  und  von  dem  Paradies*, 

Die  letzten  deren  zwey  gar  klar  sind  und  gewis. 

Das  fegefeür  allein  von  Pfa£fen  ist  erfunden, 

So  die  gewissen  dran  nur  alzu  steif  gebunden, 

Und  halten  solche  stets  damit  in  harten  zwang, 

Als  wan  nach  ihrem  tod  sie  blieben  alzulang* 

In  solcher  feüerqual,  wan  sie  nicht  geld  hergeben 

Und  guter,  darvon  dan  die  Herren  wolzuleben: 

Insonderheit  der  Papst  ihr  Herr  die  oberhand 

Behelt  in  eitler  weit,  und  seinem  höchsten  stand. 

Sonst  die  erfindung  ist  hoch  dieses  Manns  zu  preisen. 

Der  sehr  viel  gutes  dings  hat  drinnen  wollen  weisen. 

Wiewol  die  spräche  wird  gehalten  etwas  schwer, 

Und  g^ter  lehren  vol  sein  buch  ist  doch  noch  mehr 

Zu  achten,  weil  darbey  viel  kunst  hat  angeleget 

Und  mühe  dieser  Mann,   der  immer  darvon  treget 

Den  nachruhm  mit  dem  lob*,     in  dem  ihm  niemand  gleicht, 

Viel  münder,  als  man  sagt,  das  wasser  keiner  reicht 

Dass  der  Fürst  wirklich  eine  aufsergewöhnliche  Kenntnis  der 
italienischen  Litteratur  besafs,  zeigt  seine  Aufnahme  in  die  Florentiner 
Accademia  della  Crusca,  deren  Einrichtungen  ihm  als  Muster  für  die 
fruchtbringende  Gesellschaft  dienten,  und  seine  1643  gedruckte  Über- 
setzung der  Trionfi  Petracas.  Auch  sonst  ist  seine  wohl  in  höherem 
Alter  nach  früheren  Aufzeichnungen  abgefafste  Reisebeschreibung  für 
die  Verbreitung  des  italienischen  Geschmackes  in  Deutschland  von 
Wert.     Gleich  bei  der  Ankunft  in  Neapel  heifst  es  (S.  253): 

Comoedjen  wurden  dar  und  trauerspiel  gespielt, 
Der  Schauplatz  öfters  auch  von  leuten  sehr  gefült. 
Der  Narr  hiefs  Pasquarel,  der  gar  viel  possen  risse. 
Dem  Napoltaner  nach  zuthun  er  sich  befliesse: 
Da  dan  Spavento  must  auch  kommen  auf  die  bahn. 
Und  wie  so  hoch  verliebt  er  sich  erzeigen  kan. 

In  Florenz  sieht  er  im  Turme  des  Palazzo  vecchio  zwei  gfrofse  Säle, 
von  denen  der  eine  viele  Marmorstatuen  enthält  (S.  236): 

Im  andern  grofser  höh*  auch  werden  oft  gehalten 
Viel  freudenspiele,  die  man  nimmet  aus  den  alten 
Poeten,  dan  sie  wol  einrichtet  nach  der  zeit. 
Das  man  zu  sagen  weis  von  ihnen  weit  und  breit, 
Geredet  oder  auch  wol  in  Musick  gesungen, 

*)  am  Rande:  Dante  Alg^hieri.     In  Lingua  Toscana  Dal  Purj^atorio,  Inferno.  Paradiso. 


16ß  Johannes  Bolte. 


Wie  das  ist  hergebracht  von  Griechen  auf  die  jungen, 
Die  dieses  orts  jetzt  seind,  und  tragen  weg  den  preüs, 
Das  ihnen  nachzuthun  so  leichtlich  man  nicht  weUs. 
Der  Schauplatz  oftermals  wird  gäntzlich  ümgekehret, 
Mit  Wasser,  bald  mit  wald,  und  Häusern  dan  vermehret, 
So  nach  durchsichtig*  art  das  äuge  füllet  wol, 
Wie  solches  nach  der  kunst  gefertigt  werden  soll.*) 

Bekannt  ist  sein  Bericht  über  die  1595  ^^°  ^^  besuchten  Londoner 
Theater  (S.  172): 

Hier  besieht  man  vier  spielhäuser, 

Darinnen  man  fiirstelt  die  Fürsten  Könge,  Keyser 

In  rechter  lebens  gröfs\  in  schöner  Kleider  pracht, 

Es  wird  der  thaten  auch,  wie  sie  geschehn,  gedacht**) 

Ebenso  erzählt  er  S.  204  von  den  im  Hotel  de  Bourgogne  in  Paris 
aufgeführten  Freud-  und  Trauerspielen.  Interessant  ist  endUch  die  Be- 
merkung über  den  Unterschied  der  deutschen  und  der  französischen 
Sprache  (S.  181,  Orleans,  den  3.  Oktober  1596): 

—  Die  Zeit  nun  zuvertreiben, 
Und  von  dem  müfsiggang  gantz  ferne  weg  zubleiben, 
So  suchten  wir  den  Mann,  der  gar  kein  deutsch  verstund, 
Der  solt  uns  ihre  sprach'  eintrichtern  aus  dem  Grund, 
Er  war  von  Priester  art,  nicht  alzuhoch  gelehret, 
Doch  wies*  er  uns,  wie  wir  gantz  rein  und  unversehret 
Aussprechen  solten,  so  wie  ein  Frantzose  thut 
Dem  seine  Zunge  leicht\  und  so  leuft  wie  sein  mut 
Eilfertig  immer  fort,  man  mufs  das  Wort  nicht  zwingen, 
Nur  sprechen  fein  gelind,  es  wird  sonst  herbe  klingen: 
Wie  unsre  Deutsche  sprach'  helt  ihren  Heldenstand, 
Wen  ihr  der  rechte  thon  reicht  gleichsam  seine  band, 
Es  lefst  das  urtheil  sich  von  beyden  nicht  schlecht  feilen; 

*)  Der  Einfluis  der  italienischen  BQbnenarchitektur  auf  die  Entwicklung  der  höfischen 
Prachtvorstellunf^en  und  Opern  ist  noch  nicht  genügend  herrorgehoben.  Der  Augsburger 
Joseph  Purtenbach  folgt  in  seinem  Itinerarium  Italiae,  seiner  Architectura  civilis,  Archi- 
tectura  recreationis  (1640),  seinem  Mannhafften  Kunst-Spiegel  (1663)  überall  italienischen 
Vorbildern,  die  sich  wiederum  an  Vitruvs  Vorschriften  und  die  antiken  Baureste  hielten. 
In  Preiburg  wurde  1628  „eine  Comoedi  gehalten  auff  einer  Schawbrucken ,  so  jeden 
Act  in  einem  Augenblick  umbgedröhet  und  verändert  werden  könden^\  wie  zu  Florenz  und 
Mantua  (Überlinger  Chronik  in  Birlingers  Alemannia  10, 264).  In  Dan  zig  wurde  am 
6./ 16..  Februar  1646  bei  der  Hochzeit  des  Königs  von  Polen  „die  königliche  gro&e  und  kost- 
bare Comoedia  aus  dem  Apulejo,  von  der  Venere,  Cupidine  und  Psyche,  bei  Uecht 
gehalten,  worüber  man  gantzer  17  Wochen  lang  gearbeitet  und  ein  grosses  Geld  auffgang:ea, 
weil  sehr  ofit  und  vielmals  das  Theatrum  sich  darbey  verändert,  und  mehrentheils  Kleider 
von  gülden-  und  silbernen  Stücken  gebraucht  werden  musten.  Dieser  Actus  hat  sich  bej 
einem  unglaublichen  Geträng  des  Volks  über  fünf  Stunde  verzogen ,  darbey  dann  auff  die 
jetzige  Italiänische  Application  und  Sprache  aufifs  beste  musiciret  worden/^  (Theatrum 
Europaeum  5,806  a).  In  Wien  und  Regensburg  baute  1651  und  1663  der  Italiener 
Bumacini  Komödienhäuser  (Sitzungsberichte  der  Wiener  Akademie  VI,  161.     1851). 

**)  Vgl.  W.  Brenchley  Rye,  England  as  seen  by  Foreigners  in  the  Days  of  Elizabeth 
and  James  the  First,  Lond.  1865.  S.  ai6. 


1 


Der  Verfasser  des  deutschen  Volksbuchs  von  den  Heymonskindern.  167 

Fährt  man  nur  obenhin,  man  wird  sich  überschnellen. 
Wie  unsre  voller  Pracht,  und  in  der  hoheit  steht, 
Auch  mit  der  Zierligkeit  im  rechten  schritte  geht, 
So  fleufst  die  andre  fort,  das  sie  oft  überschreitet 
Das  mais\  und  ihre  leut*  im  reden  auch  verleitet: 
Es  kan  nicht  anders  sein,  geschwindigkdt  die  macht, 
Das  man  in  solcher  hast  nicht  alles  wolbedacht. 
Auch  die  verenderung  ist  bey  ihr  nicht  zuloben. 
Die  durch  der  fremden  art  noch  keine  sprach*  erhoben : 
Sonst  ist  sie  lieblich,  fein,  und  hübscher  reden  voll. 
Spricht  man  sie  nur  recht  aus,  sie  lautet  treflich  wol.*) 

Berlin. 


■•••- 


Der  Verfasser  des  deutschen  Volksbuchs  von  den 

Heymonskindern. 


Von 
Fridrich  Pfaff. 


Die  beiden  ältesten  Drucke  des  deutschen  Volksbuchs  von  den  Heymons- 
kindern a  und  ^**)  haben  auf  dem  Titel  ganz  gegen  den  Brauch 
ähnlicher  Romane  eine  Andeutung  des  Namens  des  Verfassers  oder 
Übersetzers:  ^Allen  Gottliebenden  Christen  zugefallen  aufs  dem  Ni-||der 
Teutschs  in  vnser  gemein  Teutschs  vbergesetzt  vnd  in|!Truck  ver- 
fertigt durch  P.  V.  D.  AE**.  Es  ist  hier  ganz  interessant  schon  im 
Jahre  1604  vnser  gemein  Teutschs  im  Gegensatz  zimi  Nider 
Teutschs  gestellt  zu  sehen.  Da  aber  die  Heymonskinder  als  Volks- 
buch eine  ungeheure  Verbreitung  bei  uns  gefunden  haben  und  heute 
noch  als  eine  der  beliebtesten  Geschichten  ihrer  Art  gelten,  ist  es  auch 
nicht  ganz  unwichtig,  wenn  es  gelingt  den  Verfasser  wirklich  festzustellen. 
In  meiner  Reinoltausgabe  habe  ich  bereits  auf  den  Liedersammler 
Paul  von  der  Aelst  hingewiesen,  dessen  1602  zu  Deventer  erschienene 
Liedersammlung  mir  aus  Uhlands  alten  hoch-  und  niederdeutschen  Volks- 
liedern I,  2,  977  bekannt  war.  Durch  Goedekes  Grundriss,  2.  Auflage, 
n,  42  werde  ich  nun  auf  einen  Aufsatz  von  Hofifmann  von  Fallersleben 


*)  Vgl.  noch  G.  Krause,  Ludwig  Purst  zu  Anhalt-Cöthen  und  sein  Land,  1877—79. 
^  Collen  1604  und  1618*     Vgl.  Reinolt  yon  Montelban  S.  549  f. 


168  Fridrich  Pfafil 


hingewiesen,  in  welchem  Pauls  Liedersammlung  eingehend  besprochen  ist."^) 
Darnach  war  Paul  von  der  Aelst  ein  Buchdrucker  in  Deventer,  der  Haupt- 
stadt der  holländischen  Provinz  Overijssel.  Er  besafs  einige  Bildung  und 
dichtete  selbst.  1602  also  gab  er  eine  Liedersammlung  heraus  unter  dem 
Titel:  „Bläm  vnd  Aufsbund  Allerhandt  Aufserlesener  Weltlicher, 
Züchtiger  Lieder  vnd  Reimen"**).  Nach  der  Vorrede  stellte  er 
diese  Lieder  „sowol  aus  französischen  als  hoch-  vnd  uider- 
teutschen  Gesang-  vnd  Liederbüchlein"  zusammen.  Er  arbeitete 
die  Lieder  beliebig  um  und  setzte  am  Ende  einiger  von  ihnen  „etliche 
schöne  Reime"  hinzu,  wie  er  selbst  sagt.  In  diesen  Schlufsstrophen 
nennt  er  sich  einige  Male  selbst,  seinen  Namen  auf  Fels  reimend.  So  in 
Nr.  10.  Die  Nummern  194,  178  und  das  Namenlied  15  (Pavlvs  von 
der  Aelst)  sind  von  Paul  selbst  gedichtet.  Am  Schlüsse  der  Vorrede 
unterzeichnet  er  mit  P.  V.  D.  AE.,  genau  so  wie  auf  dem  Titel  der 
Heymonskinder. 

1602  gab  er  ebenfalls  zu  Deventer  eine  Übersetzung  von  Ovids  Ars 
amandi  heraus.  Am  Schlüsse  der  Vorrede  nennt  er  sich  wieder 
P.  V.  D.  Ae.  „Diese  Buchstaben  kommen  auch  noch  S.  11,  109  und 
III   vor"   sagt  Hoffmann. 

Es  ist  nach  allem  diesem  kaum  zweifelhaft,  dafs  Paul  -  von  der  Aelst 
als  der  Verfasser  des  deutschen  Volksbuchs  von  den  Heymonskindem 
angesehen  werden  mufs.  Als  Niederländer  mufste  Paul  das  zu  Anfang 
des  17.  Jahrhunderts  gewifs  landläufige  Volksbuch  von  den  Heems- 
kinderen  kennen.  Wie  er  zu  der  kölnischen  Historie  van  sent 
Reinolt***)  kam,  welche  ihm  neben  der  niederländischen  Prosa  als  Quelle 
gedient  hat,  ist  freilich  dunkel.  Ebenso  bleibt  unklar,  warum  Paul  seine 
Bearbeitung  der  Heymonskinder  nicht  selbst  druckte  und  verlegne. 
Vielleicht  stand  er  in  persönlichen  Beziehungen  zu  dem  Kölner  Drucker 
Peter  von  Brache  1.  Nachrichten  über  sein  Leben,  aufser  dem  wenigen 
was  Hoffmann  bietet,  habe  ich  nicht.  Köln,  die  Stätte  des  Martertodes 
des  heiligen  Reinolt,  war  freilich  der  beste  Absatzort  für  das  Buch.  Oder 
sollte  die  älteste  Kölner  Ausgabe  von  1604  nur  Nachdruck  eines  von 
Paul  selbst  gedruckten  und  verlegten  Originals  sein?  Dies  ist  nicht  wahr- 
scheinlich. Die  niederländischen  Eigendiümlichkeiten,  die  a  noch  auf- 
weist f),  deuten  zu  unmittelbar  auf  den  niederländischen  Verfasser  und 
das  niederländische  Original.  Auch  dafs  a  und  ß  noch  die  Anfangsbuch- 
staben des  Namens  des  Verfassers  auf  dem  Titel  tragen,  spricht  dafür, 
diese  beiden  Drucke  als  rechtmäfsige  Ausgaben  und  a  als  das  Original 
anzusehen;  zudem  werden  wir  durch  das  Druckjahr  1604  unmittelbar  in 
die  Zeit  von  Pauls  Thätigkeit  versetzt.     Nachrichten  von  irgend  einem 


*)  Weimarisches  Jahrbuch  n  (1855),  320 — 356. 

*•)  Ähnliche  Titel  sieh  bei  Goedeke,  Grundr.  2  II,  341  im  ersten  Absatz. 
•**)  Herausgegeben  von  A.  Rdfferscheid,  Zeitschr.  f.  deutsche  Phil.  V.  (1874),  »71  bis 
393'  Vgl.  darüber  meinen  Reinolt,  S.  521 — 548  und  568  f. 
t)  Vgl.  Reinolt,  S.  559. 


Der  Verfasser  des  deutschen  Volksbuchs  von  den  Heymonskindern.  169 


älteren  Drucke  fehlen  gänzlich,*)  ja  der  von  1604  scheint  nur  noch  in 
zwei  Exemplaren,  dem  Dresdener  und  dem  Wolfenbütteler,  vorhanden 
zu  sein. 

In  unserm  Volksbuch  ist  ein  grofses  Gewicht  auf  Reinolts  Heiligen- 
geschichte gelegt.  In  diesem  Teile  der  Erzählung  schliefst  es  sich  genau 
an  die  kölnische  Historie  an.  Nun  ist  es  gewöhnlich,  dafs  Neudrucke 
solcher  Heiligengeschichten  bei  Gelegenheit  einer  Säkularfeier  des  Heiligen 
veranstaltet  wurden.  Bei  den  Heymonskindern  ist  jedoch  nichts  der  Art 
nachweisbar.  Die  Datirung  von  Reinolts  Leben  ist  ja  auch  ganz  unsicher. 
Dafs  der  Mann,  dessen  Gebeine  zuerst  in  Köln  und  dann  in  Dortmund 
bis  ins  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  aufbewahrt  wurden,  den  man  den 
heiligen  Reinolt  nennt,  gelebt  hat,  ist  ja  wohl  sicher;  was  diese  jedoch 
mit  dem  gleichnamigen  sagenhaften  Neffen  eines  fränkischen  Fürsten  Karl 
zu  thun  gehabt,  ist  einstweilen  noch  unklar.  Die  erhaltenen  Datierungen, 
alle  aus  späterer  Zeit  stammend,  weichen  sehr  stark  von  einander  ab. 
Um  nur  einige  anzuführen,  setzt  die  Koelhoffsche  Chronik  Reinolts 
Tod  in  das  Jahr  697**);  das  deutsche  Volksbuch  sagt  genau  (a  243): 
„Solcher  mordt  geschähe  in  dem  Jahr  810  den  4.  May",  die  Über- 
fOhrung  nach  Dortmund  läfst  es  bereits  den  7.  Januar  811  (S.  244)  ge- 
schehn***),  während  andere  Quellen  sie  mit  dem  heiligen  Erzbischof  Anno 
(i  I.  Jahrhundert)  in  Verbindung  bringen.  Petrus  Mersseus  Cratepolius 
endlich  in  seinem  Electorum  ecclesiasticorum  .  .  .  catalogus  (Col.  Agr. 
1580.  8°)  S.  79  sagt  gar  von  Reinolt:  „Fuit  circiter  annum  Domini 
1239",  während  Hugo  Menard  in  seinem  Martyrologium  sanctorum 
ordinis  Divi  Benedicti  (Parisiis  1629,  8®)  S.  174  ehrlich  genug  ist  einzu- 
gestehn:  «Quis  sit,  et  quando  vixerit  hie  Reinaldus  martyr 
obscurum  est**  Ich  werde  demnächst  über  den  heiligen  Reinolt  in 
dieser  Zeitschrift  ausfuhrlich  handeln  und  die  Datierungsfrage  zu  klären 
suchen.  Unter  der  Menge  von  Jahreszahlen,  die  genannt  werden,  ist 
jedoch  keine,  die  sich  mit  dem  Druckjahre  von  a  1604  in  Beziehungen 
bringen  liefse. 

In  Köln  war  die  Geschichte  Reinolts,  wie  es  scheint,  bis  auf  eine 
ganz  dunkle  Sage  völlig  verklungen,  da  erweckte  sie  das  deutsche  Volks- 
buch zu  neuem  Leben.  Was  dem  grofsen  Prosaromane  des  Jheronimus 
Rodler  von  1535  nicht  gelang,  gelang  dem  anspruchslosen  Büchlein  des 
Paul  von  der  Aelst.f) 

Freiburg  i.  Br. 


*)  Der  Prosaroman  von  1535,    der    von  der  fraiuösischen  Prosa  ahh&ngig  ist,  darf 
nicht  mit  unserm  Volksbuch  verwechselt  werden. 

**)  Die  Chroniken  der  deutschen  Städte,  XIII,  (Köln  II),  399,  4. 

***)  a  fuist  an  beiden  Stellen  auf  der  Historie,  vgl.  diese  S.  289,  292. 

f)  Meine  neue  Ausgabe  desselben  ist  bereits  unter  der  Presse. 


-••.- 


170  W.  U  Holland. 


Nachtrag  zum  Heiratsversprechen. 


Von 
W.  L.  Holland. 


ZU  der  im  ersten  Hefte  vorgelegten  gelehrten  Abhandlung  von 
M.  Landau  und  zwar  zu  Seite  24,  25  derselben  mag  die  Bemerkung 
gestattet  sein,  dafs  Franz  Freiherr  von  Gaudy  die  dort  mitgeteilte  Ge- 
schichte in  seiner  in  die  venetianischen  NoveUen  eingereihten  Erzählung 
„Frau  Venus"  verarbeitet  hat 

Tübingen, 


BESPRECHUNGEN. 


-•••- 


Carriere,  Moritz.:  Die  Kunst  im  Zu- 
sammenhang der  Kulturentwickelung 
und  die  Ideale  der  Menschheit.  5.  Band: 
Das  Weltalter  des  Geistes  im  Aufgange. 
Dritte  neu  durchgesehene  Auflage.  Leipzig, 
F.  A.  Brockhaus  1886.     XXII,  734  S.     8». 

Mit  dem  5.  Bande  ist  die  3.  Auflage  des 
Carriereschen  Werkes  über  die  Kunst  im 
Zusanmienhange  der  Kulturentwickelung  voll- 
endet Die  Veränderungen  gegen  die  zweite 
Auflage  sind  gering.  Einige  durch  neue  Ent- 
deckungen und  Forschungen  nötig  gemachte 
Nachträge  zum  i.  und  2.  Bande  über  die 
ägyptische  und  griechische  Künsten t Wicklung 
sind  vorausgeschickt;  neu  hinzugekommen  ist 
im  5.  Bande  ein  Abschnitt  über  das  Erwachen 
des  Slaventums,  dessen  Kunst  und  Litteratur, 
angetrieben  durch  eine  nachhaltige  nationale 
Bewegung,  in  den  Wettkampf  der  anderen 
Kulturvölker  Europas  einzutreten  strebt. 
Urteile  über  bedeutsame  Erscheinungen  der 
neuesten  Zeit  sind  angefügt,  ohne  den  früheren 
Rahmen  zu  sprengen  oder  nur  zu  erweitern: 
es  ist  das  alte  wohlbekannte  Werk  geblieben. 
In  frischer  Jugend  geplant,  begonnen  im  besten 
Mannesaiter,  forderte  dies  Buch,  das  umfang- 
reichste des  Verfassers  und  neben  der  „Ästhe- 
tik" sein  Hauptwerk,  eine  Reihe  von  Jahren ; 
als  1873  der  Schlufsband  zum  ersten  Male 
erschien,  betrachtete  Carriere  die  Vollendung 
eines  so  weit  angelegten  Werkes  als  eine 
Gunst  des  Schicksals;  aber  mit  seinem  Dank- 
gefühle  mischte  sich  die  Wehmut  des  einsamer 
werdenden  Alters.  Seitdem  hat  der  greise 
Zttchr.  f.  vergl.  Litt.-Gesch.  I,. 


Verfasser  noch  zwei  Auflagen  dieses  Lebens- 
werkes erlebt.  Zu  bekannt  ist  es  nun,  als 
dafs  wir  über  seinen  Inhalt,  seine  Einrichtungen 
ins  Einzelne  eingehend  berichten  sollten ;  auch 
abweichende  Meinungen  oder  Wünsche  zu 
äussern  wäre  unthunlich  einem  Buche  gegen- 
über, das  seit  zwei  Jahrzehnten  wirkt,  und 
gegen  einen  Denker,  der  abgeschlossen  hat. 
Der  Blick  richtet  sich  von  seinem  Werke  weg 
auf  den  Verfasser  selbst,  dessen  Eigenart  es 
uns  lebendig  darstellt. 

Ein  freundliches  Schicksal  hat  ihm  ver- 
gönnt, sich  auszuleben  und  in  der  thätigen 
Ruhe  eines  gesegneten  Alters  die  Früchte 
seiner  Arbeit  in  der  stattlichen  Reihe  seiner 
„Gesammelten  Werke"  vor  sich  und  die 
Nation  gestellt  zu  sehen,  der  seine  Arbeit 
galt.  Seine  Begabung  wies  ihn  auf  die  über- 
schauende Darstellung  geistiger  Gedanken- 
kreise, die  in  grofsen  Zügen  zeigen,  wie  gewisse 
leitende  Ideen  durch  eine  Jahrhunderte  lange 
Entwicklung  und  weitverzweigte  Lebens-  und 
Kunstgebiete  sich  hindurchziehen.  Er  besitzt 
in  hohem  Grade  die  Kunst  des  in  grofsen, 
klaren,  formenscharfen  Linien  ansteigenden 
Aufbaues  und  verliert  sich  nirgends  in  Einzel- 
heiten, die  höchst  anziehend  an  sich,  doch 
den  Blick  von  der  Überschau  des  Ganzen  ab- 
lenken. Oft  übt  er  jene  weise  Beschränkung, 
welche  an  Stellen  abbricht  und  zusammen- 
drängend sich  kurz  fafst,  an  denen  verweilendes 
Eindringen  manchem  nach  persönlicherer 
Kenntnis  Verlangenden  erwünscht  wäre. 
Selbstentsagend  übt  er  sie  auch  dort,  wo  er 

12 


172 


Besprechungen. 


Ergebnisse  eigner  Forschung  einzufügen  hätte ; 
deutscher  Gelebrtengewohnheit  zuwider  läfst 
er,  durch  keine  persönliche  Vorliebe  verleitet, 
nirgends  Einzelheiten  über  die  durch  das  Ganze 
gesteckten  Grenzen  anschwellen.  Desgleichen 
stellt  er  nur  dar,  was  als  lebendig  weiterwirken- 
des Glied  einer  lebendigen  Entwicklung  sich  zu 
einem  Ganzen  fügt,  und  geht  vorüber  an  dem, 
das  einzeln  zerbröckelt,  in  sich  abgeschlossen 
für  die  Folgezeit  tot  ist.  Einzelforschung  ist 
nicht  sein  Ziel  in  Werken,  welche  an  dJe 
wahrhaft  Gebildeten  unseres  Volkes  sich 
wendend,  nicht  forschen,  sondern  darstellen 
und  darum  auch  wissenschaftliche  Nachweise 
bei  Seite  lassen.  Dem  Kundigen  bleiben 
gleichwohl  die  Quellen  und  Vorgänger,  aus 
denen  der  Verfasser  dankbar  schöpft,  nicht 
verborgen.  Er  sieht  leicht,  dafs  auf  genauer 
Kenntnis  der  besten  und  neuesten  Einzel - 
forschungen  in  den  einzelnen  Lebens-  und 
Kunstgebieten  sich  sein  Gesamtbau  sicher 
erhebt. 

Carrieres  Welt-  und  Kunstbetrachtung  ruht 
mit  warmem  Gefühl  liebevoll  auf  dem  idealen 
Gehalt  der  Entwicklung,  sein  Urteil  ist  ruhig 
und  mafsvoll,  überall  auf  den  Kern  der  Per- 
sonen  und  Erscheinungen  gerichtet,  und  hält 
mit  mehr  Liebe  das  Grofse  und  Bleibende  fest, 
als  es  das  Fehlerhafte  und  Vergängliche  mit 
Schärfe  verurteilt.  Andere  Kritiker  und  Ge- 
schichtschreiber überragen  ihn  durch  Tiefe, 
Kraft  und  Strenge  der  Gedankenentwicklung, 
durch  psychologische  Schärfe  persönlicher 
Beobachtungen,  sein  Vorzug  ist  die  inniges 
Gefuhlsverständnis  mit  gprofszügiger  Ideeent- 
wicklung verbindende,  allseitig  gerechte  Dar- 
stellung, die  schartigen  Urteilen  aus  dem  Wege 
geht  und  der  heut  vielberOhmten,  eigensüch- 
tigen Kunst,  alte  Erscheinungen  um  jeden  Preis 
neu,  aber  verzerrt  zu  zeigen.  Alles  Einseitige, 
Übertriebene  ist  seinem  nach  Versöhnung 
strebenden  Wesen  zuwider.  Dasselbe  friedlich 
mafsvolle  Wesen  prägt  sich  in  seinem  Stil 
aus,  dessen  rund  rollende,  langgezogene  Sätze, 
anziehend  durch  Ruhe  des  Tones,  Weichheit 
und  Reinheit  der  Sprache  ohne  Ecken  und 
persönliche  Eigenheiten   hingleiten. 

Es   ist   von    besonderer   Bedeutung,    dafs 


wir  in  einem  der  ersten  Hefte  dieser  Zeit- 
schrift Gelegenheit  haben,  auf  Carriere  hin- 
zuweisen. Sein  Buch  von  der  Poesie  enthält 
im  Anschluüs  an  ihr  Wesen  und  ihre  Formen 
Grundzüge  der  vergleichenden  Litterator- 
geschichte,  deren  Ziele  die  Vorrede  angiebt, 
und  die  fünf  Bände  des  Kunstbuches  charak- 
terisieren im  Lichte  der  vergleichenden  Litte- 
raturbetrachtung  die  Meisterwerke  der  Poesie 
bei  den  verschiedenen  Völkern,  in  noch  tieferer 
Betrachtung,  welche  ihren  Zusammenhang  out 
den  letzten  Fragen  des  Wissens  und  der 
Kultur  verfolgt.  In  wie  nahen  Beziehungen 
diese  Betrachtungsweise  Carrieres,  dessen 
Augenmerk  auf  die  junge  Wissenschaft  der 
vergleichenden  Litteraturgeschichte  seit  lange 
gerichtet  ist,  zu  den  Zielen  dieser  Zeitschrift 
steht,  leuchtet  ein.  Sein  Weg  allerdings,  der 
ein  über  die  Gipfel  schreitender  Gang  ist, 
weicht  ab  von  den  verschlungenen  Pfaden 
einer  Zeitschrift,  die  es  mit  der  Erforschung 
des  Einzelnen  und  Einzelnsten  zu  thun  hat:  sie 
sucht  auch  die  versteckten  Thäler  auf^  weil 
von  ihnen  aus  die  Lage,  Gröfse  und  Ver- 
zweigung jener  Gipfel  klarer  wird.  Aber  als 
Ziel  der  Forschung,  die  sich  im  Einzelnen 
leicht  verliert,  ist  uns  Carrieres  Buch  wert, 
das  in  grofsen  Umrissen  den  Bau  vorzeichnet, 
den  auszuführen  einem  Späteren  vergönnt  sein 
wird,  wenn  die  Einzelforschung  alle  klaffenden 
Lücken  ausgefüllt  und  alle  noch  dunklen 
Strecken  durchmessen  hat.  Dies  aller  litterar- 
historischen  Arbeit  gemeinsame  Ziel  nimmt 
kühnen  Geistes  Carriere  vorweg.  So  wenig 
wir  meinen,  dafs  durch  diese  vielfach  mehr 
ahnende  als  wissende  Vorwegnahme  die  müh- 
sam geduldige  Einzelforschung  bei  Seite  ge- 
schoben sei,  so  sehr  ist  gerade  hier  zu  betonen, 
dafs  neben  der  Erforschung  des  Besonderen 
die  Darstellung  eines  grofsen  Ganzen,  welche 
die  leitenden  Ideen  einer  vielverzweigten  Ent- 
wicklung angiebt,  auch  wissenschaftlich  ist, 
sofern  sie  in  wissenschaftlichem  Geiste  unter- 
nommen wird  und  geistige  Kraft  in  der 
Verarbeitung  des  überquellenden  Stoffes  zeigL 
Zu  betonen  ist  gleicherweise,  dais  neben  der 
quellenmäfsigen  Erforschung  des  Thatsäch- 
liehen,  welche  für  die  vergleichende  Betrach- 


Besprecbungeü. 


m 


tung  die  Stoffe  zusammenträgt,  als  letztes  Ziel 
jene  Darstellung  bestehen  bleibt,  wo  neben 
Pleifs  und  Gelehrsamkeit  auch  das  ästhetische 
Urteil  sein  Recht  behauptet  In  diesem 
Sinne  kann  Carrieres  Darstellung  als  Muster 
gelten. 

In  einer  anderen  Hinsicht  noch  berührt  sich 
das  vorliegende  Werk  mit  den  Zielen  dieser 
Zeitschrift.  Bin  Werk,  welches  Litteratur  und 
Kunst  behandelt  im  Zusammenhange  mit  der 
gesamten  Kulturentwicklung,  mufs  mehr,  als 
die  „Ästhetik**  und  die  „Poesie"  das  konn- 
ten, den  Zusammenhang  der  litterarischen  Ent- 
wicklung mit  dem  geschichtlichen  Gange  des 
Volkslebens  aufdecken.  So  miislich  jene  Be- 
trachtungsweise ist,  welche,  die  künstlerische 
Form  aufser  Acht  lassend,  über  Werke  der 
Kunst  nach  politischen  Zeitstömungen  von 
aufsen  her,  meist  ungerecht,  aburteilt,  so  not- 
wendig mufs  doch  neben  der  rein  ästhetischen 
Analyse  jene,  bisher  ungebührlich  vernach- 
lässigte geschichtliche  Betrachtung  zu  ihrem 
Rechte  kommen,  der  es  darum  zu  thun  ist, 
die  Entstehung  der  Kunstwerke  aus  dem 
Zusanomenhang  der  Zeitumstände  zu  erklären, 
und  nachzuweisen,  wie  sie  emporwachsen  aus 
den  bewegenden  Lebensfragen  und  sich  be- 
rühren  mit  allen  Gebieten  der  Kulturentwick- 
lung. Auch  hierin  darf  Carrieres  Buch  als 
Muster  gelten.  Gerechter  als  gewifse  ein- 
seitige Betrachter  der  modernen  Entwicklung 
wägt  er  den  Anteil  ab,  den  die  politischen 
Tagesströmungen,  die  herrschenden  Wissen- 
schaften und  der  materielle  Fortschritt  zur 
Kunstentfaltung  beisteuern.  Aus  dem  Gange 
der  bisherigen  Entwicklung,  deren  Grundlinien 
er  durch  drei  Hauptstufen,  Natur,  Gemüt  und 
Geist,  fortschreiten  läfst,  gewinnt  er  das  trost- 
reiche Bild  eines  Emporganges  der  Mensch- 
heit. Unser  Zeitalter,  in  dem  Grundlage  und 
Bedingung  der  Kunst  die  Wissenschaft  ist, 
wie  es  früher  Mythologie  und  geoffenbarte 
Religion  waren,  dessen  weltgeschichtlicher 
Charakterzug  Naturbeherrschung  durch  die 
Kraft  des  Geistes,  dessen  tonangebende  Kunst 
die  Poesie  ist,  die  Kunst  des  Geistes,  dies 
„Zeitalter  des  Geistes  im  Aufgang**  hält  er 
hoffend  und    weissagend    für    bestimmt,    aus 


sich  durch  die  Kämpfe  des  Realismus  und 
Idealismus  in  der  Versöhnung  von  Bildung 
und  Christentum  eine  wissenschaftlich  und 
sittlich  religiöse  Weltanschauung  zu  erringen, 
welche  neue  herrliche  Werke  der  Kunst  und 
Dichtung,  Blüten  des  Idealrealismus  erzeugen 
werde. 

Rudolstadt.  Fritz  Koegel. 

Dehlen,  A.:  Die  Theorie  des  Aristo- 
teles und  die  Tragödie  der  antiken, 
christlichen,  naturwissenschaftlichen 
Weltanschauung.  Göttingen,  Vandenhoeck 
&  Ruprecht.     1885. 

Der  Verfasser  leitet  seine  im  Übrigen  sorg- 
fältig geführten  und  in  würdiger  Form  gege- 
benen Untersuchungen  mit  dem  bedenklichen 
Satz  ein:  „Es  ist  eine  auffallende  Thatsache, 
da&  seit  Schillers  Tod  keinem  Dichter  eine 
Tragödie  gelungen  ist,  kein  Kridker  den 
Wert  oder  den  Erfolg  einer  Tragödie  im 
Voraus  zu  bestinunen  vermocht  hat**  Er 
deutet  damit  schon  an,  dals  er  aus  dem 
grofeen  Kreise  der  Tragödien  aller  Zeiten 
und  Völker  eine  ganze  Reihe  ausscheidet, 
weil  sie  in  eine  bestimmte  ästhetisch-kritische 
Formel  nicht  taugen,  und  läfst  durchblicken, 
dafs  er  selbst  eine  solche  unter  allen  Umständen 
stichhaltige  Formel  gefunden  zu  haben  glaubt. 
Diese  Formel  giebt  ihm  die  bekannte  Aristo- 
telische Definition,  deren  richtige,  bislang 
aber  noch  nicht  gefundene  Deutung  seines 
Erachtens  eine  befriedigende  Theorie  der 
Tragödie  und  folgeweise  wieder  eine  wahre 
Tragödie  ins  Leben  rufen  müfste.  An  der 
Hand  des  Stagiriten  gelangt  er  dann  dazu, 
den  vielumfochtenen  Satz  von  der  Katharsis 
in  moderner  Weise  dahin  zu  umschreiben: 
„Die  Tragödie  bringt  zur  Erscheinung  die 
Reinigung  von  Leidenschaften  und  durch 
Identifikation  bewirkt  sie  Solches  auch  bei 
uns.**  Man  kann  dieser  Art  der  Auslegung 
vollkommen  zustimmen  und  doch  der  Ansicht 
sein,  dafs  der  Aristotelische  Satz  nicht  aus- 
reicht, um  für  die  Tragödie  so  schlechtweg 
die  Regel  aufzustellen,  wie  denn  die  Konse- 
quenzen des  Verfassers  in  vielen  wichtigen 
Fällen  vor  seiner  Theorie  mehr  warnen,  als 


174 


Besprechungen. 


dafs  sie  ihm  Recht  gäben.  Denn  er  f&hrt 
zwar  sehr  richtig  aus,  dafs  wir  ^Mitleid  und 
Furcht**  nur  empfinden  können,  wenn  wir  unter 
derselben  Weltanschauung,  wie  der  Held, 
stehen,  dafs  also  die  griechische  Tragödie 
in  ihrer  vollen  Wirkung  mit  der  griechischen, 
die  christliche  mit  der  christlichen  Weltan- 
schauung fällt;  während  er  gleichwohl  aber 
mit  Hülfe  des  Aristoteles  «sius  den  verschie- 
denen Weltanschauungen  die  Tragödie  der 
verschiedenen  Zeiten  konstruiert**  (pag.  33) 
und  als  oberste  Forderung  aufstellt,  dafs  in 
der  Tragödie  selbst  die  Reinigung  der  Leiden- 
schaften (seil,  am  oder  im  Helden)  dargestellt 
werde,  gelangt  er  zu  den  anfechtbarsten 
Schlüssen  und  Behauptungen,  von  denen  hier 
nur  einige  namhaft  gemacht  sein  mögen. 

Im  Sophoklßischen  Ajas  findet  nach  Dehlen 
die  Katharsis  nach  dem  Tode  des  Helden 
statt  und  hat  demnach  „ein  persönliches 
Empfinden  nach  dem  Tode  zur  Voraussetzung"  ; 
das  Fürwort  des  Odysseus  ist  es,  das  die 
Seele  des  Helden  versöhnt.  Im  Egmont  soll 
die  (wie  Dehlen  zugiebt,  willkürliche) 
Katharsis  eine  doppelte  sein ;  die  des  Menschen 
(durch  Ferdinand),  die  des  Staatsmannes 
(durch  die  Erscheinung  Klärchens).  Da  wir 
uns  im  Wallenstein  nur  auf  die  Seite  der 
Gesetze,  nicht  aber  auf  die  des  Helden,  stellen 
können,  der  diese  Gesetze  zertrümmert,  eine 
Identifikation  mit  ihm  also  unmöglich  ist,  hat 
Schiller  „mit  seinem  Wallenstein  das  Buch- 
Drama  inauguriert**  und  „das  Konfliktsdrama 
ist  keine  Tragödie.**  In  Kleists  Käthchen 
soll  durch  die  für  mein  Gefühl  das  ganze 
wundervolle  Stück  schändende  kaiserliche 
Abstammung  der  Heilbronnerin ,  im  Prinzen 
von  Homburg  durch  den  Somnambulismus 
des  Helden  die  Katharsis  bewirkt  sein  (p.  64); 
denn  Käthchens  Liebe  müiste  andernfalls  an 
dem  Standesvorurteil  (dem  Gesetz)  zu  Grunde 
gehen  und  Homburg  verfiele,  wäre  er  kein 
Nachtwandler,  ohne  Gnade  dem  Gericht  Hat 
aber  Kleist  wirklich  darauf  des  Prinzen 
Begnadigung  gebaut?  Man  lese  das  Stück 
doch  mit  unbefangenen  Augen  I  Endlich  führt 
Dehlen  unter  Benutzung  der  Darwinschen 
Theorie  für  die  Tragödie  (daher  das  Titel  wort 


n  naturwissenschaftliche  Weltanschauung**)  ans, 
dais  heutzutage  die  ^Faktoren  der  Bildung* 
das  Schicksal  sind  und  dafs  der  moderne 
Dichter  weder  einen  völlig  reifen  und  har- 
monischen, noch  einen  völlig  unfertigen  und 
bösen,  sondern  einen  «labilen**  Helden  dar- 
zustellen habe,  dessen  Harmonie  gefilhrdet 
wird.  Es  muis  aber  in  der  «Tragödie  schliefs- 
lich  ein  Sieg  der  guten  Faktoren  Qber  die 
schlechten  stattfinden,  der  Held  muis  die 
Harmonie  im  Guten  erreichen.**  Grofse  Dichter 
haben  diesen  naturwissenschaftlichen  Werde- 
Prozels  voraus  empfunden,  ehe  sie  sein  Gesetz 
kannten,  und  Hamlet,  Maria  Stuart,  Koriolan, 
Karl  Moor  sind  in  seinem  Sinne  des  Ver&ssers 
Ideale,  auch  Posa  (um  seines  für  mein  Gef&hl 
ganz  zwecklosen,  unnotwendigen  und  uu- 
tragischen  Opfertodes  willen),  auch  Wilhelm 
Teil,  für  dessen  Verhalten  Dehlen  das  Zu- 
sammentreffen mit  Geisler  auf  dem  schmalen 
Felsgrat  in  ganz  besonderer,  leider  aber  ganz 
unstichhaltiger  Weise  zum  Motiv  macht  Es 
fällt  mir  nicht  ein,  hier  mit  einem  leichten 
Wort  an  diesen  grofsen  Schöpfungen  m 
rütteln,  und  es  soll  dem  Verfasser  nicht 
bestritten  werden,  dafs  auf  dem  zuletzt  von 
ihm  angedeuteten  Wege  die  stärksten  tragischen 
Wirkungen  erzielt  werden  können.  Nur  sind 
sie  gewiis  nicht  die  einzig  möglichen.  Seiner 
Theorie  an  dieser  Stelle  eine  neue  gegen- 
überzustellen, wäre  müisig.  Wer  sich  über- 
haupt mit  diesen  Fragen  beschäftigt,  wird 
immer  mehr  zu  der  Ansicht  kommen,  dafs 
das  Gesetz  nur  langsam  auf  induktivem  W^e 
gewonnen  werden  kann  und  dais  eine  Formel, 
die  Dichter  und  Kritiker  für  alle  Zeiten  auf 
den  richtigen  Weg  weist,  wahrscheinlich  nie- 
mals gefunden  werden  wirdi  Aber  dem 
Fleiis  und  der  Noblesse  des  Verfassers  wird 
man  ebenso  wenig  die  Anerkennung,  wie 
vielen  seiner  trefflichen  Bemerkungen  die 
Zustimmung  versagen. 

Bremen.  Heinrich  Bulthaupt 

Waldberg,    Max,    Freiherr    von:      Die 

galante  Lyrik.  Beiträge  zu  ihrer  Geschichte 
und  Charakteristik.  Q.  F.  56.  Heft  Straisburg, 
Trübner  1885.     IX.  u.  152  S.     8» 


1 


Besprechungen. 


175 


Wer  dieses  Buch  lediglich  vom  Standpunkt 
der  deutschen  Litteratur-Geschichtsschreibung 
aus  betrachtet  und  seinen  Wert,  wie  dies 
jetzt  meist  geschieht,  nur  oder  vornehmlich 
nach  der  Masse  des  darin  enthaltenen  Materials 
sowie  der  geschickten  und  übersichtlichen 
Zusammenstellung  desselben  bemifst,  wird 
ihm  zweifelsohne  und  mit  Recht  Lob  spenden 
und  es  als  eine  ebenso  fleifsige  als 
methodische  wie  gut  geschriebene  Arbeit 
bezeichnen.  Auch  wir  gestehen  dem  Verfasser, 
wenn  wir  seine  Schrift  blos  von  dieser  Seite 
beurteilen,  gern  und  voll  diese  Anerkennung 
zu.  Aber  zugleich  drängt  uns  eine  durch 
reifliches  Nachdenken  und  eigene  wissen- 
schaftliche Bethätigung  gewonnene  Über- 
zeugung zu  der  Frage,  ob  der  angegebene 
nationale  Standpunkt  der  richtige  sei  zur 
Beurteilung  eines  solchen  Stofif- Gebietes  und 
seiner  Darstellung  und  ob  der  Mafsstab  rein 
fonneller  litterarischer  Kritik  ausreiche  bei 
der  Untersuchung  einer  so  tief  im  Leben 
wurzelnden  künstlerischen  Erscheinung.  Wir 
glauben  diese  Frage  verneinen  zu  müssen 
und  wollen  versuchen,  in  Kürze  unsere  Gründe 
hierfür  klarzulegen.  Die  streng  philologische 
und  statistische  Methode,  welche  zur  Zeit  den 
Vorzug  geniefst,  bei  den  Litterarhistorikem 
Mode  zu  sein,  kann  ohne  Zweifel  zu  guten 
und  sicheren  Ergebnissen  führen,  wo  es  sich 
um  Erscheinungen  handelt,  deren^kfinstlerische 
Form  an  sich  ein  wesentliches  und  volles 
Interesse  fordern  kann.  Wo  das  aber  nicht 
der  Fall  ist,  wie  in  dem  vorliegenden  Stoffe, 
dessen  Bedeutung  für  die  Sittengeschichte 
ungleich  grösser  ist  als  für  die  Litteratur- 
Geschichte  und  Ästhetik,  ist  diese  Ober- 
herrschaft der  Philologie  nicht  am  Platze, 
denn  hieF  mufs  die  Betrachtung  von  der 
äusseren  Form,  von  Sprache,  Versbau,  Reim 
und  Bild,  zum  Kern,  zum  Gedanken  und 
Gefühlsinhalt  selbst  durchdringen,  um  zu  einer 
klaren  Anschauung  und  wissenschaftlichen  histo- 
rischen Erkenntnis  zu  gelangen.  Die  Art  und 
Weise  der  wissenschaftlichen  Behandlung 
muis  im  Einklang  stehen  mit  Wesen  und 
Charakter  des  zu  behandelnden  Stoffes  und 
der  Geschichtsschreiber    demgemäfs  je  nach 


Umständen  sein  Augenmerk  mehr  der  Form 
oder  dem  Inhalt  der  Dichtungen  einer  Epoche 
zuwenden.  So  wird  man  z.  B.  bei  den  Dichtem 
der  französischen  Plejade,  sowie  bei  Opitz 
und  seinen  Getreuen  stets  in  erster  Linie  das 
formale  Moment  zu  beachten  und  zu  würdigen 
haben,  denn  diesen  Männern  war  die  Kunst- 
form ein  wesentlicher  Zweck,  wogegen  man 
bei  den  Vertretern  der  französischen  Salon- 
und  Boudoir-Poesie  und  unserer  sogenannten 
galanten  Dichtung,  denen  die  Form  nur  Mittel 
war,  vor  allem  den  Inhalt,  ihre  Welt-  und 
Lebens -Anschauung,  ihre  psychologischen  An- 
sichten und  ihre  Empfindungsweise  in  Betracht 
zu  ziehen  hat;  denn  darin  ruht  ihr  Anteil  an 
der  Geistesgeschichte  der  Menschheit.  Und 
Geistesgeschichte,  nicht  blos  Formenhistorie, 
soll  die  Litteraturgeschichte  sein. 

Eben  darum  aber,  weil  dieser  Abschnitt 
der  Litteraturgeschichte  in  der  Gesammtent- 
wickelung  nicht  die  Bedeutung  einer  muster- 
gebenden, vorbildlichen  Epoche  hat,  sondern 
wesentlich  nur  als  Umgestaltung  und  Ver- 
bildung  einer  gemeineuropäischen  Formen- 
welt sich  darstellt,  mufs  auch  die  litterar- 
historische  Behandlung  eine  durchaus  ver- 
gleichende, allgemeine  und  den  Zustand  aller 
gleichzeitigen  europäischen  Litteraturen  in 
Betracht  ziehende  sein.  Nur  auf  diese  Weise 
kann  das  Wesen  der  galanten  Poesie,  ihre 
Bedeutung  und  Stellung  in  der  allgemeinen 
wie  in  der  nationalen  Litteraturgeschichte 
richtig  erkannt  werden',  denn  sie  ist  nichts 
anderes,  als  eine  Erscheinungsform  jener 
grossen  europäischen  Stilkrankheit,  welche 
in  Italien  als  Marinismus,  in  Spanien  als  Gon- 
gorismus,  in  England  als  Euphuismus  und 
in  Frankreich  als  Preziosität  bekannt  ist. 

Waldberg  hat  versucht,  sich  auf  diesen 
Standpunkt  zu  stellen  und  aus  der  franzö- 
sischen und  italienischen  Litteratur  auch  Einiges 
zur  Erläuterung  beigebracht,  so  z.  B.  die 
hübsche  Darleg^ung  des  wesentlichsten  Unter- 
schiedes zwischen  der  französischen  Boudoir- 
Poesie  und  der  galanten  Lyrik  der  Deutschen, 
den  er  sehr  richtig  darin  findet,  dais  dem 
Franzosen,  dank  der  gesellschaftlichen  Ver- 
hältnisse zumeist  doch  ein  leibhaftiges  Objekt 


176 


Be8prechuns;eii. 


für  seine  Liebesklage  vor  Augen  stand) 
während  bei  dem  Deutschen  gewöhnlich  auch 
der  besungene  Gegenstand  ein  blosses  Spiel- 
werk der  Phantasie  war,  so  femer  die  feine 
Bemerkung  über  das  Fehlen  des  bei  den 
Franzosen  sehr  häufigen  Eifersuchtsmotiv  in 
unserer  galanten  Lyrik  und  der  Hinweis  auf 
den  groisen  Einflufs  des  Ren^  Le  Pays  (1634 
bis  1690),  einer  von  Boileau  (Satire  m)  ver- 
spotteten Provinz-Dichtergrösse;  doch  ist  die 
Heranziehung  fremder  Litteraturwerke  seitens 
des  Verfassers  —  namentlich  mflssten  von 
Franzosen  Maynard  und  Gombault,  von  den 
Italienern  Marini  und  Achillini  in  den  Kreis 
der  Betrachtung  gezogen  werden  —  nicht 
ausreichend,  um  ein  richtiges  Urteil  über  den 
Anteil  der  fremdländischen  Dichtungen  und 
des  heimischen  Geisteslebens  an  der  „galanten 
Lyrik**  zu  ermöglichen.  Dabei  laufen  dem 
Verfasser,  wo  er  mit  der  ihm  weniger  bekannten 
französischen  Litteratur  zu  thun  hat,  einige 
Unrichtigkeiten  unter,  die  wir  im  Interesse 
der  Sache  uns  zu  verbessern  erlauben  wollen, 
ohne  deshalb  dem  sonst  von  grofser  Sorg- 
falt und  Genauigkeit  zeugenden  Buche  einen 
besonders  schweren  Vorwurf  machen  zu  wollen. 
Die  Gattin  des  Marquis  de  Rambouillet  heisst 
Catherine  de  Vivonne,  nicht  de  Vivon  (p.  5), 
deren  Tochter  Julie-Lucine,  nicht  Luden  (p.  63). 
Ganz  ungenau  ist  die  Bemerkung  aber  den 
«Mercure  galant**  und  völlig  falsch  die  in  der 
Fufsnote  versuchte  Erläuterung  (p.  7).  Diese 
berühmte  Zeitschrift  wurde  1 671  von  Donneau 
de  Vize  begründet,  verschwand  während  der 
Jahre  1675  und  1676  vom  litterarischen  BAarkte 
und  nahm  1677  den  Titel  „Nouveau  Mercure 
galant**  an,  unter  dem  sie  bis  zum  Jahre  1724 
fortlebte.  Ebenso  unrichtig  imd  zudem  irre- 
leitend ist  in  ihrer  Allgemeinheit  die  Bemerkung, 
die  galanten  Poeten  oder  besser  gesagt  das 
Hotel  de  Rambouillet  sei  es  gewesen,  das 
dem  am  Beginne  des  Jahrhunderts  verbreiteten 
Gongorismus  und  Marinismus  mit  aller  Macht 
zu  verdrängen  suchte.  Dieser  Salon,  in  dem 
Marini,  der  16 15  nach  Paris  gekommen  war, 
persönlich  verkehrte,  war  es  vielmehr,  von 
dem  aus  sich  der  Geschmack  an  überfeiner 
und   gezierter  Redeweise  weiter  verbreitete. 


Das   Hotel    de  Rambouillet   ist   sogar  recht 
eigentlich    der  Seuchenherd  des  Marinismus 
in  Frankreich  und  es  verliert  um  eben  die- 
selbe Zeit   an   Bedeutung    und    Einflufs,    als 
dieser  Stil  sich  überlebt  hatte.    Den  Antrieb 
zu  dieser  Wandelung  der  Mode  gab  aber  nicht 
der  seit  der  Mitte  der  vierziger  Jahre  mehr 
und  mehr  seine  Herrscherstellung  einbüfsende 
Schöngeister -Kreis  der  berühmten  „chambre 
bleue,**  sondern  der  Hof  des  Sonnenkönigs. 
Wie  hierin,  so   verrät  sich  auch  in   der 
Behauptung    „die    Schilderung    der    Frauen- 
Schönheit,    aufgelöst   in   die   genaueste    Be- 
schreibung   der    einzelnen    Körperteile**    sei 
eine  Errungenschaft  der   galanten  Dichtung, 
eine  für    die    Behandlung    dieser    Litteratur- 
Epoche  unzureichende  Kenntnis  der  franzö- 
sischen   Litteratur.      Solche    Beschreibungen 
des  weiblichen  Körpers    in   der  Form  bald 
schildernder,  bald  witzelnder  Aufzählung  der 
einzelnen  Reize  sind  in  Frankreich  schon  seit 
dem  Ende  des  15.  Jahrhunderts  bekamit  und 
seit  Clement  Marots  „Blason  du  beau   tetin" 
(1534)  sehr   im  Schwange.     Maurice  Sceve, 
Myelin   de  Saint-Gelais,    Estienne    Forcadel, 
Bonaventure    des  Furiers   und   viele    andere 
schrieben      damals      solche      anatomisirende 
Gedichte.    Da  gab  es:  blason  du  sourcil,  des 
cheveux,  de  la  cuisse,  blason   de  la   femme, 
blason  des  dames  selon  les  pays,  blason  des 
cinq  contentements  en  amours  und  schon  um 
1550     konnte     ein     später    weitverbreitetes 
Sammelwerk  „blasons  anatomiques  du  corps 
feminin**  erscheinen.     Und  welcher  Art  diese 
Schilderungen  waren,  das  besagt  uns  deutlich 
Gilles     Corrozet     (15 10  — 1568)     in     seinem 
Gedichte      „contre      les      blasonneurs       des 
membres*"*    (1539),    aus    dem    wir    folgende 
Stellen  herausheben: 

L^un  s'entremect  de  descripre  un  tetin 
Et  Taultre  un  ventre  aussi  blanc  que  satin ; 
L*un  peinct  les  yeulx,   Taultre  les  cheveuz 

blondz, 
L^aultre  le  nez,  Taultre  les  genoulx  rondz; 
Mais  plus  cela  tend  ä  concupiscence 
Qu^ä  demonstrer  de  beaulte  Texcellence. 

Les  noms  sont  beaulx  qu'approbria  nature 


Besprechungen. 


177 


Aux  membres  bas  de  toute  creature; 
Mais  blasonner  ces  membres  veneriques 
Les  exaltant  alnsi  que  d^ffiques, 
C'est  une  crreur  et  unc  ydolatrie 
De  quoy  la  terre  ä  Dieu  vengeance  crie." 
Diese  in  Einzeldrucken   und  Sammlungen 
oft  aufgelegten  erotischen  Beschreibungen  sind 
Quelle    und  Vorbild    filr    die    verschiedenen 
^Jungfern -Anatomien**  unserer  Litteratur. 

Im  zweiten  Kapitel  seines  überaus  klar 
und  übersichtlich  geordneten  Buches  zieht 
Waldberg  einen  Vergleich  zwischen  der 
galanten  Poesie  und  der  Minnedichtung.  Zu 
diesem  Vergleich  glaubt  er  sich  berechtigt, 
weil  die  beiden  litterarischen  Epochen  die 
gleichen  gesellschaftlichen  Voraussetzungen 
haben  und  die  Dichtung  in  beiden  Perioden 
wesentlich  Konversationspoesie  sei.  Obwohl 
wir  nun  dies  ohne  Weiteres  zugestehen  wollen, 
müssen  wir  doch  gegen  diese  Gegenüber- 
Stellung  als  Einwand  erheben,  dafs  das 
Geistes-  und  Seelenleben  des  Mittelalters 
denn  doch  wesentlich  verschieden  ist  von 
dem  des  17.  Jahrhunderts  und  dafs  selbst  in 
der  Konversationspoesie,  zumal  der  des 
Mittelalters,  der  Zug  dieses  Zeitgeistes  sich 
so  fühlbar  macht,  dafs  man  vor  einer  näheren 
Vergleichung  sich  hüten  sollte.  Ritterdienst 
und  Galanterie  verhalten  sich  zu  einander 
wie  Wahrheit  und  Schein,  der  erstere  beruht 
auf  voller  Achtung  des  Weibes,  die  letztere  ist 
nur  Surrogat  für  diese  Achtung.  Wenn  nun 
vollends  der  Verfasser  die  Verwandtschaft 
der  beiden  Epochen  durch  die  Gemeinsamkeit 
gewisser  poetischer  Motive  und  Bilder  zu 
erhärten  versucht,  vermögen  wir.  ihm  nicht 
mehr  zuzustimmen.  Die  meisten  der  pagina 
53 — 61  angeführten  Metaphern,  Vergleiche  u. 
s.  w.  sind  poetisches  Gemeingut  aller  Zeiten 
und  Völker  und  finden  sich  beispielsweise 
bei  den  Anakreontikem  gerade  so  wie  bei 
den  galanten  Dichtem.  Sie  stammen  aller- 
dings zum  grossen  Teil  aus  der  poetischen 
Schatzkammer  des  Mittelalters,  aber  sie  sind 
von  der  Troubadour-  und  Minne -Dichtung 
nicht  unmittelbar  auf  die  galante  L3rrik  über- 
gegangen, sondern  dieser  als  ein  altes  Erbe 
von  Petrarca  und  der  Renaissance-Poesie  zu 


eigen  geworden.  Datnit  ist  auch  ein  erster 
und  gewichtiger  Einwurf  erhoben  gegen  die 
in  der  Vorrede  mitgeteilte  und  verfochtene 
Meinung  Scherers:  die  Kenntnifs  und  der 
Finflufs  der  mittelhochdeutschen  Litteratur  im 
17.  Jahrhundert  sei  tiefer  gewesen,  als  man 
bisher  anzunehmen  geneigt  war;  jedenfalls 
müssen  zur  Stützung  dieser  These  stärkere 
Beweise  erbracht  werden  als  Entlehnungen 
aus  der  allgemeinen  poetischen  Bildersprache. 
Zum  Schlufs  freuen  wir  uns,  bestätigen 
zu  können,  dafs  der  Verfasser  in  seinem  Buche 
so  viele  Bausteine  zur  deutschen  Litteratur- 
Geschichte  mit  Fleifs  und  Geschick  aus  dem 
wenig  bekannten  Gebiete  der  galanten 
Dichtung  zusammengetragen  und  geordnet  hat, 
dafs  seine  Schrift  immer  eine  wertvolle  Fund- 
grube bleiben  und  künftigen,  weiter  aus- 
greifenden Darstellern  dieser  Epoche  von 
grossem  Nutzen  sein  wird. 

München.  Heinrich  Welti. 

Söderhjelnii  W.:  Petrarca  in  der  deut- 
schen Dichtung.  Abdruck  aus  „Acta  socie- 
tatis  scientiarum  Fennicae,  tom.  XV."  Helsing- 
fors,  Druckerei  der  finnischen  Litteraturgesell- 
schaft,  1 886.     44  Seiten  4^ 

Schon  in  seiner  ersten,  vor  zwei  Jahren 
in  schwedischer  Sprache  erschienenen  Schrift 
bewegte  sich  Werner  Söderhjelm  auf  dem 
Gebiete  der  vergleichenden  Litteraturge- 
schichte:  er  untersuchte  die  Lustspiele  Johann 
Elias  Schlegels  vorwiegend  nach  ihren  Be- 
ziehungen zur  ausländischen  (fiimzösischen, 
englischen,  dänischen)  Dichtung  und  förderte 
dabei  im  einzelnen  manches  schätzbare  Er- 
gebnis zu  Tage.  Einen  ähnlichen  Charakter 
trägt  seine  neueste  Abhandlung  über  die  Nach- 
bildungen und  Uebersetzungen  Petrarcas  in 
der  deutschen  Litteratur.  Söderhjelm,  der  sich 
auch  hier  wieder  als  tüchtigen  Kenner  der- 
selben bewährt,  verzeichnet  kurz  die  Versuche 
jener  Art  aus  älterer  Zeit,  verweilt  etwas 
länger  bei  Meinhard  und  den  durch  ihn  her- 
vorgerufenen Beschäftigungen  anderer  Ver- 
fasser mit  Petrarca  und  betrachtet  endlich 
sorgfältig  August  Wilhelm  Schlegels  Über- 
setzungen aus  dem  italienischen  Lyriker,  die 


178 


Besprechungen. 


beiden  Formen  derselben  (in  Musenalmanachen 
und  Taschenbüchern  1 790  —  1 795  und  in  den 
,,Blumensträussen  der  italienischen,  spanischen 
und  portugiesischen  Poesie**  1804)  Stück  für 
Stück    kritisch    mit    einander    vergleichend. 
Neben  der  philologischen  Genauigkeit  Söder- 
hjelms  beweist  dieser  Teil  der  Untersuchung 
namentlich  sein  für  einen  Ausländer  Staunens* 
wertes  feines  Verständnis  der  deutschen  Dichter- 
sprache, wie  andererseits  die  fliessende,   un* 
gerwungene  und  bis  auf  ganz  wenige  Kleinig- 
keiten sprachlich  reine  Darstellung  die  Ge- 
wandtheit des  Verfassers  in  der  Behandlung 
des  deutschen  Ausdrucks  zeigt.   Zur  sachlichen 
Ergänzung  der  Arbeit  ist  zu  bemerken,  dass 
auch  in  dem  Jahrhundert  von  etwa  1660  bis 
1763,   in   welchem  nach  Söderhjelm  die  Er- 
innerung an  Petrarca  den  deutschen  Dichtem 
ganz  entschwunden  sein  soll,  wenigstens  sein 
Name  dann  und  wann  genannt,  sein  Verhält- 
nis zu  Laura  hie  und  da  erwähnt  wird;   die 
bekannteste  Äusserung  aus  dieser  Zeit  ist  die 
Ode  des  jungen  Klopstock  „Petrarcha  und 
Laura,**  womit  einige  Anspielungen  auf  das- 
selbe Thema  in  gleichzeitigen  Briefen  Klop- 
stocks    und    in  der  Elegie  auf  die  künftige 
Geliebte  in  Zusammenhang  zu  bringen  sind. 
Schliesslich  sei  noch  der  Irrtum  Söderhjelms 
berichtigt,    als  ob  die  Geschichte  Boccaccios 
in  der  deutschen   Litteratur  durch  die    Auf- 
zählung einiger   Uebersetzungen    nahezu    er- 
schöpft wäre  (S.  1).    Allein  schon  das  Beispiel 
des    Hans    Sachs,    auf   dessen    dramatische 
Dichtung  kein  ausländischer  Schriftsteller  be- 
deutender  und   vorteilhafter   eingewirkt   hat 
als  Boccaccio,    beweist  die   Irrigkeit   dieser 
Ansicht. 

Bayreuth.  Franz  Muncker. 

Gufithner,  Engelbert :  C  a  1  d  e  r  o  n  s  D  r  a  m  e  n 

aus  der  spanischen  Geschichte,  mit 
einer  Einleitung  über  das  Leben  und  die 
Werke  des  Dichters.  Programm  des  Königl. 
Gymnasiums  in  Rottweil.     1885. 

Der  Verfasser  wollte  in  dieser  Schrift, 
zu  der,  wie  zu  so  vielen  andern,  die  Feier 
von  Calderons  zweihundertjährigem  Todes- 
tage   die    Anregung    gab,    ursprünglich    die 


sämtlichen  geschichtlichen  Dramen  des  Dich- 
ters behandeln,  äussere  Rücksichten  veran- 
lassten ihn  jedoch,  sich  auf  „die  anerkannt 
vorzüglichen  Schauspiele  aus  der  spanischen 
Geschichte**  zu  beschränken.  Es  war  zunächst 
sehr  fraglich,  ob  die  nach  F.  W.  V.  Schmidts 
Vorgange  („Die  Schauspiele  Calderons**)  in 
dieser  Gruppe  einbegriffenen  zehn  Stücke 
einen  fruchtbaren  Gesichtspunkt  für  eine 
zusammenfassende  Besprechung  darbieten 
würden.  „Der  Arzt  seiner  Ehre**  und  die 
„Belagerung  von  Breda,**  der  „Richter  von 
Zalamea**  und  „Luis  Perez  der  Galicier'* 
berühren  sich  nur  in  dem  rein  äusserlichen 
Punkte,  dass  in]^ihnen  geschichtliche  Personen 
aufbreten  oder  auf  geschichtliche  Ereignisse 
hingedeutet  wird.  Die  hohe  künstlerische 
Bedeutung,  die  diese  Dramen  grosseoteils 
auszeichnet,  kommt  ihnen  nicht  zu  in  ihrer 
Eigenschaft  als  dramatische  Gestaltungen 
historischer  Vorgänge,  sondern  beruht  auf 
anderen,  hiervon  völlig  unabhängigen  Ur- 
sachen. Im  historischen  Drama  reicht  Calderon 
nicht  entfernt  an  Lope  de  V^;a  heran,  ja 
er  wird  bisweilen  selbst  von  minder  grossen 
Dichtern,  wie  Guillen  de  Castro,  übertroffen, 
welcher  in  dem  Schlussakte  seiner  „Jugend- 
thaten  des  Cid**  einen  öffentlichen  Zweikampf 
unendlich  wirksamer  dramatisch  zu  verwertoi 
wusste,  als  dies  unserm  Dichter  in  dem  „letzten 
öffentlichen  Zweikampf  in  Spanien*'  gelang: 
dieser  giebt  den  blossen  äussern  Vorgang 
mit  Genauigkeit  wieder,  jener  verwandelt  ihn 
in  dramatische  Handlung,  indem  er  ihn  schil- 
dert in  den  Reflexen,  welche  die  Wechsel- 
fälle des  Kampfes  in  den  Gemütern  der  Zu- 
schauer werfen,  in  den  widersprechenden 
Empfindungen,  mit  denen  man  auf  beiden 
Seiten  dessen  Gang  begleitet. 

Das  historische  Element  ist  in  den  von 
Günthner  behandelten  Stücken  beinahe  aus- 
schliesslich episodischer  Art.  Die  Könige, 
die  in  eine  hochgesteigerte  Verwicklung 
schlichtend  eingreifen  oder  das  Richtschwert 
der  Vergeltung  fahren,  sind  in  ihrer  Rolle 
eines  Gottes  aus  der  Maschine  eigentlich  nor 
für  die  Schlussentwicklung  von  Wichtigkeit, 
die   historischen   Ereignisse,    welche    in   das 


Besprechungen. 


179 


Drama  hereingezogen  werden,  sollen  oft  genug 
bloss  die  ausserordentlichen  Zustände  erklären 
helfen,  in  welchen  sich  allein  die  romantische, 
aus  dem  Alltäglichen  heraustretende  Begeben- 
heit abspielen  konnte.  In  zwei  Werken: 
„Gefallen  und  Misfallen  beruht  nur  in  der 
Einbildung'*  und  „Wohl  und  Weh  kennen", 
ist  allerdings  ein  spanischer  Fürst  in  stärkerem 
Mafse  an  der  Handlung  beteiligt.  Allein 
beide  sind  die  Dramatisirungen  blosser  histo- 
rischer Anekdoten,  und  gerade  das  Anekdo- 
tische bat  Calderon  an  diesen  Stoffen  gelockt. 
Der  einzige  Unterschied  von  zahlreichen  andern, 
ähnliche  Probleme  behandelnden  Dramen,  die 
meist  auch  unter  der  Bezeichnung  von  hero- 
ischen oder  romantischen  Schauspielen  gehen, 
besteht  darin,  dass  die  Personen  keine  fremd- 
ländischen oder  erdichteten  Namen,  sondern 
solche  aus  der  nationalen  Geschichte  tragen. 
Nirgends  jedoch  geht  der  Dichter  darauf  aus, 
den  historischen  Gehalt  der  Stoffe  herauszu- 
arbeiten, Charaktere,  Gesinnungen,  Zustände 
und  Ereig^nisse  einer  vergangenen  Epoche  uns 
nahe  zu  bringen.  Das  Historische  ist  so  bei- 
läufig und  obenhin  behandelt,  so  ganz  allge- 
mein gehalten,  dass  man  wenig  mehr  als  die 
Namen  abzuändern  hätte,  damit  die  Hand- 
lung in  Italien  oder  sonstwo  spielen  könnte. 
„Lieben  bis  über  den  Tod  hinaus,"  dem  der 
Moriskenaufetand  unter  Philipp  II.  den  Stoff 
lieferte,  lässt  sich  in  seinem  Beg^inne  noch 
am  meisten  wie  ein  historisches  Drama  grossen 
Stiles  an :  wenn  auch  erst  eine  Privatstreitig- 
keit den  Ausbruch  der  Empörung  bewirkt, 
so  bildet  sie  doch  bloss  deren  nächsten  An- 
lass,  nicht  deren  letzten  Beweggrund.  Über- 
dies atmen  einzelne  Reden  das  energische 
Pathos  einer  unterdrückten  und  in  politischer 
wie  in  religiöser  Hinsicht  geknechteten  Nation, 
während  Calderon  sonst  beinahe  immer  sich 
begnügt  mit  dem  Ausmalen  rein  persönlicher 
Verhältnisse  und  der  spitzfindigen  Dialektik 
der  mancherlei  Konfliktslagen,  durch  welche 
dieselben  gestört  erscheinen.  Mehr  und  mehr 
jedoch  tritt  auch  in  diesem  Stücke  das  poli- 
tische Moment  zurück,  und  in  dem  letzten 
Akte  konzentriert  sich  das  ganze  Interesse 
auf  die  herrliche  Gestalt  des  ritterlichen  Tuzani 


und  die  kühn  durchgeführte  Rache,  welche 
er  für  die  heilsgeliebte  Gattin  an  deren  Mörder 
nimmt.  Dauernd  im  Vordergrund  stehen  histo- 
rische Personen  und  Ereignisse  eigentlich  nur 
in  einem  Werke  —  und  dies  ist  das  auf 
höhern  Befehl  angefertigte  Gelegenheitsstück 
„Die  Belagerung  von  Breda."  Wir  brauchen 
in  betreff  desselben  bloss  anzuführen,  dass 
noch  Niemand  hier  poetische  Eigenschaften 
hat  suchen  wollen,  und  dass  der  Dichter  selber 
sich  zu  der  entschuldigenden  Erklärung  ver- 
anlasst sah,  dass  er  unter  dem  Zwange  der 
vielen  Vorschriften  sich  nicht  mehr  habe  zeigen 
können. 

Es  geht  aus  dem  Gesagten  klar  hervor, 
dass  Calderon  als  dramatischer  Bearbeiter 
seiner  Landesgeschichte  einen  möglichst  un- 
glücklich gewählten  Stoff  für  eine  Einzel- 
behandlung darstellen  musste,  und  dass  auch 
die  gedachten  zehn  Schauspiele  am  wenigsten 
geeignet  waren,  uns  Anschlüsse  über  das 
Wesen  des  nationalgeschichtlichen  Dramas 
bei  den  Spaniern  zu  gewähren  —  das,  was 
wir  unter  dem  Begriffe  historisches  Drama 
verstehen,  existiert  eben  bei  Calderon  gar 
nicht  —  und  eine  solche  Annahme  schien 
doch  der  Titel  der  Schrift  zu  rechtfertigen. 
Aber  auch  nicht  einmal  für  eine  blofs  ästhe- 
tisierende  Betrachtungsweise,  welche  Calderons 
Eigenart  als  Dramatiker  oder  eine  bestimmte 
Seite  seines  dichterischen  Schaffens  schärfer 
zu  erkennen  gesucht  hätte,  konnten  die  hier- 
hergehörigen Werke  sich  günstig  erweisen. 
Dem  stand  entgegen,  dass  ein  rein  zufälliger 
Umstand  ihre  Wahl  bestimmt  hatte,  und  dass 
sie,  so  wesentlich  verschieden  sie  ihrem  inner- 
sten Kerne  nach  sind,  einzelne  besonders 
wichtige  Seiten  von  Calderons  dichterischem 
Charakter  gar  nicht  einmal  erkennen  lassen. 
Grosse  Ausbeute  wird  man  nach  alledem  von 
GünthnersSchrift  nicht  haben  erwarten  können — 
sie  brauchte  darum  aber  doch  nicht  so  völlig 
ergebnislos  zu  sein,  wie  sie  es  thatsächlich 
ist.  Der  Verfasser  hat  sich  nämlich  damit 
begnügt,  das,  was  andere  vor  ihm  gesagt, 
zusammenzustellen,  zu  verschmelzen  und  zu 
erweitern;  das,  was  er  von  seinem  Eigenen 
geliefert  hat,  ist  verschwindend  wenig. 


180 


Besprechungen. 


Am  dankenswertesten  ist  noch  das  voraus- 
g^eschickte  Leben  des  Dichters,  in  welchem 
unter  Benutzung  der  neuesten  spanischen 
Forschungen  etliche  Berichtigungen  und  Zu- 
sätze zu  den  Darstellungen,  wie  wir  sie  in 
den  gangbaren  Werken  finden,  gegeben  werden. 
Demnächst  folgt,  grossenteils  in  engem  An- 
schlüsse an  V.  Schmidt,  eine  Klassifikation 
und  Aufzählung  der  io8  weltlichen  Bühnen- 
stücke, dazu  knappe  Bemerkungen  stofflicher, 
ästhetischer,  historischer  und  bibliographischer 
Art.  Wem  mit  diesem  Abschnitte  gedient  sein 
soll,  ist  nicht  einzusehen.  Der  mit  Calderon 
Unbekannte  —  und  für  diesen  scheint  doch 
in  erster  Linie  eine  orientierende  Einleitung 
bestimmt  zu  sein  —  wird  aus  dieser  unüber- 
sehbaren Menge  von  Komödientiteln  doch  nur 
die  sprüchwörtliche  Fruchtbarkeit  und  Viel- 
seitigkeit ihres  Verfassers  entnehmen  können. 
Mehr  hätte  es  sich  für  die  Bedürfnisse  solcher 
Leser  sicherlich  empfohlen,  eine  allgemeine 
Charakteristik  des  spanischen  Dramas,  und 
insbesondere  Calderons,  vorauszuschicken,  so- 
wie zu  entwickeln,  welche  Stelle  er  in  der 
Geschichte  desselben  einnimmt,  wobei  die 
Eigentümlichkeiten  der  Hauptgattungen  seiner 
Dramen  sich  bequem  hätten  zur  Sprache  bringen 
lassen.  Geschickter  erscheint  uns  das  bei 
den  geistlichen  Festspielen  eingeschlagene 
Verfahren.  Nach  etlichen  allgemeinen  Sätzen 
giebt  uns  der  Verlasser  die  Analyse  des 
„göttlichen  Orpheus*^  mit  Einfügung  kleiner 
Bruchstücke,  die  wir  gerne  gröfser  und  zahl- 
reicher gesehen  hätten,  und  klärt  uns  dadurch 
über  das  Wesen  der  Autos  fraglos  besser 
auf  als  durch  die  Aneinanderreihung  noch  so 
vieler  Titel  und  buntscheckigen  Notizen.  Nun 
etwa  eine  Seite  Vorbemerkungen  über  die 
Dramen  aus  der  spanischen  Geschichte  im 
Ganzen,  zur  Hälfte  aus  wörtlichen  Anfüh- 
rungen, zur  Hälfte  aus  freien  Umschreibungen 
einzelner  Stellen  aus  vSchacks  und  V.  Schmidts 
grossen  Werken  bestehend.  Alsdann  folgt 
eine  Wiedergabe  des  Inhaltes  der  einzelnen 
Stücke,  oder  genauer,  eine  Paraphrase  der 
Schmidtschen  Analysen,  aus  denen  Worte 
und  Wendungen,  ja  ganze  Sätze  herüberge- 
nomroen  werden.     Auch  jede  sonstwie   ver- 


wertbare Bemerkung  Schmidts  hat  ein  ähn- 
liches   Schicksal    gehabt      Statt    unzähliger 
Beispiele,    die    wir    anführen    könnten,    hier 
aufs  Geratewohl  zwei,  welche  ims  die  „Bela- 
gerung von  Breda^^  liefern  möge: 
Schmidt:  S.  198. 
Spanisches  Lager.    Die  Holländer  nahen. 
Spinola  giebt  den  gemessenen  Befehl,  kein 
Soldat  solle  seinen  Posten  verlassen    und 
gegen    den    Feind    fechten.      Nur    die    an- 
gegriffene Schanze   darf  sich    verteidigen. 
Die  Italiener  werden  von  den  Holländern 
angegrifiOfen    und    weichen    anfangs.      Un- 
geduld und  Sehnsucht  nach  Kampf  bei  den 
Spaniern.    Cordova  erinnert  sie: 

Der  Gehorsam 
Legt  im  Felde  dem  Soldaten 
An  die  allerstärkste  Fessel. 
Grossem  Ruhm  und  grossem  Namen 
Als  mit  Mut  den  Wall  erstürmen 
Bringt  es,  willig  sich  zu  beugen. 
Der  Italiener  Roma  stellt  die  Ordnung 
bei  seinen    Landsleuten    wieder    her,     die 
Holländer  weichen    und    das  Unternehmen 
des    Heinrich  von  Nassau    ist    gescheitert. 
Er  zieht  sich   zurück  und   lälst  dem  Gou- 
verneur von   Breda  sagen,    er  solle  kapi- 
tulieren. 

Günthner:  S.  40. 
Das  holländische  Heer,  30,000  Mann 
stark,  rückt  heran  und  greift  die  Ver- 
schanzungen der  Italiener  an,  welche  an- 
fangs zurückweichen.  So  sehr  die  Spanier 
vor  Begierde  brennen,  sich  in  den  Kampf 
zu  stürzen:  der  streng^  Befehl  Espinolas, 
kein  Soldat  dürfe  seinen  Posten  verlassen 
und  nur  die  angegriffene  Schanze  sich  ver- 
teidigen, hält  sie  zurück.  „Der  Gehorsam, 
so  ruft  Gonzalo  dem  kampflustigen  Alonso 
zu,  legt  im  Felde  dem  Soldaten  an  die 
allerstärkste  Fessel.  Grossem  Ruhm  und 
grossem  Namen,  als  mit  Mut  den  Wall 
erstürmen,  bringt  es,  willig  sich  zu  beugen*^ 
Endlich  stellt  der  Italiener  Carlos  Roma 
die  Ordnung  unter  den  Italienern  wieder 
her,  die  Holländer  weichen  und  damit  ist 
auch  Heinrichs  Plan,  der  Entsatz  Bredas, 
gescheitert.     Er  zieht  sich  zurillck  und  ruft 


Besprechungen. 


181 


dem  Gouverneur  Bredas  zu,    die   Festung 
zu  Übergeben. 

Schmidt:  S.  199. 
Hier  mufs  Spinola  den  Spaniern  den 
plumpsten  Lobspruch  erteilen,  der  je  einer 
Nation  ins  Gesicht  gesagt  worden.  .  .  . 
Sehr  auffallend  ist  das  angesponnene  Lie- 
besverhältnis, dessen  nachher  gar  nicht 
weiter  Erwähnung  geschieht:  ein  Fehler, 
dessen  sich  Calderon  sonst  nie  schuldig 
gemacht  bat. 

Gfinthner:  S.  42. 
....  den  plumpen  Lobspruch,  den 
Spinola  der  spanischen  Nation  erteilt  .... 
und  endlich  den  angefangenen,  aber  nicht 
zu  Ende  geführten  Liebesroman  der  Flora 
und  des  Don  Fadrique:  ein  Fehler,  dessen 
sich  sonst  Calderon  nie  schuldig  gemacht  hat. 
Nach  Schmidt  werden  am  öftesten  Schack, 
dann  die  Verfasser  einzelner  Monographien, 
schliesslich  die  französischen  und  deutschen 
Übersetzer  herangezogen,  jedoch,  wie  wir 
nicht  unterlassen  wollen  hervorzuheben,  unter 
gewissenhafter  AnfÜhrungder  benutzten  Stellen; 
am  freiesten  steht  noch  der  Verßisser  seinen 
Vorgängern  in  der  Besprechung  des  „Richters 
von  Zalamea"  gegenüber,  die  weit  umfang- 
reicher als  die  Übrigen  ausgefallen  ist  und 
auch  weniger  an  der  Oberfläche  haftet  Nir- 
gends finden  wir  neue  Gesichtspunkte  oder 
auch  nur  neue  Forschungen,  wo  solche  doch 
öfters  geboten  waren.  Schmidt  hatte  für  eine 
Rede  der  Flora  auf  die  „Numancia^^  des  Cer- 
vantes als  ein  Vorbild  für  die  „Belagerung 
von  Breda**  verwiesen.  Statt,  was  nicht  schwer 
gewesen,  weitere  Belege  hierfür  beizubringen, 
geht  Gfinthner  auf  die  Frage  der  Nachahmung  gar 
nicht  ein.  Beiläufig  erscheint  uns  unberechtigt 
das  Lob,  welches  Verfasser  der  Schilderung 
der  Stadt  Breda  und  der  Belagerungswerke 
durch  Spinola  —  in  dem  ebengenannten 
Stücke  —  spendet.  Und  doch  ist  sie  die 
reinste  Prosa  und  mutet  uns  an  wie  der  in 
Verse  gesetzte  Artikel  eines  geographischen 
oder  militärgeschichtlichen  Lexikons.  £s 
fällt  uns  schwer,  den  grofsen  Feldherrn 
uns  zu  denken,  wie  er,  obendrein  vor 
dem  als  kriegskundig  bezeichneten  polnischen 


Prinzen,  seinen  Vortrag  damit  eröffnet,  dass 
Breda  in  den  Niederlanden  und  auf  dem  5 1  ^ 
nördlicher  Breite  liege.  Es  unterliegt  für  uns 
keinem  Zweifel,  dass  dieser  lange  Bericht 
einem  bestimmten  praktischen  Zwecke  dienen 
sollte:  entweder  galt  es,  Massregeln  des  Be- 
lagerungsheeres, die  eine  Kritik  erfahren 
hatten,  durch  genaueste  Darlegung  des  Sach- 
verhaltes zu  rechtfertigen,  oder  auch  nur  das 
Verdienst  derselben  möglichst  glänzend  er- 
scheinen zu  lassen.  Aber  wir  sind  hier  tausend 
und  tausend  Meilen  entfernt  von  aller  Poesie. 
Auch  in  betreff  der  Ausdehnung  der  ein- 
zelnen Analysen  wird  man  schwerlich  mit 
dem  Verfasser  einverstanden  sein.  Werke, 
die,  wie  „die  Belagerung  von  Breda,**  in 
Deutschland  so  gut  wie  unbekannt  sind,  ver- 
langten eine  weit  ausführlichere  Wiedergabe, 
während  bei  mehrfach  übersetzten  und  be- 
sprochenen Dramen  ohne  Schaden  für  die 
Sache  gröfsere  Knappheit  hätte  walten  können. 
„Luis  Perez  der  Galicier",  der  durch  eine 
Komplikation  der  Verhältnisse  zum  Räuber- 
hauptmann gewordene  Ehrenmann,  der  wegen 
mancher  Charakterzüge,  welche  ihm  mit  Götz 
von  Berlichingen  gemein  sind,  uns  Deutsche 
eigenthfimlich  vertraut  anmutet,  ist  mit  einer 
Inhaltsangabe  von  wenigen  Zeilen  bedacht 
worden  —  Schmidt  hat  überhaupt  keine 
solche  —  während  dies  merkwürdige  Drama 
eine  eingehende  und  sorgfältige  Würdigung 
verdient  hätte.  Der  Mangel  an  dramatischer 
Einheit,  den  Verfasser  mit  Schmidt  auszustellen 
hat,  bietet  keine  genügende  Entschuldigung 
dar.  Überdies  ist  dieser  Vorwurf  gar  nicht 
einmal  begründet.  Diese  Reihe  von  Szenen 
und  Situationen  aus  dem  Leben  des  Luis 
Perez  entwickelt  sich  mit  Notwendigkeit 
und  ist  aufserdem  unerläfslich,  um  den  Cha- 
rakter des  Helden  allseitig  klar  zu  legen. 
Ein  Mann  von  diesem  ausgesprochenen  Rechts- 
und Ehrgefühl,  das  überdies  durch  spanische 
Anschauungen  eine  ganz  eigene  Richtung 
erhält,  wird  sich  immer  Lagen  wie  die  dar- 
gestellten schaffen ;  wenn  nun  der  Dichter  die 
Situationen  häufte  oder  zuspitzte,  so  machte 
er  nur  von  einem  ihm  zustehenden  Rechte  Ge- 
brauch, das  keine  Kritik  ihm  verkömmern  darf. 


182 


Besprechungen. 


Aulfallenderweise  werden  die  Anspielungen 
auf  die  Zeitgeschichte,  die  wir  in  den  mytho- 
logischen Festspielen  und  sonst  gelegentlich 
finden,  sowie  andere  Beziehungen,  die  eine 
Verwandtschaft  mit  dem  Thema  unserer  Arbeit 
darbieten  —  man  hat  z.  B.  in  den  ,,  Locken  Ab- 
salons**  eine  Rechtfertigfung  des  Verhaltens 
von  Philipp  II.  gegen  seinen  Sohn  Don  Carlos  er- 
blicken wollen  —  von  Günthner  gar  nicht  berQhrt. 
Dieser  Punkt  mufste,  sei  es  auch  nur  bei- 
läufig in  der  allgemeinen  oder  der  speziellen 
Einleitung,  auf  jeden  Fall  erörtert  und  unter 
Bezugnahme  auf  die  bis  jetzt  vorgebrachten 
Meinungen  beistimmend  oder  ablehnend  zu 
diesen  Stellung  genommen  werden. 

Das  Feld  der  spanischen  Litteratur- 
Geschichte  wird  in  Deutschland  nicht  so 
eifrig  bebaut,  dafs  wir  Jemanden,  der,  wie 
der  Verfasser,  Fleifs,  Gewissenhaftigkeit  und 
Liebe  zur  Sache  mitbringt,  von  weiterer 
Thätigkeit  auf  diesem  Gebiete  abschrecken 
sollten.  Nur  raten  wir  ihm,  sich  einen 
weniger  bearbeiteten  Dramatiker  als  Calderon 
zu  wählen.  Sorgfältige  Analysen  einzelner 
Hauptwerke  —  ähnlich  der  des  „Richters  von 
Zalamea**  —  neben  summarischei  Besprechung 
minder  wichtiger  oder  minder  charakteristischer 
Stücke,  würden  nach  Schack,  Grillparzer  und 
Klein  noch  nützlich  sein  und  Dank  verdienen, 
während  wir  einer  ähnlichen  Arbeit  über  Calde- 
ron, die  etwa  dieDramen  aus  der  nichtspanischen 
Geschichte  abhandeln  würde,  den  Dank  der 
Leser  nicht  zu  versprechen  wagen. 

W.  Wetz. 

Baumgartner,  Alexander  S.  J.:  Zur  Be- 
urteilung Goethes. 

Motto:  •'Wie  wenige  sie  auch  nur  ahnen,  in 
welcher  unzugänglichen  Burg  d^r  Mensch 
wohnt,  dem  es  nur  immer  Ernst  um  sich 
und  die  Sachen  ist  * 

Goethe  an  Schüler.  5.  Desember  1796- 

1.  Goethe  und  Schiller.  Weimars 
Glanzperiode.  Freiburg  L  Br.  Herdersche 
Verlagshandlung.     1886.     393  S.     8«. 

2.  Der  Alte  von  Weimar.  Goethes 
Leben  und  Werke  etc.  296  S.  (Ergänzungs- 
hefte zu  den  „Stimmen  aus  Maria-Laach"). 


Nach  den  Schriften  desselben  Verfassers; 
Goethes  Jugend  und  Goethes  Lehr- 
und  Wanderjahre,  liegen  nun  die  oben- 
genannten beiden,  ziemlich  umfangreichen 
Veröfifentlichungen  vor.  —  Ich  mufs  bekennen, 
dafs  ich  die  genannten  vorhergegangenen 
Schriften  gesehen,  dafs  ich  mich  aber  nicht 
angezogen  fühlte,  auf  sie  näher  einzugehen; 
die  vorliegenden  zu  lesen  bin  ich  durch  eine 
freundliche  Zuschrift  des  Herausgebers  dieser 
Blätter  veranlafst,  der  über  dieselben  einen 
Bericht  wünscht.  — 

Beide  neueren  Schriften  waren  nicht  im 
Stande,  meine  Voraussetzungen  zu  erschüttern 
und  mich  zu  veranlassen,  zu  den  früheren 
Heften  etwa  nachträglich  zurückzugreifen.  Ich 
hatte  Recht,  die  Buchstaben  hinter  dem  Namen 
des  Verfassers  S.  J.  als  ein  Zeugnis  für  eine 
Würdigung  Goethes  nicht  ansehen  zu  können. 
Sie  schienen  mir  ein  Lasciate  ogni  speranza, 
voi  ch^entrate.  Ich  kann  nun  auch  bezeugen, 
dafs  Herr  B.  in  diesen  Schriften  weder  an 
Thatsachen,  noch  Anschauungen  Neues  bietet, 
dafs  vielmehr  oft  Behauptetes,  längst  Ab- 
gethanenes  bis  zur  Ermüdung  immer  wieder 
belanglos  wiederholt  wird.  Der  Eindruck, 
den  sie  hervorbringen,  ist  nur  unser  Staunen 
darüber,  wie  man  soviel  über  einen  Gegen- 
stand lesen  und  soviel  über  ihn  schreiben 
kann,  ohne  ihm  näher  zu  kommen;  wie  man 
selbst  soviel  Anerkennung  über  eine  Persön- 
lichkeit aussprechen  kann,  der  man  im  Urteil 
so  lieblos  gegenübersteht? 

Unter  diesen  Umständen  mufste  ich  mich 
wohl  fragen,  ob  es  einen  Zweck  haben  kann, 
über  derlei  Schriften  zu  berichten. 

4ch  glaube  doch  kaum,  dafis  unsere  Leser 
Verlangen  tragen  werden  nach  einer  Ausein- 
andersetzung mit  den  Anschauungen  jenes 
Ordens,  der,  eine  Welt  für  sich,  aus  g^uer 
Vorzeit  in  unsere  Welt  herein rag^,  aber,  wenn 
auch  immer  noch  mächtig  und  einflufsreich, 
an  dem  grofsen  Entwicklungsgange  unserer 
Ideenwelt  doch  schon  lange  nicht  mehr  mit- 
beteiligt ist. 

Nicht  die  Anschauungen  aus  jener  Welt 
sind  es,  die  mich  zu  einem  Berichte  veranlassen 
können.     Bei  näherem  Eingehen  erg^ebt  sich 


Besprechungen. 


183 


aber  die  Thatsache,  dafs  die  Angriffe  gegen 
Goethe,  die  wir  hier  wie  einen  Wassergu£s 
über  sein  ganzes  Leben  und  Wirken,  bei 
allen  Versicherungen  der  Anerkennung,  aus- 
gegossen sehen,  g2aiz  dieselben  sind,  wie  wir 
sie  leider  noch  vielfach  weit  und  breit  bei 
Katholiken  und  Protestanten,  bei  Frommen 
und  Ungläubigen,  gerade  so,  in  erweiterten 
Variationen  immer  wieder  antreffen.  Was 
einem  beim  Lesen  schreckhaft  klar  wird,  ist 
die  Wahrnehmung,  wie  verheerend  halbe 
Erkenntnis  wirkt  Es  haben  selbst  Namen 
von  gutem  Klang  an  Goethe  gesündigt.  Auf 
ihre  Misverständnisse,  mitunter  Flachheiten 
und  Oberflächlichkeiten  beruft  sich  B.  Jedes 
leicht  hingeworfene  Wort,  das  dem  sittlichen 
Ernst  des  Dichters  gemgeglaubte  Zweifel 
gegenüberstellt,  das  ihm,  wenn  auch  mit 
nachsichtigem  Verzeihen,  gemeine  Motive 
unterschiebt,  ist  ihm  hochwillkommen! 
Mit  der  grölsten  Gelassenheit  wird  der  gröiste 
Dichter  Deutschlands,  unter  scheinbar  völliger 
Würdigung  seiner  Kunst,  zerpflückt  und  die- 
jenigen, die  sich  von  seiner  sittlichen  Kraft 
gehoben  fühlen,  müssen  sichs  gefallen  lassen, 
mit  allen  möglichen  Fratzen  dep  Zeit,  mit 
Atheisten,  Anarchisten,  Materialisten,  Nihilisten, 
Pessimisten,  fiivolen  Wüstlingen  aller  Farben 
ohne  Weiteres  zusammengeworfen  zu  werden. 
Er,  der  auf  den  höchsten  Höhen  der  Bildung 
durch  seine  tiefen  Blicke  in  die  Natur  gelehrt, 
dafs  es  mehr  Dinge  giebt  im  Himmel  und 
auf  Erden,  als  Hor^tio  in  seiner  Philosophie 
sich  träumt,  er,  der  in  der  Liebe  sein  ganzes 
Leben  hindurch  ein  Preisein  empfindet*), 
dessen  milde,  liebevolle  Natur  alles  Gewalt- 
same bekämpfte,  soll  als  ein  sündhaft  böser 
Geist  und  leichtsinniger  Egoist,  vor  dem  zu 
warnen  sei,  hingestellt  werden  dürfen!  Das 
ist  die  Aufgabe,  die  der  Verfasser  sich  stellt 
und  es  gelingt  ihm,  man  braucht  nur  zu  über- 
sehen die  grofse  Einheit  in  Goethes  Natur, 
aus  der  das  Einzelne  erst  verstanden  wird! 
—  So  verfuhr  ja  auch  Du  Bois-Reymond.  — 


*)  Ich  darf  vielleicht  der  Kürze  wegen 
über  diesen  Punkt  auf  meine  Schrift :  Goethe 
und  die  Liebe  (1884)  hinweisen« 


Man  wird  überall  an  Mephisto  erinnert,  der 
das  Nichts  sieht,  wo  Faust  das  All  findet. 

Den  Musenhof  in  Weimar  gründete,  wie 
B.  nachweist,  „nicht  Goethe,  sondern  — 
Wieland  und  Herder  [i,  5*)].**  Wieland  ist 
Herrn  B.  überhaupt  viel  lieber,  wie  es  scheint, 
als  Goethe.  Er  ist  durch  zwanzig  Jahre  eine 
litterarische  Macht  für  ganz  Deutschland. 
Er  leidet  nicht  an  Lessings  „galliger  Professo- 
ren-Unfehlbarkeit Auch  wenn  er  tadelt,  zeigt 
er  noch  immer  ein  freundliches,  gemütliches 
Herz."*  An  philosophischer  Schulung  ist  er 
Goethe  „weit  voraus"  (i,  6,  8  ff.),  dann  findet 
er  aber  docti,  dafs  Wieland  allem  Hohen  in 
der  Litteratur  aus  dem  Wege  geht,  dafs  sich 
sein  Klassizismus  „an  dem  Schmutze  der 
antiken  Welt  hält**  (x,  xo).  Das  sei  aber 
überhaupt  bei  den  „Weimarer  Gröfsen"  der 
Fall,  was  sie  nur  mit  philosophischer  G^heim- 
thuerei  zu  verhüllen  strebten  (i,  12)! 

Herder  tritt  in  den  Schatten  gegen  „den 
Schwindel,  den  Goethe  in  den  Naturwissen- 
schaften trieb**  (1,  X4).  Bei  einem  solchen 
Worte  des  geistlichen  Herrn  fragt  man  sich 
denn  wirklich,  ob  man  weiter  lesen  soll.  — 
Eingedenk  unserer  Bemerkung,  von  der  wir 
ausgehen,  überwinden  wir  uns  doch  und 
halten  uns  auch  nicht  auf  dabei,  dafs  der 
böse  Geist  Luthers  manchmal  in  Herder 
hineingefahren  sei  (i,  22).  Der  3.  Abschnitt 
handelt  von  Schiller.  „Die  ebenso  beliebte, 
als  wohlfeile  Distinktion  subjektiv  und 
objektiv  deutet  weder  den  Charaktergegen- 
satz der  beiden  Dichter  selbst  noch  deren 
Poesie  an.  Weit  mehr  ist  gesagt,  wenn  man 
den  Einen  einen  Idealisten,  einen  Dramatiker, 
einen  Strebenden  nennt,  den  Anderen  einen 
Realisten,  einen  Lyriker  und  Epiker,  einen 
Besitzenden^^  (i,  30  ff.).  Wie  aber,  wenn  der 
Dichter  des  Faust  doch  ein  Idealist  wäre? 
wenn  es  einen  objektiven  Idealismus  gäbe? 
was  Schiller  selbst  ahnte,  indem  er  Goethe 
den  intuitiven  Geist  nannte,  der  in  den 
Empirischen  den  Charakter  des  Notwendigen, 
das  Ideal  sieht?  —  Leider  steht  B.  mit  solcher 


*)  Ich    bezeichne     beide    obengenannten 
Schriften  mit  i  und  3. 


184 


Besprechungen. 


Verwirrung  klarer  und  notwendiger  Unter- 
scheidungen nicht  allein!  —  Ergötzlich  liest 
sich  (i,  39)  dafs  Schiller  höher  steht  als 
Goethe,  indem  er  mit  übersinnlichen  Idealen, 
der  Geschichte,  hingegen  Goethe,  der 
„behagliche  Hofdichter**  mit  sinnlichen 
Farben  und  Formen  von  Pflanzen  und 
Tieren  zu  thun  habe!  Dafs  Goethe  «den 
Triumph  der  Empfindsamkeit **  gefeiert  (sie!) 
habe,  indem  Schiller  den  Don  Carlos  schrieb 
(i*  39)  40) m  —  Dann  schrieb  Goethe  den 
„Eg^ont"  „Er  war  etwas  leichtsinnig,  lieder- 
lich, dieser  Held*'  (i,  41).  Egmont  ist  eine 
n Zierpuppe,"*  die  aus  Goethes  „schwammigem 
Gefühlsleben"  herrührt 

Indem  es  dem  Unterrichteten  immer  klarer 
wird,  dafs  Goethes  wissenschaftliche  Arbeiten 
aus  seinem  glänzen  Wesen  herauswachsen, 
findet  B.,  er  habe  sich  dazu  künstlich  hinauf- 
geschraubt, wohl  um  seine  Inferiorität  zu 
bemänteln  (i,  67,  69).  Ohne  Mathematik 
studiert  zu  haben,  sei  Goethe  gegen  Newton 
aufgetreten  (1,71).  Das  ist  ja  die  landläufige 
Phrase,  die  einer  dem  anderen  immer  noch 
nachredet,  ohne  zu  fragen:  ob  der  Punkt, 
darauf  es  hier  ankommt,  mit  Hilfe  der  Mathe- 
matik auch  zu  erledigen  ist!?  Die  Krone 
setzt  der  Verfasser  seiner  Darstellung  des 
Verhältnisses  Schillers  und  Goethes  aber  auf, 
indem  er  beweist,  dafs  man  sich  irrt,  wenn 
man  sie  für  wahre  Freunde  hält  (i,  358). 
„Jeder  kannte  die  Schwächen  des  Anderen, 
hatte  damit  rechnen  gelernt.  Niemand  kam 
so  gut  aus,  wie  die  Beiden  und  so  galten 
sie  denn  zuletzt  als  Freunde.**  So  niedrige 
Untersteilungen  sind  doch  wohl  nur  für  den 
Urheber  derselben  bezeichnend.  Was  ihr 
Verkehr  einbrachte,  das  sind  lojährige  Rodo- 
montaden  über  klassische  Kunst  (i,  304).  Zu 
Goethes  herrlichem  Epilog  zu  Schillers  Glocke, 
jenem  „denn  er  war  unser"  bemerkt  B.: 
„Er  war  unser."  —  „Es  war  ein  feiner  Staats- 
streich. Schiller  war  damit  sin  den  Triumph- 
wagen seines  einstigen  Rivalen  für  immer 
festgebannt.**  Wir  fürchten  unsere  Leser  zu 
ermüden,  indem  wir  dergleichen  Plattheiten 
der  Erwähnung  würdigen.  Leider  kann  der 
Verfasser  für  seine  Gesinnung  einen  Namen 


guten  Klanges  anführen,  den  er  zu  den 
erwähnten  Versen  zitiert.  Wir  wollen  diesen, 
weil  wir  ihn  sonst  achten  und  weil  er  tot 
ist,  hier  nicht  nennen. 

Goethe  erzählt  in  den  Annalen  von  dem 
Besuch  Professor  Wolfs  in  Weimar,  den  3o.Mai 
1805,  und  bemerkt  dazu,  dafs  Wolf  leider 
den  weimarischen  Kreis  „um  ein  edles  Mit- 
glied verminderte  und  uns  alle  in  tiefer 
Herzenstrauer  um  Schiller  fand."  B.  findet 
nun,  Goethe  habe  Wolf  sogleich  „an  die 
erledigte  „Freundes"  -  Stelle  (sie!)  treten 
lassen.  Tiefes  Gefühl  verrät  das  nicht,  aber 
kluge  Berechnung,  denn  in  Wolf  zog  er 
die  deutsche  Philologie  huldigend  an  seine 
Seite  —  —  "  (i,  349).  „Goethe  selbst  — 
hing  nicht  an  den  grofsen  idealen  Zielen  der 
Kunst,  sondern  an  seiner  eigenen  kleinlichen 
Individualität,  mit  all  ihren  gegenwärtigen 
Schwächen     und      früheren     Jugendsünden** 

(h  351)- 

Um  den  Schluis  des  Bandes  recht  wirk- 
sam zu  machen,  erzählt  der  Verfasser  noch 
(i,  382  ff.)  die  Zerwürfiaisse  Goethes  mit  dem 
Herzoge  1808.  Daran  knüpft  sich  denn  das 
Fabula  docet:  Das  war  der  Welt  Lohn!  — 

Er  konnte  damit  sogleich  die  Geschichte 
verknüpfen,  wie  Goethe  181 7  die  Theater- 
leitung aufgab,  die  dann  in  „Der  Alte  von 
Weimar**  (3,  124  fi^)  erzählt  wird.  Dort  sagt 
Herr  B.  „Goethe  hatte  den  edlen  Stolz 
eines  freien  Mannes  nicht  —  und  schleppte 
die  höfischen  Ketten  weiter,  die  seine  Genuss- 
sucht sich  selbst  geschmiedet!**  Wir  sind 
über  alle  diese  Dinge  sehr  lückenhaft  unter- 
richtet, dafs  es  wohl  besser  ist,  zu  schweigen 
bis  auf  Weiteres,  dafs  Goethe  den  edlen 
Stolz  eines  freien  Mannes  aber  besafs,  das 
konnte  Herr  B.  aus  den  Theaterakten  von 
1 808  (O.  Jahn,  Briefe  an  Voigt,  S.  52a)  wissen, 
wo  Goethe  erklärt:  „Ich  werde  kein  Haar- 
breit weichen**  und  aus  der  ganzen  Sache 
auch  dem  Herzog  gegenüber  siegreich  hervor- 
ging. 

Wenn  man  alle  die  von  B.  gesammelten 
Beispiele  von  geradezu  gemeiner  Denkungs- 
art  und  tiefinnerlichster  Unsittlichkeit  in 
seiner  Darstellung  auf  Goethes  Wesen  zurück- 


Besprechungen. 


185 


g^efuhrt  sieht,  so  fraget  man  sich  billig,  wie 
man   denn  von  einer  solchen  Persönlichkeit 
sich  erhoben  fühlen  kann,  ohne  sich  ähnlicher 
Verlästerung  auszusetzen  ?    Dies  trifit  mit  uns 
nach  B/s  Hindeutungen  ebenso  Schiller,  wie 
Fichte,  Schelling,   Hegel,  die  Humboldt  und 
Rosenkranz,   ebenso  die  protestantisch -theo- 
logische Fakultät  von  Jena,    wie    den  ehe- 
maligen Unterrichtsmintster  Falk!  •—  Es  mufs 
unsere  deutsche  Welt    eine  von   Grund  aus 
verdorbene  sein,   deren  hoch  emporragende, 
geehrte  Gestalten  in  solchem  Licht  erscheinen  I 
Aus  diesen  Schlufsfolgerungen   kommen  wir 
nicht  heraus,   wenji  wir  einzelne  Thatsachen 
in   feindseliger  Darstellung  aufhäuften,   ohne 
uns  zu  VemunftbegTififen  erheben  zu  können, 
aus  denen  sie  zu  erklären  sind..    Wie  in  der 
Liebe  zwischen  beiden  Geschlechtem  es  sich 
darum  handelt,  ob  sie  vom  Geiste  ausgeht 
oder  von  der  Tierheit,   wie  sie  im   ersteren 
Falle  frei  von  Selbstsucht  ist,  im   letzteren 
eine  Abscheu  erregende  Erscheinung,  das  habe 
ich   anderweitig  bereits  dargelegt,   und,  wie 
ich    mehrseitig   versichert   bin,    überzeugend 
nachgewiesen,  dafs  Goethe  sein  ganzes  Leben 
hindurch  von  einer  Liebe  ersterer  Art  getragen 
war.    Er  stellte  sie  in  allen  Lagen  dar,  ver- 
barg auch  bei  seiner  beispiellosen  Wahrheit 
ihre  sinnliche  Seite  nicht,  verhüllte  nichts,  ver- 
schönfärbte nichts,  verehrte  aber  ihren  geistigen 
Gehalt  wie  kein  zweiter  liebevoll  auch  dort, 
wo  die  Sinnlichkeit  ganz  ausgeschlossen  ist. 
So  im  Werther,  so  in  der  sehnsuchtskranken 
Mignon,  die  sich  nach  dem  Himmel  sehnt: 
Und  jene  himmlischen  Gestalten, 
Sie  fragen  nicht  nach  Mann  und  Weib! 
Er  verklärte  die  Liebe  zur  Schwester 
in  den  herrlichsten  bedeutsamsten  Dichtungen. 
Die  Grundlage  dieser  Richtung  bildete  wohl 
das  Verhältnis  zu   seiner  Schwester  Cornelia, 
der  er  Liebe  und  Freuden  mitzuteilen  gewohnt 
war.     Als  sie  selbst  heiratete,  wandte  er  sich 
Auguste   Stolberg   zu,    die    er    Schwester 
nannte    und    der   er   all   sein  inneres  Leben 
mitzuteilen  liebte.     Er   hat   sie   nie  von  An- 
gesicht    gesehen.      Sichtbar    trat     ihm    als 
Schwester  Frau  von  Stein   entgegen.     Das 
Verhältnis  erscheint  uns  aus  den  Briefen  ganz 


ähnlich  dem  zu  Augusten.     Schon  Augusten 
gegenüber  erschien  er  sich   als  Arztw    Jetzt, 
gegenüber  der  Frau  von  Stein   erscheint  sie 
ihm  als  Schwester   Iphigenie.     Achtung 
bewahrten  ihm  ihr  Leben  lang  Friederike  und 
Lili,  so  wie  er  ihnen  eine  freundliche,  achtungs- 
volle   Gesinnung    bewahrte.      Und    wenn    er 
gegenüber  der  schönen  Mailänderin,  gegen- 
über Minna  Herzlieb,   Silvine  von  Ziegesar, 
Marianne    Willemer,     Ulrike    von    Levezow 
vorübergehend  in    einem   poetischen  Liebes- 
rausch hingerissen  wurde  und  ihn  in  Dichtungen 
verwandelte,  so  blickt  doch  hier  überall  deut- 
lich genug  durch,  dafs  das  poetische  Träume 
waren,  die  den  Boden  der  Wirklichkeit  kaum 
berührten,    von    denen  die  Gefeierten  selbst 
zum  Teil    kaum    eine  Ahnung   hatten!     Wie 
seine  Liebe  aber  immer  im  Bunde  mit  seiner 
Gutheit,  seinem    selbstlosen  Anteil   erscheint, 
so  ist  seine  Sittlichkeit  überhaupt  deshalb 
höherer  Art,  weil  er  Überall  vom  Geiste  aus- 
geht von  der  Teilnahme  am  Objekt,  so  dais 
er  auch  im  Leben  überall  selbstlos  erscheint, 
nie    vom    gemeinen  Interesse    seines  persön- 
lichen Vorteils,  überall  von  der  Idee  geleitet. 
nWer    könnte    der    Uneigennützigkeit    dieses 
Menschen  widerstehen?"*  so  hiefs  es  von  ihm 
in    Weimar.     Wer   in    sein    innerstes   Wesen 
einen  Einblick  bekommen,  von  der  Güte  und 
dem  Seelenadel  Goethes   eine  Ahnung  haben 
will,  lese  seine  Briefe  an  Kraft  (1778—  1783) 
von  denen  wir  nie  erfahren  hätten,   hätte  ein 
Zufall  sie  uns  nicht    erhalten.     Nun    denken 
wir    aber    auch    noch  der  Darstellung  einer 
Liebe,   wie  die  der  Prinzessin  im  Tasso  ist. 
Kein  Dichter  hat  je  eine  so  warm  empfundene 
Liebe    geschildert,    die    so    durchaus  geistig, 
frei   von  jedem  irdischen  Verlangen    und  in 
dieser    Geistigkeit  befriedigt    ist.     Und    man 
muis    sagen,     die     Darstellung    wirkt    über- 
zeugend, so  dals  man  ihre  Wahrheit  erkennt: 
giebt  es  ja  gewifs  solche  Verhältnisse  unter 
edeln  Menschen  mehr  als  man  denkt  —  Den 
Sänger  einer  solchen  Liebe  durfte  man   mit 
Recht  mit  Rosenkranz  keusch  nennen,  was 
B.   nicht  begreifen  kann,    was   er   so  wenig 
begreift,  dais     er  den  prinzipiellen  Gegensatz 
der   Liebe  Goethes    und    der  Wielands    und 


186 


Besprechungen. 


Heines  nicht  einmal  wahrnimmt,  so  dais  er 
beide  in  eine  Reihe  stellt  (3,  91).  Nicht  ver- 
schweigen wollen  wir  die  schon  berOhrte  Un- 
verhuUtheit  mit  der  Goethe  auch  die  sinnliche 
Liebe  darstellt  So  wie  eine  üppig  blühende 
Blume,  als  ein  Bild  freiwirkender  Natarkraft, 
schildert  er  sie  in  den  römischen  Elegien, 
und  wenn  der  Philosoph  auch  hier  in  der 
Darstellung  Keuschheit  erkennt,  so  mufs  ihm 
das  wohl  gestattet  sein,  gegenüber  der 
Schilderung  eines  Schönen,  so  frei  von  jedem 
lüsternen  Überreiz,  nichts  weiter  als  das  herr- 
liche Leben,  Weben  und  Walten  der  Natur. 
—  Was  der  ganzen  Menschheit  zugeteilt  ist, 
bringt  der  universale  Dichter  in  seinem  langen 
Leben  zur  Anschauung,  unverschleiert  und  da 
isfs  dann  wahrhaft  erstaunlich  wie  mächtig 
überall  das  Vorwalten  des  Geistes  ist. 
Wer  in  der  Fülle  der  Beispiele  mit  lüsterner 
Voraussetzung  die  verhältnismälsig  wenigen 
Ausnahmsfälle  heraussucht,  in  denen  die 
Rechte  der  Sinnenwelt  zur  Geltung  kommen, 
wie  sie  bei  einer  kräftigen  Natur,  wie  die 
Goethes  voraus  zu  setzen  sind,  und  daraus 
eine  Inferiore  Organisation  des  Dichters  ab- 
leiten wollte,  der  erinnert  an  viele  Maler,  die 
seine  äufsere  Erscheinung  darstellen  wollten 
und  doch  nur  ein  Zerrbild  ihrer  selbst,  ihrer 
eigenen  kleinlichen  Voraussetzungen  zur  Er- 
scheinung brachten!  Dies  zu  erkennen,  ver- 
langen wir  von  Herrn  B.  nicht,  wir  be- 
sprechen es  nur,  weil  wir  auf  das  Tiefste  und 
Schmerzlichste  berührt  sind  davon,  dafs  sich 
Herr  B.  auf  Anschauungen  geistig  hoch- 
stehender Männer  berufen  kann.  — 

Das  Goethejahrbuch  brachte  IV,  37  einen 
geistvollen  wahrhaft  künstlerisch  sich  ab- 
rundenden Aufsatz  Friedrich  Vischers,  der 
bares  Gold  enthält.  Herr  B.  beruft  sich  auf 
denselben  und  wir  müssen  gestehen,  es  konnte 
ihm  nichts  gelegener  kommen  um  seiner 
Darstellung  Goethes  zu  dienen !  Gegen  diesen 
Anlafs,  den  Vischers  Aufsatz  bietet,  müssen 
wir  unsem  Widerspruch  erheben.  Zuerst  sei 
gestattet  eine  ganz  herrliche  Stelle  Vischers 
(a.  a.  O.  37)  voraus  zu  schicken:  »Wenn 
im  Faust  die  Bitte  um  die  erste  Nacht  und 
Grethchens  Zusage  einmal  vorkommen 


kann  es  reiner  geschehen  als  es  vom  Dichter 
geschehen  ist!  Und  reiner  vorbereitet  sein, 
als  in  Grethchens  Sehnsuchtslied?  Nur  Ein 
unreiner  Faden  im  Dichter  und  was  itfSre 
ans  dem  Bilde  des  heiisen  Verlangens  ge- 
worden, das  hier  in  den  letzten  Versen  durch- 
bricht? Er  durfte  dennoch  nicht  vergessen, 
dais  diese  ganze  Hingebung  auch  schuldhaft 
ist,  und  wie  straft  und  zermalmt  die  furcht- 
bare Schlufsszene  im  Kerker  jedes  verdorbene 
Denken,  das  an  jenen  heifsen  Bildern  sich 
weiden  möchte,  wie  es  sich  an  einer  lüsternen 
Wielandszene  weidet  I**  Dieser  Stelle  geht 
aber  voraus  eine  andere  (a.  a.  O.,  S.  30)  in 
der  ein  Wort  der  Mutter  in  Hermann  und 
Dorothea  philinenhaft  gefunden  und  dasselbe 
als  subjektiv  aus  des  Dichters  Natur  zu  er- 
klären versucht  wird.  Nach  unserer  An- 
schauung ist  sie  dies  durchaus  nicht,  sondern 
verrät  nur  den  Einfluls  des  Zeitalters  der 
Frivolität,  in  dem  Wieland  der  Liebling  der 
ehrbarsten  Frauen  warl  Wenn  wir  uns  einer 
gewissen  Stelle  in  einem  Briefe  der  wackem 
Frau  Rat  an  ihren  Sohn  erinnern,  so  glauben 
wir  nicht  fehl  zu  gehen  mit  der  Annahme, 
dafs  die  Stelle  nichts  weniger  als  aus  der 
Subjektivität  des  Dichters  abzuleiten  ist,  in- 
dem sie  aus  dem  Leben  genommen  ist,  die 
Frau  Rat  steht  hierin  io  ihrer  Zeit  nicht  allein. 
Die  Stelle  wirkt  auf  uns  heutzutage  noch 
weit  verletzender  als  die  in  Hermann  und 
Dorothea.  Ist  nun  aber  hiermit  Goethes 
Wesen  in  ein  schiefes  Licht  gestellt,  so  wird 
dem  noch  die  Krone  aufgesetzt  mit  der  Be- 
sprechung der  Erläuterungen  zu  dem  Aufsatz: 
die  Natur  (a.  a.  O.,  S.  35  f.)  Der  Dichter 
sagt:  die  Krone  der  Natur  ist  die  Liebe.  — 
—  Durch  ein  paar  Züge  aus  dem  Becher  der 
Liebe  hält  sie  für  ein  Leben  von  Mühe  schad- 
los."* Dazu  sagt  Vischer:  „Wir  setzen  nichts 
hinzu,  man  wird  es  —  lächelnd  —  verstehen.* 
Das  ist  ein  böser  Zusatz.  Es  liegt  in  dem- 
selben dasselbe  Missverstehen  das  uns  bei  B. 
förmlich  erschreckt,  wenn  er  den  Schluis  des 
Faust  mit  den  Worten  paraphrasiert :  «die 
ewige  Liebe,  als  das  Ewigweibliche  ge- 
fafst  ist  nur  dazu  da  eine  sündige  Welt- 
liebe endlich  im  Himmel  zur  ewigen  Ehe  zu 


B«st>rechun0«tt. 


187 


l 


rcvaiidieren.*  Das  Ewigweibliche  ist  dem- 
nach nicht  das  Ewige,  das  sich  im  weiblichen 
Wesen  offenbart,  sondern  eben  nichts  anders 
als  das  Ziel  des  Geschlechtstriebes.  Bin  sonst 
sehr  wackerer  Jesuit  hat  einmal  in  einem 
mystischen  Llede  der  Seele  an  ihren  Gespons 
Jesu  —  ich  habe  das  Lied  nicht  zur  Hand 
und  muls  aus  dem  Gedächtnis  xitiren  —  die 
Verse:  ,,Lieb  hat  aus  seinen  Aeuglein  rund 
viel  tausend  Pfeil  verschossen.'^  Ob  der- 
gleichen  Anschauungen  der  Mysdker  nicht 
auf  irdischerer  Grundlage  ruhen,  als  der 
Schluüs  des  Paust?  — 

Nicht  aber  um  solche  Anschauungen  ist 
uns  zu  thun.  Was  meint  Vischer  damit,  wenn 
er  sagt:  man  wird  es  lächelnd  verstehen?  — 
Er  meint  offenbar  wie  B.,  ^&aßs  Göthes  altes 
immerwährendes  Geständnis  (hier  zu  erkennen 
sei),  dass  er  Kunst,  Poesie,  Schönheit  nur  in 
einem  sinnlichen  Liebesransch  zu  finden  weiss 
(R  3,  31).**  Das  Lächeln  will  hier  die  Wahr- 
nehmung andeuten,  dass  in  dem  naturphUo- 
sophischen  Aufsatze  Goethes  etwas  wie  eine 
Satyrnatur  durchblicke, und  dem  muss  wieder- 
sprochen  werden!  Eine  ein  langes  Leben 
hindurch  bis  zur  Todesstunde  sich  als  geist- 
beherrscht und  gegenständlich  darstellende 
Natur,  die  eben  durch  ihren  angeborenen 
Idealismus,  durch  ihre  selbstlose  Objektivität 
gross  ist,  gestattet  ein  zweideutiges  überle- 
genes Lächeln  denn  doch  nicht  •— 

Goethes  Milde,  seine  Abneigung  gegen 
jeden  Zelotismus,  seine  schon  in  seiner  Jugend 
auftretende  Skepsis  gegen  schnelles  Urteil 
Aber  Bös  und  Gut,  sein  Streben  den  Fehlenden 
lieber  zu  retten  als  zu  strafen,  möchten  wir 
nicht  auf  Weichlichkeit  zurfickführen,  eher 
auf  Weisheit 

Alles  Vergängliche  ist  nur  ein  Gleichnis. 
Wie  er  die  Liebe  in  ihrer  Beziehung  zum 
Weltall  auffasste,  wissen  wir  aus  seinen  Ge- 
dichten Weltseele  u.  v.  a.  und  wenn  in  jenem 
Aufsatz  gesagt  ist,  dass  die  Krone  der  Natur 
die  Liebe  sei,  aus  deren  Becher  ein  paar 
Zflge  fOr  ein  Leben  voll  Mflhe  schadlos  halten, 
so  wird  der,  der  in  Goethes  Sione  liest,  sich 
bei  dem  Gleichnis  erhoben  f&hlen  und  dabei 
d^r  Kämpfe  in  der  Natur,  wie  in  der  sittlichen 
Zctchr.  f.  vsri.  Litt*  Gesch.  i. 


Welt  gedenken,  die  der  Dichter  so  oft  ge- 
schildert und  aus  denen  er  selbstlose  Liebe 
siegreich  hervorgehen  sah.  Zu  einer  Anwand- 
lung von  Cynismus  sehe  ich  hier  keinen 
Anlass.  — 

Goethe  Im  Ganzen  zu  erkennen,  seine 
von  einer  gewaltigen  geistigen  Initiative  g^ 
haltene  Natur,  darauf  kommt  Alles  an.  Wttr 
zwischen  dieser  und  der  eines  Wieland  oder 
eines  Heine  die  prinzipielle  Verschiedenheit 
nicht  sieht,  vermag  ihn  nie  zu  erkennen.  ICit 
dem  Vorwalten  des  göttlichen  Geistes  im 
Menschen  geht  Hand  in  Hand  der  Glaube 
an  diesen  Geist,  an  das  Ideal,  sowie  alle 
UnSittlichkeit,  alle  Frivolität  darin  liegt, 
dass  ihnen  dieser  Glaube  abgeht. 

Er  geht  Herrn  B.  völlig  ab,  daher  er  so 
geneigt  ist,  die  Frivolität  mit  Goethes  Wesen 
auf  eine  Linie  zu  stellen,  wo  nicht  seinem 
Wesen  vorziehen. 

Die  Farbenlehre  Goethes  ist  ihm  (s,  33) 
ein  Buch,  ähnlich  anderen,  die  unter  wissen- 
schaftlicher Flagge  Unglauben  und  religiöse 
Flachheit  in  der  Welt  herum  kolportlren! 
Dies  schreibt  Herr  B.  gelassen  hin,  ohne  zu 
ahnen,  wie  treffend  seine  Schriften  über 
Goethe  damit  bezeichnet  werden,  von  welch 
flach  rationalistischen  Schlussfolgerungen  sie 
ausgehen.  Solchen  guten  Christen  gegenüber 
durfte  Goethe  wohl  sagen  (3,  157):  „wer  ist 
denn  noch  heut  zu  Tage  ein  Christ,  wie 
Christus  ihn  haben  wollte?  Ich  allein  vid- 
leicht,  ob  ihr  mich  gleich  ftkr  einen  Heiden 
haltet"  —  Einmal  findet  B.  bei  Goethe  einen 
unbegrenzten  Optimismus,  dem  Christen,  Mo- 
haunedaner,  Helden  gleich  recht  sind  (3,  163), 
dann  wieder  trifit  er  ihn  beim  vollen  pessi^ 
mistischen  Bankerott  an  (3,  174).  Für  Ge- 
schichte hatte  Goethe  keinen  Sinn  (3,  64): 
der  alles  Gewordene  aus  dem  Werden  er- 
kennen lehrte  I  Die  italienische  Reise  ist  „  nichts 
weniger  als  klassisch".  —  Sie  ist  heute  von 
GselKFels,  Bädeker  etc.  „längst  überholt** 
(«1  73)^  ^  •  —  ßioe  beherzte  Vereinigung 
aller  katholischen  Kräfte  gegen  Göthe  wünscht 
Herr  B.  (s,  103).  Ist  sie  ja  doch  vorhanden ! 
Herr  B.  mit  seinen  Schriften,  in  denen  er  so 
viele    Mitstreiter    nennt,    ist    ein    glänzendes 

13 


188 


Besprechungen. 


Zeugnis  dai^r:  es  fehlt  denselben  leider  nur 
am  Besten,  an  Goethes  Geist,  an  dem  sie 
zerschellt.  — 

Wir  haben  einen  Goethischen  Spruch 
unserm  Bericht  vorangestellt;  mög  ihn  ein 
anderer  beschliessen :  n^2LS  Beste  ist,  dass 
er  nichts  verliert  wenn  das  Wahre  wahr  ist, 
da  so  viele  sich  nur  dem  Echten  deshalb 
wiedersetzen,  weil  sie  zu  Grunde  gehen  würden 
wenn  sie  es  anerkennten."  An  Schiller  i  i.März 
x8oi.  Diese  Dissonanz  löst  sich  zu  einem 
herrlichen  Schlussakkord  in  dem  bekannten 
Satze  Schillers  (an  Goethe  a.  Juli  1796): 
„Dass  es  dem  Vortrefflichen  gegenüber  keine 
Freiheit  giebt  als  die  Liebe**  den  Goethe  in 
den  Wahlverwandtschaften  zu  dem  Spruch  ab- 
rundet: „Gegen  grosse  Vorzüge  eines  anderen 
giebt  es  kein  Rettungsmittel  als  die  Liebe**. 
Wien.  K.  J.  Schröer. 

Biedermann,  Woldemar  Freiherr  von: 
Goethe-Forschungen.  Neue  Folge.  Mit 
zwei  Bildnissen  und  zwei  Facsimiies. 
Leipzig,  F.  W.  von  Biedermann.  1886.  X, 
480  S.  8<*.     M.  12. 

Aus  dem  reichen  Inhalte  des  Buches,  mit 
welchem  v.  Biedermann  seine  (Frankfurt  1879 
erschienenen)  „Goethe -Forschungen"  zu  er- 
gänzen und  weiterzuführen  erfolgreich  anstrebt, 
können  hier  nur  diejenigen  Abschnitte  zur 
Betrachtung  herangezogen  ,j  werden ,  welche, 
Goethes  Beziehungen  zu  fremden  Dichtungen 
verfolgend,  das  Gebiet  der  vergleichenden 
Litteraturgeschichte  berühren.  Und  bei  welchem 
Dichter  wären  diese  Berührungen  mannig- 
faltiger als  bei  Goethe,  der  in  seinem  Alter 
den  Begriff  der  Weltlitteratur  aufgestellt  und 
erläutert  hat!  Mit  der  gröfsten  Empfänglich- 
keit für  fremde  Dichterwerke  ging  bei  Goethe 
das  Bestreben  Hand  in  Hand  durch  eigene 
Produktion  sich  des  überwältigenden  Ein- 
druckes der  fremden  zu  erwehren,  indem  er 
die  Vorzüge  derselben  sich  anzueignen  suchte; 
V.  Biedermann  hat  schon  1879  ebenso  geist- 
voll als  überzeugend  dies  in  einem  bestimmten 
Falle  nachgewiesen,  indem  er  die  Fragmente 
des  „Trauerspiels  in  der  Christenheit"  als 
produktive   Nachwirkung   von   Goethes  Cal- 


deronstudien   erklärte.     Die   ..neuen   Goethe- 


»»' 


Forschungen"  bringen  als  eben  nicht  wichtige 
Ergänzung  einige  früher  Übersehene  Aus- 
sprüche Goethes  über  Calderon.  Wenn 
V.  Biedermann  klag^,  dafs  gelegentlich  des 
Calderonjubiläums  Goethes  Verhältnis  zu  dem 
spanischen  Dramatiker  mit  unfasslicher  Ober- 
flächlichkeit behandelt  worden  sei,  so  trifft 
dieser  Vorwurf  doch  nicht  £.  Dorers  „Gedenk- 
blätter zur  Calderonfeier:  Goethe  und  Cal- 
deron" (Leipzig  1881)  und  H.  Schuchardts 
ausführliche  Kritik  von  Dorers  Schrift,  nun 
in  Schuchardts  gesammelten  Au&ätzen  (Berlin 
1886)  neu  abgedruckt,  die  beide  von  Bieder- 
mann nicht  erwähnt  werden.*)  Wenn 
V.  Biedermann  für  die  ungefähr  gleichzeitig 
mit  dem  Goetz  geplante  Tragödie  Caesar 
Shakespeares  Julius  Caesar  als  Ausgangs- 
punkt bezeichnet,  ist  er  gewiis  im  Rechte; 
irreführend  aber  erscheint  Biedermanns  Be- 
hauptung aus  den  Prosareden  des  Goctheschec 
Caesar  werde  die  formelle  Nachahmung 
Shakespeares  sichtbar.  Goethe  behielt  hier 
nicht  „die  Darstellungsformen  des  Urbilds 
bei  wie  im  Trauerspiel  in  der  Christenheit,^^ 
in  welchem  er  Calderons  vlerfÜssige  Trochäen 
nachbildete;  im  Gegensatze  zu  dem  mit  Prosa 
gemischten  aber  entschieden  vorherrschendem 
Blankverse  Shakespeares  bestimmte  er  fi&r 
Caesar  wie  für  den  Goetz  ausschliefslich 
Prosa.  Shakespeare  setzt,  zum  Teil  der  Ge- 
schlossenheit der  Handlung  wegen,  unmittel- 
bar vor  dem  Tode  Caesars  ein;  Goethe  er- 
scheint damit  unzufrieden  und  will  die  „Ge- 
schichte Caesars  dramatisiert"  geben;  die  Frag- 
mente zeigen  uns  Caesar  im  Gegensatze  zu 
Sulla  und  zu  Pompejus.     Offenbar  war   der 


*)  Ich  darf  in  diesem  Zusammenhange 
wol  an  den  (Goethejahrbuch  V,  319)  von 
mir  geführten,  von  Biedermann  gleichfalls 
unbeachtet  gelassenen  Nachweis  erinnern,  daüs 
in  der  klassischen  Walpurgisnacht  (Loeper 
V.  1909  u.  folg.)  Goethe  von  Reminiscenzen 
an  Calderons  Drama  „über  allen  Zauber 
Liebe"  (übersetzt  von  A.  W.  Schlegel,  Berlin 
1803),  von  dem  er  auch  Schelling  gegenüber 
mit  Entzücken  sprach,  geleitet  wurde. 


BesprecbuDge&J 


1*89 


junge  Goethe  von  Shakespeares  Darstellung 
des  Imperators,  einer  Leistung  höchster  künst- 
lerischer Einsicht,  unbefriedigt;  der  Stürmer 
und  Dränger  wollte  Caesar  als  einen  ^^Saker- 
mentskerl*^  sehen  und  glaubte  hier  einmal 
seinen  Orestes  verbessern  zu  können.  Daraus 
erklärt  sich  dann  zur  Genfige,  dais  bei  fort- 
geschrittener Erkenntnis  Shakespeares  Goethe 
den  alten  Plan,  an  dessen  Ausfuhrung  er  noch 
nach  der  Obersiedlung  nach  Weimar  gedacht 
hatte,  fallen  liels.  Biedermanns  Vermutung, 
dais  uns  im  Egmont  Anklänge  an  den  nicht 
vollendeten  Caesar  erhalten  sind,  erscheint 
höchst  ansprechend« 

Ausfuhrlicher  behandelt  v.  Biedermann  ein 
anderes  Dramenfragment  Goethes  in  der 
Untersuchung:  „Elpenor  und  Iphigenie  von 
Delphi.'^  In  den  älteren  Goetheforschungen 
glaubte  Biedermann  „die  Annahme,  dafs 
Goethe  nach  griechischem  Vorbild  Elpenor 
entwarf,  abweisen**  und  „unbedenklich  in  den 
fernsten  Kreisen  den  Ursprung  des  ,Elpenor< 
suchen"  zu  müssen.  Er  gab  eine  interessante 
Zusammenstellung  der  Äufserungen,  welche 
Goethes  Interesse  für  chinesische  Litteratur- 
werke  bezeugen  und  glaubte  in  Goethe  zu- 
gänglichen chinesischen  Werken  die  Quelle 
des  Elpenor  gefunden  zu  haben.  Wenn  er  in 
seiner  neuen  Behandlung  dieser  Frage  gegen 
Ellinger  polemisiert,  der  im  Goethejahrbuch  II, 
270  im  Elpenor  eine  von  Shakespeare  an- 
geregte Behandlung  des  Hamletthemas  sehen 
will,  müssen  wir  ihm  beistimmen.  Ellinger 
bebt  als  das  Charakteristische  der  Hamlet- 
tragödie hervor,  eine  grofse  That  werde  auf 
zu  schwache  Schultern  gewälzt;  aber  woher 
weüs  er  denn,  dafs  der  kräftige  Ephebe 
Elpenor,  (er  gemahnt  an  Lessings  Philotas), 
solcher  That  nicht  gewachsen  sei,  welche  Ähn- 
lichkeit ist  zwischen  dem  von  allem  Anfang  tief- 
sinnigen, schwerfälligen  Hamlet  und  dem  jugend- 
kräftig frohen,  von  Thatenlust  schäumenden 
Heldenjüngling?  Gegen  Ellinger  hätte  Bieder- 
mann immer  Recht  behalten  können,  nicht  aber 
gegen  Fr.  Zarncke,  der  1882  in  der  Festschrift  zu 
Fr.  Hases  5ojährigem  Jubiläum  „über  Goethes 
Elpenor",  eine  Untersuchung  veröfifentlichte. 
Biedermann  selbst  gesteht  in  seiner  neuen  Ab- 


handlung Zamckes  Überlegenheit  zu,  sodais 
man  etwas  überrascht  ist  im  Schlusswort  zu* 
lesen:  „Der  im  Wesentlichen  einem  chinesischen 
Schauspiel  entlehnte  Stoff  des  Elpenor  erfuhr 
Wandlungen  durch  griechische  Tragödien- 
stoffe.** Ob  Goethe  die  in  Betracht  kommenden 
chinesischen  Quellen  gekannt  hat,  bleibt  zweifel- 
haft, und  selbst  wenn  er  sie  gekannt  hat,  so 
hat  er  die  Idee  doch  nicht  aus  ihnen  ent- 
nommen, sondern  aus  griechischen,  ihm  wohf 
vertrauten  Quellen  (Hygin,  Euripides).  Be- 
sonders wichtig  erscheint  dabei  die  von  Euri- 
pides, Maffei,  Voltaire  behandelte  Merope; 
Lessings  berühmte  Untersuchung  dieses  Stoffes 
und  seiner  Bearbeitungen  im  36. — 50.  Stücke 
der  Hamburg.  Dramaturgie  konnte  zu  einer 
neuen  Bearbeitung  reizen.  Der  glückliche 
Ausgang  der  Meropefabel  spricht  dafür,  dafs 
Goethe  gerade  sie  als  Vorlage  für  sein  zur 
nachträglichen  Feter  der  Geburt  des  Erb- 
prinzen bestimmtes  Drama,  das  er  so  gut  wie 
Euripides  und  Voltaire  es  gethan  hatten,  eine 
Tragödie  nennen  durfte,  wählte.  Wenn  aber 
im  Elpenor  die  Verwechslung  der  Söhne  und 
der  Racheschwur  gegen  den  vermeintlichen 
Vater  das  Thema  des  Stückes  bildet,  so  hätte 
man  doch  dn  älteres  deutsches  Drama, 
welches  sich  auf  denselben  Motiven  aufbaut 
nicht  unerwähnt  lassen  sollen,  ich  meine 
Brawes  Brutus  1758.  Im  9.  Abschnitte  seiner 
musterhaften  Monographie  über  Brawe  (Strass- 
burg  1878)  hat  August  Sauer  dieses  Motiv 
und  seine  verschiedene  Verwertung  eingehend 
behandelt. 

Beziehungen  Goethes  zur  chinesischen 
Litteratur  hat  v.  Biederipann  noch  gelegent- 
lich einer  andern  Dichtung  nachzuweisen  ver- 
sucht. Die  „chinesisch-deutschen  Jahres-  und 
Tageszeiten**  (1827)  sollen  dem  1824  in  eng- 
lischer Übersetzung  erschienenen  Buche 
«Chinese  Courtship"  ihren  Ursprung  verdanken, 
eine  Entdeckung  Biedermanns,  gegen  die  sich 
Düntzer  in  seiner  Ausgabe  der  Goetheschen 
Gedichte  (Kürschners  deutsche  Nat.-Litt.  84, 
I,  906)  aufs  entschiedenste  ausgesprochen  hat, 
ohne  dafs  die  Frage  in  einem  oder  dem 
andern  Sinne  damit  bereits  entschieden  wäre. 
—  Wenn  Loeper  schon  früher  in  seiner  Aus- 

13* 


190 


BMproTHimycB» 


gäbe  von  Goethes  Sprfichen  in  Prosa,  neuer- 
dings (Berlin  1884)  in  seiner  ganz  vortreff-  j 
liehen  Kommentirung  der  tahmen  Xenien  und 
gereimten  SprfichwÖrter  durch  den  Nachweis 
von  Goethes,  oft  recht  entlegenen  Quellen 
Beiträge  cur  vergleichenden  Litteraturge- 
schichte  geliefert  hat,  so  gibt  Biedermann 
(S.  455)  auch  hierzu  einige  Nachträge. 

Im    Vorworte    zu    seiner    Ausgabe    des 
n.  Faust  (Heilbronn  1881)  hat  K.  J.  Schrder 
die  fruchtbare  Bemerkung  gemacht,  bei  Be- 
urteilung Goethescher  Konzeptionen  sei  seine 
„immer  von  Anschauungen,  von  Bildern  aus- 
gehende   Dichtematur^^    zu    berQcksichtigen ; 
ftkr  den  Erklärer  komme  es  darauf  an,  das 
Bild  von  dem  Goethe  bei  seinen  Schöpfungen 
ausging    zu    finden.    Dachte   Schröer   dabei 
auch  zunächst  an  Goethes  Geist  vorschwebende 
ideelle  Bilder,   so  mulste  in  der  Folge  doch 
auch  der  Binflufs  von'thatsächlich  vorhandenen 
Werken   der   bildenden    Kunst    auf  Goethes 
Dichtung    gröisere    Berücksichtigung    finden. 
Die    Vergleichung   der    Künste,    die    Unter- 
suchung wie  weit  die  bildende  Kunst  auf  die 
Poesie  herüber  gewirkt  hat,  muiste  damit  (Ür 
die    litterarhistorische    Forschung    eine    be- 
sondere Bedeutung  erbalten.   So  hat  im  letzten 
(VH.)  Bande  des  Goethejahrbuchs   G.  Dehk> 
„altitalienische  Gemälde  als  Quelle  zum  Faust*' 
nachzuweisen  versucht,  nachdem  schon  V,  319 
der  Zusammenhang  zwischen  Galateens  Auftre- 
ten am  Schlüsse  der  klassischen  Walpurgisnacht 
und  Gemälden  Philostrats,  Rafaels,  der  Caracci 
hervorgehoben  worden  war.    v.  Biedermann 
macht   auf  ein   Bild  in    Gottfiied    Winklers 
Gemäldesammlung  zu  Leipzig  und  seine  1768 
erschienene    Beschreibung    aufmerksam,     an 
welche    Goethe    möglicherweise    bei    Fausts 
.  Beschreibung     des     verwünschten     dumpfen 
Mauerlochs  (I  V.  46  u.  folg.)  gedacht  haben 
könnte.    Vielleicht  noch  von .  grö&erem  Inter- 
.  esse   erscheinen    v.  Biedermanns   Nachweise, 
dafs  für  einzelne  Situationen  in  dem  viel  be- 
sprochenen Satyrosdrama  Goethe  aus  antiken 
Kunstwerken  und  niederländischen  Gemälden 
die  Anregung  geschöpft  habe.    Wenn  Bieder- 
mann sagt:    „die  antiken  Vorstellungen  des 
Satyrwesens  im  Drama  durch  gleich  Perlen 


an  eine  Schnor  anfgcreihte  Bildwerke  cur 
Erscheinung  zu  bringen,  eine  Folge  lebender 
Satyrbilder  vorzuftUiren,  bekundet  Goethes 
tiefe  künstlerische  Einsicht,*'  so  gibt  er  mit 
einem  solchen  Ausspruche  freilich  Düntzer 
(Abhandlungen  zu  Goethes  Leben  und  Werken 
II,  383)  Anlass  zu  wohl  gegrfkndeter  Polemik. 
V.  Biedermanns  Vermutung,  Goethe  könne  bei 
seinem  Satyros  an  ein  oder  das  andere  Werk 
bildender  Kunst  gedacht  haben,  ist  an- 
sprechend; Biedermanns  Verwertung  seiner 
Entdeckung  aber  muis  entschiedensten  Wkier- 
Spruch  erwecken. 

Von  den  hier  zu  erwähnenden  Forschungen 
Biedermanns  erscheint  als  die  weitaus  er- 
freulichste die  Abhandlung,  «Goethe  und 
das  Volkslied*".  Biedermann  bebt  im  Ein- 
gange Goethes  Vorliebe  für  die  Natur  und 
den  natürlichen  Zustand  der  unteren  Volk&- 
klassen  hervor,  Belegstellen  aus  dem  Werther 
und  einzelnen  Aufsätzen  zitierend.  Die 
schönsten  derartigen  Geständnisse  finden  sich 
freilich  in  Briefen  an  Schönbom  vom  i.  Juni 
1774  und  an  Frau  von  Stein  vom  4.  Dezember 
177  7*  »Wie  sehr  ich  wieder,  auf  diesem  dunkeln 
Zug  Liebe  zu  der  Klasse  von  Menschen 
gekriegt  habe!  die  man  die  niedere  nennt! 
die  aber  gewiss  für  Gott  die  höchste  ist. 
Da  sind  doch  alle  Tugenden  beisammen, 
Beschränktheit,  Genügsamkeit,  grader  Sinn, 
Treue,  Freude  über  das  leidlichste  Gute,  Harm- 
losigkeit, Dulden  —  Dulden  —  Ausharren.* 
Die  hier  gerühmten  Tugenden  sind  fast  ebenso 
viele  charakteristische  Züge  des  deutschen 
Volksliedes.  Biedermann  gibt  zunächst  über 
Goethes  Bemühungen  um  Verständnis  und 
Aneignung  fremder  Volkslieder  einen  Ober- 
blick, der  allerdings  keineswegs  erschöpfend 
ist.  So  bleibt  bei  Besprechung  von  Goethes 
Verhältnis  zu  Percy  die  Ballade  »the  friar  of 
Orders  gray**  unerwähnt,  der  doch  eine  ganz 
besondere  Bedeutung  zukommt.  Anklänge  an 
sie  treffen  wir  bei  Shakespeare,  eine  von  Percy 
stark  abweichende  Gestalt  im  8.  Kap.  von 
Oliver  Goldsmith^s  Vicar  of  Wakefield. 
Durch  Bürgers  Bearbeitung,  „der  Bruder 
Graurock  und  die  Pilgerin**  wurde  sie  In 
Deutschland  allgemein   bekannt;  Goethe  hat 


Besprechungco. 


m 


sie  in   seinem  Singspiel  Erwin  und  Elmire, 
Tiek    im    6.  Akte    seiner    Litteraturkomödie 
Zerbino,   den  Goethe  auf  die  BQhne  bringen 
wollte,    dramatisirt,    und    noch    in   Goethes 
Ballade  „der  MflUerin  Reue**  werden  wir  an 
Motive    der    altengliscfaen    Ballade    erinnert. 
Bei   Erwähnung   des    «Klagesangs   von    der 
edlen  Frauen  des  Asan  Aga**  hätte  Biedermann 
auch    hier   die   Studie   von  Frans  Miklosich 
(Wien    1883)*)    erwähnen   sollen,    eine   der 
anziehendsten    Untersuchungen,     welche    ein 
Thema  der  vergleichenden  Litteraturgeschichte 
an  einem  einzelnen  Gedichte  verfolgen.    Als 
Mitarbeiter    Herders    wird    Goethe    gerühmt 
wegen  seiner  philologischen  Einsicht  von  dem 
„Werte  treuer  Wiedergabe  des  Oberlieferten, 
cn  welchem  Standpunkte  erst  viel   über   ein 
Menschenalter  nachher  die  Wissenschaft  sich 
emporarbeitete,    um    darin   ihre   notwendige 
Grundlage  zu  suchen.**     Die  von  Goethe  im 
Elsals  gesammelten  Volkslieder  hat  £.  Martin 
im     14.  Hefte    der     ^deutschen     Litteratur- 
denkmale  (Heilbronn   1883)  nach  der  Hand- 
schrift zum  Abdruck  gebracht.     Von  Goethes 
eigenen  Lieder  bezeichnet  Biedermann  dreizehn 
(untreue  Knabe;  vor  Gericht;  Haidenrösldn; 
Epiphanias;    Schäfers    Klagelied;    Frühlings- 
orakel;   Trost    in    Tränen;     Liebhaber     in 
allen  Gestalten ;  Freibeuter;  Schneiderkourage; 
Schweizerlied;  Gegenseitig;  März)  als  solche, 
denen    ein    älteres    deutsches    Volkslied    zu 
Grunde  liegt    Man  wird  zweifeln  dürfen,  ob 
V.     Biedermann      hier     überall    schon     ab- 
schliefsende    Ergebnisse    erreicht    hat,    aber 
jedenfalls  bat  er  das  Verdienst,  eine  bisher 
eigentlich  auffallend  vernachlässigte,  wichtige 
Untersuchung   durch  seinen  Aufsatz  „Goethe 
and  das  Volkslied"  fruchtbar  angeregt  zu  haben. 
In  seiner  Abhandlung   über    „ Goethes  Vers- 
kunsf,   der  einzigen   früher  noch  nicht  ver- 
öffentlichten Arbeit  Biedermanns,  hat  der  ver- 
diente   Forscher    dagegen    mehr    bekanntes 
fibersichtlich  und  anziehend  zusammengestellt 


*)  Auch  der  Aufsatz  von  K.  Bartsch 
^Goethe  und  das  serbische  Versmais  in 
Nr.  41  der  Gegenwart  1883  wäre  hier  zu 
berücksichtigen  gewesen. 


Auch  beim  Hinblick  auf  die  Metrik  erscheint 
Goethe  wieder  als  der  vielseitige,  alluni- 
fassende;  eine  eingehende  Untersuchung  von 
Goethes  Formen  müfste  sich  von  selbst  zu 
einem  Kapitel  vergleichender  Poetik  erweitern. 
Marburg  i.  H.  Max  Koch. 

Ellinger,  Georg:  Aikeste  in  der  mo- 
dernen Litteratur.  Halle  a.S.  Verlag  der 
Buchhandlung  des  Waisenhauses.  1885.  578.8^ 

Die  vorliegende  kleine  Monographie  giSt 
einen  Oberblick  über  die  Behandlung^  d^ 
Alkeste-Stoffes  im  modernen  Drama  von 
Hans  Sachs  (1555,  Keller  XII.-Lit  Ver.  CXU 
403,  6;  der  Verfasser  giebt  1551  an)  bis  auf 
Herder  (1803).  Das  Thema  der  Untersuchung 
ist  dankbar:  denn  gerade  ein  so  wiederholt 
behandelter  Stoff  bietet  interessante  und  nach 
verschiedenen  Seiten  hin  lehrreiche  Ver- 
gleichungspunkte dar.  Und  es  wäre  aller- 
dings nzu  wünschen,  da&  man  diese  ver- 
gleichende Untersuchung  eines  Stoffes,  welche 
man  bis  jetzt  fast  nur  bei  dem  deutschen 
Drama  des  16.  Jahrhunderts  angestellt  hat, 
häufiger  durchführte."  Aber  freilich,  sollen 
die  erwarteten  „  interessanten  und  lehrreichen 
Resultate**  für  die  vergleichende  Litteratur- 
geschichte wirklich  erzielt  werden,  so  mü&te 
die  Untersuchung  vor  allem  den  Zusammen- 
hang zwischen  den  Veränderungen  der  Zelt- 
anschauungen, den  verschiedenen  Völker- 
individualitäten und  Geschmacksrichtungen 
und  den  dadurch  bedingten  Wandlungen  der 
Gesamtauffassung  des  Themas  und  der  ein- 
zelnen Motive  ins  Auge  fassen;  die  fleifsige 
auf  möglichste  Vollständigkeit  ausgehende 
Nachweisung  der  Einzelbearbeitungen  und 
kritische  Inhaltsangaben,  und  wären  sie  noch 
SO' klar  und  anschaulich,  sowie  die  Aufdeckung 
von  Quellen  und  Einfluisnahme  einer  Bear- 
beitung auf  andere  allein  thun  es  nicht,  so 
dankenswert,  namentlich  bei  schwerer  zu- 
gänglichen Stüken,  auch  erstere,  so  lehrreich 
die  letztere  für  den  Litterarhistoriker  unter 
allen  Umständen  sein  mögen. 

Dafs  nun  das  Verdienst  der  vorliegenden 
Arbeit  doch  mehr  nach  diesen  letzteren 
sekundären     Richtungen     als     nach    jenen 


192 


Besprechungen. 


wichtigeren  liegt,  verhehlt  sich  der  Verfasser 
selbst  kaum;  denn  unter  den  „Mängeln" 
welche  nach  seiner  eigenen  Oberzeugung 
einer  so  skizzenhaften  Darstellung,  wie  sie 
ihm  durch  äuisere  Verhältnisse  scheint  aufge- 
drungen worden  zu  sein,  nnotwendigerweise 
anhaften  müssen**,  kann  er  schwerlich  etwas 
anderes  verstehen.  £r  hofft  seine  ursprüng- 
liche Absicht  später  noch  auszuführen  und 
„das  Buch  im  einzelnen  zu  ergänzen  und  zu 
erweitem**.  Aber  auch  eine  Skizze  konnte 
immerhin  schon  etwas  mehr  bieten. 

Gleich  die  an  die  Spitze  der  ganzen 
Monographie  gestellte  Erörterung  der  Euri- 
pideischen  Alkestis  bedarf  nicht  nur  in  mehr 
als  einem  Punkte  der  Einschränkung  —  ins- 
besondere geht  der  Verfasser  in  Bezug  auf 
die  aus  ihrer  Stellung  als  viertes  S)ück  „an 
Stelle  des  Satyrdramas**  gefolgerten  nmannig- 
faltigen  komischen  Elemente**  zu  weit:  in 
dem  Gespräch  zwischen  Pheres  und  Admet 
habe  Ich  wenigstens  nie  „  einen  komischen 
Effekt"  finden  können,  und  selbst  in  dem 
Streit  des  Thanatos  mit  Apollon  wird  es  mir 
schwer  — ;  sie  ist  überhaupt,  mag  man  auch 
das  „modern"  im  Titel  noch  so  sehr  betonen, 
viel  zu  kurz  und  nichtssagend  als  dals  einer- 
seits die  Abhängigkeit  der  modernen  Bear- 
beitungen von  Euripides,  andererseits  die 
grundsätzliche  Verschiedenheit  in  der  Auf- 
fassung des  Problems  ins  rechte  Licht  treten 
könnte;  die  wenigen  an  verschiedenen  Orten 
verzettelten  Bemerkungen  über  den  letzten 
Punkt  wird  der  Verfisisser  selbst  nicht  als  aus- 
reichend ansehen. 

Auch  die  Anordnung  des  Materials  ist 
nicht  eben  glücklich.  Anfangs  scheint  es,  als 
sollte  das  chronologische,  dann  wieder  als 
sollte  das  ethnographische  Prinzip  mafsgebend 
sein,  schlielsHch  ist  keines  konsequent  durch- 
geführt Und  die  Entwicklungsgeschichte  des 
Stoffes,  wie,  abgesehen  von  den  Obersetzungen 
des  Euripides,  erst  vom  i6.  bis  tief  ins 
x8.  Jahrhundert  Verquickungen  mit  fremden 
meist  antiken  (Hans  Sachs,  Herder,  Quin  au  It, 
Ducis)  aber  auch  modernen  Zuthaten  (Aureli 
und  die  Puppenspiele)  angestellt  werden,  wie 
man  aber  dann  im  i8.  Jahrhundert  auf  die  reinere 


Gestalt  zurückgreift  und  an  Euripides  sich  an- 
lehnend teils  geradezu  modernisierend  (Mar- 
tello,  Thomson)  teils  auch  vereinfachend 
(Calsabigi,  Wieland,  Milon,  Herder)  oder  auch 
modifizierend  (Alfieri)  dem  Sujet  beizukommen 
versucht,  während  es  andererseits  zur  Allegorie 
misbraucht  (Saint-Foix)  oder  gar  durch  Satire 
und  Spass  dem  Gelächter  preisgegeben 
wird  (Ayrenhoff,  Perinel)  :*)  das  wird  so  wenig 
wie  die  Wandlungen  der  Motive  im  Einzelnen 
bequem  anschaulich  und,  um  die  letzteren 
selbst  zu  verfolgen,  reichen  doch  auch,  so 
weit  man  nicht  die  Originale  selbst  zur  Hand 
hat,  die  Inhaltsangaben  nicht  recht  aus. 

In  diesen  Punkten  wäre  also  bei  einer 
zweiten  Bearbeitung  vor  allem  Abhülfe  und 
Verbesserung  notwendig.  Im  einzelnen  will 
ich  nur  Folgendes  anmerken.  S.  3,  Z.  8  v.  u. 
die  Berufung  des  Hans  Sachs  auf  Ovid  ist 
nicht  so  ausschliefslich  als  es  nach  den  Worten 
des  Verfassers  scheinen  könnte:  Hans  Sachs 
sagt (387,6 f., Keller)  ein  tragedi . . .  welche 
beschreiben  uns  die  alten,  Ovidius 
und  ander.  Zu  S.  9:  Wenn  der  Verfasser 
in  den  episodischen  Liebeshändeln  Cephisens 
und  ihrer  Warnung  vor  der  Ehe  den  Geist 
erkennen  will,  der  das  ganze  Stück  des 
Quinault  beherrscht  und  durchdringt,  so  Ist 
das  mindestens  insofern  schief,  als  die  leicht- 
fertige Cephise  doch  wohl  vielmehr  als  Folie 
für  die  getreue  Alkeste  gedacht  und  aus  ihren 
Worten  also  gar  nichts  zu  folgern  ist 
Andererseits  scheint  mir  Ellingers  Urteil  über 
Quinaults  Alkeste  doch  wieder  zu  günstig. 
Alle  von  ihm  hervorgehobenen  Vorzüge  zu- 
gegeben, bleibt  sie  doch  ein  kaltes  Produkt, 
dessen  tändelnde  Zierlichkeit  gerade  bei  diesem 
Stoffe  am  wenigsten  am  Platze  ist.  Und 
diesen  triumphirenden  Aleiden,  ein  Zwitter- 
geschöpf von  seufzendem  Liebhaber  und  sich 


*)  Ich  berücksichtige  hierbei  auch  gleich 
die  wenigen  Ergänzungen,  die  schon  Minor 
(Anz.  Xn,  245  f.)  zu  dem  von  Ellinger  g-e- 
sammelten  Material  nachtrug.  Das  S.  30  f. 
besprochene  Puppenspiel  hat  dieser  selbst 
mittlerweile  herausgegeben:  Zeitschrift  für 
deutsche  Philol.,  XVIII,  257  S. 


Besprechung^en. 


198 


selbst  bezwingenden  Heros,  dem  der  galante 
Pluto  übrigens  seinen  Sieg  über  den  Tod  so 
leicht  macht,  da  er  im  Namen  der  Liebe  und 
zwar  höchst  manierlich  seine  Forderung  stellt, 
braucht  man  auch  nicht  erst  mit  der  Antike 
zu    vergleichen,  um    ihn    unschmackhaft    zu 
finden.  S.  36  fil :  Die  Kritik  der  Wieland'schen 
Briefe  ist  nicht  ganz  freizusprechen  von  einer 
gewissen    Flßchtigkeit.     Die   Zurückweisung 
des  Tadels  gegen    das  Auftreten    des    Euri- 
pideischen    Herakles,    den     auch    ich    nicht 
unterschreiben  möchte,  läfst  wenigstens  einen 
wesentlichen  Punkt  unbeachtet.  Wieland  kehrt 
sich  (Merkur  1773  I,  46  f)  nicht  so  sehr  gegen 
dessen  Zechen  an  sich,  als  dagegen,  dafs  er 
es  thut,  wiewohl  er  ^ kömmt  unwissend**  zwar 
„dais  Alkeste  schon  'gestorben  ist,  aber  wohl 
unterrichtet,  dafe  sie  für  ihren  Gemahl  sterben 
wird  —  man    sollte   denken,    dies   liefe    auf 
eines   hinaus"  —  sodafs   er,    „da   ihn    alles 
überzeugen  sollte,   dafs  Alkeste  der  Gegen- 
stand   der    tiefen   Trauer  ist,    worin  er  das 
ganze  Haus  findet,"  sich  von  Admet  bereden 
UUst,   „dais  man   um  eine  Sklavin  trauere." 
Und  der  von  EUinger  ganz  übergangene  Tadel 
gegen  die  Wieder bringungsszene  (a.  a.  O.  48  f.) 
die    auf  die   modernen   Bearbeitungen  nicht 
ohne  Nachwirkung  geblieben  ist,  gehört  doch 
auch  nicht  zu  den  so  ganz  „unbedeutenden" 
,,andem    kleinen    Ausstellungen"    Wielands, 
deren  Ellinger  nur  summarisch  gedenkt.    Dais 
auch  bezüglich  des  Admet  sich  noch  mehr  und 
tieferes  sagen  lieise,  wurde  oben  schon  an- 
g^edeutet    (vgL    Ellinger    selbst   S.  45).     Die 
von    Wieland   schon    bei  Alkeste  so  richtig 
betonte   „Einfalt    der    imverfälschten    Natur" 
(a.  a.  O.  S.  65)  scheint  mir  hier  ebenso  in  Be- 
tracht  zu    kommen    als  der  Unterschied  des 
männlichen  und  weiblichen  Charakters,   und 
Euripides  dürfte  wohl    auch  gewulst  haben, 
warum  er  sein  Drama  erst  mit  dem  eintreten- 
den Tode  der  Heldin  beginnen   läist  und  so 
das  Bedenkliche  der  Zustimmung  des  Gatten 
den    Augen    des    Zuschauers  entrückt,  dafür 
aber  um  so  mehr  dessen  Schmerz  uns  vor- 
Itthrt     bis     zu     seiner    allerdings    herbsten 
Steigerung  im  Gespräch  mit  Pheres,  über  das 
Ellinger  hier  entschieden  richtiger  urteilt  als 


im  Eingang  seiner  Monographie.  S.  40:  Dais 
Goethe  mit  seiner  Iphigenie  die  „Ungerechtig- 
keit seines  Urteils"  über  Wieland  „durch  die 
That  wieder  g^t  zu  machen"  gedacht  habe, 
halte  ich  für  keinen  glücklichen  Gedanken. 
Trotz  allen  Einflusses,  den  Wielands  Alkeste 
auf  die  Iphigenie  genommen  haben  mag,  (Ellin- 
ger fügt  S.36  dem  schon  von  seinen  Vorgangem 
Gesagten  noch  eine  Parallele  hinzu),  bleibt  der 
Abstand  zwischen  beiden  Dichtungen  noch 
immer  grols  genug.  S.  53  f.:  Zu  den  wie 
mir  scheint  gesicherten  Ergebnissen  Ellingers 
gehört  die  Abhängigkeit  Herders  vonCalsabigi. 
Damit  werden  aber  andere  Einflüsse,  auf  die 
er  g^r  nicht  eingeht,  auch  nicht  hinfällig,  nur 
die  von  mir  in  meiner  Einleitung  (Kürschners 
Nat.  Litt.  Bd.  75.  S.  340}  vermerkte  Einflulis- 
nahme  der  zweiten  Version  der  Sage  wird 
entbehrlich.  Auf  Euripides  ist  in  den  Anmerk- 
ungen meiner  Herderausgabe  im  Einzelnen 
Bezug  genommen.  Aber  auch  Wieland  scheint 
nicht  ohne  Einwirkung  geblieben  zu  sein. 
Auf  einige  Anklänge  ist  auch  schon  in  meinen 
Anmerkungen  aufmerksam  gemacht;  ich  hätte 
aber  vielleicht  noch  zwei  Stellen  der  Briefe 
heranziehen  sollen:  in  der  ersten  (a.  a.  O.  S.  51) 
bespricht  Wieland  die  Wirkung  des  Wieder- 
sehens zwischen  Admet  und  Alkeste  und  ihre 
Abhängigkeit  von  der  Überredung  der  Zu- 
schauer, dafs  diese  wirklich  gestorben  sei, 
und  im  Zusammenhang  damit  seine  Szene  V,  5, 
besonders  die  erste  der  Alkeste,  in  denen  sie 
ihren  „aufserordentlichen"  Zustand  schildert, 
in  der  zweiten  (V,  6)  die  Wiedervereinigung 
der  aus  dem  Elysium  zurückgebrachten  Seele 
mit  ihrem  vorigen  Leibe.  Man  vergleiche 
damit  die  1 1 ,  Szene  Herders,  wo  zunächst  diese 
Wiedervereinigung  auch  so,  wie  dort  ausge- 
führt ist,  vor  sich  geht,  ehe  Alkestens  „Leib 
auch  zerstört  ist",  dem  auch  diese  Worte  in 
den  Mund  gelegt  sind  (533  fif.  u.  bes.  546  ff.), 
in  denen  sie  ihrem  Staunen  und  ihren  Er- 
innerungen an  das  eben  wieder  verlassene 
Jenseits  Ausdruck  giebt.  Bei  aller  Ver- 
schiedenheit der  Ausfilhrung  wird  man  die 
Ähnlichkeit  im  Grundgedanken  kaum  ver- 
kennen können.  Dais  Alkeste  bei  Wieland 
wie  Herder  (V.  544,  546)  von  einem  „Traum*' 


194 


Besprechungen. 


redet,  will  ich  dabei  nicht  betonen.  S.  56 
bringt  EUinger  ein  die  Einwilligung  des  Admet 
in  das  Opfer  der  Alkestis  misblUigendes  Wort 
aus  dem  Altertum,  bei  Valerius  Maximus,  bei 
und  quält  sich  vergebens  mit  der  Erklärung 
des  crudelis  et  duri  facti  crimen  ab: 
sollte  darunter  nicht  eben  jene  Einwilligung 
cu  verstehen  sein? 

Prag.  Hans  Lambel. 

Armenische  Bibliothek.  Herausgegeben 
von  Abgar  Joannissiany.  Leipzig, 
Verlag  von  Wilh.  Friedrich,  1886. 

I.     Drei      Erzählungen      von     Rafael 

Patkanian.     Aus  dem  Armenischen 

übersetzt      von     Arthur     Leist 

IV,  164  S.  8». 
U.     Litterarische  Skizzen   von  Arthur 

Leist,  173  S.  8». 
Ober  den  Zweck  dieser  Publikation  spricht 
sich  der  Herausgeber  kurz  und  bündig  dahin 
aus,  dafs  es  «die  Absicht  sei,  die  Kenntnis 
der  neueren  armenischen  Litteratur  wenigstens 
einigermafsen  zu  verbreiten**.  Sehen  wir  nun 
zu,  inwieweit  ihm  dies  durch  die  ersten  zwei 
Bändchen  gelungen  ist. 

Das  erste  bietet  uns  als  Proben  der 
modernen  armenischen  Novellistik  drei  kurze 
^Erzählungen**  eines  der  hervorragendsten 
Schriftsteiler  des  heutigen  Armeniens.  Rafael 
Patkanian,  besonders  unter  dem  Pseudonym 
Achta,merkean  bekannt,  studierte  an  der 
Universität  Dorpat  und  somit  gehört  er  zum 
Kreise  derjenigen  armenischen  Schriftsteller, 
die  unter  dem  Einflufse  der  deutschen 
Litteratur  und  Wissenschaft  stehen.  Trotzdem 
ist  er  echt  national  sowohl  in  seinen  Dichtungen 
als  auch  in  den  volkstümlichen|  Erzählungen, 
die  von  ihm  verfafst  wurden.  Seine  Lyrik 
ist  vor  allem  der  Heimat,  sowie  den  Freuden 
und  Leiden  des  armenischen  Volkes  gewidmet, 
und  viele  seiner  Lieder  werden  vom  Volke 
gesungen.  Einige  Proben  derselben  werden 
uns  von  A.  Leist  im  II.  Bändchen  S.  2g  —  40 
mitgeteilt.  In  seinen  Novellen  und  Erzählungen 
schildert  er  meistens  das  innere  Leben  der 
armenischen  Bevölkerung  von  Nachitschevan  am 
Don,   indem  er  sogar  im  Dialekt  dieser  Ort- 


schaft schreibt     Zu  solchen  gehören  die  zwd 
ersten  Erzählungen  des  I.  Bändchens,  während 
die   dritte  aus  dem  Leben  der  armenischen 
Studenten  in  Petersburg  herausgegriffen  ist 
^Mein  Nachbar**,  die  Muhme  Hripsimd,  sowie 
der  Student  Wajeltschian  sind  lauter  typische 
Gestalten,  die  uns  sehr  sympathisch  berühren. 
Wenn  an  ihnen  etwas   auszusetzen  wäre,  so 
ist  meistens  nicht  der  Verfasser,  sondern  der 
Obersetzer    schuld  daran,  welcher  denselben 
manchmal    seine    eigenen    Sympathien    oder 
Antipathien  aufbürden  wollte.    So  z.  B.  scheint 
uns  merkwürdig  zu  sein,  dass  der  alte,  brave 
Mekr   schon  in    seinen  ersten  Worten  (S.  4) 
die  erste  Kulturnation  Westeuropas,   mit  der 
er  gewifs  nie  in  Berührung  war,  als  „Kerle* 
schimpft  Patkanian  weifs  nichts  davon,  denn 
er   schreibt   nur    öch  thö  la,*)   was  Leist 
ganz   willkürlich    durch:    „Ach  das   ist  dem 
Kerl  ganz  recht**  wiedergiebt     Dass  dadurch 
das  Bild  eines  Armeniers  gar  nichts  gewinnt, 
im  Gegenteil   an  Wahrheit  sehr  viel  verliert, 
versteht  sich   von  selbst.     Sonst  scheint  die 
Übersetzung    ganz    wörtlich    zu    sein,    daher 
lesen  sich  auch  diese  Erzählungen  im  deutschen 
Gewände  ziemlich  schwer.     Trotzdem  fehlen 
z.  B.  bei  der  Aufzählung  des  Obstes  S.  9  die 
Weichsein  (fischnä).  S.  xa.    (Zeile  4 — 5  von 
unten)    ist  ein    ganzer  Satz  umgeändert  und 
das  dorten  vorkommende  Sprichwort**)  aus- 
gelassen.    Im  armenischen  Worte  Raz  S.  37 
ist  wohl  ein  Druckfehler  für  Pa^  (resp.  Ba^). 
Das  zweite  Bändchen  enthält  zehn  nlitte- 
rarische  Skizzen**  aus  Neu-Armenien.    Obwohl 
dieselben  in  keinem  direkten  Zusammenhang 
und  nur  ganz  willkürlich  an  einander  gereiht 
sind,   lafsen  sie  sich  bequem  und  nicht  ohne 
Nutzen    lesen.     Zuerst  spricht   der  Verfasser 
über  die  armenischen  Volkssänger  und  spexiell 


*)  Vergl.  M.  Achtamerkeani  patmacaer 
I  Nor-Nachidscheani  otschov  (Materialy  dlja 
I   izutschenija  armjanskich   naretschij.  I.  Govor 

nachitschevanskij ,     izdal    K.     P.     Patkanov) 
]   S.   Petersburg.    1875.   S.  50  ff. 
'         **)  Am^  marth  ir^n  tün\  havin  (kh.  ir€n 

pün').    Ich  schreibe  nach  der  ostarmenischen 

Aussprache. 


Besprechung;«!!. 


195 


über  den  vor  hundert  Jahren  g^estorbenen 
Sajatnowa  aus  Tiflis.  Die  zweite  Skizze 
ist  dem  oberwifanten  Rafael  Patkanian. 
diedritte  dem  Dichter  und  Gelehrten,  Pater  Leo 
Alischan  gfewidmet  Weiter  lernen  wir  den 
angeblichen  armenischen  Musset,  Mkrtitsch 
Beschiktaschlian  aus  Konstantinopel, 
sowie  den  Freund  Bodenstedts,  Abowian 
aus  Transkaukasien,  den  angesehenen  Päda- 
gogen und  Schriftsteller,  kennen.  —  In  dem 
umiangreichsten  Artikel  Ober  die  Entstehung 
und  Wirksamkeit  der  Mechitharisten-Con- 
gregation  kommt  der  abgeschmackte  Chau- 
vinismus des  Verfassers  zu  sehr  zum  Ausdruck. 
Die  Wiener  Congregation  verdient  gewife 
mehr  Anerkennung  und  Achtung,  als  dies  von 
Seiten  des  Verfassers  S.  108—9  geschieht. 
Kennt  er  denn  nicht  die  gröfste  und  beste 
Grammatik  der  armenischen  Vulgär-Sprache 
von  Dr.  Aidynian,  dem  jetzigen  General- 
Abte  dieser  Congregation?  Derselbe  hat  vor 
Kurzem  auch  eine  vorzügliche  Grammatik 
der  klassisch-armenischen  Sprache  geschrieben 
unc^  seit  zwei  Jahren  erscheint  in  Wien  das 
umfangreiche  deutsch-armenische  Wörterbuch 
von  Dr.  Goilavian.  Was  sonst  die  Wiener 
Congregation  auch  nach  Asarians  Tode 
g^chaffen  hat,  kann  man  sich  leicht  fiber- 
zeugen aus  dem  Kataloge*)  der  von  ihr 
gedruckten  armenischen  Werke.  — 

Weiter  folgen  die  Bilder  des  Erzbischofs 
G.Aiwasowski,  welcher  aus  einer  polnisch - 
armenischen  Familie  stammend,  ein  hervor- 
ragender Philologe  war,  und  des  G.  Sun  du- 
kianz  aus  Tiflis,  der  richtig  als  Schöpfer 
des  armenischen  Lustspiels  zu  betrachten  ist. 
Aus  der  kurzen  Geschichte  des  armenischen 
Zeit ungs Wesens  erfahren  wir,  dafs  die 
Gesammtzahl  der  von  1795 — 1885  bei  ver- 
schiedener Dauer  erschienenen  armenischen 
Zeitungen  und  Zeitschriften  sich  auf  141  be- 
lauft. Eine  Skizze  des  früheren  Konstantl- 
nopeler  Patriarchen  Chrimian  Hairik, 
welcher  mit  Recht  „der  Vater  seines  Volkes** 
genannt  wird,  schliefst  die  Reihe  dieser  Bilder, 


*)  ^ü^ak     gro^     Mchitharean    tparani  i 
Thriest  eu  i  ViÄnna  1776- 1881. 


aus  welchen  jeder  gebildete  europäische  Leser 
nicht  wenig  lernen  kann.  Man  sieht  hier 
das  geistige  Leben  des  armenischen  Volkes, 
wie  es  sich  sowohl  in  Grossarmenien,  als  auch 
in  den  zahlreichen  Kolonien  —  von  Calcutta 
bis  nach  Paris  —  manifestirt  In  diesem 
Sinne  kann  die  „Armenische  Bibliothek** 
nicht  nur  für  die  allgemeine  Bildung,  sondern 
auch  für  eine  Wissenschaft,  wie  die  ver- 
gleichende Litteraturgeschichte,  von  grossem 
Nutzen  sein. 

Wien.  J.  Hanusz. 

Digenl«  Akritts.  Nach  dem  byzantinischen 
Epos  wiedererzählt  von  Dr.  A.  Luber. 
Separatabdruck  aus  dem  35.  Jahresberichte 
des  k.  k.  Staatsgymnasiums  in  Salzburg, 
1885  2g.  S.  8«. 

Digenis,  mit  dem  Beinamen  Akritas  (von 
äxpa  also  —  Grenzverteidiger,  ähnlich  dem 
deutschen  „Markgrafen**)  ist  der  Held  eines 
mittelgriechischen  Volksepos.  Die  Erzählung 
spielt  an  der  Ostgrenze  des  byzantinischen 
Reiches  und  spiegelt  die  Kämpfe  wieder, 
welche  die  Rhomäer  gegen  die  mit  jugend- 
licher Kraft  anstürmenden  Sarazenen  zu 
führen  hatten.  Ein  eigenartiges  Interesse 
erhält  unser  Gedicht  dadurch,  dafs  sich  das 
Andenken  an  jenen  mittelalterlichen  Helden 
Digenis  in  Ortsnamen  und  Liedern  bis  auf 
den  heutigen  Tag  erhalten  hat.  Das  Epos 
wurde  zuerst  bekannt  durch  eine  in  Trapezunt 
gefundene  Handschrift,  welche  Sathas  und 
Legrand  herausgaben,  Collection  de  monu- 
ments  pour  servir  ä  T^tude  de  la  langue 
n^o-hell^ique,  nouv.  s^e  vol.  VI.  (1875). 
Später  fanden  sich  noch  drei  andere  Versionen : 
Die  eine,  eine  gereimte  Bearbeitung  des 
chiotischen  Mönches  Ignaz  Petrizis,  ist  von 
Sp.  Lambros  ediert,  Collection  de  romans 
Grecs.  Paris.  1880.  S.  iii — 237.  Eine  dritte, 
die  in  einem  Codex  des  Klosters  Grotta- 
Ferrata  überliefert  ist,  wird  von  Lambros 
a.  a.  O.  S.  XCI  im  Auszuge  mitgeteilt;  endlich 
wurde  eine  vierte  Bearbeitung  des  Stoffes 
aus  einer  auf  der  Insel  Andres  entdeckten 
Handschrift  von  Ant.  Miliarakis,  Athen  1881, 
publiziert     Indem  Herr  Dr.  A.  Luber  in  der 


1«6 


▼orliefeodeo  Schrift  den  Inlialt  der  suent 
^cnaaaCen  Version  des  Epos  in  deutKber 
NflcherzähluDgi  einsehie  Partien  in  metrischer 
Übersetzung,  Termittelt,  verdient  er  sich  den 
Dank  derer,  die  das  etwas  langwierige 
Werk  nicht  selbst  lesen  und  doch  mit  demselben 
siuD  Behufe  literarhistorischer  Forschung  ^ 
es  spielt  unter  anderem  eine  Rolle  in  der 
Lenorenirage  — -  bekannt  werden  wollen. 
Die  metrisch  abersetcten  Partien  zeugen 
von  dem  Geschmacke  und  der  poetischen  Be- 
gabung des  Obersetzers,  der  schon  früher  durch 
eine  Übertragung  neugriechischer  Liebes- 
distichen («Brotas.'«  Salzburg.  H.  Kerber.  1883) 
den  Freuaden  der  VoUcspoesie  eine  will- 
kommene Gabe  gespendet  hat  Zum  SchluTs 
eine  Berichtigung:  Die  S.  9  gegebene  Er- 
klärung des  Wortes  dTxXdrT^^:  « Räuberbanden, 
welche  sich  aus  verbannten,  vertriebenen 
I^euten  gebildet  haben  —  dmlaujino*^  beruht 
auf  einem  Irrtume;  dis^'n^c  beseichnet  nicht 
den  „Vertriebenen**,  sondern  ist  aktiv  zu  fassen; 


es  bedeutet  ursprünglich  den  «Vtehwegtreiber**. 
dann  überhaupt  den  Räuber,  Freibeuter  und 
entspricht  also  genau  dem  latetnischen  abigeus, 
abigeator,  abactor  (S.  Archiv  für  lateinische 
Lexikographie  I,  438).  Dieselbe  unrichtige 
Deutung  des  Wortes  («banni*^)  findet  sich 
übrigens  auch  in  den  erwähnten  Ausgaben, 
bei  Sathas-Legrand  S.  «86,  bei  Lambros  S.  338, 
auch  bei  A.  Eberhard  „Über  Digenis  Akritas«* 
Verhandlungen  der  34.  Phflologenversammlung 
zu  Trier,  S.  a.  Auch  das  von  dmXdnff^ 
gebildete  Wort  dTtBlarixt  «Räuberkeule''  hatte 
das  Schicksal  &lsch  verstanden  zu  werden: 
Jakob  Grimm,  Sendschreiben  an  Karl  Lacb- 
mann  über  Reinhart  Fuchs,  Leipzig  1840,  er- 
klärt im  Glossar  dneJiarbu  aus  einem  wegen  des 
französischen  pel^  (geschält)  vorausgesetzten 
italienischen  pelato,  so  dais  das  Wort  an* 
Anglidi  einen  „geschälten**  Stock  bedeutet 
haben  solll 

München.  Karl  Krumbacher. 


-•••- 


Berichtigung. 

In  Hsrm  Prof.  H.  OestsrUys  Anfissts  im  erstsn  Hefts  sind  dnroh  ein  Vsraehen,  das  wir  m 
entsohuldigen  hitten,  folgende  Drackfehler  stehen  geblieben: 

S.60  Z.9v.  n.  L:  Mann  f.  kann.  8.  BO  Z.  9  v.  tl  1.:  mache  f.  machen.  8.61  Z.9  L:  Kopisoh 
f  Kobisoh.  S.  61  Z.  10  V.  u.  L:  Widterf  Widder.  8. 6fi  Z.  12  L:  Z.  f.  et.  8.eaZ.  U  L:  Demosthenes 
f.  Demostenes.  S.  62  Z.  14  ▼.  u.  n.  S.  6i  Z.  21  1.:  Lnsoinins  £  Sosoinins.  8.  62  Z.  12  v.  o.  u.  oft.  1.: 
Entrapelienf.  Eutragelien.  8. 68  Z.H.:  sermonesf.  seronee.  &68Z.  6  L:  Avadänasf.  Avodftn«k 
8.68Z.10L:Aelianf.  AUian.  a68Z.10L:  Oognatusf.  Oognatos.  S.68Z.9B1.:  Benfey  f.  Benfay 
8. 64  Z.  8  Der  8pmch  heiset:  äianam  ^tam  jlvananä^am.  8.  64  Z.  21  l:  Hanlins  £  Kaolins.  8.  S4 
Z.  9  V.  n-  1.:  Er  et  f.  Fast.  8.  69  Z.  12  1.:  Wache  f.  Woche,  a  59  Z.  47  |1 .-  10  f.  6a  8  dl  Z.26  L- 
PadeiyiBohi  f.  Padeip4MhL  8. 62  Z.  17  v.  n.  o.  6ft.  L:  Mileichan  f.  Milliohan.  8. 62  Z.  16  v  n.  1* 
Ayinar  f.  Apinar.  S.  68  Z.  19  1.:  von  f.  vor.  a  66  Z.  4  n.  6ft.  L:  V all nv an  f.  NaUnv»n.  8. 66  Z.  21 
V.  n.  n.  oft.  ].:  Madeiyan  f.  Madeipan.  aTOZ.  Uv.  n.  1.:  Udeamelyams  Udsamayams.  S.  70Z.H 
▼.  u.  1 :  Pnrrachohameiyanis  f.  Pnrreohohamayams. 


Druck  von  A.  Haack,  Berlin  NW.,  Doroüieeoetr.  55. 


Die  ästhetische  Naturbeseelung 
in  antiker  und  moderner  Poesie. 


Von 
Alfred  Biese. 


II. 

Im  Mittelalter  wirkte  das  Christentum  unleugbar  einem  lebhaften  Natur- 
gefuhl,  einer  Freude  an  der  Natur  um  ihrer  selbst  willen,  entgegen. 
Das  Christentum  verschärfte  noch  den  Gegensatz  zwischen  Gott  und  Welt, 
Schöpfer  und  Schöpfung,  den  das  Judentum  aufgestellt  hatte.  „Habt 
nicht  lieb  die  Welt  noch  was  in  der  Welt  ist;  so  jemand  die  Welt  lieb 
hat,  in  dem  ist  nicht  die  Liebe  des  Vaters"  mahnt  Johannes.  Es  gilt, 
die  Blicke  nach  oben  richten  zu  dem  himmlischen  Vater,  der  über  den 
Sternen  tront:  „lafs  was  irdisch  ist,  dahinten,  schwing  dich  über  die 
Natur,"  predigt  der  gläubige  Sänger.  Heiter  genofs  der  Grieche  sein 
Leben;  Daseinsfreude  durchdringt  ihn  bis  in  die  Zeiten  des  Verfalls;  im 
Christentum  ward  „alle  Erdengegenwart  zur  Himmelszukunft  verflüchtigt, 
und  das  Reich  des  Unendlichen  blühte  über  der  Brandstätte  der  Endlich- 
keit auf  (Jean  Paul),  ja  es  wird  die  schöne  Welt  wie  ein  verlockendes 
Zaubermittel  des  Satans,  wie  ein  verführerischer,  gleifsnerischer  Schein, 
unter  dem,  wie  der  Wurm  in  der  Frucht,  sich  die  Sünde  birgt,  geflohen. 
Die  antike  Mythologie  baute  über  die  Erscheinungswelt  eine  zweite  auf, 
die  jene  verhüllte  wie  ein  duftiges  Gewebe;  der  antike  Mensch  sah  in 
allen  Natur-Phänomenen  die  Stätten  göttlichen  Wirkens,  er  ahnte  und 
träumte  in  allem  und  jedem  von  einem  göttlichen  Wesen,  das  ihm  ver- 
wandt sei;  das  Landschaftliche  ward  so  zunächst  [vom  Göttlichen  aufge- 
sogen. Judentum  und  Christentum  trennten  aufs  Schärfste  Gott  und 
Natur  —  diese  steht  jenem  gegenüber  wie  ein  abgefallener  Engel.  Es 
gfiebt  nur  eine  Welt,  und  das  ist  die  Welt  des  Geistes,  und  es  giebt  nur 
eine  Sphäre  des  Geistes,  und  das  ist  die  der  Religion,  des  Verhältnisses 

Ztschr.  f.  T^l.  Litt.-Geach.  I.  |^ 


198  Alfred  Biese. 


zwischen  Mensch  und  Gott  Alles  Sinnliche  ist  ein  Blendwerk  des  Teufels. 
War  der  Götterglaube  der  Hellenen  pandämonistisch  und  kosmisch,  so 
war  das  Christentum  in  seiner  ursprünglichen  Tendenz  antikosmisch, 
naturfeindlich;  denn  die  Welt,  die  Natur  existiert  nur  in  Bezug  auf  den 
Schöpfer,  sie  ist  nicht  mehr  „die  erhabene  Mutter  der  Dinge,"  sondern 
nur  ein  Mittel  in  der  Hand  der  Vorsehung.  „Ästhetischen  Gestaltungs- 
trieben konnte  solche  Sinnesweise,  für  die  nichts  mehr  auf  sich  beruhte, 
alles  auf  anderes  hindeutete  oder  bezogen  war,  nicht  förderlich  sein" 
(Lotze).  Aber  wenn  so  alles  sich  nur  in  die  Tiefe  des  Geistes  senkte 
und  die  Welt  gleichsam  unterging  in  dem  Spiritualismus,  wenn  so  das 
Geistige  die  Alleinherrschaft  führte,  so  mufste  auch  die  Unendlichkeit  des 
individuellen  Ichs  weit  schärfer  hervorspringen,  als  es  in  der  Welt- 
geschichte bis  dahin  möglich  war.  Und  dieser  christliche  Individualismus 
fand  seine  volle  Vertiefung  durch  die  Verschmelzung  mit  dem  germanischen. 
Die  rauhe  nordische  Natur  mit  dem  grauen  Himmel,  dem  langsamen 
Erwachen  neuen  Lebens  im  Frühling,  der  Sehnsucht  im  Winter  nach 
Licht  und  Wärme,  wies  den  Germanen  in  sein  Inneres  zurück.  Und  diese 
tiefinnerliche  Anlage  bot  den  fruchtbarsten  Boden  dar  für  die  neuen 
Keime  der  überreifen  antiken  Kultur  und  vor  allem  des  lebenskräftigen 
Christentums.  —  Aber  dem  deutschen  Gemüt  war  von  Anfang  an  ein 
inniger  Sinn  für  die  Natur,  ein  herzliches  Naturgefuhl  angeboren;  des  ist 
ihre  Religion,  sind  ihre  Mythen,  Sagen  und  Märchen  beredte  Zeugen. 
Heilige  Schauer  der  Andacht  durchwehten  sie  im  Dunkel  des  Hains,  im 
Schatten  der  Wälder,  da  spürten  sie  im  Rauschen  der  Baumkronen, 
im  Wehen  des  Windes,  im  Geflüster  der  Blätter  die  Nähe  der  Götter. 
So  beseelten  auch  sie  Himmel  und  Erde,  Flüsse  und  Meer,  Klüfte  und 
Schluchten  mit  freundlichen  und  feindlichen  Mächten,  mit  Göttern,  Riesen, 
Zwergen  und  Alben.  Besonders  vertraulich  steht  der  Germane  der 
Mythenzeit  den  Tieren  gegenüber;  aber  auch  zu  Sonne  und  Mond  ist 
das  Verhältnis  ein  vertrautes:  „Herr  Mond  und  Frau  Sonne"  sind  gäng 
und  gäbe  in  der  Sage.  Der  Sommer  hält  Einzug  wie  ein  Held;  sein 
Gefolge  ist  der  grünende  Mai,  während  das  des  Winters  Reif  und  Schnee 
ist  u.  s.  f.  Als  nun  aber  das  Christentum  die  heidnische  Religion  ver- 
drängte, fand  der  daseinsfrische  und  genufsfrohe  Natursinn  der  Germanen 
am  Christentum,  dieser  Religion  des  Transzendenten,  zunächst  eine  Fessel, 
wenn  auch  zugleich  an  der  tiefen  Innerlichkeit  desselben  eine  Stütze,  an 
der  er  sich  mit  gesteigerter  Innigkeit  emporranken  konnte.  —  Allerdings 
aber  vollzog  sich  der  Prozefs,  in  welchem  die  Natur  selbständig  los- 
gelöst wurde  von  rein  religiösen  Motiven,  weit  langsamer  im  Mittelalter 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  moderner  Poesie,  II.  199 

als  mutatis  mutandis  in  der  heiteren  Griechenwelt.  Die  ästhetische  Be- 
seelung, diese  Vorstufe  sympathetischen  Naturgefuhls,  begegnet  in  der 
rein  christlichen  Litteratur  nur  sehr  selten.  Bewufste,  ausgesprochene 
Freude  an  der  Natur  ist  aber  durchaus  nicht  fremd  den  griechischen 
Kirchenvätern,  ja  in  manchen  Schilderungen  mischt  sich  in  dieselbe  eine 
gewisse  Weichheit  der  Empfindung,  ja  schwermütige  Sentimentalität 
Basilius  bewundert  die  Schönheit  des  Meeres  in  seiner  wechselnden 
Färbung  und  bekennt*) :  „Ein  lieblicher  Anblick  ist  das  glänzende  Meer, 
wenn  die  unbewegliche  Stille  es  fesselt,  lieblich  aber  auch  ist  es,  wenn 
es  vom  Hauch  der  Lüfte  sanft  bewegt  auf  der  Oberfläche  sich  kräuselt, 
bald  purpurnes,  bald  weifses,  bald  blaues  Licht  zurückwirft,  wenn  es 
nicht  gewaltig  das  Festland  peitscht,  sondern  mit  friedlicher  Umarmung 
liebkost.**  Tiefe  Melancholie  atmen  die  Zeilen  des  Gregor  v.  Nazianz  in 
seinem  Gedicht  von  der  Natur  des  Menschen**),  in  denen  er  die  Stimmung 
in  der  Natur  und  in  seiner  Seele  in  Kontrast  setzt  nicht  ohne  poetische 
Beseelung:  „Von  meinem  Kummer  gepeinigt  safs  ich  allein  im  schattigen 
Hain,  mein  Herz  in  Gram  verzehrend;  denn  ich  liebe  dies  Heilmittel  im 
Leiden,  selbst  mit  mir  im  Geiste  zu  reden,  schweigend:  die  Lüfte  flüsterten 
zugleich  mit  den  sangreichen  Vögeln,  von  den  Zweigen  herab  süfsen 
Schlummer  spendend  dem  so  sehr  danach  verlangenden  Gemüte;  von 
den  Bäumen  herab  durchtönten  hellsingend  die  Cikaden,  die  Freundinnen 
der  Sonne,  mit  ihrem  Gesumme  den  ganzen  Hain,  und  daneben  bespülte 
kühles  Wasser  die  Füfse,  ruhig  fliefsend  durch  die  tauige  Flur  —  ich 
aber  blieb  fest  bei  meinem  Schmerz,  da  der  Sinn,  wenn  er  von  Kummer 
gefesselt  ist,  nicht  teilnehmen  mag  an  der  Freude."  — Besonders  Gregorius 
von  Nyssa  erhebt  sich  oft  zu  hohem,  pathetischem  Schwung,  der  an  die 
Psalmen  und  Hiob  gemahnt,***)  und  keiner  giebt  dem  sentimental  schwer- 
mütigen Naturgefiihl  tieferen  Ausdruck  als  dieser  Gregorius.  Es  sind  in 
der  That  überraschende  Bekenntoisse,  f)  die  a  priori  niemand  in  jenem 
Zeitalter  vermuten  möchte,  wenn  wir  bei  ihm  lesen,  wieder  nicht  ohne 
stimmungsvolle  Beseelung:  „Wenn  ich  jeden  Felsenrücken,  jeden  Tal- 
grund, jede  Ebene  mit  neuentsprossenem  Grase  bedeckt  sehe,  dann  den 
mannigfaltigen  Schmuck  der  Bäume  und  zu  meinen  Füfsen  die  Lilien, 
doppelt  Von  der  Natur  ausgestattet  mit  Wohlgeruch  und  mit  Farbenreiz; 


*)  Homilien  IV,  p.  45  (op.  I,  Paris  1638). 
**)  Tom.  n,  p.  468,  c.   14,  Paris  1840. 

***)  Vgl.  Txpl  <l'^x^i'^  '^^  äva<TTdffeü}<;  188  B;  irtpl  xaTa<TX£u^<;  dv^pwTmo,  Xoy.  a\i,  ß  'j%6  C 
t)  Vgl.  ed.  Paris  1615  I  p.  149  C,   aio  C,   780  C,  II  p.  860  B.  619  B,  D,  324  D. 
Humboldt  Kosmos  II  29. 


200  Alfred  Biese. 


wenn  ich  in  der  Ferne  sehe  das  Meer,  zu  dem  hin  die  wandehide  Wolke 
fiihrt:  so  wird  mein  Gemüt  von  Schwermut  ergriffen,  die  nicht  ohne 
Wonne  ist;*)  verschwinden  dann  im  Herbste  die  Früchte,  fallen  die 
Blätter,  starren  die  Äste  des  Baumes  ihres  Schmuckes  beraubt,  so  ver- 
senken wir  uns  in  den  Einklang  der  Wunderkräfte  der  Natur.  Wer 
diese  mit  dem  sinnigen  Auge  der  Seele  durchschaut,  fühlt  des  Menschen 
Kleinheit  bei  der  Gröfse  des  Weltalls."  — 

Solche  Gedankentiefe  und  Gemütsschwere  begegnet  uns  bei  den 
römischen  christlichen  Schriftstellern  nicht;  aber  auch  die  lateinische 
Hymnenpoesie  ist  durchweht  von  inniger  Naturandacht,  d.  h.  in  dem 
Sinne,  dafs  sie  die  Natur  preist  als  die  Dienerin  des  Schöpfers  oder  sie 
zum  Sinnbild  sittlicher  Ideen  macht,  wie  die  leuchtende  Sonne  zum 
Symbol  Christi,  des  wahren  Lichtbringers.  Für  Beseelungen  ist  da  wenig 
Raum.  Hilarius  bekennt  (h.  2),  nicht  würdig  zu  sein,  die  sündigen 
Augen  zu  den  hellen  Sternen  des  Himmels  zu  erheben,  und  fordert  alle 
Kreaturen  auf,  Himmel  und  Erde  und  Meer  und  Flüsse  und  Hügel  und 
Felder,  Rosen  und  Lilien  und  die  blitzenden  Sterne,  mit  ihm  zu  weinen 
und  zu  klagen  über  die  Sündhaftigkeit  der  Menschen!  Ambrosius  singt 
in  der  neunten  Hymne:  „Ebbe  und  Flut  im  Wellenschlage  und  der 
sturmumbrauste  Strand,  Regen,  Schnee  und  Frost  und  Hitze,  Luft  und 
Wald  und  Nacht  und  Tag  von  Jahrhundert  zu  Jahrhundert  feiern  preisend 
alle  dich!"  —  In  einer  schwungvoll  gehobenen  Stelle  seiner  Bekenntnisse 
(v.  9)  läfst  August  in  die  ganze  Natur  mit  lauter  Stimme  Zeugnis  ablegen 
von  dem  Dasein  Gottes:  Was  ist  Gott?  Ich  habe  die  Erde  gefragt  und 
sie  hat  gesagt:  „ich  bin  es  nicht ^,  und  alles,  was  auf  derselben  ist,  hat 
dasselbe  bekannt;  ich  habe  das  Meer  gefragt  und  die  Abgründe  und 
alles,  was  da  kriecht  unter  den  lebenden  Wesen,  und  sie  haben  geant- 
wortet: „wir  sind  nicht  dein  Gott,  suche  über  uns!"  Ich  habe  die 
säuselnden  Winde  gefragt,  und  die  gesamte  Luft  mit  allem,  was  in  ihr 
lebt,  sagte:  „es  irrte  sich  Anaximenes,  ich  bin  nicht  Gott."  Ich  habe 
den  Himmel,  die  Sonne,  den  Mond,  die  Sterne  gefragt.  „Auch  wir  sind 
nicht  der  Gott,  den  du  suchest",  riefen  sie.  Und  ich  habe  sie  alle  zu- 
sammen gefragt^  die  meine  Sinne  umgeben:  „Ihr  habt  mir  gesagt  von 
meinem  Gott,  dafs  ihr  es  nicht  seid!  Sagt  mir  nun  etwas  von  jenem!" 
Und  sie  haben  mit  lauter  Stimme  gerufen:  „Er  hat  uns  gemacht!"  — 
Aug^stin   hat   in   harten  Seelenkämpfen    sich  aus  dem  Heidentum  zum 


*)  /c^ec  jroatv  nannte  diese  Wonne  Euripides  —  Petrarca  später:  dolendi  voluptas. 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  moderner  Poesie,  II.  201 


Christentum  durchgerungen;  eine  höchst  bemerkenswerte  Mischung  beider 
Elemente  zeigen  uns  die  Briefe  des  Ausonius,  des  Dichters  der  Mosella,*) 
an  den  Bischof  Paulinus.  Ausonius  weist  mit  seiner  sentimentalen  Natur- 
betrachtung, mit  seinen  Schilderungen  derselben  um  ihrer  selbst  willen, 
mit  dem  feinen  Sinn  für  das  eigentlich  Malerische  in  der  Natur  bereits 
ins  christlich  germanische  Zeitalter  weit  hinein,  obgleich  er  noch  fest  im 
heidnischen  Römertum  wurzelt.  Höchst  stimmungsvoll  sind  manche 
Partieen  seiner  poetischen  Episteln,  aus  denen  wir  ersehen,  wie  zum 
Briefstil  damaliger  Zeit  bereits  eine  längere  Betrachtung  über  Stimmung 
der  Landschaft  und  des  Wetters  als  Einleitung  gehörte.  Sympathetische 
Naturanschauung  und  Freundesliebe  verweben  sich  zu  echt  poetischem 
Gefühlsausdruck  in  der  ep.  XXIV,  wo  Ausonius  klag^,  dafs  Paulinus  ihn 
keiner  Antwort  würdige,  sondern  sich  in  Schweigen  hülle:  „Selbst  der 
feindliche  Barbar  erwiedert  den  Grufs,  und  mitten  unter  den  Waffen 
ertönt  das  Salve.  Auch  die  Felsen  antworten  dem  Menschen,  und  das 
anschlagende  Wort  kehrt  von  den  Grotten  zurück;  die  Felsengestade 
des  Meeres  rufen,  es  murmeln  die  Bäche,  es  surrt  der  Zaun,  von 
hybläischen  Bienen  umschwärmt,  auch  an  den  rohrreichen  Ufern  tönt 
melodisches  Rauschen;  zitternd  flüstert  im  Winde  das  Laub  der  Pinie, 
und  sobald  in  die  spitzen  Blätter  der  leichte  Eurus  fallt,  antworten 
dindymische  Gesänge  im  gargarischen  Hain;  die  ganze  Natur  redeTt,  nicht 
der  Vogel  der  Luft,  nicht  die  Tiere  schweigen;  es  hat  ihr  Zischen  die 
Schlange,  selbst  die  Wesen  der  Meerestiefe  schnappen  mit  feiner 
Stimme"  u.  s.  f.  Sinniger  kann  wohl  niemand  zur  Briefantwort  gemahnt 
werden  —  und  wie  zart  werden  im  Einzelnen  die  Laute  in  der  Natur 
gedeutet,  das  Echo  der  Berge,  das  Flüstern  des  Laubes,  das  Rauschen 
des  Windes,  das  Murmeln  der  Quellen,  das  melodische  Schwanken  des 
Rohres.  Und  den  Leser  muten  diese  Schilderungen  an  wie  der  Nach- 
hall der  verklungenen  antik-klassischen  Poesie.  — 

Das  Leben  von  Heiligen  und  die  Paraphrase  der  Schöpfungsgeschichte 
bilden  das  Hauptthema  der  christlichen  Dichter  des  4.  und  5.  Jahrhunderts ; 
oft  genug  werden  Sterne,  Hagel  imd  Stürme,  Erde  und  Meer  und  Flüsse 
und  Quellen  aufgeboten,  um  das  Lob  Gottes  zu  singen,  dem  Schöpfer  ent- 
gegenzujubeln; doch  führen  alle  diese  Beseelungen  uns  nicht  weiter,  da 
sie  mehr  dogmatisch  als  ästhetisch  sind.  Doch  an  des  Theokritos 
flüsternde  Kypressen,  die  einzigen  Zeugen  der  Liebeslust,  an  des  CatuUus 


*)  Vgl,  fiber  dieselbe,  die  Entw,  des  Naturgefühls  bei  den  RömerD,  S.  183  £ 


202  Alfred  Biese. 


auf  die  stille  nächtliche  Liebe  der  Sterblichen  herabschauende  Sterne 
(c.  8)  erinnert  des  Avitus*)  glühende  Schilderung  des  ersten  Ehebundes: 
„Der  Engel  Chöre  sangen  der  keuschen  Liebe  das  Hochzeitslied,  das 
Ehebett  war  das  Paradies,  die  Mitgift  war  die  Welt,  und  mit  fröhlichem 
Leuchten  strahlten  auf  sie  herab  die  Sterne."  Auch  die  sonst  ffir  die 
allgemeine  Entwicklung  des  Naturgefiihls  recht  bedeutsamen  Schriftsteller 
Apollinaris  Sidonius**)  und  Cassiodorus***)  bieten '  nichts  von  Belang. 
Wie  auf  den  Dichtungen  des  Ausonius,  so  liegt  auch  auf  ;denen 
des  Venantius  Fortunatus  der  letzte  Abendschein  einer  untergehenden 
Litteratur.  Er  ist  in  der  dumpfen,  schweren  Zeit  des  6.  Jahrhunderts  die 
lichteste  Persönlichkeit;  im  Verkehr  mit  einer  deutschen  Frau,  der  un- 
glücklichen Thüringer  Fürstentochter  Radegunde,  vertieft  sich  sein  Gemüts- 
leben in  seltener  Weise;  oft  versteht  er  die  Töne  des  CatuUus  und 
TibuUus  zu  treffen,  wenn  auch  dann  wieder  schwülstige  Rhetorik  die 
Empfindung  überwuchert.  Reizvoll  sind  besonders  die  kleineren  Episteln 
an  Radegunde  und  Agnes,  die  als  Begleitschreiben  von  Blumen  dienen, 
welche  mit  Farbe  und  Duft  beredt  zeugen  sollen  von  seiner  Freundschaft 
und  Liebe.  In  dem  gröfseren  Gedichte  „über  den  Untergang  Thüringens", 
das  Leof)  mit  Recht  das  letzte  hervorragende  Erzeugnis  der  römischen 
Elegie  nennt,  legt  er  der  Sehnsüchtigen  die  innigen  Worte  in  den  Mund: 

Du,  (o  Aroalafried,  o  Bruder)  der  Verwaisten  warst  du  an  Vaters  Statt,  des  erschlagenen. 

Mutter  sah  ich  in  dir,  Schwester  und  Bruder  in  dir; 
Nahmst  in  den  Arm  mich  schmeichelnd,  ich  hingf  am  Kusse  des  Bruders, 

Und  dein  kosendes  Wort  rührte  mein  kindisches  Herz.  .  . 
Wüfst*  ich  den  Ort  nur!  Umsonst  die  säuselnden  Lüfte  befrag*  ich, 

Frage  das  leichte  Gewölk,  fährt  es  am  Himmel  daher. 
Hielte  mich  nicht  in  Banden  des  Klosters  heilige  Mauer, 

Glaube  mir,  wo  du  auch  weilst,  plötzlich  erschien  ich  vor  dir.  .  .  . 

Wie  Ausonius  den  Paulinus  zum  Schreiben  mahnt  mit  dem  Hinweis 
auf  die  Natur,  die,  stumm,  doch  mit  tausend  Zungen  rede,  so  heifst  es 
bei  Fortunatus  (VI,  v.  303,  Monum.  Germ.  IV):  „Ich  rufe  dich,  Gelesvintha! 
Quellen,  Wellen,  Flufs  und  Feld  rufen  dich;  du  schweigst,  Gelesvintha? 
Antworte,  wie  deiner  Schwester  die  schweigende  Natur  antwortet:   die 


*)  Migrne  Patrol.  LIX,  163. 

**)  In  seinen  Villenschilderungen  erinnert  er  an  den  j.  Plinius,  c.  XXU  (Migne  LVIl) 
epist.  n.  2  und  9. 

***)  Vgl.  ganz  besonders  die  herrliche  Schilderung  des  Komer-Sees  Var.  XI,  14  Lug- 
duni   1677. 

f)  In  dem  schönen  Aufsatze  Venantius  Fortunatus,  d.  letzte  röm.  Dichter.  D.Rundsch.  1883. 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  moderner  Poesie,    II.  203 

Steine,  der  Berg,  der  Hain,   die  Welle,  der  Himmel;"   angsterfüllt  fragt 
sie  die  Lüfte,  aber,  „über  der  Schwester  Ergehen  schweigt  alles!" 

Virtuos  ist  Fortunat  in  ausgeführten  Schilderungen  der  Natur,  wie 
des  Frühlings  VI  praef.  oder  HI.,  wo  sich  die  schöne  Zeile  findet:  „die 
Blumen  auf  dem  Rasen  schlagen  lachend  die  leuchtenden  Augen  auf, 
und  jeder  Baum  rauscht  Beifall  mit  seinem  Laube."  Auch  in  den  umfang- 
reichen Mosel-  und  Rheingedichten  begegnet  manche  hübsche  Beseelung, 
wie  in  dem  Briefe  „an  den  Bischof  Villicus":  „Kosend  bespült  das 
Gestad*,  duftreich  von  sprossendem  Grase,  Hier  das  Gewog'  und  benetzt 
linde  den  Kräutern  das  Haupt  .  .  Frachtvoll  lacht  das  Gefild'  im  Grün 
aufsprossender  Saaten,''  und  in  seiner  „Moselreise  von  Metz  bis  Ander- 
nach": „Höher  im  engeren  Thal  hebt  da  die  Welle  das  Haupt  .  .  All- 
wärts  siehst  du  die  Höhn  umkleidet  mit  grünenden  Reben,  Und  sanft 
fächelnde  Luft  spielet  der  Rank'  im  Gelock,  Dicht  in  Zeilen  gepflanzt  in 
das  Schiefergestein  ist  der  Rebstock,  Und  an  die  Brauen  des  Bergs  ziehn 
sich  begrenzte  Geländ',  Anbau  lacht  aus  starrendem  Felsschmuck  Pflegern 
entgegen.  Selbst  in  der  Blässe  des  Steins  rötet  die  Traube  sich  hold"  .  .  . 
u.  s.  f.  — 

Wie  es  in  der  römischen  Litteratur  eine  sehr  charakteristische  Er- 
scheinung ist,  dafs  nicht  blofs  ihre  Heroen,  sondern  auch  die  minder- 
wertigen Nachahmer  derselben  doch  noch  immer  wieder  begeisterte  oder 
geistlose  Nachbeter  finden,  so  zehrt  noch  mehr  die  lateinische  Poesie 
des  Mittelalters  an  den  Erinnerungen  der  Vergangenheit  oder  sucht  sich 
an  ihr  aufzurichten,  und  dann  kommt  eine  Zeit,  in  der  selbst  Spädinge 
wie  Fortunatus  angestaunt,  nachgebildet^und  bei  weitem  nicht  —  erreicht 
werden.  Ein  Naso  Muadovinus*)  sucht  mit  Calpumius  und  Nemesianus, 
den  kümmerlichen  Nachtretern  Virgils,  zu  wetteifern,  Theodulf  v.  Orleans 
mit  den  Ausonius  und  Fortunatus,  am  sinnigsten  trifft  noch  Walahfried  den 
rechten  Ton  der  Idylle  in  seinem  vielgerühmten  Hortulus  —  doch  für 
unser  Thema  erblüht  auch  in  diesem  nichts  Hervorstechendes  oder 
Bedeutsames.  — 

In  unseren  deutschen  Nationalepen,  dem  Nibelungen- und  Gudrun- 
liede  tritt  die  Natur  völlig  vor  den  Menschen  zurück;  es  giebt  kaum  in  der 
Weltlitteratur  ein  Epos,  das  so  karg  in  Zeit-  und  Ortschüderung  wäre 
wie  das  Nibelungenlied.  So  hart  und  markig  die  Charakteristik  der 
Helden  und  die  Darstellung  ihres  Handelns  und  Leidens,  so  sparsam,  ja 


*)  Bequem  zugänglich  sind  diese  späten    lateinischen    Dichter  jetzt    in    den    Monum. 
German.  histor.  poet.  lat.  medii  aevi  Berlin  x88i  ed,  Dümmler. 


204  Alfred  Biese. 


arm  ist  die  Erzählung  an  bildlichem  Ausdruck  und  an  Vergleichen. 
Welche  sinnliche  Schönheit,  welche  plastische  Kraft  wohnt  in  der  Fülle 
von  Gleichnissen  bei  Homer  sowie  in  den  das  Ornament  bildenden 
Schilderungen  der  Tages-  und  Jahreszeiten!  Auch  das  homerische  Epos 
kennt  noch  nicht  —  wenigstens  nur  in  leisestem  Ansatz,  wie  wir  sahen 
—  die  sympathetische  Naturbeseelung,  sondern  objektiv  tritt  in  der 
Form  des  epischen  Gleichnisses  das  Naturbild  dem  Geschilderten  zur 
Seite,  aber  welche  Innigkeit,  welche  Beobachtungsschärfe  und  welche 
reiche,  Himmel  und  Erde  und  Meer  umfassende  Abwechslung!  Dagegen 
wäre  es  schwer,  „das  gemütliche  Naturgefuhl  der  Deutschen"  an  den 
Nibelungen  nachzuweisen.  Inder  und  Griechen  machen  sämtliche  Er- 
scheinungen der  Natur  zum  Gegenbilde  menschlicher  Handlungen  und 
Zustände  und  flechten  die  lieblichsten,  wie  ein  selbständiges  Ganzes 
dastehenden  Genrebilder  aus  dem  Naturleben,  aus  Pflanzen-  und  Tierwelt 
in  die  Erzählung  ein  —  und  der  Deutsche  in  seinen  volkstümlichen  Epenl?  — 

Die  Naturumgebung  dient  nicht  einmal  als  Rahmen,  Zeit-  und  Ort- 
bezeichnungen sind  so  dürftig  wie  möglich;  vollends  nach  ästhetischen 
Naturbeseelungen  suchen  wir  durchaus  vergebens.  Siegfried  soll  er- 
mordet werden.  Da  heifst  es:  „An  einem  kalten  Brunnen  verlor  er 
bald  das  Leben  .  .  Da  ritten  sie  von  dannen  in  einen  tiefen  Tann  .  • 
Da  liefs  man  herbergen  bei  dem  Walde  grün,  Wo  sie  da  jagen  wollten 
auf  breitem  Angergrund  .  .  Der  Brunnen  war  lauter,  kühl  und  auch 
gut  .  .  Da  fiel  in  die  Blumen  der  Kriemhilde  Mann  .  .  Die  Blumen 
allenthalben  wurden  vom  Blute  nafs"  —  keine  Spur  von  Mitgefühl  der 
Natur,  wie  der  Inder  und  der  Grieche  (Adonis,  Daphnis!)  bei  derlei 
Schilderungen  nicht  versäumen  pathetisch  zu  schildern.  Über  geringe 
Beispiele  von  Gleichnissen  (Kriemhilde  wird  mit  dem  Morgenrot  und 
dem  Vollmond  verglichen)  kommt  das  Nibelungenlied  nicht  hinaus.  — 
Als  den  ersten  Ansatz  einer  sympathetischen  Naturauffassung  haben  wir 
im  Gudrunliede  die  Schilderung  des  Zaubers,  den  der  Gesang  Horands 
ausübt,  zu  verzeichnen. 

Allerdings  zieht  dieser  nordische  Orpheus  nicht  die  ganze  Natur  in 
seinen  Bann,  sondern  eigentlich  nur  die  kleine  Vogelwelt  und 
die  Tiere:  „Er  sang  mit  so  herrlicher  Stimme:  davon  geschwieg  der 
kleinen  Vöglein  Schallen",  und  „wieder  hub  er  an  zu  singen,  dafs  ringsum 
in  den  Hängen  alle  Vögel  schwiegen  vor  seinem  süfsen  Sänge  .  .  Die 
Tier'  im  Walde  liefsen  ihre  Weiden  stehn,  Die  Würmer,  die  da  sollten 
in  dem  Grase  gehn,  Die  Fische,  die  da  sollten  in  dem  Wasser  fliefsen, 
Verliefsen  ihre  Fährte:  wohl  durften  seine  Kunst'  ihn  nicht  verdriefsen." 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  moderner  Poesie,   II.  205 

Romantisch-phantastisch,  wie  das  höfische  Ritterepos  überhaupt  ist, 
—  läfst  Lamprecht  in  seiner  Alexandersage  liebliche  Mädchen  den  auf- 
geschlossenen Knospen  der  Wunderblumen  entspringen,  rot  wie  das 
Morgenrot  und  weifs  wie  der  lichte  Tag,  Kinder  der  grünen  Schatten 
und  der  stillen  Waldeinsamkeit  —  und  luiter  den  glühenden  Strahlen 
der  Sonne  welken  sie  hin  und  sterben,  die  Blumenkinder.*)  Wohl  ist 
diese  Übertragung  seelischen  Lebens  auf  die  duftenden  und  dann  ver- 
gehenden Blumen,  diese  Umdeutung  derselben  in  liebliche  Mädchen  hoch- 
poetisch, aber  auch  sie  kann  nur  als  eine  der  ersten  Vorstufen  ästhetischer 
Naturbeseelung  gelten.  Über  der  Wunderwelt,  die  sie  in  ihrer  Phantasie 
sich  aufbauen,  vergessen  diese  höfischen  Epiker  die  Welt,  die  vor  ihren 
Augen  liegt  —  so  Hartmann,  so  Wolfram. 

In  einer  Frühlingsschilderung  Meister  Gottfrieds  aber  lesen  wir 
„Die  lichten  Blumen  lachten  aus  dem  betauten  Grase;  Des  Maien  Freund, 
der  grüne  Rase,  Hatte  aus  Blumen  sich  gemacht  So  wonnigliche  Sommer- 
tracht .  .  .  Da  hatten  sie  sich  gelagert  in  das  grüne  Gras,  Die  wilden 
Waldvögelein,  die  hiefsen  sie  willkommen  sein;  Der  kühle  Brunnen 
raunte  gar  süfse  Gegen  sie  seine  Grüfse,  Und  alles,  das  da  blühte,  das  Sah 
ihnen  lachend  ins  Angesicht;  Auch  grüfste  sie  funkelnd  im  Morgenlicht,  Der 
Tau  mit  seiner  Süfse,  Der  kühlte  ihre  Füfse  Und  sänftete  ihre  Herzen  gar." 

Gottfried  bietet  also  schon  deutlichere  Ansätze  der  Beseelung;  und 
wie  Longos  die  Nacht  und  das  Schweigen  zu  Ehezeugen  macht,  so  macht 
jener  zu  Mannen  und  Gefolge  der  einsam  in  der  Minnegrotte  der  Liebes- 
lust Huldigenden  den  Baum  und  die  Sonne  und  das  Gras  und  die  Vögel: 

nSle  hielten  Hof,  sie  hatten  Gut,  Darauf  die  Freude  all  beruht; 

Ihr  stetes  Ingesinde,  Das  war  die  grüne  Linde, 

Der  Schatten  und  die  Sonne,  die  Aue  und  der  Bronne, 

Blumen  und  Gras,  Laub  und  BlOt*,  Was  tröstet  Augen  und  GemQt 

Ihr  Dienst  das  war  der  Vogelschall:  Die  kleine  reine  Nachtigal, 

Drossel  und  Amsel  obendrein,  Und  andere  Waldvögelein  .  . 

Dies  Gesinde  diente  zu  aller  Zeit  Ihrem  Ohr  und  ihrem  Sinne, 

Ihre  Hochzeit  war  die  Minne.** 

Wir  sehen,  Meister  Gottfried  versteht  es,  Liebesleben  und  Naturleben 
in  eins  zu  weben,  das  Leblose  zu  beseelen  und  auch  die  starre  Natur  in 
den  Bann  der  Minne  zu  ziehen,  und  so  ist  die  Liebe  der  fruchtbare  Boden 
geworden,  auf  dem  die  ersten  Blütenkeime  sinnigen  Naturgefiihls  auf- 
sprossen.    Aber  der  Minnesang  selbst,  die  Liebeslyrik  des  dreizehnten 


*)  An  diesen  alten  lieblichen  Sagenzug  knüpft  Richard  Wagner  im  Parsi^  wieder  an 
in  seiner  einzig  schönen  Darstellung  der  „Blumenmädchen**  (Anm.  d.  Red.). 


206  Alfred  Biese. 


Jahrhunderts,  bringt  trotzdem  die  Keime  nicht  zur  Entfaltung.  Wohl 
spielen  Sommerfreude,  Frühlingssehnen  im  Winter,  Wiesengrün,  Baches- 
rauschen und  Windeswehen  keine  geringe  Rolle,  wohl  sprechen  die 
Sänger  direkt  ihre  Wonne  aus,  wenn  der  Mai  wieder  mit  Lerchenschall 
eingezogen,  wenn  der  Wald  wieder  grünt,  aber  von  einer  sympathetischen 
Durchdringung  des  Naturbildes  mit  der  Seelenstimmung  begegnet  kaum 
eine  Spur.  Das  Landschaftliche  ist  doch  nur  Arabeske,  und  da  immer 
wieder  dieselben  Gedanken  wiederkehren, '  wirken  sie  monoton.  Mögen 
manche  Dichter  auch  ihre  Empfindung  in  Harmonie  oder  Kontrast  mit 
der  Naturumgebung  setzen,  zu  einer  beides  verquickenden  Beseelung  der 
Natur  kommt  es  selten  oder  jedenfalls  halten  sich  diese  in  ganz  engen 
von  Gottfried  schon  gezogenen  Grenzen  —  wie  wenn  Walther  von  der 
Vogelweide  singt:  „Wenn  die  Blumen  aus  dem  Grase  dringen,  Gleich 
als  lachten  sie  hinauf  zur  Sonne;"  die  Perle  seiner  Lieder  ist  das  vom 
Zauberlichte  der  Unschuld  umstrahlte  und  doch  von  sinnlich  frischester 
Liebe  durchglühte  „Unter  den  Linden  an  der  Haide"  mit  dem  reizenden 
Schlufs:  „Wie  mich  der  Gute  herzte,  keiner  erfahre  das,  als  er  und  ich,  Und 
ein  kleines  Vögelein,  Tandaradei!    Das  wird  wohl  verschwiegen  sein!"  — 

Ziehen  wir  das  Resultat  unserer  Untersuchung  der  deutschen  Poesie 
bis  ins  13.  Jahrhundert  hinein,  so  hat  sich  ergeben,  dafe  die  ästhetische 
Naturbeseelung  nur  in  geringen  Ansätzen  zu  finden  ist,  und  da  wir  in 
ihr  die  Vorbedingung  eines  Naturgefühls,  das  sich  auf  die  Natur  um 
ihrer  selbst  willen  erstreckt,  gefunden  haben,  so  ist  zu  bekennen,  dafs 
die  mittelalterliche  deutsche  Lyrik  noch  nicht  jene  Höhe  erreicht,  auf  der 
wir  die  Naturanschauung  des  Hellenismus  fanden.  — 

Erst  die  i|tal,ienische  Renaissance  spinnt  die  Fäden  weiter,  die  der 
Hellenismus  angesponnen;  Es  giebt  kaum  Kulturepochen,  die,  trotzdem 
eine  so  grofse  Reihe  von  Jahrhunderten  sie  trennt,  so  viele  nicht  blofe 
Vergleichungs-  sondern  auch  Berührungspunkte  bieten  wie  Hellenismus 
und  Renaissance.*)  In  sozialer,  politischer,  wie  künstlerischer  und  wissen- 
schaftlicher Hinsicht.  Was  speziell  die  Empfindungsweise  betrifft,  so  ist 
deren  Grundzug  in  beiden  Epochen  die  Sentimentalität,  das  absichtliche 
Schwelgen  in  Gefühlen,  gepaart  mit  Schwermut  und  Melancholie,  und 
was  die  darstellende  Kunst  und  die  Wissenschaft  anlangt,  so  bildet 
den  Grundzug  das  Bestreben,  die  Dinge  in  ihrer  Realität  zu  erfassen. 
Das  Naturgefühl  wird  immer  individueller  —  die  Sehnsucht  und  Empfind- 


*)  Des  Näheren  habe  ich  dies  dargethan  in  dem  schon  S.  140  a.  Aufsatze  „die  Natur- 
anschauung  des  Hellenismus  und  der  Renaissance^*  Preufs.  Jahrb.,  Bd.  LVU,  Heft  6,  S.  527  ff. 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  moderner  Poesie,  IL  307 


samkeit  des  Grofsstädters  giebt  ihm  den  Charakter  des  Sentimental- 
Idyllischen,  womit  sich  als  drittes  Moment  die  Erotik  verbindet.  Die 
Natur  wird  im  Hellenismus  um  ihrer  selbst  willen  gesucht  und  geschildert, 
so  auch  in  der  Renaissance.  Innige  Sympathie  waltet  ob  zwischen  dem 
Menschen  und  der  Natur.  Er  preist  ihr  sein  Glück,  sie  scheint  es  ihm 
wiederzustrahlen,  oder  er  klagt  ihr  sein  Leid  xmd  sucht  Trost  in  ihrem 
stillen  Frieden.  Die  ästhetische  Naturbeseelung  ergiebt  sich  damit  von 
selbst.  Kommen  wir  von  den  national-griechischen  Werken  der  Künstler 
und  Dichter,  von  Homer,  Sophokles  und  Phidias  zu  den  Alexandrinern 
Theokritos  und  Kallimachos  und  zu  den  pergamenischen  Darstellungen, 
so  fühlen  wir  uns  in  eine  neue  Welt  versetzt,  in  der  alles  und  jedes  den 
Stempel  der  Umwandlung  trägt,  in  eine  neue  Welt  der  Anschauungs- 
und Empfindungsweise.  Ein  nicht  geringerer  Abstand  macht  sich  be- 
merklich, wenn  wir  uns  von  dem  Nibelungen-  und  Gudrunliede  und  den 
Minnesängern  zu  Dante  und  Petrarca  wenden.  Wie  karg  und  knapp 
und  monoton  dort  alles  (Gleichnisse,  Metaphern,  Beseelungen)  und  welche 
Fülle  und  Abwechslung  bei  diesen!  Allen  Sphären  des  Naturlebens 
entnimmt  Dante  seine  Gleichnisse  —  Blumen  und  Vögel,  Meer  und  Sturm, 
Himmel  und  Sterne  werden  als  Gegenbilder  verwandt,  und  manche  Be- 
seelung flicht  er  den  gröfseren  Schilderungen  ein.  So  in  der  hoch- 
poetischen des  irdischen  Paradieses  (Purg.  XXVIII):  .  .  „Von  einem 
Lufthauch,  einem  steten,  linden.  Ward  leiser  Zug  an  meiner  Stirn  erregt. 
Nicht  schärfer  als  von  leisen  Frühlingswinden.  Er  zwang  das  Laub,  zum 
Zittern  leicht  bewegt,  Sich  ganz  nach  jener  Seite  hinzuneigen,  Wohin  der 
Berg  den  ersten  Schatten  schlägt.  Doch  nicht  so  heftig  wühlt  er  in  den 
Zweigen,  Dafs  es  die  Vögel  hindert,  im  Gesang  Aus  grünen  Höhen  alle 
ihre  Kunst  zu  zeigen.  Nein,  wie  der  Lüfte  Hauch  ins  Dickicht  drang, 
Frohlockten  sie  ihr  Morgenlied  entgegen.  Wozu  begleitend  Laubgeflüster 
klang.  Wie  Zweig'  um  Zweige  flüsternd  sich  bewegen  Im  hohen  Fichten- 
wald an  Chiassi's  Strand,  Wenn  frei  sich  des  Siroccos  Schwingen  regen".  . 
Mehr  bietet  uns  Petrarca,  den  man  mit  vollem  Recht  einen  der  ersten 
wirklich  modernen  Menschen  nennen  kann.  Er  ist  modern  in  seiner 
ganzen  Denkweise,  in  seiner  Sentimentalität,  seiner  Melancholie.  Jedes 
leise  Gekräusel  seiner  Seele  belauscht  er,  er  hätschelt  sein  Herz  wie 
ein  krankes  Kind.  Mit  Wonne  giebt  er  sich  dem  Schmerz,  der  Wehmut 
hin  —  und  vor  allem  mit  seinem  ganz  sentimentalen  Liebesleben  ver- 
quickt sich  aufs  Innigste  das  intimste  Mitleben  mit  der  Natur.  Seine 
Gedichte  sind  durchflochten  von  Bildern  und  Vergleichen  aus  Pflanzen- 
und  Tierwelt.     Die    Empfindung,    die    er   in  seiner  Brust  trägt,  setzt  er 


?08  Alfred  Biese. 


auch  bei  den  Naturerscheioungen  voraus;   er  beneidet  die  Blumen,   auf 
denen  die  Geliebte  ruht,dieLuft,  die  ihre  Wangen  umfächelt  (Canz.CXXVIII): 

Glückselige  Blumen  ihr,  die  oftmalen  Madonna  sinnend  drückt,  o  lichte  Sprossen, 

Ihr  Höhn,  wo  sich  ihr  süises  Wort  ergossen  Und  schönen  Fufses  Spuren  noch  sich  malen,  .  . 

Du  Schattenwald,  von  Sonnenlicht  durchflössen;  Wie  neidet'  ich  so  holde  Nähe  Euch!  .  . 

Theokritos  läfst  einmal  (VIII,  41)  die  reizende  Nais  die  Natur  in  den 
Bann  ihrer  Schönheit  ziehen,  so  dafs  die  LebensfuUe  des  Mädchens  hinüber- 
quillt in  die  Natur  und  sie  neu  belebt:  „Wo  sie  weilt,  da  ist  allwärts 
Frühling  und  üppige  Weide,  und  allwärts  füllen  die  Euter  sich  mit  köst- 
licher Milch,  trefflich  gedeihet  die  Zucht  .  .  doch  scheidet  sie  wieder, 
welket  der  hütende  Hirt,  welken  die  Kühe  dahin."  Ein  ähnliches  rühmt 
Petrarca  an  seiner  Geliebten.  Schon  von  dem  kleinen  Kinde  strömt  neues 
Leben  und  Schönheit  auf  die  umgebende  Natur  über.  Ganz.  XXV,  Str.  6: 

Kriechend  und  schwanken  Schrittes  schon  liefs  Reben  sie  grünen,  Steine  umwehen 

Mit  Irischer  Klarheit,   Wasser  leuchten;  Wiesen   gab  Glanz  und  Stolz  mit  Händchen  sie 

und  FQisen; 
Mit  Blumen  rings  die  Flur  ihr  Auge  schönte;  Ruhe  gebot  sie  Wind  und  Stürmen  allen 
Mit  ungefügem  Lallen  der  Zunge  —  die  sich  kaum  der  Milch  entwöhnte  (!). 

ÄhnUch  GXXXI: 

So  oft  ihr  weifser  Fufs  durch  frische  Wiesen  die  sQfeen  Füfse  ehrbarlich  beweget, 
Scheint,  was  in  Blumen  sich  und  Gräsern  reget,  Ring^  zu  entströmen  ihren  Füfsen.  — 

Ist  die  Geliebte  fern  von  ihm,  so  redet  und  giebt  Zeugnis  von  ihr 
alles  Weben  und  Leben  in  der  Natur: 

Ich  höre  sie,  wenn  Zweig'  und  Weste  flüstern 
Und  Blätter,  wenn  der  Vögel  Klagen  steigen 

Und  Wellen  murmelnd  ziehen  durch  die  Matten. 
Der  Öde' Schauer  und  einsames  Schweigen 

Gefielen  so  mir  nie  in  Waldes  Schatten, 
Nur  meine  Sonne  darf  sich  nicht  verdüstern.     (Ganz.  CXLII). 

Und  als  die  Sonne  seines  Glückes  niedergegangen,   da  kontrastiert  . 
die     lachende    klingende    Frühlingswelt    mit    seiner    traurigen    Gemüts- 
stimmung, Son.  268: 

Der  Zephyr  kehrt,  die  schöne  Zeit  zu  bringen  Und  Gras  und  Blumen  seine  süfsen  Kleinen; 
Und  Prokne  schwatzt  und  Nachtigallen  weinen;  In  Weifs  und  Rot  will  sich  der  Lenz  verjüngen; 
Die  Wiese  lacht,  in  Lüften  tönt  ein  Klingen;  Zeus  freut  der  Tochter  sich,  der  klaren,  reinen; 
Luft,  Erd'  und  Flut  der  Liebe  voll  erscheinen  Und  Liebestriebe  jeglich  Tier  durchdringen  — 
Doch  mir  ach!  kehren  Seufzer  nur  und  Klagen  — 

Der  Vöglein  Singen  und  der  Blumen  Reigen  Und  schöner  Frauen  ehrbarhold  Betragen 
Wie  Wüste  nur  und  reifsend  Wild  sich  zeigen. 

Die  Tote  umschwebt  ihn  stets;  sein  Leid  klagt  er  der  Natur  immer 
wieder ;  in  seiner  Einsamkeit  ist  diese  seine  trostreiche  Freundin. 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  moderner  Poesie,  IT.  209 

„O  Hügel,  Täler,  Wälder,  Fluren,  Bäche,  die  Zeugen  meines  Januners  ihr  gewesen. 
Wie  oft  habt  ihr  den  Tod  mich  rufen  sehen  I"     Ganz.  I,  VIII,  XHI  u.  s.  f. 

Dann  mahnt  ihn  die  Natur  auch  wieder,  sich  seinem  Schmerze  nicht 
zu  sehr  hinzugeben.     Son.  238: 

Von  Liebe  spricht  zu  mir,  was  ich  da  sehe, 

Quell,  Luft,  Zweig,  Vogel,  Fisch  und  Gras  und  Blumen,  — 

Allbittendy  dafs  ich  liebe  noch  wie  ehe.  — 

Doch  sonnenlos  scheint  ihm  nun  die  Welt;  „du  liefsest  ohne  Sonne, 
Tod,  die  Erde  .  .  Wohl  sollten  Luft  und  Meer  und  Erde  klagen!"  Son.  293. 

Wir  sehen,  es  ist  ein  ganz  moderner  Mensch,  der  hier  spricht  und 
sein  Empfinden  der  Natur  mitteilt.  So  sympathetische  Beseelungen  be- 
gegneten uns  in  der  christlichen  Welt  vordem  noch  nicht.  Und  unsere  These 
bewahrheitet  sich:  Die  ästhetische  Naturbeseelung  ist  die  Vorstufe  zum 
reinen  Naturgefuhl,  das  von  allem  anderen  abstrahierend  sich  an  die 
Natur  wendet  um  ihrer  selbst  willen.  Petrarca  ist  der  Erste  seit  dem 
Hellenismus,  der  die  Natur  sucht  und  liebt  um  ihrer  selbst  willen.  Mit 
vollen  Zügen  geniefst  er  die  Schauer  der  Einsamkeit  iiÄ  Waldesgrunde 
oder  auf  schneebedecktem  Berge.  Er  flieht  die  Menschen  und  findet 
Trost  in  der  Natur.     Doch  dies  weiter  auszuführen  gehört  nicht  hierher. 

Auf  dem  Wege  Petrarca's  wandelten  auch  die  italienischen  Lyriker 
der  folgenden  Jahrhunderte  weiter:  so  klagt  Bojardo  der  Natur  die  Härte 
seiner  Geliebten  und  bittet  sie,  ihr  Zeugnis  zu  geben  von  seinem  herben 
Leiden,  Son.  89: 

O  schattenreiche  Wälder,  die  mein  Klagen 

So  oft,  von  Seufzern  unterbrochen,  sahn, 

O  lichte  Sonne,  die  von  ewger  Bahn 

Du  meine  Trauer  schaust  seit  manchen  Tagen; 

O  bunte  Vögel,  scheues  Wild,  die  Plagen, 
Die  mich  zerfleischen,  dürfen  Euch  nicht  nahn, 
O  flüchtger  Bach,  an  dem  ich  meinen  Wahn 
Zum  öden  Felsental  schon  oft  getragen; 

Ihr  steten  Zeugen  meiner  düstren  Sorgen, 
Gebt  jener  Stolzen  dann  wahrhafte  Kunde 
Von  meiner  Qual,  Euch  ist  sie  nicht  verborgen. 

Doch  fruchtet  Zeugnis  wohl  aus  eurem  Munde? 
Wenn  täglich  sie  mein  herbes  Leiden  schaut 
Und  schauend  nicht  den  eignen  Augen  traut 

Während  uns  die  grofsen  Epen  Ariosto*s  und  Tasso*s  nicht  wesent- 
lich weiter  fuhren,  können  wir  die  in  folgenden  Jahrhunderten  mit  grofsem 
Fleifs  gepflegte  Idyllendichtung  nicht  übergehen,  die  sich  an  die  bukolischen 


210  Alfred  Biese. 


Poesien  Theokrits  oder  auch  an  Lx^ngos  anschliefsen.  Typisch  ist  in 
dieser  Hinsicht  Tasso's  Aminta;  ja  wir  werden  an  die  sentimentalsten 
Ergüsse  bei  Kallimachos  und  Nonnos  erinnert,  wenn  der  ganzen  Natur 
Liebesregungen  vindiziert  werden  in  den  Worten  Daphne's  Akt.  I,  Sz.  i : 
„Hältst  du  (Silvia)  den  Frühling,  der  jetzt  die  Welt  und  die  Tiere,  den 
Mann  und  das  Weib  zur  Liebe  ermuntert,  für  eine  feindselige  zürnende 
Jahreszeit?  Siehst  du  nicht,  wie  alles  von  wonne voller  Liebe  beseelt  ist? 
Betrachte  den  Tauber,  mit  welch  lieblichem  Girren  er  seine  Gattin 
schmeichelnd  küfst?  Höre  die  Nachtigall,  die  von  Zweig  zu  Zweig 
hüpfend  singt:  Ich  liebe,  ich  liebe.  Sogar  die  Bäume  lieben.  Du  kannst 
sehen,  mit  welcher  Zuneigung,  mit  welchen  wiederholten  Umarmungen 
die  Rebe  an  ihren  Gatten  sich  schmiegt;  die  Tanne  liebt  die  Tanne,  die 
Fichte  die  Fichte,  die  Esche  brennt  und  seufzt  für  die  Esche,  die  Weide 
für  die  Weide  und  eine  Buche  für  die  andere.  Die  Eiche,  die  so  rauh 
und  wild  scheint,  auch  sie  empfindet  die  Macht  der  Liebesglut,  und 
hättest  du  Gefühl  und  Sinn  für  Liebe,  so  würdest  du  ihre  stillen  Seufzer 
hören.  Um  nicht  Liebhaberin  zu  sein,  willst  du  denn  weniger  sein  als 
die  Pflanzen?" 

Wir  sehen,  würdig  reiht  sich  diese  Pflanzenbeseelung  der  indischen 
und  griechischen  an,  wir  glauben  wieder  die  Sakuntala  oder  den  Akontios 
oder  den  Daphnis  reden  zu  hören.  —  Guarini,  der  glücklichste  Nachbildner 
des  Aminta,  führt  den  von  Tasso  angeregten  Gedanken  in  seinem  pastor 
fido  noch  weiter  (I,  i):  «O  Kind,  blick  um  dich,  sieh,  die  Schönheit 
dieser  Welt  Ist  Amors  Werk!  Es  liebt  das  weite  Meer;  Dort  jener 
Stern,  den  von  Aurorens  Strahlen  Du  glänzen  siehst,  auch  er  fühlt  Liebes- 
qualen, Er  kommt  vielleicht  von  der  Geliebten  her.  Sieh,  wie  er  blinkt 
und  seine  Strahlen  funkeln!  Es  fühlt  der  Liebe  Lust  der  wilde  Leu  In 
seinen  Wäldern;  der  Delphin,  der  Hai  In  ihren  Meeren  sind  der  Liebe 
Sklaven,  Und  jener  Vogel,  der  so  lieblich  singt.  So  unruhvoll  von  Baum 
zu  Baum  sich  schwingt.  Er  würde  sagen,  könnt*  er  unsre  Sprache:  Ich 
lieb',  ich  liebe!  Er  klagt  es  nur  in  seinen  eignen  Tönen,  Wie  es  sein 
Herz  im  süfsen  heifsen  Sehnen  Ihn  lehrt." 

Akt  ni,  Sz.  3  klagt  der  Unglückliche:  „Weifst  du's  noch  nicht,  o 
Grausame,  (wie  ich  dich  liebe),  o,  so  frage  dort  jene  Wälder,  frag  das 
Wild,  den  Busch,  Die  Felsen,  alle  werden  Dir  es  sagen  Auf  jenen  hoch- 
getürmten Bergen    dort,    Die  ich  so  oft  mit  meinen  Klagen  rührte."  — 

Doch  kehren  wir  zur  deutschen  Poesie  zurück! 

Inniger  als  im  Epos  und  im  Minneliede  spricht  sich  die  Naturfreude 
im  Volksliede  aus.    Dieses  wurzelt  noch  in  jenem  altgermanischen  herz- 


Die  ästhetische  Naturbeseelung:  in  antiker  und  moderner  Poesie,  11.  211 


liehen  Verhältnis  zur  Natur,  so  dafs  die  Naturanschauung  und  somit  auch 
die  Naturbeseelung  vielfach  noch  auf  der  Grenze  zwischen  der  mythischen 
resp.  allegorischen  und  der  poetischen  steht  Wie  bei  einem  lateinischen 
Dichter  des  8.  oder  9.  Jahrhunderts  der  Frühling  mit  Blumenkränzen  und 
der  alte  Winter  mit  struppigen  Haaren  einen  grofsen  Streit  auffuhren 
und  den  lenzkündenden  Kuckuck  preisen  resp.  schelten,  so  giebt  es  aus 
dem  14.  Jahrhundert  ein  Lied,  wahrscheinlich  vom  Niederrhein.*)  Der 
Sommer  klagt  Mannen  und  Freunden,  dafs  ein  Herr  mit  grofser  Kraft 
ihn  vertreiben  wolle;  dies  ist  der  Winter,  der  nun  das  Wort  ergreift  und 
dem  Sommer  droht,  dafs  der  nahende  Frost  (her  van  Scoenvorst)  ihn 
fangen,  schätzen  und  schlagen  werde;  Eis  und  Hagelstein  stimmen  dem 
Winter  bei,  Sturm  (her  Storm),  Regen,  Schnee  und  scharfe  Winde  nennt 
er  sein  Gesinde  u.  s.  f. 

Der  allegorische  Wettstreit  der  Jahreszeiten  belebt  sich  noch  weiter 
durch  die  Symbolisierung  der  Pflanzen.  In  einem  englischen  Liede**) 
vertritt  die  dunkle  Epheuranke  das  winterliche  Wesen,  der  glänzend 
grüne  Hülst  (holy)  das  sommerliche.  Hülst  steht  in  der  Halle,,  lieblich 
anzusehen,  Epheu  steht  vor  der  Thür  und  friert;  Hülst  und  seine  lustigen 
Leute  tanzen  und  singen,  Epheu  und  ihre  Mägde  weinen  und  ringen  die 
Hände  u.  s.  f.  Im  deutschen  Volkslied***)  sind  es  der  wintergrüne 
Buchs  und  der  frühlingsmäfsige  Fahlweidenbaum,  der  Felbinger,  die  ihre 
Vorzüge  einander  vorhalten.  — 

Der  lieben  kleinen  Vogelwelt  wird  in  sinnigster  Weise  menschliches 
Empfinden,  Mitgefühl  und  Teilnahme  vindiziert.  So  klagt  das  Käuzlein: 
„Ich  armes  Käuzlein  kleine.  Heut  soll  ich  fliegen  aufs.  Bei  der  Nacht  so 
gar  aUeine  Ganz  traurig  durch  den  Walde.  Der  Ast  ist  mir  entwichen, 
Darauf  ich  ruhen  soll,  Die  Leublein  sein  all  erblichen,  Mein  Herz  ist 
alles  traurens  voll"  u.  dgl.  m. 

Der  Kuckuck  wird  als  Bringer  guter  Botschaft,  als  Ansinger  des 
Frühlings  gefeiert  oder  man  treibt  seinen  Spafs  mit  ihm,  „dem  Gutz- 
gauch" :    „Ein  Guckguck  wollte  ausfliegen  zu  seiner  Herzenlieben"  u.  s.  w. 

Voll  Humor  sind  die  „Fabellieder"  f)  von  Tierhochzeiten.  Ich  hebe 
nur  ein  recht  charakteristisches  lettisches  heraus,   welches  dem  Fuchse 


*)  Vgl.  Uhland,  Schriften  zur  Geschichte  der  Dichtung  und  Sage    3.  Bd.  Stuttg.  1866, 
p.  21  ff.     Alte  hoch-  und  niederdeutsche  Volkslieder   in  5  BQchern,  Stuttgart  und  Tübingen 

1844-45»  S-  23. 

♦♦)  Uhland  Sehr.  3,  S.  26. 

***)  Alte  hoch-  und  niederdeutsche  Volkslieder  S.  30, 

t)  Uhland  Sehr.  3,  S.  52  flf. 


212  Alfred  Biese. 


die  Hochzeit  bestellt  „Lustig  auf,  ihr  kleinen  Vögel!  ich  will  eine  Braut 
mir  nehmen;  der  Staar  soll  uns  die  Pferde  satteln,  denn  er  hat  einen 
grauen  Mantel;  der  Biber  mit  der  MardermGtze  mufs  unser  Fuhrmann 
sein;  der  Hase  mit  den  leichten  Füisen,  der  mufs  den  Vorreiter  machen; 
die  Nachtigall  mit  heller  Stimme  mufs  die  Lieder  singen;  die  Elster,  die 
beständig  hüpft,  mufs  uns  die  Tänze  ordnen"  u.  s.  w.  Vor  allen  Be- 
schwingten ist  die  tönereiche  Nachtigall  beliebt  und  hochgehalten;  sie 
wird  bald  innig  und  zutraulich  die  liebe,  viel  Hebe  Nachtigall  geheifsen, 
bald  erhält  sie  den  Ehrennamen  Frau  Nachtigall  und  wird  mit  Ihr  ange- 
redet. Das  kleine  liebe  Waldvöglein  ist  der  Liebe  Bote  ebenso  wie 
Wolken  und  Winde;  Volksl.  S.  47:  „Du  bist  ein  kleines  Waldvöglein, 
du  fleugst  den  grünen  Wald  aufs  und  ein,  Frau  Nachtigall,  du  kleines 
Waldvöglein,  du  sollst  mein  Bote  sein"  u.  s.  f.  Sie  warnt  das  Mädchen 
vor  falscher  Liebe,  oder  sie  ist  die  einzige  verschwiegene  Zeugin  des 
Liebesgekoses.  Die  Blumen*)  werden  auch  bei  den  Begegnungen  im 
Grünen  in  Mitschuld  gezogen,  dafs  sie  das  verstohlene  Glück  beifallig 
beg^üfsen.  Sie  sind  nicht  blofs  Symbol  der  Liebe  und  der  Schönheit  — 
am  schönsten,  wie  Nithard  sie  schildert,  wenn  ihnen  der  Tau  in  die 
Augen  fallt  — ,  sondern  wo  zwei  Liebende  sich  umarmen,  da  spriefsen 
Knospen  aus  dem  Grase,**)  da  lachen  die  Rosen,  lachen  Blumen  und 
Gras,  krachen  die  Bäume,  singen  die  Vögel.  So  lesen  wir  in  der 
Heidelb.  Handschr.  341:***) 

Die  boum  begonden  krachen, 

die  r6seo  s^re  lachen, 
Die  vog^lin  von  den  Sachen 

hegenden  doene  machen. 
Dö  diu  vrouwe  nider  seic 

und  der  ritter  nach  neic. 
Von  der  rechten  minne  gruoz 

wart  dem  ritter  sorgen  buoz. 
Vil  rösen  uz  dem  grase  gienc, 

dd  liep  mit  te  armen  liep  enphienc. 
Dö  daz  spil  ergangen  was 

dö  lachten  bluomen  unde  gras. 

Am  rührendsten  ist  aber  die  Vorstellung,  die  wir  in  den  Volksliedern 
aller  Nationen  finden,  nach    welcher    aus    dem   Grabe  zweier  Liebenden 


*)  Uhland  a.  a.  O.  S.  420. 

*♦)  Wie  beim  Upö^  j'dfio^  des  Zeus  und  der  Hera. 

•**)  Uhland  a.  a.  O.  S.  511. 


Die  ästhetische  Naturbeseelang  in  antiker  und  moderner  Poesie,  II.  213 

Blumen  aufwachsen,  Rose  und  Lilie,  oder  Pflanzen,  die  sich  umschlingen, 
so  dafs  in  ihnen  die  Liebe,  den  Tod  überdauernd,  fordebt.  — 

Doch  die  Subjektivität,  wie  sie  im  Altertum  die  griechische  Sophistik 
anbahnte,  der  Hellenismus,  soweit  es  in  der  antiken  Welt  möglich  war, 
zur  Reife  brachte,  sehen  wir  am  Ende  des  Mittelalters  in  der  italienischen 
Renaissance  immer  mehr  dem  Charakter  des  spezifisch  Modernen  sich 
nähern.  Die  deutsche  Litteratur  zeigt  davon  noch  geringe  Spuren;  in 
England  ersteht  der  gfröfste  Dichter,  den  die  Zeit  vor  Goethe  kennt, 
Shakespeare.  Alles  Grofse  basiert  aber  in  der  Welt  des  Geistes  und  der 
Kunst  auf  dem  Individuellen,  dem  Subjektiven.  Stehen  Genius  und  Zeit 
auch  im  Wechselverhältnis,  vermag  der  erstere  auch  die  letztere  nie  zu  ver- 
leugnen, er  vermag  auch  jener  den  Stempel  aufzudrücken  oder  ihr 
wenigstens  die  Bahnen  zu  weisen,  welche  Gleichzeitige  zu  wandeln  noch 
nicht  im  Stande  sind  und  erst  Spätergeborene  weiter  zu  verfolgen  vermögen. 

Shakespeare  ist  ein  solcher  Genius.  An  Gedankenfülle,  an  Bilder- 
reichtum übertrifft  ihn  kaum  jemand  der  Späteren.  Ein  unerschöpflicher 
Quell  sprudeln  ihm  immer  neue  Ideenkombinationen  zu,  Belebtes  und  Leb- 
loses rinnt  zusammen  und  verwebt  und  verschmilzt  sich  in  dieser  wahr- 
haft genialen  Phantasie.  Bald  rollt  er  vor  uns  Bilder  auf,  die  in  ihrer 
Erhabenheit  an  die  grofsartigsten  Mythen  der  Vorzeit  erinnern,  bald  ver- 
rät das  kleinste  Gleichnis  die  Gedankentiefe  und  Innerlichkeit  des 
Modernen.  Wie  sich  nun  in  der  Entwicklung  einer  Empfindungsweise 
die  gesamte  Geistesentwicklung  eines  Volkes  widerspiegeln  kann,  gleich 
dem  Tautropfen,  der  das  Bild  der  Sonne  zurückstrahlt,  so  zeigt  uns 
auch  die  ästhetische  Naturbeseelung  bei  Shakespeare,  welche  Kraft 
poetischen  Gestaltens  in  ihm  wohnt  und  welch  bedeutenden  Schritt  wir 
auch  in  dieser  Hinsicht  mit  ihm  thun  auf  der  Bahn  zum  Modernen  hin.  — 

Kiel. 


-••*■ 


Zttchr.  f.  Tgl.  Litt.-G«0ch.  I,  ^5 


Ein  Problem  der  vergleichenden  Sagenkunde  und 

Litteraturgeschichte. 

(Die  Lenorentage.) 


Von 
Karl  Krumbacher. 


Burjger  erhielt  die  Anregung  zu  seiner  berühmten  Ballade  aus  einem 
Volksliede;  von  einer  Magd  oder  einer  Bäuerin  hörte  er  den  Refrain 
singen:  „Der  Mond,  der  scheint  so  helle,  die  Todten  reiten  schnelle** 
und  das  Zwiegespräch:  ^Graut  Liebchen  auch?  —  Wie  soUte  mir  grauen? 
Ich  bin  ja  bei  Dir."*)  Dafs  er  aber  hier  einen  Stoff  wählte,  der  über 
ganz  Europa  in  Liedern  und  Sagen  verbreitet  ist,  ahnte  er  sicherlich 
nicht.  Erst  in  einer  spätem  Zeit  lernte  man,  die  naiven  Aufserungen, 
welche  ferne  von  der  litterarischen  Überlieferung  als  dauerhaftestes  Be- 
sitztum der  Völker  fortleben,  im  Lichte  einer  vergleichenden  Betrachtungs- 
weise zu  erforschen.  Divinatorische  Geister  wie  Herder  wirkten  vor- 
bereitend; einen  festeren  Boden  gewann  die  vergleichende  Mythologie 
erst,  als  die  Linguistik  ihr  Licht  auf  die  verwandtschaftlichen  Beziehungen 
der  Nationen  ausbreitete.  Wie  beide  Wissenschaften  in  ihrer  äufseren 
Lebensgeschichte  enge  verbunden  sind,  so  zeigen  sie  auch  in  ihrem 
inneren  Entwickelungsgange  eine  gewisse  Ähnlichkeit.  Sowohl  in  der 
Sprachwissenschaft  als  in  der  Sagenkunde  fiel  anfangs  das  Hauptinteresse 
auf  die  ältesten  Epochen,  obschon  die  Gefahr  subjektiver  Hypothese  und 
phantastischer  Verwirrung  immer  gröfser  wird,  je  mehr  sich  die  Forschung 
von  den  historischen  Zeiten  entfernt.     Aber   gerade    das   Unbestimmte, 


*)  W.  Wackemag:el  und  H.  Hofibiann  in  den  ^  Altdeutschen  Blättern**,  herausgegreben 
von  M.  Haupt  und  H.  Hoffmann,  I  174—204  (wiederholt  in  Wackernagels  kleineren  Schriften, 
II|  399 — 4^7)  und  „Briefe  von  und  an  Bürger"*,  herausgegeben  von  A.  Strodtmann,  I  loi.^ 


Ein  Problem  der  verg^leichenden  Sag^enkunde  und  Litteraturgeschichte.  215 


Geheimnisvolle,  wenn  auch  Nebelhafte,  übte  lange  den  mächtigsten  Reiz; 
nur  unter  schweren  Kämpfen  gelang  es,  den  Thatsachen  der  Gegenwart 
und  der  mit  genügender  Klarheit  wahrnehmbaren  Vergangenheit  ihr  Recht 
zu  verschaffen.  In  der  Linguistik  war  es  bekanntlich  die  sogenannte 
junggframmatische  Schule,  welche  die  Bedeutung  der  lautlichen  und 
morphologischen  Untersuchung  der  uns  am  genauesten  bekannten  Sprachen, 
d.  h.  der  Sprachen  unserer  Zeitgenossen,  prinzipiell  betonte  und  hierdurch 
die  Forschung  vielfach  in  neue  Bahnen  lenkte.  Ähnlich  wie  die  Glottik 
gewinnt  die  Schwesterdisziplin  der  vergleichenden  Mythologfie  an  Hellig- 
keit, je  mehr  sie  ihre  Bestrebungen  Zeitläuften  zuwendet,  welche  durch 
reichere  und  getreuere  Überlieferung  den  thatsächlichen  Bestand  der 
Mythen  besser  erkennen  lassen.  Zu  den  Themen,  welche  sie  neuerdings 
mit  Erfolg  in  den  Bereich  ihrer  Untersuchung  gezogen  hat,  gehört  der 
Lenorenmythus.  Indem  ich  einen  kurzen  Überblick  über  den  gegen- 
wärtigen Stand  der  Frage  gebe,  möchte  ich  zu  einer  erneuten  Unter- 
suchung des  Gegenstandes  anregen. 

Zum  ersten  Male  lenkte  W.  Wackernagel  den  Blick  auf  die  weite 
Verbreitung  der  Lenorensage.  Mit  reicher  Gelehrsamkeit  zog  er  (a.  a.  O). 
eine  Menge  fremder  Versionen  herbei  und  schuf  hierdurch  die  Grundlage 
für  alle  folgenden  Untersuchungen.  Auf  Wackernagel  stützte  sich  im 
Wesentlichen  Heinrich  Pröhle  „Gottfried  August  Bürger",  Leipzig, 
Gust.  Mayer,  1856,  S.  77 — 115.  Doch  konnte  er  mit  Hülfe  der  inzwischen 
veröffentlichten  Sammlungen  von  Volksliedern  die  vergleichende  Be- 
trachtung weiter  ausdehnen;  so  werden  von  ihm  zum  ersten  Male  die 
schottischen  Balladen  planmäfsig  mit  Bürgers  Lenore  verglichen.  Er 
wurde  hierzu  namentlich  durch  die  häufig  erhobene  Anklage  veranlafst, 
Bürger  habe  sein  Werk  aus  der  Ballade  von  Wilhelm  und  Margret  ent- 
lehnt.  Im  Übrigen  beschränken  sich  die  Untersuchungen  Fröhles,  dem 
Zwecke  seines  Buches  gemäfs,  auf  die  Erforschung  des  deutschen  Sagen- 
komplexes, der  „als  ein  schöner  belaubter  und  mit  Liederfrüchten  be- 
hangener  Baum  seine  Aste  bis  dicht  über  des  Dichters  Haupt  ausstreckte, 
so  dafs  er  zu  Altengleichen  leicht  nach  seinen  goldenen  Früchten  greifen 
mochte"  (S.  103).  Nach  Pröhle  gab  Vilmar  „Handbüchlein  für  Freunde 
des  deutschen  Volksliedes",  Marburg  1867,  S.  144 — 161,  (3.  Aufl.  1886, 
S.  152 — 167)*)  eine  summarische  Erörterung  des  Themas,  soweit  es  die 
germanischen  Sagen  und  Lieder  betrifft. 


*)  Vergl.    auch    Otto    Boeckels    kulturhistorisch- ethnographische    Einleitung    cu    den 
„deutschen  Volksliedern  aus  Oberhessen*".     Bfarburg  1885.     S.  LXXü^-LXXXU. 


216  Karl  Krumbacher. 


Die  genannten  Arbeiten  tragen  einen  wesentlich  litterarbistorischen 
Charakter;  sie  gehen  von  Bürgers  Lenore  aus  und  betrachten  die  ver- 
wandten Lieder  mit  steter  Rücksicht  auf  die  genannte  Ballade.  Es  ist 
das  Verdienst  des  bekannten  Slavisten  W.  Wollner  zuerst  den  Lenore n- 
stoff  als  solchen  einer  vergleichenden  Betrachtung  unterzogen  zuhaben. 
Seine  Abhandlung  „der  Lenorenstoff  in  der  slavischen  Volkspoesie**, 
Archiv  für  slavische  Philologie  VI  (1882)  239 — 269,  betrifit  zwar 
zunächst  nur  die  Verbreitung  auf  slavischem  Gebiete,  scheidet  sich  aber 
von  den  früheren  Arbeiten  dadurch,  dafs  sie  das  genealogische  Ver- 
hältnis der  verschiedenen  Versionen  mit  allen  Hülfsmitteln  einer  geläuterten 
Kritik  festzustellen  sucht.  Die  slavischen  Bearbeitungen  des  Stoffes  unter- 
scheiden sich  von  den  germanischen  durch  ein  wichtiges  Moment  Auch 
bei  den  Slaven  wird  der  Liebhaber  durch  die  Tränen  des  Mädchens 
aus  seiner  Grabesruhe  aufgestört  und  sucht  dann  die  Geliebte  mit  sich 
ins  Grab  zu  ziehen.  Dann  aber  —  dieses  Motiv  findet  sich  in  der  Mehr- 
zahl der  slavischen  Versionen  —  flieht  das  Mädchen  in  ein  Haus,  das 
sich  als  Totenkammer  herausstellt,  und  riegelt  sich  ein.  In  der  Kammer 
liegt  ein  Leichnam,  von  dem  der  Verfolger  die  Herausgabe  der  Braut 
zu  erlangen  sucht.  In  den  meisten  Fällen  zeigt  sich  der  Tote  willfährig; 
ehe  ihm  aber  die  Auslieferung  der  Geflüchteten  gelingt,  kräht  der  Hahn 
und  das  Mädchen  ist  gerettet.  Wollner  betrachtet  die  Lieder  der  Klein- 
russen, Polen,  Litauer,  Cechen  und  anderer,  in  denen  sich  dieses  Motiv 
findet,  als  Varianten  einer  Erzählung.  Die  Grundlage  derselben  sei,  dafs 
der  Tote  (überall  der  Bräutigam)  der  Überlebenden  feindlich  gegenüber- 
steht und  sie  aus  Rache  für  die  Störung  seiner  Grabesruhe  zu  verderben 
sucht;  der  Untergang  des  Mädchens  als  Strafe  des  Himmels  in  der  Lenore 
und  in  der  Mickiewicz*schen  Ballade  entstamme  der  Reflexion  des  Dichters. 

Dieser  nordslavischen  Gruppe  steht  eine  zweite  abweichende 
Erzählung  gegenüber,  die  sich  bei  vier  Völkern  der  Balkanhalbinsel 
fiundet,  nämlich  bei  den  Serben,  Bulgaren,  Griechen  und  Albanesen. 
In  dieser  Version  ist  es  der  tote  Bruder,  der  seine  in  der  Feme  ver- 
heiratete Schwester  der  vereinsamten  Mutter  zurückfuhrt.  Die  Stelle  von 
Braut  und  Bräutigam  vertreten  also  Bruder  und  Schwester,  deren  besonders 
zärtliches  Verhältnis  in  der  slavischen  Volkspoesie  so  vielfach  besungen 
wird.  Hier  treibt  kein  Rachebedürfnis  den  Toten,  die  Überlebende  mit 
sich  zu  nehmen.  Entweder  ist  es  Gott  selbst,  der  ihn  belebt,  um  die  in 
fernem  Lande  nach  den  Ihrigen  Verlangende  zu  trösten,  oder  es  ist  die 
alleinstehende  Mutter,  die  den  toten  Sohn  an  sein  Versprechen  mahnt, 
ihr  die  Tochter  zu  holen,  mit  der  sie  vereint  sterben  will. 


Ein  Problem  der  vergleichenden  Sagenl^nde  und  Litteraturgeschichte.  217 

Der  Aufsatz  von  Wollner  veranlafste  in  kurzer  Zeit  drei  nicht  minder 
scharfsinnige  Untersuchungen,  welche  unsere  Frage  bedeutend  forderten 
und  für  alle  künftige  Forschung  grundlegend  sind.  Unmittelbar  an 
Wollner  knüpfte  J.  Psicharis  an,  indem  er  in  einer  durch  kritische* 
Methode  und  geschmackvolle  Darstellung  ausgezeichneten  Abhandlung 
„La  ballade  de  Lenore  en  Grece"*)  die  Form  des  Mythus  besonders 
bei  den  Albanesen  und  Griechen  erörterte.  Während  Wollner  (S.  269) 
die  Frage  offen  gelassen  hatte,  ob  das  griechische  Lied  seinen  Ursprung 
dem  slavischen  verdanke  oder  ob  derselbe  Stoff  sich  gleichmäfsig  bei 
den  Slaven  und  Griechen  selbständig  entwickelt  habe,  kam  Psicharis 
zu  folgendem  Ergebnis:  der  Ursprung  des  Mythus  ist  zu  suchen  bei  den 
Kleinrussen;  von  hier  wanderte  er  zu  den  Serben  und  Bulgaren,  wo  er 
sich  verhältnismäfsig  rein  erhielt;  sehr  bedeutend  umgestaltet  ist  er  bei 
den  Deutschen ;  völlig  degeneriert  erscheint  der  Kern  der  Sage  bei  den 
Albanesen  und  Griechen. 

Gegen  Wollner  und  Psicharis  wandte  sich  der  auf  dem  Gebiete  der 
vergleichenden  Mythologie  wohl  bewanderte  und  durch  eine  Reihe  von 
Schriften  über  neugriechische  Volkskunde  bekannte  N.  Politis  (gegen- 
wärtig Sektionschef  im  griechischen  Kultusministerium)  in  seiner  Ab- 
handlung: To  Srjfwxtxbv  iöfia  Trspe  rot)  vexpou  ädeXfoOy  JeXrlov  r^c  Itrcoptxrj^ 
xcu  ^i&voXoxtx^^  kratpta^  t^c  ^EXXddo^.  vol.  11.  1885.  Die  Vertreter  der 
Hypothese  vom  slavischen  Ursprünge  der  oben  erwähnten  südlichen 
Gruppe  hatten  ein  g^ofses  Gewicht  darauf  gelegt,  dafs  in  diesen  Versionen 
die  Bruderliebe,  eine  angeblich  slavische  Eigentümlichkeit,  stark  hervor- 
tritt; Wollner  fafste  die  Bruderliebe  sogar  als  Grundidee  des  Gedichtes 
auf  und  stellte  dasselbe  in  die  Reihe  der  slavischen  Lieder,  welche  die 
Geschwisterliebe  preisen.  Politis  weist  zwar  nach,  dafs  das  Gefühl  der 
Geschwisterliebe  auch  in  der  griechischen  Volkspoesie  eine  Rolle  spielt 
und  dafs  man  nicht  berechtigt  ist,  auf  diesen  Grund  hin  den  Stoff  als 
einen  slavischen  zu  bezeichnen;  seine  weiteren  Ausfuhrungen  aber,  in 
denen  die  patriotische  Tendenz  durchblickt,  vermögen  nicht  genug  zu 
überzeugen.  An  Stelle  der  bekämpften  Genealogie  setzt  er  seine  eigene. 
Während  Wollner  die  Bruderliebe,  Psicharis  die  Belästigung  eines  Toten 
durch  die  Tränen  der  Lebenden  für  die  Grundidee  erklärt  hatte,  ist  nach 
Politis  der  ursprüngliche  Gedanke  die  Rückkehr  eines  toten  Liebhabers 
zur  Geliebten;  schon  in  der  Protesilaossage  erscheine  diese  Idee,  die 
später  von  den  Griechen  selbst  mifsverständlich  umgestaltet  und  von  ihnen 


*)  Revue  de  Thistoire  des  religions  9  (1884)  17 — 64. 


218  Karl  Krambacher. 


ZU  den  Slaven  übergegangen  sei.  Hier  ist  Politis  offenbar  auf  einen 
sehr  schlüpfrigen  Boden  geraten;  die  direkte  Beziehung  jenes  alt- 
griechischen Mythus  zu  dem  unserigen  ist  nicht  erweislich.  Das  letzte 
Wort  kann  in  der  ganzen  Frage  schon  deshalb  nicht  gesprochen  sein, 
weil  Politis  wie  auch  Wollner  und  Psicharis,  den  Rahmen  der  Unter- 
suchung zu  enge  zieht  und  die  Frage  fast  ausschlielslich  als  eine  slavisch- 
griechische  behandelt. 

Wie  wenig  die  Kontroverse  zum  Abschlufs  gelangt  ist,  geht  daraus 
hervor,  dafs  Politis  von  zwei  Gelehrten,  die  seine  Abhandlung  besprachen, 
ziemlich  entschiedenen  Widerspruch  erfuhr.  Der  erste  Gegner  ist  Jules 
Girard;  er  erörtert,  Journal  des  savants,  1886  (Mars),  143 — 152,  die  drei 
verschiedenen  von  Wollner,  Psicharis  und  Politis  aufgestellten  Stamm- 
bäume, giebt  bezüglich  der  albanesischen  Version  neue  Gesichtspunkte 
und  bemerkt  schliefslich  mit  Recht,  dafs  die  Beweisführung  von  Politis 
weit  weniger  bezüglich  der  „inneren"  Gründe  (der  Gefühle  und  Gedanken 
der  Lieder)  als  bezüglich  der  äufseren  befriedige.  Nach  Girard  erklärte 
sich  noch  der  Züricher  Romanist  W.  Meyer  gegen  Politis,  deutsche 
Litteraturzeitung,  1886  S.  11 97 — 1199.  Er  erkennt  zwar  im  serbischen 
Liede  Spuren  von  Unursprünglichkeit,  hält  aber  trotzdem  mit  Wollner 
und  Psicharis  die  Entlehnung  aus  dem  Slavischen  für  wahrscheinlicher. 
„Dafs  Braut  und  Bräutigam  durch  Bruder  und  Schwester  ersetzt  werden, 
hat  gerade  in  Serbien  nichts  Auffallendes  und  erklärt  sich  viel  leichter, 
als  der  Verlust  des  für  Griechenland  charakteristischen  Mutterfluches, 
wie  ihn  Politis  anzunehmen  genötigt  ist."  Von  den  für  die  Endehnung 
des  griechischen  Liedes  aus  Serbien  angeführten  Beweisgfründen  habe 
Politis  keinen  einzigen  entkräftet.  Von  gröfster  Wichtigkeit  erscheint 
mir  die  noch  nicht  gestellte  prinzipielle  Frage,  ob  die  südslavische  Version 
überhaupt  eine  so  enge  Verwandtschaft  mit  der  nordslavischen  und 
germanischen  besitzt,  wie  gemeinhin  angenommen  wurde,  ob  nicht  etwa 
beide  Sagen  völlig  zu  trennen  und  als  selbständige  Produkte 
zu  betrachten  sind. 

Im  engsten  Zusammenhang  mit  der  genealogischen  Untersuchung  der 
„südslavischen"  Versionen  steht  die  Frage,  ob  das  Lied  vom  toten 
Bruder  mit  dem  Akritenkyklus  verknüpft  werden  dürfe.  Wollner  und 
Psicharis  weisen  die  Verbindung  als  eine  erzwungene  und  auf  Aufser- 
lichkeiten  beruhende  zurück,  während  Politis  nach  dem  Vorgange  von 
Sathas-Legrand,  coUection  de  monuments,  nouv.  serie  VI,  p.  50 — 52 
der  Einleitung,  den  Zusammenhang  als  zweifellos  erklärt  und  elf  ver- 
scbiedene  Punkte   der  Übereinstimmung  aufzuzählen   weifs.     Aber  auch 


Ein  Problem  der  vergleichenden  Sagenkande  und  Litteraturgeschichte.  219 

dieses   Ergebnis    wird   von    Girard    und    Meyer    wiederum    in    Zweifel 
gezogen. 

Wenn  wir  die  bisherigen  Leistungen  im  Zusammenhange  überblicken, 
so  bemerken  wir  eine  bedeutende  Verschiedenheit  der  Meinungen,  die 
auf  wenigen  Punkten  zu  einem  Verständnis  gelangt  ist.  Die  Frage  ist 
durch  Wollner,  Psicharis,  Politis  und  Girard  gefördert  und  durch  Herbei- 
ziehung eines  entlegenen  Materials  vertieft;  dafs  sie  aber  zu  irgend  einem 
Abschlüsse  gelangt  sei,  wird  selbst  von  den  genannten  Forschern  keiner 
behaupten  wollen.  HofFendich  findet  sich  bald  Jemand,  der  das  inter- 
essante Thema  von  neuem  auffafst  und  weiterführt.  Hierbei  ist  vor 
allem  eine  Erweiterung  des  geographischen  Bezirkes  notwendig;  bisher 
bückte  die  Forschung  fast  ausschliefslich  auf  die  östliche  und  südöstliche 
Gruppe,  auf  die  nord-  und  südslavischen,  g^echischen  und  albanesischen 
Versionen.  Wer  für  das  Thema  neue  Gesichtspunkte  finden  will,  wird 
sich  eine  weitere  Umschau  in  dem  gesamten  Landergebiete  Europas 
nicht  ersparen  dürfen.  Es  mangelt  noch  an  einer  übersichtlichen  Ordnung 
des  massenhaft  zuströmenden  Stoffes  und  es  wäre  vielleicht  für  eine 
künftige  Monographie  zu  empfehlen,  sämtliche  Versionen  in  deutscher 
Übersetzung  neben  einander  zu  stellen;  selbst  Wollner  beklagt  sich 
(S.  242),  dafs  ihm  manches  aus  der  einschlägigen  Litteratur  nicht  zugäng- 
lich gewesen  sei.  So  wenig  die  Sache  durch  die  blofse  Nebeneinander- 
stellung der  Texte  und  das  mechanische  Aufsuchen  äufserlicher  Ähnlich- 
keiten gefordert  wird,  so  wird  es  doch  nur  durch  eine  solche  Zusammen- 
stellung möglich,  die  Vergleichung  in  wahrhaft  wissenschaftlicher  Weise 
durchzufuhren  und  den  inneren  Zusammenhängen  nachzugehen.  Um  die 
AufEndung  des  zerstreuten  Materials  braucht  jetzt  Niemand  verlegen  zu 
sein.  Dr.  Ulrich  Jahn  giebt  in  seinen  „Volkssagen  aus  Pommern  und 
Rügen"  (Stettin  1886),  S.  Vffl  f ,  ein  von  Prof.  E.  Kuhn  in  München  mit- 
geteiltes  Verzeichnis  der  ganzen  Litteratur.  Aufser  dem  Buche  von  Jahn 
welches  S.  404  ff.  zwei  Lenorensagen  enthält,  und  den  dortselbst  ange- 
führten Werken  sind  noch  zu  verwerten  die  der  Schrift  von  Politis  ge- 
widmeten Besprechungen  von  Girard  und  Meyer  (s.  oben),  der  Passus 
in  Legfrands  collection  de  monuments,  nouv.  serie,  VI  50 — 52  (Einl.), 
A.  Wesselofsky,  Russische  Revue,  Petersburg,  4.  Jahrg.  (1875,  S.  559), 
A.  Rambaud  „La  Russie  epique",  Paris  1876,  S.  421  ff.  Zu  den  von 
Politis  a.  a.  O.  mitgeteilten  17  neugriechischen  Liedern  kommen  noch  drei 
kappadokische  in  der  Abhandlung  „Neugriechisches  aus  Kleinasien^  mit- 
geteilt von  Paul  de  Lagarde,  Abh.  der  k.  Gesellschaft  der  Wissen- 
schaften zu  Göttingen,  39.  Band,  1886  (No.  15.  25.  36). 


220  Karl  Knimbacher. 


Kurz  vor  Abdruck  dieses  Aufsatzes  erschienen  zwei  neue  auf  unsere 
Frage  bezugliche  Publikationen:  Erich  Schmidt  beschert  uns  in  seinen 
Charakteristiken  (Berlin,  Weidmann,  1886)  S.  199 — 348  eine  aus- 
gezeichnete Abhandlung  über  „Bürgers  Lenore".  Obschon  der  Ver&sser 
wesentlich  vom  litterarhistorischen  Standpunkte  ausgeht,  g^iebt  er  uns 
doch  auch  eine  Menge  wertvoller  Mitteilungen  über  die  volksmafsige 
Verbreitung  der  Sage,  besonders  über  die  volkstümlichen  Impulse  von 
Bürgers  Lenore.  Auch  zu  den  Litteraturangaben,  die  in  dem  (von  Schmidt 
nicht  erwähnten)  Buche  U.  Jahns  gesammelt  sind,  finden  wir  wichtige 
Ergänzungen.  —  Der  zweite  Beitrag  steht  an  einem  etwas  verborgenen 
Orte,  nämlich  in  der  Südsteirischen  Post  (Marburg  i.  Steyermark)  vom 
20.  November  1886;  Bogomil  Krek  giebt  dortselbst  zwei  schon  früher  in 
der  Zeitschrift  „Ljubljanski  zvon^  abgedruckte  slovenische  Lenorenmärchen 
in  deutscher  Übersetzung. 


München. 


-••- 


Untersuchungen  zu  dem  mittelenglischen  Fabliau 

„Dame   Siriz." 


Von 
Walther  EUner. 


Um  die  Mitte  des  dreizehnten  Jahrhunderts  tritt  in  die  englische  Litteratur 
eine  neue  Gattung  der  Poesie  ein,  das  Fabliau.  Ihr  ältester 
Vertreter  ist  „Dame  Siriz".  Da  das  Entstehen  dieser  Dichtung  etwa  zu- 
sammenfallt mit  dem  erneuten,  aber  breiteren  Einströmen  französischer, 
namentlich  epischer  Litteratur  in  die  englische  und  da  ihr  Stoff  auch  in 
französischen  Versen  bearbeitet  worden,  so  lag  die  Vermutung  nahe,  dafe 
das  englische  Fabliau  einer  französischen  Quelle  entstamme.*) 

Dem  wurde  entgegengehalten,  dafs  der  Ursprung  der  Fabel  zu 
suchen  sei  in  den  damals  in  England  verbreiteten  lateinischen  Novellen- 
sanunlungen,  wie  die  Gesta  Romanorum  und  die  Disciplina  Clericalis.  Das 
englische  Fabliau  trage  kein  französisches  Gewand ;  der  Wortschatz  sei  im 
Ganzen  frei  von  französischen  Elementen.  Eine  ältere  Meinung**)  be- 
zeichnete geradezu  die  Gesta  Romanorum  als  Quelle,  eine  jüngere***)  wollte 
die  Erzählung,  direkt  oder  indirekt,  aus  der  Disciplina  Clericalis  herleiten. 

Da  keine  von  diesen  einander  gegenüberstehenden  Meinungen  ge- 
nügend begründet  ist,  so  erschien  es  wünschenswert,  sie  nochmals  zu 
prüfen  und  die  Frage  nach  den  Quellen  des  englischen  Fabliaus  end- 
gültig zu  entscheiden. 

Während  der  Untersuchung  ergab  sich,  dafs  eine  bisher  ganz  un- 
bekannte lateinische  Version  als  Quelle  anzunehmen  sei,  welche  in  direkter 


*)  Diese  Vermutung  äufserte  Th.  Wrightin  den  Anecdota  literaria.    Lond.  1844,  p.  3. 

**)  vgl.  Mätziier*s  Altengl.  Sprachproben.  Berlin  1867,  p.  106.  Dort  wird  nebenbei 
bemerkt,  dafs  die  Erzählung  sich  auch  in  den  in  England  entstandenen  Gesta  Romanorum 
(ed.  Sir  Frederick  Madden)  finde,  die  von  Charles  SWan  übersetzt  sind.  Das  ist  nicht 
richtig.  Die  Erzählung  findet  sich  nicht  in  den  englischen  Gesta;  auch  übersetzte  Swan  nicht 
diese,  sondern  einen  lateinischen  Druck  mit  der  Jahreszahl  1508. 

***)  vkI«  ten  Brink,  Geschichte  der  englischen  Litteratur.   I.,  p.  319. 


222  Walther  Etsner. 


Beziehung  zu  den  orientalischen  „sieben  weisen  Meistern"  steht  Es  war 
interessant,  zu  erforschen,  auf  welchem  Boden  die  vielen  Versionen  dieses 
Stoffes  gewachsen  waren. 

Zum  leichteren  Verständnis  der  verwickelten  Verhältnisse  schien  es 
erforderlich,  vorwiegend  synthetisch  zu  verfahren,  ab  ovo  das  Wachsen 
dieses  Baumes  zu  beobachten,  der  immer  neue  Aste,  Zweige  und  Blüten 
trieb,  als  deren  Früchte  gleichsam  die  occidentalischen  Versionen  er- 
scheinen. 

In  Indien  sind  zwei  Bearbeitungen*)  des  Stoffes  verbreitet  ge- 
wesen. Die  eine  findet  sich  in  der  Märchensammlung  des  Somadeva 
Bhatta,  „Meer  der  Segenströme"  genannt,  welche  zwar  erst  im  zwölften 
Jahrhundert,  aber  aus  bedeutend  älteren  Quellen  zusammengestellt  wurde. 

Die  Geschichte  hat  hier  folgenden  Inhalt**): 

Ein  reicher  Kaufmannssohn,  Guhasena,  hatte  eine  schöne  Frau, 
Devasmita,  die  er  sehr  liebte;  auch  sie  hatte  ihn  lieb,  denn  sie  war  mit 
ihm  aus  ihrer  Heimat  entflohen.  Nach  einiger  Zeit  starb  sein  Vater  und 
Guhasena  wurde  von  seinen  Verwandten  aufgefordert,  zur  Besorgung 
der  Handelsgeschäfte,  nach  dem  Lande  Katäha  zu  reisen.  Devasmita 
aber  wollte  dies  durchaus  nicht  zugeben,  da  sie  eifersüchtig  war,  und 
fürchtete,  er  werde  ihr  bei  anderen  Frauen  untreu  werden.  In  Verlegenheit, 
ob  er  reisen  oder  bleiben  sollte,  bat  er  Gott  Siva  um  eine  Entscheidung. 
Derselbe  erschien  den  beiden  Gatten  im  Traum,  gab  jedem  einen  roten 
Lotos  und  verkündete,  so  lange  jedes  dem  anderen  treu  bleibe,  werde 
der  Lotos  in  der  Hand  des  letzeren  frisch  und  blühend***)  sein.  Guha- 
sena reiste  beruhigt  ab.  Im  fremden  Lande  aber  wurde  seine  stets 
blühende  Blume  sehr  bald  bemerkt,  und  beim  Weine  erzählte  er  vier 
jungen  Kaufleuten,  was  es  damit  für  eine  Bewandnis  habe.  Sofort  be- 
schlossen die  vier  jungen  Leute,  Devasmita  zu  verfuhren  und  reisten 
heimlich  nach  der  Stadt  ab,  in  der  sie  wohnte.f )     Dort  suchten  sie  eine 


*)  Genauer  drei  Versionen;  über  die  dritte  giebt,  durch  gütige  Vermittlung  Herrn 
Prof.  NöldekeSf  Herr  Prof.  Bühler  folgende  Auskunft:  ^von  der  Geschichte  kenne  ich  nur 
noch  die  Somadevas  genau  entsprechende  Version  Kshemendras,  der  auch  die  Brihatkathi 
des  uralten  Präkrit- Dichters  Annädhy  übersetzt  hat.  Dieselbe  würde  aber  nichts  helfen,  da 
sie  nur  etwas  kürser  gefiiist  ist^* 

**)  Nach  der  Übersetzung  von  H.  Brockhaus  (Somadeva  Bhatta.  Leipzig  1839)  p.  56  ff. 

***)  Vergl.  hiezu  ReinholdKöhler  im  Jahrbuch  für  roman.  und  engl.  Litt.  Bd.  VIII  p.  44  £ 
t)  Die  Verwandtschaft  dieses  Motivs  mit  den  von  Shakespeare  im  Cymbelin  benutsten 
vielverbreiteten  Novellenzuge  fällt  von  selbst  in  die  Augen.     (Anm.  d.  Red^ 


Untersuchuflg^en  zu  dem  mittelenglischen  Fabliau  ,,Dame  Siriz".  393 


Kupplerin  auf,  die  Priesterin  des  Buddha,  Yogakarandikä,  und  baten  sie 
unter  Geldversprechungen,  ihnen  die  Gunst  der  Gemahlin  des  Guhasena 
zu  verschaffen. 

Geld  lehnte  die  Alte  zwar  ab,  doch  zu  jenem  Dienste  war  sie  so- 
gleich bereit  Sie  überliefs  den  jungen  Leuten  ihr  Haus  zum  Wohnen 
und  ging  zu  Devasmita,  machte  sich  deren  Dienerschaft  durch  ein  Ge- 
schenk von  Efswaaren  gewogen  und  wollte  dann  das  Haus  betreten. 
Doch  eine  Hündin,  die  an  der  Kette  lag  und  sonst  niemals  einen  Be- 
sucher belästigte,  hinderte  sie  daran,  die  Schwelle  zu  überschreiten.  Als 
Devasmita  das  sah ,  schickte  sie  ihr  eine  Dienerin .  entgegen,  die  sie 
hereinführen  sollte,  im  Stillen  bei  sich  denkend:  „weswegen  mag  diese 
Frau  wohl  kommen?"  Die  Priesterin  trat  nun  ein,  gab  der  tugendhaften 
Devasmita  ihren  Segen,  die  auch  mit  verstellter  Höflichkeit  ihr  dankte, 
und  sagte  dann :  „Immer  schon  habe  ich  lebhaft  gewünscht,  dich  zu  sehen; 
heute  habe  ich  dich  sogar  im  Traum  erblickt,  es  erfafste  mich  daher 
eine  wahre  Sehnsucht  und  so  bin  ich  hergekommen,  dich  zu  besuchen. 
Mein  Herz  thut  mir  wahrhaft  wehe,  dafs  ich  dich  so  von  deinem  Gemahl 
getrennt  weifs;  denn  Jugend  und  Schönheit  tragen  nicht  ihre  Früchte, 
wenn  sie  des  Genusses  mit  dem  Geliebten  entbehren."  Mit  diesen  und 
ähnlichen  Reden  suchte  die  Priesterin  die  treue  Frau  erst  vertrauensvoll 
zu  machen,  empfahl  sich  ihr  aber  schon  nach  kurzer  Zeit  und  kehrte  in 
ihre  Wohnung  zurück.  Am  andern  Tage  ging  sie  wieder  in  das  Haus 
Devasmitas,  nahm  aber  diesmal  ein  Stück  Fleisch  mit,  das  tüchtig  mit 
zerstofsenem  Pfeffer  bestreut  war;  ehe  sie  eintrat,  gab  sie  es  an  der  Thür 
der  Hündin,  die  es  auch  verzehrte.  Der  zugleich  damit  reichlich  ge- 
nossene Pfeffer  hatte  aber  zur  Folge,  dafs  dem  Tiere  ununterbrochen 
Tränen  aus  den  Augen  und  der  Nase  flössen.  Jetzt  ging  die  Priesterin 
zu  Devasmita  hinein ,  von  der  sie  gastfreundlich  empfangen  wurde, 
und  fing  an  heftig  zu  weinen.  Besorgt  fragte  diese,  was  ihr  fehle; 
da  antwortete  sie  mit  Anstrengung :  „Ach ,  meine  Freundin ,  sieh 
doch  diese  Hündin ,  wie  sie  jetzt  da  draufsen  weint ,  denn  soeben 
erkannte  sie  mich  als  Lebensgefährtin  in  einem  früheren  Dasein,  und 
deswegen  begann  sie  zu  weinen,  aus  Mitleid  fliefsen  daher  auch  meine 
Tränen."  Nach  diesen  Worten  sah  Devasmita  draufsen  nach  der  Hündin 
und  bemerkte,  dafs  sie  fast  zu  weinen  schien,  aber  zugleich  dachte  sie 
bei  sich:  „Was  mag  das  Wunder  bedeuten?"  Die  Priesterin  fuhr  fort: 
„Mein  Töchterchen,  in  einem  frühern  Dasein  waren  ich  und  jene  die 
beiden  Gemahlinnen  eines  Brahmanen.  Unser  Gemahl  mufste  oft  auf 
Befehl    des    Königs,    hierhin    und  dorthin  weit  in  ferne  Länder   reisen. 


2H  Walther  EUner. 


Während  er  nun  abwesend  war,  lebte  ich  nach  freier  Lust  mit  andern 
Männern,  sodafs  dieser  Leib  nicht  um  seine  Genüsse  betrogen  wurde; 
denn  mit  Recht  nennt  man  es  das  höchste  Gesetz,  an  den  zu  einem 
Körper  vereinigten  Sinnen  und  Elementen  nicht  zum  Verräter  zu  werden. 
Aus  diesem  Grunde,  mein  Töchterchen,  bin  ich  hier  auf  dieser  Erde 
wiedergeboren  worden,  als  eine  solche,  die  sich  ihres  früheren  Daseins 
erinnert  Die  andre  Gemahlin  aber  bewahrte  ihrem  Gatten,  obgleich  er 
von  alle  dem  nichts  erfuhr,  die  Treue,  deswegen  ist  sie  als  Hündin 
wiedergeboren  worden,  doch  erinnert  auch  sie  sich  ihres  früheren  Da- 
seins." „Welch  ein  Gesetz  ist  das?  Sicher  hat  diese  Priesterin  hier  eine 
Betrügerei  vorgenommen,"  also  dachte  Devasmita  bei  sich  selbst,  aber 
verständig  sag^e  sie  zu  der  Priesterin:  „Ehrwürdige  Frau,  ich  habe  bis 
dahin  diese  Pflicht  nicht  gekannt,  sei  daher  so  gütig  und  verschaffe  mir 
eine  Zusammenkunft  mit  irgend  einem  liebenswürdigen  Manne/^  Erfreut 
erzählte  ihr  die  Priesterin  von  den  vier  jungen  Kaufleuten,  die  von  fern 
hergekommen  wären,  und  eilte  heim,  um  einen  nach  dem  andern  zu  ihr 
zu  fahren.  Devasmita  aber  hatte  den  Zusammenhang  erraten,  und  es 
gelang  ihr,  nicht  nur  die  jungen  Leute,  sondern  auch  die  Kupplerin 
empfindlich  zu  bestrafen.  Indem  sie  sich  darauf,  als  Mann  verkleidet,  zu 
ihrem  Gatten  begab,  enthüllte  sie  den  schlechten  Streich,  den  jene  Kauf- 
leute ihr  und  ihm  hatten  spielen  woUen  und  erhielt  Lob  und  Ruhm  für 
ihre  Klugheit  und  Treue. 

Nach  der  Erzählung  der  alten  Priesterin  ist  es  also  ein  höchstes 
Gesetz,  das  sie  selbst  in  einem  früheren  Leben  befolgt,  jene  zur  Hündin 
gewordene  Gemahlin  aber  verletzt  habe,  imd  es  lautet:  man  solle  an  den 
zu  einem  Körper  vereinigten  Elementen  und  Sinnen  nicht  zum  Verräter 
werden.  Erinnerung  an  den  früheren  Zustand  ist  beiden  verliehen,  der 
Hündin  aber  offenbar  zur  Qual,  der  Alten  zum  Lohn. 

Überraschend  ist  diese  Erzählung  gewifs  und  somit  gerade  genügend 
für  orientalischen  Geschmack;  ein  ernsterer  Zuhörer  aber  konnte  doch 
eine  Lücke  in  der  Darstellung  der  Alten  finden.  Indem  Devasmita  über 
die  Erzählung  nachdachte,  hätte  es  ihr  einfallen  können,  ihren  eigenen 
Zustand  in  diesem  Leben  mit  dem  der  beiden  anderen  in  der  Erzählung 
der  Alten  genannten  Frauen  zu  vergleichen,  und  sich  zu  fragen:  Was 
bin  ich  denn  in  diesem  Leben?  Bin  ich  belohnt  oder  bin  ich  bestraft? 
Was  war  ich  früher?  Hätte  ich  jenem  Gesetze  gemäfs  gelebt,  so  müfste 
ich  mich  jetzt  daran  erinnern.  Oder  habe  ich  dagegen  gesündigt?  Müfste 
ich  denn  nicht  jetzt  ebenfalls  Hündin  sein? 


Untersuchungen  zu  dem  mittelenglischen  Fabliau  „Dame  Siriz".  2S5 

Diese  Fragen  zu  beantworten,  war  vielleicht  eine  andere  indische 
Geschichte  geschrieben  worden.  Sie  steht  in  der  zweiten  Nacht  der 
Sukasaptati  und  lautet,'^)  wie  folgt: 

„In  der  Stadt  Nandana  lebte  ein  König  Nandanas,  der  einen  Sohn, 
Namens  Razasekaras,  hatte.  Dessen  Weib,  Sasseprabba,  sah  ein  junger 
Mann,  welcher  Beras  hiefs,  und  sein  Herz  wurde  von  Liebe  zu  ihr  ent- 
zündet; infolgedessen  afs  und  trank  er  nicht.  Befragt  von  seiner 
Mutter  Jassodebe  gestand  er  ihr  den  Grund  seines  Leidens.  Als  diese 
alles  gehört  hatte,  ersann  sie  folgende  List,  um  das  Leben  ihres  Sohnes 
zu  erhalten. 

Nachdem  sie  eine  Hündin  mit  Speise  und  Trank  für  sich  gewonnen 
und  sie  geputzt  hatte,  kam  sie  mit  ihr  zu  der  Königin  Sasseprabba,  und 
sprach  zu  ihr:  Ich  und  du  und  diese  Hündin,  wir  waren  Schwestern  in 
einem  frühern  Dasein,  und  nachdem  ich  und  du  mit  fremden  Männern 
zwanglos  verkehrt  hatten,  sind  wir  in  diesem  Leben  Menschen  geworden. 
Diese  hier  aber,  welche  Scham  und  Furcht  hatte,  ihre  Geburt  zu  beflecken 
und  auch  Enthaltsamkeit  besafs,  versagte  sich  den  Umgang  mit  fremden 
Männern  und  gerade  deshalb  wurde  sie  zur  Hündin.  Mir  ist,  weil  ich 
furchtlos  und  unverhohlen  mich  dem  Genüsse  hingegeben,  Erinnerung  an 
den  früheren  Zustand  verliehen,  dir  dagegen,  die  zaghaft  und  mit  Mafsen 
genofs,  ist  sie  vorenthalten  worden.  Ich  bin  gekommen,  um  dir  zu  raten, 
was  die  Verlangenden  lieben;  denn  wer  das  Verlangte  andern  giebt,  der 
erlebt  selber  die  Erfüllung  aller  seiner  Wünsche.  [Denn  die  Bettler 
gehen  von  Tür  zu  Tür,  in  der  Hand  ein  Gefafs;  dadurch  zeigen  sie 
den  Leuten  versteckt  an,  dergestalt  werde  der  künftige  Zustand  dessen 
sein,  der  nicht  giebt.]  Als  Sasseprabba  dies  gehört  hatte,  beschwor  sie 
Jassodebe  unter  Tränen:  „Rette  mich  schnell,  und  vereinige  mich  mit 
einem  andern  Manne."  Jassodebe  aber  voll  Hoffnung  und  Freude,  führte 
sie  in  ihr  Haus  zu  ihrem  Sohne.  Indem  aber  Razasekaras  glaubte,  dafs 
Jassodebe  eine  Freundin  der  Königin  sei,  beschenkte  er  sie  und  ver- 
weigerte ihr  den  Zutritt  nicht  So  erlangte  Jassodebe  durch  grofsen 
Scharfsinn  das  Ersehnte." 

Die  Antwort  auf  die  obigenFragen  ist  also  folgendermafsen  ausgefallen: 


*)  Nach  der  griechischen  Übersetzung  von  Galan os,  Athen  1851,  p.  51.  Vergl.  auch 
Pertsch  in  der  Zeitschrift  der  deutschen  morgenländ.  Gesellschaft,  Bd.  XXI,  p.  505,  der  drei 
Handschriften  aufzählt:  i)  Ms.  Petersburg.  2)  Ms.  Royal  Society  London.  3)  Ms.  Oxford. 
Die  £ntstehungszeit  ist  unbekannt  Vergl.  femer  M.  Landau:  Quellen  des  Dekamerone  2, 
p.  90,  und  Zeitschrift  der  Folk  Lore  Society  IX  43  ff. 


286  Walther  Eisner. 


Die  Frau  hat  deswegen  keine  Erinnerung  an  den  früheren  Zustand, 
weil  sie  ehedem  zu  mafsvoll  gelebt,  zu  wenig  frei  mit  fremden  Männern 
verkehrt  habe.  Die  Menschengestalt  hat  sie  allerdings  wiedererhalten; 
aber  eine  Strafe  ist  dennoch  über  sie  verhängt  worden:  ohne  es  zu 
wissen,  schwebt  sie  in  beständiger  Gefahr,  dem  Verderben  zu  verfallen. 
Dieses  ist  nicht  dasselbe  wie  in  der  Erzählung  bei  Somadeva;  denn  die 
Hündin  weint  nicht,  sie  hat  eben  keine  Erinnerung  an  ihr  früheres 
Leben. 

Das  Fehlen  dieser  Wendung  in  der  Darstellung  der  Sukasaptati 
mufs  wie  ein  grofser  Mangel  an  Phantasie  erscheinen.  Denn  der  Einfall, 
die  unglückliche  Hündin  weinen  zu  lassen,  ist  ein  so  genialer,  dafs 
niemand,  der  davon  einmal  gehört,  ihn  hätte  vergessen  können.  Wenn 
er  trotzdem  nicht  in  der  Sukasaptati  auftritt,  welcher  doch  der  Besitz 
jener  Antwort  ein  jüngeres  Gepräge  verleiht,  als  die  Form  hat,  welche 
Somadeva  überliefert,  so  läfst  es  sich  wohl  nur  dadurch  erklären,  dafs 
hier  von  der  Sukasaptati  ein  ursprünglicher  Zug  bewahrt  worden 
ist,  und  zwar  ein  solcher,  welchen  die  älteste  Fassung  der  Erzählung 
besafs. 

Wir  denken  uns  diese  ursprüngliche  Form  so: 

Zu  der  tugendhaften  Frau  kommt  eine  Alte  mit  dem  Hündchen, 
und  erzählt  ihr,  dieses  Tier  sei  früher  eine  keusche,  jenes  höchste  Gesetz 
verachtende  Frau  gewesen,  die  deshalb  als  Hündin  wiedergeboren;  sie 
selbst  aber  habe  jenem  Gebote  sich  gefugt,  und  sei  darum  als  Mensch 
mit  der  Erinnerung  an  den  früheren  Zustand  wiedergeboren. 

Aus  dieser  Form  ist  diejenige,  welche  Somadeva  aufgenommen, 
dadurch  entstanden,  dafs  das  Weinen  des  Hündchens  hinzugefugt  wurde, 
nicht  so  sehr,  um  die  Qual  des  Tierzustandes  gesteigert  erscheinen  zu 
lassen,  als  um  bei  der  Frau  den  Eindruck  zu  erhöhen,  dafs  die  Erzählung 
der  Alten  wahr  sei. 

Die  Sukasaptati  erfand  aus  ähnlichen  Motiven,  vielleicht  um  einem 
Bedenken  gegenüber  es  zu  rechtfertigen,  wie  allein  die  Alte  von  der 
Angelegenheit  etwas  wissen  konnte,  die  Geschichte  von  dem  Vorleben 
der  Frau  hinzu. 

Des  verschiedenen  Ausgangs  beider  indischen  Versionen  mufs  noch 
erwähnt  werden.  In  der  Sukasaptati  triumphiert  die  List  der  alten 
Kupplerin;  dagegen  verherrlicht  Somadeva  in  dem  Siege  der  klugen 
Devasmitä  die  Treue  der  Ehefrau.  Dieser  moralische  Schlufs  ist  wahr- 
scheinlich nicht  ursprünglich.     Vielmehr  halten  wir  jenen  der  Sukasaptati 


Untersuchungen  zu  dem  mittelenglischen  Pabliau  „Dame  Siriz**.  297 

dafür;  der  Erzähler  wollte  also  ein  neues  Beispiel  von  der  teuflischen 
Schlauheit  alter  Weiber*)  geben. 

Folgende  Zvige  charakterisieren  die  beiden  Erzählungen: 
Der  Gemahl  der  Frau  ist  nach  Somadevas  Bericht,  ein  Kaufmann 
und,  als  die  Alte  ihr  Werk  beginnt,  auf  Reisen;  in  der  Sukasaptati 
erscheint  er  als  Königssohn  und  ist  zu  Hause.  Die  Kupplerin  Somadevas 
ist  Priesterin,  jene  der  Sukasaptati  aber  Mutter  des  Liebhabers.  Wohl 
infolge  dieses  Verwandtschaftsverhältnisses,  erbietet  sie  sich  hier  freiwillig 
zur  Hilfe;  die  Priesterin  wird  dazu  aufgefordert.  Somadeva  hat  der 
Liebhaber  vier  gegen  einen  bei  der  Sukasaptati;  jene  kommen  mit  der 
Absicht  zu  verfuhren,  dieser  wird  von  Liebe  entzündet  und  erkrankt. 
Das  Hündchen  gehört  der  Devasmita;  in  der  Sukasaptati  scheint  eines 
jener  herrenlosen  Tiere  gemeint  zu  sein,  das  die  Alte  für  ihren  Zweck 
an  sich  gewöhnt  hat. 

Das  Band,  welches  diese  Erzählungen  zusammenhält,  ist  das  von  der 
Alten  erfundene  Gesetz.  Dieses  enthält  nach  der  Sukasaptati  folgenden 
Gedanken:  man  solle  thun,  was  der  Liebhaber  wünscht;  wer  das  nicht 
thue,  werde  erniedrigt  werden. 

Ganz  ähnlich  lautet  das  Gesetz  in  dem  Roman  von  den  „sieben  weisen 
Meistern:"  ein  Weib,  das  den  Liebhaber  abweist,  wird  von  Gott  bestraft. 

Die  erhaltenen  Texte  dieses  Romans  äufsern  sich  darüber  allerdings 
verschieden.  Am  deutlichsten  sprechen  zwei:  der  älteste,  der  syrische 
Sindban,**)  und  der  ebräische   Sendebar.***) 

Syr:     er  rief  Gott  gegen  sie  an,  und  sie  wurde  eine  Hündin. 

Ebrä:  er  rief  zu  seinem  Gott  um  ihretwegen  und  dieser  verwandelte  sie. 

Anders  heifst  es  in  dem  griechischen,!)  spanischenff)  und  per- 
sischenfff)  Text: 

*)  Ein  dankbares  Unternehmen.  In  allen  Litteraturen  ist  von  den  bösen  Künsten  dieser 
,,Meisterinnen  des  Betrug^es**  die  Rede.  Vgl.  auch  das  türkische  Tutinäme,  übersetzt  von 
G.  Rosen  I  i6,  112,  11  17,  179,  und  Düringsfeld,  die  Frau  im  Sprüchwort  (p.  aoo),  der  Be- 
lege aus  dem  Slavischen  und  Czechischen  bringt. 

**)  Obers,  und  herausg.  von  Fr.  Baethgen,  Berlin  1879,  p.  34;  verbessert  in  einer 
Privatmitteilung  von  H.  Prof.  Nöldeke. 

***)  Miscble  Sendebar,  übers,  von  H.  Sengelmann,  Halle    1873,  p.  47. 

t)  Syntipas,  ed.  F.  W.  Val.  Schmidt!,  d.  A.  d.  Disciplina  clericalis  p.  133;  krit  ed. 
von  Eberhard  i.  d.  Fabulae  romanenses  graece  conscriptae  I  p.  39.  Leipzig  1879,  verglichen 
mit  einer  Straisbgr.  Handschr.  von  H.  Prof.  Nöldeke ;  übers,  von  H.  Sengelmann.  p.  108. 

It)  Hrsg.  von  Comparetti  i.  d.  Ricerche  intomo  al  libro  di  Sindibad  1869,  p.  44; 
Obers,  in  Publ.  of  the  Folk  Lore-Society  a.  a.  o. 

ttt)  Stndibadnäme,  übrs.  v.  Clouston  in  „the  Book  of  Sindibad*'.    London  1884,  p.  61, 


838  Walther  EUner. 


Griech.  u.  Span:  er  verfluchte  sie  und  sie  wurde  verwandelt. 

Pers.:  das  Weib  wurde  zur  Strafe  dafür,  dafs  sie  eines  Mannes  Liebe 
verschmähte,  verwandelt. 

Am  weitesten  entfernen  sich  die  jüngeren  arabischen  Texte  der 
Tausendundeinen  Nacht  i'^) 

Bengalen:  er  (der  Liebhaber)  verwandelte  sie. 

Tunis:  er  (der  Liebhaber)  verzauberte  sie  und  machte  sie  zu  einer 
Hündin. 

Bulak:  sie  veranstalteten  einen  Zauber  und  verwandelten  sie. 

Da  alle  diese  Versionen  auf  einen  arabischen  Text  "*"*")  zurückgehen, 
so  dürfen  die  Ausdrücke  „anrufen  gegen  Einen",  „fluchen^'  im  Sinne  des 
arabischen  Aberglaubens  gedeutet  werden,  sie  sind  einander  gleich.**^) 


*)  X.  Bengalen-Text:  abersetzt  von  Scott,  bei  Clouston  p.  i6a. 

2.  Tunis-Text,  a.  ed.  Habicht-Fleischer,  Bd.  XU.  p.  393,  aberseut  in  Priratmit- 

teilung  von  Herrn  Prof.  Nöldeke.     b.  fibers.,   scheinbar  nach    einer  anderen 
Redaktion,  v.  Habicht:  loox  Nacht.    Breslau  1840.    Bd.  XV.  p.  137. 

3.  Text  von  Bulak,  Bd.  m,  p.  89,  Übersetzt  von  Herrn  Prof.  Nöldeke. 

**)  Dieser  arabische  Text  aus  dem  achten  Jahrhundert  wird  durch  die  syrische  und 
spanische  Version  treuer  als  durch  die  bis  jetzt  bekannten  arabischen  der  «sieben  Veziere** 
(in  Tausendundeine  Nacht)  wiedergfeg^eben.  Die  griechische  ist  Ende  des  elften  Jahr- 
hunderts aus  der  syrischen  Version  übersetzt  Jener  arabische  Grundtext  aber  ist  aus  dem 
Indischen  durch  Vermittlung  eines  jetzt  verlorenen  Pehlewi-Textes  entstanden.  Der  Stamm- 
baum ist  also  der  folgende: 


Wt4f. 


Vergl.  Nöldeke  in  der  Zeitschrift  der  deutsch,  morgenländ.  Ges.  Bd.  XXXm.  p.  520  bis 
539  f.     Ahnl.  Landau  2  aao.  37. 

***)  Im  Arabischen  ist  « anrufen  gegen  Einen**  es  „fluchen**,  ob  Gott  dabei  erwähnt 
wird  (=s  Gott  anrufen  gegen  — )  oder  nicht,  gilt  gleich:  Gott  ist  doch  zu  ergänzen.  (Th.  Nöldeke,) 


Untersuchung^en  zu  dem  mittel  englischen  Fabliau  ,,Dame  Siriz'^  229 


Die  Beziehung  aber  zwischen  den  syrischen,  spanischen,  ebräischen 
und  persischen  Texten  einerseits  und  den  jüngeren  arabischen  anderer- 
seits wird  klar  mit  Hilfe  der  Deutung,  welche  der  deutsche  Aberglaube 
dem  Fluche  gfiebt:  der  „dem  EinzelwiUen  des  Menschen  anheimgegebene 
Fluch"  besitzt  eine  „magische  Wirkung"  und  bezieht  sich  auf  „Voll- 
bringung des  persönlichen  Hasses."*)  „Diese  Anschauung  ist  eben  nicht 
nur  deutsch;  eine  Polemik  dagegen  findet  sich  schon  im  alten  Testament."**) 

Mögen  aber  diese  Versionen  der  „sieben  weisen  Meister"  über  die 
Erklärung,  wie  die  Verwandlung  zu  Stande  kommt,  scheinbar  oder  wirk- 
lich uneinig  sein,  —  völlige  Einigkeit  herrscht  unter  ihnen  in  der  Auf- 
fassung vom  Wesen  der  Verwandlung:  bei  Lebzeiten  wird  der  Mensch 
in  das  Tier  verwandelt.     Hier  zuerst  tritt  diese  Anschauung  hervor.  — 

Diese  Versionen  sind  in  drei  Abteilungen  näher  zu    betrachten:***) 

Die  I.  zeigt  den  Typus  Somadeva  und  enthält  das  Sindibadnäme. 
Merkmale:  der  Liebhaber  wirbt  nicht  persönlich;  die  Kupplerin  besucht 
die  Frau  mehrere  Male. 

Die  n.  Abteilung  zeigt  den  Typus  „sieben  weise  Meister"  und  ent- 
hält den  syrischen,  griechischen  und  spanischen  Text;  ihre  Merkmale 
sind:  die  persönliche  Werbung,  und  der  einmalige  Besuch  der 
Kupplerin. 

In  der  HI.  Abteilung  mischen  sich  die  Merkmale  der  beiden  vor- 
hergehenden; sie  enthält 

a.  die  vier  Versionen  der  „sieben  Veziere",  welche  von  I  die  mehr- 
maligen Besuche  der  Alten,  von  II  die  persönliche  Werbung 
entlehnen, 

b.  Sendebar,  der  von  I  die  nicht  persönliche  Werbung  und  von  II 
den  einmaligen  Besuch  der  Kupplerin  entnimmt. 

I.  Die  Erzählung  im  Sindibadnäme  lautet  nach  der  englischen  Über- 
setzung, wie  folgt: 

In  der  Stadt  Schustar  (in  Khusistan  in  Fersien)  sieht  ein  lebens- 
lustiger junger  Galan,  als  er  eines  Tages  auf  die  Jagd  reitet,  an  einem 
Gitterfenster  ein  Weib,  schön  wie  eine  Peri,  und  verliebt  sich  in  sie.  Er 
überredet  eine  listige  Alte,  bei  jener  sein  Fürsprech  zu  sein;  ihre  Sendung 
hat  aber  durchaus  keinen  Erfolg,    denn  jene  lehnt  es  mit  Unwillen  ab. 


*)  Wuttke,  deutscher  Volksaberglaube,  p.  153. 

**)  Prov.  Salonu  26,  2 :    „Wie  ein  Vogel  dahin  fährt  und  eine  Schwalbe  fleugt,  also 
ein  unverdienter  Fluch  triflft  nicht"     (Th.  N.) 

*♦*)  Im  Folgenden  werde  ich  gelegentlich  mit  den  Namen  „Syntlpas**,  „Sendebar**  etc. 
^  die  Geschichte  von  der  weinenden  Hündin  in  dem  betreffenden  Buche  benennen. 

Ztichr.  f.  vgl.  Litt.*Geach.  I.  ^6 


230  Walther  Eisner. 


einen  Liebhaber  zu  unterhalten.  Nach  wenigen  Tagen  verkleidet  sich 
die  Alte  als  Priesterin  (devotee)  und  versucht  so,  nochmals  Zutritt  zu 
dem  Hause  der  schönen  Frau  zu  erhalten,  gewinnt  sich  auch  bald  das 
Zutrauen  der  Dienerschaft  und  wird  schliefslich  die  vertraute  Gefährtin 
(companion)  der  Hausfrau  selbst.  Eines  Tages  nun  futtert  dieses  ränke- 
volle, heuchlerische,  alte  Scheusal  deren  Hündin  mit  stark  gewürzten 
Kuchen,  welche  ihr  die  Tränen  in  die  Augen  treiben,  sodafs  es  aus- 
sieht, als  weine  sie.  Sobald  die  Frau  es  bemerkt,  drückt  sie  ihre  Über- 
raschung darüber  aus  und  fragt  die  Alte,  ob  sie  die  Ursache  wisse. 
Zuerst  stellt  sich  diese  aber,  als  gebe  sie  ungern  Auskunft,  jedoch  nach 
längeren  Bitten,  erzählt  sie,  dafs  das  Hündchen  einst  ein  schönes  Weib*) 
war,  welches  zur  Strafe  dafür,  dafs  es  eines  Mannes  Liebe  verschmähte, 
in  diese  Gestalt  verwandelt  sei. 

Beim  Anhören  dieser  Geschichte  mit  Unruhe  erfüllt,  bekennt  die 
Frau,  dafs  auch  sie  die  Bewerbung  eines  Jünglings,  die  von  einer  Alten 
überbracht  worden  sei,  zurückgewiesen;  jetzt  aber  wolle  sie  ihm 
eine  Zusammenkunft  gewähren,  damit  sie  nicht  auch  verwandelt  werde. 
Sogleich  eilt  die  Kupplerin  zu  dem  Verliebten  und  benachrichtigt 
ihn  von  dem  Gelingen  ihres  Anschlags;  bald  sind  die  Frau  und  er 
bei  einander. 

Diese  Geschichte  ist  offenbar  mit  Somadevas  Erzählung  verwandt. 
Wahrscheinlich  geht  sie  mit  ihr  auf  eine  gemeinschaftliche  Quelle  zurück. 
Wieviel  Mittelglieder  aber  anzunehmen  sein  werden,  mufs  wohl  dahin- 
gestellt bleiben.  Vielleicht  war  es  Somadeva  selbst,  der  die  Geschichte 
vom  weinenden  Hündchen  mit  jener  vom  roten  Lotos**)  verschmolz;  zu 
letzterer  würde  die  Mehrzahl  der  Liebhaber,  welche  von  fem  herkommen, 
und  der  moralische  Schlufs  gehören.  Der  Verfasser  des  Sindibadnäme 
aber  oder  der  seiner  Vorlage  überliefert  sein  Vorbild  mit  ziemlicher 
Nachlässigkeit.  Er  erzählt  vielleicht  aus  dem  Gedächtnis.  Den  Gemahl 
der  Frau,  welcher  in  der  Geschichte  selbst  nicht  mitspielt,  läfst  er  ganz 
bei  Seite;  daher  bleibt  es  fortwährend  ungewifs,  ob  das  Weib  Frau 
oder  Mädchen  ist.  Ebensowenig  hat  er  behalten,  woraus  das  gewürzte 
Futter  bestand;  er  nennt  es  ganz  allgemein  Kuchen;  er  weifs  nicht,  ob 
es  aus  Fleisch  oder  Teig  bereitet  war.  Ungenau  berichtet  er  auch,  die 
Kupplerin  habe  sich  als  Priesterin  nur  verkleidet;  er  hat  sie  nämlich  bei 
dem  ersten  Besuche  als  Kupplerin,   die  aus  ihrem  Gewerbe  kein  Hehl 


*)  Im  englischen  Text  steht  bald  damsel,  bald  lady. 
**)  Vgl.  über  deren  Verbreitung  R,  Köhler  a.  a.  O. 


Untersuchung^en  zu  dem  mittelenglischen  Fabliau  ^^Dame  Siri7/^  231 

macht,  bei  der  Frau  eintreten  lassen.  —  Abgesehen  hiervon,  verläuft  aber 
die  Geschichte  wie  bei  Somadeva.  Der  Liebhaber  wendet  sich  an  die 
Kupplerin;  diese  gewinnt  zuerst  die  Dienerschaft,  dann  das  Vertrauen 
der  Herrin.  Sie  füttert  das  Hündchen  der  Frau  und  erzählt,  scheinbar 
widerwillig,  seine  Geschichte. 

IL  Diese  Abteilung  enthält  die  der  Zeit  nach  ältesten  Versionen 
der  „sieben  weisen  Meister";  wie  in  Somadeva  und  Sindibadname  fordert 
der  Liebhaber  die  Kupplerin  auf,  ihm  zu  helfen. 

Der  syrische  Text*)  hat  am  Anfang  eine  Lücke  und  erzählt 
folgendermafsen : 

festgesetzte  Zeit. 

Und  als  die  Zeit,  die  ihr  Mann  festgesetzt  hatte,  vorübergegangen 
war,  ging  sie  hinaus,  um  auf  den  Weg  zu  sehen.  Da  erblickte  sie  ein 
Mann,  gewann  sie  lieb,  und  wollte  mit  ihr  Umgang  haben.  Sie  aber 
willfahrte  ihm  nicht.  Da  gfing  der  Mann  zu  einer  alten  Frau,  die  neben 
jener  wohnte  und  erzählte  ihr  die  ganze  Geschichte.  Die  Alte  sprach: 
„Ich  will  dir  schon  zur  Erfüllung  deines  Wunsches  behilflich  sein  und 
sie  dir  ergeben  machen."  Dann  stand  sie  auf,  knetete  einen  Teig  mit 
Sauerteig,  that  viel  Pfeffer  hinein  und  bück  ihn.  Darauf  nahm  sie  ihre 
Hündin  und  kam  so  an  die  Tür  jener  Frau.  Als  sie  in  das  Haus  ge- 
treten war,  warf  sie  der  Hündin  ein  Stück  von  dem  Brote  hin,  und  als 
die  Hündin  das  gefressen  hatte,  traten  ihr  in  Folge  des  vielen  Pfeffers 
die  Tränen  in  die  Augen.  Die  Alte  setzte  sich  nun  zu  der  Frau  und 
fing  auch  an  zu  weinen.  Da  fragte  jene  Frau  die  Alte:  „Was  hast  du 
denn,  dafs  du  weinst  und  ebenso  deine  Hündin?**  Die  Alte  erwiderte: 
„Diese  Hündin  war  meine  Nachbarin ;  sie  war  sehr  schön  und  ein  junger 
Mann  liebte  sie;  sie  aber  wollte  nichts  von  ihm  wissen.  Weil  er  nun 
von  Liebe  zu  ihr  entbrannt  war,  rief  er  Gott  gegen  sie  an  und  sie  wurde 
eine  Hündin,  wie  du  siehst;  als  sie  sah,  dafs  ich  zu  dir  ging,  kam  sie 
mit  mir,  und  aus  Kummer  über  sie  weine  ich."  Als  die  junge  Frau 
diese  Worte  der  Alten  vernahm,  sprach  sie:  „Auch  mir  läuft  ein  junger 
Mann  nach  und  verlangt  sehr  nach  mir;  ich  aber  verlangte  nicht  nach 
ihm.  Nun  aber,  da  ich  deine  Hündin  sehe,  furchte  ich  mich  sehr  wegen 
dessen,  was  du  von  dem  in  eine  Hündin  verwandelten  jimgen  Mädchen 
sagst,  er  möchte  nun  Gott  gegen  mich  anrufen,  und  ich  eine  Hündin 
werden.     Mach  dich  auf,  geh  zu  dem  Manne  und  bringe  ihn  mir,  und 


*)  Baethgens  Übersetzung  ist  von  Herrn  Prof.  NAldeke  mit  dem  Text  genau  verglichen 
und  nur  da  geändert  worden,  wo  es  wirklich  von  Belang  war. 

16* 


232  Walther  Elsaer. 


was  du  wünschest,  will  ich  dir  geben."  Die  Alte  erwiderte:  „Wohlan, 
schmücke  dich  und  sei  vergnügt,  bis  ich  wiederkomme." 

Diesen  Text  übersetzt  Syntipas  weitschweifig  und  geschmacklos 
überladend,  aber  im  Ganzen  getreu.  „Wir  müssen  daher  annehmen,  dafs 
die  in  der  syrischen  Handschrift  verlorenen  Stellen  in  dieser  wesentlich 
so  standen,  wie  sie  Syntipas  giebt."*) 

Syntipas  berichtet: 

Es  war  ein  Weib,  das  mit  einem  Manne  in  rechtmäfsiger  Ehe  lebte. 
Als  dieser  einst  auf  Reisen  gehen  wollte  und  sein  Haus  verlassen,  bat 
sie  ihn  um  Gelöbnisse  und  Versprechungen;  desgleichen  er  auch  sie. 
Und  beide  versprachen  einander,  dafs  sie  das  Ehebündnis  unbefleckt 
erhalten  und  in  Ehrbarkeit  verharren  wollten  bis  zu  des  Mannes  Rück- 
kehr. Dann  setzte  der  Mann  dem  Weibe  eine  bestimmte  Zahl  von  Tagen 
fest;  „nach  diesen",  sagte  er  „werde  ich  nach  Hause  zurückkehren." 
Darum  als  dieser  Tage  Anzahl  abgelaufen  war,  trat  das  Weib  an  den 
Weg,  sie  spähte,  ob  ihr  Mann  schon  zu  sehen  wäre;  aber  sie  sah  ihn 
nicht.  Da  wurde  ein  Jüngling,  der  sie  sah,  von  Liebe  zu  ihr  ergriffen 
und  begann  darüber  sich  mit  ihr  zu  unterhalten.  Sie  aber  war  durchaus 
auf  keine  Weise  für  die  Liebes worte  empfänglich.  Der  Jüngling,  von 
Liebe  zum  Weibe  stark  verwundet,  ging  hin  zu  einer  Alten,  die  nahe 
dem  Hause  der  Geliebten  wohnte  und  sprach  zu  ihr  also :  „Als  ich  deine 
Nachbarin  sah,  wurde  ich  plötzlich  von  Liebe  zu  ihr  ergriffen,  und  strebte 
begierig  nach  Liebesumgang  mit  ihr ;  sie  aber  will  mich  auf  keine  Weise 
hören,  sondern  nimmt  noch  dazu  meine  Reden  übel  auf.  Wenn  du  nun, 
o  Mutter,  diese  beredest,  dafs  sie  meinen  Wünschen  Folge  leiste,  so  will 
ich  dir  schenken,  was  immer  du  begehren  mögst."     Als  die  Alte  diese 


*)  Herr  Prof.  Nöldeke,  der  mir  noch  folgende  Mitteilung  macht:  ^Ich  habe  einige  Kleinig- 
keiten in  der,  übrigens  recht  steifen,  Sengelmannschen  Übersetzung  nach  Eberhards  Ausgabe 
korrigiert.  Freilich  ist  es  sehr  unwahrscheinlich,  dafs  wir  uns  auf  letzteren  im  Detail  ver- 
lassen können,  z.  B.  ob  Präsens,  histor.  oder  Aorist,  u.  dgl.  Quisquilien. 

Die  Straisburger  Handschrift,  die  ich  mit  Eberhards  Text  verglichen  habe,  bietet  im 
Ausdruck  zahllose  Varianten,  keine  Zeile  ist  wie  im  Druck.  Durchweg  ist  die  Sprache 
viel  korrekter  und  nähert  sich  der  klassischen  mehr  als  in  der  Ausgabe.  Aber,  wenn  nicht 
Alles  täuscht,  steht  letztere  dem  ursprünglichen  Text  des  Andreopulos  weit  näher  und  ist  die 
bessere  Ausdrucksweise  unseres  Übersetzers  das  Resultat  einer  Bearbeitung  [nicht  aber 
etwa  von  Seiten  des  Kopisten,  der  Fehler  macht,  sondern  eines  Früheren],  So  halte  ich 
auch  die  Tilgfung  der  albernen  Epitheta  f&r  die  Frau  (welche  dazu  mit  dem  Sinn  der  Ge- 
schichte streiten,  da  die  Frau  an  sich  ja  nicht  zur  Untreue  Neigung  hat)  für  eine  allerdings 
gute  Korrektur;  Andreopulos  hat  diesen  Unsinn  gewifs  auf  seinem  Gewissen.  Übrigens  ist 
dies  die  einzige  sachliche  Abweichung  des  Codex  von  der  Ausgabe." 


Untersuchungen  zu  dem  mittelenglischen  Fabliau  ,,Dame  Siriz*'.  233 

Worte   hörte,    sagte   sie    zum    Jüngling:     „Ich    werde    die  junge    Frau 
bewegen,  deinen  Willen  zu  erfüllen."     Sowie  sie  dieses  gesagt,  steht  sie 
eilends  auf,  und  ordnet  mit  Schlauheit  an,   was  zu  thun  ist;   sie  nimmt 
nämlich  Gerste,  bereitet  dieselbe  mit  Wasser  zu  einem  Teige,  thut  hernach 
viel  Pfeffer  in  den  Teig  und  macht  so  einen  Brodaib  daraus.    Dann  backt 
sie  ihn,   nimmt  das  Brot  und  eine  Hündin,   die  sie  besafs,  mit  sich  und 
geht  zu  der  jungen  Frau.     Die  Hündin  lief  aber  der  Alten  immer  nach. 
Sobald  sie  sich  der  Wohnung  der  Geliebten  nähert,  wirft  sie  dem  Hünd- 
lein  ein  Stück  von  jenem  Brote  vor;  der  Hündin  aber  flössen  beim  Essen 
von  dem  Pfeflfer  die  Augen  über,   und  mit    tränenden  Augen  folgte  sie 
der  Alten.     Da  diese  zu  der  Geliebten  hineingeht,  sieht  die  Frau,  wie 
der  Hund  weint  und  Tränen  ihm  aus  den   Augen  fliefsen ;  sie  spricht  zu 
der  Alten:  „Was  ist  die  Ursache  von  der  Hündin  Tränen?"   Die  Alte  ant- 
wortete weinend  der  liebvernarrter  Weise  schönfrisierten  und  in  Sehn- 
suchtsschmachten    reichgeschmückten   Jungfrau:     „Diese  Hündin,  die  du 
siehst,  o  Grauaugenwimprige  mit  gefärbten  Lippen,  sie  war,  wehe!  meine 
Tochter;  ein  Jüngling  hatte  sie  lieb  gewonnen  und  wollte  sie  zum  Liebes- 
umgang zwingen;  sie  aber  wollte  in  keiner  Weise  ihm  Gehör  schenken. 
Der  junge  Mann  nun  voll  Unmuts  verwünschte  sie  mit  gekränktem  Herzen 
und  alsbald,  wehe!  wurde  sie  in   eine  Hündin  verwandelt.     So   oft  ich 
nun  von  Hause  fortgehen  wUl,  beginnt  sie  bitterlich  zu  weinen  und  läuft 
mir  nach."    So  sprach  das  kupplerische  Weib  unter  Tränen.     Die  junge 
Frau  aber,  bestürzt  von  dem,  was  sie  hörte  und  sah,  geriet  in  Furcht  und 
sprach  mit  pochendem  Herzen  zu  der  Alten:     „Ich  bin  durch  deine  Er- 
zählung sehr  beängstigt  worden,  denn  ein  Jüngling,  der  mich  sah,  als  ich 
zur  Tür  mich  hinausbog,  wurde  von  Liebe  zu  mir  gefesselt,  und  dem  nach 
Liebesumgang  mit  mir  stark  verlangenden,    schenkte    ich   nicht    Gehör. 
So  ängstige  ich  mich  nun,   dafs  ich  von  seiner  Verwünschung  Gleiches 
erdulden  möge  wie  deine  Tochter.     Mache  dich  deshalb  jetzt  auf,  gehe 
hin  und  wenn  du  ihn  findest,  so  führe  ihn  zu  mir,  so  will  ich  dich  ehren- 
voll belohnen.     Die  Alte  erwiderte:     „Ich  will,  so  ich  ihn  finde,   nach 
deinem  Willen  ihn  zu  dir  fuhren." 

Im  syrischen  Text  sind  demnach  zwei  Lücken,  die  grofse  am 
Eingang,  worin  von  dem  Treueversprechen  der  Ehegatten  die  Rede 
gewesen,  und  weiterhin  eine  kleinere,  welche  mit  der  an  die  Alte  ge- 
richteten Bitte  des  Liebhabers,  ihm  zu  helfen,  auszufüllen  wäre.  —  An 
Somadeva  erinnert  es,  dafs  die  Kupplerin  dem  Hündchen  die  PfefFer- 
speise  erst  in  oder  vor  der  Wohnung  der  Frau  reicht.     Diese  (Speise) 


234  Walther  Eisner. 


bereitete  sie  dort  aus  Fleisch,  hier  nimmt  sie  dazu  Brot.  Dort  nannte 
sie  das  Hundchen  Freundin,  im  Syrer  heifst  sie  es  Nachbarin,  im  Syntipas 
Tochter.  —  Ein  hübscher  Zug  des  Syrers  ist  von  Syntipas  scheinbar  ver- 
loren worden.  In  jenem  tritt  die  Alte  schon  weinend  bei  der  Frau  ein, 
so  dafs  diese  mitleidig  fragt:  „warum  weinst  du  und  deine  Hündin?^* 
Im  Syntipas  kann  die  Frau  nur  Neugier  zeigen,  denn  die  Alte  weint 
erst  in  Folge  von  deren  Frage:  warum  weint  das  Hündchen? 

Fast  völlige  Übereinstimmung  mit  diesen  Versionen  zeigt  der  Spanier. 
Nicht  immer  tritt  sie  jedoch  deutlich  hervor.  Die  spanische  Erzählung 
lautet  nach  Comparettis  Text  des  Libro  de  los  Enganos: 

Herr,  ich  hörte  sagen,  dafs  ein  Mann  und  seine  Frau  einen  Vertrag 
schlössen  und  sich  Treue  gelobten,  und  der  Gatte  setzte  einen  Termin 
fest,  an  dem  er  wiederkommen  wolle,  und  er  kam  nicht  Und  es  geschah, 
dafs  sie  an  den  Weg  ging;  während  sie  dort  stand,  kam  ein  Mann 
daher,  sah  sie  und  verliebte  sich  in  sie  und  bat  sie  um  ihre  Gegen- 
liebe; sie  aber  wollte  in  keiner  Weise  ihm  willfahren.  Hierauf  begab  er 
sich  zu  einer  Alten,  welche  in  der  Nähe  jener  Frau  wohnte  und  erzählte 
ihr  alles,  was  ihm  mit  jener  Frau  begegnet  war  und  bat  sie,  ihm  zu  deren 
Liebe  zu  verhelfen;  er  werde  ihr  geben,  was  sie  verlange.  Und  die 
Alte  versprach  ihm  ihre  Hilfe.  Sie  begab  sich  in  ihr  Haus,  nahm  Honig, 
Teig  und  Pfeffer,  mengte  alles  zusammen  und  bück  es.  Darauf  ging  sie 
in  das  Haus  der  Frau,  lockte  ihre  Hündin  und  gab  ihr  von  dem  Brote, 
doch  so,  dafs  die  Frau  es  nicht  gewahr  wurde.  Sobald  die  Hündin  es 
gefressen  hatte,  lief  sie  zu  der  Alten  und  schmeichelte  ihr,  dafs  sie  ihr 
noch  mehr  gebe,  und  Tränen  flössen  wegen  des  Pfeffers  aus  ihren 
Augen,  der  in  dem  Brot  gewesen  war.  Als  die  Frau  dies  sah,  wunderte 
sie  sich  darüber  und  sagte  zu  der  Alten :  „Meine  liebe  Freundin,  sahst  du 
jemals  eine  andere  Hündin  weinen,  wie  diese?"  Die  Alte  erwiderte: 
„Du  hast  Recht;  die  Hündin  war  ein  sehr  schönes  Weib  und  sie  wohnte 
hier  bei  mir,  und  ein  Mann  verliebte  sich  in  sie,  doch  sie  kümmerte  sich 
nicht  um  ihn;  da  verwünschte  dieser  Mann  sie,  die  er  liebte,  und  sie  ver- 
wandelte sich  sogleich  in  diese  Hündin,  und  wenn  sie  mich  sieht,  erinnert 
sie  sich  noch  daran  und  beginnt  zu  weinen".  Darauf  sagte  die  Frau: 
„Oh,  ich  Arme!  was  soll  ich  thun?  Neulich  sah  mich  ein  Mann  auf  der 
Strafse  und  bat  mich  um  meine  Liebe,  doch  ich  wollte  nicht.  Daher 
habe  ich  jetzt  Furcht,  dafs  ich  mich  in  eine  Hündin  verwandele,  wenn 
er  mich  verfluchte;  darum  geh  und  bitte  ihn  an  meiner  Statt;  ich  werde 
ihm  geben,  was  er  wünscht."  Die  Alte  erwiderte:  „Ich  will  ihn  zu  dir  bringen." 


Untersuchungen  zu  dem  mittelenglischen  Fabliau  ,,Dame  Sirix*'.  •  235 

Diese  Geschichte  ist  recht  ungeschickt  erzählt  Aber  auch  auf  die 
Rechnung  des  Abschreibers  sind  einige  Fehler  zu  setzen.  So  steht  am 
Eingange:  „et  el  marido  puso  plaso  ä  que  viniese  et  non  vino  ä  el," 
wo  es  heifsen  soll:  „der  Gatte  setzte  einen  Termin  fest,  an  dem  er 
wiederkommen  wollte,  und  er  kam  nicht/^ 

Dagegen  fallt  ein  andrer  Fehler  dem  Erzähler  zur  Last.  Beim  An« 
hören  der  folgenden  Erzählung:  „eston^e  fue  ä  una  vieja  que 
morava  cerca  della  et  contögelo  todo  como  le  conteciera  con 
aquella  muger  et  rrogole  que  gela  fisiese  aver  et  quel,  daria  quanto 
quisiese.  Et  la  vieja  dixo  queP  plasie  et  que  gela  faria  aven  Et  la 
vieja  fuese  ä  su  casa  .  .  .",  werden  wir  verwundert  fragen,  wo  denn 
die  Alte  war,  als  der  Liebhaber  zu  ihr  kam.  Ebenso  bleibt  unklar,  wem 
die  Hündin  gehört;  es  heifst:  „eston^e  fuese  para  su  casa  daquella  muger; 
et  llamö  una  periUa  que  tenie  et  echöle  d'aquel  pan  en  guisa  que  non 
lo  viese  la  muger/' 

Merkwürdig  ist  ein  Zusatz  des  Spaniers;  er  allein  bereitet  die  Kuchen, 
welche  das  Hündchen  fressen  mufs,  mit  Honig.  0£fenbar  und  mit  Recht 
empfand  er  Bedenken,  ob  der  Leser  seiner  Geschichte  glauben  würde, 
dafs  der  Hund  einfaches  Pfefferbrod  gefressen  hätte;  deshalb  stellte  er 
einen  regelrechten  Pfefferkuchen  her.  Wir  werden  sehen,  wie  spätere 
Bearbeiter  sich  über  diesen  Punkt  hinweghelfen. 

Die  Hündin  selbst  ist  wie  bei  dem  Syrer  eine  schöne  Nachbarin 
gewesen;  Syntipas*  „Tochter"  dürfte  also  wohl  eigene  Erfindung  sein. 
Dagegen  schildert  auch  der  Spanier  die  Frau  nur  neugierig;  sie  ist  nicht 
auch  mitleidig  wie  beim  Syrer. 

In  der  IIL  Abteilung  sollen  zuerst  die  drei  Versionen  der  „sieben 
Veziere"  betrachtet  werden. 

Mit  den  Abteilungen  I  und  II  vereinigt  sie  dasselbe  Motiv,  das  diese 
beiden  aneinander  fesselt.'^) 

Mit  n  haben  sie  jenes  Motiv  der  persönlichen  Werbung  gemein; 
scheinbar  fehlt  es  in  einer  der  Versionen,**)  doch  ist  entweder  deren 
Text  verderbt  oder  deren  Darstellung  des  Verlaufes  der  Geschichte 
fehlerhaft.     Diese  lautet,  wie  folgt: 

Es  war  einmal  eines  Kaufmanns  Sohn,  welcher  ein  schönes  Weib 
hatte,  und  es  geschah,  dals  ein  Wüstling,  der  sie  zufallig  sah,  sich  in  sie 


*)  Vgl.  p.  231. 

**)  Es  ist  der  Bengralen-Tezt,  vergl.  p.  338  Anmerk.  i. 


236  Waltber  Eisner. 


verliebte.  Während  der  Gatte  auf  einer  Geschäftsreise  fern  von  Hause 
war,  begab  sich  der  Liebhaber  zu  einer  Alten  aus  der  Nachbarschaft, 
welche  jene  Frau  gut  kannte,  und  erzählte  ihr  von  seiner  Leidenschaft, 
indem  er  für  ihre  Hilfe  zehn  Dinare  bot  Das  listige  alte  Weib  besuchte 
darauf  mehrmals  die  Kaufmannsfrau  und  nahm  stets  eine  kleine  Hündin 
mit.  Eines  Tages  ersann  sie  folgende  List.  Sie  knetete  Mehl  und  zer- 
hacktes Fleisch  mit  einer  tüchtigen  Menge  PfefiFer  in  einen  Teig,  und 
drückte  ihn  in  den  Schlund  der  Hündin  herab,  welche,  sobald  der  Pfeffer 
ihre  Eingeweide  erhitzte,  nasse  Augen  bekam,  wie  von  Tränen.  Als 
die  Kaufmannsfrau  dies  bemerkte,  sagte  sie  zu  der  Alten:  „Gute  Mutter, 
diese  Hündin  folgt  dir  immer  und  sieht  aus,,  als  ob  sie  weint.  Wie 
kommt  das?**  Jene  erwiderte:  „Teure  Herrin,  mit  dieser  Hündin  ist  es 
eine  eigene  Sache;  sie  war  nämlich  früher  ein  schönes  Mädchen,  gerade 
wie  der  Buchstabe  Aleph,  und  beschämte  die  Sonne  mit  ihrer  strahlenden 
Schönheit.  Ein  jüdischer  Zauberer  verliebte  sich  in  sie,  den  sie  ver- 
schmähte; als  er  daran  verzweifelte  sie  zu  gewinnen,  war  er  zornig  und 
verzauberte  sie  in  eine  Hündin  wie  du  siehst.  Sie  war  meine  Freundin, 
und  ich  liebte  sie,  sodafs  sie  in  ihrer  neuen  Gestalt  mir  überall  zu  folgen 
pflegt,  denn  ich  habe  sie  stets  gefuttert  und  Sorge  für  sie  getragen  um 
unserer  Freundschaft  willen.  Sie  weint  oft,  wenn  sie  über  ihr  unglück- 
liches Loos  nachdenkt.**  Als  die  Kaufmannsfrau  dies  hörte,  zitterte  sie 
für  sich  selbst  und  sagte:  „Ein  Mensch  hat  mir  seine  Liebe  gestanden, 
und  ich  wollte  seine  verbrecherische  Leidenschaft  nicht  befriedigen,  du 
aber  hast  mir  bange  gemacht  mit  der  Geschichte  von  diesem  unglück- 
lichen Mädchen,  sodafs  ich  fürchte,  er  möchte  mich  auch  verwandeln.*' 
„Liebe  Tochter**  versetzte  die  Alte,  „ich  bin  deine  Freundin  und  rate 
dir,  dafs  du,  wenn  irgend  jemand  dir  seine  Liebe  gesteht,  ihn  erhörest." 
Darauf  fragte  die  Frau:  „Wie  soll  ich  meinen  Liebhaber  finden?**  worauf 
die  Alte  antwortete:  „Um  deines  Friedens  und  der  Liebe  willen,  die  ich 
für  dich  empfinde,  wie  aus  Furcht,  dafs  du  verwandelt  werden  könntest, 
will  ich  mich  aufmachen,  ihn  zu  suchen.**  — 

Diese  Geschichte  ist  lückenhaft  überliefert.  Eingangs  wird  nur  davon 
berichtet,  dafs  der  Liebhaber  die  Frau  gesehen  und  sich  in  sie  verliebt 
habe.  Weiterhin  aber  erzählt  die  junge  Frau  der  Kupplerin,  einen  Jüng- 
ling, der  ihr  seine  Liebe  gestanden,  habe  sie  abgewiesen.  Demnach  fehlt 
am  Eingange  offenbar  ein  Satz,  welcher  die  Erzählung  von  der  vergeb- 
lichen Werbung  des  Liebhabers  enthielt. 

Der  Verlust  von  zwei  weiteren  Bindegliedern  ist  nicht  minder  bemerk- 
Uch.     Einerseits  fehlt  die  Vermittlung  zwischen:  „the  youth  went  to  an  old 


Untersuchungen  zu  dem  mittelenglischen  Fabliau  ,)Dame  Siriz*'.  237 

woman  of  the  neighbourhood  and  disciosed  to  her  bis  passion,  offering 
ber  ten  dinars  for  ber  assistance,  .  .  .'*  und  „tbe  cunning  old  woman  went 
several  times  to  visit  tbe  mercbant's  wife".  Man  vermifst  eine  Wendung, 
mit  welcber  die  Alte  ibre  Hilfe  zusagt. 

Im  Verlaufe  der  folgenden  Erzäblung  feblt  die  Angabe,  dafs  die  Alte, 
sobald  sie  das  Hündcben  gefuttert  bat,  die  junge  Frau  besucbt.  Es  stebt 
nur:  „sbe  forced  tbe  cake  down  tbe  animal's  tbroat  and  wben  tbe  pepper 
began  to  beat  ber  stomacb,  ber  eyes  became  wet  as  if  witb  tears.  Tbe 
mercbant*s  wife  observing  tbis,  said:  „My  good  motber,  tbis  dog  daily 
follows  you  and  seems  as  if  sbe  wept.     Wbat  can  be  tbe  cause?" 

Durcb  diese  Lücken  giebt  sieb  der  vorliegende  Bengalen -Text  als 
eine  scblecbt  besorgte  Abschrift  zu  erkennen;  in  der  Tbat  ist  seine  Vor- 
lage vorbanden.  Es  ist  der  von  Habicht  und  Fleischer  herausgegebene 
Text  von  Tunis,  der  obige  Fehler  vermeidet.  Dieser  ist  gleichfalls  die 
Quelle  für  den  von  Bulak,  der,  soweit  die  Übersetzung  in  die  moderne 
Sprache  ein  Urteil  darüber  zuläfst,  ihm,  mit  bedeutenden  eigen- 
mächtigen Erweiterungen,  treu  folgt.  Der  Bengalen -Text  sondert 
sich  aber  von  diesen  beiden  Versionen  dadurch,  dafs  die  Frau 
genau  so  wie  bei  Somadeva  Gattin  eines  Kaufmanns  ist,  der  eine 
Geschäftsreise  macht,  und  die  Alte  ähnlich  wie  bei  Somadeva  dem 
Hündchen  Fleisch  reicht.  Der  Liebhaber^  von  dem  sie  erzählt,  ist 
ein  jüdischer  Zauberer. 

Der  folgende  Text  ist  der,  welchen  Habicht  und  Fleischer  ediert 
haben;  in  Parenthesen  sind  an  ihrer  Stelle  die  Erweiterungen  des  Textes 
von  Bulak  beigefugt. 

Es  war  einmal  eine  überaus  schöne  Frau;  die  liebte  ein  Wüstling, 
da  er  sie  einmal  gesehen  hatte ,  sein  Herz  hing  an  ihr  und  er  begehrte 
ihrer.  Die  Frau  aber  hatte  keine  Lust  dazu,  Unrecht  zu  begehen.  Als 
nun  ihr  Gatte  einst  zu  irgend  einem  Zweck  verreiste,  suchte  der  Wüstling 
ein  altes  Weib  auf,  das  nahe  beim  Hause  jener  jungen  Frau  wohnte.  Er 
trat  dann  zu  ihr  ein  und  klagte  ihr,  wie  es  ihm  gebe,  wie  es  ihm  die 
Schönheit  der  jungen  Frau  antbue,  und  dafs  er  begehre,  sich  ihr  zu  nahen. 
Da  sagte  ihm  die  Alte:  „ich  verbürge  dir's,  dafs  du  dich  ihr  nahen  wirst, 
und  will  dir  zur  Erfüllung  deines  Wunsches  verhelfen  [so  Gott  will!  Bul.]." 
Darauf  gab  ihr  der  Wüstling  viel  Silbergeld  [ein  Goldstück.  Bul.]  und  ging 
seiner  Wege.  Sofort  stand  die  Alte  auf,  ging  zu  der  jungen  Frau  und 
erneuerte  die  Bekanntschaft  mit  ihr.  [Die  Alte  besuchte  sie  jeden  Tag, 
afs  zu  Morgen  und  Abend  bei  ihr  und  nahm  sich  von  ihr  etwas  zu  essen 


S38  Walther  Blsner. 


für  ihre  Kinder  mit.  Die  Alte  betörte  sie  so,  dafs  sie  sie  endlich  ganz 
verdarb  und  sie  keinen  Augenblick  ohne  sie  leben  konnte.  Nachdem 
nun  die  Alte  eines  Tages  von  der  Frau  fortgegangen  war,*)  —  sie  pflegte 
Brot  zu  nehmen,  dahinein  Pfeffer  und  Fett  zu  thun  und  das  längere  Zeit 
einer  Hündin  zu  fressen  zu  geben;  die  Hündin  lief  ihr  da  wegen  der  zärt- 
lichen Fürsorge  und  Wohlthat  nach;  da  nahm  sie  eines  Tages**)  viel 
Pfeffer  und  Fett  und  gab's  ihr  zu  fressen.  Als  sie  es  gefressen,  tränten 
ihr  die  Augen  von  der  Hitze  des  Pfeffers.  Dann  folgte  ihr  die  Hündin 
weinend:  da  wunderte  sich  die  junge  Frau  über  sie  gar  sehr  und  sprach: 
O,  Mutter,  .  .  etc.] 

Nun  war  in  dem  Quartier  eine  Hündin,  der  pflegte  die  Alte  Liebes- 
werke zu  thun,  indem  sie  sie  mit  den  Resten  der  Brotstücke  fütterte, 
sodafs  sie  sich  an  sie  gewöhnte,  sie  kannte  und  ihr  nachlief.  Da  wandte 
die  Alte  eine  List  an.  Sie  nahm  Sauerteig,  that  Fett  und  viel  Pfeffer 
hinein  und  gab  das  der  Hündin  zu  fressen.  Dann  ging  sie  nach  der 
Wohnung  der  jungen  Frau;  die  Hündin  folgte  ihr,  während  ihr  die  Augen 
von  dem  Pfeffer  tränten,  den  sie  gefressen  hatte.  Die  Alte  ging,  bis 
sie  in  der  Wohnung  der  jungen  Frau  war:  die  Hündin  folgte  ihr.  Als 
nun  die  junge  Frau  sah,  wie  der  Hündin  die  Tränen  aus  den  Augen 
flössen,  wunderte  sie  sich  darob  und  sprach:  „Mutter,  wie  kommt's,  dals 
dir  diese  Hündin  immer  folgt,  und,  wie  ich  sehe,  dabei  weint  und  ihre 
Tränen  fliefsen?"  Sie  sprach:  „Wisse',  o  Herzliebchen,***)  dafe  es  mit 
dieser  Hündin  eine  eigene  Sache  ist;  willst  du*s,  so  erzähle  ich's  dir." 
„Ja  wohl,**  antwortete  sie  und  beschwor  sie  darum.  So  sagte  denn  die 
Alte:  „Wisse,  dafs  diese  Hündin  eine  junge  Frauf)  war,  schön  wie  die 
strahlende  Sonne;  ein  Christ  [ein  Jüngling  in  der  Straise.  Bul.]  liebte  sie 
[Bul.  (führt  weitläufiger  seine  Liebesnot  aus,  durch  die  er  ans  Bett  gefesselt 
ward).  —  Da  sprach  ich:  „o,  meine  Tochter,  folge  ihm  in  Allem,  was 
er  dir  sagt,  erbarme  dich  seiner  und  sei  zärtlich  gegen  ihn.^  Sie  aber 
nahm  meinen  Rat  nicht  an.  Als  dann  die  Geduld  des  Jünglings  zu  Ende 
war,  klagte  er  es  einigen  seiner  Genossen,  die  veranstalteten  einen  Zauber 
und  verwandelten  sie.  ff)]  und  trachtete  nach  ihr,  sie  aber  wies  ihn  ab. 


*)  Hier  g^erät  der  Text  io  Verwirrung. 

**)  Hier  wird  das  obere  „^nes  Tages  "^  wieder  aufgenominen ;  zwischenein  ist  geseigt 
worden,  dals  der  Hund  nach  und  nach  an  die  Pfefferkost  gewöhnt  wurde. 

•*♦)  Wörtlich  „Begehr  des  Herzens«. 

f)  Ob  Frau  oder  ein  junges  Mädchen,  ist  nicht  genau  zu  unterscheiden. 

ft)  Hier  wird  noch  erzählt,  wie  sich  die  Hflndin  der  Alten  anhängt;  diese  hält  ihr 
vor,  dafs  sie  ihrem  Rat  nicht  gefolgt  sei. 


Untersuchungen  zu  dem  mittelenglischen  Fabliau  ,,Dame  Siriz**.  239 

/■  ■  ■  — 

Als  er  nun  die  Hofihung,  sie  zu  erhalten  aufgab,  verzauberte  er  sie  und 
machte  sie  zu  einer  Hündin,  wie  du  siehst.  Sie  war  meine  Bekannte 
und  Freundin,  so  liebe  ich  sie  denn  und  futtere  sie  dessentwegen,  und 
wenn  sie  mich  sieht,  weint  sie,  als  ob  sie  mir  ihren  Zustand  klagte." 
Da  sprach  die  junge  Frau:  „O  Tante,  ein  Mann  liebt  mich;  ich  will 
und  kann  kein  Unrecht  begehen;  aber  nun  hast  du  mich  durch  die  Er- 
zählimg  der  Geschichte  von  dieser  jungen  Frau  bange  gemacht;  ich 
furchte,  er  möchte  mich  verzaubern."  „O,  Tochter,"  sprach  die  Alte, 
„ich  rate  dir  gut  und  bin  zärtlich  gesinnt  gegen  dich;  so  Einer  das  von 
dir  will,  so  wehre  dich  nicht  gegen  ihn,  denn  der  ist  verständig,  welcher 
sich  durch  das  Schicksal  Anderer  warnen  läfst.  [Wenn  du  seine  Wohnung 
nicht  kennst,  so  beschreibe  ihn  mir  wenigstens,  dann  hole  ich  ihn  dir; 
lafs  ja  nicht  das  Herz  eines  Andern  sich  um  deinetwillen  aufreiben." 
Da  beschrieb  sie  ihn  ihr;  die  aber  that  ganz  so,  als  kennte  sie  ihn  nicht 
und  sprach  dann:  „Ich  will  au&tehen  und  nach  ihm  fragen."  Als  sie  die 
Frau  verlassen  hatte,  ging  sie  zu  dem  Jüngling  und  sprach  zu  ihm:  „Sei 
getrost  und  guter  Dinge;  ich  habe  den  Verstand  der  jungen  Frau  betört. 
Morgen  Mittag  bist  du  da  und  wartest  auf  mich  am  Eingang  der  Strafse, 
dann  nehme  ich  dich  nach  ihrer  Wohnung  und  du  vergnügst  dich  bei 
ihr  den  Rest  des  Tages  und  die  ganze  Nacht  hindurch."  Da  freute  sich 
der  Jüngling  gar  sehr  und  gab  ihr  zwei  Goldstücke,  dann  sagte  er  zu 
ihr:  „Wenn  ich  meinen  Zweck  erreiche,  geb*  ich  dir  zehn  Goldstücke." 
Darauf  kehrte  sie  zu  der  jungen  Frau  zurück  und  sprach  zu  ihr:  „Ich 
hab'  ihn  erkannt  und  mit  ihm  über  die  Sache  gesprochen;  da  fand  ich 
ihn  aber  sehr  zornig  auf  dich  und  Willens  dir  zu  schaden;  jedoch  habe 
ich  ihn  endlich  begütigt  und  dazu  vermocht,  dafs  er  morgen  ums  Mittags- 
gebet da  sein  wül."  Da  freute  sich  die  junge  Frau  gar  sehr  und  sprach: 
„O,  Mutter,  wenn  er  begütigt  ist  und  am  Mittag  zu  mir  kommt,  geb*  ich 
dir  zehn  Goldstücke."  Da  sprach  die  Alte:  „Wisse,  dafs  nur  ich  die 
Ursache  bin,  dafs  er  kommt."  Am  andern  Morgen  sagte  die  Alte:  „Nun 
besorge  das  Essen,  schmücke  dich  und  kleide  dich,  so  schön  du  kannst, 
dann  gehe  ich  zu  ihm  und  hole  ihn  dir."  Da  schmückte  sie  sich  sofort, 
und  bereitete  das  Mahl.  Die  Alte  aber  ging  aus,  den  Jüngling  zu  er- 
warten.] Da  sagte  die  junge  Frau:  „so  will  ich  heute  Abend  ein  Mahl 
zurichten  und  Wein  besorgen  und  ich  mache  dich  zu  meiner  Botin  an 
ihn."  Und  als  die  Alte  sagte :  „Ich  kenne  den  Mann  aber  nicht,"  beschrieb 
sie  ihr  ihn,  während  jene  that,  als  kannte  sie  ihn  nicht.  Als  sie  dann 
endlich  sagte:    „Ja,  nun  kenne  ich  ihn,"   sprach  die  junge  Frau:     „So 


240  Walther  Eisner. 


geh  hinaus  und  suche  ihn,"  Darauf  verliefs  sie  sie,  froh  darüber,  ihren 
Zweck  erreicht  zu  haben. 

Die  Erzählung  in  Habichts  Übersetzung  weicht  von  der  in  seiner 
Ausgabe  des  tunesischen  Textes  so  bedeutend  ab,  dafs  die  irrige  Ver- 
mutung entsteht,  die  Übersetzung  beruhe  auf  einer  anderen  Redaktion 
des  Textes  und  diese  sei,  wie  eine  Unklarheit  in  der  Darstellung  der 
Szene  zwischen  der  Frau  und  der  das  Hündchen  mitbringenden  Kupplerin 
beweise,  aus  derjenigen,  welche  in  Habichts  Ausgabe  steht,  abgeleitet. 
Versicherte  Habicht  doch,  dafs  es  eine  treue  Übersetzung  wäre.  Er 
hat  aber  die  Erzählung  verkürzt  und  dabei  Änderungen  vorgenommen. 
Denn  der  Liebhaber  geht  noch  vor  der  Abreise  des  Gemahls  zu  der 
Kupplerin  und  diese  knüpft  mit  der  Frau  Bekanntschaft  erst  an,  statt  sie 
zu  erneuern.     Die  Geschichte  lautet  in  Habichts  Übersetzung: 

Ein  junger  Mann  sah  eine  Frau  von  aufserordentlicher  Schönheit.  Da 
er  indes  bemerkte,  dafs  die  Frau  von  ihm  nichts  hören  wollte,  so  wandte 
er  sich  an  eine  alte  Frau,  der  er  alles  entdeckte  und  die  ihm  sogleich 
versprach,  seinen  Wünschen  behilflich  zu  sein.  Eines  Tages  verreiste 
der  Mann  dieser  schönen  Frau  und  diesen  Zeitpunkt  benutzte  die  Alte, 
um  zu  ihr  zu  gehen  und  mit  ihr  Bekanntschaft  anzuknüpfen.  Sie  hatte 
eine  Hündin  an  sich  gewöhnt,  und  zwar  dadurch,  dafs  sie  ihr  oft  etwas 
zu  fressen  gab.  Diese  Hündin  nahm  sie  jedesmal  mit  sich  zu  der  schönen 
Frau.  Eines  Tages  aber  hatte  diese  Alte  einen  Teig  bereitet,  worin  sie 
Fett  und  sehr  viel  Pfeffer  gethan  hatte,  und  gab  diesen  der  Hündin  zu 
fressen.  Hierauf  ging  sie  zu  der  jungen  Frau,  wohin  ihr  die  Hündin  wie 
gewöhnlich  folgte.  Da  nun  aber  der  viele  Pfeffer  seine  Wirkung  that 
und  ihr  die  Augen  von  Tränen  überliefen,  so  fragte  sie  die  Alte,  woher 
es  käme,  dafs  die  Hündin  ihr  immer  nachliefe  und  immer  weinte.  „Ach,** 
sagte  die  Alte,  „es  hat  sich  mit  jener  Hündin  etwas  Sonderbares  zuge- 
tragen. Sie  war  nämlich  einst  eine  sehr  schöne  Frau  und  ein  Christ 
wurde  in  sie  verliebt  und  hielt  um  sie  an.  Sie  verweigerte  ihm  aber  ihre 
Hand,  und  da  er  alle  Hoflfnung  verlor,  sie  zu  besitzen,  verwandelte  er 
sie,  wie  du  siehst  in  eine  Hündin.  Sie  war  meine  vertraute  Freundin, 
daher  liebe  und  pflege  ich  sie  jetzt;  sie  kann  mich  nicht  sehen,  ohne  zu 
weinen,  wodurch  sie  mir  gleichsam  ihren  Zustand  klagt/'  „Ach,"  sagte 
die  junge  Frau,  „liebe  Alte,  ich  kenne  auch  einen  jungen  Mann,  der  mich 
liebte;  ich  habe  ihn  aber  nicht  erhören  wollen.  Du  aber  machst  mir  vor 
ihm  Furcht,  dafs  er  mich  auch  wohl  bezaubern  könnte."  „Du  hast  ganz 
Recht,"  erwiderte  die  Alte,  „es  ist  sehr  möglich,  dafs  er  es  thun  könnte. 


Untersuchungen  zu  dem  ooittelenglischen  Pabliau  „Dame  Siriz.*^  341 


Ich  rate  es  dir  als  Freundin,  wenn  dich  jemand  um  deine  Liebe  bittet,  sie 
ihm  nicht  abzuschlagen.  Kennst  du  nicht  das  Sprüchwort:  der  Vernünftige 
nimmt  sich  ein  Beispiel  am  Andern?"  „Wohl,"  sagte  die  junge  Frau,  „ich 
werde  jetzt  sogleich  Speise  und  Trank  zurecht  machen  und  dich  bitten, 
ihn  zu  holen."  Da  sich  aber  die  Alte  stellte,  als  ob  sie  ihn  nicht  kenne,  so 
mufste  sie  ihr  vorher  genau  seine  Wohnung  beschreiben.  Die  Alte  begab 
sich  nunmehr  auf  den  Weg  und  suchte  den  Mann  auf.  — 

Der  ebräische  Text  der  Geschichte  im  Sendebar,  nimmt  sich 
wie  ein  buntes  Gemisch  von  Motiven  aller  bisher  besprochenen  Versionen 
aus.     Die  Geschichte  lautet  hier: 

Es  war  ein  Kaufmann,  der  hatte  ein  schönes  und  bescheidenes  Weib, 
das  liebte  er  sehr  und  er  sprach  zu  demselben :  „Siehe,  ich  gehe  auf  eine 
weite  Reise;  so  schwöre  mir  denn  nun,  dafs,  wenn  ich  sterben  sollte,  du 
nicht  wieder  heiraten  willst,  und  wenn  du  stirbst,  so  will  auch  ich  kein 
ander  Weib  nehmen."  So  schwuren  Mann  und  Weib  und  es  ging  der 
Mann  auf  seine  Reise.  Sie  aber  salbte  und  badete  sich  nicht  von  diesem 
Tage  an,  trat  auch  nicht  einmal  vor  ihres  Hauses  Tür.  Da  ging  eines 
Tages  eine  Braut  durch  die  Strafse  der  Stadt  unter  Gesang  und  Spiel; 
das  Weib  aber  sah  hinaus  durchs  Fenster.  So  sah  sie  ein  Jüngling  und 
verliebte  sich  in  sie  und  verfiel  in  eine  Krankheit  vor  grofser  Liebessehn- 
sucht. Zu  ihm  kam  eine  Alte,  ihn  zu  besuchen;  die  sprach  zu  ihm:  „Sage 
mir,  was  fehlt  dir?  Vielleicht  kannst  du  durch  meine  Hilfe  genesen."  Er 
antwortete:  „Ein  Weib  liebe  ich,  verhilf  mir  zum  Besitze  desselben,  so  sollst 
du  Geschenke  von  mir  haben."  „Das  übernehme  ich,"  erwiderte  die  Alte, 
ging  hin  und  fing  mit  List  es  an;  denn  sie  wufste,  dafs  sie  sonst  über 
den  Willen  jener  nichts  vermochte.  Sie  nahm  einen  Teig,  knetete 
Knoblauch,  Pfeffer  und  Butter  hinein  und  setzte  ihn  ihrer  Hündin  vor. 
Die  Hündin  frafs  und  es  gefiel  ihr  und  sie  folgte  der  Alten  nach.  Diese 
ging  in  das  Haus  jener  jungen  Frau  mit  der  Hündin  hinter  sich.  Das 
Weib  aber  erhob  sich,  nahm  die  Alte  ehrenvoll  auf  und  setzte  ihr  zu 
essen  vor.  Die  Hündin  aber  stand  ihr  zur  Seite  und  sah  mit  Begier  zur 
Alten  hinauf,  dafs  sie  ihr  wieder  etwas  von  dem  Teige  gäbe;  ihre  Augen 
aber  tränten  von  des  Knoblauchs  und  des  Pfeffers  Hitze.  Die  Alte  fing 
an  zu  weinen  und  die  junge  Frau  fragfte  sie:  „Warum  weinst  du?" 
„Meine  Tochter,"  erwiderte  jene,  „sieh!  diese  Hündin  war  eine  sehr 
schöne  Maid;  sie  liebte  ein  Jüngling.  Da  diesem  das  Mädchen  kein  Gehör 
schenkte,  so  sank  er  vor  Liebe  zu  ihr  aufs  Krankenlager  und  rief  zu 
seinem  Gott  um  ihretwegen  und  dieser  verwandelte  das  Mädchen  in  eine 
Hündin.     Jedes  Mal  nun,  wenn  sie  mich  sieht,  läuft  sie  unter  Weinen  mir 


242  Walther  Elsner. 


nach,  ich  kann  jedoch  nichts  dazu  thun,  sie  weint  aber  deshalb,  weil  sie 
jenem  seinen  Willen  nicht  erfüllt  hat."  Da  sprach  jene:  „Liebe  Frau, 
auch  mich  liebt  ein  Jüngling,  und  ist  um  meinetwillen  aufs  Lager  gesunken, 
thue  mir  nur  den  Gefallen,  führe  ihn  zu  mir,  dafs  ich  ihm  seinen  Wunsch 
erfülle;  ich  will  dir  auch  Geschenke  geben,  dafs  es  mir  nur  nicht  ergehe 
wie  dieser  Hündin."  — 

Am  bemerkenswertesten  scheint  es,  dafs  diese  Geschichte  wie  die 
des  Bengalen -Textes  die  Lücke  am  Eingange  besitzt  (in  welcher  die  Ab- 
weisung der  Liebeswerbung  gestanden  hat)  und  den  Gatten  als  Kaufmann 
bezeichnet.  Vielleicht  nicht  ganz  zufallig  nennt  die  Alte  im  Bengalen  -Text 
den  Liebhaber  ihrer  Tochter  einen  jüdischen  Zauberer;  der  Text  be- 
nutzte wohl  eine  ebräische  Version  des  Sendebar. 

Zu  Abteilung  11  stellt  sich  die  Geschichte  aufser  durch  das  (Seite 
229  erwähnte)  Merkmal  des  einmaligen  Besuches  der  Kupplerin,  durch 
den  Besitz  des  Treuversprechens  der  Ehegatten  beim  Abschied  von  ein- 
ander, und  durch  die  Art  des  Fluches,  den  der  Liebhaber,  der  Erzählung 
der  Alten  zufolge,  ausspricht 

Nur  eine  Vermittlung  wäre  denkbar;  die  soeben  genannten  Motive 
sind  nicht  Eigentum  der  II.  Abteilung  allein,  sondern  der  ursprünglichen 
Version  der  „sieben  weisen  Meister**.  Aus  dieser  stammt  nunmehr  aufser 
dem  Syrer,  Spanier  und  den  „sieben  Vezieren"  ein  heute  verlorener  Text, 
gleichsam  ein,  vielleicht  arabischer,  „älterer  Sendebar",  der  obige  Motive 
und  das  der  persönlichen  Werbung  besafs.  Auf  diesen  Text  geht  der  über- 
lieferte ebräische  Sendebar  zurück,  der  vielleicht  zu  der  Version  des 
Bengalen-Textes  in  einer  gewissen  Beziehung  steht. 

Indes  der  „ältere  Sendebar"  hatte  sich  noch  mit  anderem  Blute  ver- 
mischt Darauf  deuten  die  Motive,  nach  welchen  der  Liebhaber  in  über- 
grofser  Liebessehnsucht  erkrankt,  die  Kupplerin  zu  ihm  kommt  und  ihre 
Hilfe  selber  anbietet.  Es  sind  Merkmale  der  Sukasaptati,  an  die  man 
damit  erinnert  wird.  Allerdings  war  hier  die  Kupplerin  die  Mutter  des 
Erkrankten  und  dadurch  das  Interesse,  welches  sie  an  ihm  nahm,  aufs 
Beste  erklärt. 

An  eine  Beziehung  zum  Sindibadnäme  zu  denken,  welches  wie  der 
Sendebar  erzählt,  der  Liebhaber  habe  das  Weib  zuerst  am  Fenster  ge- 
sehen, liegt  zu  fern;  sind  doch  auch  die  begleitenden  Umstände  andere 
und  Sendebar  hat  sonst  nichts  mit  Sindibadnäme  gemein. 

Hier  wäre  aber  vielleicht  der  Ort,  auf  die  verschieden  zusammen- 
gesetzte Pfefferkost  zurückzukommen,  die  ja  gelegentlich  schon  be- 
sprochen ist 


J 


Untersuchungen  zu  dem  mittelengllscben  Pabliau  „Dame  Siriz".  243 

Somadeyas  Fleisch  mit  Pfeffer  ist  das  natürlichste  Mittel ;  die  „sieben 
weisen  Meister"  haben  Brot  dafür  verwendet.  Nur  einmal  kommt  Fleisch 
wieder  vor,  im  Bengalen  -Text,  doch  dient  es  nur,  wie  beim  Spanier  der 
Honig,  im  Tunesischen  das  Fett  und  im  Sendebar  Butter  und  Knoblauch, 
dazu,  den  Brotteig  schmackhafter  zu  machen. 

Auf  S,  226  wurde  der  Versuch  gewagt,  mit  Hilfe  der  erhaltenen 
indischen  Redaktionen  in  Umrissen  das  Bild  der  Urform  der  Erzählung 
zu  entwerfen.  Jetzt  wird  es  an  der  Zeit  sein,  dieses  Bild  zu  vollenden. 
Die  Erzählung  mag  folgende  gewesen  sein: 

Ein  Jüngling  sieht  .eine  schöne  tugendhafte  Frau,  deren  Mann  verreist 
ist,  und  verliebt  sich  in  sie.  Auf  seine  Bitten  geht  eine  Alte  zu  ihr  mit 
einer  Hündin,  und  erzählt  ihr,  dieses  Tier  sei  früher  eine  keusche,  das 
höchste  Gesetz  verachtende,  Frau  gewesen,  die  deshalb  als  Tier  wieder- 
geboren worden;  sie  selbst  aber  habe  jenem  Gebote  sich  gefugt  und  sei 
dafür  als  Mensch  mit  der  Erinnerung  an  den  früheren  Zustand  wieder- 
geboren worden.  Erschreckt  ist  die  Frau  bereit,  sich  dem  vermeintlichen 
Gesetze  zu  unterwerfen,  und  bittet  die  Alte,  ihr  einen  Liebhaber  herbei- 
zubringen. 

Aus  dieser  indischen  Wurzel  erwuchsen  zwei  Stämme.  Einerseits 
die  Sukasaptati  (b),  welche  den  Jüngling  liebeskrank  werden  und  die 
Alte,  seine  Mutter,  ihm  ihre  Dienste  anbieten  läfst;  andererseits  eine 
Redaktion  (c),  welche  ein  ganz  neues  Modv  einführt,  indem  sie  das 
Hündchen  über  sein  früheres  Leben  weinen  läfst.^  Diese  Redaktion  (c) 
ruft  zwei  weitere  hervor.  Die  eine  (e*)  setzt  die  Geschichte  als  ersten 
Teil  einer  fremden*)  vor  und  nimmt  beide  als  eine  Erzählung  in  das 
indische  Buch  von  den  „sieben  weisen  Meistern^*  auf.  Hierin  hat  dieser 
erste  Teil  folgende  Gestalt: 

Ein  Mann,  der  auf  Reisen  gehen  wollte,  und  sein  Weib  verpflichteten 
sich  durch  Gelöbnisse,  einander  treu  zu  bleiben.  Doch  als  an  dem  Tage, 
auf  den  der  Mann  seine  Rückkehr  festgesetzt  hatte,  sein  Weib  auf  den 
Weg  hinausgegangen  war,  den  er  kommen  mufste,  erschien  er  nicht. 
Ein  Jüngling  sah  sie  dort  und  sie  gefiel  ihm;  er  redete  sie  an  und  bat 
um  ihre  Liebe.  Die  Frau  aber  wollte  nichts  davon  hören.  Da  eilte 
dieser  Abgewiesene  zu  einer  Alten,  die  in  der  Nachbarschaft  wohnte, 
erzählte  ihr  alles  und  verhiefs  hohen  Lohn,  wenn  sie  ihm  die  Gunst  des 
Weibes  verschaflfen  würde.  Die  Alte  versprach  seinen  Wunsch  zu  er- 
füllen.   Sie  bück  ein  Stück  Brot  aus  einem  mit  Pfeffer  gewürztem  Teige, 


*)  Vgl.  Comparetti  a.  a.  O.  p.  25,  36.     Clouston  p.  341. 


244  Walther  £lsner. 


nahm  dieses  und  ihre  Hündin  mit,  und  ging  zu  dem  Weibe.  Ehe  sie  die 
Schwelle  überschritt,  warf  sie  dem  Hündchen  das  Brod  vor.  Sehr  bald 
flössen  ihm  die  Tränen  aus  den  Augen  wegen  der  Schärfe  des  Pfeffers. 
Jetzt  trat  die  Alte  zu  der  Frau,  die  sofort  das  weinende  Tier  bemerkte 
und  nach  der  Ursache  des  Weinens  sich  erkundigte.  Unter  Tränen  er- 
zählte die  Alte:  „Die  Hündin  war  ein  schönes  Weib,  meine  Nachbarin,  die 
einem  verliebten  Jüngling  kein  Gehör  schenkte.  Deshalb  verfluchte  er 
sie,  und  Gott  verwandelte  sie  in  eine  Hündin**.  Als  die  Frau  dies  gehört 
hatte,  lieis  sie  den  Liebhaber  rufen. 

Durch  Vermittlung  des  Pehlewi  gelangt  diese  parstellung  der  „sieben 
weisen  Meister"  in  das  Arabische  und  von  da  in  das  Syrische,  Griechische, 
und  Spanische,  welche  die  ursprüngliche  Form  im  Ganzen  treu  bewahren, 
in  das  Ebräische  und  jüngere  Arabische  der  „sieben  Veziere",  welche 
sich  mehrfache,  zum  Teil  recht  bedeutende  Änderungen  erlauben.  Aber 
das  zu  dieser  Familie  gehörende  noch  nicht  wiedergefundene  persische 
Prosabuch,  oder  sein  Spröfsling,  das  persische  Sindibadnäme,  spaltet  die 
Geschichte  wieder  in  ihre  Teile  und  ersetzt  den  ersten  Teil  durch  eine 
ihm  wohl  aus  dem  Persischen  bekannte  Nachbildung  der  Redaktion  e,*) 
welche,  wie  e\  aus  c  entstanden,  von  Somadeva  mit  einer  fremden  Er- 
zählung zusammengeschweifst  und  in  sein  „Meer  der  Sagenströme"  auf- 
genommen wird.  Die  ebräische  Redaktion  der  „sieben  weisen  Meister", 
Sendebar,  erhielt  einige  ihrer  Züg^^  wohl  durch  Vermittlung  des  Arabischen 
und  Persischen,  aus  dem  Indischen  der  Sukasaptati;  andere  kündigen  ihre 
Verwandtschaft  mit  den  arabischen  „sieben  Vezieren"  an.  —  Die  griechische 
Redaktion,  Syntipas,  kann  als  ein  getreues  Abbild  des  arabischen,  also 
auch  indischen  Buches  der  „sieben  weisen  Meister"  betrachtet  werden.  — 


In  den  abendländischen  Versionen  der  „sieben  weisen  Meister"  tritt 
die  Geschichte  nicht  mehr  auf;  ihre  im  Occident  älteste  Form  scheint  die 
von  Petrus  Alfonsi  in  der  Disciplina  Clericalis  überlieferte**)  zu  sein. 
Petrus  sagt,  er  habe  arabische  Schriftsteller  benützt.  Wenn  man  bemerkt, 
dafs  seine  Darstellung  der  Erzählung  auffallende  Ähnlichkeit  mit  dem 
Sendebar  hat,  —  weil  auch  hier  der  Liebhaber  in  Folge  der  Abweisung 
erkrankt,    die   Alte   ihre  Dienste    anbietet    und  die  Frau  dann  ein  Mal 


*)  Vgl.  die  folgende  Tabelle. 

**)  Fab.  XI.  ed.  Soc.  des  Bibliophiles.  Paris  1824;  Cap.  XIV.  d.  A.  v.  F.  W.  Val.  Schmidt. 
Berlin  1827. 


Untersuchungen  zu  dem  mittelenglischen  Fabliau  ,,Dame  Siriz". 


245 


besucht  —  so  liegt  es  nahe,  an  den  (Seite  242  genannten)  „älteren  Sendebar" 
als  seine  Vorlage  zu  denken,  der  alle  diese  Motive,  aber  noch  nicht  die 
Lücke  besafs,  welche  in  dem  ebräischen  Buche  zu  treflfen  ist. 

Eigentümlich  ist  die  Art,  wie  Petrus  die  Kupplerin  die  Verwandlung 
rechtfertigen  läfst     Im  Sendebar  wurde  sie,  wie  in  dem  syrischen  und 


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'stTCUn^iJiii 


MamsJFüi^ 


spanischen  Text,  durch  den  Fluch  des  Verschmähten  hervorgerufen; 
nebenbei  erzählte  Sendebar,  dafs  der  Fluch  auf  dem  Krankenlager  aus- 
gestofsen  worden.  Dieses  für  die  ebräische  Version  folgenlose  Moment 
wird  nun  in  der  Disciplina  geschickt  ausgebeutet.  Denn  die  der  Ge- 
schichte der  Alten  zur  Voraussetzung  dienende  Idee,  dafs  Gott  ein  treues 
Weib  um  ihrer  Keuschheit  willen  bestraft,  vertrug  sich  nicht  mit  dem 
Geschmack  des  Publikums,  welchem  Petrus  Alfonsi  die  Erzählung  vor- 


Ztrchr.  f.  vgl.  Liti.-Gctch.  I. 


17 


246  Walther  Eisner. 


tragen  wollte;  es  war  ein  christliches  Publikum  und  der  frühere  Jude 
Petrus,  der  Christ  geworden  war,  mufste  darauf  bedacht  sein,  das 
christliche  Gefühl  nicht  zu  verletzen.  Er  legte  daher  mehr  Gewicht  auf 
die  Krankheit  des  Liebhabers,  betonte  sein  Leiden  und  liefe  danach  die 
alte.  Kupplerin  sagen,  die  Frau  habe  sich  eines  Vergehens  schuldig 
gemacht,  indem  sie  die  Krankheit  eines  Mitmenschen  verursachte*);  (ur 
diese  Schuld  habe  Gott  sie  bestrafen  wollen. 

Diese  sophistische  Begründung  hat  vielen  Beifall  gefunden. 

Neben  diesen  Beziehungen  zum  Sendebar  gehen  andere  einher,  die 
aber  wohl  keine  Verwandtschaft  begründen.  Man  erinnere  sich,  wie  im 
Sindibadnäme  die  Heuchelei  der  Kupplerin  gut  dadurch  geschildert  wurde, 
dafs  sie  sich  lange  bitten  liefs,  ehe  sie  ihre  Geschichte  vortrug;  wie  sie, 
im  Syntipas,  die  unglückliche  Hündin,  welche  sie  mitbrachte,  zärtlich 
ihre  eigene  Tochter  nannte;  wie  sie,  im  Bengalen -Text,  gleichsam  aus 
bester  "Erfahrung  sprechend,  die  weise  Lehre  erteilte,  einen  Liebhaber 
müsse  man  stets  erhören ;  wie  im  Syntipas,  Syrer  und  Spanier  der  Jüng- 
ling die  Frau  auf  der  Strafse  trifft.  Das  sind  Ausstattungsstücke,  die 
der  einzelne  Erzähler  erfinden  konnte,  oder  die  er,  aus  ähnlichen  Er- 
zählungen, im  Gedächtnis  behalten  hatte.  — 

In  folgenden  Werken  findet  sich  die  Erzählung  der  Disciplina  clericalis 
übersetzt  oder  bearbeitet  wieder: 

1.  Übersetzungen  der  Disciplina. 

a.  Eine  spanische,  in  Bibl.  autor.  esp.,  T.  51,  p.  505. 

b.  Eine  französische,  des  XV.  Jahrhunderts  in  der  Ausgabe  der 

Bibliophiles  cf  S.  244  Anm.  II. 

c.  Eine  isländische,  in  Islendzk  aeventyri,  herausg.  v.  H.  Gering 

(Halle  1882,  L,  p.  181)  aus  dem  Cod.  Holm,  chart.  66,  foL, 
im  17.  Jahrhundert  geschrieben. 

2.  Bearbeitungen  der  Disciplina. 

a.  Gotscaldus  Hollen:  Preceptorium.  Colon.  1484  fol.  CXCV  c. 

b.  Alexander   de    Haies:    Destructorium    vitiorum,    Colon.  1485 

m,  X  c. 

c.  Gesta  Romanorum 

a.  ed.  Keller,  Stuttgart  1842,  I;  bezeichnet  mit  K, 

ß.  ed.  Österley,  Berlin  1871,  p.  325;  bezeichnet  mit  ö, 

X.  Ms.  Colmar  Issenheim  10,  fol.  Nr.  32;  bezeichnet  mit  Colm. 


^)  Vielleicht  hat  Petrus  in  dieser  Weise  nur  einen  verbreiteten  Aberglauben  venfi-ertct. 


Untersuchungen  zu  dem  mittelenglischen  Fabliau  ,,Dame  Siriz".  247 

3.    Übersetzung  der  Gesta,  K. 
Le  Vidier  des  Histoires  Romaines  ed.  M.  G.  Brunet,  Par.  1848,  p.  78. 

4.    Bearbeitungen  der  Gesta. 

A.» 

a.  Le  Grand  Parangon  des  Nouvelles  Nouvelles    par  Nicolas  de 

Troys.     H.  vol.,    fol.  XXIXb  =  Vme  nouv.  (Ms.  a.  N.-B. 
zu  Paris.) 

b.  P.  Gringoire:    Les  Fantaisies  de  Mere  Sötte.     K.  I  flf.  Ms.  a.  d. 

National-Bibl.  zu  Paris. 

c.  Hans  Sachs:    Fastnachtspiele,    Ausg.  1578,    fol.    Bd.  IV    T.  3. 

Bl.  28  b  flf. 

d.  Steinhöwers  Esop,  ed.  Österley  f.  d.  Bibl.  d.  lit.  Ver.,  Stuttg. 

Nr.  117,  p.  324. 

e.  Joh.  Junior:  Scala  celi,  Ulm  1480,  fol.  85  (Femina). 

C  Metrical  Tales  of  Adolfus,  in  Bd.  VIU  p.  178  der  Percy  Society, 
g.  Joh.  Herolt:  Promtuarium  exemplorum.  Nuremberg  i486.  V  12. 
h.  Vinc.  Bellovacencis:  Speculum  morale,  Venetiis  1591.  Lib.  III, 
dist.  V,  IX. 

B.  Bearbeitungen,  welche  fremden  Einflufs  erkennen  lassen. 

i.  Latin  Stories,  XIII,  in  Bd.  VHI,  p.  16,  der  Percy  Society, 
k.  Castoiement  d'un  Pere  a  son  fils  in  Barbazan-Meon:    Fabliaux 

ou  Contes  11  92.     Conte  XI. 
1.  Pierre  Anfors  (cf.  Jhb.  f.  rom.  u.  engl.  Phil.  XI,  151  Anmerkg.)  in 

Bd.  n,  63  der  Ausg.  d.  Soc.  des  Biblph.  (Disc.  cl.)  Paris  1824. 

5.  Christiern  Hansen's  Komedier  ed.  S.  Birket  Smith,  Kjöbenhavn 
1874,  p.  60. 

In  diesen  Versionen,*)  unter  welchen  allein  Hansen  s  Lustspiel  eine 
abgesonderte  Stellung  hat,  die  dazu  zwingt,  es  vorläufig  bei  Seite  zu 
lassen,  wird  die  Geschichte  vom  „weinenden  Hündchen"  mit  folgenden 
allgemeinen  Zügen  erzählt: 

Ein  Edelmann,  der  eine  überaus  schöne  und  züchtige  Frau  hatte, 
unternahm  eine  Pilgerfahrt.  Während  seiner  Abwesenheit  lebte  die  Frau 
anfanglich,  wie  es  sich  geziemte.  Eines  Tages  ward  ihrer  ein  Jüngling 
ansichtig,  verliebte  sich  in  sie  und  liefs  durch  Boten  um  Erhörung  bitten. 
Aber  sie  wies  alle  Anträge  ab  und  beharrte  dabei,  selbst  als  der  Jüngling 

*)  Ihr  Verhältnis  zu  einander  ergflebt  sich  aus  dem  Stammbaum  p.  245,     Vgl.  da£u 
die  AbkQrzungen  auf  p.  249. 

17* 


1^48  Walther  Eisner. 


heftig  erkrankte.  Elend  schlich  er  seitdem  umher,  um  sie  wenigstens 
zu  sehen.  Da  begegnete  ihm  eine  Alte,  welche  nach  der  Ursache  seines 
Leids  fragte  und  darauf  ihre  Dienste  anbot.  Sie  liefs  ihre  kleine  Hündin 
eine  Zeit  lang  hungern,  gab  ihr  dann  Senfbrod  zu  fressen  und  nahm  sie 
mit  zu  der  Ehefrau.  Des  guten  Rufes  wegen,  welcher  ihr  vorausging, 
fand  sie  daselbst  ehrenvolle  Aufnahme  und  bald  Gelegenheit  zu  erzählen, 
dafs  diese  weinende  Hündin  ihre  Tochter  sei,  welche  verwandelt  wurde, 
weil  sie  durch  Hartherzigkeit  einen  Liebhaber  elend  gemacht  hatte. 
Diese  Erzählung  verfehlte  ihre  Wirkung  nicht.  Die  Frau  zitterte,  eben- 
falls verwandelt  zu  werden,  und  bat  daher  die  Alte,  den  Liebhaber 
zu  holen. 

In  dem  Detail  weichen  die  Erzählungen  stark  von  einander  ab.  Eines 
Motivs  ist  gleich  hier  zu  gedenken,  weil  es  die  Mehrzahl  besitzt,  welche 
durch  die  Gesta  Romanorum  am  besten  repräsentiert  scheint.  In  ihr 
erzählt  nämlich  die  Alte,  der  Anbeter  ihrer  Tochter  sei  an  Liebesgram 
gestorben.  Das  Motiv  fehlt  den  Texten,  die  als  Mitglieder  der  Familie 
Disciplina  (in  engern  Sinne)  bezeichnet  werden  sollen. 

Wahrscheinlich  hat  es  auch  in  der  Urform  der  abendländischen 
Versionen  nicht  gestanden,  welche  am  treuesten  durch  den  Text  der 
Disciplina,  wie  er  in  den  bekannten  Ausgaben  vorliegt,  überliefert  wird. 

F.  W,  Val.  Schmidt  glaubte  anders  entscheiden  zu  müssen;  er  hielt 
dafür,  dafs  „der  Tod  des  Jünglings"  sich  weit  besser  eignete  „die  Frau 
zu  bewegen  als  seine  Krankheit".*)  Das  ist  richtig,  eben  darum  aber 
kann  der  Tod  des  Liebhabers  eine  jüngere  Erfindung  sein.  Das  gerade 
genügende  Kunstmittel  ist,  wenn  nicht  besondere  Gründe  dagegen 
zeugen,**)  das  ältere.  Dafs  aber  die  Krankheit  des  Liebhabers  gerade 
genügt,  um  die  Frau  zu  rühren,  bestreitet  selbst  Schmidt  nicht.  Dafs 
Gott  den  bestraft,  der  dem  Nebenmenschen  Leid  zugefugt  hat,  ist  doch 
durchaus  glaubwürdig.  Andererseits  ist  bekannt,  woher  Petrus  das  Motiv 
der  Krankheit  bezog  —  es  ist  also  in  jedem  Falle  ein  älteres  Motiv  — 
und  wie  er  es  verwertete.  Keineswegs  scheint  darum  glaublich,  dafs 
schon  er  es  modifiziert  hätte. 

Diejenigen  Versionen,  welche  es  bewahrt  haben,  sind  Span.^  eine 
Übersetzung,   der  man  nicht  ansehen  kann,   ob  sie  nach  Schmidts  oder 


*)  Schmidt  nahm  deshalb  an,  im  Text  der  Disciplina  sei  an  betreffender  Stelle  ein  Satz 
ausgefallen,  der  von  dem  Todesfalle  berichtete.     Vergl.  s.  Ausgabe  der  D.,  p.  136. 
**)  Diese  Gründe  könnten  z.  B.  in  dem  Charakter  einer  Litteratur  liegen. 


Ufitersuchun£^en  zu  dem  mittelenglischen  Fabllau   ,,Dame  Siriz". 


249 


der  Bibliophilen  Text  gefertigt  ist;  Franz.,  eine  Übersetzung  von  Bibl.;*) 
Isl.,  eine  Übersetzung  von  Schmidt,  die  aber  noch  Fremdes  enthält; 
schliefslich  die  einander  verwandten  Destr.  und  HoU. 

Die  abendländische  Urform  war  vermutlich  folgende: 
Man  erzählt  von  einem  Edelmann,  der  eine  schöne  und  allzu  züchtige 
Frau  hatte.  Einst  kam  ihm  in  den  Sinn,  nach  Rom  zu  pilgern,  um  dort 
zu  beten;  bei  seiner  Frau  aber  gedachte  er  keinen  Wächter  als  sie  selbst 
zurückzulassen.  Sobald  die  Vorbereitungen  beendet  waren,  reiste  er  ab. 
Die  Frau  bewährte  sich;  sie  verhielt  sich  klug  und  sittsam.  Eines  Tages 
nun  war  sie  eines  Geschäftes  halber  genötigt  auszugehen  und  eine  Nach- 
barin zu  besuchen;  auf  dem  Heimwege  erblickte  sie  ein  Jüngling,  der 
sogleich  von  Leidenschaft  für  sie  erfafst  wurde  und  durch  Boten  ihr 
sagen  liefs,  wie  sehr  er  mit  ihr,  um  derenwillen  er  so  in  Liebe  entbrannt 
sei,  vereinigt  zu  sein  wünschte.  Sie  aber  wies  sein  Ansinnen  entschieden 
zurück.  Da  erkrankte  der  Jüngling  heftig,  raffte  sich  aber  dennoch  auf 
und  ging  öfters  dorthin,  wo  er  sie  zuerst  hatte  herauskommen  sehen; 
doch  es  gelang  ihm  nicht,  sie  wieder  zu  treffen.  Dafür  begegnete  ihm 
eine  würdiggekleidete  Alte,  welche  ihn  anhielt  und  um  die  Ursache 
seines  leidenden  Aussehens  befragte.  Wollte  er  anfangs  sein  Geheimnis 
nicht  preis  geben,  so  widerstand  er  schliefslich  doch  nicht  ihren  Vor- 
stellungen: der  werde  um  so  kränker  werden,  welcher  stets  zögere,  sein 
Leiden  dem  Arzte  zu  offenbaren.  Nun  erzählte  der  junge  Mann  sein 
Erlebnis,  worauf  die  Alte  sich  erbot,  ihn  mit  Gottes  Hilfe  zu  heilen ;  sie 
verliefs  ihn  und  kehrte  in  ihre  Wohnung  zurück.     Dort  hatte   sie    eine 


*)  Es  sd  gestattet,  folgende  Abkürzungen  gelegentlich  zu  verwenden,  (welche  sich 
teils  schon  bei  Osterley,  Gesta  Romanonim  p.  716  Toriinden),  wobei  wir  auf  das  Verzeichnis 
auf  pp.  246.  347  verweisen: 

Isl.    . 

K.      . 

Lat  . 

M.  S. 

N.  Tr. 

o.    . 

P.  H. 
Prom. 
Sc.  C. 

Schm. 
Steinh. 
Span.' 
Viol. 


Adolf. 

.  =  4  f. 

Belv. 

.  SS  4  h. 

Bibl.  . 

.  =:  Ausgabe  der  Soc.  des  Biblio- 

philes. 

Gast. 

.  =  4k. 

Colm. 

,  s=z  2  c  jr. 

Dan. 

.  =  5. 

Destr. 

.  =  3  b. 

Disc,  wenn  Bibl.  u.  Schmidt  fibereinstlmmen. 

Franz. 

.  =  I  b. 

G.  R. 

.  =  3  c. 

Holl. 

.  ^  3  a. 

H.  S. 

.  =  4  e. 

1 

e. 

tas 

3 

c  a. 

= 

4 

i. 

=s 

4 

b. 

=s= 

4 

a. 

: 

3 

c^. 

r= 

4 

1. 

« 

4 

?• 

isgs 

4 
ibe 

e. 
t  d. 

= 

4 

d. 

= 

I 

a. 

s 

3' 

250  Walther  Eisner. 


kleine  Hündin,  sie  liefs  dieselbe  zwei  Tage  lan'g  hungern,  gab  ihr  am 
dritten  in  Senf  getauchtes  Brod  zu  fressen  und 'führte  sie  als  ihre  Augen 
tränten,  zu  der  Frau,  welche  der  Jüngling  liebte.  Um  ihres  vertrauen- 
erweckenden Äufsern  willen,  wurde  die  Alte  daselbst  ehrenvoll  empfangen 
und  als  die  Frau  das  weinende  Tier  erblickt  hatte,  fragte  sie  sogleich, 
was  es  hätte  und  warum  es  weinte.  Aber  die  Alte  flehte:  ^Liebste 
Freundin,  frage  mich  danach  nicht,  weil  der  Schmerz  so  grofs  ist,  dals 
ich  es  nicht  sagen  kann.^  Dennoch  drängte  die  Frau  hartnäckig  ihr 
alles  zu  erzählen. 

„Diese  Hündin,  welche  du  hier  siehst,"  antwortete  darauf  jene,  „war 
meine  schöne  und  allzu  züchtige  Tochter,  welche  ein  junger  Mann  liebte. 
Aber  sie  war  so  keusch,  dafs  sie  ihn  gänzlich  verachtete  und  seine  Liebe 
verschmähte.  Vor  Schmerz  darüber  erkrankte  er  heftig.  Daran  war 
meine  Tochter  schuld  und  wurde  deshalb  in  eine  Hündin  verwandelt." 
Bei  diesen  Worten  brach  die  Alte  in  Tränen  aus.  Aber  die  Frau  rief: 
„Was  soll  deim  ich,  die  ich  ähnlichen  Fehls  mir  bewufst  bin,  thun? 
Auch  mir  nämlich  hat  ein  junger  Mann  seine  Liebe  gestanden  und  ich 
habe  ihn  aus  Liebe  zur  Keuschheit  abgewiesen ;  ich  weifs,  dafs  er  leidet." 
„Da  rate  ich  dir,"  sagte  die  Alte,  „dafs  du  dich  sobald  als  möglich  seiner 
erbarmst  und  thust,  um  was  er  dich  gebeten.  Hätte  ich  nämlich  von  der 
Liebe  jenes  Jünglings  zu  meiner  Tochter  gewufst,  so  wäre  sie  nicht  ver- 
wandelt worden."  Ihr  entgegnete  die  Frau:  „Dann  gieb  mir,  bitte,  einen 
guten  Rat,  damit  ich  nicht  verwandelt  werde."  „Gern,"  sagte  die  Alte, 
„will  ich  um  Gottes  und  meines  Seelenheiles  willen  dir  den  Jüngling 
holen." 

Verglichen  mit  den  orientalischen  Formen  der  Erzählung,  ist  in  dieser 
Darstellung  gar  manches  neu.  Wie  andere  es  sich  nicht  haben  entgehen 
lassen,  hat  auch  Petrus  sich  das  Recht  genommen,  selbständig  auszu- 
schmücken, was  er  vorfand.  So  ist  es  wohl  seine  Erfindung,  dafs  der 
Gemahl  seiner  Frau  völliges  Vertrauen  schenkt;  dafs  der  Liebhaber,  ob- 
wohl er  krank  ist,  ausgeht,  wobei  ihm  die  Kupplerin  begegnet;  dafs  der- 
selbe sich  anfanglich  sträubt,  ihr  alles  zu  entdecken  und  selbst,  als  er  es 
endlich  thut,  die  Bitte  um  Hilfe  zurückhält;  dafs  die  Alte  ihre  Hündin 
durch  Hunger  für  die  Senfspeise  gefügig  macht;  dafs  sie  endlich  dem  Rat, 
den  sie  der  Frau  giebt,  listig  hinzufugt:  „hätte  ich  um  die  Liebe  jenes 
Mannes  zu  meiner  Tochter  gewufst,  so  wäre  letztere  nicht  verwandelt 
worden." 

Durch  diese  geschickt  aufgesetzten  Lichter  gewinnen  die  Bilder  der 
Persona  der  kleinen  Geschichte  bedeutend  an  Leben. 


Untersuchungen  zu  dem  mittelenglischen   Fabliau  ,,Dame  Siriz^S  251 

Die  Versionen  Bibl.*  und  Schm.*)  sind  nur  im  Ausdruck  verschieden, 
dem  Gedanken  nach  durchaus  einig.  Auch  die  Übersetzungen  weichen 
wenig  ab;  in  der  spanischen  geht  die  Frau  Geschäfte  halber  aus;  in  der 
isländischen,  um  Freunde  zu  besuchen;  die  hungernde  Hündin  wird,  in 
letzterer,  zur  Vermehrung  ihrer  Qual,  in  einen  Stall  gesperrt.  Isl.  und 
Span,  aber,  aufserdem  auch  Franz.  und  das  Destructorium  fassen  die 
Worte  der  Kupplerin,  mit  denen  sie  die  neugierige  Frau  scheinbar  ver- 
anlassen will,  sie  mit  Fragen  nach  dem  Schicksal  des  Hündchens  förder 
zu  verschonen,  in  persönlicherem  Sinne,  wenn  sie  setzen:  „mein  Schmerz 
ist  so  grofs,  daSs  ich  es  nicht  sagen  kann,^^  wogegen  die  Disciplina  ganz 
unentschieden  liefs,  wer  gemeint  war;  denn  sie  schrieb:  ne  quaeras  quid 
sit,  quod  adeo  magnus  est  dolor  quod  nequeo  dicere.  —  Auch  sonst 
noch  stimmen  diese  vier  Versionen  zusammen. 

Destr.  steht  auch  zu  Hollen  in  enger  Beziehung.  Beide  sagen  nichts 
über  das  Verhältnis  zwischen  den  Ehegatten;  der  Mann  geht  nicht  nach 
Rom;  sie  vergessen  zu  erwähnen,  dafs  die  Frau  ihr  Haus  verläfst.  — 

Die  Wiedergabe  der  Stelle  der  Disc: 

quod  adeo  magnus  dolor  est 
in  den  Gesta  Romanorum,  liefert  den  Beweis,  dafs  letztere  Version  aus 
der  ersteren  entstanden  ist.     G.  R.  interpretiert  nämlich  diese  Worte  mit 

quia  tantum  dolorem  habet, 
versteht  sie  also  derart,  als  habe  die  Alte  sagen  wollen:  „frage  mich  nicht 
liebe  Freundin,  warum  diese  Hündin  weint;  denn  sie  empfindet  so  grofsen 
Schmerz,  dafs  ich  es  dir  unmöglich  sagen  kann.^* 

Eine  andere  Stelle  der  Gesta,  an  welcher  in  der  Disciplina  Bibl.  von 
Schm.  abweicht,  scheint  zu  verraten,  dafs  die  G.  R.  aus  einer  Vereinigung 
beider  entstanden  ist. 

Bibl.  hat:    plurimos    direxit    ad    eam    nuneios,    cupiens    ab   illa, 
quantum  amabat  amari. 

Schm.  liest:  .  .  .  cupiens  conjungere  se  illi  per  quam  tanto  ardebat 
amore. 

G.  R.  aber  vereinigt:  .  . .  cupiens  ab  illa  quantum  ardebat  amari. 

Von  den  genannten  Texten**)  der  Gesta  Romanorum  ist  weder  der 
desColmarerManuscripts  aus  dem  TextK.  oder  Ö.,  noch  umgekehrt  K.  oder 


*)  Vgl.  p.  349  Anmerkung. 

**)  Die  Erzählung  findet  sich,  nach  Österleys  Verzeichnis,   noch  in  folgenden   Hand- 
schriften der  Gesta,  welche  ich  nicht  habe  einsehen  können: 

Cod.  Ratisb.  47,  cap.  39;  Cod.  Wirceb.  M.  eh.  89.  4^  No.  19;  Cod.  Tub.  (Wilhst)  X, 
14,  fd.  Bl.   I  und  66.  No.    18;  Cod.  Stuttg.   theol.  und  philos.  No.    184.  4^  No,  18;  Cod, 


252  Walthcr  Elsncr. 


Ö.  aus  Colm.  entstanden.  Aber  Colm.  ist  eine  'recht  fehlerhafte  Copie, 
und  aus  Ö.  dürfte  K.  geflossen  sein,  von  dem  eine  ft-anzösische  Prosa- 
übersetzung im  Violier  vorzuliegen  scheint. 

Durch  geringe  Erweiterung  von  Ö.  ist  ferner  eine  Form  entstanden, 
die  sich  in  den  französischen  Versionen  der  Mere  Sötte  und  des 
Nicolas  de  Troys  wiederspiegelt;  sie  weichen  ganz  unwesentlich  von 
einander  ab. 

Den  G.  R.  gehören,  aufser  der  Idee  vom  Tode  des  Liebhabers, 
folgende  Änderungen  an  der  Form  der  Geschichte:  die  Frau  geht  aus 
infolge  einer  Einladung  zum  Essen,  die  sie  von  einer  Nachbarin  erhält. 
Der  Liebhaber  begegnet  der  Alten  auf  dem  Wege  zur  Kirche;  in  M.  S. 
und  N.  Tr.  erst  in  der  Kirche.  Hier  erzählte  die  Disc,  der  Liebhaber 
wäre  ausgegangen,  um  die  Spröde  zu  sehen,  —  ein  Zug,  den  gemeinsam 
mit  Steinhöwel  und  Pierre  Anfors,  Hans  Sachs  bewahrt  hat,  welcher 
übrigens  in  dem  Besitz  der  Todesidee  zu  G.  R.  stimmt.  Jedenfalls 
hat  er  letztere  stark  ausgebeutet,  denn  er  hält  an  der  Hungerfrist  von 
zwei  Tagen  fest;  und  da  dort  nicht  gesagt  wird,  wohin  der  Edelmann 
pilgert,  so  dachte  H.  S.  wahrscheinlich,   er  wollte  zum  heiligen  Grabe. 

Noch  zwei  Mal  stimmt  er  zu  Steinhöwel  und  Piere  Anfors:  der  Lieb- 
haber sendet  der  Frau  Geschenke,  und  die  Alte  begegnet  ihrer  Frage 
nach  der  Ursache  der  Tränen  des  Hündchens  mit  den  Worten:  „ihr 
wollet  mir  vernewen  nit  mein  innigliches  Herzeleid  zu  geben  von  dem 
Hündlein  Bescheid,  warum  es  also  traurig  sein'S  —  eine  Antwort,  die 
Destr.,  Franz.,  Span.,  Isl.  ebenfalls  besitzen. 

Eigene  Erfindung  von  H.  S.  ist  es  aber  wohl,  dafs  der  Liebhaber 
der  Frau  begegnet,  als  sie  zur  Kirche  geht,  und  nicht  die  schlechteste, 
dafs  die  Alte  erzählt,  die  Göttin  Venus  habe  die  Strafe  an  der  sündigen, 
hartherzigen  Frau  vollstreckt. 

Steinhöwel  und  P.  A.,  die  schon  oben  als  Verwandte  auftraten, 
haben  noch  andere  gemeinsame  Kennzeichen. 

Sie  bewahren  den  alten  Zug  der  Disciplina:  der  Edelmann  pilgert 
nach  Rom;  sie  verändern  aber  deren  Anzahl  von  Fasttagen,  welche  dem 
Hündchen  auferlegt  wird;  nicht  zwei,  sondern  drei  Tage  hindurch  muis 
es  hungern.    In  der  zwischen  beiden  Versionen  verschiedenen  Bestimmung 


Fuldens.  B.  12,  fol.  No.  15;  Cod.  Wallerst.  II.  lat  8,  4^  No.  18;  Cod.  Monac.  lat.  447,  4* 
und  4691,  fol.  No.  61  sowie  ib.  7841  a  fol.  und  8497.  4^  No.  25;  ebenso  8968.  4®.  No.  5 
und  9094.  8^  No.  19;  womit  18786,  4^,  und  8484,  4*^,  übereinstimmen.  —  Auch  in  den 
deutschen  Gesta,  nämlich:  Cod.  Turin.  C.  113,  fol.  No.  82  und  Cod.  Berol.  Grimm  81,  4®,  No.  37. 
Die  genannten  Mss.  sind  aus  dem  XV.  Jahrhundert,  nur  Cod.  Monac.  lat.  9094,  8*  ist  aus 
dem  XVII.  Jahrhundert. 


Untersuchungfen  zu  dem  mittelenglischen   Fabliau  „Dame  Siriz^^  253 

des  Zeitpunktes  aber,  wo  es  nun  das  Senfbrod  erhält,  scheint  die  That- 
sache  angedeutet,  als  ob  der  Ausdruck  des  Pierre  Anfors;  „am  vierten 
Tage''  ein  Deutungsversuch  des  unbestimmten  Ausdrucks  von  Steinh. 
(„darauf'),  P.  A.  also  jünger  als  Steinh.  sei. 

Nur  von  drei  Fasttagen  sprechen  Adolfus,  Scala  Celi  und  der 
weiter  unten  zu  behandelnde  Text  der  Latin  Stories  (Lat.);  alle  drei  sind 
Angehörige  der  Gesta -Familie,  weil  sie  die  Todesidee  besitzen;  die 
beiden  ersteren  aber  Verwandte  von  Steinh.,  H.  S.,  P.  A.,  weil  der  Lieb- 
haber zur  Unterstützung  seiner  Werbung  Geschenke  sendet.  Nur  in  der 
Wahl  des  Mittels,  durch  welches  die  Hündin  zum  Weinen  gebracht  wird, 
weichen  sie,  wie  untereinander,  so  von  allen  übrigen  ab;  Adolf,  ver- 
wendet eine  Zwiebel,  Sc.  c.  merkwürdigerweise  ein  granum  sinapis  cum 
pane  confectum. 

Hier  wäre  der  Eigentümlichkeit  der  isländischen  Übersetzung  der 
Disciplina  zu  gedenken:  sie  bemifst  die  Zeit  der  Hungerkur  des  Hündchens 
ebenso  lang  wie  P.  A.  es  that.  Der  Zufall  mufs  wohl  seine  Hand  im, 
Spiele  gehabt  haben,  denn  Isl.  hat  sonst  nichts  mit  P.  A.  und  den  ihm 
Verwandten,  dagegen  (vergl.  p.  251)  alles  mit  der  Disciplina -Familie 
gemein. 

Drei  Versionen  nehmen  jede  eine  besondere  Stellung  ein:  Lat., 
Castoiement  und  P.  A. 

Lat.  hat,  wie  erwähnt,  die  Dreizahl  der  Hungertage  ohne  jeden 
Zusatz,  ebenso  die  Todesidee,  wodurch  es  sich  eng  an  Sc.  C.  anschliefst. 
Indem  jedoch  die  Liebesbotschaft  bereits  von  derselben  Alten  besorgt 
wird,  welche  später  die  Kuppelei  übernimmt,  erhält  Lat.  den  Charakterzug 
des  mehrmaligen  Besuches,  der  ja  in  den  orientalischen  Versionen  eine 
bedeutende  Rolle  spielt,  besonders  in  der  des  Sindibadnäme.  Dazu 
kommt,  dafs  die  Hündin  nicht  „Tochter",  sondern  „ein  gewisses  Weib" 
genannt  wird,  und  der  abgewiesene  zu  Tode  erkrankte  Liebhaber  die 
Geliebte  verzaubert,  was  Gott  geschehen  läfst. 

Hier  liegt  somit  eine  Mischung  von  orientalischen  und  abendländischen 
Zügen  vor;  besonders  kommt  sie  bei  der  Verwandlung  zum  Ausdruck: 
der  Liebhaber  zaubert  wie  in  den  „sieb.  Vez.",  und  Gott  straft  wie  in 
der  Disciplina.  Ganz  neu  aber  ist  das  Motiv,  wonach  die  Alte  dem 
Liebhaber  rät,  sich  krank  zu  stellen,  und  so  sich  der  Frau  zu  zeigen. 
—  Nur  ein  Fehler  fallt  in  dieser  Geschichte  auf;  sehr  wenig  glaublich 
ist^  dafs  diese  Alte,  da  sie  beim  ersten  Besuche  der  Frau  deutlich  zu 
erkennen  gegeben,  was  ihr  am  Herzen  liegt,  beim  zweiten  ohne  Mifstrauen 
empfangen  wird.  Sindibadnäme  hat  sich  in  ähnlichem  Falle  gut  aus- 
geholfen: die  Alte  erscheint  bei  dem  zweiten  Besuche  in  einer  Verkleidung. 


254  Walther  EUner. 


Castoiement  ist  gleichfalls  ein  Halbblut,  jedoch  aus  rein  abend- 
ländischem Geschlechte.  Es  vereint  die  Dreizahl  der  Fastentage  mit  dem 
bedeutungsvollen  dritten  Tage,  welcher  aus  Disc,  G.  R.,  Holl.,  Destr.  etc. 
bekannt  ist.  Dieses  Motiv  fand  es  in  einem  Text,  den  auch  Hollen 
benützt  hat;  aus  demselben  stammt  sein  Ausdruck: 

der  Gatte  (v.  2)  voloit  en  oroisons  aler, 
welchen  Holl.  mit 

orationis  gfratia  ire 
wiedergiebt.     Das  Ziel  dieser  Pilgerfahrt  aber  verschweigen  beide.  Gast, 
wie  Hollen;  auch  erfahrt  man  hier  nicht,  wo  der  Liebhaber  die  Frau  sieht. 

Dafs  übrigens  Gast,  nicht  aus  Holl.  geflossen  ist,  erhellt  daraus,  dafs 
Gast,  sich  näher  an  die  Grundform  anschliefst,  als  jener,  indem  es  auch  von 
dem  Vertrauen  des  Gatten  auf  seine  Frau  erzählt,  Holl.  sagt  nichts  darüber. 

Andererseits  ist  Holl.  nicht  aus  Gast,  abzuleiten.  Ersterer  hat  eine 
Lücke  im  Text,  welche  Gast.,  aller  jÜberlieferung  entgegen,  ausgefüllt 
hat;  es  fand  dieselbe  wahrscheinlich  in  der  Version  vor,  welche  Hollen 
gedankenlos  wiedergab;  auch  sonst  nämlich  ist  Hollens  Text  verderbt. 

Das  Motiv  der  drei  Fastentage  fand  Gastoiement  in  einem  Text,  den 
auch  Steinhöwel  indirekt  ausnützte.  Aus  demselben  stammte  femer  die 
Todesidee  und  jener  Gedanke,  wonach  der  Jüngling,  obwohl  er  siech 
ist,  ausgeht,  um  die  Geliebte  zu  sehen.  Gast,  besitzt  aber  auch  einen 
Gedanken  ganz  allein:  ausdrücklich  wird  die  Hündin  als  Tochter  der 
Kupplerin  ein  Mädchen  genannt.  Alle  übrigen  Versionen  lassen,  wie  die 
Mehrzahl  der  orientalischen,  diesen  Punkt  im  Unklaren. 

Pierre  Anfors  ist  schon  mehrfach  im  Zusammenhange  mit  anderen 
Texten  besprochen  worden;  doch  er  besitzt  ein  Modv,  wodurch  er  sich 
vor  allen  bisher  erwähnten  abendländischen  besonders  auszeichnet,  — 
das  Motiv  der  persönlichen  Werbung. 

Allerdings  besitzen  es  auch  Bellovacensis  und  Promtuarium;  aber 
ersterer  scheint  aus  dem  letzteren  abgeschrieben,  und  dieser  nimmt  sich 
wie  ein  Auszug  aus  P«  A.  oder  dessen  Vorlage  aus. 

Woher  hat  demnach  P.  A.  oder  seine  Vorlage  das  Motiv?  Aus  der 
Disciplina,  soweit  sie  bisher  besprochen  worden,  doch  gewüs  nicht. 

Hier  mu(s  des  dänischen  Fastnachtsspiels  gedacht  werden;  es  hat  in 
Kürze  folgenden  Inhalt:*) 

Ein  Mann,  welcher  mit  seiner  Frau  glücklich  lebt,  will  eine  Pilger- 
fahrt unternehmen.    Die  Frau  läfst  ihn  ungern  ziehen.    Kaum  ist  er  fort, 


•)  Vgl.  Pfeiffers  Germania,  Bd.  XXI.  p.  98  (F.  Liebrecht). 


Untersuchungen  zu  dem  mittelenglischen  Fabliau  „Dame  Siriz".  256 

SO  erscheinen  bei  ihr  nacheinander  drei  Liebhaber,  die  sie  alle  abweist. 
Der  letzte  aber,  ein  Hofmann,  gewinnt  die  Hilfeleistung  einer  Alten, 
welche  zuerst  einen  Teufel  absendet;  doch  auch  ihm  gelingt  die  Ver- 
führung nicht.  Da  ersinnt  die  Alte  ein  anderes  Mittel;  in  Gestalt  einer 
weinenden  Bettlerin  geht  sie  mit  einer  weinenden  Hündin  zu  der  Frau 
und  erklärt,  auf  die  Frage  derselben  nach  der  Ursache  ihrer  Tränen, 
die  Hündin  sei  ihre  Tochter,  welche  zur  Strafe,  dafs  sie  einen  Liebhaber 
abgewiesen,  verwandelt  worden  wäre.  Dieses  Mittel  hilft,  die  Frau  läfst 
den  Hofmann  herbeiholen. 

Neu  in  dieser  Version  ist  die  Mehrzahl  der  Liebhaber  und  der  Ver- 
führungsversuch,  den  der  Teufel  unternimmt.  Die  Idee  der  persönlichen 
Werbung  aber,  auf  welche  es  gerade  ankommt,  scheint  nicht  vor  dem 
Zweifel  geschützt,  ob  sie  in  einer  Vorlage  des  Stückes  vorhanden,  oder 
vielmehr,  im  Interesse  einer  energischen  Handlung,  von  dem  Dichter  in 
das  Drama  hineingetragen  ist. 

Die  Idee,  einen  Teufel  handelnd  einzufuhren,  kann  uns  vielleicht  auf 
die  Spur  helfen. 

Am  Schlüsse  der  Geschichte  in  dem  Destructorium  (vgl.  p.  251) 
steht:  Et  sie  infelix  domina  que  per  diabolum  superari  non  potuit  per 
maledictam  pronubam  decepta  in  nequidam  deducitur  adulterinam. 

Destr.  stimmt  gut  mit  den  Hauptzügen  des  Dan.  überein,  aber  es 
fehlen  dort  die  drei  Liebhaber,  es  fehlt  dort  auch  die  Idee  der  persön- 
lichen Werbung.  So  scheint  es  denn,  als  ob  Hansen  in  der  That  — 
vorausgesetzt,  dafs  er  aus  Destr.  die  Anregung  zu  seinem  Stück  empfing 
—  das  persönliche  Auftreten  der  Liebhaber  bei  der  Umworbenen  im 
Interesse  dramatischer  Wirkung  erfunden  hat.  Man  vergleiche  nur  hierzu 
H.  S.,  wo  jenes  Moment  fehlt;  wie  schleppend  ist  seine  Handlung!  In 
demselben  Interesse  machte  Dan.  aus  einem  Liebhaber  mehrere,  und 
liefs  sie  alle  bei  der  Frau  in  rascher  Folge  erscheinen. 

Somit  bliebe  die  Frage  noch  offen,  woher  F.  A.  oder  seine  Vorlage 
die  Idee  der  persönlichen  Werbung  bezog. 

Gerade  diese  Idee  aber  besitzt  die  Erzählung,  die  dem  Ausgangs- 
punkt dieser  Untersuchung  bildete:  das  mittelenglische  Fabliau  von  der 
„Frau  Siriz".*) 

Ihr  Inhalt  ist  in  knappen  Zügen  der  folgende: 

Ein  Klerk,  Mamens  WiUekin,  ist  in  die  Frau  eines  Kaufmanns  heim- 
lich verliebt  und  benutzt  dessen  Abwesenheit  zu  einem  Besuch  und 


*)  Oberliefert  in  d.   Ms.    Digby   No.  86  fbl.  165  £  Bodl.  Oxf.;  herausgegeben  zuerst 
von  Thos.  Wrigbt  p.  2 — 13  Anecdota  literaria,  London  1844,  und  danach  von  Mätzner  in 


256  Walther  Eisner. 


zur  Werbung.  Er  wird] zurückgewiesen,  kehrt  niedergeschlagen  heim, 
begiebt  sich  aber  auf  den  Rat  eines  Freundes  zu  einer  Kupplerin,  der 
Frau  Siriz,  die  er  durch  Versprechungen  bewegt,  ihm  zu  helfen.  Ohne 
Verzug  reicht  sie  ihrer  kleinen  Hündin  Pfeffer  und  Senf  zu  fressen 
und  besucht  mit  ihr  Frau  Margeri.  Weil  sie  vortrefflich  die  Rolle  einer 
weinenden  Bettlerin  spielt,  wird  sie  von  der  mitleidigen  Frau  gut 
empfangen  und  nach  ihrem  I^eid  gefragft.  Sie  erzählt  unter  Klagen,  die 
Hündin  sei  ihre  Tochter  gewesen,  eine  glückliche  Gattin,  welche 
von  einem  rachsüchtigen  Klerk  verzaubert  wurde,  weil  sie  seine  Liebes- 
werbung nicht  beachtet  hatte.  Erschreckt  und  von  Furcht  ergriffen,  dafs 
ihr,  die  Gleiches  erlebte.  Gleiches  wie  jener  Frau  widerfahren  möchte, 
sendet  Margeri  die  Frau  Siriz  zu  Willekin  und  läfst  ihn  kommen. 

Mit  Pierre  Anfors,  geschweige  mit  der  Disciplina,  hat  diese  Erzählung 
nicht  viel  gemein. 

Die  Idee,  welche  in  P.  A.  nur  angedeutet  ist,  wird  im  mittelengl.  Fabliau 
voll  ausgeführt;  es  gelingt  dem  Liebhaber  des  Franzosen  nicht,  wie  dem 
des  Engländers,  eine  lange  Unterredung  mit  der  Geliebten  zu  fuhren, 
denn  diese  vermeidet  es,  mit  ihm  allein  zu  bleiben  (P.  A.  v.  132).  Auch 
eine  andere  Idee  des  Fabliaus  wird  in  P.  A.  nur  ganz  unentschieden  aus- 
gesprochen. Hier  sagt  die  Alte:  ihre  Tochter  habe  nur  den  Gatten 
lieben  wollen.  Sie  hat  aber  unterlassen,  ausdrücklich  festzustellen,  ob 
ihre  Tochter  verheiratet  war  oder  nicht,  (cf  w.  277,  279.)  Es  kann  also 
bei  P.  A.  vielleicht  nur  dies  bedeuten  sollen:  die  Tochter  habe  nur  in 
rechtmäfsiger  Ehe  leben  wollen.  In'  der  mittelengl.  Version  ist  aber,  wie  in 
den  ältesten  Erzählungen  (cf.  den  orientalischen  Teil),  die  Tochter  der 
Kupplerin  eine  verheiratete  Frau  und  somit  die  Situation  derselben  ganz 
gleich  der,  in  welcher  sich  Margeri  befindet.  Jetzt  konnte  die  Erzählung 
der  Alten  um  so  eindringlicher  wirken. 

Spuren  einer  gleichen  Tendenz  konnte  der  mittelenglischen  Dichter 
übrigens  bei  P.  A.  selbst  erkennen. 

Dort  heifst  es  in  der  Erzählung  selbst: 

plusors  mesages  i  tramist 
und  in  der  Erzählung  der  Kupplerin 

prier'  la  fist. 

Dort  an  erster  Stelle  ferner  weiter: 

il  meismes  i  alla 

den  ,,ae.  Sprachproben**,  p.  105 — 113,  Berlin  1867.  Diese  Ausgaben  sind  zwei  Mal  mit  der 
Handschrift  kollationiert  worden:  i)  von  Stengel;  cf.  Cod.  M.  S.  Digby  86.  ed.  St.  Halis 
1871,  p.  68.     2)  Von  Kölbing  cf.  Engl.  Stud.  V.  (-1883). 


Untersuchungen  zu  dem  mittelenglischen  Pabliau  ,,Dame  Siris".  257 

und  hier  entsprechend,  in  der  Erzählung  der  Kupplerin: 

preia  la. 
Ferner  dort: 

ne  bei  prier,  ne  plorer  ne  prametre,  n'aveir  doner 
konnten  ihren  Willen  ändern;  und  hier: 

mes  ne  doner,  ne  bei  preier 
ne  la  pourent  amoleier. 
Dort  schleicht  der  Liebhaber  oft  durch  die  Gassen,  um  die  Frau  zu 
sehen  oder  zu  sprechen;  doch  .  .  . 

rien  ne  valeit 
quer  nule  pitie  n'en  aveit. 
Und  hier  entsprechend: 

ne  ja  en  place  n'arestast 
ou  nus  hom  de  ce  Taparlast 
Aus  alledem  geht  hervor,  dafs  Dame  Siriz  und  Pierre  Anfors  Ver- 
wandte sind.    Vielleicht  stammen  sie  aus  einer  gemeinschaftlichen  Quelle. 
Eine    viel    außalligere    Übereinstimmung     besteht    zwischen    Dame 
Siriz  und  der  griechischen  Prosa  des  Syntipas. 

Der  Jüngling  benimmt  sich  hier  gerade  so,  wie  in  der  englischen 
Dichtung;  er  erholt  sich  bald  von  seinem  Unheil,  und  sucht  die  Kupplerin 
auf;  er  wird  durch  die  Abweisung  seines  Antrages  nicht  krank  und 
unfähig  selbst  zu  handeln. 

Frau  Siriz  begiebt  sich  ohne  Verzug  an  das  Werk;  im  Syntipas 
heifst  es  ebenso:  „eilends  steht  sie  auf^,  der  Liebhaber  hatte  ihr  erzählt: 
„Als  ich  Deine  Nachbarin  sah,  wurde  ich  von  Liebe  zu  ihr  ergriffen, 
und  strebte  begierig  nach  Liebeseinigung  mit  ihr.  Sie  aber  will  mich 
durchaus  nicht  erhören  und  nimmt  noch  dazu  meine  Reden  übel 
auf."     Man  vergleiche  damit,  wie  böse  Margeri  den  Willekin  abfertigt: 

vv.  IIS— 117  und  J33— ^35- 

Eine  andere  Übereinstimmung  hat  schon  Mätzner*)  bemerkt:  die 
Alte  giebt  dem  Hündchen  Pfeffer. 

Die  Verwandlung  endlich  ward,  in  der  Disciplina,  von  Gott  zur 
Strafe  verhängt;  in  Syntipas  und  Dame  Siriz  aber,  wird  sie  von  dem 
Liebhaber  veranla&t,  der  sich  rächt;  der  Eine  verwünscht,  der  Andere 
zaubert. 

Aus  der  vorliegenden  Untersuchung  ergiebt  sich: 
I.  dafs  die  Meinung,  als  stamme  das  Fabliau  aus  einer  französischen 
Quelle,  völlig  unrichtig  ist; 

*)  Sprachproben,  p.  iii,  Anmerkung  zu  v.  375. 


268 


Walther  Eisner. 


II.  dafs  die  Ansicht,  als  entspringe  die  Erzählung   aus   den  Gesta 

Romanorum,   nicht  zutrifft;    dafs  wohl  aber  eine  Beziehung  zur 

Disciplina   Clericalis  besteht,    indem    die    zu    letzterer    Familie 

gehörende  Darstellung  des  Pierre  Anfors  von  der  Quelle  des 

englischen  Fabliaus  beeinflufst  ist; 

m.  dafs    diese    Quelle    eine    unbekannte,    wohl    lateinische,    dem 

griechischen  Syntipas  zunächstkommende  Version  des  Stoffes  ist. 

Die  folgende  Tabelle  wird  das  Verhältnis  des  englischen  Fabliaus 

zu  dem  Syntipas,  Pierre  Anfors  und  zu  der  Disciplina  besser  als  jede 

Beschreibung  veranschaulichen: 


Disc.  Cler. 

P.  A. 

Dame  Siriz. 

Syntip. 

do. 
do. 

do. 

do. 

do. 
do. 

Der  Liebhaber  wirbt  persönlich 

Abgewiesener  Liebhaber  wird  nicht  krank  .... 
Liebhaber  ruft  die  Hilfe  der  Kupplerin  an  ...     . 

Die  Kupplerin  geht  sogleich  ans  Werk 

Die  Kupplerin  giebt  dem  Hündchen  Senf 

und  Pfeflfer    .     . 
Sic  erzählt,  die  Hündin  sei  ihre  Tochter      .... 
Diese  Tochter  habe  nur  Gatten  lieben  wollen      .     . 
Der  verschmähte  Liebhaber  habe  sich  gerächt     .     . 

do. 
do. 
do. 
do. 

do. 
do. 
do. 
do. 

Wenngleich  sonach  die  Untersuchung  der  Quellen  des  englischen 
Fabliaus  ihr  Ende  erreicht  hat,  soll  doch  ein  zweites  Auftreten  desselben 
Stoffes  in  England  besprochen  werden.  Es  ist  das  Fragment  eines 
Dramas,  betitelt:  Interludium  de  Clerico  etPuella,*)  aus  dem  vierzehnten 
Jahrhundert.  Die  Lösung  der  Frage  nach  den  Quellen  dieses  Werkes 
versprach  nämlich  Licht  zu  verbreiten  auf  die  Quellen  des  englischen 
Fabliaus;  vorläufig  ist  das  Versprechen  nicht  erfüllt  worden.  Immerbin 
möchte  es  nicht  unerwünscht  sein,  die  Verbreitung  des  Stoffes  in  England 
weiter  zu  verfolgen  und  auf  eine  Lücke  in  unserer  Kenntnis  der  damaligen 
Beziehungen  zwischen  englischen  und  französischen  Dichtern  hinzuweisen. 

Das  Interludium  hat  folgenden  Inhalt:  Ein  Klerk  kommt  zu  einem 
Mädchen,  dessen  Eltern  ausgegangen  sind,  und  wirbt  um  ihre  Gunst; 
trotz  seiner  Beteuerungen,  dafs  er  es  ernsthaft  meine  und  sie  treu  liebe, 
weist  jene,  deren  Name  Malkyn  ist,  ihn  ab;  sie  wisse,  was  sie  von 
seinen  Worten  zu  halten  habe,  gar  manchem  Weibe  habe  er  bereits 
Schande  angethan.  —  Der  Klerk  verläfst  sie  und  tritt  bei  einer  Alten  ein. 


•)  Vgl.  Reliquiae  Antiquae  (ed.  Wright  und  HaUiwell)  I,  145—147. 


Untersuchungen  zu  dem  mittelenglischen  Fabliau  „Dame  Siriz*^  259 

genannt  Muhme  Elwis.  Er  begrüfst  sie  und  erzählt  ihr  seinen  Kummer, 
der  durch  die  Absage  jenes  Mädchens  veranlafst  sei,;  er  bitte  um  Rat 
und  Beistand,  und  wolle  gern  sie  für  ihre  Mühe  belohnen.  Die  Alte  aber 
stellt  sich  durch  seine  Worte  beleidigt,  nie  habe  sie  zu  solch'  einem  Unter- 
nehmen die  Hand  geliehen. 

So  bricht  dieses  Stück  ab. 

Die  Ähnlichkeit  zwischen  diesem  Drama,  das  fortan  „Muhme  Elwis" 
genannt  werden  wird,  und  der  „Frau  Siriz"  mufs  jeder  Leser  der  beiden 
Gedichte  bemerken.*)  Konnte  man  von  der  lebendigen  Erzählung  des 
Fabliaus  sagen :  es  sei  ein  im  Werden  befindliches  Drama,  so  taucht  bei 
der  Betrachtung  der  „Muhme  Elwis"  der  Gedanke  auf:  hier  ist  dies 
Drama  vollendet.  Die  erste  Szene  fällt,  wie  dort,  die  Werbung  des 
Klerks;  die  zweite  spielt  bei  der  Kupplerin.  Nur,  was  in  „Frau  Siriz** 
der  Dichter  ausplauderte,  mufs  man  hier  sich  selbst  meist  erklären;  doch 
zum  Teil  sagen  es  auch  hier,  wie  dort,  die  handelnden  Personen. 

Fernere  Übereinstimmung  zwischen  beiden  Stücken  offenbart  der 
Ideengang  in  der  zweiten  Szene. 

In  Frau  Siriz  v.  173— 1 75,  wie  hier  in  v.  42 — 44  beginnt  der  Klerk 
mit  seiner  Klage  über  das  elende  Leben,  welches  er  führe.  Dann  giebt 
er  dafür,  in  v.  176 — 179  der  „Frau  Siriz",  wie  in  v.  45 — 50  der  „Muhme 
Elwis",  die  Ursache  an,  und  bezeichnet,  dort  v.  179 — 184,  hier  v.  51/5^ 
die  möglichen  Folgen  derselben.  V.  185 — 190  in  jenem  Stücke,  wie  im 
Interludium  v.  53 — 54  erwähnt  er  des  Rates,  der  ihn  veranlafste,  zu  ihr 
zu  kommen  und  schliefst  v.  1 91/192  in  jenem,  v.  55—62  in  diesem  Gedicht 
mit  Bitte  und  Versprechen.  Ebenso  genau  stimmt  die  Antwort  der 
heuchlerischen  Alten  in  beiden  überein,  welche  leider  in  und  mit  dem 
Interludium  so  bald  abbricht. 

Noch  ein  dritter  Beweis  indessen  —  und  das  ist  der  Hauptbeweis  — 
findet  sich  in  diesem  dafür,  dafs  es  mit  Benutzung  der  „Frau  Siriz"  entstanden 
ist.     Der  Verfasser  des  Interludiums  schreibt  seine  Vorlage  oft  wörtlich  aus. 

Man  vergleiche  folgende  Verse: 

V.  5:     Wel  wor  suüc  a  man  to  life, 
That  suilc  a  may  mithe  have  to  wife? 
entspricht  v.  82/83  der  „Frau  Siriz": 

Him  burth  to  liken  wel  his  lif, 
That  miftte  weide  selc  a  wif. 

*)  Schipper  teilt  diese  Ansicht  nicht.  In  der  Wiener  N.  Fr.  Pr.  Nr.  6467  (Morgenblatt) 
sagt  er:  «Der  Dramatiker  ist  seinem  ihm  offenbar  unbekannten  epischen  Vorgänger 
an  Talent  in  keiner  Weise  ebenbürtig.** 


260  Walther  BIsner. 


Deutlicher  v.  12,  und  11  gleich  v.  134/135: 

For  her  hastu  losye  al  thi  wile, 
Go  forth  thi  way,  god  sire. 

und  V.  130:  Her  thou  lesest  al  thi  swinke; 

Thou  mut  gon  hom,  leve  brother. 

Femer  v.  23 :      Ah,  suithe  mayden,  reu  ef  me. 

und  V.  114:  and  rew  on  me. 

Unmittelbar  zuvor  v.  113  hatte  er  gebeten:  amend  thi  mod;  dem 
entspricht  in  „Frau  Elwis"  v.  26:  thu  mend  thi  mode. 

Bei  der  Kupplerin  eintretend,  grüfst  sie  der  Klerk  mit  den  Worten: 

V.  37:  God  te  bliss,  Mome  Helwis, 
und  y.  161:  God  the  iblessi,  dame  SirizI 

Die  Kupplerin  antwortet: 

V.  38:  Son,  welcum,  by  san  Dinis, 
V.  167:  Welcomen  art  thou,  leve  sone. 

Hierauf  beginnt  der  Klerk  sein  Leid  und  Anliegen  vorzutragen: 

V.  39:  Hie  am  comin  to  the  Mome, 
und  V.  162:  Ich  am  icom  to  speke  the  wiz. 
dort  42:  I  hidy  my  lif  wit  mikel  dole, 
hier  174:  I  lede  mi  lyf 

und  schildert  die  Folgen,  die  dieser  Zustand  für  ihn  haben  werde: 

dort  V.  51:  Bot  if  tho  wU  hir  mod  amende 

Neuly  Crist  my  ded  me  send. 

worauf  er  erklärt,  warum  er  hergekommen: 

V.  53:  Men  send  me  hyder,  wyt  uten  fayle, 
To  haf  thi  help  anty  cunsayle. 

Ebenso  heifst  es  in  „Frau  Siriz" 

V.  181:  Bote  if  hoe  wende  hire  mod  / 

For  serewe  mon  ich  wakese  wod. 
187:  He  Saide  me,  withouten  faille, 

That  thou  me  couthest  helpe  and  vaile. 

Besonders  deutlich  wird  diese  Übereinstimmung  in  der  Antwort  der 
Kupplerin;  vv.  63 — 67  in  dem  Interludium  entsprechen  im  Sinne  den 
Versen  195,  198,  199  in  der  „Frau  Siriz": 

V.   163:  A,  son,  wat  saystu?  benedicite 
Lift  hup  thi  hand,  and  blis  the; 


Untersuchung^  zu  dem  mittelenglischen  Pabliau  ,,Dame  Siriz".  261 

For  it  es  boyt  syn  and  scam, 

That  thu  on  me  hafs  layt  thys  blam, 

For  hie  am  an  old  quyne  and  a  lam. 

V.  193:  Benedicite!  be  herinnel 

Her  havest  thou,  sone,  mikel  sinne. 

Loverd,  for  bis  suete  nome, 

Lete  the  therfore  haven  no  shome. 

198:  Wen  thou  seist  on  me  silk  blame, 
For  ich  am  old,  and  sek,  and  lame. 

Auch  die  Kupplerin  in  beiden  Dichtungen  giebt  vor  nichts  anders 
zu  thun,  als  (v.  209):  (i)  bidde  my  pater-noster  and  crede  — 

V.  71 :  (bot)  my  pater-noster  and  crede. 

Bei  aller  Übereinstimmung  ergiebt  sich  aber  doch  eine  Abweichung. 
In  „Frau  Siriz"  wirbt  der  Klerk  um  die  Gunst  einer  verheirateten  Frau, 
deren  Gatte  verreist  ist;  im  Interludium  dagegen  um  die  Liebe  eines 
Mädchens,  dessen  Eltern  ausgegangen  sind. 

Ob  diese  Verschiedenheit  einfach  mit  einer  Dichterlaune  oder  mit 
einem  Fehler  in  der  dem  Dichter  vorliegenden  Copie  des  Epos  zu  er- 
klären sei,  läfst  sich  nicht  entscheiden.  Vielleicht  schöpfte  er  das  Motiv  aus 
einer  fremden  Quelle;  war  diese  etwa  ein  französisches  Fabliau,  so  würden 
daher  wohl  auch  die  Flüche :  „by  Saint  Michel"  (v.  2)  und  „by  San  Dinis" 
(v.  38)  zu  leiten  sein,  welche  bei  dem  Engländer'  sehr  befremden. 

Vielleicht  ist  sonach  das  engUsche  Interludium  aus  einem  —  nicht 
mehr  vorhandenen  —  französischen  Fabliau  entstanden,  bei  dessen  Dramati- 
sirung  das  mittelenglische  Fabliau  von  der  „Frau  Siriz'*  benutzt  wurde.*) 

Strafsburg  i.  E. 


*)  In  Gott  Gel.  Anz.  v.  J.  1869  p.  13581  und  später  in  s.  Ausgabe  der  Gesta  giebt 
Österley  einige  Litteratumachweise,  die  ich  nicht  habe  verwerten  können.  In  Pauli  1570. 
Bl.  150  und  Renner:  Frankfurt  1549)  66  findeich  die  Gesch.  nicht  Jsopo  1644,  col.  11., 
Bl.  169  und  Äsops  fables  1658  sind  mir  nicht  zugänglich  gewesen.  Cod.  apocr.  a.  T.  Fabric. 
168,  u.  Bvang.  Tischend.  183/183  erzählen  von  der  Verwandlung  eines  Mannes  in  einen 
Maulesel.  Bocc.  V,  8  bespricht  M.  Landau  s  1.  c.  im  Zusammenhange  mit  Ovid.  Metamorph. 
XIV,  698.  Vgl.  dazu  M.  Haupts  Ausgabe,  II,  233  Anm:  „Die  Erzählung  findet  sich  auch 
bei  Antoninus  Liberalis  39,  der  sie  nach  dem  zweiten  Buche  von  Hermesianax  Leontion,  je- 
doch mit  andern  Namen  der  handelnden  Personen  erzählt/ 


-•••- 


Zttchr.  f.  vgl.  Litt.-GMch.  i,  1  a 


Germanische  Sagenmotive  im  Tristan-Roman. 


Von 
Gregor  Sarrazin. 


Durch  die  Untersuchungen  R.  Heinzeis,*)  F.  Lichtensteins,**)  E.  K61- 
bings,***)  Fr.  Vetters, f)  W.  Böttigers,ff)  ist  das  Verhältnis  der 
verschiedenen  Versionen  der  Tristansage  zu  einander  klargestellt.  Es 
unterliegt  nunmehr  kaum  einem  Zweifel  mehr,  dafs  sämtliche  Fassungen 
auf  zwei  verschiedene  altfranzösische  Dichtungen  zurückzufuhren  sind, 
von  denen  nur  Fragmente  noch  vorliegen.  Trotzdem  kennen  wir  den 
Inhalt  jeder  dieser  beiden  Dichtungen  vollständig  und  genau,  wir  können 
ihn  aus  den  abgeleiteten  Fassungen  rekonstruieren;  und  zwar  den  der 
einen:  Thomas'  Version,  (vermutlich  in  England  von  einem  Normannen 
gedichtet)  aus  der  Bearbeitung  Gottfrieds  von  Strafsburg,  aus  dem  eng- 
lischen Sir  Tristran,  und  besonders  aus  der  isländischen  Saga,  die  sich 
als  ziemlich  wortgetreue  Übersetzung  des  altfranzösischen  Romans  er- 
wiesen hat;  die  andere:  Berols  Version,  (wohl  in  der  Normandie  verfafst) 
aus  der  Bearbeitung  Eilharts  von  Oberge,  aus  Ulrichs  von  Türheim 
Tristan  und  Heinrichs  von  Freiberg  Fortsetzung  der  unvollendeten 
Dichtung  Gottfrieds  von  Strafsburg.  Aus  der  Vergleichung  der  beiden  alt- 
französischen (normannischen)  Versionen  läfst  sich  weiter  mit  einiger 
Sicherheit  auf  den  Inhalt  der  alten  normannischen  Sage  schliefsen; 
doch  darüber  hinaus  ist  bisher  die  Geschichte  derselben  nicht  verfolgt 


*)  Gottfrieds  von    Strafsburg   Tristan    und    seine  Quelle  in  der  Zeitschr.  £  deutsch. 
Altert.     N.  F.  II,  472  ff. 

♦*)  Einleitung  zu  seiner  Ausgabe  des  Eilhart  von  Oberge,  Strafsburg  1877,  S.  CXIV.  ff. 
**♦)  Einleitung  zu  seiner  Ausgabe  der  Tristrams  Saga.     Heilbronn  1878. 
t)  La  Ugende  de  Tristran.     Marburg  L  H.  1882. 
tt)  Der  Tristan  des  Thomas.     Göttingen  1883. 


Germanische  Sagenmotive  im  Tristan-Roman.  363 

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worden,    da  sie  sich  im  Dunkel  der  Bretonischen  Volkspoesie  zu  ver- 
lieren schien. 

In  dieses  einzudringen  soll  auch  hier  nicht  versucht  werden.  Nur 
einige  mit  germanischen  Sagen  merkwürdig  übereinstimmende  Züge,  auf 
die  zum  Teil  schon  früher  von  anderen  aufmerksam  gemacht  worden  ist, 
seien  zusammengestellt.  Vielleicht,  dafs  ihre  Betrachtung  dazu  fuhrt,  die 
gewöhnliche  Anschauung  über  die  Entstehung  des  Epos  etwas  zu  modi- 
fizieren. 

Zuvor  möchte  ich  daran  erinnern,  dafs  wenigstens  einige  Namen  des 
Tristan-Romans  germanischen  Ursprungs  zu  sein  scheinen.  Tristans 
Pflegevater  (Freund)  heifst  nach  Gottfried  von  Strafsburg  Rual,  nach  dem 
englischen  Sir  Tristran  Rohand,  nach  der  isländischen  Saga  Roaldr  =  altnd. 
Hroaldr;  der  Gegner,  den  er  im  ersten  Kampfe  überwindet  Morolt 
(Morhold,  Morold  frz.  Morhout),  welcher  Name  der  mhd.  Spielmanns- 
dichtung bekanntlich  schon  vor  Eflhart  und  Gottfried  von  Strafsburg 
geläufig  ist.  Der  Name  Isold  (Isalte,  französisch  Yseut,  Ysolt)  ist  ebenso 
der  einheimischen  mittelhochdeutschen  Dichtung  bekannt  und  von  Förste- 
mano  (Altdeutsch.  Namenb.  I,  804)  aus  einer  Urkunde  des  VIII.  Jahrhunderts 
belegt.  Sodann  scheinen  einige  Züge  der  Dichtung  mehr  skandinavischen, 
germanischen  als  keltischen,  romanischen  Sitten  zu  entsprechen.  Tristans 
Zweikampf  mit  Morolt  ist  ein  skandinavischer  Holmgang.  Das  Gottes- 
urteil, dem  Isolde  unterworfen  wird  (Gottfr.  15728  ff.,  Tristr.  Saga 
Kap.  LVL,  LDC.)  ist  deudich  die  altnordische  Eisenprobe  (K.  Maurer, 
German.  XIX,  140).  Die  Trennung  zweier  Liebenden  durch  ein  blofses, 
auf  das  Lager  gelegtes  Schwert  (Berol.  1769,  Michel  L,  S.  224)  ist  be- 
kanntlich ein  der  germanischen  Sage  ganz  geläufiges  Motiv,  das  wohl 
im  altgermanischen  Recht  beg^ndet  ist. 

Es  liegt  daher  schon  aus  diesen  Gründen  nahe,  Einflufs  germanischer, 
skandinavischer  Dichtung  auf  die  Ausbildung  des  wohl  in  der  Normandie 
gedichteten  Romans  anzunehmen,  wie  bereits  G.  Brynjulfson  in  den  Annal. 
f.  nord.  Oldkynd.  1851,  S.  89  ff.  gethan. 

Ein  bemerkenswertes,  allen  alten  Versionen  gemeinsames  Motiv 
bietet  die  Erzählung  von  Tristans  Drachenkampf.  Während  Tristan 
totwund  vom  Kampfe  dagelegen,  heifst  es,  habe  ein  feiger  und  ver- 
räterischer Mann,  der  Truchsefs  am  Hofe  von  Isoldens  Vater  war,  den 
Ruhm,  den  Drachen  erlegt  zu  haben,  für  sich  in  Anspruch  genommen 
und  daraufhin  als  Lohn  die  Hand  der  Königstochter  begehrt,  obgleich 
diese  um  verschmähte;  da  sei  Tristan  zum  Vorschein  gekommen,  habe 
die  Drachenzunge,  welche  er  gleich  nach  dem  Kampfe  dem  Ungetüm 

18* 


264  Gregor  Sarrazin. 


aus  dem  Rachen  geschnitten,  vorgezeigt  und  so  den  Truchsefs  seines 
Betruges  überfuhrt.  Genau  dieselbe  Geschichte  findet  sich,  wie  von  anderer 
Seite  schon  früher  bemerkt*),  in  der  mittelhochdeutschen  Sage  von  Wolf- 
dietrich (Wolfd.  A.  Dresdener  Hs.  V.  305  ff.,  Wolfd.  B.  781,  Wolfd.  D. 
VIII,  188  ff.)  und  in  mehreren  deutschen  Märchen,  wovon  besonders  das 
von  den  zwei  Brüdern**)  (Grimm,  Kinder-  und  Hausmärchen  No.  60) 
und  „der  kühne  Sergeant"  (Wolf,  Deutsche  Märchen  und  Sagen  Nr.  ^i) 
bemerkenswert  sind.  Bei  dem  Alter  und  der  Verbreitung  dieses  Sagen- 
motivs in  Deutschland  ist  es  nicht  wahrscheinlich,  dafs  dasselbe  etwa  aus 
der  französischen  Sage  übernommen  sein  sollte,  zumal  da  Drachenkämpfe 
überhaupt  in  keltisch-französischen  Sagen  ungewöhnlich  sind.  Noch 
weniger  kann  umgekehrt  das  Motiv  aus  deutscher  Sage  nach  Frankreich 
gelangt  sein.  Wir  haben  also  nur  die  Wahl,  das  Zusammentreffen  als 
zufallig  anzusehen,  was  bei  einer  so  auffälligen  und  weitgehenden  Über- 
einstimmung nicht  recht  glaublich  ist,  oder  eine  gemeinsame  Quelle  an- 
zunehmen, aus  der  beide  Darstellungen  geflossen  sind.  Das  letztere  ist 
um  so  wahrscheinlicher,  als  auch  sonst  die  Wolfdietrich-  und  die  Tristan- 
Sage  manche  ähnliche  Züge  aufweisen.  Die  Liebesgeschichte  von  Wolf- 
dietrichs Eltern  (nach  Wolfd.  B.)  entspricht  der  von  Tristans  Eltern. 
Wolfdietrich  ist  wie  Tristan  ein  aufserehelich  erzeugtes  Kind,  fiüh  ver- 
waist, wird  von  einem  treuen  Vasallen,  Berchtung  von  Meran,  der  ihn 
mehr  liebt  wie  seine  eigenen  Söhne,  erzogen  (Wolfd.  B.  263  vgl.  Trist. 
Saga  Kap.  1 7),  ebenso  wie  Tristan  von  Roald  (Rual,  Kurvenal,  Guvernal). 
Dafs  Drachen-  und  Riesenkämpfe  in  beiden  Sagen  vorkommen,  ist  nicht 
sehr  charakteristisch,  mehr  das  Verhältnis  Wolfdietrichs  zu  zwei  Frauen, 
Sigeminne  und  Liebgart,  welche  sich  den  beiden  Isolden  vergleichen 
lassen.  Die  eng  mit  der  Wolfdietrichsage  verwachsene  Ortnitsage  liefert 
aufserdem  in  König  Ortnits  Brautfahrt  über  Meer  eine  Parallele  zu 
Tristans  Brautwerbung. 


*)  Jänicke  in  der  Einleitung  su  Wolfdietrich  C.  und  D.  (Deutsches  Heldenbuch  IV. 
S.  XLni;  W.  MfiUer,  Mythol.  d.  d.  Heldensag^e  S.  74,  wo  derselbe  Zug  auch  aus  deutschen 
norwegischen  und  isländischen  Märchen  nachgewiesen  wird;  vgl.  K.  Breul,  in  der  Einleitung 
£u  Gowther  S.  128. 

**)  Dieses  Märchen  gehört  ofifenbar  zu  dem  Sagenkreise  von  Ortnit  und  Wolfilietrich, 
den  Müllenho£f  in  der  Ztschr.  f.  d.  A.  XII,  350  auf  einen  Dioskurenmythus  zurQckgeföhrt  hat. 
Die  rwei  Brüder  lassen  sich  Ortnit  und  Wolfdietrich  vergleichen.  Wenn  im  Märchen  der 
Drachentöter  von  einer  Hexe  durch  Zauberei  in  Stein  verwandelt,  aber  durch  seinen  Bruder 
erlöst  wird,  so  erinnert  das  an  Wolfdietrichs  Verzauberung  durch  die  rauhe  Else  (Wolf- 
dietrich B.  Str.  311).  Ahnlich  ist  auch  der  Umstand,  dafs  dem  Drachenkämpfer  ein  Löwe 
beisteht  (vgl.  Wolfd.  B.  Str  667  flf.;  Thidreks  S.  C.  418). 


Germanische  Sagenmotive  im  Tristan-Roman.  265 


Da  nun  die  Tristansage  vermutlich  in  der  Normandie  ihre  Ausbildung 
fand,  wäre  es  nicht  unmöglich,  dafs  altnordische  Sagenmotive  in  die 
Darstellung  verwoben  wurden.  Andererseits  weisen  manche  Umstände 
daraufhin,  dafs  auch  die  Sagen  von  Ortnit  und  Wolfdietrich  skandinavischen 
Ursprungs  sind.  Auf  skandinavischem  und  slavischem  Boden  sind  mehrere 
nahverwandte  Sagen  nachgewiesen  worden  (MüUenhofF  Zeitschr.  f  d. 
A.  XII,  347  ff.),'  welche  zum  Teil  den  mythischen  Ursprung  deutlicher 
zeigen  als  die  süddeutschen  Lieder.  Ferner  geht  aus  den  Orts-  und  Völker- 
namen derselben,  obgleich  hier  der  Schauplatz  nach  Oberitalien  und 
Griechenland,  der  Türkei  und  Kleinasien  verlegt  ist,  doch  noch  hervor, 
dafs  die  Sage  ursprünglich  im  Nordosten  Europas  lokalisiert  war;  denn 
Ortnits  Oheim  wird  Yljas  (=  Ilija)  von  Riuzen  (Russland)  genannt,  unter 
welcher  Person  nach  Müllenhoff  (Zeitschr.  f  d.  A.  XII,  353)  Ilija  von 
Murom  der  russischen  Sage  zu  verstehen  ist;  und  der  Name  von  Ortnits 
Königsburg  Garda,  der  wahrscheinlich  die  Veranlassung  zur  Lokalisierung 
in  Oberitalien  war,  dürfte,  wie  schon  Müllenhoff  wahrscheinlich  gemacht, 
(Zeitschr.  f.  d.  A.  XII,  352)  nur  durch  Mifsverständnis  aus  Naugarden 
(Nowgorod)  oder  vielleicht  aus  der  altnordischen  Bezeichnung  Garda 
riki,  1  Gördum  für  Russland  entstanden  sein. 

Ein  indirekter  Zusammenhang  zwischen  der  Tristan-Sage  und  der 
von  Ortnit  und  Wolfdietrich  wäre  also  nicht  unmöglich. 

Der  letzteren  am  jiächsten  verwandt  ist  die  Episode  von  Hertnids 
und  Thidreks  Drachenkampf  in  der  aus  deutscher  Sage  geschöpften 
skandinavischen  Thidrekssaga  C.  417  ff.:  Müllenhoff,  a.  a.  O.  S.  348  ff. 
W.  Müller,  Mythol.  d.  d.  Heldens.  S.  206»  A.  Edzardi,  Germania  XXV, 
(Jahrgang  1880)  S.  51  ff.  Der  zuerst  erwähnte  charakteristische,  mit 
dem  Tristanroman  übereinstimmende  Zug  fehlt  allerdings  in  dieser  Sage 
(statt  von  einem  lästigen  Freier  wird  hier  die  Fürstin  durch  Räuber  be- 
drängt, von  denen  der  Drachentöter  sie  befreit);  aber  ein  merkwürdiges 
Zusammentreffen  ist  es,  dafs  Hertnids  (=  Ortnits)  Witwe  und  Thidreks 
(ss  Wolfdietrichs)  spätere  Gemahlin  (=  Liebgart)  Isold  heifst,  gerade  wie 
Tristans  Geliebte  und  Gattin.  Zunächst  könnte  man  versucht  sein,  den 
Namen  für  endehnt  aus  dem  französischen  Roman  zu  halten.  Aber  da- 
gegen spricht  die  Altertümlichkeit  der  Sagenüberlieferung.  Wenn  auch 
die  Thidrekssage  selbst  nicht  älter  als  das  XIII.  Jahrhundert  ist,  so 
stammt  doch  der  norddeutsche  Bericht,  aus  dem  sie  schöpft,  sicher  aus 
der  Mitte  des  XII.  Jahrhunderts,  als  der  Tristanroman  in  Deutschland 
noch  unbekannt  war  (vgl.  Müllenhoff,  Zeitschr.  f.  d.  A.  XII,  354).     Dafs 


266  Gregor  Sarrazin. 


aber  etwa  der  isländische  Bearbeiter,  der  allerdings  den  Tristanroman 
kannte,  den  Namen  eingesetzt,  ist  bei  der  sonstigen  Treue  mit  der  er  die 
deutschen  Erzählungen  wiedergiebt,  nicht  wohl  anzunehmen.  Auch  ist 
nicht  recht  einzusehen,  was  eine  solche  Namensvertauschung  veranlafst 
haben  sollte,  da  im  Inhalt  bis  auf  den  Drachenkampf  keine  besondere 
Ähnlichkeit  hervortritt.  Der  Name  von  Tristans  Geliebten  lautete 
übrigens  in  der  isländischen  Tristansage,  aus  welcher  der  Verfasser  der 
Thidrekssaga  ihn  doch  entnommen  haben  müfste,  Ysond,  nicht  Isold,  wie 
die  letztere  den  Namen  giebt. 

Da  nun  der  Name  Isolde  ein  echt  germanischer  ist  (=«  Is-walda,  ESs- 
herrscherin)  möchte  ich  eher  glauben,  dafs  derselbe  in  der  Tristan-  wie 
in  der  Hertnid-Thidrekssage  aus  der  gemeinsamen  altnordischen  Quelle 
herrührt.  In  der  Thidrekssaga  wird  noch  von  einem  anderen  Hertnid 
erzählt,  der  von  dem  Drachenkämpfer  unterschieden  wird,  ursprünglich 
aber  mit  ihm  identisch  gewesen  sein  mufs  (Müllenhoff  a.  a.  O.  S.  351); 
es  heifst,  dafs  dieser  mit  Isung  und  seinen  Söhnen  um  ein  Weib  gekämpft, 
und  es  ist  anzunehmen,  dafs  nach  der  alten  Sage  das  erstrittene  Weib 
dem  Geschlecht  der  Isunge  angehörte  (S.  352),  daher  würde  der  Name 
Isolde  sehr  gut  für  sie  passen,  wenn  wir  in  Betracht  riehen,  dafs  die 
altgermanische  Sage  es  hebt,  Gliedern  desselben  Geschlechts  ähnliche 
Namen  zu  geben.  Falls  aber  doch  die  Isolde  der  Thidreksage  aus  dem  alt- 
französischen Roman  herrühren  sollte,  würde  jlieser  Umstand  dafür 
sprechen,  dafs  in  einer  früheren  Fassung  der  Sage  eine  gröisere  Ähnlich- 
keit mit  dem  Tristanroman  vorhanden  war,  welche  die  Namensvertauschung 
veranlafste. 

Müllenhofis  geniale  Kombination  hat  die  altnordische  Sage  von  den 
Haddingen  (in  der  Hervarar-Saga  und  Orvar  Odds-Saga  überliefert)  als 
der  deutschen  Ortnit-  und  'Wolfdietrichsage  verwandt  erkannt.  Wenn 
also  unsere  bisherige  Zusammenstellung  richtig  ist,  müssen  wir  erwarten 
auch  hier  Beziehungen  zu  dem  Tristan  zu  finden.  Und  in  der  That 
zeigt  der  Schlufs  der  Haddingensage  eine  auffallende  Ähnlichkeit  mit 
dem  Schlufs  des  Tristanromans.  Thomas'  Version  (Manuscr.  Douce 
V.  885.  ff.,  Michel  II,  43  ff.  vgl.  Tristrams  Saga  Kap.  XCIV.  ff.)  erzählt, 
Tristan  habe  einem  anderen  Ritter,  der  merkwürdigerweise  auch  Tristan 
(der  Zwerg)  hiefs,  im  Kampf  gegen  acht  riesenstarke  Brüder  beigestanden 
von  denen  der  eine  die  Gemahlin  jenes  Tristan,  des  Zwerges,  geraubt 
hatte.  Die  beiden  Tristan  erschlugen  sieben  der  Brüder,  aber  Isoldens 
Geliebter  wurde  tödtlich  verwundet,    dafs    er   sich  nur  mit  Mühe  nach 


Germanische  Sagenmotive  im  Tristan-Roman.  267 

Hause  schleppen  konnte.  Dort  bat  er  seinen  Freund  und  Schwager 
Kaherdin,  zu  seiner  Geliebten,  Isolde  über  das  Meer  zu  fahren,  ihr  einen 
Ring  als  Wahrzeichen  zu  übergeben  und  sie  zu  bewegen,  dafs  sie  zu 
ihm  eile,  um  ihn  durch  ihr  zauberkräftiges  Mittel  zu  heilen.  Kaherdin 
richtet  seinen  Auftrag  aus,  aber  Isolde  findet  den  Geliebten  tot,  und 
stirbt  neben  der  Leiche. 

Die  Örvar  Odds  Saga  (FAS.  II,  22^  flf.)  erzählt  von  zwei  Freunden, 
Örvar  Odd  und  Hjalmar.  Die  kämpften  mit  zwölf  riesenstarken  Brüdern 
(von  denen  nach  der  Darstellung  der  Hervararsaga  Kap.  4  S.  16  ff.  der 
eine  sich  vermessen  hatte,  Ingeborg,  eine  Tochter  des  Schwedenkönigs 
Ingvi,  zu  entfuhren.  Orvar  Odd  und  Hjalmar  erschlugen  das  feindliche 
Geschlecht.  Aber  Hjalmar,  Ingeborgs  Geliebter,  wurde  selbst  zum  Tode 
verwundet.  Da  bat  er  seinen  Gefährten:  Jetzt  sollst  du  mir  den  Ring 
von  der  Hand  ziehen  und  Ingeborg  aufsuchen  und  ihr  sagen,  dafs  ich  ihr 
ihn  sende  am  Todestage."  Dann  starb  er.  Da  brachte  Odd  die  Leiche 
zu  Schiff  nach  Hause.  Vor  den  Türen  der  Königsburg  legte  er  sie 
nieder.  Dann  ging  er  hinein  zu  Ingeborg  und  brachte  ihr  den  Ring,  mit 
Hjalmars  Gruss.  Sie  nahm  ihn,  blickte  ihn  an  und  antwortete  nicht,*) 
sondern  sank  sogleich  tot  nieder. 

Die  Ähnlichkeit  dieser  beiden  Geschichten  kann  nicht  zufallig  sein. 
Unmöglich  ist  es  auch,  dafs  etwa  der  Schlufs  der  Örvar  Odds  Saga  dem 
Tristanroman  nachgebildet  sei,  denn  die  eingestreuten  Verse  der  ersteren 
bezeugen  das  höhere  Alter  dieser  Episode.  Wir  brauchen  auch  nur  an 
Balders  und  Nannas,  Sigurds  und  Brynhilds  Tod  zu  denken,  um  zu  er- 
kennen, dafs  wir  es  hier  mit  einem  Motiv  zu  thun  haben,  welches  ganz 
im  Charakter  der  skandinavischen  Dichtung  ist.  Der  Schlufs  des  Tristan- 
romans ist  also  höchst  wahrscheinlich  ebenfalls  skandinavischen  Ursprungs. 

Zum  Sagenkreise  von  Ortnit  und  Wolfdietrich  gehört  nun  femer, 
wie  ich  Angl.  IX,  203  glaube  nachgewiesen  zu  haben,  auch  die  ursprünglich 
dänische  Sage  von  Beowulf  (Bödvar).  Der  Drachenkämpfer  Beowulf 
und  der  Drachenkämpfer  Tristan  sind  einander  sonst  allerdings  wenig 
ähnlich.  Indessen  sind  doch  die  folgenden  übereinstimmenden  Züge  be- 
achtenswert: Beowulf  lebt  als  Jüngling  auch  am  Hofe  eines  Fürsten,  der 


*)  Vgl,  Thomas  Tristan  (Ms.  Douce)  V.  1799  (Michel  II,  S.  84): 

Tresque  Ysolt  la  novele  ot 

De  dolor  ne  puet  suner  mot 
Auch  Wolfdietrich  bringt  der  Uebgart,  Ortnits  Witwe,  einen  Ring  von  ihrem   toten  Gemahl. 
(Wolfd.  B.  Str.  771  flf.) 


268  Gregor  Sarraiin. 


der  Bruder  seiner  Mutter  ist.  Er  befreit  ebenfalls  einen  alten  Konig  aus 
grofser  Bedrängnis,  indem  er  einen  Menschenopfer  fordernden  Moorriesen 
(vgl.  den  Riesen  Morolt)  bekämpft  und  erschlägt.  Die  nahverwandte 
Sage  von  Bödvar  Biarki  (FAS.  I,  47  ff.)  bietet  aufserdem  die  Ähnlich- 
keiten, dafs  nach  Bödvars  Kampf  mit  dem  Ungeheuer  ein  Anderer  das 
Verdienst  es  erlegt  zu  haben  für  sich  in  Anspruch  nimmt,  (FAS.  I,  72), 
ferner,  dafs  Bödvar  die  fremde  Königstochter  zur  Gattin  erhält,  nachdem 
er  einen  Nebenbuhler  besiegt  (FAS.  I,  76,  Saxo  I,  S.  87);  endlich,  dafs 
auch  Bödvar  vereint  mit  einem  Freunde  gegen  übermächtige  Feinde 
kämpft  und  fallt  (FAS.  I,  105  ff.,  Saxo  I  S.  90  ff.). 

Danach  scheint  auch  Tristans  Jugendgeschichte  skandinavisch  zu  sein. 

Der  Vollständigkeit  halber  seien  endlich  noch  die  übrigen  dänischen 
Drachenkämpfersagen  herbeigezogen,  welche  W.  Müller  in  der  Zeitschr. 
f.  d.  A.  III,  43  ff.  zusammengestellt  hat,  da  dieselben  wahrscheinlich 
ebenso  wie  das  Beowulfepos  auf  den  Mythus  von  Frey  zurückgehen. 
Analoga  bietet  die  Erzählung  von  Fridlevus  (Saxo  S.  265  ff.),  der  um 
die  spröde  Frögertha  wirbt,  und  die  Sage  von  Regner  Lodbrok  (Saxo 
I,  441  ff.),  dessen  Liebe  zwischen  Lathgertha  und  Thora  geteilt  ist. 
Doch  sind  die  Ähnlichkeiten  in  beiden  Fällen  nicht  bedeutend. 

Aus  den  vorstehenden  Ausfuhrungen  wird  hervorgegangen  sein, 
dafs  die  Fabel  des  Tristanromans  mit  jeder  der  angeführten,  unter  ein- 
ander verwandten  Sagen,  mehrere,  zum  Teü  sehr  markante  Züge  gemein 
hat.  Die  altnormannische  Dichtung  scheint  also  ihren  Rahmen  einer 
skandinavischen  Sage  entlehnt  zu  haben,  derselben,  auf  welche  die  ver- 
glichenen germanischen  zurückzuführen  sind.  Germanischen,  altnordischen 
Ursprungs  dürften  die  folgenden  Züge  sein: 

Der  Held  ist  dunkeler  Herkunft,  als  Kind  früh  verwaist.  Ej-  wächst 
in  der  Obhut  eines  Mannes  von  niederem  Stande  heran.  & 
kommt  an  den  Hof  eines  (verwandten  oder  befreundeten)  Königs. 
Er  erlegt  einen  Drachen,  schlägt  einen  Nebenbuhler  aus  dem  Felde.  Er 
besiegt  einen  Riesen,  der  das  Land  bedrängt.  Er  unternimmt  eine 
Brautfahrt  über  See.  Er  gewinnt  die  Liebe  eines  stolzen  Weibes  aus 
riesischem  Geschlecht,  das  eines  anderen  Gattin  ist.  Er  ruht  bei  ihr, 
aber  ein  blosses  Schwert  liegt  zwischen  den  Liebenden.  Er  vermählt 
sich  mit  einer  anderen,  der  sein  Herz  gleichwohl  nicht  gehört.  Im 
Kampf  gegen  ein  feindliches  Geschlecht  fallt  er,  von  einem  Speer  tödlich 
getroffen.  Sein  Waffenbruder  bringt  der  Geliebten  die  Trauernachricht. 
Sie  stirbt,  die  Gattin  klag^  über  seiner  Leiche. 


GermaDische  Sagenmotive  im  Tristan-Roman.  269 


Wenn  nun  unsere  bisherige  Untersuchung  das  Richtige  getroffen 
hat,  so  mufs  es  eine  germanische  Sage  gegeben  haben,  in  der  alle 
diese  Züge  vereinigt  waren.  Und  in  der  Tat  läfst  sich  eine  solche 
nachweisen:  die  Siegfriedsage  ^enthält  genau  dieselben  sagenhaften 
ZügQ  und  zwar  fast  in  derselben  Reihenfolge.  Ja,  es  kommen  noch 
andere  auffallende  Übereinstimmungen  hinzu. 

Sigiird  ist  in  Unfreiheit  geboren,  (Völs.  S.  Cap.  12,  Fafnism,  7). 
Sein  Vater  Sigmund  ist  vor  seiner  Geburt  gestorben  (Sinfiötlalok,  Völs. 
S.  Cap.  12)  ebenso  wie  der  Tristans  (Saga  Cap.  15).  Er  wächst  bei  dem 
Schmied  Mimir  (Regin),  auf.*)  Er  tötet  den  Drachen  Fafnir  und  erschlägt 
den  Unhold  Regin.  Er  kommt  an  den  Hof  des  Königs  Gunnar.  Von 
einer  Nebenbuhlerschaft  zwischen  ihm  und  Högni  (Hagen)  ist  allerdings 
weder  in  der  altnordischen,  noch  in  der  deutschen  Sage  mehr  die  Rede. 
In  der  ersteren  ist  vielmehr  Högni  zu  einem  Bruder  der  Gudrun  gemacht, 
was  offenbar  nicht  ursprünglich  ist,  denn  die  deutsche  Sage  kennt  nur  ein 
entferntes  Verwandtschaftsverhältnis,  und  Hödur  (Hotherus),  das  mythische 
Vorbild  Högnis  ist  nach  Saxo  (S.  iio  ff.)  nur  der  Pflegebruder  Nannas 
und  Balders  Nebenbuhler.  Dafs  aber  ein  näheres  Verhältnis  zwischen 
Gudrun  (Kriemhild)  und  Högni  (Hagen)  bestanden  haben  mufs,  geht 
eben  aus  dem  Mythus  von  Hotherus  und  Balderus,  sowie  auch  aus  dem 
Gespräch  zwischen  Hagen  und  Kriemhild  im  Niebelungenliede  (Lachm. 
Str.  834,  Zamcke  135)  hervor.  Im  Nibelungenliede  (Lachm.  Str.  121  ff.) 
ist  auch  von  einem  Streite  zwischen  Hagen  und  Siegfried  die  Rede, 
offenbar  ein  altertümlicher,  nur  sehr  abgeschwächter  Zug,  wenn  wir  die 
Kämpfe  zwischen  Hotherus  und  Balderus  vergleichen.  An  die  Stelle 
des  Riesenkampfes,  in  dem  der  Held  dem  bedrängten  Landesfursten 
beisteht,  ist  in  der  Darstellung  des  Niebelungenliedes  der  Sachsenkrieg 
und  der  Zweikampf  Siegfrieds  mit  Lüdegast  getreten.  Siegfrieds  Braut- 
fahrt über  Meer  entspricht  dann  der  Tristans  um  so  mehr,  als  auch  hier 
der  Held  für  den  befreundeten  König  wirbt,  obgleich  er  selbst  die  stolze 
Jungfrau  liebt  und  für  sich  erkämpft  hat.  Brunhild  von  Island  auf 
Isenstein  ist  also  der  Isolde  von  Irland  (aus  dem  Geschlechte  der  Isunge) 
gleichzusetzen.  Der  Liebestrank,  mit  welchem  Isoldens  Mutter,  ohne  es 
zu  wollen,  das  Herz  Tristans  und  ihrer  Tochter  betört  (Gottfr.  1 1439  ff. 
Eilh.    2264  ff.),    erinnert  an    den  Zaubertrank,    welchen    nach  der  Völs. 


*)  Im  Märchen  yon  den  zwei  Brüdern  (Grimm    Nr.  60)   wachsen  die  Khaben  in  der 
Obhut  eines  Goldschmieds,  ihres  Oheims,  auf. 


270  Gregor  Sarrazin. 


Saga  (Cap.  36  vgl.  Gudrunarkv.  II,  21)  Grimhüd,  Gudruns  Mutter,  dem 
Sig^rd  mischt,  damit  er  der  Brynhild  vergesse  und  ihrer  Tochter  geneigt 
werde.  Ein  übereinstimmendes  Motiv  ist  weiter  der  Betrug  in  der 
Brautnacht.  Der  uralte  mythische  Zug,  dafs  Sig^rd  ein  Schwert  zwischen 
sich  und  die  Geliebte,  die  Gattin  des  Freundes  legte,  (Sig^rdarkv.  IE, 

4,  65  findet  wie  schon  erwähnt,  in  mehreren  Versionen  der  Tristan- 
sage (Berol.  1769,  1965,  Eilh.  4588,  Gottfr.  V.  17417,  Saga  Cap.  LXV) 
eine  Parallele. 

Gudrun  (Kriemhild)  entspricht  femer  offenbar  der  weifshändigen 
Isolde,  auch  in  ihrem  ursprünglich  sanften,  hingebenden  Charakter. 
Bedeutsam  ist  die  Rolle,  welche  in  beiden  Sagen  ein  Ring  spielt.  Siegfried 
hat  der  Brunhild  einen  Ring  abgenommen,  den  er  nachher  seiner  Gatdn 
Kriemhild  giebt  (Nibel.  Lachm.  Str.  627  ff.,  790  Völs.  S.  Cap.  28).  Auch 
Tristan  hat  von  der  blonden  Isolde  einen  Ring  erhalten,  den  er  noch 
am  Finger  trägst,  da  er  in  der  Hochzeitsnacht  neben  seiner  Gattin,  der 
anderen  Isolde  ruht  (Thomas  Version,  Ms.  Sneyd  a,  Michel  III,  V. 
392  ff.,  Tristrams  Saga  Cap.  LXX);  aber  er  giebt  ihn  nicht  fort,  sondern 
sendet  ihn  vor  dem  Tode  der  Geliebten  zurück.  Aber  in  beiden  Sagen 
steht  der  Ring  in  Verbindung  mit  dem  Ende  des  Helden;  im  Siegfried- 
Mythus  knüpft  sich  an  ihn  die  Eifersucht  der  Geliebten  (Völs.  S.  Cap. 
28),  im  Tristanroman  die  der  Gattin  (Tristr.  S.  Cap.  XCVI,  Thomas 
Version  Mscr.  Douce  V.  1248,  Michel  II  S.  58),  welche  die  Ursache 
seines  Todes  wird.  Auch  Siegfrieds  Tod  bietet  Parallelen  zu  den  sagen- 
haften Zügen  im  Schlüsse  des  Tristanromans.  Von  drei  Brüdern  wird 
Siegfried  ermordet,  Tristan  fällt  im  Kampf  gegen  acht.  Siegfiied  wird 
ebenso  wie  Tristan*)  nach  der  vermutlich  altertümlichsten  Fassung  der 
Sage  durch  einen  Speer  zu  Tode  getroffen  (Nibel.  Lachm.  Str.  922  Thidr. 

a^ 

5.  Cap.  322,  324  vgl.  W.  Grinun,  Heldens**)  S.  36).  Übereinstimmend 
ist  es  femer,  wenn  auch  vielleicht  eine  zufallige  Übereinstimmung,  dafs 
der  Waffenbruder  und  Schwager  Siegfrieds,  der  allerdings  hier  gerade 
der  Anstifter  des  Mordes  ist,  dessen  Gattin  und  Geliebten  die  Trauer- 


*)  Trist  Thom.    B  11  altre  Tristran  nayrez 

Par  mi  la  luigne  d*un  espe 
Ki  de  venim  fiit  entuscbe 
Espe   bedeutet   nicht   etwa  Schwert  (esp^e)  wie  die  altnordische  Saga  mifsverstanden  hat, 
sondern  Spiefs,  Speer,  wie  Böttiger,  (der  Tristan  des  Thomas  S.  la)  seigt 

**)  W.  Müller  (Myth.  d.  d.  Heldens.  S.  75)   kommt  auf  anderem  Wege  ebenfalls  ra 
der  Oberzeugung  von  einer  ursprfinglichen  Nebenbuhlerschaft  zwischen  Siegfried  und  Hagen. 


Germanische  Sagenmotive  im  Tristan-Roman.  371 

botschaft    überbringt   (Sigurdarkv.    III,  30  flF.,    Gudrunarkv.    II,  7,    vgl. 
Völs.  S.  Cap.  30). 

Ganz  übereinstimmend  sind  femer  die  Rollen,  die  beide  Frauen  nach 
dem  Tode  Siegfrieds  und  Tristans  spielen. 

Schon  W.  Müller  hat  in  seiner  Schrift  über  die  Nibelungensage 
S-  55»  59i  76  die  Tristansage  in  ihrer  ursprünglichen  Gestaltung  eine 
Siegfriedsage  genannt;  die  eben  gezogene  Parallele  wird  gezeigt  haben, 
wie  treflfend  die  Vergleichung  war. 

Aber  auch  der  von  Fr.  Neumann  (Germ.  XXVIII,  350)  angenommene 
Zusammenhang  zwischen  der  Ortnit- Wolfdietrich-  und  der  Siegfriedsage, 
sowie  die  von  mir  vermutete  Verwandtschaft  zwischen  dem  Beowulf- 
und  dem  Siegfriedmythus  (Angl.  IX,  204)  werden  jetzt  eine  Stütze  er- 
halten haben. 

AUen  diesen  Sagen  liegen  dieselben  Mythen  zu  Grunde.  Zwei 
Göttergestalten  sind  es,  die  uns  aus  ihnen  besonders  deutlich  hervortreten: 
Frey  und  Bälden  Freys  Werbung  um  die  stolze  spröde  Gerd,  die 
Riesentochter,  Haiders  Kampf  mit  seinem  Nebenbuhler  Hödur  um  die 
schöne  Nanna,  Haiders  Ermordung  durch  Hödur  und  Nannas  Tod  — 
diese  altnordischen  Mythen,  welche  uns  die  Eddalieder  und  Saxo 
Grammaticus  überliefern,  spiegeln  sich  deutlich  in  den  Sagen  von 
Tristan,  von  Ortnit  und  Wolfdietrich,  von  Siegfried  wieder. 

Wir  brauchen  nur   die  entsprechenden  Personen  nebeneinander  zu 
stellen,  um  den  Zusammenhang  zu  veranschaulichen. 
Haider  (Skimir)     Siegfried  Tristan 

Frey  Günther  Marke,  Kaherdin 

Gerd  Hrunhild  Isolde,  die  blonde 

Nanna  Kriemhild  (Gudrun)     Isolde,  die  weifshändige 

Hödur  Hagen  Der  falsche  Truchsefs, 

Estult  rOrgUUus. 
Die  Sagenvergleichung  fuhrt  zu  dem  Resultat,  dafs  Skimir,  der 
Freund  und  Jugendgespiele  Freys,  nur  eine  Hypostase  des  Lichtgottes 
Halder  ist,  was  ja  auch  aus  dem  Namen:  Skimir:  der  Aulheller,  hervor- 
geht. Weiter  zeigt  sie,  dafs  Balder-Skimir  und  nicht  Frey  der  ursprüng- 
liche Riesentödter  (bani  Helja)  ist,  was  ja  auch  die  Worte  Gerds  in  der 
Skimisför  16  ausdrücklich  bezeugen.  Sodann  erhellt  daraus,  dafs  nach 
dem  alten  Mythus  der  Lichtgott  Halder  als  Drachentödter  galt,  ebenso 
wie  Apollo.  Ferner  ergiebt  sich,  dafs  der  Frey-  und  Haidermythus 
von  Alters  her  zU^jammengehörten,  wie  schon  früher  (von  Ferd.  Vetter 


S72  Gregor  Sarradn. 


in  der  Germ.  XIX,  196  flF.  und  von  mir  Angl.  IX,  203)  vermutet  wurde.  Es 
wird  wahrscheinlich,  dafs  diese  beiden  urgermanischen  Göttergestalten 
dieselben  sind,  wie  die  von  Tadtus  mit  den  Dioskuren  Castor  und 
PoUux  verglichenen.  Wenn  endlich  in  den  verwandten  Sagen  die  spröde 
Jungfirau,  welche  der  Gerd  des  Mythus  entspricht,  Isolde  (Eisherrscherin) 
heifst,  dem  Geschlecht  der  Isunge  angehört,  in  Island  wohnt,  so  scheint 
in  diesen  Namen  noch  deutlich  eine  Erinnerung  an  den  alten  Naturmythus 
fortzuleben,  welcher  Gerd  dem  Geschlecht  der  Reifiiesen  zuwies  und  in 
ihr  wohl  die  winterlich  starre  Erde  personfizierte,  die  erst  durch  die 
Werbung  des  Sonnengottes  erweicht  und  einer  Verbindung  mit  dem 
Gott  der  Fruchtbarkeit  geneigt  gemacht  werden  mufste. 

Die  ursprüngliche  Sage  von  Tristan  und  Isolde  geht  also  ebenso 
wie  die  von  Siegfried  und  Brunhild  .  auf  einen  einfachen  Naturmythus 
zurück. 


Kiel. 


-•••- 


Vergleichende  Studien  zu  Heinrich  von  Kleist. 


Von 
Richard  WeissenfeU. 


I. 

*    Der  Tod  der  Penthesilea. 

Heinrich  von  Kleists  Trauerspiel  „Penthesilea"  ist  trotz  der  gewaltigen 
Dichterkraft,  die  es  besonders  in  seiner  kühnen,  glänzenden  Bilder- 
sprache atmet,  heutzutage  aufserhalb  des  Kreises  der  Litterarhistoriker 
wenig  bekannt.  Der  Grund  liegt  in  dem  mancherlei  Unwahrscheinlichen 
und  Verletzenden,  das  die  Dichtung  für  den  modernen  Lreser  enthält  und 
das  seine  Erklärung  einerseits  in  den  Verhältnissen,  der  Stimmung,  unter 
deren  Einflufs  das  Werk  entstand,  anderseits  in  dem  Charakter  und  der 
Manier  seines  Verfassers  überhaupt  findet.  Die  allgemeinen  Umstände 
und  Eigentümlichkeiten,  welche  hier  in  Frage  kommen,  sind  schon  oft, 
wenn  auch  vielleicht  noch  nicht  erschöpfend  erörtert  worden,  ich  will 
jetzt  zunächst  speziell  an  den  Schlufs  der  Tragödie,  welcher  nicht  am 
wenigsten  befremdet,  einige  Bemerkungen  knüpfen,  die  nicht  nur  auf 
Kleists  Wesen  und  seine  Art  dichterischen  Schaffens,  sondern  auch  auf 
seinen  Zusammenhang  mit  früheren  imd  gleichzeitigen  Schriftstellern,  einen 
Punkt,  welcher  noch  eingehender  Untersuchungen  bedarf,  etwas  Licht 
werfen. 

Penthesilea  giebt  sich,  nachdem  ihr  die  Waffen  entwunden  sind,  allein 
vermöge  ihres  bis  zum  Extrem  erregten  Gefühles  den  Tod  mit  den 
Worten  (Vers  3024  ff.):*) 

Denn  jetzt  steig*  ich  in  meinen  Busen  nieder, 
Gleich  einem  Schacht,  und  grabe,  kalt  wie  Erz, 
BÜr  ein  vernichtendes  Gefühl  hervor. 


*)  Ich  zitiere  nach  ZoUings  Ausgabe  in  Kürschners  National-Litteratur  Bd.  149 — 150. 


d74  Richard  Wdssenfels. 


Dies  Ers,  dies  läutr'  ich  in  der  Glat  des  Jammers 
Hart  mir  zu  Stahl,  tränk'  es  mit  Gift  sodann, 
HeÜsätsendem,  der  Reue  durch  und  durch, 
Trag*  es  der  Hoffnung  ew*gem  Ambos  zu 
Und  schärf  und  spitz*  es  mir  zu  einem  Dolch, 
Und  diesem  Dolch  jetzt  reich'  ich  meine  Brust: 
Sol  Sol  Sol  Sol  Und  wiederl  -—  Nun  ist's  gut 

(Sie  fällt  und  stirbt) 

Diese  Art,  die  Katastrophe  des  tragischen  Helden  herbeizufuhren, 
ist  eine  so  ungewöhnliche,  originelle,  dafs  man  sich  unwillkürlich  fraget: 
wie  kam  der  Dichter  dazu?  wo  liegen  die  Anknüpfungspunkte  für  solch 
ein  dramatisches  Wagnis  in  ihm  oder  im  Gedankenschatz  der  Zeit?  oder 
hatte  er  etwa  ein  bestimmtes  litterarisches  Vorbild? 

Was  zunächst  das  letztere  betrifft,  so  läfst  sich  die  Möglichkeit 
dafür  nachweisen.  Etwas  anderes  will  ich  nicht  behaupten,  als  dafs  eine 
Erinnerung  an  frühere  Lektüre  nicht  ausgeschlossen  sei.  Ob  sie  wirk- 
lich stattgefunden  hat  und  ob  sie  dann  im  Augenblick  des  Schaffens  eine 
bewufste  oder  unbewufste  gewesen  ist,  könnte  nur  beim  Vorhandensein 
ergiebigerer  Quellen,  als  sie  für  unsern  Fall  bis  jetzt  wenigstens  fliefsen, 
entschieden  werden. 

Ich  weifs  in  der  mir  bekannten  Litteratur  nur  zwei  Katastrophen, 
welche  mit  dem  Tod  der  Penthesilea  Ähnlichkeit  haben.  Die  eine 
erzählt  Boccaccio  im  Dekameron  IV,  8:  Girolamo  schleicht  sich  in  das 
Schlafzimmer  der  Salvestra,  die  er  von  Kindheit  an  geliebt  und  die  sich 
während  seiner  Abwesenheit  mit  einem  andern  verheiratet  hat,  und  bittet 
sie  unter  dem  Versprechen,  sie  nicht  zu  berühren,  ihn  für  eine  Weile  in 
ihr  Bett  aufzunehmen.  Da  heifst  es  nun  weiter:  Coricossi  adunque  il 
giovane  allato  a  lei  senza  toccarla:  e  raccolto  in  un  pensiere  il  lungo 
amor  portatole,  e  la  presente  durezza  di  lei,  e  la  perduta  speranza, 
diliberö  di  piü  non  vivere;  e  ristretti  in  si  gli  spiriti,  senza  alcun  motto 
fare,  chiuse  le  pugna,  allato  a  lei  si  mori.  Salvestra  stirbt  dann  in  ganz 
gleicher  Weise,  allein  am  Übermafse  ihres  Schmerzes,  in  der  Kirche  über 
der  Leiche  ihres  Geliebten.  Der  seelische  Prozefs,  durch  welchen  sich 
Girolamo  und  Salvestra  töten,  ist  derselbe,  wie  bei  der  Penthesilea,  nämlich 
energische  Versenkung,  Konzentration  aller  Gedanken  und  Gefühle  in 
die  eine  Empfindung  ihres  Unglücks,  der  Unterschied  ist  nur,  dafs  dieser 
innere  Vorgang  bei  Boccaccio  objektiv  erzählt,  bei  Kleist  von  der  Heldin 
selbst  gewissermafsen  mit  erläuterndem  Text  versehen  wird.  Ob  Kleist 
den  italienischen  Novellisten  gelesen  hat,  das  mufs  bei  dem  hartnäckigen 
Schweigen,    das  er  über  seine   Lektüre   beobachtet,    eine  offene  Frage 


Vergleichende  Studien  xu  Heinrich  von  Kleist,  f.  375 

bleiben,  doch  macht  es  der  grofse  Einflufs,  den  Boccaccio  im  allgemeinen 
auf  die  Dichter  jener  Zeit  übte,  sehr  wahrscheinlich.*) 

Etwas  sicherere  Anhaltspunkte  bieten  sich  bei  dem  zweiten  Fall, 
den  ich  im  Sinne  habe.  In  Radnes  „Thebaide"  sagt  Creon  nach  dem 
Selbstmord  der  Antigone,  als  ihm,  wie  der  Penthesilea,  von  seinem  be- 
sorgrten  Vertrauten  die  WaflFe  entrissen  ist: 

Ah  I  c*est  m*assassiner  que  me  sauver  la  vie  I 
Amour,  rage,   transports,  venez  k  mon  secours, 
Venec,  et  lerminei  mes  d^testables  joursf 
De  ces  cruels  amis  trompez  tous  les  obstaclesi 

Dann,  nachdem  er  die  Götter  vergebens  um  einen  vernichtenden  Blitz- 
strahl angefleht  hat,  fahrt  er  fort: 

Mais  en  Tain  je  vous  presse,  et  mes  propres  for&its 
Me  fönt  d^j^  sentir  tous  les  maux  que  j'ai  faits. 
Polynice,  £t^ocle,  Jocaste,  Antigone, 
Mes  fils,  que  j^ai  perdus,  pour  m'^lever  au  trdne, 
Tant  d'autres  malheureuz  dont  j^ai  caus^  les  mauz, 
Font  d^ä  dans  mon  coeur  Toffice  des  bourreauz. 
ArrMez  —  Mon  tr6pas  va  venger  votre  perte. 
La  foudre  va  tomber,  la  terre  est  entr'ouverte; 
Je  ressens  k  la  fois  mille  tourments  divers, 
£t  je  m'en  vais  chercher  du  repos  auz  enfers. 

(II  tombe  entre  les  malus  des  g^des.) 

Brahm  meint  in  seiner  Biographie  Kleists  S.  147  doch  wohl  nur,  dafs 
Racines  Dramen  der  Natur  des  deutschen  Dichters  nicht  zugesagt  haben, 
denn  dafs  ihm  dieselben  bekannt  gewesen,  daran  scheint  mir  sein  wieder- 
holter längerer  Aufenthalt  in  Paris  und  die  sonst  erwiesene  starke  Ein- 
wirkung französischer  Schriftsteller  auf  seine  Dichtung**)  keinen  Zweifel 
zu  gestatten.  Ich  möchte  auch  aus  der  eben  zitierten  Rede  Creons  noch 
eine  Stelle,  die  ich  vorher  weggelassen,  hervorheben  und  mit  einem  be- 
rühmten Worte  Kleists  vergleichen,  das  in  seiner  Form  vielleicht  eben- 
falls nicht  ganz  unbeeinflufst  ist  von  jener  und  damit  die  Bekanntschaft 
Kleists  mit  der  „Thebaide"  noch  wahrscheinlicher  macht,  als  sie  schon 
an  sich  ist.     Der  oft  angeführte  Ausspruch  Kleists  steht  in  den  Briefen 


*)  Es  acheint  mir  sicher,  dafs  ein  Einfluss  des  Boccaccio  auf  Kleists  Novellenstil  an- 
zunehmen ist  und  femer  auf  seine  bekannte  Vorliebe  für  die  Schilderung  des  Mysteriums 
der  Liebe,  wenn  die  letztere  auch  ihre  tiefsten  Wurzeln  in  seiner  eigenen  Natur  hatte. 

**)  Vgl.  z.  R  Brahm;   H.  v.  Kleist  S.   146  ff.    163  ff.,  Erich  Schmidt,   Richardson 
Rousseau  u.  Goethe  S.  329  ff.,  ZoUing^  biogr.  Einl.  zu  Kleists  Werken,  149.  Bd.  v.  KOrschnert 
deutscher  Nat.-Litt  S.  LXXXV.  Anm.  u.  a. 


876  Richard  Weissenfeis. 


an  seine  Schwester  Ulrike  (herausgegeben  von  Koberstein)  S.  Sa:  »Der 
Himmel  versaget  mir.  den  Ruhm,  das  gröfste  der  Güter  der  Erde,  ich 
werfe  ihm,  wie  ein  eigensinniges  Kind,  alle  übrigen  hin.***)  Und  mit 
ganz  ähnlichem  Ausdruck  sagt  Creon  von  seiner  Situation,  die  abgesehen 
vom  Gegenstand  des  vergeblichen  Strebens  ganz  dieselbe  ist:  Vous 
(d.  h.  die  Gotter)  m*6tez  Antigone,  ötez-moi  tout  le  reste.  Mit  diesen 
Worten  sind  anderseits  wieder  drei  Stellen  gerade  in  der  „Penthesilea** 
zu  vergleichen,  die  gewöhnlich  in  der  Entstehungsgeschichte  dieser 
Tragödie  mit  jenem  Bekenntnis  des  Dichters  an  Ulrike  in  Verbindung 
gebracht  werden.     Prothoe  fragt  die  Penthesilea  V.  668  S: 

Willst  du  — , 

Weil  unerftllt  ein  Wunsch,  ich  weils  nicht  welcher, 

Dir  im  geheimen  Herzen  blieb,  den  Segen, 

Gleich  einem  übellaunigen  Kind,  hinweg, 

Der  deines  Volks  Gebete  krönte,  werfen? 

Dieselbe  sagt  V.  1287  fF.  von  ihrer  Fürstin: 

Des  Lebens  höchstes  Gut  erstrebte  sie, 

Sie  streift*,  ergriff  es  schon:  die  Hand  Tersagt  ihr, 

Nach  einem  andern  noch  sich  auszustrecken. 

Und  Penthesilea  selbst  fragt  V.  11 99  fF.: 

Warum  auch  wie  ein  Kind  gleich. 

Weil  sich  ein  flüchtiger  Wunsch  mir  nicht  gewährt, 

Mit  meinen  Göttern  brechen? 

Hier  in  der  „Penthesüea^  handelt  es  sich  bei  dem  versagten  höchsten 
Gut  auch  nicht,  wie  in  Kleists  Leben,  lun  den  Ruhm  allein,  sondern  zu- 
gleich, wie  in  der  „Thebaide"  um  einen  geliebten  Menschen. 

Die  Erinnerung  an  ein  litterarisches  Vorbild  kann  aber  bei  einem 
so  subjektiven  Dichter,  wie  Heinrich  von  Kleist,  nur  als  hinzutretendes 
Element  für  die  Gestaltung  eines  Gedankens  aufgefafst  werden,  der 
Keim  dieses  Gedankens  selbst  ist  im  Leben  und  Wesen  des  Dichters 
und  der  ganzen  Richtung  seiner  Zeit  zu  suchen. 

Dafs  die  eigentümliche  Todesart  der  Penthesilea  an  Kleists  eigenen 
moralischen  und  physischen  Zusammenbruch  nach  seiner  Verzweiflung 
am  „Guiskard"  erinnere,  will  wohl  Brahm  bei  der  Gelegenheit,  wo  er 
den  Grundgedanken  der  „Penthesilea"  überhaupt  mit  dem  vergeblichen 
Ringen  ihres  Dichters  um  sein  Tragödienideal  in  Verbindung  bringt 
(S.  198  seiner  Biographie),  in  seiner  knappen  Weise  andeuten,  und  eine 

*)  Man  beachte  für  die  versuchte  Anknüpfung  dieses  Ausspruches  an  Racine,  dais 
der  Brief,  in  welchem  er  vorkommt,  in  Franlcreich  geschrieben  ist,  unmittelbv  nach  Kleists 
Flucht  aus  Paris  im  Jahre  1803.  ^ 

« 


1_ 


Vergleichende  Studien  zu  Heinrich  von  Kleist  L  277 

solche  Beziehung  zwisdien  dem  Leben  des  Dichters  und  der  Katastrophe 
seiner  Tragödie  ist  jedenfalls  anzuerkennen,  aber  ich  meine  nur  als  erstes 
Stadium  in  dem  verwickelten  Gedankenprozess,  dessen  Endergebnis  der 
befremdende  Schlufs  der  „Penthesilea"  war.  Es  ist  doch  noch  ein  weiter 
Schritt  von  der  lebensgefahrlichen  Krankheit,  die  sich  Kleist  durch  eine 
nervöse  Erregung  höchsten  Grades  unfreiwillig  zuzog,  bis  zu  dem  über- 
legften  Selbstmord  vermöge  zielbewufster  energischer  Steigerung  aller 
schmerzlichen  Gefühle,  wie  ihn  die  Amazonenkönigin  verübt.  Die 
fehlenden  Mittelglieder  gilt  es  noch  zu  finden,  und  der  Weg,  auf  dem 
ich  sie  suchen  will,  ist  kein  ganz  kurzer  und  direkter  und  führt  zunächst 
durch  einige  allgemeinere  Betrachtungen. 

Es  ist  bekannt,  dafs  Kleist  schon  früh  nicht  nur  an  Selbstmord  im 
allgemeinen,  sondern  in  der  besonderen  Form  des  Zusammensterbens 
mit  einem  andern,  einem  Freund  oder  einer  Freundin,  gedacht  Und  dafs 
er  eine  solche,  die  dazu  bereit  war,  auch  schliefslich  in  Henriette  Vogel 
gefunden  hat.  Eine  Spur  dieses  krankhaften  Gedankens  erkennen  wir 
in  Penthesilea  wieder,  wenn  sie  in  der  Meinung,  den  Achilles  erkämpft 
zu  haben,  dieses  höchste  Glück  in  die  Worte  fafst  (V.  1682):  „Zum 
Tode  war  ich  nie  so  reif  als  jetzt."  Wenn  sie  dann  nach  dem  Tode 
des  Geliebten  sagt  (V.  3012):  „Ich  folge  diesem  Jüngling  hier"  und  bei 
Betrachtung  des  Pfeiles,  mit  dem  sie  ihn  getötet  hat,  in  den  Worten 
(V.  3020)  „Zwar  reizend  wär*s  von  Einer  Seite"  der  flüchtige  Einfall 
aufblitzt,  mit  derselben  Wa£Fe  sich  selbst  das  Lreben  zu  nehmen,  so  sind 
das  Gedanken,  die  ebenfalls  in  das  Bereich  jener  fixen  Idee  Kleists 
gehören  und  ihm  also  zu  dichterischer  Behandlung  sehr  nahe 
lagen*). 

Vielleicht  darf  man  noch  einen  Schritt  weiter  gehen  in  dieser 
Richtung,  wenn  man  sich  damit  auch  auf  das  Gebiet  der  Vermutungen 
wag^.  Man  hat  bisher  immer  angenommen,  dafs  Kleist  in  dem  Charakter 
der  Penthesilea  nur  seine  eigne  Stimmung  verkörpert  habe  in  der  Zeit 
des  vergeblichen  leidenschaftlichen  Ringens  nach  einem  poetischen  Ideal. 
Dafs  eine  solche  Gedankenverbindung  existiert,  leugne  ich  nicht,  aber 
ich  meine,  sie  genügt  nicht,  um  zu  erklären,  wie  Kleist  gerade  auf  diesen 
Stofif,  dessen  Trägerin  doch  eine  Frau  ist,  verfallen  sei,  und  auch  die 
Heranziehung  der  „Jungfrau  von  Orleans"  vermag  diese  erste  Frage 
des  ganzen  Problems  nicht  zu  lösen,  obwohl  der  Einflufs  der  Schillerschen 


*)  Nach  ZolÜDg,  biogr.   £inl.  S.  XCm  Anm.  hat  Kleist  seine  Freundin  Henriette  und 
sich  mit  derselben  Pistole  erschossen. 

Ztochr.  f.  Tgl  Litt-Geach.  L  I9 


278  Richard  Weisaenfels. 


Tragödie  auf  Einzelheiten  in  Kleists  Dichtung,  wie  ihn  Brahm  S.  213 
entwickelt,  als  erwiesen  gelten  kann. 

Die  eben  aufgeworfene  Frage  läfst  sich  in  zwei  zerlegen:  erstens:  wie 
kam  Kleist  dazu,  seine  eigene  Stimmung  auf  ein  weibliches  Wesen  zu 
übertragen?  zweitens:  wie  geriet  er  gerade  auf  den  antiken  Penthesilea- 
StoflF?     Ich  lafse  die  zweite  Frage  hier  (vgl.  S.  290),  vorläufig  bei  Seite.*) 

Was  die  erste  betrifft,  so  bin  ich  der  Ansicht,  dafs  aufser  Kleists 
eignem  seelischen  Erlebnis  die  Gestalt  seiner  Schwester  Ulrike  auf 
die  Entstehung  der  Penthesilea -Tragödie  und  auf  die  Ausbildung 
des  Charakters  der  Hauptheldin  eingewirkt  hat.  Der  Gedanke,  Züge 
von  Ulrikes  Wesen  in  die  Dichtung  hineinzuarbeiten,  konnte  Kleist  so 
fern  nicht  liegen,  denn  wenn  auch  die  Stelle  seiner  Briefe  an  sie,  in 
welcher  er  von  „Guiskard"  sagt,  dieses  Gedicht  solle  der  Welt  ihre 
Liebe  zu  ihm  erklären  (Koberstein  S.  78),  nur  die  allgemeinere  Bedeutung 
hat,  welche  ihr  Erich  Schmidt  in  dem  Kleistaufsatz  seiner  ^Charakteristiken'' 
zuweist,  so  kann  doch  nicht  geleugnet  werden,  und  auch  Erich  Schmidt 
thut  das  nicht,  dafs  der  Dichter  in  Guiskards  Tochter  Helena  Eigen- 
schaften seiner  Schwester  Ulrike  poetisch  hat  verherrlichen  wollen. 
Brahm  vergleicht  S.  123  die  Helena  in  dem  Verhältnis  zu  ihrem  Vater 
mit  der  Antigone,  welche  an  der  Seite  des  Oedipus  ausharrt,  auch  da 
alles  ihn  verlässt,  und  ebenso  steht  Ulrike  treu  zu  ihrem  Bruder,  während 
seine  übrigen  Verwandten  ihn  bereits  als  unverbesserlich  aufgegeben 
haben.  Auf  solche  bedingungslose  Verherrlichung  war  es  nun  freilich 
in  der  „Penthesilea",  wenn  auch  bei  dieser  dem  Dichter  das  Bild  seiner 
Schwester  vorschwebte**),  nicht  abgesehen,  vielmehr  auf  eine  Darstellung 
des  ganzen  Charakters  mit  den  gleich  grofsen  Vorzügen  und  Schwächen, 
zwischen  denen  er  beständig  hin  und  herschwankte  und  vermöge  deren 


*)  Neben  dem  litterarischen  Eiofluss,  den  ich  im  folgenden  nachzuweisen  suchen 
werde,  kann  der  persönliche  der  Ulrike  nicht  nur  ganz  gut  bestehen,  sondern 
beide  stützen  sich  gegenseitig.  Die  Konzeption  einer  Dichtung  ist  selten  ein  einfacher 
Prozeis,  kommt  meist  unter  dem  Zusammenwirken  verschiedener  Einflüsse  zu  Stande.  Diese 
gilt  es,  so  weit  möglich,  zusammenzustellen,  die  Art,  wie  sie  im  einzelnen  Fall  in  der 
Phantasie  des  Dichters  auf-  oder  neben  einander  gewirkt  haben,  wird  sich  freilich  nur  aus- 
nahmsweise bestimmt  angeben  lassen. 

**)  Man  beachte  für  meine  Vermutung  die  Ideenverbindung,  welche  erwiesenennaisea 
zwischen  „Guiskard**  und  „ Penthesilea**  in  Kleists  Seele  bestand  (vgl.  S.393  ff.  dieses  Aufsatzes). 
Das  Wesen  der  Ulrike  in  beiden  Tragödien  poetisch  gestaltet  --  das  giebt  ein  neues  Binde- 
glied zwischen  beiden  und  anderseits  stärkt  die  sonst  erwiesene  Beziehung  zwischen  ihnen 
die  Wahrscheinlichkeit  meiner  Vermutung.  \ 


V 


Vergleichende  Studien  zu  Heinrich  von  Kleist.  I.  979 

er  Kleist  bald  anzog  bald  abstiefs.  Brahm  macht  S.  204  darauf 
aufmerksam^  dafs  unsere  Tragödie  eine  freilich  nicht  streng  durchgeführte 
Tendenz  gegen  die  Frauenemanzipation  enthalte.  Und  wie  Penthesilea 
so  strebte  auch  Ulrike  über  die  Grenzen,  welche  die  Natur  ihrem 
Geschlecht  gezogen  hat,  rücksichtslos  hinaus.  Das  beweist  schon  der 
eine  Zug,  dafs  sie  es  liebte,  in  Männerklddem  zu  gehen,  und  Kleist  selbst 
hat  dieses  Extravagante,  Unweibliche  ihres  Wesens  oft  genug  gerügt, 
man  vergleiche  Brahm  S.  52 — 53.  Zu  den  Stellen,  die  dort  zitiert  sind, 
füge  ich  einige  weitere  aus  dem  Briefwechsel  des  Dichters  mit  seiner 
Schwester:  S.  18:  „Nie  sehe  ich  Dich  gegen  wahren,  echten  Wohlstand 
anstofsen,  und  doch  bildest  Du  oft  Wünsche  und  Pläne,  die  mit  ihm 
durchaus  unvereinbar  sind",  S.  20:  „Dein  Geschlecht  sei  unauflöslich  an 
die  Verhältnisse  der  Meinung  und  des  Rufs  geknüpft  —  Aber  ist  es  aus 
Deinem  Munde,  dafs  ich  dies  höre?"  S.  24:  „Kannst  Du  Dich  dem  all- 
gemeinen Schicksal  Deines  Geschlechts  entziehen,  das  nun  einmal  seiner 
Natur  nach  die  zweite  Stelle  in  der  Reihe  der  Wesen  bekleidet?"  über- 
haupt S.  21 — 24.  In  der  „Penthesilea"  werden  ähnliche  Gedanken,  wie 
die  eben  zitierten,  durch  den  Charakter  einzelner  Szenen,  z.  B.  den  Streit 
zwischen  der  Amazonenfurstin  und  Achilles  (V.  2280  ff.),  in  welchem 
jene  das  natürliche  und  gewöhnliche  Verhältnis  beider  Geschlechter  gerade 
umkehrt,  sowie  durch  den  ganzen  Verlauf  des  Stückes  im  Leser  geweckt, 
sie  sind  eben  die  Tendenz  des  Ganzen,  daher  gegen  den  Schlufs  die 
Worte  der  gebeugten  Penthesilea: 

Und  —  im  Vertraun  ein  Wort,  das  niemand  höre, 
Der  Tanais  Asche,  streut  sie  in  die  LuftI 

und  noch  deutlicher  V.  301 1 : 

Ich  ssLge  vom  Gesetz  der  Fraun  (d.  h.  des  unnatürlichen  Frauenstaates)  mich  los. 

Aber  auch  einige  direkte  Anklänge  an  die  oben  angeführten  Aufserungen 
des  Dichters  über  seine  Schwester,  Ähnlichkeiten  auch  im  Ausdruck 
finden  sich  in  der  grofsen  Szene  zwischen  Penthesilea  und  Achilles 
(15.  Auftritt).     Dieser  fragt  dort  V.  1902  ff: 

Und  woher  quillt,  von  wannen  ein  Gesetz, 
Unweiblich,  du  verg^ebst  mir,  unnatflrlich, 
Dem  übrigen  Geschlecht  der  Menschen  fremd? 

Und  wenn  man  die  Stelle  liest,  wo  sich  derselbe  über  die  Busen- 
beraubung der  Amazonen  entsetzt  (V.  2006 — 2013),  so  könnte  man  sogar, 
natürlich  ohne  die  Parallele  über  das  Gebiet  der  blofsen,  unbewussten 
Ideenkombination  hinaus  ziehen  zu  wollen,  speziell  an  die  Aufserung 
Kleists  über  seine  Schwester  erinnert  werden:  „Vieles  mag  sie  besitzen, 

19* 


^ 


9S0  Richard  Weissenfeis. 


vieles  geben  können,  aber  es  läfst  sich,  wie  Goethe  sagt,  nicht  an  ihrem 
Busen  ruhen^  (Briefe  an  seine  Braut  S.  191).  Denselben  Ausdruck 
gebraucht  der  Dichter  noch  einmal  von  Ulrike  in  einem  Brief  an 
Karoline  von  Schlieben  und  fahrt  dann  fort:  „Sie  ist  eine  weibliche 
Heldenseele,  die  von  ihrem  Geschlecht  nichts  hat,  als  die  Hüften.  Doch 
still  davon.  Auch  der  leiseste  Tadel  ist  zu  bitter  für  ein  Wesen,  das 
keinen  Fehler  hat,  als  diesen,  zu  grofs  zu  sein  für  ihr  Geschlecht" 
(vgl.  Zolling,  biogr.  Einl.  S.  XXVIII  ff.).  Diese  Worte  Uefsen  sich 
direkt  für  eine  Charakteristik  der  Penthesilea  verwenden.  Man  vergleiche 
damit  das  Bild,  welches  Achilles  von  der  Amazonenkönigin  entwirft 
V.  2456:  „Dies  wunderbare  Weib,  halb  Furie,  halb  Grazie",  man  gehe 
sein  ganzes  Betragen  gegen  sie  durch:  es  ist  in  seiner  Seele  ein  ewiges 
Schwanken  zwischen  Bewunderung,  Liebe  einerseits  und  Verstandnis- 
losigkeit,  Mifsbilligung,  ja  Hafs  anderseits  gegenüber  dem  Wesen  seiner 
Feindin,  ganz  ähnlich,  wie  wir  es  in  dem  Benehmen  Kleists  gegen  seine 
Schwester,  in  seinen  Urteilen  über  sie  durch  sein  ganzes  Leben  verfolgen 
können  und  wie  er  es  selbst  in  einem  Brief  an  sie  (Koberstein  S.  61) 
mit  treffendem  Bild  veranschaulicht:  „Sind  wir  nicht  wie  Körper  und 
und  Seele,  die  auch  oft  in  Widerspruch  stehen  und  doch  ungern 
scheiden?"*) 

Ich  mufs  mich  hier  ausdrücklich  gegen  eine  mögliche  falsche  Auf- 
fassung verwahren.  Ich  weifs,  dafs  es  riskant  ist,  solche  Parallelen,  wie 
die  obigen,  zu  ziehen,  wie  leicht  man  dabei  in  die  Gefahr  gerät,  allzu 
scharfsinnig  sein,  zu  viel  finden  zu  wollen.  Es  liegt  mir  fem  zu  behaupten, 
Kleist  habe  in  allen  Stellen,  die  ich  eben  aus  der  „Penthesilea^  zitiert 
habe,  die  bestimmten  Züge  von  Ulrikes  Charakter  vor  Augen  gehabt 
oder  gar  an  spezielle  eigne  Aufserungen  über  dieselbe,  wie  ich  sie  zur 
Vergleichung  herangezogen  habe,  gedacht.  Bis  zu  Parallelen  solcher 
Art  kann  und  darf  sich  die  vergleichende  Methode  nur  in  seltenen  Fällen 
erheben,  sonst  schlägst  sie  sich  mit  ihren  eigenen  Waffen.  Ich  wollte 
nur  zeigen,  dafs  Beziehungen,  Wechselwirkungen  oder,  wie  man  es  sonst 
nennen  will,  zwischen  den  Bildern  der  Ulrike  und  der  Penthesilea  in  des 
Dichters  Seele,  in  seiner  Phantasie  bestanden  haben,  jene  feine  Ideen- 
verbindung, die  man  vergröbert  und  dann  unwahrscheinlich  macht,  wenn 
man  sie  in  Worte  zu  fassen  sucht,  die  man  besser  fühlen,  als  aus- 
drücken kann. 


*)  Vgl.  auch  Kldsts  Briefe  an  seine  Braut  S.  188,  wo  er  erzählt,  wie  er  in  erregter 
Stimmung  HebebedOrfdg  Ulrikes  Hand   fa&t  und  durch  ihre  Kälte  zurflckgeschreckt  wird. 


\ 


Vergleichende  Studien  zu  Heinrich  von  Kleist.  I.  981 


Diese  Verbindung  nun,  an  die  ich  glaube,  gewinnt  mir  Wichtigkeit 
für  das  Thema  des  vorliegenden  Aufsatzes,  zu  dem  ich  endlich  zurück- 
kehre.    Bei   der   innigen  Freundschaft,    die  Kleist    mit  Ulrike   verband, 
der  innigsten  seines  ganzen  .Lebens,  ist  es  glaubhaft,  dafs  der  Gedanke, 
der  ihn  so  unwiderstehlich  beherrschte,  mit  einem  befreundeten  Wesen 
zusammen  in  den  Tod  zu  gehen,  ihm  zuweilen  auch  in  Beziehung  auf 
seine  Schwester   gekommen   sei.     Ausgesprochen  finden  wir  denselben 
ihr  gegenüber  nicht,    wie  gegen  Pfuel  (vgl.  Brahm  S.  io8),  Rühle  (vgl. 
Brahm  S.  224),  Marie  von  Kleist  (vgl.  ZoUing,  biogr.  Einl.  zu  den  Werken 
S.  LXXXVI),    Fouque    (vgl.  Erich  Schmidt,    Charakteristiken    S.  356) 
und   bedingungsweise   auch    gegen   Karoline  v.  Schlieben  (vgl.  ZoUing, 
biog^.  Einl.  S.  XLII).     Etwas  Unausgesprochenes  liegt  allerdings  Kleists 
Briefen  aus  den  letzten  Jahren  zu  Grunde,  die  Veranlassung  der  Entfremdung 
zwischen  den  beiden  Geschwistern,  die  Ursache  der  wiederholten  Weigerung 
Ulrikes,  mit  dem  Bruder  wieder  in  dieselbe  Stadt  oder  gar  dieselbe  Wohnung 
zusammenzuziehen  (vgl.  z.  B.  Brahm.  S.  231),  wird  nicht  ganz  klar,  denn 
was  Brahm  S.  379  ff.  und  Zolling,  biogr  Einl.  S.  LXXXIV  ff.  beibringen, 
scheint  mir  nicht  zu  genügen,  auch  besteht  die  Verstimmung  schon  vor 
Kleists  letztem  Aufenthalt  in  Frankfurt,  beginnt  bereits  1801  in  Paris  und 
erneuert   sich   1805   in  Königsberg.     Der  Dichter  selbst  giebt  nur  An- 
spielungen, die  alle  möglichen  Deutungen  zulassen,  und  man  mufs  daraus 
fast  schliefsen,    es  sei  ein  so  delikater  Punkt,   dafs   er  eine  schriftliche 
Auseinandersetzung  kaum  vertrage,  und  man  könnte  so  endlich  gestützt 
auf  die  anderen  ähnlichen  Beispiele  zu  der  Vermutung  kommen,  Kleist 
habe  auch  von  seiner  Schwester  verlanget,  sie  solle  gemeinsam  mit  ihm 
sterben.     Und  wenn  man  liest,  was  er  kurz  vor  seinem  Tode  an  Marie 
V.  Kleist  über  die  Schwester  schreibt:   „Sie  hat,  dünkt  mich,  die  Kunst 
nicht  verstanden,  sich  aufzuopfern,  ganz,  für  das,  was  man  liebt,  in  Grund 
und  Boden  zu  gehen:  das  Seligste,  was  sich  auf  Erden  erdenken  läfst, 
ja  worin  der  Himmel  bestehen  mufs,  wenn  es  wahr  ist,   dafs  man  darin 
vergnügt  und  glücklich  ist",  wenn  man,  sage  ich,  diese  leidenschaftlichen 
Vorwürfe  liest,  so  wird  man  an  die  Stimmung  Kleists  erinnert,  in  der 
er  Pfuels  Weigerung,  mit  ihm  zusammen  den  Tod  zu  suchen,  als  einen 
Verrat  an  der  Freundschaft  aufiafst. 

Indes  das  ist  eine  zu  unsichere  Hypothese,  um  darauf  noch  andere 
zu  bauen,  und  diejenige,  welche  ich  hier  aufstellen  will,  bedarf  auch 
solches  Untergrundes  gar  nicht.  Kleist  braucht  den  Gedanken,  mit 
Ulrike  gemeinsam  zu  sterben,  gar  nicht  gegen  sie  ausgesprochen  zu 
haben,   schon  die  Wahrscheinlichkeit,  |dafs  [er  ihm   nahe  gelegen  habe. 


1 


282  Richard  Weissenfeis. 


die  ich  aus  seinem  Verhältnis  zur  Schwester  einerseits  und  dem  Benehmen 
gegen  seine  übrigen  Freunde  anderseits  herleite,  schon  diese  Wahr- 
spheinlichkeit  genügt,  um  die  behauptete  Beziehung  zwischen  der  Gestalt 
der  Penthesüea  und  der  Ulrike  in  noch  hellere  Beleuchtung  zu  rücken. 
Das  Zusammensterben  des  Achilles  und  der  Penthesilea,  welches  dem 
Dichter  in  der  Form,  wie  er  es  behandelt,  durch  die  Sage  nicht  gegeben 
war  (vgl.  Brahm  S.  200 — 201),  wird  dann  ein  Zug,  den  er  aus  seiner 
eigenen  inneren  Erfahrung  schöpft.  Man  darf  hier  nicht  zu  scharfsinnig 
verfahren,  nicht  etwa  einwenden,  es  sei  in  der  Tragödie  ein  Nacheinander- 
kein  Zusammensterben  oder  es  sei  ja  hier  die  Frau,  nicht  der  Mann,  die 
sich  nach  dem  gemeinschaftlichen  Tode  sehne.  Dem  Nacheinandersterben 
liegt  jedenfalls,  wie  schon  die  oben  angeführten  Aussprüche  der  Pen- 
thesilea beweisen,  die  Kleist'sche  Idee  des  Zusammensterbens  zu  Grunde 
und  der  Penthesüea  hat  der  Dichter  ebenso  viel  oder  noch  mehr  Züge 
als  von  der  Ulrike,  von  seinem  eigenen  Wesen  geliehen.  Es  ist  nur 
eine  allgemeine,  feine  Ideenverbindung,  die  ich  behaupte,  da  mufs  man 
das  scharfe  Seziermesser  der  Kritik  bei  Seite  lassen,  sonst  zerschneidet 
man  das  ganze  Gewebe  und  behält  lauter  einzelne,  nicht  wieder  zu  ver- 
knüpfende Fäden. 

Wenn  nun  wirklich  eine  Beziehung  zwischen  Penthesilea  und  Ulrike 
besteht,  so  erklärt  sich  auch  der  bekannte  Ausspruch  Kleists:  „Sie  ist 
tot",  den  er  nach  Beendigung  der  Tragödie  seinem  Freunde  Pfuel 
schluchzend  entgegenrief,  und  die  ganze  leidenschafdiche  Teflnahme  am 
Charakter  und  Geschick  der  Heldin,  die  er  selbst  bezeugt  hat,  noch 
befriedigender,  als  es  bisher  geschehen  ist.  Erich  Schmidt  (Richardson, 
Rousseau  und  Goethe  S.  92)  führt  jenen  Ausruf  nur  als  Beleg  dafür  an, 
wie  weit  eine  lebhafte  Einbildungskraft  in  dem  Interesse  an  ihren  eigenen 
Geschöpfen  gehen  könne,  Brahm  (S.  197)  sieht  darin  nur  einen  Beweis, 
dafs  der  Dichter  seinen  eigenen  Charakter  und  eigene  seelische  Erlebnisse 
in  die  Figur  der  Penthesüea  hineingearbeitet  habe.  Beides  unleugbar 
richtige  Argumente  und  zur  psychologischen  Erklärung  jener  leiden- 
schaftlichen Szene  heranzuziehen,  aber  um  wie  viel  tiefer  noch  wird 
dieselbe  begründet,  wie  viel  natürlicher  erscheint  sie,  wenn  Kleist,  be- 
wufst  oder  unbewufst,  auch  Züge  von  der  geliebten  Schwester  in  das 
Büd  der  Amazonenkönig^n  hineinwob,  wenn  die  beiden  Gestalten  in  seiner 
Phantasie  in  Wechselwirkung  traten  und  mit  einander  verschmolzen,  wie 
viel  mächtiger  mufste  ihn  dann  der  tragische  Ausgang  seiner  Dichtung 
erschüttern  in  Verbindung  mit  der  nie  wieder  ganz  beseitigten  Spannung 


\ 


^.» 


Vergleichende  Studien  zu  Heinrich  von  Kleist.   I.  287 


zwischen    ihm    und   der  Schwester,    die   gerade  während    der  Zeit  avan 
Abschlufses    seiner   Tragödie    wohl    den   Dichter    doppelt    gequält  han^. 
weil  kurz  zuvor  Ulrike  die  ganze  Energie  ihrer  inuner  wieder  hervor^ 
brechenden  Liebe  für  seine  Befreiung  aus  der  französischen  Gefangenschaft 
eingesetzt  hatte. 

Kleists  eigenes  Leben  giebt  uns  aber  noch  immer  keinen  festen 
Anknüpfungspunkt  fiir  das  Eigentümlichste  in  Penthesüeas  Tod,  für 
ihren  Selbstmord  ohne  Waffe,  allein  durch  das  Ubermafs  ihrer  seelischen 
Erregung.  Hier  bleibt  uns  als  Mittel  zur  Erklärung  nur  die  Gedanken- 
richtung der  ganzen  Generation  von  Dichtern  und  Philosophen  zu  Anfang 
unseres  Jahrhunderts. 

Zunächst  erinnere  ich  an  zwei  Fakta  aus  jener  Zeit,  von  denen  aus 
sich  zu  der  Todesart  der  Penthesilea  Verbindungsfaden  ziehen  lassen, 
das  erste  ein  litterarisches,  das  zweite  ein  biographisches.  Zwei  Jahre 
nach  der  Vollendung  der  „Penthesilea"  (1807)  erschienen  Goethes  „Wahl- 
verwandtschaften". Der  Tod  der  Ottilie  (wie  auch  Eduards)  ist  nicht  allein 
eine  Folge  der  Enthaltung  von  Speise  und  Trank,  sondern  ebenso  sehr  der 
Energie,  mit  der  das  Mädchen  sich  in  das  Gefühl  ihres  verfehlten  Lebens  ver- 
senkt, also  ein  ähnlicher  Willensakt,  wie  bei  der  Penthesilea.  Man  darf  hier 
nicht  etwa  eine  Beeinflussung  Goethes  durch  Kleist  annehmen,  dazu 
sind  die  beiden  Vorgänge  trotz  der  ähnlichen  Grundstimmung  zu  ver- 
schieden und  aufserdem  ist  ja  Goethes  ungünstiges  Urteü  über  die 
„Penthesilea"  bekannt  genug  (vgl.  z.  B.  Kleists  Werke  II  S.  277  ff.). 
Wenn  er  trotzdem  hier  auf  ähnlichen  Pfaden  wandelt,  wie  der  Dichter 
des  von  ihm  getadelten  Stückes,  so  weist  uns  das  eben  auf  eine  Stimmung 
der  ganzen  Zeit  als  gemeinsame  Quelle  beider.  Und  von  dieser  Stimmung 
legt  noch  gültigeres  Zeugnis  das  zweite  der  hier  zu  erwähnenden  Fakta 
ab,  das  Verhalten  des  Dichters  Novalis  nach  dem  Tode  seiner  ersten 
Braut  Sophie.  Er  sehnt  sich  ihr  zu  folgen,  wie  Penthesilea  dem  Achilles, 
eine  hohe  Todesbegeisterung  erfüllt  ihn,  die  in  den  „Hymnen  an  die 
Nacht"  ihren  poetischen  Ausdruck  findet  und  deren  Verwandtschaft  mit 
Kleists  Phantasien  vom  Tode  unleugbar  ist  und  noch  näher  erörtert 
werden  wird*).  Das  Tagebuch,  das  Novalis  in  dieser  Zeit  führte, 
(Schriften**)  III  S.  49  flF.)  malt  noch  treuer,  als  die  Hymnen,  seine  wunder- 


*)  In  einem  folgenden  Abschnitt  dieser  Studien. 

**)  Herausgegeben   von  Tieck   und   Fr.  Schlegel,    IH.  Teil    yon  Tiek   und   Bülow. 
Ten  I.  H  zitiere  ich  nach  der  5.  Aufl. 


noQ  Richard  Weissenfeis. 


i.me  Stimmung.  Er  spricht  darin  fortwährend  von  dem  „Entschlufs" 
a  sterben  und  bietet  all  seine  Energie  auf,  ihn  nicht  wieder  wankend 
iverden  zu  lassen,  sondern  sich  mit  seinem  ganzen  Wesen  immer  tiefer 
in  ihn  zu  versenken.  So  schreibt  er  S.  59:  „Bei  meinem  Entschlufs  darf 
ich  nur  nicht  zu  vernünfteln  anfangen.  Jeder  Vernunftg^nd,  jede  Vor- 
spiegelung des  Herzens  ist  schon  Zweifel,  Schwanken  und  Untreue." 
Er  sieht  seinen  Tod  bestimmt  im  Laufe  des  Jahres  voraus,  vgl.  Tage- 
buch S.  65:  „Auf  den  Herbst  freue  ich  mich  ungeduldig.  Gegen  Ängst- 
lichkeit d.  h.  gegen  willkürliche  WahnbegrifFe  mufs  ich  auf  meiner  Hut 
sein.  Ich  will  fröhlich  wie  ein  junger  Dichter  sterben."  Aber  „in  tiefer, 
heiterer  Ruh*  will  ich  den  Augenblick  erwarten,  der  mich  ruft"  (eben&lls 
S.  65),  er  braucht  keine  andere  Waffe,  als  eben  den  energischen  Willen 
zu  sterben,  und  lebhaft  werden  wir  an  Penthesilea  erinnert,  wenn  er  an 
Sophies  Gouvernante  schreibt:  „Seien  Sie  ruhig,  ich  habe  weder  Dolch 
noch  Gift,  aber  ich  fühle  es,  dafs  ich  bald  sterbe"  (Friedr.  v.  Harden- 
berg, eine  Nachlese  S.  141).  Es  blieb  allerdings  bei  dem  Entschlufs, 
die  Lebensmächte  gewannen  bald  wieder  Gewalt  über  die  Todessehnsucht, 
aber  darauf  kommt  es  hier  nicht  an,  sondern  allein  auf  die  Stimmung 
und  auf  die  Auffassung  des  Sterbens  als  eines  einfachen  Willensaktes. 

Welches  war  nun  der  Gedankengang,  der  bis  zu  diesem  Extrem 
führte,  und  wo  hat  er  seinen  Ursprung?  Haym  (Die  romantische  Schule 
S.  335)  hat  schon  auf  die  Fichtesche  Philosophie  hingewiesen,  die 
Lehre  von  der  unendlichen  Macht  des  Willens  habe  in  Novalis  die 
Überzeugung  geweckt,  dafs  er  seiner  Braut  nachsterben  könne  einfach 
durch  den  energischen  Entschlufs  dazu.  Damit  haben  wir  Anfang  und 
Ende  des  Ideenganges,  aber  die  Mittelglieder  fehlen,  und  um  sie  her- 
zustellen, will  ich  eine  Folge  von  Aussprüchen  der  Romantiker,  vor- 
nehmlich des  Novalis  aneinander  reihen. 

Allmacht  des  Willens  also  ist  der  Ausgangspunkt.  Von  Novalis 
selbst  wird  sie  mit  Fichtes  Philosophie  zusammengebracht  Sehr.  II  S.  115: 
„Fichtes  Ausfuhrung  seiner  Idee  ist  wohl  der  beste  Beweis  des  Idealismus. 
Was  ich  will,  das  kann  ich.  Bei  dem  Menschen  ist  kein  Ding  unmöglich." 
Metaphysisch  gewandt  erscheint  derselbe  Idealismus  bei  Novalis  Sehr.  III 
S.  77:  „Währ  ich  nicht  alle  meine  Schicksale  seit  Ewigkeiten  selbst?" 
oder  Sehr.  III  S.  298:  „Im  Willen  ist  der  Grund  der  Schöpfung",  bei 
Fr.  Schlegel  in  den  „Ideen"  Athenaeum  III  S.  27:  „Die  Vernunft  ist 
frei  und  selbst  nichts  anderes,  als  ein  ewiges  Selbstbestimmen  ins  Un- 
endliche", in  den  „Fragmenten"  Athenaeum  I,  2,  S.  43:  „Und  welche 
Philosophie   bleibt   dem   Dichter   übrig?    die   schaffende,    die    von    der 


Vergleichende  Studien  zu  Heinrich  von  Kleist.  I.  287 

Freiheit   und   dem    Glauben   an   sie   ausgeht   und  dann  zeigt,    wie  aan 
menschliche  Geist   sein  Gesetz    allem   aufprägt   und  wie  die  Welt  sei«- 
Kunstwerk  ist."     In  denselben  „Fragmenten"  lautet  ein    Glaubensartikels 
des  Katechismus  edler  Frauen,  der  von  Schleiermacher  herrührt  (S.  109): 
„Ich  glaube  an  die  Macht  des  Willens". 

Der  absolute  Wille  erscheint  in  dieser  Philosophie  als  Schöpfer  der 
Welt,  der  menschliche  als  Schöpfer  des  menschlichen  Schicksals.  Als 
solcher  hat  der  letztere  unbedingte  Macht,  auf  das  Seelenleben  zu  wirken, 
und  um  die  vollkoijunene  Bildung  zu  erlangen,  ist  es  Aufgabe  jedes 
Menschen,  alles  Unwillkürliche  in  seiner  psychischen  Natur  willkürlich 
zu  gestalten.  Dies  ist  Novalis'  Hauptlehre,  die  in  den  „Fragmenten"  auf 
die  mannigfaltigste  Weise  zum  Ausdruck  kommt.  Z.  B.  Sehr.  III,  S.  276: 
„Alles  Unwillkürliche  soll  in  Willkürliches  verwandelt  werden",  II,  S.  242: 
„Ein  Charakter  ist  ein  vollkommen  gebildeter  Wille",  S.  266:  „Man 
sollte  sich  schämen,  wenn  man  es  nicht  mit  den  Gedanken  dahin  bringen 
könnte,  zu  denken  was  man  wollte"  und  eine  Phantasie  über  ein  Mittel 
dazu  S.  143:  „Vielleicht  kann  man  mittelst  eines  dem  Schachspiel  ähnlichen 
Spiels  Gedankenkonstruktionen  zu  Stande  bringen."  Wie  Novalis  an  sich 
selbst  in  dieser  Richtung  arbeitete,  verrät  das  Tagebuch  Sehr.  III,  S.  60: 
„Wie  ich  mich  zum  bessern  Denken  nötige,  durch  Streben  und  gewisse 
Mittel  auch  bestimmte  Stimmungen  nach  Willkür  in  mir  zu  erregen  suche: 
so  mufs  ich  arbeiten  können,  wenn  ich  will,  so  mufs  ich  mich  mit  an- 
fanglicher Anstrengung  in  einen  gewissen  Zustand  zu  versetzen  lernen". 
Das  Ideal,  das  zu  erstreben  ist,  spricht  er  am  klarsten  aus  Sehr.  II,  S.  155: 
„Jetzt  ist  der  Geist  aus  Instinkt  Geist,  ein  Naturgeist;  er  soll  ein  Vemunft- 
geist,  aus  Besonnenheit  und  durch  Kunst  Geist  sein". 

Nun  besteht  aber  ein  unlöslicher  Zusammenhang  und  deshalb  eine 
Wechselwirkung  zwischen  Seele  und  Körper  des  Menschen,  auch  eine 
Lieblingsbeobachtung  des  Novalis  (wie  Heinrichs  v.  Kleist*),  in  vielen 
Sätzen  seiner  „Fragmente"  ausgesprochen,  aus  denen  ich  nur  drei  heraus- 
greife: Sehr.  II,  S.  133:  „Wir  haben  zwei  Systeme  von  Sinnen,  die,  so 
verschieden  sie  auch  erscheinen,  doch  auf  das  innigste  mit  einander 
verwebt  sind.  Ein  System  heifst  der  Körper,  eins  die  Seele.  Gewöhnlich 
wird  dieses  letztere  System  von  dem  ersteren  afBziert.  Dennoch  sind 
häufige  Spuren  eines  umgekehrten  Verhältnisses  anzutreffen,  und  man 
bemerkt   bald,    dafs    beide  Systeme  eigendich  in    einem  vollkommenen 


*)  Vgl.  z.B.  Briefe  an  Ulrike  S.  64-65:  „Denn  zuletzt  möchte  alles  Empfinden  nur 
von  dem  Körper  herrühren". 


^^Q  Richard  Weissenfeis. 


,.echselverhältnis  stehen  sollten'',  S.  154  fF:  „Wer  bei  Erklärung  des 
n-ganismus  keine  Rücksicht  auf  die  Seele  nimmt  und  das  geheimnisvolle 
Sand  zwischen  ihr  und  dem  Körper,  der  wird  nicht  weit  kommen. 
Leben  ist  vielleicht  nichts  anders,  als  das  Resultat  dieser  Vereinigung, 
die  Aktion  dieser  Berührung"  und  S.  159:  „Seele  und  Körper  wirken 
galvanisch  auf  einander".  Drei  Hauptsätze  folgert  Novalis  aus  dieser 
Prämisse: 

i)  Das  Physische  ist  zur  Erklärung  des  Psychischen  heranzuziehen 
und  umgekehrt.*)  Man  vergleiche  z.  B.  Sehr.  IL  S.  133:  «Wie  wenig 
hat  man  noch  die  Physik  für  das  Gemüt  und  das  Gemüt  für  die  Aufsen- 
welt  benutzt.  Verstand,  Phantasie,  Vernunft,  dies  sind  die  dürftigen 
Fachwerke  des  Universums  in  uns.  Von  ihren  wunderbaren  Vermischungen, 
Gestaltungen,  Übergängen  kein  Wort."  Hier  liegt  eine  Wurzel  der 
romantischen  Mystik,  wie  sie  neben  Novalis  besonders  Fr.  Schlegel  aus- 
bildete. Auf  einen  bestimmten  Fall  angewandt  erscheint  diese  Methode 
z.  B.  bei  Novalis  Sehr.  II,  S.  163:  „Weinen  und  Lachen  mit  ihren 
Modifikationen  gehören  so  zum  Seelenleben,  wie  Essen  und  Secernieren 
zum  körperlichen  Leben." 

2)  Körper  und  Seele  können  und  müssen  sich  gegenseitig  zur  Ver- 
vollkommnung dienen.  Vgl.  Sehr.  II,  S.  202:  „Sollte  dieses  vielleicht 
mit  mehreren  und  vielleicht  allen  Seelenkräften  der  Fall  sein,  dafs  sie 
durch  unsere  Bemühungen  äufserliche  Werkzeuge  werden  sollen?" 
III,  S.  285  ff.:  „Der  Körper  soll  Seele,  die  Seele  Körper  werden,  eins 
durch  das  andere  —  dadurch  gewinnen  beide." 

3)  Der  menschliche  WUle  hat  vermöge  dieses  Zusammenhanges 
zwischen  Seele  und  Körper  dieselbe  unbedingte  Macht  über  diesen,  wie 
über  jene.  Vgl.  Novalis  Seh.  II,  S.  132:  „Kunst  unsern  Willen  total  zu 
realisieren.  Wir  müssen  den  Körper  wie  die  Seele  in  unsere  Gewalt 
bekommen",  III,  S.  222:  „Unser  Körper  soll  willkürlieh  werden".  Die 
Möglichkeit  einer  solchen  Beherrschung  unseres  Körpers  sucht  Novalis 
Sehr.  II,  S.  134  nachzuweisen:  „Ist  unser  Körper  selbst  nichts,  als  eine 
gemeinschaftliche  Centralwirkung  unserer  Sinne,  haben  wir  Herrschaft 
über  die  Sinne,  vermögen  wir  sie  beliebig  in  Thätigkeit  zu  versetzen,  sie 
gemeinschaftlich  zu  centrieren,  so  hängt  es  ja  nur  von  uns  ab,  uns  einen 
Körper  zu  geben,  welchen  wir  woUen".  Das  Faktum  behauptet  das 
Fragpment  Sehr.  II,  S.  135:  „Überhaupt  hat  man  genugsam  Beispiele 
von  Menschen,   die  eine  willkürliche  Herrschaft  über  einzelne,  gewöhn- 


*)  Dasselbe  Prinzip  findet  sich  bei  Heinr.  v.  Kleist, 


Vergleichende  Studien  zu  Heinrich  von  Kleist  I.  887 

lieh  der  Willkür  entzogene  Teile  ihres  Körpers  erlangt  haben."  Das  an 
vorletzter  Stelle  zitierte  Fragment  streift  schon  an  die  äufserste  Konse- 
quenz, welche  Novalis  aus  seinen  Sätzen  über  die  unbedingte  Macht  des 
Willens  zieht,  dafs  nämlich  auch  unsere  Geburt  und  unser  Tod  nur 
Willensakte  von  uns  sind  oder  sein  können.  Vorbereitend  ist  hier  auch 
schon  das  Fragment  Sehr.  II,  S.  152:  „Leben  ist,  wie  Licht,  der  Er- 
höhung und  Schwächung  und  der  graduellen  Negation  fähig.''  In  Bezug 
auf  die  Geburt  kommt  Novalis  dann  allerdings  über  eine  Frage  nicht 
hinaus:  Sehr.  II,  S.  229  fF.:  „Aber  dieser  Entschlufs  (irgendwo  anzu- 
fangen, um  sich  seinen  Lebensberuf  zu  gestalten)  kostet  das  freie  Gefühl 
einer  unendlichen  Welt  und  fordert  die  Beschränkung  auf  eine  einzelne 
Erscheinung  derselben.  Sollten  wir  vielleicht  einem  ähnlichen  Entschlüsse 
unser  irdisches  Dasein  zuzuschreiben  haben?"  In  Bezug  auf  das  Sterben, 
das  für  uns  hier  allein  in  Betracht  kommt,  drückt  er  sich  bestimmter, 
zuversichtlicher  aus.  An  Just  schreibt  er  über  seinen  Entschlufs,  der 
Braut  im  Tode  zu  folgen  (Sehr.  III,  S.  19):  „Ich  weifs,  dafs  eine  Kraft 
im  Mensehen  ist,  die  unter  sorgsamer  Pflege  sieh  zu  einer  sonderbaren 
Energie  entwickeln  kann",  die  Hauptstelle  für  diesen  Punkt  aber  ist  das 
Fragment  Sehr.  II,  S.  135:  „Unser  ganzer  Körper  ist  schlechterdings 
fähig,  vom  Geist  in  beliebige  Bewegung  gesetzt  zu  werden.  —  Dann 
wird  der  Mensch  erst  wahrhaft  unabhängig  von  der  Natur,  vielleicht 
sogar  im  Stande  sein,  verlorene  Glieder  zu  restaurieren,  sieh  blofs  durch 
seinen  Willen  zu  töten." 

Damit  haben  wir  den  Fall  der  Penthesilea,  philosophisch  entwickelt 
durch  konsequente  Fortbildung  der  Fiehteschen  Lehre.  Und  auch  für 
die  Art  und  Weise,  wie  Kleists  Heldin  den  Willensakt  in  Szene  setzt, 
nämlich  einfach  durch  Konzentration  ihrer  Gedanken  auf  das  eine  Ziel, 
finden  wir  die  philosophische  Erläuterung  und  Begründung  in  Novalis* 
Fragmenten.  Es  ist  die  Lehre  vom  schaflFenden  Denken,  auch  aus 
Fichtes  System  gezogen,  wie  es  überhaupt  Novalis'  und  Fr.  Schlegels 
ausgesprochenes  Streben  war,  Fichtes  Idealismus  ins  Praktische  zu  über- 
tragen, d.  h.  die  Konsequenzen  aus  seiner  Lehre  zu  ziehen,  die  er  selbst 
nicht  zu  ziehen  gewagt  hatte  (vgl.  Haym,  Romant.  Schule  S.  332.  356). 
Das  Fragment  Sehr.  III,  S.  223:  „Eine  Sache  ist  oder  wird  wie  ich  sie 
setze"  hätte  auch  Fichte  schreiben  können;  Novalis  schlägt  mit  dem 
Fragment  Sehr.  III,  S.  192:  „Denken  ist  eine  Muskelbewegung"  kühn 
die  Brücke  von  der  rein  geistigen  zur  wirkliehen,  körperlichen  Welt  und 
baut  auf  diesen  Grund  drei  Hauptsätze: 


288  Richard  WeissenfeU. 


i)  Blofs  durch  konzentriertes  Denken  erreicht  der  Mensch  ein  Ziel, 
das  aufser  ihm  liegt.  Vgl.  Sehr.  II,  S.  121:  ^Jede  AuGnerksamkeit  auf 
Ein  Objekt  oder  (welches  eins  ist)  jede  bestimmte  Richtung  bringt  ein 
reales  Verhältnis  hervor,  denn  mit  dieser  Unterscheidung  empfinden  wir 
zugleich  die  nun  zu  präponderieren  anfangende  Anziehungskraft  jenes 
Objekts  oder  die  individuelle  Strebekraft,  welche,  indem  wir  uns  ihr 
überlassen  und  ihre  Empfindung  nicht  wieder  verlieren,  sondern  sie  fest 
im  Auge  behalten,  uns  glücklich  zu  dem  ersehnten  Ziel  unsers  Verlangens 
bringt."  Eine  Art  physiologischer  Erklärung  dieses  Prozesses  versucht 
Novalis  Sehr.  III,  S.  355:  „Blofse  Gedanken,  ohne  eine  gewisse  Auf- 
merksamkeit auf  dieselben  und  Zueignung,  wirken  so  wenig  wie  blofse 
Gegenstände.  Dadurch,  dafs  man  häufig  an  reizende  Gegenstände  eines 
Sinnes  wirksam  denkt,  wird  dieser  Sinn  geschärft  —  er  wird  reizbarer 
So,  wenn  man  häufig  an  lüsterne  Dinge  denkt,  werden  die  Gegenstände 
empfanglicher.  ** 

2)  Durch  einfaches  konzentriertes  Denken  vermag  der  Mensch  etwas 
aufser  sich  zu  schaffen.  Vgl.  Sehr.  11,  S.  145:  „Die  Scholastiker  ver- 
wandelten alle  Dinge  in  Abstrakta.  Schade,  dafs  sie  nicht  in  Beziehung 
auf  diese  Operation  die  entgegengesetzte  versuchten,"  S.  154:  „Die  Denk- 
organe sind  die  Weltzeugungs-,  die  Naturgeschlechtsteile".  Auf  seine 
spezielle  Lage  nach  Sophies  Tode  wendet  er  diese  Lehre  an  Sehr.  III, 
S.  79:  „Indem  ich  glaube,  dafs  Sophie  um  mich  ist  und  erscheinen  kann, 
und  diesem  Glauben  gemäfs  handle,  so  ist  sie  auch  um  mich  und  er- 
scheint mir  endlich  gewifs."  Hier  liegt  die  Erklärung  für  den  roman- 
tischen Glauben  an  Geistererscheinungen  und  überhaupt  die  Wimderwelt, 
welche  Novalis  und  seine  Gesinnungsgenossen  in  ihre  Werke  hineinspielen 
liefsen.  Auch  für  diese  Art  des  schaffenden  Denkens  sucht  Novalis  eine 
natürliche  Erklärung,  wenn  er  Sehr.  II,  S.  147  auf  einen  bestimmten  Fall 
hinweist,  in  welchem  reines  Denken  sich  zur  Erscheinung,  allerdings  nur 
für  das  Gehör  verdichtet:  „In  der  Musik  erscheint  die  Mathematik  form- 
lich als  Offenbarung,  als  schaffender  Idealismus." 

3)  Der  Mensch  vermag  blofs  durch  konzentriertes  Glauben  einen 
Zustand,  eine  Veränderung  in  sich  selbst,  die  er  will,  wirklich  hervor- 
zubringen, so  dafs  hier  also  Glaube  =  Wille  ist,  dieselbe  unbedingte 
Macht  hat  wie  dieser.  Vgl.  Sehr.  lü,  S.  298:  „Glauben  ist  Wirkung 
des  Willens  auf  die  Intelligenz.  Glaubenskraft  also  Willen",  S.  248: 
„Unsere  Meinung,  Glaube,  Überzeugfung  von  der  Schwierigkeit,  Leichtig- 
keit, Erlaubtheit  und  Nichterlaubtheit,  Möglichkeit  und  Unmöglichkeit, 
Erfolg  und  Nichterfolg  u.  s«  w.  eines  Unternehmens,  einer  Handlung  be- 


Vergleichende  Studien  zu  Heinrich  von  Kleist  L  289 

Stimmt  in  der  That  dieselben",  II,  S.  248:  „Wenn  ein  Mensch  plötzlich 
wahrhaft  glaubte,  er  sei  moralisch,  so  würde  er  es  auch  sein",  S.  263: 
„Durch  den  Glauben  können  wir  in  jedem  Augenblick  Wunder  thun  für 
uns,  oft  für  andre  mit,  wenn  sie  Glauben  zu  uns  haben." 

Der  Ideengang,  welcher  zu  der  auffallenden  Art  des  Selbstmords 
der  Penthesilea  fuhren  konnte,  ist  somit  durch  Zusammenstellung  von 
Gedankenfragmenten  des  Novalis  konstruiert,  und  wir  sehen  Kleist  hier 
in  voller  Übereinstimmung  mit  der  Gedankenrichtung  seiner  Zeit.*)  Die 
unbedingte  Macht  des  Willens  auch  über  den  Körper  vermöge  des  Zu- 
sammenhanges, der  zwischen  diesem  und  der  Seele  besteht,  ausgeübt 
allein  durch  Konzentrierung  der  Gedanken  auf  das  erstrebte  Ziel,  das  ist 
die  Waffe,  mit  der  Penthesilea  sich  tötet,  und  das  ist  das  Dogma  des 
Novalis,  bis  zu  welchem  er  die  Fichtesche  Philosophie  ausbildet.  So 
realistisch  Kleist  gerade  in  der  „Penthesilea"  die  Einzelheiten,  besonders 
den  Dialog  behandelt,  die  Tendenz  des  Ganzen  beruht  auf  dem  Fichte- 
schen Idealismus.  Wir  stofsen  damit  auf  den  tiefsten,  wesentlichsten  der 
vielen  Widersprüche  in  Kleists  Charakter,  welcher  denselben  vom  Anfang 
seiner  Entwicklung  an  zu  einem  tragischen  macht:  er  ist  zugleich  Romantiker 
d.  h.  Idealist  und  Realist.  Die  letztere  Seite  in  ihm  konunt  in  Brahms 
Biographie  vollkommen  zur  Geltung,  dagegen  verlangt  nach  meiner 
Meinung,  wie  schon  am  Anfang  dieses  Aufsatzes  angedeutet,  der  Zu- 
sammenhang Kleists  mit  den  Romantikern,  wie  überhaupt  der  Einflufs, 
den  die  vorangegangene  und  gleichzeitige  Litteratur  und  Philosophie  auf 
ihn  übte,  noch  eine  kräftigere  Beleuchtung.  Ich  werde  in  einer  folgenden 
Studie  einiges  Material  dazu  beibringen,  das  sich  mir  während  der 
Untersuchung  der  eben  behandelten  Frage  ergeben  hat  und  das 
zugleich  die  Möglichkeit  bieten  wird,  auch  diese  noch  etwas  bestimmter 
als  bisher  zu  beantworten. 

Zuvor  aber  sei  mir  noch  ein  Nachtrag  zu  vorstehendem  Aufsatze  ge- 
stattet.   Als  dieser  bereits  abgeschlossen  war,  erregte  die  Stelle  in  Kleists 

*)  Um  ähnliche  Gedanken,  wie  sie  der  Katastrophe  in  Kleists  „  Penthesilea**  zu  Grunde 
liegen,  bei  Novalis  nachzuweisen,  hätte  ich  nur  nötig  gehabt,  die  Bndpunkte  des  ganzen 
Ideenganges  in  seinen  Aussprüchen  zu  belegen.  Ich  glaubte  aber  die  ganze  Gedanken- 
entwicklung vom  Anfang  durch  alle  Konsequenzen  bis  zum  Extrem  darstellen  zu  müssen, 
well  nur  daraus  erhellt,  dais  Kleist  in  seiner  Dichtung  einer  Ideenrichtung  seiner  ganzen 
Zeit  huldigt,  wie  sie  z.  B.  in  Novalis*  Schriften,  aber  auch  in  denen  vieler  anderer  Philo- 
sophen und  Dichter  jener  Periode  zum  Ausdruck  kommt,  und  well  vorläufig  nur  der  Beweis 
dieser  Thatsache,  nicht  etwa  die  Konstatierung  einer  direkten  Einwirkung  des  Novalis  oder 
gar  einzelner  Aussprüche  desselben  auf  die  Katastrophe  der  „Penthesilea''  meine  Absicht 
war  (vgl.  zudem  über  den  Charakter  der  Fragmente  des  Novalis  die  Fortsetzung  dieser  Studien). 


290  Riebard  Weissenfeis. 


Briefen  an  seine  Braut  S.  183:  „Warum  bin  ich,  wie  Tankred,  verdammt, 
das,  was  ich  liebe,  mit  jeder  Handlung  zu  verletzen?"  meine  Aufmerk- 
samkeit und  veranlasst  mich,  meinen  Vermutungen  über  die  Entwickelung 
der  Penthesilea-Dichtung  in  Kleists  Seele  noch  eine  hinzuzufügen.  Wenn 
ich  auch  einen  Einflufs  von  Ulrikes  Wesen  auf  die  Gestalt  der  Amazonen- 
fiirstin  annehmen  zu  dürfen  glaube,  so  bleibt  es,  wie  gesagt,  immer  noch 
auffallend  und  wird  auch  durch  Heranziehung  der  „Jungfrau  von  Orleans*" 
nicht  erklärt,  wie  der  Romantiker  Kleist  gerade  auf  den  antiken  Stoff 
seiner  Tragödie  verfallen  ist.  In  dem  romantischen  Epos  Tassos,  das 
selbst  unter  dem  Einflufs  der  Antike  steht,  scheint  sich  mir  nun  ein 
litterarisches  Vermittlungsglied  zu  bieten.  Die  Gründe  für  diese  Ver- 
mutung nehme  ich  aus  den  Charakteren  und  dem  Verhältnis  der  Haupt- 
personen in  Kleists  Tragödie,  aus  anderweitigen  Einwirkungen  des 
italienischen  auf  den  deutschen  Dichter,  die  mir  wahrscheinlich  sind,  und 
aus  der  Übereinstimmung  in  Einzelheiten  zwischen  „Penthesilea^  und  dem 
„Befreiten  Jerusalem". 

I.  Auch  der  Kleistschen  Penthesilea  tragfisches  Geschick  ist  es,  das, 
was  sie  liebt,  durch  ihre  Handlungen  zu  verletzen.  Nun  steht  aber  dem 
Tankred,  mit  dem  sich  Kleist  in  dieser  Beziehung  vergleicht,  in  Clorinde 
eine  Fig^r  gegenüber  ganz  ähnlich  der  Penthesilea,  und  zwischen  beiden 
tobt  trotz  gegenseitiger  Liebe  derselbe  Kampf  bis  in  den  Tod,  wie  bei 
Kleist  zwischen  Achilles  und  Penthesilea.  Freilich  fällt  nur  Clorinde,  ent- 
sprechend ihrem  Urbild  aus  dem  Trojanischen  Sagenkreise,  aber  Tankred 
ist  nahe  daran  sich  aus  Schmerz  darüber  den  Tod  zu  geben  und  seine 
Phantasien  über  ein  gemeinschaftliches  Grab  mit  der  geliebten  Feindin 
erinnern  an  Kleists  Idee  des  Zusammensterbens  und  an  die  Stimmung, 
welche  er  aus  dieser  heraus  seiner  Penthesilea  über  der  Leiche  des 
Achilles  geliehen  hat.  Aufser  dem  erwähnten  Paar  giebt  es  aber  noch 
ein  ganz  ähnliches  in  Tassos  Gedicht:  Armida  und  Rinaldo.  Auch 
zwischen  diesen  beiden  ein  jäher  Umschlag  von  Liebe  in  Hafs  und  von 
diesem  wieder  in  jene.  Schwankend  zwischen  beiden  Empfindungen  wird 
Armida  z.  B.  Ges.  XX,  Str.  62  ff.  geschildert: 

Zorn  treibt  die  Hand  zu  grausam  heft'gem  Walten, 
Doch  Liebe  fleht  und  will  zurück  sie  halten. 
Die  Liebe  wagt's,  dem  Zorn  zu  widerstreben, 
Und  offenbart  den  still  verborgnen  Brand. 
Dreimal  will  sich  der  Arm  zum  Bogen  heben 
Und  dreimal  sinkt  die  eingehaltne  Hand. 
Doch  sieg^  der  Zorn  u.  s.  w.*) 


*)  Nach  Gries*  Obersetzung. 


Vergleichende  Studien  zu  Heinrich  von  Kleist.  I.  29  t 

Auch  sie  „halb  Furie,  halb  Grazie"  wird  nach  beiden  Seiten  ausfuhr- 
lich geschildert  und  neben  grausiger  Beschreibung  ihres  Zornes,  ihrer 
Wut  steht  das  liebliche  Bild  vom  Schwan,  das  auch  Kleist  für  seine 
Penthesilea  im  letzten  Auftritt  gebraucht.  Überhaupt  findet  sich  der 
Wechsel  zwischen  lieblichen  und  wilden  Szenen,  zwischen  Idyll  und 
Kampf,  der  immer  an  Kleists  Dichtungen  als  charakteristisch  hervor- 
gehoben wird,  in  gleich  hohem  Grade  bei  Tasso.  Ich  will  damit  nicht 
sagen,  dafs  Kleist  diese  Kompositionsart  aus  Tasso  gelernt  habe,  aber 
die  Neigung  nach  dieser  Seite,  die  von  Anfang  an  in  ihm  lag,  hat  ihn 
sicher  an  dem  italienischen  Dichter,  der  ihm  hierin  verwandt  war,  be- 
sonderes Gefallen  finden  lassen  und  kann  sich  dann  durch  die  Lektüre 
desselben  verstärkt  und  ihn  veranlafst  haben,  nach  einem  Stoff  fiir  seine 
Ideen  zu  suchen,  in  welchem  er  seine  Naturanlage  so  recht  bethätigen 
könnte.  Da  kann  er  nun  durch  Tasso  auf  dessen  Vorbild  Homer  und 
überhaupt  den  Trojanischen  Sagenkreis  mit  der  romantisch  rührenden 
Gestalt  der  Penthesilea  geleitet  worden  sein.  Jedenfalls  erinnert  nicht  nur 
diese  Hauptfigur  an  die  verschiedenen  Amazonen  im  „Befreiten  Jerusalem" 
sondern  auch  der  ganze  Ton  der  deutschen  Tragödie,  die  Mischung  ent- 
gegengesetzter Elemente  in  ihr,  „die  aus  dem  Reiche  der  Verwesung  auf- 
blühenden Blumen  der  Schönheit"  (Kleists  eigene  Worte)  an  den  Wechsel 
grausiger  und  lieblicher  Bilder  in  dem  italienischen  Epos. 

2.  Dafs  Kleist  den  Tasso  gekannt  hat,  verrät  schon  der  Vergleich, 
den  er  zwischen  sich  und  Tankred  zieht,  und  diese  Kenntnis,  ja  eine  Be- 
geisterung für  das  italienische  Gedicht  wäre  auch  ohne  solches  ausdrück- 
liches Zeugnis  als  eine  Art  litteraturgeschichtlicher  Notwendigkeit  voraus- 
zusetzen, da  gerade  in  der  Zeit,  in  welcher  Kleist  sicher  die  meisten 
litterarischen  Anregungen  erhalten  hat,  1800 — 1803  Gries  seine  epoche- 
machende  Übersetzung  des  Tasso  veröffentlichte.  Aufserdem  giebt  es 
aber  noch  andere  Anzeichen,  dafe  die  Periode  der  romantischen  Ritter* 
weit,  welche  im  „Befreiten  Jerusalem"  poetische  Gestalt  und  Verherr- 
lichung gefunden  hat,  Kleists  Einbildungskraft  lebhaft  beschäftigte.  Ob 
der  Stoflf  zu  dem  geplanten  Drama  „Peter  der  Einsiedler"  der  italienischen 
Dichtung  entnommen  war,  wissen  wir  nicht,  jedenfalls  spielt  jener  Mönch 
eine  bedeutende  RoUe  in  Tassos  Werk.  Robert  Guiskard  wird  nur  ge- 
legentlich (Ges.  XVII,  Str.  78)  in  demselben  erwähnt,  gehört  aber  als 
Vater  eines  der  Ritter  des  ersten  Kreuzzuges  in  den  Kreis  der  Ideen,  die 
sich  an  das  Gedicht  knüpfen.  Und  nun  ist  die  bekannte  Gedankenver- 
bindung zu  beachten,  die  zwischen  „Robert  Guiskard"  imd  „Penthesilea" 
für  Kleist  bestand.     Das  vergebliche  Ringen  nach  seinem  Ideal  während 


292  Richard  Weissenfels. 


der  Arbeit  an  der  ersteren  Tragödie  wird  poetisch  gestaltet  in  der 
zweiten,  es  ist  also  wahrscheinlich,  da(s  die  Grundidee  der  letzteren  sofort 
nach  der  Verzweiflung  am  „Guiskard**  oder  vielmehr  nach  der  Genesung 
von  der  Krankheit,  die  ihm  jene  zugezogen,  in  Kleist  aufgekeimt  ist  und 
dafs  darauf  die  neuen  dichterischen  Pläne  zu  beziehen  sind,  die  er  schon 
während  der  ernsthaften  Bewerbung  um  ein  Amt  seiner  Schwester  gegen- 
über andeutete  (vgl.  Brahm  S.  132  ff.).  Dann  ist  es  aber  weiter  nicht 
unwahrscheinlich,  dafs  ihm,  dessen  Phantasie  nun  einmal  durch  seine 
früheren  dichterischen  Beschäftigungen  und  Pläne  für  die  erste  Zeit  der 
Kreuzzüge  geweckt  und  begeistert  war,  die  Gestalten  der  Tassoschen 
Amazonen  im  allgemeinen  und  der  Clorinde  im  besonderen  und  vermittelst 
derselben  die  ihres  Urbildes  Penthesilea  vor  die  Augen  getreten  sind  und 
ihm  auf  diesem  Wege  imter  dem  ferneren  Einflufs  des  von  ihm  getadelten 
unweiblichen  Wesens  seiner  doch  so  heifs  geliebten  Schwester  Ulrike 
der  Einfall  gekommen  ist,  in  jene  romantische  Heldin  der  antiken  Sage, 
welche,  wie  er,  für  das  Herausstreben  aus  den  natürlichen  Schranken 
so  grausam  gebüfst  hat,  die  eigene  seelische  Erfahrung  hineinzu- 
arbeiten.*) 

Auch  in  Kleists  Novelle  „der  Zweikampf  scheint  mir  eine  Reminiscenz 
an  Tasso  hineinzuspielen.  Die  Situation  (Werke  IV,  S.  249  ff.),  wie  Litte- 
garde und  Friedrich,  die  sich  lieben,  auf  Einem  Scheiterhaufen  festge- 
bunden im  Moment  der  höchsten  Gefahr  durch  das  Erscheinen  Jakobs 
des  Rotbarts  gerettet  werden,  worauf  dann  alsbald  die  Hochzeit  folgt, 
erinnert  an  die  Episode  von  Olind  und  Sophronia,  die  aus  gleicher  Lage 
diu-ch  die  Ankimft  Clorindens  im  letzten  Augenblick  befreit  und  ein  glück- 
liches Paar  werden.  Ich  glaube,  dafs  die  Entstehung  oder  wenigstens  die 
erste  Redaktion  dieser  Kleistschen  Novelle  nicht  in  seine  Berliner  Redakteurs- 
periode, wie  Zolling  Werke  IV,  S.  XV  will,  zu  setzen  ist,  sondern  in  die- 
selbe Zeit,  in  welcher,  wie  oben  vermutet,  Tassos  Werk  die  Phantasie 
unseres  Dichters  beschäftigte.  Die  Zeit,  in  welche  die  Handlung  des 
^Zweikampfs^  fallt,  ist  dieselbe  wie  die,  in  welcher  Kleists  entworfenes 
Drama  „Leopold  von  Österreich^  spielt,  das  Lokal,  Breisach  und  Basel, 
dem  Schauplatz  jener  Tragödie  benachbart,  und  wie  der  Plan  der  letzteren 
so    ist    vielleicht    auch    die  Erzählung    oder    wenigstens    ein    Teil    der- 


*)  Übrigens  ist  auch  Guiskards  historische  Gemahlin  Gaita  eine  Art  Amazone.  Was 
sie  für  eine  Rolle  spielte  in  der  Quelle,  aus  welcher  Kleist  den  Stoff  zu  seiner  Gulskard* 
Tragödie  geschöpft  hat,  und  ob  auch  von  ihr  sich  Verbindungsfäden  zur  Amazone  Penthe- 
silea  ziehen  lassen,  weifs  ich  nicht. 


Vergleichende  Studien  zu  Heinrich  von  Kleist.  I.  298 

selben*)  durch  irgend  eine  Anregung  (Tradition  o^ier  Chronik)  entstanden, 
als  der  Dichter  sich  1801 — 1802  in  den  genannten  Gegenden  aufhielt. 

3)  Anklänge  in  Einzelheiten  der  „Penthesilea"  an  das  „Befreite 
Jerusalem",  von  denen  ich  schon  unter  Nr.  i  einige  angedeutet  habe, 
finden  sich  noch  mehrere. 

Die  Erzählung  von  dem  ersten  Zusammentreffen  und  den  Kämpfen 
zwischen  Achilles  und  Penthesilea  (Vers  68 — 192)  ähnelt  in  fast  allen 
Momenten  der  Schilderung  der  gleichen  Begebenheit  zwischen  Tankred 
und  Clorinde  (Ges.  III,  Str.  21  ff.).  Tankred  erstarrt  beim  ersten  Anblick 
der  Jungfrau,  vergifst  nicht  nur  jeden  Widerstand  gegen  ihre  Angriffe, 
sondern  rächt  sogar  seine  Feindin  an  einem  Ritter  seines  eigenen  Heeres, 
der  sie  verwundet  hat,  genau  dasselbe  Benehmen,  das  von  Penthesilea 
dem  Achill  gegenüber  berichtet  wird. 

Die  Steigerung  des  Gräfslichen,  dafs  Penthesilea  den  Achilles,  nach- 
dem sie  ihn  tötlich  verwundet  hat,  noch  von  ihren  Hunden  zerfleischen 
läfst,  findet  sich  bei  Tasso  zwar  nicht  in  Wirklichkeit,  aber  etwas  ganz 
Ahnliches  in  Tankreds  Phantasie  (Ges.  XU,  Str.  78).  Hier  ist  auch  mit 
Rücksicht  auf  das,  was  ich  vorher  von  der  Ideenverbindung  zwischen 
„Guiskard"  und  „Penthesilea"  gesagt  habe,  zu  beachten,  dafs  der  Gipfel 
der  Gräfslichkeit  in  der  letzteren  Tragödie,  die  Teilnahme  der  Heldin  an 
der  Arbeit  ihrer  Hunde  mit  ihren  eigenen  Zähnen,  auch  im  „Guiskard" 
erreicht  wird  in  der  Schilderung  des  Pestkranken  V.  511  ff. 

Ja,  in  des  Sinns  entsetzlicher  Verwirrung, 
Die  ihn  2ulet2t  befllllt,  sieht  man  ihn  scheufslich 
Die  Zähne  gegen  Gott  und  Menschen  fletschen, 
Dem  Freund,  dem  Bruder,  Vater,  Mutter,  Kindern, 
Der  Braut  selbst,  die  ihm  naht,  entgegen wQtend. 

Ich  weifs  nicht,  ob  nicht  eine  genauere  Untersuchung  noch  mehr 
Ähnlichkeit  in  Einzelheiten  zwischen  Tassos  und  Kleists  Dichtung  ergeben 
würde,  die  Bildersprache  z.  B.,  in  beiden  gleich  üppig  und  glühend, 
fordert  zu  einer  eingehenden  Vergleichung  heraus,  ferner  finden  sich  zwei 
formale  Eigentümlichkeiten  des  Kleistschen  Stils  überhaupt,  der  häufige, 
ungewöhnliche,  kühne  Gebrauch  des  Dativs  und  die  kunstvolle,  wirksame 


*)  Es  sind  eigentlich  zwei  Erzählungen,  nur  die  Quelle  der  einen  ist  bisher  entdeckt 
(vgl.  Zolling  Werke  IV,  S.  XV  fif.),  und  in  ihr  kommt  die  oben  behandelte  Situation  nicht 
vor,  dieselbe  ist  also  eine  Zuthat  Kleists. 

Ztachr.  l  vgl.  Litt.-Geach.  I.  20 


1 


394  Richard  Weissenfeis. 


Verwendung  der  Redefigur  des  Chiasmus*)  in  Grics'  Tassoübersetzung 
in  auffallend  ähnlicher  Weise. 

Wenn  meine  Vermutungen  über  die  verschiedenen  teils  aus  dem 
Leben,  teils  aus  der  Litteratur  stammenden  Einflüsse  auf  Kleists  „Penthe- 
silea"  richtig  sind,  so  haben  wir  in  der  Figur  der  Hauptheldin  sowohl 
wie  in  der  des  Achilles  ein  Gemisch  von  Elementen  aus  mehreren 
Charakteren  anzuerkennen,  in  Penthesilea  etwas  von  Kleist  selbst,  von 
Ulrike,  von  Tankred,  von  Clorinde  und  Armida,  in  Achilles  etwas  von 
Kleist  und  etwas  von  Clorinde.  Ein  solcher  Mischungsprozess,  der  nach 
meiner  Ansicht  fast  allen  poetischen  Charakteren  zu  Grunde  liegt,  geht 
natürlich  dem  Dichter  selbst  unbewufst  in  seiner  Seele  vor  und  die  nach- 
trägliche Kritik  mufs  sich  begnügen,  die  einzelnen  Elemente  mehr  fühlend 
und  ahnend,  als  beweisend  und  zergliedernd  neben  einander  zu  stellen, 
mufs  sich  aber  anderseits  jedenfalls  hüten,  alle  Züge  eines  solchen 
Dichtergebildes,  wie  z.  B.  die  Penthesilea  ist,  in  einem  einzigen  einmal 
entdeckten  Urbilde  wiederfinden  zu  wollen.  Um  solche  Einseitigkeit  zu 
vermeiden,  ist  es  inrnier  von  Nutzen,  für  den  einzelnen  Fall  alle  überhaupt 
möglichen  Beziehungen  und  Gedankenverbindungen  zu  enthüllen  und  zu 
erörtern,  wenn  auch  der  Versuch  vergeblich  wäre,  nun  noch  tiefer  in  die 
Art,  wie  die  verschiedenen  Elemente  neben  oder  auf  oder  gegen  ein- 
ander in  der  Seele  des  Dichters  gewirkt  haben,   einzudringen. 

Freiburg  i.  B. 


*)  Zwei  Erscheinungen,  die  bisher  noch  nicht  beachtet  sind,  die  erste  von  beiden 
wenigstens  nur  flüchtig  von  Zolling  in  Kleists  Werken  11,  S.  341,  Anm.  Eine  zusammenhängende 
Darstellung  des  Kleistschen  Stiles  fehlt  überhaupt  noch  und  könnte  bei  der  Originalität  des 
Dichters  zu  interessanten  Bemerkungen  nicht  nur  über  die  Art  seines  poetischen  Schaffens, 
sondern  über  sein  ganzes  Wesen  führen. 


-•— 


Stoffwandlung  in  chinesischer  Dichtung. 

Von 
Woldemar  Freiherrn  von  Biedermann. 


Die  Chinesen  besitzen  mehrere  Schriften  über  Dichtung,  meines  Wissens 
ist  aber  keine  derselben  vollständig  in  eine  europäische  Sprache 
übersetzt.  Die  einzelnen  Stellen,  die  uns  daraus  bekannt  worden  sind,  lassen 
die  chinesische  Dichtungslehre  in  Vergleich  mit  den  deutschen  Ästhetiken 
mitunter  fast  kindlich  erscheinen,  wir  haben  indessen  Ursache  anzunehmen, 
dafs  denn  doch  die  Chinesen  über  wesentliche  Grundsätze  der  Dichtung 
mit  uns  übereinstimmen.  Es  ist  nicht  die  Absicht  das  gebotene  Material 
zu  ausfuhrlicher  Begründung  dieser  Überzeugung  auszunutzen;  Zweck 
dieses  Aufsatzes  ist  vielmehr,  an  einem  einzigen  Beispiel  zu  zeigen,  wie 
chinesiche  Dichter  eine  nackte  geschichtliche  Thatsache  schöpferisch  zu 
gestalten  verstehen,  und  zwar  verschieden,  je  nachdem  sie  dieselbe  in 
der  Lyrik,  im  Epos^  oder  im  Drama  darstellen.  Die  Gesetze  der  Dar- 
stellung, welche  unsere  Ästhetiker  aus  dem  Wesen  einer  jeden  Dichtung 
heraus  entwickeln,  —  oder  wenigstens  zu  entwickeln  scheinen  —  mag 
umgekehrt  bei  den  Dichtern  Chinas  auf  Grund  der  beobachteten  Wirkung 
ihrer  Leistungen  zu  praktischen  Regeln  erhoben  worden  sein.  Doch  wie 
gesagt,  wir  wollen  hier  die  chinesische  Kunsdehre  nicht  untersuchen, 
sondern  ihre  Ausübung  in  folgendem  Falle  kennen  lernen. 

In  dem  Geschichtswerke  Thung-kian-kong-mu  wird  erzählt: 
„Als  Hu  Han  Je,  der  Tschen-ju  der  Hiung-nu,  erfahren  hatte,  dafs 
[sein  Nebenbuhler,  der  Tschen-ju]  Tschy  Tschi  [von  den  chinesischen 
Truppen]  getötet  worden  war,  war  er  darüber  zugleich  erfreut  und 
erschreckt.  Er  ging  an  den  Hof  des  Kaisers  [von  China]»  Er  gab 
daselbst  seinen  Wunsch  zu  erkennen,  dem  kaiserlichen  Hause  von  Han 
verschwägert  zu  werden.     Der  Kaiser  hatte  in  seinem  Frauenhause  eine 

20* 


1 


296  Woldemar  von  Biedermann. 


Tochter  aus  guter  Familie,  Wang  Ziong  geheifsen,  mit  Zunamen  Tschau 
Chün;  diese  gab  er  ihm  [zur  Ehe]. 

Es  geschah  dies  zu  einer  Zeit  —  23  v.  Ch.  —  in  welcher  die  Mongolen, 
zu  denen  die  Hiungnu  gehören,  dem  chinesischen  Reiche  noch  nicht  so 
furchtbar  gegenüber  standen,  wie  in  spätem  Jahrhunderten;  damals  hatte 
ein  Mongolenchan  noch  so  viel  ehrfurchtsvolle  Scheu  vor  dem  mächtigen 
Kaiserstaate,  dafs  er  es  für  eine  erstrebenswerte  Auszeichnung  hielt, 
auch  nur  eine  ins  kaiserliche  Frauenhaus  aufgenommene  Jungfrau  als 
Gattin  bewilligt  zu  erhalten,  wodurch  er  nur  etwa  in  dem  Sinne  mit  dem 
Kaiser  verschwägert  wurde,  wie  Goethe  im  Buch  der  Liebe  des  „West- 
östlichen Diwan",  in  dem  Gedicht  „ Geheimstes "*,  das  Wort  „Schwager" 
gebraucht. 

Der  obigen  geschichtlichen  Aufzeichnung  fugt  die  Überlieferung 
hinzu,  dafs  Tschau  Chün,  bevor  sie  noch  der  Chan  Hu  Han  Je  empfangen 
konnte,  am  chinesisch-mongolischen  Grenzflusse  Amur  verstorben  sei; 
ihre  Grabstätte  wird  noch  heute  gezeigt  und  heifst:  das  grünende  Grab. 
Es  ist  eine  Oase  in  öder  Gegend. 

Dies  sind  die  einfachen  Umstände,  deren  sich  die  Dichtung  bemächtigt 
hat,  sie  in  verschiedener  Gestalt  aus  dem  Gebiete  nüchterner,  geschicht- 
licher Thatsachen  herauszuheben  und  sie  als  die  Geschichte  eines  Menschen- 
lebens frei  zu  behandeln. 

Ein  Roman,  der  diese  Geschichte  zum  Gegenstande  hat,  beginnt 
mit  der  Versetzung  der  erst  siebenjährigen  Tschau  Chün  in  das  kaiser- 
liche Frauenhaus.  Unter  den  Schönheiten,  welche  im  ganzen  Reiche 
von  eignen  Beamten  ausgesucht  wurden,  um  zu  Gattinnen  des  Kaisers 
oder  als  deren  Dienerinnen  erzogen  zu  werden,  pflegte  der  Kaiser  die 
Wahl  seiner  Lebensgefährtinnen  nach  den  Bildern  auszuwählen,  welche 
er  von  den  zahlreichen  Bewohnerinnen  des  Frauenhauses  fertigen  liefs. 
Der  damit  betraute  Maler  wufste  sich  die  Wichtigkeit,  welche  ein 
schönes  Bildnis  hierdurch  gewann,  dadurch  zu  nutze  zu  machen,  dafs  er 
sich  von  den  ihm  sitzenden  Jungfrauen  ein  Geschenk  ausbedung,  um  wo- 
möglich durch  seine  Kunst  zu  bewirken,  was  vielleicht  die  persönliche 
Erscheinung  nicht  vermocht  hätte.  Tschau  Chün  war  sich  aber  ihrer 
aufserordentlichen  Schönheit  so  sehr  bewufst,  dafs  sie,  als  die  Reihe  des 
Gemalenwerdens  an  sie  kam,  das  übliche  Geschenk  verweigerte.  Der 
Maler  rächte  sich  jedoch:  er  verunstaltete  das  Antlitz  der  Jungfrau  im 
Bude  so  sehr,  dafs  der  Kaiser,  als  das  letztere  ihm  vorgelegt  worden 
war,  davon  absah,  seine  Wahl  auf  Tschau  Chün  zu  richten,  —  Um  diese 
Zeit  nun  bewarb  sich  der  Mongolenffirst  Hu  Han  Je  um  eine  beliebige 
Angehörige  des  Kaiserhauses;   der  Kaiser  fand  die  Gelegenheit  günstig, 


Stoffwandlung  in  chinesischer  Dichtung.  297 

sich  der  häfslichen  Bewohnerin  des  Palastes  zu  entledigen  und  bestimmte 
sie  zur  Gattin  jenes  Fürsten.  Als  er  sie  den  Gesandten  desselben  über- 
geben wollte,  erblickte  er  Tschau  Chün  zum  erstenmal  von  Angesicht, 
und  wurde  von  ihrer  wunderbaren  Schönheit  so  ergriffen,  dafs  er  in 
heftiger  Liebe  fiir  sie  entbrannte  —  ein  Gefühl,  das  sofort  auch  bei 
Tschau-Chün  für  den  Kaiser  zum  Durchbruch  kam.  Aber  das  Geschehene 
war  nicht  rückgängig  zu  machen:  Tschau  Chün  mufste  den  Gesandten 
des  Chans  folgen.  Als  sie  aber  an  den  Amur  kam  und  die  Grenze  des 
Kaiserreichs  überschreiten  sollte,  stürzte  sie  sich  von  ihrem  Pferde  herab 
in  den  Strom  und  fand  dabei  den  Tod.  Weit  und  breit  verdorrte  das 
Gras  dort,  wo  sie  den  Tod  suchte;  nur  ihr  Grab  begrünte  sich  wieder. 
—  Der  Kaiser  liefs  zwar  den  Maler  und  seine  Schuldgenossen  hinrichten, 
verfiel  aber  in  tiefe  Schwermut. 

Wie  Shakespeare,  wie  deutsche  Bühnendichter  bis  ins  XVIII.  Jahr- 
hundert, schöpften  auch  die  chinesischen  Bühnendichter  ihre  Stoffe  haupt- 
sächlich aus  Novellen  und  Märchen.  Auch  die  durch  den  Roman  gewisser- 
mafsen  erst  geschaffene  Geschichte  der  Tschau  Chün  griffen  sie  auf,  um 
sie  der  Bühne  zuzuführen.  Dies  geschah  schon  in  dem  goldnen  Zeitalter 
der  Bühnendichtung  Chinas,  vom  Xni.  zum  XIV.  Jahrhundert,  durch 
Ma  Tschi  Juen.  Dieser  schrieb  darnach  sein  noch  heute  berühmtes  und 
gern  gesehenes  Bühnenstück,  welches  den  langen  Titel  fuhrt:  „Zerstörter 
dunkler  Traum;  einsamer  Jengovogel;  Trübsal  im  Hause  Han".  Gewöhn- 
lich wird  es  blos  mit  dem  letzten  Namen  —  chinesisch:  Han-kung-zieu  — 
aufgeführt. 

Der  Gegenstand  dieses  Schauspiels  ist  auch  uns  nicht  fremd:  er 
klingt  an,  an  die  Geschichte  Elfriedens,  die  König  Edgar  von  England 
sich  zur  Gattin  erkoren,  ihm  aber  zuerst  der  abgesandte  Werber  durch 
falsche  Berichte  entzogen  hatte,  um  sie  selbst  zu  heiraten,  wie  die  Gesta 
regum  Anglorum  erzählen.  Professor  Erich  Schmidt  hat  die  Bühnen- 
bearbeitungen, welche  diese  Geschichte  in  England  und  Deutschland  er- 
fahren hat,  einer  Musterung  unterworfen.  (Beilage  zur  Allgemeinen 
Zeitung  1879,  Nr.  44,  nun  in  den  „Charakteristiken**  Berlin  1886). 

Der  chinesische  Bühnendichter  erkannte  indessen,  dafs,  um  von  der 
Bühne  aus  zu  wirken,  die  Darstellung  des  Romans  nicht  ohne  weiteres 
zu  gebrauchen  war.  Die  UnwahrscheinHchkeiten,  dafs  das  Büdnis  einer 
Bewohnerin  des  Palastes  boshaft  entstellt  werden  konnte,  ohne  dafs  jemand 
Einspruch  dagegen  erhob,  dafs  der  Kaiser  von  der  hervorragenden 
Schönheit  einer  von  Kindheit  an  in  seiner  Nähe  lebenden  Jungfrau  keine 
Kunde  erhielt,  dafs  er  dieselbe  nicht  eher  zu  Gesicht  bekam,  als  bis  er 


2^  Woldemar  von  Biedermann. 


sie  der  Gesandtschaft  des  Chans  feierlich  übergeben  wollte,  dafs  er  als- 
dann, wenn  er  und  die  Jungfrau  so  plötzlich  von  glühender  Liebe  zu 
einander  ergriffen  wurden,  die  Übergabe  an  die  Gesandtschaft  nicht  noch 
hätte  rückgängig  machen  können,  —  alle  diese  UnwahrscheinUchkeiten 
vermochte  wohl  der  Erzähler  seinen  Hörern  und  Lesern  durch  geschickte 
Begründung  glaublich  zu  machen,  allein  der  Bühnendichter,  dessen  Dar- 
stellung von  Augen  aufgenommen  oder  doch  kontrolliert  wird,  die  weniger 
leicht  zu  täuschen  sind,  als  die  vom  Erzähler  unmittelbar  in  Anspruch 
genommene  Phantasie,  mufste  gewissenhafter  zu  Werke  gehen.  Ma  Tschi 
Huen  hat  sich  dieser  Aufgabe  mit  anerkennenswerter  Überlegung  entledigt* 

Zunächst  ist  es  eine  geschickte  Abweichung  von  der  Geschichte, 
dafs  er  den  Vorgang  in  die  Zeit  des  Kaisers  Juen  Ti,  ins  III.  Jahrhundert 
n.  Chr.  verlegt,  wo  die  Mongolen  den  Chinesen  bereits  Verderben 
drohend  gegenüberstanden;  dadurch  wird  erreicht,  dafs  die  Möglichkeit, 
die  zur  Übergabe  an  die  Gesandtschaft  bestimmte  Tschau  Chün  durch 
eine  andere  Palastjungfrau  zu  ersetzen,  von  vom  herein  abgeschnitten  ist. 

Das  Schauspiel  beginnt  nun  auch  mit  einem  Vorspiel  im  Lager  der 
Hiungnu  mit  einem  Selbstgespräch  des  Chans,  worin  er  es  zwar  als  eine 
Ehre  bezeichnet,  mit  dem  Kaiserhause  von  China  verwandt  zu  sein  und 
der  Gesandtschaft  gedenkt,  welche  er  abgefertigt  habe,  um  die  Hand 
einer  Prinzessin  vom  Kaiser  zu  erbitten,  allein  auch  die  Siege  auf- 
zählt, welche  die  Mongolen  über  die  Chinesen  errungen  haben,  so  dafs 
man  begreift,  er  werde  im  Stande  sein,  einer  ernstlich  gemeinten  Forderung 
an  den  Nachbarstaat  den  gehörigen  Nachdruck  zu  geben. 

Die  zweite  Szene  des  Vorspiels  versetzt  uns  in  den  kaiserlichen 
Palast  und  fuhrt  uns  den  Bösewicht  des  Stückes,  den  Minister  Mau  Jen 
Scho  vor,  der  sich  selbst  als  einen  Mann  schildert,  der  mit  allen  mög- 
lichen Mitteln  sich  in  Macht  und  Ansehen  zu  setzen  sucht  und  der  deshalb 
auch  strebt,  den  Kaiser  von  seinen  weisen  Käthen  fern  zu  halten  und 
ihn  durch  Umgang  mit  Frauen  den  Regierungsgeschäften  zu  entfremden. 
Den  hinzukommenden  Kaiser  bestärkt  er  daher  in  dem  Wunsche,  das 
Kaiserliche  Frauenhaus  wieder  zu  füllen  und  sich  dadurch  eine  Unter- 
haltung zu  verschaffen,  die  der  ärmste  Landmann  sich  gönne;  er  schlägt 
vor,  die  schönsten  Jungfrauen  im  ganzen  Reiche  hierzu  aussuchen  zu 
lassen.  Der  Kaiser  geht  darauf  ein  und  ernennt  sofort  Mau  Jen  Scho  zu 
dem  die  Auswahl  der  Schönen  leitenden  Minister. 

Zu  Anfang  des  ersten  Aktes  erzählt  Mau  Jen  Scho,  wie  er  das  ihm 
übertragene  Amt  benutzt  habe,  Reichtümer  zu  sammeln,  indem  er  sich 
beträchtliche  Summen  von  den  Angehörigen  der  ausgewählten  Jungfrauen 


Stofifwandlung  in  chinesischer  Dichtung.  899 

habe  zahlen  lassen.  Nur  bei  einer  derselben  hätten  die  Eltern  unter 
Vorschützung  der  Armut  den  geforderten  Preis  nicht  zahlen  wollen,  zumal 
sie  überzeugt  gewesen  seien,  dafs  ihrer  Tochter  bei  ihrer  unvergleich- 
lichen Schönheit  die  Aufnahme  in  den  Kaiserpalast  nicht  entgehen  könne. 
Auch  Mau  Jen  Scho  begnfigt  sich  aber  nicht,  sie  bei  der  Jungfrauen- 
auswahl zu  übergehen,  sondern  nimmt  sie  unter  die  Auserwählten  auf,  ver- 
unstaltet aber  ihr  Bild,  um  dadurch  eine  Annäherung  des  Kaisers  zu  ver- 
hindern und  damit  das  Mädchen  zeidebens  unglücklich  zu  machen.  So 
rächt  er  sich;  ähnlich  wie  Wachtmeister  Just  in  ^Minna  von  Bamhelm" 
meint  er:     ^Wer  keine  Galle  hat,  ist  kein  vollkommener  Mensch^. 

In  der  folgenden  Szene  finden  wir  Tschau  Chün  im  Palaste  einsam 
trauernd«  Sie  kennt  die  Gründe  ihrer  Zurücksetzung  und  vertreibt  sich 
die  trüben  Stunden  durch  Lautenspiel.  Sie  belauscht  der  Kaiser,  der 
seinen  Palast  durchwandelt  und  beklagt,  dafs  er  nach  den  ihm  vorge- 
legten Bildnissen  keine  Jungfrau  würdig  gefunden  habe,  ihm  näher  zu 
treten,  weshalb  er  sich  überzeugen  wolle,  ob  der  Anblick  ihrer  Persön- 
lichkeiten einen  günstigeren  Eindruck  hervorzubringen  im  stände  sei.  Er 
läfst  nun  auch  die  Lautenspielerin  vor  sich  kommen,  ist  entzückt  über 
ihre  Schönheit,  begreift  nicht,  dafs  er  von  ihr  noch  nicht  gehört  und  er- 
fahrt nunmehr  den  Streich  des  Ministers  Mau  Jen  Scho.  Augenblicklich 
befiehlt  er,  denselben  zu  enthaupten. 

Der  zweite  Akt  zeigt  wieder  das  mongolische  Lager  als  Schauplatz. 
Der  Chan  zürnt  dem  Kaiser,  dafs  er  ihm  die  Hand  einer  Prinzessin  ver- 
weigert habe.  Er  beschliefst  nunmehr  China  mit  Krieg  zu  überziehen. 
Zu  ihm  tritt  Mau  Jen  Scho,  der  sich  der  ihm  drohenden  Strafe  durch  die 
Flucht  entzogen  hat  und  den  Zorn  des  Chans  benutzend,  ihm  das  unent- 
stellte Bildnis  der  Tschau  Chün  vorzeigt,  indem  er  ihm  vorschlägt,  nun- 
mehr diese  zur  Gattin  zu  begehren;  er  bemerkt,  der  Kaiser  könne  ihm 
den  Antrag  nicht  abschlagen,  wenn  er  dadurch  einen  Krieg  herauf- 
beschwören würde.  Der  Chan,  ganz  Feuer  und  Flamme  beim  Anblick 
der  Schönheit  der  Tschau  Chün,  giebt  sofort  den  Befehl,  eine  neue 
Gesandtschaft  an  den  Kaiser  von  China  abzufertigen,  läfst  aber  zugleich 
seine  Truppen  eine  drohende  kriegerische  Stellung  gegen  den  Nachbar- 
staat einnehmen. 

Die  nächste  Szene  geht  wieder  im  Palaste  der  Han  vor  sich.  Tschau 
Chün  findet  selbst,  dafs  der  Kaiser  aus  übergrofser  Zärtlichkeit  gegen 
sie  seine  Regentenpflichten  vernachlässige.  Derselbe  kommt  hinzu,  über- 
rascht Tschau  Chün  am  Putztische  und  behandelt  sie  mit  äufsersten  Rück- 
sichten.    Diese  Idylle  unterbricht   unsanft   der  Präsident   des   Geheunen 


800  Woldemar  von  Biedermanii. 


Rats,  um  die  Ankunft  der  neuen  Gesandtschaft  Hu  Han  Je's  und  dessen 
Bewerbung  um  Tschau  Chün  nebst  der  Kriegsdrohung  im  Verweigenings- 
falle  zu  melden.  Ma  Tschi  Juen  hat  wohl  gefühlt,  dafs  die  eigentlich 
unbegreifliche  Nachgiebigkeit  des  Kaisers  einer  besonderen  Rechtfertigung 
und  Erklärung  bedürfe.  Hat  er  deshalb  schon  von  Anfang  an  die 
Schwäche  des  Reiches  der  Han  gegenüber  den  Mongolen  hervorgehoben^ 
so  hat  er  nun  auch  den  Kaiser  mit  Geschick  als  ganz  haltungs-  und 
kraftlos  hingestellt.  Auf  die  Meldung  des  Präsidenten  bricht  er  in  die 
Worte  aus:  „Unterhalten  und  befehligen  wir  umsonst  vier  Heere?  Sind 
umsonst  die  Haufen  von  Regierungs-  und  Kriegsbeamten  um  unseren 
Palast?  Wer  von  ihnen  wird  die  fremden  Horden  von  uns  abhalten? 
Fürchten  sie  alle  die  Schwerter  und  Pfeile  der  Mongolen?  Wenn  aber 
sie  jede  Anstrengung  zu  Vertreibung  der  Barbaren  scheuen,  wie  können 
sie  von  der  Fürstin  verlangen,  dafs  sie  dieselben  abwehrt?"  Der  Geheimrats- 
präsident ermahnt  den  Kaiser  dringend,  den  Frieden  des  Reichs  nicht  seiner 
Liebe  zu  gefallen  aufzuopfern  und  erinnert  an  den  Kaiser  Tscha  Wong, 
dem  die  Liebe  zu  der  grausamen  Taki  Reich  und  Leben  kostete.  Erst 
als  ein  Offizier  der  Leibwache  meldet,  dafs  der  mongolische  Gesandte 
dränge,  zur  Audienz  vorgelassen  zu  werden,  läfst  der  Kaiser  diesen  vor. 
Aber  auf  des  Gesandten  Ansprache  giebt  er  noch  keinen  Bescheid;  als 
indessen  der  Gesandte  abgetreten,  erklärt  Tschau  Chün  selbst  sich  bereit, 
für  das  Wohl  des  Reichs  sich  zu  opfern,  wenn  sie  auch  nicht  zu  fassen 
vermag,  wie  sie  der  Liebe  des  Kaisers  entsagen  könne.  Nachdem  letzterer 
endlich  einsieht,  dem  Verlangen  des  Mongolen-Chan  sich  fügen  zu  müssen, 
erklärt  er,  die  Fürstin  doch  noch  bis  zur  Pahlingbrücke  begleiten  zu 
wollen  und  verharrt  bei  diesem  Vorsatz,  obwohl  der  Präsident  vorstellt, 
dafs  er  sich  dadurch  dem  Spotte  aussetze.  f 

Der  dritte  Akt  läfst  uns  zuerst  die  mongolische  Gesandtschaft,  Tschau 
Chün  und  den  Kaiser  mit  Gefolge  von  Musikcorps,  Beamten  und  Soldaten 
an  der  Pahlingbrücke  sehen;  der  Kaiser  dehnt  den  Abschied  von  der 
Fürstin  aus  bis  der  Gesandte  zur  Trennung  mahnt,  die  dann  unter  beider- 
seitigen Klagen  erfolgt. 

In  der  kurzen  zweiten  Szene  tritt  der  Chan  Hu  Han  Je  auf  mit  Tschau 
Chün,  die  er  zur  Königin,  und  zugleich  d6n  Abschlufs  des  Friedens  mit 
China  erklärt. 

In  der  dritten  Szene  am  Grenzflufs  Amur  bringt  Tschau  Chün  ein 
Trankopfer,  ruft  dem  fernen  Kaiser  ein  Lebewohl  zu  und  stürzt  sich  hier- 
auf in  die  Fluten.  Vergebens  versucht  der  Chan  sie  zu  retten.  Ihr  Tod 
bewegt  ihn  sehr.     Er  beschliefst  überdies  nicht  nur    den  Anstifter    des 


Stofiwandlung  io  chinesischer  Dichtung.  801 

— • —       ■  —   -  ■  ■  -     —         —  -  .—.-..■  ■        .  — ^^^  ■  ■  ■     ■    -  ^^^^^— 

Unheils,  Mau  Jen  Scho,  auszuliefern,  sondern  gelobt  auch,  Tschau  Chüns 
Andenken  zu  bewahren  und  deshalb  mit  dem  kaiserlichen  Hofe  von  Han 
in  Friede  und  Freundschaft  zu  leben. 

Nach  unserm  Geschmacke  würde  hiermit  das  Stück  endigen:  Tschan 
Chüns  Selbstaufopferung  hat  ihren  Zweck  erreicht.  Der  Schlufs  mit 
seinem  versöhnlichen  Ausblick  in  die  Zukunft  würde  dem  von  „Romeo 
und  Julia**  ähneln.  Doch  die  chinesische  Kunsdehre  verlangt  unvermeid- 
lich die  ausgesprochene  Bestrafung  des  Bösewichts.  Daher  versetzt  uns 
der  vierte  und  letzte  Akt  wieder  in  den  Kaiserpalast.  Der  Kaiser  be- 
jammert noch  den  Verlust  der  geliebten  Fürstin.  Er  hängt  ihr  Bildnis 
auf  und  bringt  vor  demselben  Opfer  dar.  Ermattet  von  seinem  Schmerze 
entschlummert  er,  da  erscheint  ihm  Tschau  Chün  im  Traum  und  spricht : 
.„Wie  eine  Gefangene  den  Barbaren  ausgeliefert,  um  sich  ihren  Forderungen 
gefügig  zu  zeigen,  würden  sie  mich  in  nördliche  Ländereien  entfuhrt 
haben;  aber  ich  ergriff  eine  günstige  Gelegenheit  sie  zu  täuschen  und 
flüchtete  mich  wieder  hierher.  Ist  dies  nicht  der  Kaiser,  mein  Herr? 
Herr!  Sieh  mich  Dir  zurückgegeben."  Darauf  erscheint  im  Traumbild 
ein  Mongole  und  sagt:  „Während  ich  gerade  schlief,  hat  diese  Dame, 
die  uns  anvertraut  war,  die  Flucht  ergriffen  und  ist  heimgekehrt.  In  ihrer 
raschen  Verfolgung  habe  ich  den  kaiserlichen  Palast  erreicht.  Ist  es  nicht 
diese?"     Er  fuhrt  sie  dann  hinweg. 

Dieses  Traumbild  ist  wiederum  etwas  ganz  anderes,  als  die  in  unseren 
Dichtungen  vorkommenden  Traumerscheinungen.  Bei  uns  sind  sie  ge- 
wöhnlich ein,  wie  aus  einer  andern  Welt  herzukommendes  Prophetisches, 
während  jener  Traum  des  chinesischen  Kaisers  nur  ein  natürlicher  Traum 
ist,  der  zwar  etwas  Falsches  vorgaukelt,  aber  etwas,  das  der  Kaiser  sich 
wohl  als  eine  Möglichkeit  in  seiner  Phantasie  vorgespiegelt  haben  mochte. 
Es  ist  bei  den  Chinesen  alles  realistischer. 

Der  Kaiser,  aus  dem  Schlaf  auffahrend,  ruft  jedoch  aus  wie  Egmont: 
„Jetzt  eben  sahen  wir  die  Fürstin  zurückgekehrt  — aber  ach!  wie  schnell 
ist  sie  wieder  verschwunden. 

Bei  des  Tages  Glänze  kommt  sie 
Nicht  auf  meinen  Ruf,  doch  jet2t, 
In  des  Morgens  Dämmrung,  hat  ihr 
Antlitz  mich  im  Traum  ergötzt. 
Horch  I    die  Jengo  schreini    Bei  ihnen 
Trennet  Gatten  nicht  der  Tod; 
Wissen  sie,  dafs  ihrer  Keinem 
Gröferer  Schmerz  als  mir  gedroht?*^ 

Endlich  zeigt  der  Präsident  des  Geheimen  Rats  die  Auslieferung 
Mau  Jen  Schos  an.    Sofort  rafft  sich  der  Kaiser  auf,  um  den  Hinrichtungs- 


802  Woldemar  von  Biedermann. 


Befehl  zu  erneuern  als  Sühne  für  den  durch  des  Ministers  Bosheit  verur- 
sachten Tod  der  schönen  Fürstin. 

Eine  Ballade  endlich  über  diese  traurige  Begebenheit  stand  in  der 
Übersetzung  des  verstorbenen  Oberst  v.  Seubert  in  Nr.  43  des  „Magazins 
für  die  Litteratur  des  In-  und  Auslandes**  vom  Jahre  1879.  Vorwiegend 
lyrisch  stellt  sie  nur  den  Ausgang  der  Begebenheit  dar,  und  zwar  als  Gefuhls- 
durchbruch  Tschau  Chüns.  Dabei  ist  weniger  ihrer  Liebe  zum  Kaiser, 
als  das  Heimweh  der  aus  einer  gebildeten  Welt  in  eine  rohe  übergehen- 
den Frau  als  Beweggrund  des  Selbstmordes  zu  erkennen.  Es  sei  erlaubt 
das  Gedicht  zu  wiederholen,  nicht  blos  als  schicklichsten  Abschlufs 
unseres  Aufsatzes,  sondern  besonders  deshalb,  weil  v.  Seubert  dasselbe 
nicht  vollständig  wiedergegeben,  sondern  die  erste  Strophe  ausgelassen 
hatte.  Im  Übrigen  sind  noch  einige  Änderungen  in  der  Übersetzung  zu 
besserem  Anschlufs  an  das  Original  für  gut  befunden  worden. 

Überm  Grenzßu/s. 

Betäubt  sagt  dem  Gefolg  sie  Lebewohl. 

Ihr  wehrt  es  Stolz,  sonst  würd*  im  Schmerz  sie  brechen. 

«Mir  dientet  in  der  Fremd  Ihr  Eifers  voll, 

Geht,  sag^  dem  Herrn:  gelöst  sei  sein  Versprechen!" 

Die  ziehn  nun  ab.     Mit  welcher  Sehnsucht,  ach! 
Sieht  sie  die  Schar  zur  düstern  Mauer  wandern. 
Das  Tor  geht  auf  —  ihr  Blick  schaut  trübe  nach, 
Wie  einer  dort  verschwindet  nach  dem  andern. 

Grausam  die  Mauer  trennt  vom  Vaterland, 

Von  Heimat  sie,  von  vielen  teuem  Wesen; 

War  des  Gefolges  niedrigster  Trabant, 

Wenn  auch  nicht  Freund,  doch  Landsmann  ihr  gewesen! 

Allein,  vor  Fremden  steht  sie,  und  ihr  graut 
Vor  dem  Mongolenschwarm  mit  Speer  und  Bogen, 
Anstarrend  ihres  grimmen  Herren  Braut, 
Jetzt  ihr  Geleit,  da  jene  fortgezogen. 

Im  Herzen  barg  sie,  was  sie  da  gedacht. 
Ihr  Schmerz  war  tief,  laut  sollt  er  nicht  erscheinen; 
Der  Tränen  Lauf  drängt  sie  zurück  mit  Macht: 
Nicht  durften  sehn  sie  Chinas  Tochter  weinen. 

„Sein  Weib?  Des  Lebens  Grab  die  Wüstenei? 
Hier  langsam  sterben?  Schneller  Tod  ist  besser!" 
Sie  hebt  die  Arm'  empor  —  des  Jammers  Schrei 
Erstickt  des  Amur  tosendes  Gewässer. 

Dresden, 


NEUE  MinEILUNGEN. 


•••- 


Fabeln  und  Sagen  aus  dem  Innern  Afrikas. 


Von 
Robert  Felkin. 


Einleitung. 

Das  Studium  der  Legenden,  Überlieferungen  und  Geschichten  einfacher 
Naturvölker*)  ist  ohne  Zweifel  ein  der  Erforschung  würdiger  Gegen- 
stand, der  die  Aufmerksamkeit  mancher  der  gelehrtesten  Männer  unserer 
Tage  in  Anspruch  genommen  hat.  Dem  Anscheine  nach  kindische  Ge- 
schichten werfen  sehr  oft  ein  helles  Licht  auf  die  Sitten,  Glaubensvor- 
stellungen und  charakteristischen  Geistesanlagen  eines  Volkes. 

Noch  wichtigere  Ergebnisse  lassen  sich  erzielen,  sobald  eine  Ver- 
gleichung  angestellt  wird  zwischen  den  unzähligen  Mythen,  die  nach  und 
nach  von  allen  über  die  Erdoberfläche  zerstreuten  Volkstämmen  zusammen- 
getragen worden  sind,  dann  stellt  sich  dabei  heraus,  dafs  oftmals  that- 
sächlich  dieselbe  Idee  Geschichten  zu  Grunde  liegt,  die  verschiedene,  auf 
gänzlich  verschiedenen  Kulturstufen  stehende  Völker  erzählen.  Und  diese 
Thatsache  ermöglicht  es  dem  Forscher,  eine  genauere  Vorstellung  von 
dem  gemeinsamen  Ursprünge  der  Ideen  zu  gewinnen,  indem  er  die  Spur 
der  ähnlichen  Übereinstimmung  verfolgt.  Im  weiteren  Verlaufe  ergiebt 
sich    hieraus    auch  Klarheit    über    die    geschichtliche  Entwickelung  von 

*)  Ungedruckt  ist  allerdings  nur  ein  Teil  der  von  mir  fiir  die  „Zeitschrift  fiir  ver- 
gleichende Litteraturgeschichte**  zusammengestellten  und  von  dem,  mir  befreundeten  Heraus- 
geber unter  meiner  Mitwirkung  Übersetzten  Stücke.  Da  dieselben  aber,  zum  Teil  nur 
ihrem  Inhalte  nach,  von  mir,  in  englischen  geographischen  Fachzeitschriften  veröfifentlicht 
worden  sind,  so  darf  die  vorliegende,  zu  Zwecken  litterarischen  Studiums  von  mir  getrofifene 
sorgfältige  Auswahl,  in  deutscher  Übersetzung,  wohl  den  Anspruch  erheben,  als  „Dcue  Mit- 
teilung*^ zu  gelten. 


804  Robert  Felkln. 


Völkern  und  ein  Anhaltspunkt,  von  dem  aus  sich  die  Spuren  jener 
Wanderungen,  die  in  entfernten  Tagen  der  Vorzeit  stattgefunden,  ver- 
folgen lassen. 

Dieselbe  Idee  —  freilich  in  verschiedenes  Gewand  gehüllt  —  läfst 
sich,  wie  bemerkt,  bei  Völkern,  die  auf  gänzlich  verschiedener  Kultur- 
stufe stehen,  finden.  Ein  Grundsatz  kann  in  völlig  verschiedener  Weise 
ausgedrückt  werden  und  kann  doch  eine  gemeinsame  Idee  anzeigen, 
mag  auch  immerhin  die  Bedeutung  des  Grundsatzes  bei  einem  hoch 
civilisierten  Volke  oder  einem  wenig  civilisierten  Stamme  eine  völlig  ver- 
schiedene sein.  Ich  will  versuchen,  meine  Meinung  an  einem  Beispiele 
deutlich  zu  machen. 

Es  giebt  eine  Geschichte  von  einem  englischen  Bischöfe,  der  für  das 
Wohl  der  Arbeiter  im  Revier  der  Kohlenbergwerke  lebhafte  Teilnahme 
empfand.  Der  ging  eines  Sonntags  morgens  in  die  Kirche,  wo  er  seine 
Predigt  zu  halten  hatte  und  sah  einen  Kreis  von  Leuten  am  Eingange 
des  Schachtes  in  eine  Besprechung  vertieft,  die  sie  augenscheinlich  ganz 
in  Anspruch  nahm.  Voll  Eifer  die  Gelegenheit  auszunutzen,  näherte  er 
sich  den  Leuten  und  verlangte  den  Gegenstand  ihrer  Besprechung  zu 
erfahren.  Einer  der  Versammelten  sagte  ihm,  man  hätte  einen  neuen 
Kessel  und  man  wäre  übereingekommen,  ihn  demjenigen  zu  geben, 
welcher  der  gröfste  Lügner  unten  ihnen  wäre,  und  um  dies  zu  entscheiden 
wären  sie  zusammengekommen.  Der  Bischof  über  dies  Treiben  sehr 
entrüstet,  hob  seine  Hände  gen  Himmel  und  sagte:  „Meine  Freunde,  mein 
Haar  beginnt  nunmehr  weifs  zu  w^erden  und  nie  im  Leben  habe  ich  noch 
eine  Lüge  gesagt.''  Bei  diesen  Worten  brachen  alle  in  lautes  Gelächter 
aus  und  einstimmig  erscholl  der  Ruf:  .,Dera  Manne  gebt  den  Kessel,  dem 
Manne  gebt  den  Kessel". 

In  Uganda,  so  erzählt  man  sich  im  Innern  Afrikas,  stritten  sich  zw^ei 
Männer,  welcher  von  ihnen  mit  seinen  Lügen  es  am  weitesten  bringe. 
Der  eine  schlug  dem  andern  vor  jeder  von  ihnen  solle  Lügen  erzählen 
und  derjenige,  welcher  das  Beste  darin  zu  Wege  bringe,  sollte  von  dem 
andern  als  der  geschickteste  anerkannt  werden.  Damit  war  sein  Freund 
zufrieden  und  forderte  ihn  auf,  den  Anfang  zu  machen.  Dieser  sagte 
denn  eine  Reihe  ungeheuerlicher  Lügen  her  und  forderte  dann  seinen 
Freund  auf,  ihn  nun  verabredetermafsen  zu  übertreffen.  „Das  ist  leicht, "" 
sagte  der;  „gar  alles  was  Du  gesagt  hast,  ist  wahr;  das  ist  die  allerdickste 
Lüge.^     Darauf  hin  brachen  beide  in  Lachen  aus. 

Ich  meine,  diese  beiden  Geschichten  bringen  uns  dieselbe  Idee  nahe, 
obwohl  die  eine  es  mit  einem  Vorfalle  zu  thun  hat,  der  in  einem  so- 
genannten Kulturlande  vor  sich  ging,  während  die  andere  unter  einem 
Himmelsstriche  spielt,  dessen  Einwohnern  man  gerade  nicht  den  Besitz 
einer  entwickelten  Civilisation  zuzutrauen  geneigt  ist. 

Die  Idee  einer  Lüge  und  die  Idee  einer  sich  steigernden  Lügenreihe 
ist  in  beiden  Geschichten  deutlich  zur  Anschauung  gebracht.*) 


*)  Vgl.  K.  Müller -Fraureuth,   die  deutschen    Lugendichtungen  bis   auf  Müncfahausen, 
Halle  1881.     (Anm.  des  Übersetzers.) 


Fabeln  und  Sagen  aus  dem  Innern  Afrikas.  305 


Ich  möchte  nun  für  die  Zeitschrift  fiir  vergleichende  Litteratur- 
geschichte  einige  Geschichten  auswählen,  welche  fiir  die  Gegenden 
des  innem  Afrikas,  in  denen  ich  sie  an  Ort  und  Stelle  aus  dem  Munde 
der  Eingebornen  sammelte,  also  für  die  Bevölkerung  von  Darfur,  dem 
Haupsitze  des  Madi,  und  Uganda  typisch  sind.  Diese  Geschichten  werden, 
denke  ich,  zugleich  den  Grad  der  Intelligenz  jener  Stämme  und  ihre 
Sitten  und  Religionsanschauungen  erkennen  lassen.  Gebe  ich  mich  einer 
Täuschung  hin,  wenn  ich  hoffe,  der  vergleichenden  Litteraturgeschichte 
einen  Dienst  zu  erweisen,  indem  ich  die  Masse  des  angehäuften  Materials 
um  ein  weniges  vermehre  und  den  Nachweis  liefere,  dafs  für  viele  der 
Fabeln  unserer  Geschichtenbücher  der  Ursprung  in  einer  weit  entfernten 
Welt  zu  suchen  ist? 

Freilich  mufs  ich  es  dem  Spezialforscher  überlassen,  diese  Fabeln 
zu  klassifizieren  und  die  einzelnen  Vergleichungspunkte,  welche  unzweifel- 
haft vorhanden  sind,  im  einzelnen  nachzuweisen,  wie  dem  verschiedenen 
Ursprung  nachzuspüren.  Ich  glaube,  dafs  auch  die  schlichte  Wiedergabe, 
wie  ich  sie  hier  beabsichtige,  für  die  Litteraturgeschichte  und  Folke- 
loistik  von  Wert  ist,  weil  es  eben  durchaus  zuverlässiges  gesichtetes 
Material  ist,  das  ich  mitteile. 

Edinburgh. 

/.      Geschichten  und  Fabeln  des  Forslammes. 

I.  Der  gute  Schüler. 

Es  war  einmal  ein  Mann,  der  hatte  einen  Sohn,  dessen  grofse 
Geschicklichkeit  er  allen  Leuten  unaufhörlich  anpries.  Da  jedoch  dieser 
Sohn  in  Wirklichkeit  sehr  dumm  war,  so  dachte  sich  der  Vater,  es  würde 
das  Beste  sein,  ihn  in  Lehre  und  Unterricht  zu  geben.  So  forderte 
der  Vater  einen  Puggie*)  auf,  die  Unterweisung  seines  Sohnes  zu  über- 
nehmen und  ihn  in  die  Lehre  zu  nehmen;  der  Puggie  war  dazu  bereit 
und  nahm  ihn  mit  sich.  Auf  ihrer  Wanderung  zu  dem  Dorfe  des  Puggies, 
kamen  sie  eines  Tages  in  ein  Dorf,  wo  sie  die  Nacht  über  bleiben 
mufsten.  In  diesem  Dorfe  wohnte  eine  Frau,  deren  Mann  einige  Zeit 
vorher  gestorben  war.  Sie  war  sehr  reich  und  besafs  zahlreiche  Herden ; 
der  Puggie  und  sein  Schüler  genossen  ihre  Gastfreundschaft.  Nachdem 
sie  ihre  Abendmahlzeit  verzehrt,  legten  sie  sich  zur  Ruhe.  Da  in  der 
Stille  der  Nacht,  da  alles  in  tiefem  Schlafe  lag,  schlich  der  Junge  sich 
vom  Lager  weg  und  ging,  nachdem  er  das  Messer  des  Puggies  an  sich 
genommen,  hin  und  tötete  alle  Schafe.  Dies  gethan,  barg  er  das 
Messer  wieder  in  seiner  Scheide  und  legte  sich  schlafen.  Als  die  Frau 
bei  Tagesanbruch  aufstand,  um  nach  ihren  Schafen  zu  sehen,  fand  sie 
alle  ihre  Tiere  getötet.  Tief  bekümmert  rief  sie  mit  lauter  Stimme  die 
Dorfbewohner  herbei,    die   sich   versammelten  und  Zeugen  ihres  Herze- 


*)  Puggies  sind  Priester  und  Lehrer.  Ein  Teil  dieser  Priester  lebt  in  abgesonderten 
Dörfern,  in  denen  Knaben  unterrichtet  werden.  Kein  weibliches  Wesen  darf  in  diesen 
Dörfern  wohnen.    Die  Puggies  tragen  eine  weifse  Kopfbedeckung  und  lange  weifse  Gewandung. 


806  Robert  Felkin. 


leids  waren.  Aber  auch  den  Dorfvorsteher  hiefs  sie  herbeirufen,  auf 
dafs  er  den  Thäter  ermittle. 

Als  dieser  herbeigekommen  war,  geriet  er  in  grofsen  Zorn  über 
den  Vorfall  und  versammelte  die  ganze  Einwohnerschaft  zum  Thing. 
Dann  wandte  er  sich  an  die  Leute  mit  den  Worten:  „Ich  mufs  alle  eure 
Messer  untersuchen  und  bei  wem  ich  ein  blutbeflecktes  Messer  finden 
werde,  der  ist  der  Ubelthäter". 

Einer  nach  dem  andern  von  den  Anwesenden  mufste  sein  Messer 
vorweisen,  und  alle  Messer  fanden  sich  blank  und  imbefleckt.  Darauf 
wurde  auch  der  Puggie  aufgefordert,  sein  Messer  vorzuzeigen,  wozu  er 
im  Bewufstsein  seiner  Unschuld  ohne  weiteres  bereit  war.  Als  jedoch 
der  Häuptling  das  Messer  aus  der  Scheide  ziehen  wollte,  war  es  durch 
das  eingetrocknete  Blut  angeklebt.  Als  die  Leute  dies  sahen,  begannen 
sie  sämtlich  auf  den  Puggie  loszuschlagen.  Da  liefen  der  Puggie  und 
der  Junge  davon  und  gewannen  zuletzt  ein  Versteck;  die  Leute  wurden 
gar  bald  der  Sache  müde  und  machten  sich  daran  in  ihr  Dorf  zurück- 
zukehren. Als  der  Junge  dies  aber  sah,  rief  er  ihnen  zu:  „Wohin  geht 
ihr  denn,  wir  sind  ja  da",  und  bei  diesen  Worten  lief  er  davon.  Auf 
das  kamen  die  Leute  zurück  und  prügelten  den  Puggie  bis  sie  nicht 
mehr  konnten,  um  ihn  dann  liegen  zu  lassen.  Darauf  kam  der  Junge 
zu  dem  Puggie  zurück,  der  zu  ihm  sagte:  „Du  mufst  wieder  nach 
Hause  zurück  gehen,  denn  ich  kann  es  nicht  auf  die  Wiederholung  einer 
solchen  Geschichte  ankommen  lassen".  Da  sagte  der  Junge:  „Nein, 
allein  kann  ich  nicht  zurück.  Du  mufst  mit  mir  gehen".  Anfangs  weigerte 
sich  der  Puggie,  zuletzt  aber  gab  er  nach  und  sie  gingen  nach  Hause 
zurück.  Nach  vielen  Tagen  langten  sie  im  Dorfe,  wo  des  Knaben  Vater 
wohnte,  an,  und  der  Knabe  rannte  nach  Hause.  Sein  Vater  freute  sich 
ihn  zu  sehen  und  sagte:  „Mein  Junge,  wie  viel  hast  du  gelernt?" 
„Sehr  viel",  sagte  der  Knabe,  „und  wenn  du's  mir  nicht  glaubst,  brauchst 
du  nur  den  Puggie  fragen"  und  forderte  seinen  Vater  auf  den  Puggie 
an  einem  Platze  aufzusuchen,  wo  derselbe,  wie  er  wufste,  nicht  war. 
Der  Vater  ging  dann  den  Puggie  zu  sehen.  Sobald  ihm  sein  Vater  aus 
den  Augen  war,  lief  der  Junge  schleunig  auf  einem  andern  Pfade  zu  der 
Stelle,  an  welcher  sein  Vater  nach  seiner  Angabe  den  Puggie  zu  finden 
dachte,  nachdem  er  sich  selbst  wie  ein  Puggie  gekleidet  hatte.  Dort 
setzte  er  sich  nieder  und  wartete  auf  seinen  Vater.  Als  der  Vater  ankam 
dachte  er  den  Puggie  vor  sich  zu  haben  und  sagte  zu  ihm:  „Hat  mein 
Junge  alles  gelernt?"  „Ja",  sagte  der  falsche  Puggie,  „es  ist  ein  ganzer 
Gelehrter".  Darüber  war  der  Vater  so  erfreut,  dafs  er,  ohne  die  Täuschung 
zu  merken  ohne  weiteres  heimging.  Der  Junge  aber  warf  die  Pügg^e- 
Kleidung  von  sich  und  lief  heim,  wo  er  vor  seinem  Vater  ankam.  Als 
dieser  nach  Hause  kam,  fragte  er  ihn,  was  der  Puggie  gesagt  habe. 
„O  mein  Sohn",  erwiderte  der  Vater,  „der  Puggie  sagte,  du  seist  sehr 
geschickt."  Der  Vater  schlachtete  nun  mehrere  Tiere,  veranstaltete  ein 
grofses  Fest  und  lud  seine  Freunde  ein,  zu  kommen  und  seinen,  wie  er 
sagte,  so  geschickten  Sohn  zu  prüfen.  Als  die  Leute  ihm  Fragen  vor- 
legten, fanden  sie  indessen,  dafs  er  nichts  wisse,  nicht  einmal  seine  Buch- 


Fabeln  und  Sagen  aus  dem  Innern  Afrikas.  307 

Stäben  kannte  er.*)  Da  sah  der  Vater  freilich  ein,  dafs  er  getäuscht 
worden  sei.  Als  der  Knabe  merkte,  dafs  sein  Betrug  entdeckt  war, 
wurde  er  so  zornig,  dafs  er  das  Tintenfafs  des  Puggie  zerbrach  und 
seine  Bücher  zerrifs  und  ins  Wasser  warf.  Diese  Dinge  hatte  ihm  der 
Puggie  nämlich  zum  Tragen  gegeben,  wie  es  Gewohnheit  der  Fuggies 
ist,  ihre  Schüler  ihre  Gerätschaften  tragen  zu  lassen. 

Ehe  die  Leute  wieder  auseinander  gingen,  traf  der  Puggie  ein  und 
erzählte  dem  Vater  und  seinen  Freunden,  was  der  Junge  gethan  hatte, 
und  der  Vater  wurde  von  seinen  Freunden  tüchtig  ausgelacht. 

2.    Das  Gespenst. 

Einmal  ging  ein  Mann  des  Forstammes  auf  die  Jagd.  Als  er  sich 
abends  auf  den  Heimweg  machte,  überfiel  ihn  die  Nacht,  Sein  Weg 
führte  ihn  über  den  Begräbnisplatz  seines  Dorfes.  Seine  Gedanken  waren 
alle  auf  sein  Heim  und  die  gute  Mahlzeit,  die  ihn  erwartete,  gerichtet, 
so  dafs  er  gar  nicht  an  die  Nähe  der  Gräber  dachte.  Da  erschreckte 
ihn  der  Anblick  einer  g^ofsen  weifsen  Gestalt,  so  grofs  dafs  ihr  Haupt 
bis  an  die  Wolken  reichte.  Er  war  so  entsetzt,  dafs  er  auf  sein  Gesicht 
niederfiel  und  um  Hilfe  schrie.  Die  Vögel  auf  den  Bäimien  und  die 
Tiere  im  Walde  schienen  sich  über  ihn  lustig  zu  machen  und  er  hörte 
die  wilden  Bestien  näher  herankonmien,  um  ihn,  wie  er  dachte,  auf- 
zufressen. Dies  hätten  sie  auch  wohl  gethan,  wenn  nicht  sein  Hund  mit 
den  Zähnen  an  seinem  Kleide  gezogen  und  gezerrt  hätte.  Der  Mann 
sagte  zum  Hunde:  „Hund,  sie  werden  uns  töten,"  aber  der  Hund  sagte 
„Laufe  durch  den  Wald  davon,"  und  rannte  in  Sätzen  davon.  Der  Mann 
sprang  auf  und  folgte  ihm  und  sie  kamen  wohlbehalten  nach  Hause. 
Der  Mann  belohnte  den  Hund,  aber  er  war  so  erschreckt,  dafs  er  niemals 
wieder  in  der  Dunkelheit  ausging. 

Diesen  zwei  Geschichten  reihe  ich  einige  Fabeln  an: 

3.     Die  Frösche. 

Es  ist  schon  viele  viele  Jahre  her,  dafs  einmal  eines  schönen  Tages 
einige  Knaben  in  den  Feldern  eine  Rindviehherde  hüteten.  Da  über- 
raschte sie  ein  Donnerwetter  mit  starkem  Regen.  Die  Knaben  trieben 
ihre  Herde  heim,  aber  in  der  Eile  verloren  sie  eine  Kuh,  die  einem  Arch- 
Barr**)  gehörte.  Zufallig  war  es  eine  wertvolle  Kuh  und  so  machte 
sich,  sobald  der  Regen  aufhörte,  der  Arch-Barr  auf,  sie  zu  suchen. 
Diese  Suche  führte  ihn  durch  einen  weitausgedehnten  Sumpf  Wie  es 
nun  gewöhnlich  nach  Regengüssen  der  Fall  ist,  sangen  alle  Frösche 
dieses  Sumpfes.  Der  Arch-Barr  watete  durch  den  Sumpf,  da  rief  einer 
von  den  Fröschen:     „Arch-Barr,  du  bist  zu  weit  gegangen,  deine  Kuh 


*)  Die  Forleute  haben  eine  sehr  gjofse  Achtung  vor  gut  erzogenen  Personen  und 
einige  ihrer  Puggies  sind  in  der  That  verhältnismälsig  recht  gelehrte  Leute,  besonders  die 
Vorsteher  der  oben  erwähnten  Puggie-Dörfer,  in  denen  junge  Leute  erzogen  werden  sollen. 

*)  Arch-Barr  werden  die  Wallfahrer  genannt,  welche  die  heiligen  Stätten  des  Islams 
in  Arabien  besucht  haben.  Nach  ihrer  Rückkehr  werden  sie  als  grofse  Heilige  betrachtet, 
scheren  niemals  ihr  Haupthaar  und  stehen  in  dem  Rufe,  niemals  Unrecht  zu  thun. 


308  Robert  Felkin. 


ist  auf  dieser  Seite  des  Sumpfes.  Er  dankte  dem  Frosche  und  ging 
zurück;  aber  kaum  war  er  umgekehrt,  da  rief  ihm  ein  anderer  Frosch 
zu:  „Arch-Barr,  deine  Kuh  ist  nicht  dort,  sie  ist  gerade  bei  mir."  Als 
er  aber  zu  diesem  Frosche  hinkam,  sah  er,  dafs  er  wieder  irre  geleitet 
worden  sei.  Und  so  ging  es  eine  Zeit  lang  fort,  bis  der  arme  Mann  vor 
lauter  Hin-  und  Herwaten  durch  den  Sumpf  ganz  erschöpft  war.  Da 
lachten  die  Frösche  so  sehr  auf  seine  Kosten,  dafs  sie  vor  lauter  Lachen 
gar  nicht  mehr  Atem  fanden,  ihn  noch  länger  zu  rufen.  Als  er  sah,  wie 
er  genarrt  worden  sei,  suchte  er  einen  von  den  Fröschen  mit  einem 
Stocke  zu  töten.*)  Aber  das  erzürnte  die  Frösche,  dafs  sie  schrieen, 
sie  wollten  ihn  töten,  worüber  er  so  erschrak,  dafs  er  davon  lief.  Auf 
seinem  Wege  traf  er  dann  einen  andern  Frosch,  der  ihm  sagte,  wo  seine 
Kuh  wirklich  sei;  er  fand  sie  an  dem  bezeichneten  Platze  und  zog  sie 
triumphierend  nach  Hause.  Allein  sein  Jubel  währte  nicht  lange,  denn 
einer  der  Sumpf-Frösche  hüpfte  hinter  ihm  ins  Dorf  und  erzählte  den 
Leuten,  wie  sie  ihn  zum  Narren  gehalten  hätten.  Da  lachte  ihn  Jeder- 
mann aus  und  sie  nannten  ihn  Sandara  (der  Frosch),  welchen  Spitznamen 
er  Zeit  seines  Lebens  nicht  wieder  los  werden  konnte.  Auch  wird  er- 
zählt, dafs  jede  Nacht,  wenn  er  seine  Geliebte,  die  auf  der  andern  Seite 
des  Sumpfes  wohnte,  zu  besuchen  g^ng,  die  Frösche  ihn  auslachten  und 
mit  vielen  anzüglichen  Spitzreden  beleidigend  verfolgten. 

4.     Das  Kamel  und  der  Elefant. 

Ein  Elefant  und  ein  Kamel,  die  sehr  gute  Freunde  waren,  kamen 
einmal  überein,  ein  grofses  Feld  mit  Dhurra  zu  bepflanzen.  Das  führten 
sie  auch  aus  und  bestellten  einen  Hasen,  dafs  er  als  Wächter  Sorge 
trage,  bis  die  Zeit  der  Ernte  herangekommen.  Da  wurde  dann  das 
Dhurra  (Korn)  geemtet,  gedroschen  und  geworfelt,  so  dafs  zwei  grofse 
Haufen,  der  eine  von  Korn,  der  andere  von  Hülsen  und  Halmen  sich 
bildeten.  Bei  der  Teilung  des  Korns  aber  entstand  ein  Streit,  der  sich 
so  steigerte,  dafs  ihre  Freundschaft  in  die  Brüche  ging  und  sie  einander 
sich  um  den  gröfseren  Gewinnanteil  zu  bekämpfen  entschlossen.  Beide 
machten  sich  daran,  eine  Armee  zusammenzubringen.  Der  Elefant  brachte 
alle  grofsen  Tiere  in  seine  Truppe  zusammen,  das  Kameel  versicherte 
sich  der  Hilfeleistung  der  kleineren  Tiere.  So  klein  der  Anführer  der 
Armee  des  Kameles  war,  so  klug  und  weise  war  er.  Er  sagte  zu  dem 
Kamele:  „Wir  sind  nicht  stark  genug,  die  grofsen  Tiere  zu  schlagen, 
es  sei  denn,  dafs  wir   sie  überlisten."     So  liefs  er  das  Kamel   sich  auf 


*)  Die  Forsleute  hegen  grofses  Bedenken,  einen  Frosch  zu  töten,  weil  sie  dieselben 
für  sehr  freundlich  gesinnte  Tiere  halten,  die  jede  Gefl.lligkeit  dem  Menschen,  besonders 
nach  seinem  Tode  zu  vergelten  wissen.  Wer  nicht  tadellos  gelebt  hat,  mufs  nämlich  nach 
seinem  Tode  zur  Strafe  in  Uddu  im  Feuer  brennen,  und  zwar  richtet  sich  die  Länge  der 
zur  Vernichtung  nötigen  Zeit  nach  der  Menge  und  Gröfse  der  auf  Erden  begfangenen  Übel- 
thaten.  Bei  dem  Volke  ist  ein  Lied  sehr  beliebt,  welches  von  dem  Feuer  in  Uddu  berichtet, 
das  sich  freut,  weil  die  Masse  schlechter  Menschen  ihm  fortwährend  Nahrung  gebe.  Die 
Qualen  dieser  in  Uddu  brennenden,  werden  jedoch  durch  die  Frösche  gemildert.  Diese, 
heilst  es,  schleppen  in  ihrem  Maule  Wasser  herbei,  um  die  Leiden  der  brennenden  Körper 
zu  kQhlen. 


Fabeln  und  Sagen  aus  dem  Innern  Afrikas.  309 

den  Boden  nieder  legen  und  die  kleinen  Tiere  es  ganz  mit  Dhurrahalmen 
zudecken,  so  dafs  nur  das  eine  Knie  noch  sichtbar  blieb;  so  solle  es 
ganz  ruhig  und  still  liegen  bleiben.  Darauf  liefen  sie  alle  davon  und 
versteckten  sich  in  einiger  Entfernung,  um  ihre  grofsen  Feinde  zu  be- 
obachten. Schliefslich  langten  der  Elefant  und  seine  Armee  am  Platze 
an  und  waren  sehr  erstaunt,  keine  Gegner  vorzufinden,  bis  einer  von 
ihnen,  der  schärfer  als  die  übrigen  sah,  das  Knie  des  Kamels  gewahrte 
und  sagte:  „Was  ist  das?"  Er  ging  auf  das  Ding  los  und  gab  ihm 
einen  tüchtigen  Tritt,  der  das  Kamel  so  schmerzte,  dafs  es  aufbrüllte. 
Darüber  erschrak  die  Armee  des  Elefanten  so  sehr,  dafs  sie  den  Rücken 
wandte  und  Fersengeld  gab.  Auf  das  hin  brach  die  Armee  des  Kamels 
aus  ihrem  Verstecke  hervor  und  verfolgte  die  Flüchtlinge.  Zuletzt  holten 
sie  den  Elefanten,  der  allein  und  ohne  Schutz  war,  ein,  töteten  und  ver- 
zehrten ihn.  Auf  diese  Weise  fiel  alles  Dhurra  dem  Kamel  zu.  Es  be- 
dankte sich  vielmals  bei  seinen  Truppen  und  zahlte  sie  reichlich  für  den 
grofsen  Dienst,  den  sie  ihm  erwiesen  hatten.  Kleine  Leute  können  grofse 
schlagen,  wenn  sie  es  nur  richtig  anzupacken  verstehen. 

5.     Die  Hyäne  und  das  Lamm. 

Es  war  einmal  im  Winter,  da  kletterte  eine  Hyäne  auf  einen  Baum, 
um  sich  etwas  Laub  zur  Nahrung  zu  suchen.  Nachdem  sie  eine  ganze 
Masse  Blätter  gesammelt  hatte,  sah  sie  unten  ein  Lämmchen,  das  seiner 
Mutter  ganz  auein  entlaufen  war.  Als  sie  dies  sah,  eilte  sie  sich  so  sehr 
herabzukommen,  dafs  sie  dabei  ihren  ganzen  Laubvorrat  verlor.  Das 
Lamm  aber  erschrak  sehr  bei  dem  Anblick  der  Hyän^  und  sag^e: 
„Hyäne,  was  willst  du?"  „Dich  auffressen  will  ich"  sagte  diese.  Da  das 
Lamm  einsah,  dafs  davon  zu  laufen  nichts  helfen  würde,  indem  es  doch 
bald  eingeholt  wäre,  so  überlegne  es  in  seinen  Gedanken,  wie  es  sein 
Leben  retten  könnte.  Es  sagte  zu  der  Hyäne:  „Hier  ganz  in  der  Nähe 
ist  ein  Teich;  bevor  du  mich  frifst,  mufst  du  mir  von  dort  ein  Maul  voll 
Wasser  holen."  Das  that  denn  die  Hyäne  und  unterdessen  lief  das  Lamm, 
so  rasch  seine  Füfse  es  nur  tragen  konnten,  dem  Dorfe  zu.  Nachdem 
es  eine  kleine  Strecke  weit  gelaufen  war,  kam  die  Hyäne  mit  ihrem 
Maul  voll  Wasser  daher.  „Jetzt  kannst  du  mich  nicht  fressen,"  sagte 
das  Lamm,  „weil  dein  Maul  voll  Wasser  ist."  „O  doch,"  sagte  die 
Hyäne  und  verschüttete  beim  Reden  natürlich  das  Wasser.  „Jetzt,"  er- 
widerte das  Lamm,  „kannst  du  mich  erst  recht  nicht  fressen,  weil  du 
kein  Wasser  im  Maule  hast."  Da  kehrte  die  Hyäne  um,  um  noch  ein- 
mal Wasser  zu  holen.  Als  sie  wiederkam,  war  das  Lamm  eben  am 
Eingang  des  Dorfes;  da  drehte  es  sich  um  und  sag^e:  „Jetzt  ist's  einerlei, 
ob  du  dein  Maul  voll  oder  leer  hast,  du  kannst  mich  nicht  fressen,  denn 
ich  bin  in  Sicherheit."  Und  mit  diesen  Worten  sprang  es  in  die  Hürde, 
die  Hunde  aber  stürzten  heraus  und  jagten  die  Hyäne  davon.  So  hatte 
sich  das  Lamm  durch  List  gerettet;  die  Hyäne  aber  war  voll  Arger, 
weil  sie  ihre  Zeit  verloren  hatte  und  ihr  Laub,- das,  als  sie  wieder  zu 
dem  Platze  zurückkehrte,  an  dem  sie  es  hatte  liegen  lassen,  der  Wind 
ganz  und  gar  verweht  hatte. 

Zttchr.  f.  vgl.  Litt.*Gesch.  I.  %l 


310  Robert  Pelkin. 


6.  Das  Kaninchen  und  der  Falke. 

Es  waren  einmal  ein  Kaninchen  und  ein  Falke,  die  zusammen  eine 
Kuh  besafsen,  die  sie,  während  sie  graste,  abwechselnd  hüteten.  Das 
Kaninchen,  wie  es  denn  ein  hinterlistiges  Geschöpf  und  auf  Milch  überaus 
erpicht  ist,  pflegte  an  den  Tagen,  an  welchem  ihm  die  Hut  anvertraut 
war,  die  Kuh  vor  dem  Nachhausetreiben  zu  melken  und  die  Müch  zu 
trinken.  Der  Falke  dagegen  war  ehrlich,  und  an  den  Tagen,  an  welchen 
er  die  Kuh  nach  Hause  trieb,  war  immer  für  beide  Milch  in  Fülle  vor- 
handen. Das  Kaninchen  aber,  noch  nicht  damit  zufrieden  jeden  andern 
Tag  fast  die  ganze  Milch  sich  anzueignen,  sann  auf  einen  Plan,  den 
Falken  noch  mehr  zu  betrügen.  So  begann  es  zum  Falken  zu  sprechen: 
„Für  Dich  ist  der  Genufs  der  dünnen  Milch  nicht  zuträglich,  während 
er  mir  wohl  bekommt;  wenn  Du  am  Boden  unseres  Melknapfes  ein 
Loch  machen  willst,  so  will  ich  meinen  darunter  stellen,  damit  die  dünne 
Milch  in  meinen  Napf  fliefst  und  die  dicke  Dir  verbleibt."  Der  Falke 
war  damit  einverstanden,  aber  natürlich  lief  die  ganze  Müch  in  die  Schale 
des  Kaninchens  und  dem  Falken  blieb  nur  der  Schaum,  der  sobald 
er  ihn  zum  Sieden  ans  Feuer  brachte,  sich  verflüchtigte.  Der  Falke 
konnte  nicht  begreifen,  wie  dies  zugehe  und  bat  das  Kaninchen  es  ihm 
zu  erklären.  Dieses  sprach:  „O  du  einfaltiger  Vogel,  bevor  Du  Deinen 
Topf  zum  Sieden  ans  Feuer  bringst,  mufst  Du  das  Loch  zustopfen  und 
etwas  Wasser  hinein  thun,  dann  wirst  Du  gute  Milch  bekommen."  Am 
nächsten  Tage  machte  es  der  Falke  so,  da  er  aber  die  Milch  gar  er- 
bärmlich fand,  ging  er  zum  Kaninchen,  um  dessen  Milch  zu  versuchen. 
Dies  gab  vor,  die  Milch  in  seiner  Hütte  zu  haben  und  machte  sich  daran 
sie  zu  holen,  es  brachte  aber  nur  eine  Schale  voll  Wasser,  in  die  es 
einige  Tropfen  Milch  gegossen  hatte.  Auf  diese  Weise  fand  sich  der 
Falke  abermals  betrogen  und  wurde  ganz  zornig  auf  die  Kuh,  dafs 
diese  solch  erbärmliche  Milch  gebe,  worauf  das  Kaninchen  vorschlug, 
er  solle  sie  auf  eine  neue  Weide  weit  weg  treiben,  vielleicht  würde 
davon  ihre  Milch  besser  werden.  Der  Falke  ging  auf  diesen  Vorschlag 
des  Kaninchens  ein;  dieses  solle  die  Kuh  nehmen  und  auf  die  entfernte 
neue  Weide  treiben,  doch  von  seinem  Sohne  begleitet  werden.  Nachdem 
das  Kaninchen  eine  Strecke  weit  getrieben  hatte,  überlegte  es  in  seinem 
Sinne,  dafs  es  auf  die  Länge  den  Falken  so  nicht  täuschen  könne,  drum 
werde  es  das  Beste  sein,  die  Kuh  zu  töten.  Und  so  tötete  es  den  Sohn 
des  Falken  und  die  Kuh,  die  es  dann  verzehrte.  Darauf  ging  es  nach 
Hause  und  erzählte  dem  Falken,  es  habe  die  Kuh  unter  der  Obhut  seines 
Sohnes  gelassen;  in  einigen  Tagen  würden  beide  zurückkehren.  Allein 
das  Kaninchen  war  voll  Furcht,  der  Falke  möchte  in  Erfahrung  bringen 
was  geschehen,  und  um  sich  vor  seiner  Rache  sicher  zu  stellen,  fand  es 
folgenden  Plan  aus: 

Hoch,  hoch  oben  am  Firmament  ist  ein  Platz,  da  kommen  die  Tiere 
zusammen  zu  Tanz,  Gesang  und  Lustbarkeit ;  die  vierfufsigen  Tiere  werden 
von  den  Vögeln  zu  diesem  Stelldichein  getragen.  Das  Kaninchen  machte 
nun  dem  Falken  den  Vorschlag,  sie  wollten  hinauf  gehen  und  sich  ver- 


Fabeln  und  Sagen  aus  dem  Innern  Afrikas.  811 

gnügen,  bis  die  Kuh  zurück  käme.  Der  Falke  war  dies  zufrieden  und 
verlangte  nur,  sie  sollten  sich  zuerst  hübsch  au^utzen  und  gut  parfurmieren, 
um  mit  Freude  empfangen  zu  werden  und  gleich  unter  dem  lustigen 
Volke  dort  oben  Kameraden  zu  finden.  Er  bat  das  Kaninchen,  ihm  zu 
diesem  Zwecke  eine  wohlriechende  Essenz  zu  bereiten.  Allein  dieses 
bereitete  ihm  eine,  die  ganz  denselben  Geruch  wie  das  Kurkinja*)  hatte. 
Der  Falke  legte  dieses  Parfüm  auf  glühende  Asche  und  flatterte  um  den 
Rauch  herum,  bis  er  durch  und  durch  parfurmiert  war.  Dann  nahm  er 
das  Kaninchen  auf  seinen  Rücken  und  flog  zum  Paradies  der  Tiere 
hinauf.  Nachdem  sie  dorthin  gelangt  und  in  kurzer  Zeit  mit  seinen 
Bewohnern  bekannt  geworden  waren,  bat  das  Kaninchen  um  die  Erlaubnis, 
ein  Lied  singen  zu  dürfen.  Als  diese  gewährt  war,  liefs  es  sich  eine 
Trommel  geben  und  begann  zu  singen: 

„Ol  der  Falke  stinkt  wie  ein  Kurkinjal 
O!  der  Falke  stinkt  wie  ein  Kurkinja!" 

Da  lachte  Alles  und  rief:  „Ja,  ja  das  thut  er."  Voll  Wut  darüber 
flog  der  Falke  davon.  Sobald  sich  das  Kaninchen  vergewissert  hatte, 
dafs  er  wirklich  fort  war,  ersuchte  es  seine  neuen  Freunde,  ein  langes 
Seil  zu  machen  und  an  diesem  es  wieder  zur  Erde  hinabzulassen.  Das 
thaten  sie  und  das  Kaninchen  sag^e  ihnen,  sowie  es  schüttle,  sollten  sie 
das  Seil  fallen  lassen.  Indem  es  aber  die  Höhenentfemung  falsch  bemafs, 
schüttelte  es  zu  früh  und  that  infolge  dessen  einen  starken  Fall,  der  es 
in  so  unsanfte  Berührung  mit  einem  Dornbusch  brachte,  dafs  eines  seiner 
Ohren  von  einem  Dorne  durch  und  durch  gestochen  wurde.  Als  das 
Kaninchen  darüber  sehr  ungehalten  war,  sprach  der  Dornbusch:  „Lafs 
Dich's  nicht  verdriefsen,  da  hast  Du  etwas  Gummi."  Das  Kaninchen 
entfernte  sich  und  fand  bald  einen  Vogel  in  einem  Nest  auf  seinen  Eiern 
sitzen.  Es  gab  ihm  das  Gummi,  welches  der  Vogel  verzehrte.  Das 
Kaninchen  wurde  aufs  neue  zornig,  und  um  es  zu  besänftigen,  gab 
der  Vogel  ihm  ein  Ei.  Darauf  kam  das  Kaninchen  in  einen  Kreis 
von  Knaben,  die  einige  Schafe  hüteten;  es  gab  den  Knaben  das 
Ei  darauf  zu  achten,  diese  jedoch  liefsen  es  fallen,  dafs  es  zerbrach.  Da 
wurde  das  Kaninchen  wiederum  zornig  und  verlangte  zum  Ersätze  ein 
Schaf,  das  man  ihm  auch  gab.  Dies  trieb  es  dann  vor  sich  hin,  bis  es 
zu  einem  Dorfe  kam,  dessen  Einwohner  viel  Rindvieh  besafsen.  Als 
das  Kaninchen  den  Leuten  das  Schaf  vorwies,  töteten  und  verzehrten 
sie  es  und  das  Kaninchen  afs  mit.  Als  sie  aber  fertig  waren  und  alle 
ihre  Hände  gewaschen  hatten,  erklärte  das  Kaninchen  den  Leuten,  es 
müsse  nun  zum  Ersätze  für  sein  Schaf  eine  Kuh  bekommen.  Davon 
wollten  die  Dorfbewohner  nichts  wissen,  aber  das  Kaninchen  erhob  einen 
solchen  Spektakel,  dafs  sie  ihm  schliefslich  einen  fetten  Stier  schenkten, 
den  es  mit  sich  in  den  nahen  Wald  nahm.  Dort  tötete  es  den  Stier 
und  frafs  ihn  auf,  stopfte  dann  die  Haut  aus  und  kam  ins  Dorf  zurück 
zu  fragen,   ob  die  Leute  ihm  dem  Stier  nicht  für  ein  Kamel  eintauschen 


*)  Das  Kurkinja  ist  ein  kleines   Tier,  das  in  Erdlöchern  haust,  und  dessen  Geruch 
den  Forleuten  ganz  besonders  zuwider  ist. 

21* 


312  Robert  Felkin. 


möchten.  Die  Leute  waren  damit  zufrieden  und  das  Kaninchen  stieg 
auf  das  Kamel  und  ritt  mit  ihnen  an  die  Stelle,  wo  der  ausgestopfte 
Stier  lag.  Sie  sollten  ihn  nur  prügeln,  sagte  das  Kaninchen,  dann  würde 
er  schon  aufwachen  und  ritt  davon  und  machte  sich  aus  dem  Staube. 
Als  die  Leute  erst  merkten,  wie  sie  angeführt  worden  seien,  gerieten  sie 
in  den  gröfsten  Zorn  gegnen  das  Kaninchen,  aber  das  blieb  wohl  auf 
seiner  Hut,  ihnen  nicht  mehr  in  den  Weg  zu  kommen. 

Und  die  Geschichte  zeig^,  welch  ein  tückisches  Geschöpf  das 
Kaninchen  ist  und  soll  die  Leute  warnen,  dafs  sie,  wenn  ihnen  ein 
Kaninchen  über  den  Weg  läuft,*)  den  ganzen  Tag  alle  Vorsicht  an- 
wenden mögen,  sonst  wird  sie  an  diesem  Tage  gewifs  irgend  was 
betrügen. 

IL     Fabeln  des  Madtsiammes, 

I.  Der  Löwe  und  die  Menschen. 

Ein  ungeheurer  Löwe  erschütterte  die  Erde  durch  sein  Brüllen. 
Die  Erschütterung  war  so  g^ofs,  dafs  alle  Menschen  zu  Boden  fielen 
und  der  Löwe  machte  sich  daran,  sie  aufzufressen.  Allein  ein  Mann 
flehte  das  grofse  Wesen,  welches  beide,  Mensch  und  Tier  geschaffen 
hatte,  an,  den  Löwen  ein  wenig  kleiner  zu  machen,  da  er  dem  Menschen 
gegenüber  allzu  grofs  und  mächtig  sei.  Sein  Verlangen  wurde  gewährt 
und  des  Löwen  Gestalt  auf  seine  gegenwärtige  Gröfse  eingeschränkt. 

2.  Das  Kaninchen  und  das  Wiesel(?). 

Es  geschah  einmal,  dafs  alle  Tiere  zu  Tanz  und  Lustbarkeit  zusammen- 
kamen. Allein  sie  waren  noch  nicht  lange  beisammen,  da  merkten  sie, 
dafs  sie  von  Menschen,  die  auf  allen  Seiten  das  Gras  angezündet  hatten, 
eingeschlossen  waren.  Besonders  eifrig  in  Vorschlägen  zu  Rettungs- 
plänen war  das  Kaninchen.  Einer  seiner  Vorschläge  war,  das  Wiesel(?) 
solle  ein  Loch  in  die  Erde  graben,   in  dem  sie  alle  ihre  Zuflucht  finden 

*)  Ahnliche  abergläubische  Vorstellungen  und  Erscheinungen  habe  ich  bei  den  For- 
leuten mehrere  kennen  gelernt.  Läuft  einem  z.  B.  eine  Gazelle  über  den  Weg,  so  ist  das 
ein  gutes  Omen;  der  Schrei  einer  Eule  kündet  den  Tod  an ;  Schweine  bringen  Glück,  sowohl 
dem  Einzelnen  als  der  ganzen  Ortschaft,  insbesondere  jungen  Mädchen.  Trinkgefafse  aus  dem 
Hörne  des  Rhinozeros  besitzen  die  Eigenschaft,  durch  eine  veränderte  Farbe  des  Getränkes  an- 
zuzeigen, wenn  Gift  darin  ist;  ein  solches  Hörn  einem  Freunde  zu  schenken,  ist  die  höchste 
Ehre,  die  überhaupt  erwiesen  werden  kann;  der  Glaube  und  die  Sitte  stammt  wahrscheinlich 
von  den  Arabern.  Für  sehr  bedenklich  wird  es  gehalten.  Jemandem  die  Nägel  zu  schneiden, 
denn  wenn  das  Abgeschnittene  verloren  geht  und  dem  Eigentümer  nicht  in  die  Hand  gegeben 
werden  kann,  mufs  es  auf  irgend  eine  Weise  nach  dem  Tode  ersetzt  werden.  Wer  sich 
selbst  die  Nägel  schneidet,  trägt  auch  selbst  die  Verantwortung;  das  Abgeschnittene  mufs 
aber  vergraben  werden.  (Ist  hier  an  die  Bedeutung  des  Nägelabschneidens  in  der  deutschen 
Mythologie,  Jak.  Grimm,  Kap.  35,  zu  erinnern?  Anm.  d.  Übers.)  Als  ein  glückliches  Vor- 
kommnis wird  es  angesehen,  wenn  einem  beim  Essen  Speise  zur  Erde  fällt.  Der  Bissen 
mufs  dann  aber  aufgehoben  und  mit  der  daran  klebenden  Erde  verschlungen  werden,  sonst 
wird  der  Mensch  in  der  nächsten  Welt  angeklagt,  seinen  Leib  ausgehungert  zu  haben,  und 
die  Erde  würde  Zeugnis  wider  ihn  ablegen.  Alten  Frauen,  die  alle  Zeit  ihren  Männern  treu 
geblieben,  wird  die  Macht  zugeschrieben,  das  Feuer  zu  besprechen;  ihre  Gegenwart  kann 
das  in  einem  Dorfe  ausgebrochene  Feuer  löschen.  Allein  solche  Frauen  sind  schwer  auf- 
zufinden. 


Fabeln  und  Sagen  aus  dem  Innern  Afrikas.  813 

könnten.  Als  die  Gefahr  näher  rückte,  vergafsen  alle  sich  einander  zu 
helfen,  jeder  wollte  nur  sich  selber  retten,  es  half  ihnen  aber  nichts,  denn 
sie  alle  verbrannten,  ausgenommen  das  Wiesel  (?)  und  ein  kleiner  Vogel, 
der  als  Wache  ausgestellt  worden  war  und,  nachdem  er  beim  ersten  Auf- 
tauchen der  Gefahr  seine  Freunde  gewarnt  hatte,  weggeflogen  war. 
Das  Kaninchen  aber  kam  auf  diese  Weise  um.  Das  Wiesel(?)  hatte 
seinem  Rate  folgend  ein  Loch  in  die  Erde  gegraben  und  kroch  hinein, 
das  Kaninchen  bifs  ihm  seinen  Schweif  ab  und  drängte  es  heraus,  um 
sich  selbst  in  der  Grube  zu  verbergen.  Da  verriet  das  Wiesel  aus  Rache 
den  Menschen  das  Versteck  des  Kaninchen  und  während  sie  es  fingen, 
wufste  das  Wiesel  seine  eigne  Flucht  zu  bewerkstelligen. 

3.    Das  dankbare  Kaninchen. 

Ein  Mann  schofs  einmal  auf  ein  Kaninchen  und  verwundete  es  an  einem 
Beine.  Darauf  griff  er  es,  um  es  zu  töten,  als  das  Kaninchen  zu  ihm 
sprach:  „Schone  mein  Leben!"  Der  Mann  that  es  und  das  Kaninchen 
humpelte  in  seine  Höhle.  Mancher  Monat  war  seitdem  vergangen,  da 
kehrte  der  Mann  von  einer  weiten  Reise  zurück  und  müde  wie  er  war, 
legte  er  sich  hin  und  schlief  ein.  Ein  Tier,  das  auf  ihm  herumhüpfte, 
erweckte  ihn,  und  er  erkannte  das  Kaninchen.  „Lauf,"  sagte  das 
Kaninchen,  „Deine  Feinde  kommen;"  und  als  er  aufschaute,  gewahrte 
er  auch  in  einiger  Entfernung  eine  Schaar  seiner  Feinde.  Er  machte, 
dafs  er  davon  kam,  und  so  vergalt  ihm  das  Kaninchen,  dem  er  das 
Leben  geschenkt  hatte. 

///.     Sagen,  Märchen  und  Fabeln  der  Wagandas. 

I.  Die  Sage  vom  König  Kintu. 

Der  Gründer  von  Uganda  soll  Kintu  geheifsen  haben,  und  von  seiner 
Ankunft  in  dem  Lande  erzählt  sich  das  Volk  folgendes:*) 

Vor  vielen,  vielen  Jahren  überschritt  Kintu  mit  seinem  Weibe,  einer 
Kuh,  einer  Ziege,  einem  Schafe,  einem  Bananen-Schöfsling  und  einer 
süfsen  Kartoffel  den  Nil  bei  Foweira  und  gelangte  an  die  Ufer  des 
Viktoria  Nyanza.  Da  liefs  er  sich  nieder  und  pflanzte  die  Banane  und 
die  süfse  Kartoffel,  die  mit  ausserordentlicher  Geschwindigkeit  heran- 
wuchsen, ja  die  süfse  Kartoffel  wuchs  so  rasch,  dafs  man  das  Fort- 
schreiten der  Ranken  sehen  konnte.  Sein  Weib  aber  gebar  ihm  jedes 
Jahr  vier  Kinder  auf  einmal,  und  diese  waren  so  trefflich,  dafs  die 
Mädchen  immer  schon  im  zweiten  Jahre  selbst  wieder  Söhne  und  Töchter 
gebären  konnten.  Flbenso.  mehrten  sich  die  Herden  gar  schnell.  Auf 
diese  Weise  war  das  Land  bald  bevölkert,  so  dafs  Kintu  sich  zuletzt 
genötigt  sah,  viele  Familien  fortzuschicken;  jeder  Familie  gab  er  ein 
Stück  von  der  Mutter-Banane  und  Kartoffel-Pflanze,  und  sie  bevölkerten 
dann  die   umliegenden  Gebiete.     Kintu  (er  scheint  zugleich  als  eine  Art 


♦)  Die  mir  mitgeteilte  und  hier  wiedergegebene  Fassung  der  alten  Stammsage  weicht 
von  der  durch  Stanley  bekannt  gewordenen  Gestaltung  beträchtlich  ab. 


dl4  Robert  Felkln. 


Priester  betrachtet  zu  werden)  war  so  liebreich,  dafs  er  kein  Blut  sehen 
konnte;  selbst  das  der  notwendigen  Nahrung  wegen  getötete  Rindvieh 
mufste  in  einiger  Entfernung  von  seiner  Behausung  geschlachtet  werden. 
Als  aber  die  Jahre  und  das  Alter  den  Herrscher  überkamen,  da  bereiteten 
ihm  seine  Kinder  arge  Unruhe.  Sie  wurden  Trunkenbolde  und  Händel- 
sucher und  schlugen  sich  einander  tot.  Da  Kintu  es  nicht  ertrug,  auf  die 
Länge  ihre  Verderbtheit  mit  anzusehen,  so  zog  er  bei  Nachtzeit  mit 
seinem  Weibe,  der  einst  mitgebrachten  Kuh,  Ziege,  Schaf,  Bananenwurzel 
und  süfsen  Kartoffel  aus  dem  Lande.  Vergeblich  suchten  ihn  seine 
Söhne  drei  Tage  lang,  dann  bemächtigte  sich  sein  ältester  Sohn  der 
Herrschaft.  Jeder  folgende  König  lebte  der  Hoffnung,  Kintu  eines 
schönen  Tages  aufzufinden  und  manche  Suche  ward  auf  Betreiben 
der  verschiedenen  Könige  durch  das  ganze  Land  überall  und  allüberall 
angestellt,  allein  ohne  Erfolg.  Da  ereignete  es  sich  unter  der  Regierung 
Maandas,  dafs  Nachricht  von  Kintu  eintraf.  Das  ging  so  zu:  Ein  Bauer 
hatte  einmal  weit  vom  Hause  zu  arbeiten  und  durch  die  Arbeit  ermüdet 
blieb  er  die  Nacht  über  allein  im  Walde.  Da  träumte  er  dreimal  nach 
einander  einen  Traiun;  er  glaubte  eine  Stimme  zu  hören,  die  ihm  anwies 
an  eine  bestimmte  Stelle  des  Waldes  zu  gehen,  an  der  er  kostbare 
Mitteilungen  empfangen  würde.  Erwacht  befolgte  er  nach  einigen 
Zweifeln  die  im  Traume  an  ihn  ergangene  Weisung.  Als  er  an  den  an- 
gegebenen Platz  gekonunen  war,  stiefs  er  auf  eine  Schar  Männer  mit 
bleichen  Gesichtern,  in  deren  Mitte  ein  hochbetagter  Mann  mit  einem 
langen  weifsen  Barte  safs.  Der  alte  Mann  hiefs  den  Bauern,  zum  Könige 
zu  gehen  und  ihm  zu  sagen,  er  solle  mit  seinem  Weibe  und  seiner 
Mutter  kommen,  um  Kintu  zu  sehen.  Diese  Botschaft  solle  er  aber 
insgeheim  ausrichten  und  Maanda  genau  einschärfen  insgeheim  zu  kommen. 
Der  Bauer  ging  daran,  sich  seines  Auftrages  zu  endedigen;  imi  aber 
beim  Könige  vorgelassen  zu  werden,  sah  er  sich  genötigt,  dem  Katikiro 
(Premierminister)  zu  sagen,  dafs  er  ein  dringendes  Gewerbe  beim  König 
zu  bestellen  habe.  Nachdem  er  beim  Könige,  den  er  in  Gesellschaft 
seiner  Mutter  fand,  vorgelassen  worden  war,  brachte  er  zum  gjröfsten 
Erstaunen  des  Königs,  welcher  dieselbe  Nacht  in  einem  seltsamen  Traume 
die  Gesichtszüge  dieses  Bauern  gesehen  hatte,*)  seine  Geschichte  vor. 
Der  König  und  seine  Mutter  beschlossen,  sofort  mit  ihm  zu  gehen  und 
verliefsen  heimlich  den  königlichen  Palast.  Allein  im  Lande  wurde  als- 
bald das  Gerücht  laut,  der  König  wäre  begleitet  von  seiner  Mutter  und 
einem  fremden  Manne   in   den  Wald   gegangen,    und  der  seinem  Herrn 

*)  Auf  Träume  legen  die  Waganda  das  gröfste  Gewicht.  Sie  glauben,  dafs  zukünftige 
Ereignisse  sich  in  ihnen  abspiegeln,  dafs  bevorstehendes  Unheil  durch  Beachtung  nächtlich«- 
Wamungen  vermieden  werden  kann  und  dafs  Namen  und  Gesichter  derjenigen,  welche  ihnen 
schaden  wollen  mit  untrüglicher  Sicherheit  dem  die  Nacht  durch  Wachenden  enthüllt  werden. 
Infolge  solchen  Aberglaubens  wird  ihr  tägliches  Leben  viel  durch  diese  Träume  beeinflulst, 
doch  sind  sie  trotzdem  unter  gewöhnlichen  Verhältnissen  gegen  ihre  Nachbarn  wenig  arg^- 
wohnisch.  Sie  glauben,  dafs  ihnen  Schaden  hauptsächlich  von  den  zahlreichen  Geistern 
(Sprites)  drohe,  welche  die  Bäume  oder  Dickichte  an  den  Stromufem  bewohnen,  oder  von 
den  Einwohnern  von  Sonne,  Mond  und  Sternen.  Den  Dämonen,  welche  nach  ihrem  Glauben 
auf  der  andern  Seite  des  Sees  wohnen,  schreiben  sie  die  Macht  zu  in  Uganda   zu  spuken. 


Fabeln  und  Sagen  aus  dem  Innern  Afrikas.  315 

ergebene  Katikiro  folgte,  da  er  eine  Verräterei  befürchtete,  vorsichtig 
nach.  Die  kleine  Gesellschaft  langte  mit  der  Zeit  vor  Kintu  an,  der  den 
König  fragte,  warum  er  nicht  seiner  Weisung  folgend  allein  gekommen 
wäre.  Maanda  erwiderte,  dafs  er  alle  Vorsicht  angewandt  und  zu  wieder- 
holtenmalen  umgeschaut  habe,  um  zu  sehen,  ob  ihnen  Niemand  folge. 
Allein  Kintu  beharrte  dabei,  es  sei  ein  Späher  da,  den  er  hinter  einem 
Baume  erblicke.  Als  der  Katikiro  hörte,  dafs  er  entdeckt  sei,  trat  er 
vorwärts  und  Maanda  stiefs  ihn  voll  Wut  mit  seinem  Speere  nieder. 
Da  verschwand  Kintu  mit  seinen  Gefährten;  der  König,  seine  Mutter 
und  der  Bauer  weinten  und  schrieen  nach  Kintu,  aber  das  Echo  ihrer 
Rufe  blieb  die  einzige  Antwort,  die  ihnen  zu  Teil  ward.  Und  seit  dem 
Tage  ist  Kintu  niemals  wieder  erschienen.*) 

2.    Der  fliegende  Krieger. 

Ein  alter  Krieger,  Namens  Kibaga  soll  die  Kunst  des  Fliegens  be- 
sessen haben.**)  Dieser  seiner  Kunst  bediente  sich  sein  König,  als  er 
mit  den  Wanyoros  Krieg  führte.  Kibaga  schwang  sich  durch  die  Lüfte, 
entdeckte  den  Hinterhalt  der  Feinde  und  tötete  Massen  von  ihnen,  indem 
er  Felsen  auf  sie  herabfallen  liefs.  Eines  Tages  aber  sah  Kibaga  unter 
den  gefangenen  Wanyoroweibern  ein  überaus  schönes  Mädchen.  Be- 
zaubert von  ihren  Reizen  erbat  er  sich  vom  König  als  eine  Belohnung 
für  seine  Dienste  das  Mädchen.  Der  König  fugte  der  Gewährung  der 
Bitte  die  Warnung  bei,  er  solle  das  Geheimnis  seiner  Macht  ja  nicht 
seinem  Weibe  verraten.  Geraume  Zeit  hielt  er  denn  auch  seine  Kunst 
und  ihr  Geheimnis  vor  ihr  verborgen,  allein  sein  Weib,  dem  sein  plötz- 
liches Verschwinden  und  ebenso  plötzliches  Wiederkommen  aufHel, 
beobachtete  ihn  ganz  genau  und  kam  hinter  sein  Geheimnis.  Da  dauerte 
es  nicht  lange,  so  teilte  sie  ihrem  Stamme  ihre  Entdeckung  mit.  Nun 
stellten  die  Wanyoros  Bogenschützen  auf  ihren  höchsten  Hügeln  auf  und 
bald  wurde  Kibaga  erschossen.  Leblos  fand  man  ihn  in  den  Zweigen 
eines  hohen  Baumes  verstrickt. 

3.     Die  Besiegung  der  Wasogas. 

In  der  Zeit  als  Chabuga  regierte,  wurde  zum  erstenmale  den  Wasogas 
Krieg  erklärt.  Als  die  Wagandas  sich  versammelten,  um  über  den  Nil 
zu  setzen,  forderten  die  Wasogas  sie  voll  Hohn  heraus.  Da  erbat  sich 
Wakinguru,  ein  mächtiger  Häuptling,  die  Erlaubnis,  über  den  Flufs  zu 
setzen  und  im  Einzelnkampf  den  Feind  anzugreifen.  Er  war  ein  Riese 
von  Gestalt  und  sein  Schild  so  schwer,  dafs  zwei  gewöhnliche  Männer 
ihn  kaum  lüpfen  konnte.    Diesen  Schild  und  ein  tüchtiges  Bündel  Speere 


*)  Eine  andere  Geschichte  von  Kintu  und  eine  Waganda-Fabel  „der  Hase  und  das 
Krokodil"  vgl.  I,  114  unseres  Werkes  „Uganda  und  der  ägyptische  Sudan"  von  Rev. 
C.  T.  Wilson  und  Dr.  R.  W.  Felkin.     2  Bde.    Stuttgart  1883. 

**)  Auch  diese  Geschichte  kennt  Stanley  („durch  den  dunklen  Erdteil")  in  anderer 
Fassung.  • 


816  Robert  Felkin. 


nahm  er  mit  sich,  dann  forderte  er  die  Wasogas  einzeln  und  alle  ins- 
gesamt zum  Kampfe  heraus.  Sie  stürzten  herbei,  ihn  anzugreifen,  aber 
so  grofs  war  seine  Starke,  dafs  ein  Mann  nach  dem  andern  von  seinen 
Speeren  durchbohrt  hinsank,  ehe  sie  ihm  soweit  nahe  kamen,  dafs  sie 
ihn  hätten  verletzen  können.  So  kämpfte  er  den  ganzen  Tag  hindurch 
und,  nachdem  er  600  Mann  erschlagen  hatte,  kehrte  er  bei  Nacht  wieder 
über  den  Flufs  zurück.  So  that  er  auch  an  den  zwei  folgenden  Tagen 
worauf  die  Wasogas  ihre  Niederlage  eingestanden  und  ihre  Unterwerfung 
anboten. 

4.     Der  Jäger  und  der  Vogel. 

Ein  Jäger  hatte  einmal  lange  Zeit  kein  Glück  bei  der  Jagd  mehr 
gehabt.  So  safs  er  eines  Tages  mit  seinen  Weibern  und  Kindern  in 
seiner  Hütte,  während  ein  schrecklicher  Sturm  durch  den  Wald  wütete. 
Da  flog  auf  einmal  ein  Vogel,  um  Schutz  zu  suchen  in  die  Hütte;  die 
Kinder  sahen  ihn  und  suchten  ihn  zu  fangen.  Der  Jäger  aber  nahm  sich 
seiner  an  und  verbot  den  Kindern,  den  Vogel  anzurühren.  Als  der 
Sturm  aufgehört  hatte,  sprach  der  Vogel  zum  Jäger:  ^ Jetzt  will  ich 
Dir  helfen;  Du  bist  ein  gütiger  Mann;  ich  will  vor  Dir  herfliegen  und 
Dich  hinleiten,  wo  Du  Beute  finden  sollst."  Das  that  er  und  der  Jäger 
freute  sich. 

5.     Der  Himmelsbaum. 

Es  war  einmal  ein  Häuptling,  der  hatte  ein  Lieblingsweib,  welchem 
er  die  Sorge  für  sein  ganzes  Hab  und  Gut  anvertraute,  ja  sogar  seine  andern 
Weiber,  deren  er  sehr  viele  hatte,  unterstellte  er  ihrer  Aufsicht.  Kines 
Tages  kam  er  vom  Jagen  nach  Hause  und  rief  sein  Weib';  die  aber  war 
in  geheimnisvoller  Weise  verschwunden*)  und  nirgends  aufzufinden. 
Der  Verlust  ging  ihm  sehr  zu  Herzen;  sein  ganzer  Haushalt  geriet  in 
Verwirrung,  und  seine  andern  Weiber  lebten  in  Unfrieden.  Ganz  in 
Verzweiflung  schlenderte  er  eines  Tages  im  Walde  dahin  und  rief  in 
Gedanken  an'  sein  verlorenes  Weib  vertieft  laut  aus:   „O!  mein  Schatz 


*)  Die  Waganda  sind,  wie  oben  bemerkt,  fiber  alle  Mafsen  abergläubisch.  Wenn 
irgend  wer  auf  unerklärte  Weise  verloren  geht,  so  sagen  sie,  die  Dämonen  hätten  ihn  fort- 
getragen. Einigen  Tieren  schreiben  sie  einen  bösen  Charakter  zu,  andere  besitzen  die 
Tugend,  die  Menschen  zu  behüten  und  zu  leiten.  Donner  und  Blitz  werden  nahezu  angebetet. 
Viele  Krankheiten  werden  einer  Gottheit  oder  einem  Dämon  als  Urheber  zur  Last  g^elegt. 
Ein  übles  Vorzeichen  ist  es,  wenn  man  bei  Antritt  einer  Reise  oder  auch  nur  eines  Aus- 
gangs noch  einmal  umkehrt,  etwas  zu  holen.  Die  Waganda  gehen  überhaupt  nicht  gern 
denselben  Weg  zurück.  Stolpern  gilt  ebenfalls  als  böses  Vorzeichen.  An  den  bösen  Blick 
glauben  die  Wagfanda  wie  die  Italiener  und  manche  Leute  sind  wegen  ihm  gefürchtet. 
Ihnen  wird,  um  ihre  Rache  zu  vermeiden,  aus  Furcht  mit  besonderer  Rücksicht  beg^net. 
Der  Regen  wird  von  einigen  Bewohnern  der  Geisterwelt  gespendet  oder  zurückgehalten. 
Von  ihnen  gehen  auch  Mifswachs  und  Viehseuchen  aus.  Durch  geeignete  Opfer  für  die  be- 
treffenden Gottheiten  kann  die  Fruchtbarkeit  der  Weiden,  Herden  und  Felder  gesichert 
werden.     Die  Zauberei  steht  bei  solchem  Aberglauben  natürlich  in  hohem  Ansehen. 


Fabeln  und  Sagen  aus  dem  Innern  Afrikas.  dl7 

könnte  ich  Dich  nur  finden.  Da  kam  ein  Honigvogel  zu  ihm  geflogen 
und  sprach:  „Dein  Weib  ist  im  Himmel  (sky)."  Im  ersten  Augenblicke 
'WSLT  er  überglücklich,  dann  aber  gleich  bekümmerter  denn  je,  denn  wenn 
er  sein  Weib  im  Walde  wenigstens  hätte  suchen  können,  zu  den  Wolken 
konnte  er  nicht  emporklettem.  Da  kam  ihm  eine  Ratte  zu  Hilfe,  die 
ihm  von  einem  Baume  erzählte,  der  sehr  schnell  in  die  Höhe  wachse,  und 
ihm  anbot,  ihm  diesen  Baimi  zu  zeigen.  Er  folgte  der  Ratte  durch  den 
Wald,  bis  er  zu  einem  Baume  kam,  der  sichtbar  wuchs,  und  dessen 
Gipfel  bereits  aufserhalb  des  Gesichtskreises  war.  Der  Aufforderung 
der  Ratte  folgend,  kletterte  er  diesen  Baum  hinauf,  während  dessen  der 
Honigvogel  ihm  Gesellschaft  leistete  und  Mut  einsprach.  Mit  seinem 
Kmporklettern  wuchs  auch  der  Baum,  bis  er  endlich  hoch  über  den 
Wolken  ins  Geisterland  kam.  Die  Geister  (spirits)  fragten  nach  seinem 
Begehr  und  er  bat  um  sein  Weib,  das  ihm  zur  Belohnung  für  seine 
Beharrlichkeit  auch  gegeben  wurde.  Und  darauf  kletterten  sie  gemeinsam 
w^ieder  an  dem  Baume  herunter.  Als  sie  unten  waren,  belohnte  er  auch 
die  Ratte  und  den  Honigvogel.  Als  der  Häuptling  aber  einige  Zeit 
darauf  wieder  nach  dem  Baume  sehen  wollte,  konnte  er  ihn  nicht  mehr 
finden. 

6.  Der  Mann  und  der  Schakal. 

Ein  Mann  wollte  einmal  bei  Nacht  von  einem  Mahle,  bei  dem  er 
tüchtig  gegessen  und  viel  Mwengi  getrunken  hatte,  nach  Hause  gehen. 
Da  er  sehr  müde  war,  setzte  er  sich  hin  um  auszuruhen  und  schlief  ein. 
Als  er  wieder  aufwachte,  war  seine  Fackel  ausgelöscht  und  er  konnte 
bei  der  grofsen  Dunkelheit  seinen  Weg  nicht  finden.  Als  er  da  und 
dort  im  Walde  den  Weg  suchte,  traf  er  einen  Schakal  an,  der  ihn  fragte, 
wohin  er  denn  gehen  wolle.  „Ich  suche  meinen  Weg  nach  Hause," 
sagte  der  Mann.  Der  Schakal  bot  sich  an,  voranzulaufen  und  den  rechten 
Weg  zu  zeigen.  Der  Mann  nahm  dies  Anerbieten  an  und  sie  gingen 
eine  geraume  Wegstrecke  selbander.  Endlich  fragte  der  Mann  den 
Schakal,  ob  sie  noch  nicht  bald  zu  Hause  wären.  „Ja  wohl,"  war  dessen 
Antwort,  „Du  wirst  gleich  zu  Hause  sein;  Du  warst  bei  einem  Mahle 
und  jetzt  sind  wir  bei  Dir  zum  Mahle."  So  sprechend  rief  er:  „Löwe! 
Löwe!"  und  laut  brüllend  stürzte  sich  ein  Löwe  auf  den  Mann  und 
tötete  ihn;  so  kamen  der  Löwe  und  der  Schakal  zu  einem  guten  Mahle. 

7.    Die  Ameisen. 

Einige  Wanderameisen  kamen  einmal  in  die  Hütte  eines  Mannes, 
der  darüber  so  zornig  wurde,  dafs  er  Gras  anzündete  und  dadurch  eine 
nicht  geringe  Anzahl  von  ihnen  tötete.  Die  übrig  gebliebenen  Ameisen 
zogen  sich  zurück  und  hielten  einen  Kriegsrat,  in  welchem  ihr  Führer 
sich  an  sie  wandte  und  sprach:  „Ein  Mann  fugt  uns,  im  Vertrauen  auf 
seine  grofse  Gestalt,  Unrecht  zu,  weil  er  denkt  wir  seien  nur  klein;  es  ist 
grausam,  wir  müssen  ihn  bestrafen."  Botenwurdennun  von  den  Ameisen  nach 


318  Robert  Felkin. 


nah  und  ferne  ausgesandt,  und  zur  festgesetzten  Zeit,  beim  nächsten  Neu- 
mond, versammelten  sie  sich  in  grofsen  Massen,  so  grofs,  dafs  Niemand  sie 
hätte  zählen  können.  Verschiedene  Führer  wurden  an  die  Spitze  gestellt 
und  so  griffen  sie  die  Hütte  ihres  Feindes  an,  die  bald  aufgefressen 
war*).  Auch  der  Mann,  seine  Weiber  und  seine  Kinder  wurden  nicht 
verschont.  Lerne  daraus,  dafs  der  Grofse  den  Kleinen  nicht  schlecht 
behandeln  soll. 


*)  Felkin -Wilson,  Uganda  I,  82 :  „Die  Wanderameise  kommt  gelegentlich  in  Schwärmen 
in  die  Häuser,  treibt  alles  hinaus  und  bemächtigt  sich  vollständig  des  Platzes.  Ihr  Bifs 
schmerzt  wie  der  Stich  einer  glühenden  Nadel,  und  wer  einmal  von  ihnen  angegriffen 
worden,  vermeidet  gern  jede  Möglichkeit  einer  zweiten  Heimsuchung."*     (Anm.  des  Übers.) 


■••. 


VERMISCHTES. 


■«•*. 


Beiträge  zur  Litteratur  des   Volksliedes.  IL 


Von 
Alexander  von  Weilen. 


Ein  schönes  weltliches  Lied.    (Fliegendes  Blatt.    „Lcncks  Druck  in  Znalm  iS6i**,) 


ES  ginge  ein  verliebtes  Paar 
Im  grünen  Wald  spazieren, 
Der  Jüngling,  der  ihr  untreu  war, 
Wollt  sie  im  Wald  verfuhren; 
Er  nahm  sie  bei  schneeweifser  Hand 
Wollt  sie  in  Wald  hinleiten, 
Er  sprach:  o  allerliebste  mein, 
Geniefse  deine  Freuden. 

2.  Was  soll  ich  hierim  grünen  Wald 
Für  eine  Freude  haben? 

Mir  scheint  es  ist  die  Todesgnift, 
Wo  du  mich  willst  begraben. 
Das  Mädchen  fing  zu  weinen  an. 
Schlug  ihre  Hand  zusammen, 
Ei  war  ich  doch  im  grünen  Wald 
Niemals  spazieren  gegangen. 

3.  Der  Jüngling,  der  ihr  untreu  war 
Gab  ihr  ein  kurzes  Ende. 

Er  zog  sein  Messer  gleich  hervor. 
Das  ihr  das  Herz  zertrennte; 
Sie  sprach:  O  Jesu,  steh  mir  bei 
In  meiner  Angst  und  Schmerzen, 
Verschon  dein  eigen  Fleisch  und  Blut 
Wie  auch  mein  treues  Herz. 


4.  Eshilftkein Bitten undkeinFleh'n 
Im  Grabe  mufst  du  liegen, 
Bevor  die  Schand  nicht  gröfser  wird 
Und  alles  bleibt  verschwiegen; 
Er  gab  ihr  noch  den  zweiten  Stich, 
Langsam  sank  sie  zur  Erden, 
Sie  sprach:  o  Jesu!  steh  mir  bei. 
Ich  sterb  in  deinen  Händen. 

5.  Und  als  sienun  verschieden  war. 
Fing  an  sein  Herz  zu  schlagen, 
Vor  lauter  Angst  und  Traurigkeit 
Könnt'  er  sie  nicht  begraben. 

Er  sprach:  o  Jesu!  steh  mir  bei 
In  meiner  Angst  und  Schmerzen, 
Er  legt  sich  leise  auf  sie  hin. 
Und  starb  an  ihrem  Herzen. 

6.  Und  als  man  nun  zu  solcher  Zeit 
Den  rechten  Ort  erfahren, 

So  haben  sie  den  Ort  geweiht, 

Und  sie  allda  begraben. 

Geschah  ein  grofses  Wunderwerk, 

Vor  aller  Welt  zu  glauben. 

Nun  einst  die  kühle  Erde  decket. 

Und  nicht  mehr  auferwecket. 


320 


Alexander  von  Weilen. 


7.  Ihr  Mädchen  merket  alle  auf, 
Was  der  Jüngling  getrieben; 
Eh  sie  in  solchem  Elend  war, 
Ist  er  ihr  treu  geblieben; 
Und  als  sie  an  die  Schande  kam, 
Konnte  er  sie  nicht  sehen, 
Er  führte  sie  in  grünen  Wald, 
Und  brachte  sie  ums  Leben. 


8.  Nun  stand  es  an  drei  ganze  Jahr 
Eh  man  sie  hat  getroffen. 
Da  sind  die  Vöglein  weit  und  breit 
Zu  ihnen  hingeflogen. 
Zu  sehen  was  an  diesem  Ort 
AUdorten  ist  geschehen. 
Man  fand  sie  beide  frisch  und  rein 
Und  noch  ganz  unverwesen. 


9.  Ihr  Mädchen  und  ihr  Knaben  all, 
Habt  [ihr]  auch  recht  verstanden? 
Wie  sich's  mit  diesem  Liebespaar 
Alldort  hat  zugetragen? 
Vor  wahrer  Reu  und  Gottesfurcht 
Sind  sie  zugleich  gestorben, 
Und  beide  haben  auch  zugleich 
Die  Gnad'  von  Gott  erworben. 

So  verballhornt  auch  dieses  heute  noch  in  Znaim  gesungene  Lied, 
sowohl  metrisch  als  texdich  erscheinen  mag,  so  lassen  sich  doch  wirklich 
volkstümliche  Elemente,  so  besonders  in  der  Eingangsstrophe,  Strophe  5 
und  8,  (die  letztere  gehört  offenbar  vor  Strophe  6)  nicht  verkennen.  Das- 
selbe Lied  findet  sich  auch  in  anderen  Gegenden.  Am  nächsten  steht 
wohl  eine  Fassung  aus  Glaz  (Hoffmann  von  Fallersleben  und  Ernst  Richter, 
Schlesische  Volkslieder,  Nr.  38,  S.  65)  dort  schliefst  das  Lied  mit  Strophe 
5,  wohl  der  ursprüngliche  Kern  des  Liedes.  Aber  auch  in  Schlesien 
wurden  schon  Zusätze  gemacht,  die  unseren  Strophen  7  bis  9  genau  ent- 
sprechen, auch  ein  versöhnender  Schlufs,  entsprechend  den  ersten  vier 
Zeilen  der  Strophe  6  oder  in  der  Weise,  dafs  der  Jüngling  selbst  noch  zu 
den  Zuhörern  spricht,  hinzugefügt.  Ebenso  schliefst  eine  hessische  Version 
(Mittler,  Volkslieder,  Nr.  323, 1,  203)  mit  dem  Tode  des  Jünglings,  während 
eine  andere  (a.  a.  O.,  Nr.  324,  II,  S.  264)  den  Mörder  vor  Gericht  stellt: 

Sie  führten  ihn  ins  Rathaus  nein,  eine  Straf  ward  ihm  gesetzet 
Sieben  Jahr  sollst  du  gesetzet  sein.  Danach  wirst  du  gerichtet. 
So  gehts  wenn  ein  verliebtes  Paar  sich  soviel  vertrauen: 
Ach  Schatz,  ach  Schatz,  ach  lieber  Schatz,  wir  wollen  sie  bedauern. 

Ein  fränkisches  Volkslied  (Ditfurth:  Fränkische  Volkslieder,  II,  Nr.  49a,  b, 
S.  38)  giebt  die  richtige  Anordnung,  Strophe  6  vor  Strophe  8,  Strophe  7 
scheint  die  richtige  Fassung  für  die  fast  unverständlichen  Verse  der 
Strophe  6  unseres  Liedes  zu  bieten: 

Und  als  nunmehr  die  Geistlichkeit 
Den  rechten  Grund  erfahren. 
So  haben  sie  den  Ort  geweiht, 
Und  sie  auch  dort  begraben. 


Der  Blankvers  Shakespeares  im  Drama  Lessing^s,  Goethes  und  Schillers.  321 

Sie  liefsen  auch  zu  Gottes  Ehr* 
Ein  Kirch'  und  Kloster  bauen, 
Es  geschehen  g^ofse  Wunder  dort, 
Das  kann  man  sicher  glauben. 

Eine  schwäbische  Version  (Ernst  Meier:  Schwäbische  Volkslieder, 
Nr.  203)  streicht  Strophe  6  und  schliefst  mit  7,  4;  Eine  Grazer  Fassung, 
mitgeteilt  von  Jeitteles  in  seinem  Aufsatze:  Das  deutsche  Volkslied  in 
Steiermark,  (Archiv  fiir  Litteraturgeschichte,  IX,  359),  dem  ich  die  vor- 
stehenden Hinweise  verdanke,  streicht  Strophe  6  und  7  gänzlich.  Fast 
alle  genannten  Lieder  korrigieren  das  „nicht"  in  4,  3  in  „noch." 

Wien. 


-•••- 


Der  Blankvers  Shakespeares  im  Drama  Lessings, 

Goethes  und  Schillers. 


Von 
Hermann   Henkel. 


Der  jambische  Quinar  ist  durch  unsere  Klassiker  unter  den  Ein- 
wirkungen Shakespeares  seit  Lessings  Nathan  zum  herrschenden  Vers 
des  deutschen  Dramas  geworden,  nachdem  sich  der  letztere  desselben 
bereits  1759  im  Fragmente  seines  Trauerspiels  Fatime,  später  noch  in 
den  Bruchstücken  des  Kleonnis  und  des  Horoskops,  und  Goethe  im 
letzten  Akte  des  von  ihm  selbst  alsbald  vernichteten  Belsazar  (an  Riese 
30.  Oktober  1765,  an  seine  Schwester  7.  Dezember  1765  und  11.  Mai  1767) 
bedient  hatte. 

Shakespeare,  dessen  blanc-verse  Vorbild  war,  gebraucht  in  seinen 
Stücken  neben  männlichen  auch  weibliche  Versschlüsse  (Hendekasyllaben), 
neben  Quinaren  Senare,  Halbverse  (dreifufsige  Jamben,  zum  Teil  zu  vier- 
fufsigen  erweitert)  und  kürzere  Versstücke,  Anapästen  statt  der  Jamben, 
die  Grenzen  des  Verses  verwischende  Enjambements;  anfanglich  zwar, 
nach  den  Übersichten  und  Untersuchungen  W.  Hertzbergs  in  den  Ein- 
leitungen zu  den  von  ihm  übersetzten  Dramen  in  der  Ausgabe  der  deutschen 
Shakespearegesellschaft,  nur  in  sehr  beschränktem  Mafse  und  vereinzelt, 
progressiv  jedoch  häufiger  und  von  äufserer  Regel  unabhängiger.  Auch 
der  Reim,  namentlich  der  alternierende  mit  seinem  schärfer  ausgeprägten 


922  Hennann  Henkel 


lyrischen  Charakter  verschwindet  aus  dem  dramatischen  Dialoge  immer 
mehr  und  bleibt  zuletzt  nur  für  das  schwunghafte  Pathos  der  Szenen- 
schlüsse aufgespart. 

Über  die  Behandlung  dieses  Verses  nun  bei  unsem  Klassikern  giebt 
Koberstein  in  seiner  Geschichte  der  deutschenNationallitteraturIII§269 — 276 
eine  Anzahl  zerstreuter  Beobachtungen.  Die  folgenden  ZeUen  sind  bestinmit 
dieselben  durch  ein  möglichst  vollständiges  und  annähernd  sicheres 
statistisches  Material  teils  zu  ergänzen,  teils  zu  berichtigen. 

Für  die  Vers  Schlüsse  zunächst  giebt  es  in  den  Dramen,  die  hier 
zur  Besprechung  kommen,  von  Lessings  Kleonnisfragment  abgesehen, 
in  welchem  der  Jambus  durchweg  zehnsflbig  erscheint,  keine  äufsere 
Beschränkung;  männliche  und  weibliche  Endungen  treten  überall  gemischt 
nach  dem  Gesichtspunkte  charakteristischen  und  gefälligen  Wechsels  auf. 
Ebenso  ist  die  Cäsur  veränderlich  und  an  keine  feste  Stelle  gebunden. 

In  sämmtlichen  Stücken  kommen  sechs füfs ige  Verse  in  grofserer 
oder  geringerer  Zahl  auch  mit  weiblichem  Ausgang  vor:*)  in  Lessings 
Kleonnis  einer,  im  Nathan  16,  in  Goethes  Iphigenie  6  (I  3,  120  II  i,  33 
III  I,  85.  1 10.  319  IV  4,  60),  in  dem  in  Rom  gedichteten  Faustmonologe  einer 
(F.  I.  V.  2864  ed.Loeper),  imTasso  22  (davon  7  in  Eigennamen  wie  Antonio, 
Hesperien)  im  Mahomet  69  (von  diesen  in  den  letzten  drei  reiner  gehaltenen 
Akten  18),  im  Tankred  13,  in  dem  metrisch  gefeiltesten  Stücke,  der  Natür- 
lichen Tochter  4  (I  6,  136IV2,  155  V  i,  10;  9,  45),  aufserdem  im  Prologe  von 
1793:  5,  von  1794:  6,  im  Epiloge  vom  11.  Juni  1792:  i  und  in  dem  in  Quinaren 
geschriebenen  Partieen  der  Singspiele  Erwin  und  Elmire  3,  Claudine  v.  V. 
B.  I,  des  Vorspiels  „Was  wir  bringen"  31  (in  107  Versen)  und  des  Faust  II:  2. 
Am  reichsten  sind  die  Schillerschen  Dramen  von  solchen  Senaren  durchsetzt, 
wenn  auch  ein  Rückgang  ihrer  Zahl  in  den  späteren  Stücken  sich  einstellt. 
Es  entfallen  auf  den  Don  Carlos  65,  Iphigenie  in  Aulis  23,  das  Phönissen- 
bruchstück  6,  die  Pikkolomini  68,  Wallensteins  Tod  73,  Maria  Stuart  76, 
Makbeth  81,  die  Jungfrau  von  Orleans  45,  Turandot  35,  die  Braut  von 
Messina  26,  Teil  22,  Phädra  14  und  das  Demetriusfragment  12  dieser  Verse. 

Bisweilen  nehmen  dieselben  bei  Goethe  und  Schiller  durch  die 
halbierende  Diärese  die  Züge  des  Alexandriners  an,  wie  im  Tasso  FV  2, 
149 :  „Das  überlege  wohl,  o  kluge,  g^te  Freundin,"  im  Mahomet  besonders 
häufig,  z.  B.  II  6,  55:  „Und  die  Notwendigkeit,  |  sie  forderts  mit  Gewalt **; 
in  Wallensteins  Tod  III 10,  57:  „Mit  zögerndem Entschlufs,  |  mit  wankendem 
Gemüt",  in  Maria  Stuart  I  4,  8:  „War't  Ihr  doch  sonst  so  froh!  |  Ihr 
pflegtet  mich  zu  trösten"  u.  a.  Als  wirklich  beabsichtigte  Alexandriner 
aber  charakterisieren  sich,  wenn  auch  von  einem  Quinar  durchbrochen, 
die  Verse  in  der  Turandot  II  4,  92  fg.  von  selbst,  die  mit  den  Worten 
schliefsen:  „Löst  er  die  Rätsel  auf,  |  hat  er  die  Braut  gewonnen.  So 
lautet  das  Gesetz:  |  Wir  schwörens  bei  der  Sonnen." 

Auch  vier  füfs  ige  Jamben  begegnen  mit  Ausnahme  der  Natür- 
lichen Tochter  in  allen  Stücken,  obschon  weniger  häufig  als  Senare;  in 
immerhin  erheblicher  Anzahl  wieder  bei  Schüler.     Verzeichnet  habe  ich 


♦)  Die  Unregelmäfsigkeit  eines  (den  Griechen  nachg^ebildeten)  Trimeters  mit  weiblicher 
Endung  finde  ich  nur  einmal  in  „Was  wir  bringen"*,  A.  16. 


Der  Blankvers  Shakespeares  im  Drama  Lessing^s,  Goethes  und  Schillers.  338 

deren  aus  Lessings  Fatime,  i,  dem  Nathan  15,  aus  Goethes  Iphigenie  6, 
Erwin  und  Klmire  2,  Claudine  i,  Tasso  6,  Mahomet  7,  Tankred  3,  aus  den 
zwangloser  geschriebenen  Prologen  und  Epilogen  von  1791  bis  1799:  9. 
VonSchiller  enthalten  der  Don  Carlos  41,  Iphigenie  in  AuUs  14,  die  Phö- 
nissen  2,  die  Pikkolomini  25,  Wallenstein  und  Maria  Stuart  je  39, 
Makbeth  37,  die  Jungfrau  16,  Turandot  13,  die  Braut  von  Messina  3, 
Teil  6,  Phädra  i,  Demetrius  4  von  diesen  Versen. 

Jambische  Tripodieen  und  kleinere  Versstücke  finden  sich  bei 
Lessing  gar  nicht,  bei  Goethe  nur  ganz  vereinzelt,  erstere  in  der  Iphigenie, 
in  Erwin  und  Elmire,  Tasso,  Mahomet  und  im  Epilog  vom  31.  Dezember 
1792  je  I,  im  Prolog  von  1794:  2;  Dipodieen  in  der  Iphigenie  und 
im  Prolog  von  1793:  je  i,  im  Tasso  3;  Monopodieen  in  der  Iphigenie 
und  im  Tankred  je  i.  Häufiger  auch  diese  bei  Schiller:  dreifufsige 
Jamben  im  Don  Carlos  und  in  der  Iphigenie  i.  A.  je  i,  in  den  Phönissen  2, 
in  den  Pikkolomini  und  in  Maria  Stuart  je  11,  im  Wallenstein  13,  in 
Makbeth  15,  in  der  Jungfrau  5,  in  Turandot  4,  im  Teil  3;  zweifiifsige  im 
Don  Carlos  3,  in  den  Pikkolomini,  Turandot,  der  Braut  und  Demetrius 
je  I,  im  Wallenstein  13,  in  Maria  Stuart  7,  in  Makbeth  9,  in  der  Jung- 
frau 5;  Monopodieen  endlich  i  in  den  Pikkolomini,  2  in  Maria  Stuart 
und  5  in  Makbeth. 

Man  sieht,  dafs  Schiller  den  dramatischen  Jambus  nach  dieser  Seite 
hin,  in  der  Unterbrechung  des  Quinars  durch  längere  oder  kürzere  Verse, 
am  freisten  behandelt.  Als  eine  bedenkliche  Irregularität  aber  mufs  es 
angesehen  werden,  wenn  er  sich  auch  Sieben füfs  1er,  soll  man  sagen, 
erlaubt,  oder  entschlüpfen  läfst.  Dergleichen  sind  mir  acht  aufgestofsen, 
im  Don  Carlos  V  4,  106;  6,  33,  in  den  Pikkolomini  II  5,  19;  7,  252  III  3, 
106  ,in  der  Jungfiau  IV  7,34,  in  Turandot  III  5,  5  und  in  der  Braut  V.  1571.*) 

Eine  zweite  Frage  betriflft  die  Zulassung  zweisilbiger  Senkungen. 
Anapästen  statt  der  Jamben  haben  sich  Lessing,  Goethe  und  Schiller 
in  den  Dramen  seiner  zweiten  Periode  nur  selten  und  ausnahmsweise 
gestattet.  Lessing  einmal  im  Fragment  der  Fatime  V.  22,  Goethe  jedoch 
nicht  blofs  wie  Koberstein  III  S.  239  sagt,  in  der  Iphigenie  (aufser  in 
den  mehr  lyrisch  gehaltenen  kurzen  Zeilen  III  i,  130 — 131  und  III  2, 
24 — 52)  an  zwei  Stellen:  III  i,  35  und  V  3,  151,  sondern  auch  im  Tasso 
(abgesehen  von  den  wiederholten  Fällen,  in  denen  die  beiden  Endsilben 
von  Eigennamen,  wie  Antonio  und  Sophrönie  in  der  Senkung  stehen. 


*)  Wie  unsere  Dichter  Sechsf&fsler  unter  die  Quinare  zu  mischen  kein  Bedenken 
trag^en,  so  erlauben  sich  Goethe  und  Schiller  in  den  in  jambischen  Trimetem  geschriebenen 
Partieen  ihrer  Dramen  dies  antike  Versmafs  gelegentlich  durch  FünfRilsler  zu  unterbrechen : 
Goethe  in  Paläophron  und  Neoterpe  9,  in  „Was  wir  bringen**  2,  im  Vorspiel  von  1807  und  in 
der  Pandoraje  i  und  in  der  FhaStonübersetzung  5  mal,  Schiller  in  der  Jungfrau  5,  in  der  Braut 
von  Messina  6  mal.  Ja,  sie  verirren  sich  auch  hier  bisweilen  zu  Siebenfufslernf  wie  denn  Schiller 
g'leich  den  7.  Auftritt  des  2.  Aktes  der  Jungfrau  und  Goethe  den  4.  Akt  des  Faust  II  mit 
einemsolchen  eröffnet.  Aufserdem  stehen Septenare in  Paläophron  und  Neoterpe  a  (V.  9  und  64), 
in  «Was  wir  bringen**  3  (Auftr.  16  und  18),  in  der  Pandora  i  (V.  19),  in  der  Jungfrau  i 
(II  7,  46).  Beiläufig  sei  bemerkt,  dafs  Goethe  selbst  in  einem  strophischen  Gedichte  streng 
metrischen  Baues,  in  der  Braut  von  Korinth  V.  25  ein  sechsfÜfsiger  Trochäus  statt  eines 
fünfHifeigen  untergelaufen  ist,  was  schon  Chamisso  während  der  Entdeckungsreise,  an  der 
er  sich  beteiligte,  entdeckt,  von  den  Erklärem  aber  meines  Wissens  niemand  bemerkt  hat. 


1 


324  Hennann  Henkel. 


I  I,  i8o;  ferner  im  Mahomet  III  8,  75  (in  einem  Vierfufsler),  im  Tankred 

II  5,  I  (wenn  hier  nicht,  „ew'ge''  statt  ^ewige**  zu  lesen  ist),  in  der 
Natürlichen  Tochter  I  5,  150,  im  Prolog  von  1793  V.  48,  von  1807  V.  26, 
von  1794  V.  3  (in  einem  Senar),  im  Epilog  von  31.  Dezember  1792  V.  38 
(in  einer  Tetrapodie),  im  Prolog  von  1793  V.  44  (in  einer  EHpodie), 
endlich  im  Faust  II  3,  V.  1458,  1465  und  1466.  —  Ebenso  ist  es  irrtümlich, 
wenn  Koberstein  III  240  die  Meinung  ausspricht,  Schiller  habe  zuerst 
in  Wallensteins  Tod  hin  und  wieder  einen  Anapäst.  Es  kommt  dieser 
Versfufs  bereits  im  Don  Carlos  I  9,  81  ¥9,91  IV  20,  11,  aufserdem 
V  5,  25  in  einer  Tripodie,  I  6,  i  in  einer  Dipodie,  femer  in  der  Iphigeniei.  A- 
I  2,  123  und  in  den  Phönissen  V.  272,  in  den  Pikkolomini  aber  sogar 
schon  27  mal  vor.  F^ür  die  folgenden  Dramen  stellt  sich  (Eigennamen, 
wie  Orleans  und  Manuel  abgerechnet)  folgendes  Zahlen  Verhältnis  heraus: 
Wallensteins  Tod  enthält  21,  Maria  Stuart  49,  Makbeth  18,  die  Jungfrau 
42,  Turandot  30,  die  Braut  22,  Teil  46,  Phädra  56,  Demetrius  9  Anapästen. 
Von  diesen  aber  gehören  keineswegs,  wie  Koberstein  statuiert,  weit  mehr 
dem  ersten,  als  der  Mitte  des  Verses  an ;  nach  meiner  Zählung  entMlen 
auf  den  ersten  Fufs  79,  auf  den  zweiten  die  gleiche  Anzahl,  auf  den 
dritten  73,  auf  den  vierten  37,  auf  den  fünften  57  Anapästen,  2  auf  den 
sechsten  Fufs  eingesprengter  Senare.*) 

Von  der  Freiheit,  „die  Klopstock  blofs  für  den  Vers  des  geistlichen 
Liedes  beansprucht  hatte,  in  jambischen  und  trochäischen  Zeilen  die 
betonten  und  tonlosen  Silben  bisweilen  ihre  Stelle  vertauschen  zu  lassen", 
d.  h.  im  vorliegenden  Versmafs  statt  eines  Jambus  einen  Trochäus  zu 
setzen,  macht  Lessing  gar  nicht,  Goethe  im  Beginn  des  Verses  aufser  den 
von  Koberstein  III  S.  241  angeführten  Stellen,  Tasso  II  4,  186  und 
Tankred  II  4,  28,  auch  in  der  Übersetzung  der  euripideischen  Phaeton- 
fragmente  V.  124  („Feige  zusein"),  Schiller  namentlich  in  seinen  späteren 
Dramen,  und  zwar  häufiger  im  ersten  Fufse  Gebrauch,  seltner  im  vierten, 
dessen  Arsis  mit  der  Arsis  des  voraufgehenden  Fufses  alsdann  zusammen- 
stöfst.  Auf  diese  beiden  Stellen  des  Verses  nämlich  beschränkt  sich  nach 
meinen  Beobachtungen  der  in  Rede  stehende  Rhythmuswechsel,  so  dafs 
also  der  Vers  mit  einem  katalektischen  daktylischen  Dimeter  jl  ^  ^  jl  {^) 
im  ersteren  Falle  anhebt,  im  zweiten  schliefst.     Beispiele:  Teil  II  2,  493: 


M    > 


„Eher  den  Tod,  als  in  der  Knechtschaft  leben"!  II  3,  199:  „Öffnet  die 
die  Gasse!    Frisch!    was   zauderst  Du"?  I  3,   loi:   (Wenn  ihr  den  Vater 

von  den  Kindern  gerissen  — )  „Und  Jammer  habt  gebrächt  über  die 
Welt";  II  2,  28:  „Wer  ist  da?  Gebt  das  Wort!  Freunde  des  Landes. 
Im  ersten  Fufse  erscheint  dieser  Trochäus,  oder  wenn  man  will,  Daktylus 


*)  Im  jambischen  Tr  im  et  er  macht  Goethe,  wie  auch  Schiller,  vom  Anapäst  weit  über  die 
Beschränkung  des  antiken  Metrums  liinaus  ohne  Bedenken  den  ausgedehntesten  Gebrauch,  weil 
sie  unserer  Sprache  die  übrigen  den  Griechen  zu  Gebote  stehenden  Mittel  Bewegung  und 
Mannigfaltigkeit  in  den  Vers  zu  bringen  versagt  sahen.  Goethe  hat  ihn  im  ersten  Fufse  9, 
im  zweiten  16,  im  dritten  30,  im  vierten  20,  im  fünften  37,  im  sechsten  2,  Schiller  im 
ersten  7,  im  zweiten  und  fünften  Fufs  je  einmal. 


Der  Blankvers  Shakespeares  im  Drama  Lessings,  Goethes  und  Schillers,  335 

bereits  im  Don  Carlos  II  lo,  42  und  V  7,  22,  in  den  Pikkolomini  V  3,  51, 
in  Makbeth  I  6,  66,  in  der  Jungfrau  II  4,  11  Vii,57  und  (im  Trimeter) 
II  7,  82,  ferner  in  der  Turandot  20,  in  der  Braut  22  (davon  einer  V.  2633 
im  Trimeter),  im  Teil  47,  in  der  Phädra  5,  im  Demetrius  6  mal;  im 
vierten  Fufse  aufser  den  angeführten  Stellen  in  der  Jungfrau  II  5,  4 
(in  einem  vierfufsigen  Verse),  in  der  Turandot  III  2,  119,  im  Teil  I  3,  40 

II  2,  209.  310  V  I,  64  und  im  Demetrius  I  434. 

Eine  trochäische  Messung  ist  übrigens  auch  in  Worten  mit  volllautigen, 
tieftonigen  Bildungssilben,  wie  lieh  und  ung,  die  als  mittelzeilig  gelten, 
der  fallende  Rhythmus  also  auch  in  Versen  anzunehmen,   wie  Tasso  III 

2,  126:  „Ich  hoffe  Dich,  so  schön  Du  es  verdienst,  |  Glücklich  zu  sehen. 

Pr.  Eleonore!  Glücklich"?  Im  schliefsenden  Trimeter  des  Vorspiels  von 
1807:    (Bleibt  Ihrer  eingedenk,    Genufs,  Entbehrung  — )  „Menschlich  zu 

r  f 

Übernehmen,  aber  männlich  auch",  und  in  Schillers  Phädraübersetzung 
IV  6,  105:  „Sterblich  geboren,  darfst  Du  sterblich  fehlen."  Welches 
Ohr  würde  in  solchen  Fällen  eine  jambische  Messung  ertragen?  Vers- 
anfange dieser  Art  habe  ich  aufserdem  noch  aus  Goethes  Pandora 
V.  160    und    406    (in  Trimetern),   aus  Teil  I  3,  73  und  aus  der  Phädra 

III  I,  34  und  V  6,  24  notiert.*) 

Dafs  im  Hervorbrechen  des  Affektes  mit  der  Hebung  ohne  Auf- 
taktsilbe begonnen  wird,  ist  natürlich  nur  eine  exceptionelle ,  einer 
schlagkräftigeren  Wirkung  dienende^  Anomalie.  So  im  Tasso  II  6,  65 
(avo  Düntzersche  Konjekturen  vom  Übel  sind):  —  „Schwelle  Brust!  — 
O  Witterung  des  Glücks";  bei  Schiller  in  den  Pikkolomini  IV  6,  7  der 
Ditrochäus:  „Lichter!  Lichter",  in  der  Braut  V.  1909:  „Rache!  Rache!" 
u.  s.  w.  Auf  einen  komischen  Effekt  ist  es  abgesehen,  wenn  Pantalon 
in  der  Turandot  II  3,  71  fragt:  „Was,  Herr,  in  aller  Welt  Treibt  Euch 
aus  fernen  Landen  herzukommen  Und  Euch  frischweg,  wie  Ihr  vom 
Pferd  gestiegen,  Mir  nichts,  Dir  nichts,  wie  ein  Ziegenbock,  Abthun  zu 
lassen"?  In  dem  Verse  der  Maria  Stuart  I  8,  67:  |  B.  „Wenn  sie  (die 
Königin)  nur  äufmerksämre  Diener  hätte.  |  P.  Aufmerksämre?  B.  Die 
einen  stummen  Auftrag  Zu  deuten  wissen"  verlangt  die  Wiederholung 
des  Wortes  „Aufmerksämre"  natürlich  eine  trochäischc  Messung  der 
zweiten    Zeile.**)     Der    trochäische    Quinar    endlich    in   Goethes   Epilog 

*)  In  eigentümlicher  Weise  treten  in  solchen  Versanfangen  mit  fallendem  Rhythmus 
bis^ireilen  drei  Silben  in  der  Senkung  auf,  z.  B.  in  Goethes  Pal.  und  Neot.  6:  „Könnte  man 

^  t  t  f  f  I  r     ^        ^ 

auch  fordern,  dafs  ich  sagte,  wer  ich  sei?"  Bei  Schiller  im  Makbeth  IV  7,63:  „Fasse  Dich! 
Aus    unsrer   bltügen  Rache"    (Lafs    uns  Arznei  bereiten)  und  im  Teil  II  2,312:    „Unser  ist 

durch  tausendjährigen  Besitz  (der  Boden). " 

**)  Ebenso  ist  im  Demetrius  I  V.  499  (Die  besten  Waffen  wird  dir  Rufsland  geben:) 
„Rüfeland  wird  nur  durch  Rüfsland  überwunden"  Rufsland  als  sogenannter  Spondeus  mit 
fallendem  Rhythmus  anzusehen,  der  Vers  also  trochäisch,  nicht  jambisch  zu  lesen. 

Ztichr.  f.  vgl.  Litt-Geich.  I.  22 


1 


326  Hermann  Henkel. 


vom  31.  Dezember  1792  V.  39  kommt  auf  Rechnung  der  laxeren  Form, 
die  Produktionen  dieser  Art  zugestanden  wird. 

Was  den  gereimten  Quinar  betrifft,  so  fehlt  derselbe  bei  Lessing 
noch  gänzlich.  Ebenso  der  reinhaltenden  Natur  des  Dichters  gemäfs  bei 
Goethe  in  den  im  jambischen  Fünffiifsler  geschriebenen  Stücken.  Nur 
der  zweite  Teil  des  Faust  3,  890  fg.  und  924  fg.  enthält  in  den  ent- 
sprechenden metrischen  Partieen  ein  paar  Reime,  welche  die  Wechselrede 
zwischen  Faust  und  Helena  hervorlockt,  und  das  Festspiel  Epimenides 
II  6,  V.  16  fg.  einen  solchen  in  zwei  abschliefsenden  Versen.  Auch 
Schiller  hat  ihn  in  seinen  früheren  Stücken  noch  nicht;  erst  von  den 
Pikkolomini  an  bedient  er  sich  desselben,  nach  Kobersteins  Vermutung, 
IV  494,  Anm.  91,  angeregt  durch  A.  W.  Schlegels  Horenaufsatz  „Etwas 
über  W.  Shakespeare",  jedoch  nicht  blofs  in  Szenenschlüssen,  sondern 
auch  sonst  an  Stellen,  in  denen  sich  eine  erregtere  und  gehobenere 
Seelenstimmung  kundgiebt.  Die  Pikkolomini  bringen  16,  Wallensteins 
Tod  49,  Maria  Stuart  139,  Makbeth  36,  die  Jungfrau  77,  Turandot  68, 
die  Braut  182,  Teil  104  solcher  gereimter  Quinare.  Der  Hang  zum 
Sentimentalen  aber  verleitet  den  Dichter  in  der  Maria  Stuart,  Jungfrau 
und  Braut  aufserdem  zur  Einmischung  wechselnder  lyrischer  Formen, 
in  denen  die  Trägerinnen  jener  Dramen  (Maria  in  32,  die  Jungfrau  in 
126,  die  Braut  in  147  Versen)  ihre  Gefühle  ausströmen.  Erst  im  Teil 
gewinnt  der  epische,  realistische  Geist,  der  die  Wallensteintragödie  durch- 
weht, wieder  die  Oberhand  in  ihm,  er  giebt  jene  bedenkliche  Stilmischung 
auf,  rückt  die  (freilich  bei  ihm  unvermeidliche)  Liebesszene  mehr  in  den 
Hintergrund  und  läfst  sie  aus  dem  Rahmen  des  dramatischen  Jambus 
nicht  heraustreten.  Im  Demetriusfragment  endlich  findet  sich,  wie  in  der 
Phädra  I  3,  114 — 115,  der  Reim  nur  noch  ganz  vereinzelt  in  den  Versen 
I  724  und  725.  Es  scheint,  als  habe  der  Dichter  den  Gebrauch  desselben 
für  die  Folgezeit  noch  mehr  einschränken  wollen. 

Schliefslich  noch  ein  Wort  über  das  Verhältnis,  in  welches  die 
Periode  der  Rede  zur  metrischen  Form,  in  deren  Schranken  sie  sich 
bewegt,  von  unsern  Dichtern  gesetzt  wird.  Feinsinnige  Bemerkungen 
hierüber  enthält  das  5.  Kapitel  der  Technik  des  Dramas  von  G.  Freytag, 
die  im  Folgenden  benutzt  sind.  Der  funffiifsige  Jambus  träg^  weniger 
als  alle  anderen  dramatischen  Mafse  den  Charakter  der  Geschlossenheit; 
seine  Kürze  ^und  die  Ungleichheit  seiner  Fufszahl  drängt  die  Rede  von 
selbst  zum  Überschlagen  aus  der  einen  in  die  andere  Versreihe.  Nun 
können  solche  Verskomplexe^  welche  die  Rede  in  Anspruch  nimmt,  von 
gröfserer  oder  geringerer  Ausdehnung  sein  und  es  können  innerhalb 
derselben  die  Satz-  und  Verseinheiten  sich  decken,  die  Gliederpausen 
der  Periode  mit  den  Cäsureinschnitten  und  Versschlüssen  zusammenfallen, 
oder  kontrastieren  und,  um  Monotonie  zu  vermeiden,  in  Widerspruch 
gesetzt  werden.  Im  Allgemeinen  also  harmoniert  die  Rede  Goethes  am 
reinsten  und  vollkommensten  mit  dem  Bau  des  Verses  und  entfaltet  sich 
ihrem  gehaltenen  Charakter  entsprechend  in  Versgruppen  von  mäfsigerem 
Umfang.  Allerdings  laufen  seine  Verse  da,  wo  sie  am  saubersten 
gearbeitet  sind,  in  der  Natürlichen  Tochter,  Gefahr  an  Leben  und  Kraft 


Ein  Franzose  als  Originalverfasser  eines   deutschen  Theaterstückes.  3^7 

einzubüfsen;  sie  würden  hier  oft  schöner  sein,  wenn  weniger  schön, 
um  ein  nach  anderer  Seite  gerichtetes  Wort  Fr.  Vischers  zu  gebrauchen, 
gerade  so  wie  Lessing  (an  seinen  Bruder,  i.  Dezember  1778)  von  den 
seinigen  erklärt  hatte,  dafs  sie  viel  schlechter  sein  würden,  wenn  sie  viel 
besser  wären,  d.  h.  wenn  die  auf  Reinheit  der  Form  verwendete  Sorgfalt 
den  eigentümlichen  Pulsschlag  seines  Stils  unterdrückt  hätte.  Das  Pathos 
der  Redeweise  Schillers  bedarf  zu  seiner  Entfaltung  eines  breiteren 
Spielraums,  gröfserer  Versmassen  und  einer  freieren,  ungezwungneren 
Bewegung  innerhalb  der  metrischen  Schranken,  wie  er  denn  beispiels- 
weise zu  Wortbrechungen  am  Schlufs  der  Verse,  die  sich  Goethe  nur 
einmal  in  der  Pandora  V.  1 24  erlaubt,  wo  er  sie  nötig  hat,  ohne  Bedenken 
greift  (in  Maria  Stuart,  der  Jungfrau  und  Turandot  je  2,  im  Makbeth  5,  im 
Teil  3,  in  der  Iphigenie  i.  A.,  Phädra  und  im  Warbeck  je  einmal).  Am 
wenigsten  endlich  bindet  sich  Lessing  an  die  Gliederung  des  Verses. 
Das  dramatische  Leben  und  die  Rastlosigkeit  seines  Stils  durchbrechen 
den  metrischen  Bau  unaufhörlich.  Es  giebt  wohl  kaum  einen  Dichter, 
der  vom  Frage-,  Ausrufungszeichen  und  Gedankenstrich  so  häufig  Gebrauch 
gemacht  hat,  wie  er.  Interjektionen,  Einwürfe,  Gedankenpausen,  kurze 
Stöfse  des  Affektes  hemmen  den  Lauf  der  Verse  immer  von  Neuem, 
bis  dann  „die  aufsteigenden  Wirbel  die  rhythmische  Strömung  einer 
längeren  Rede  wieder  überzieht." 

Wernigerode. 


-•••— 


Ein  Franzose 
als  Originalverfasser  eines   deutschen  Theaterstückes. 


Von 
Theodor  Süpfle. 


Kurze  Zeit,  nachdem  Iffland  Direktor  des  königlichen  Nationaltheaters 
in  Berlin  geworden  war,  wurde  unter  seiner  Mitwissenschaft  eine 
der  im  vorigen  Jahrhundert  so  häufigen  litterarischen  Mystifikationen  in 
scherzhafter  Weise  unternommen  und  mit  Geschick  durchgeführt.  Der 
Urheber  dieser  artigen  Täuschung,  welche  bisher  unbekannt  geblieben 
zu  sein  scheint,  ist  der  französische  Schriftsteller  Beaunoir,  welcher  in  der 
Vorrede  zu  seinem  in  Paris  im  Jahre  1807  erschienenen  vieraktigen  Drama 
„les  Libellistes"  in  eingehender  und  anziehender  Darstellung  davon  Kunde 
g-iebt.     Wir  lassen  ihn  selbst  erzählen. 

„Ich  war,"  berichtet  er,  „im  Jahre  1796  in  Berlin,  und  hatte  die  Be- 
kanntschaft Ifflands  gemacht,  welcher,  wie  unser  Moliere,  zugleich  Schrift- 

22* 


S28  Theodor  SüpHe. 


Steller,  Schauspieler  und  Leiter  des  grofsen  Theaters  ist.  Wir  stritten 
eines  Tages  über  die  dramatische  Kunst,  und  ich  warf  ihm  vor,  dafs  er 
die  englischen  Schwanke  unseren  besten  französischen  Lustspielen  vorzöge. 
Ich  erkenne,  erwiderte  er,  vollkommen  die  Überlegenheit  des  Pariser 
Theaters  gegenüber  demjenigen  von  London,  aber  das  letztere  sagt 
unserem  Nationalgeschmacke  mehr  zu.  Wir  finden  die  französischen  Lust- 
spiele ohne  Bewegung,  ohne  Interesse;  alles  ist  in  ihnen  schon  angedeutet, 
nichts  überrascht  uns  in  denselben.  Es  sind  lange  Gespräche,  allerdings 
gut  dargestellt,  aber  zu  frostig.  Wir  wollen  erregt,  zum  Staunen,  zum 
Mitgefühl  geführt  sein,  und  Ihr  Franzosen  habt  zu  viel  Geschmack,  um 
Einbildungskraft  zu  haben. 

„DieserVorwurf  traf  mich  lebhaft;  ich  behauptete  ihm,  dafs  der  geringste 
unserer  Schriftsteller,  sobald  er  es  nur  wolle,  ein  Drama  machen  könnte, 
welches  allen  Kotzebueschen  überlegen  sei.  Und  um  es  ihm  zu  beweisen, 
schlug  ich  ihm  die  Wette  vor,  dafs  ich  ihm  in  vierzehn  Tagen  eine  Arbeit 
vorlegen  würde,  durch  w^elche  die  Deutschen  selbst  irre  gefuhrt  werden 
würden.  Er  nahm  die  Wette  an.  Ich  schrieb  „les  Libellistes",  wobei  ich 
mich  sorgfaltig  hütete,  irgend  einer  Regel  zu  folgen  und,  indem  ich  das 
Kolorit  des  Charakterlustspieles  mit  der  düstern  Färbung  des  Dramas 
vereinigte,  liefs  ich  mein  Werk  ganz  treu  und  wörtlich  durch  Frau  Unger, 
die  Gattin  des  königlichen  Buchdruckers,  übersetzen.  Das  Stück  wurde 
gelesen,  angenommen,  mit  dem  gröfsten  Erfolge  gespielt,  und  kein  einziger 
Deutscher  hatte  eine  Ahnung,  dafs  es  die  Arbeit  eines  Franzosen  sei,  da 
ich  IfFland  Verschwiegenheit  versprochen  hatte."* 

Diese  Auffuhrung  der  „Libellisten"  in  deutscher  Sprache  fand  in 
Berlin  im  Jahre  1 797  statt.  In  französischer  Sprache,  also  der  Ursprache, 
wurde  das  Drama  in  Paris  an  den  „Varietes  etrangeres"  am  14.  Januar 
1807  gegeben.  "Es  schliefst  pathetisch  mit  dem  Ausspruche:  Dieu  fit  du 
repentir  la  vertu  des  mortels. 

Obiger  Mitteilung  fugte  Beaunoir  am  Schlüsse  seiner  Vorrede  noch 
einen  Hinweis  auf  das  freibeuterische  Verfahren  englischer  Schriftsteller 
bei,  von  welchem  er  aus  eigener  Erfahrung  folgende  Probe  giebt. 

„Ich  hatte",  erzählt  er,  „in  das  Deutsche  das  Lustspiel  „les  Amis  du 
jour"  übersetzen  lassen,  welches  mit  Erfolg  auf  dem  „theätre  des  Italiens'' 
im  Jahre  1784  gespielt  worden  war.  Bei  meiner  Ankunft  in  Hamburg, 
legte  ich  es  Schröder,  dem  Direktor  des  deutschen  Theaters,  vor.  Dieser 
brach  in  Lachen  aus,  als  er  die  erste  Szene  davon  las  und  sagte  mir, 
dafs  er  dieses  Lustspiel  nach  ,dem  Originalstücke  (!)  übertragen  habe^ 
welches  englisch  sei  und  die  Überschrift  „Eine  Viertelstunde  vor  dem 
Mittagessen"  führe." 

Zum  Schlüsse  wollen  wir  noch  ein  anderes  Beispiel  litterarischer 
Täuschung  aus  dem  Ende  des  18.  Jahrhunderts  in  aller  Kürze  mitteilen. 
Es  verdient  hauptsächlich  deshalb  Erwähnung,  weil  es  als  indirekter 
Beweis  für  das  Interesse  dienen  mag,  auf  welches  damals  deutsche 
Schriften  in  Frankreich  rechnen  zu  können  schienen. 

Im  Jahre  1771  nämlich  wurde  in  Paris  ein  Feenroman  unter  folgender 
Aufschrift  veröffentlicht:  „la  Vertu  eprouvee  ou  les  aventures  de  Lieb- 
Rose,  histoire  scythe,   imitee  de  Tallemand  par  M.  le  Chevalier  de  ***-. 


Nachricht  über  drei  höchst  seltene  Faustbücher.  829 

Der  Zusatz  „imitee  de  l'allemand"  war  nichts  als  eine  Art  von  Lock- 
mittel dem  Publikum  gegenüber.  Denn  die  sinnlichen  Schilderungen, 
welche  in  den  sonst  ganz  läppischen  und  langweiligen  Roman  eingefugt 
sind,  verraten  einen  durchaus  französischen  Ursprung.  Auch  gab  sich 
der  ungenannte  Verfasser  keine  sonderliche  Mühe,  seiner  Täuschung  den 
Schein  der  Wahrheit  oder  auch  nur  der  Wahrscheinlichkeit  zu  leihen. 
Er  giebt  nämlich  im  Vorworte  unter  offenbarer  Fiktion  folgendes  über 
die  Entstehung  seines  Buches  an.  Ein  junger  Franzose  habe  in  Deutsch- 
land das  deutsche  Original,  dessen  Stellen  er  nicht  sämtlich  verstanden 
habe,  von  einem  Bauern  gekauft,  welcher  es  unter  seinem  Pfluge  in  einem 
Grabe  aufgefunden  habe.  Die  vorgelegte  Übersetzung  sei  treu  unter 
Beibehaltung  einiger  Nachlässigkeiten. 

Der  angeblich  deutsche   Ursprung  sollte  also  dem  Roman  zugleich 
als  Empfehlung  und  Entschuldigung  bei  französischen  Lesern  dienen! 

Heidelberg. 


-•••- 


Nachricht  über  drei  höchst  seltene  Faustbücher. 


Von 
Karl  Engtet. 


In  meinem  Buche:  „Zusammenstellung  der  Faust-Schriften  vom  i6.  Jahr- 
hundert bis  Mitte  1884",  (Oldenburg,  Schulzesche  Hof-Buchhandlung 
1885)  ist  auf  Seite  76  unter  Nr.  217  ein  Faustbuch  vom  Jahre  1589  ver- 
zeichnet, dessen  Titel  nur  unvollkommen  angegeben  werden  konnte,  nach 
Angabe  einiger  Schriftsteller,  welche  diese  Ausgabe  erwähnen.  Das  Buch 
selbst  aber  war  nirgends  aufzufinden  trotz  aller  Bemühungen,  weshalb 
auch  eine  bibliographische  Beschreibung  fehlt,  und  die  Nummer  mit  den 
Worten  schliefst:  „Das  Vorhandensein  eines  Druckes  aus  dem  Jahre 
1589  ist  nach  obigen  Zeugnissen  nicht  zu  bezweifeln,  obgleich  bis  jetzt 
keine  Bibliothek  bekannt  ist,  welche  diese  Ausgabe  besitzt" 

Dieses  ganz  überaus  selten  gewordene  Buch  ist  nun  aufgefunden 
und  befindet  sich  in  der  bedeutenden  Privat-Bibliothek  des  Herrn 
Dr.  jur.  Heinrich  Apel,  auf  dessen  Rittergut  Ermlitz  (Reg.-Bezirk 
Merseburg).  Aufserdem  besitzt  Herr  Dr.  H.  Apel  eine  bis  jetzt  noch 
ganz  unbekannt  gebliebene  Ausgabe  eines  Faustbuches  vom  Jahre 
1597  und  ein  höchst  seltenes  Wagnerbuch  vom  Jahre  1 596.  Letzteres 
Buch  wurde  in  meiner  „Zusammenstellung"  Seite  143  unter  Nr.  301  ver- 
zeichnet, aber  eine  nähere  Beschreibung  zu  geben  war  nicht  möglich,  da 
das  Buch  seiner  Seltenheit  wegen  durchaus  nicht  aufzutreiben  und,  so 
weit  mir  bekannt,  auch  noch  nirgends  näher  beschrieben  worden  ist. 

Durch  freundliches  Entgegenkommen  des  Herrn  Dr.  H.  Apel,  lagen 
mir  genannte  drei  seltene  Bücher  vor,  und  ich  glaube  den  Wünschen  vieler 


1 


880  Karl  Engel. 


Freunde  der  Faust-Litteratur  zu  entsprechen,  wenn  ich  eine  Beschreibung 
dieser  Bücher  als  Ergänzung  zu  Abschnitt  11  und  III  meiner  „Zusammen- 
stellung der  Faustschriften  etc."  hier  folgen  lasse. 


L 
Faustbuch  vom  Jahre  1589. 

Titel:     HISTORIA  |  üon  Doct^o-  |  hann   Fausti,    6es   ausbünöi« 
9«n  ^änbtxets  vnb  Sdivoat^fünp  \  lers  tCeuffeltfdjer  ücrfdjreibung,  lln<]^rtftK>  , 
d^em  Ceben  vnb  WanM,  fe(t5amen  Zlbentt^etD*  |  ren,  andf  überaus  gramltd^m 
vnb  er«  |  fdjrecfitdjem  €nöe.  |  (Holzschnitt.)   ^eiji  auffs  Ttetoe  überfeinen,  vnnb  ' 
mit  Dielen  Stüden  gemeiert.   |   (Strich)   |  M.D.LXXXIX.     8. 

Druckort  und  Verlagsfirma  sind  nicht  genannt.  Der  Titel  enthält 
II   Zeilen,  wovon  die  2.  3.  9.  und  11.  Zeile  rot  gedruckt  ist. 

Der  Holzschnitt  auf  dem  Titelblatte  (5  cm  4  mm  hoch  und  7  cm 
breit)  grob  ausgeführt,  stellt  im  Vordergrund  Faust  mit  einem  langen 
Mantel  dar,  der  dem  neben  ihm  stehenden  Teufel,  der  ganz  schwarz  ge- 
halten und  mit  Hörnern,  Schweif  und  Krallen  versehen  ist,  ein  Papier 
(wahrscheinlich  die  Verschreibung)  übergiebt.  Im  Hintergrunde  befinden 
sich  einige  Szenen  aus  Fausts  Leben.  Links  unten  (vom  Beschauer)  über- 
giebt der  Teufel  dem  Faust  einen  Sack  mit  Geld,  beide  fassen  den  Sack 
mit  der  linken  Hand.  Den  rechten  Arm  hält  der  Teufel  etwas  in  die 
Höhe,  über  der  Hand  befindet  sich  ein  Gegenstand  wie  ein  Becher. 
Links  oben  fliegt  der  Teufel  mit  Faust  durch  die  Luft.  Rechts  oben  be- 
finden sich  zwei  Teufel,  die  Fausten  bei  den  Füfsen  erfafst  haben,  Fausts 
Kopf  ist  nach  unten  gekehrt.  Rechts  unten  befindet  sich  eine  kleine  männ- 
liche Figur.  Auf  der  Rückseite  des  Titels  ein  lateinisches  Epigramm 
(Dixeris  infausto  non  abs  re  sidere  natum  etc.)  gleichlautend  mit  dem 
Abdruck  bei  Nr.  221  auf  S.  80  in  meiner  „Zusammenstellung  der  Faust- 
schriften". 

Nach  dem  Titelblatte  folgen  unter  Signatur  xij  u.  s.  w.  sieben  Blätter 
Vorrede  ohne  Seitenzahl.  Die  Vorrede  stimmt  inhaltlich  mit  der  bei 
Spies  (1587)  überein,  nur  sind  am  Schlufs  hier  die  Worte  weggelassen: 
„auch  in  kurtzem  defs  Lateinischen  Exemplars  von  mir  gewertig  seyn"*. 
Die  Widmung  an  Kaspar  KoUe  und  Hieronimus  Hoff  fehlt.  Der  ganze 
Vorstofs  besteht  also  aus  8  Blättern  oder  i  Bogen. 

Hierauf  folgt  die  Historia  auf  228  bezifferten  Seiten,  mit  der  durch- 
gehenden, links  und  rechts  verteilten  Seitenüberschrift:  „Historia  |  von 
D.  Fausten".  In  den  Seitenzahlen  befinden  sich  zwei  Druckfehler,  statt 
S.  27  ist  37,  ferner  statt  S.  139  falschlich  129  angegeben.  Die  Kapitel 
im  Text  sind  nicht  nummeriert  wohl  aber  im  Register,  welches  73  Kapitel 
zählt,  jedoch  zwischen  43  und  44  ist  im  Register  ein  Kapitel  aufzufuhren 
vergessen  worden,  unter  Beachtung  dieses  Kapitels  würden  es  74  sein. 
Der  bei  Spies  (1587)  unter  dem  letzten  Kapitel  der  Historia  angegebene 
Bibelspruch  i.  Pet.  V.  „Seyt  nüchtern  vnd  wachet"  etc.  fehlt  in  dieser 
Ausgabe.     Nach    der    Historia    folgen    fünf  unbezifferte  Blätter,  wovon 


Nachricht  über  drei  höchst  seltene  Paustbücher.  831 


vier  Blätter  das  Register  enthalten.  Das  fünfte  Blatt  enthält  ein  lateinisches 
Gedicht  mit  der  Überschrift  Lectori  S.  Am  Schlufs  desselben  eine  kleine 
Verzierung,  ähnlich  einem  Kleeblatte,  dann:   „Gedruckt   im  Jahre  1589". 

Der  Vorstofsbogen  ist,  wie  schon  erwähnt,  blattweis  unten  mit 
X  ij.  X  iij  u.  s.  w.  bezeichnet,  die  übrigen  Bogen  mit  den  Buchstaben  A  bis  P. 

Der  Text  ist  stilistisch  geändert,  auch  sachlich  hier  und  da  ab- 
weichend, so  z.  B.  giebt  diese  Ausgabe  auch  Fausts  Geburtsjahr  (1491) 
an,  und  erzählt  sechs  neue  Historien,  welche  bei  Spies  (1587)  nicht  vor- 
handen sind. 

Ein  Vergleich  der  Kapitel  des  ältesten  Faustbuches  von  1587  mit 
der  Ausgabe  von  1589,  ergiebt  folgendes.  Kap.  i  bis  27,  sind  in  beiden 
Ausgaben  dem  Inhalte  nach  gleich.  Kapitel  28  „Von  einem  Cometen" 
in  der  Ausgabe  von  1587,  fehlt  in  der  Ausgabe  von  1589.  Die  Kapitel 
29  bis  50  in  der  Ausgabe  von  1587,  sind  mit  Kapitel  28  bis  49  in  der 
Ausgabe  von  1589  wieder  gleich.  Nun  kommen  in  der  Ausgabe  von 
1589  6  Kapitel,  welche  in  der  Ausgabe  von  1587  nicht  vorhanden  sind. 
Bs  sind  dies  folgende:  Kap.  50.  „Doctor  Faustus  schenket  den  Studenten 
zu  Leipzig  ein  Fafs  mit  Wein."  (Der  berühmte  Fafsritt  aus  Auerbachs 
Keller.)  Kap.  51.  „Doctor  Faustus  profitirt  zu  ErfFord  den  Homerum, 
weiset  auch  vnnd  stellet  seinen  Zuhörern  vor  die  Griechischen  Helden." 
Kap.  52.  ^Doctor  Faustus  wil  die  verlornen  Komödien  Terentii  vnnd 
Plauti  alle  wider  ans  Licht  bringen."  Kap.  53.  „Doctor  Faustus  kömpt 
vnuersehens  in  eine  Gasterey."  Kap.  54.  „Doctor  Faustus  richtet  selbst 
eine  Gasterey  an."  Kap.  55.    „Ein  Münch  will  Doct.  Faustum  bekehren." 

Kapitel  51  bis  66  der  Ausgabe  von  1587,  sind  mit  Kapitel  56  bis 
71  der  Ausgabe  von  1589  wieder  gleich.  Kapitel  67  und  68  der  Ausgabe 
von  1587  sind  in  der  Ausgabe  von  1589  in  umgekehrter  Ordnung,  hier 
handelt  Kap.  72  von  der  Oration  an  die  Studenten,  während  73  das 
letzte  Kapitel  vom  „schrecklichen  Ende  Fausts"  handelt. 

Die  längst  vermifste,  nun  endlich  aufgefundene  Ausgabe  von  1589, 
füllt  eine  grofse  Lücke  in  die  Reihe  der  Faustbücher  des  16.  Jahrhunderts 
aus  und  hat  für  die  Faustlitteratur  in  sofern  grofses  Interesse,  dafs  die 
verschiedenen  Gruppen  des  Textes  in  ihrer  Abhängigkeit  von  einander, 
nun  mit  Bestimmtheit  festgestellt  und  veranschaulicht  werden  können. 

Die  in  meiner  „Zusammenstellung  der  Faust-Schriften"  verzeichneten 
Ausgaben  unter  Nr.  218,  220,  221,  222,  wie  auch  die  niederländische 
und  flämische  Übersetzung,  haben  alle,  wie  eine  Vergleichung  ergiebt, 
die  Ausgabe  von  1589  als  Vorlage  benutzt. 

Als  lokalgeschichdiches  Interesse  dürfte  noch  zu  erwähnen  sein,  dafs 
die  Ausgabe  von  1589  die  erste  ist,  welche  (Kap.  50)  den  berühmten 
Fafsritt  aus  einem  Weinkeller  zu  Leipzig,  (von  der  Sage  nach  Auerbachs 
Keller  verlegt)  erzählt. 

n. 

Faustbuch  vom  Jahre  1597. 

Titel:  HISTORIA  |  oon  Doct  3oljan  |  ^aufti,  öes  aufbünötgcn  | 
3<Jubcrer5  vnb  ScfjcDar^fünftlers  |  Ceuffelifdjer  ücrfdjrcibung,  Uudjrift»  |  lidjctn 


832  Karl  Engel. 

tebtn  vnb  Wanbcl,  ^dtyxmeix  2Ibenb>  |  il^ewvm,   Tlndtf  vhctaus  ^ewlxd)cm 
vnb  crfdjrcrfltdjcm  €n=  |  6c.     (Holzschnitt.) 

3«i^t  auffs  netD  pbcrfe^cn,  vnb  |  mit  ptclcn  5tu(fen  geme^ret.  |  (Strich.) 
(ßcörucft  im  ^aift,  1597.    8. 

Druckort  und  Verlagsfirma  sind  nicht  genannt.  Der  Holzschnitt 
auf  dem  Titel,  ist  genau  dasselbe  Bild,  wie  solches  die  Ausgabe  von 
1589  hat.  Die  zweite  und  dritte  Zeile  des  Titels  ist  rot  gedruckt,  ebenso 
die  erste  und  dritte  Zeile  unter  dem  Bilde.  Auf  der  Rückseite  des 
Titels  steht  dasselbe  Gedicht  wie  es  die  Ausgabe  von  1589  hat, 
(Dixeris  infausto  etc.),  nur  ohne  Überschrift  „Epigramma**  und  mit  gjad- 
stehenden  Lettern  gedruckt,  während  1589  liegende  Lettern  hat.  Es 
folgen  sieben  Blätter  ohne  Seitenzahlen,  welche  die  Vorrede  enthalten. 
Die  Widmung  fehlt,  wie  in  der  Ausgabe  von  1589. 

Hierauf  folgen  164  bezijßferte  Seiten  Text  mit  der  durchgehenden 
links  und  rechts  verteilten  Seitenüberschrift:  ^Historia  |  von  Doctor 
Fausten.""  Die  Historia  besteht  aus  74  im  Text  unnummerierte,  im 
Register  nummerierte  Kapitel.  Hier  ist  das  bei  1589  vergessene  Kapitel 
mit  im  Register  aufgenommen,  daher  die  anscheinende  Vermehrung.  Die 
Kapitel  sind  inhaltlich  mit  1589  gleich,  auch  enthält  diese  Ausgabe  die 
sechs  neuen  Kapitel  aus  der  Ausgabe  von  1589,  nur  haben  sie  hier  im 
Register  die  Nummern  51  bis  56.  Das  Kapitel  „Von  einem-  Cometen** 
fehlt  hier  gleichfalls.  In  den  Seitenzahlen  der  Historia  sind  verschiedene 
Druckfehler,  z.B.  16  statt  26,  65  statt  66  und  66  statt  67,  113  statt 
115  etc.  Der  Druck  ist  wesentlich  kleiner  wie  in  der  Ausgabe  von  1 589, 
daher  die  geringere  Seitenzahl.  Nach  der  Historia  folgen  fünf  Blätter 
ohne  Seitenzahlen,  wovon  drei  Blätter  und  der  obere  Teil  der  Stirnseite 
vom  4.  Blatt  das  Register  einnimmt.  Unter  dem  Register  steht  „(EHIXE" 
darunter  eine  kleine  Holzschnittverzierung.  Auf  den  folgenden  zwei 
Seiten  ein  lateinisches  Gedicht  wie  in  der  Ausgabe  von  1589.  Das 
Buch  besteht  aus  12  Bogen,  die  mit  2t  bis  2X1  bezeichnet  sind. 

Das  Format  der  Ausgaben  von  1589  und  1597  ist  kl.  8,  etwa  15  cm 
hoch  9,8  cm  breit,  ähnlich  der  übrigen  Ausgaben  der  Faustbücher  des 
16.  Jahrhunderts. 

m. 

Wagnerbuch  vom  Jahre  1596. 

Titel:  2tn6er  tE^eil  b,  3o^-  ;J<iufti  ^iftorien:  |  Darin  befd^rtc*  |  bcn  tfl 
Cljriftopljori  IDagners,  öes  |  ^aufti  gctDcfcncn  VxsdpAs  auffgeric^tcr  (>ad,  fo 
er  I  mit  6em  Ccuffcl  gemacht,  meldjer  ftdj  TXucxlfan  gc»  |  nant,  vnb  jene  in 
eines  Ztffen  geftolt  crfdjienen,  2tudj  |  feine  2tbent^eit>rii(fje  Poffen,  meiere  er 
öurdj  I  Beföröerung  6es  tEeuffels  geübet,  vnb  get^an  Ifat  \  Heben  Befdjreibung 
5er  nemen  3n»  |  [el,  was  für  £eute  öarinnen  mo^nen,  Unb  von  jrem  |  (Sottcs- 
Menft,  6en  fie  ^aben,  2tudj  wk  fie  |  oon  6en  Spaniern  eingenommen  )  moröen. 

3nt  3aljre  (Holzschnitt)  1596. 
2tlle5  aus  feinen  perlefenen  Sd?riff»  |  ten  genommen,  pn5  in  Drucf  perfertigt 
bnvdf  ^.  S.    80. 


Nachricht  über  drei  höchst  seltene  Faustbücher.  333 


Der  kleine  Holzschnitt  auf  dem  Titel  stellt  einen  Mann  dar  mit  langem 
Rock  und  einer  Narrenkappe.  Der  Holzschnitt  ist  4,6  cm  hoch  und 
3,5  cm  breit. 

Die  beiden  Buchstaben  F.  S.  sollen  heifsen:  „Friedericus  Schotus". 
Der  Titel  besteht  aus  17  Zeilen,  wovon  die  2.  3.  9.  und  15.  Zeile  rot 
gedruckt  ist;  desgleichen  die  Jahreszahl  1596  in  der  14.  Zeile.  Nach 
dem  Titelblatte  folgen  4  Blätter  mit  „Vorrede  an  den  günstigen  Leser, 
F.  S.  etc.**  Die  Vorrede  ist  unterschrieben:  Datum  den  10.  Mey  Anno 
1594.  E.  G.  (Euer  Gehorsamer)  F.  S.  (Friedericus  Schotus.)  Dann 
folgt  der  Text  auf  118  Blättern  ohne  Seitenzahlen.  Am  Schlufs  des 
Textes  steht:  Gedruckt  im  Jahr  1596.  Der  Text  ist  mit  zweierlei  Typen 
gedruckt,  anfangs  mit  gröfserer,  weiter  zum  Schlufs  mit  kleinerer  Schrift. 
Ein  Register  ist  nicht  vorhanden  und  es  ist  zu  bemerken,  dafs  sämtliche 
Wagnerbücher  aus  dem  16.  Jahrhundert  kein  Register  haben.  Format 
des  Buches  kl.  8. 

Dresden. 


BESPRECHUNGEN. 


SQpfJe, Theodor:  Geschichte  des  deut- 
schen Kultureinflusses  auf  Frank- 
reich mit  besonderer  Berücksich- 
tigung; der  litterarischen  Einwirkung. 
Erster  Band.  Von  den  ältesten  germanischen 
Einflüssen  bis  auf  die  Zeit  Klopstocks.  Gotha, 
Thienemann,  1886,  XXII,  8«.  359  S.    M.  7. 

Einen  Gegenstand  von  aufserordentl icher 
Bedeutung  für  die  neuere  Kulturgeschichte 
Central europas  bildet  die  Wechselwirkung 
der  Civilisation  Deutschlands  und  Frank- 
reichs. Was  haben  die  Deutschen  und 
Franzosen  einander  zu  verdanken?  Welchen 
Einflüssen  des  nationalen  Geistes,  welchen 
Erzeugnissen  leiblicher  und  geistiger  Arbeit 
haben  sie  sich  gegenseitig  zugänglich  er- 
wiesen? Welche  Wirkungen  haben  solche 
Einflüsse  des  Geistes  der  Nachbarn  auf  die 
Kultur  jedes  der  beiden  Völker  ausgeübt? 
Während  nun  kaum  bestritten  wird,  dafs 
P'rankreichs  Civilisation  in  verschiedenen 
Zeitaltern  auf  Deutschland  wirkte,  sind,  wenn 
man  von  der  Völkerwanderung  und  vom 
19.  Jahrhundert  absieht,  deutsche  Kulturein- 
flüsse auf  Frankreich  im  Allgemeinen  ent- 
weder nicht  bekannt  oder  sind  sogar  ge- 
leugnet worden.  Obschon  nun  der  Kundige 
wohl  weifs,  dafs  es  an  Material  zur  Be- 
handlung dieses  Gegenstandes,  der  in  der 
Geschichte  Frankreichs  immer  wieder  in 
Sicht  kommt,  durchaus  nicht  mangelt,  wagt 
er  sich  nicht  leicht  daran,  aus  Furcht,  es 
möchte,  trotz  allem  Reichtum  des  bisher 
zu  Tage  geförderten  Quellenmateriales,  doch 


mancher  wichtige  Beleg,  sogar  manche  Quelle 
von  erheblicher  Ausbeute  seinem  spähenden 
Auge  entgangen  sein,  zumal  da  solche  Belege 
dem  aufserhalb  Frankreichs  Lebenden  nicht 
immer  leicht  zugänglich  sind.  Fortes  fortuna 
adjuvat!  Besitzt  einer  den  Mut,  das,  was  so 
manchem  auf  der  Zunge  schwebte,  einmal  zu 
gestalten  und  auszusprechen,  so  dankt  man 
es  ihm,  dafs  das  Stillschweigen  gebrochen 
ist.  Herr  Süpfle  hat  sich  das  bleibende 
Verdienst  erworben,  das  Thema  des  deutschen 
Kultureinflusses  auf  Frankreich  durch  eine 
Gesamtdarstellung  grundlegend  behandelt  zu 
haben. 

Die  Untersuchung  dieses  Gegenstandes 
teilt  sich  eigentlich  in  die  Beantwortung 
zweier  Hauptfragen:  einmal,  welche  Mitgift 
brachten  Germanias  Töchter  zur  Zeit  der 
Völkerwanderung  nach  Gallien,  und  sodann, 
was  hat  Germania  seither  an  den  französischen 
Haushalt  noch  weiter  beigesteuert? 

Bei  Erörterung  der  ersten  Frage  kommen 
drei  der  kulturf^higsten  germanischen  Volks- 
stämme in  Betracht:  Burgundionen,  Gothen 
und  Franken.  Selbstverständlich  hat  der 
Verfasser  denjenigen  Elementen,  die  einen 
Volkscharakter  bilden  oder  ihn  erkennen 
lassen,  Sprache,  Recht,  Sitte,  Glaube,  Be- 
schäftigung, Leibesgestalt  gebührende  Auf- 
merksamkeit geschenkt,  ohne  sich  über  die- 
selben in  ausschweifenden  Untersuchungen 
zu  ergehen;  er  konnte  hier  mehr  über  den 
Reichtum  des  Stoffes,  den  andere  Gelehrte 
ans  Licht  gefördert,  als  über  den  Mangel  an 


Besprechangen. 


a85 


solchem  in  Verlegenheit  geraten,  und  die 
Selbstbeherrschung,  mit  welcher  er  den 
Reix  zur  breiten  Darstellung  der  Urzeit  in 
sich  zurückdrängte,  charakterisiert  von  vorne- 
herein schon  eine  Meisterschaft." 

Dabei  wäre  zu  erwägen  gewesen,  in 
welchem  numerischen  Verhältnisse  die  ein- 
gewanderten Germanen  zu  den  bisherigen 
galloromanischen  Einwohnern  standen;  denn 
auf  diesem  Verhältnisse  wird ,  zum  Teil 
wenigstens,  die  Ursache  des  Fortbestands 
oder  des  Untergangs  germaniseher  Nationalität 
in  Frankreich  beruhen.  Mochten  nun  auch 
die  Eroberer  ihre  Sprache  frühzeitig  (vieU 
leicht  früher*)  als  der  Verf.  voraussetzt) 
einbüisen,  so  brachten  sie  doch  auf  dem 
ganzen  Gebiet  ihrer  Eroberung  germanisches 
Recht,  germanische  Wirtschaft  und  Ver- 
waltung sowie  germanisches  Kriegswesen 
zur  Geltung. 

Das  angeborne  Stammesrecht  ging  nicht 
verloren,  wenn  ein  Individuum  sich  etwa  in 
einer  andern  Provinz  niederliels;  es  war  sein 
unveräußerliches  Eigentum,  dessen  ihn  nie- 
mand berauben  konnte.  Darum  lebten  damals 
in  einem  Gebiete  oft  Leute  des  verschiedensten 
Rechts  wie  der  verschiedensten  Zunge.  Eine 
Idee  dieses  Zustandes  giebt  uns  Agobard  von 
Lyon  (t  840),  der  in  einer  Streitschrift  gegen 
die  Lex  Gundobada  (Opera  ed.  Baluzius. 
Paris  1666,  I,  113)  von  Burgund  sagt: 
Tanta  diversitas  legum,  quanta  don 
solum  in  singulis  regionibus  aut 
civitatibus,  sed  etiam  inmultis  domi- 
bus  habetur.  Nam  plerumque  con- 
tigit,  ut  simul  eant  aut  sedeant 
quinque  homines  et  nullus  eorum 
communem  legem  cum  altero  habet. 
Es  könnte  darum  auf  ein  leichtes  Misver- 
ständnis  führen,  an  dem  das  außerordentlich 
instructive  und  gelehrte  Buch  Rudolf  Sohms 
über  jdie  fränk.  Reichs-  und  Gerichtsverfassung 
nicht  ganz  unschuldig  ist,  wenn  es  S.  11 
heifst:       „Das     öffentliche    Recht    in    allen 


•)  Fanden  sich  doch  Franzosen  schon  im 
8.  Jahrh.  veranlafst,  franz. -deutsche  Gespräch- 
bücher anzulegen  (Kasseler  Glossen). 


seinen  Teilen  war  im  ganzen  Lande  fränki- 
sches Recht;**  wenigstens  mülste  hier  der 
Ausdruck  „öffentliches  Recht**  (Staatsrecht) 
im  strikten  Gegensatz  zum  Privatrecht  auf- 
gefafst  werden. 

Wie  vom  Fortleben  germanischen  Glaubens 
(bezw.  Aberglaubens)  und  germanischer  Sitte 
Zeugnisse  angeführt  werden  konnten,  so 
auch  vom  Fortbestand  deutscher  Art  der 
Landwirtschaft  mit  dem  Betriebe  in  drei 
Feldern,  wovon  Belege  bis  auf  unsere  Zeit 
beizubringen  gewesen  wären.  In  dem  Lieblings- 
striche fränkischer  Niederlassung,  wo  auch 
die  Könige  sich  mit  Vorliebe  aufhielten,  im 
vadensischen  Gau  (dem  spätem  Herzogtum 
Valois  an  der  Oise  und  Aisne),  konnte  noch 
im  vorigen  Jahrh.  ein  Bauer  aus  Deutsch- 
land, wenn  er  französisch  sprechen  lernte,  in 
dem  Betriebe  ländlicher  Wirtschaft  sich  sehr 
leicht  zurecht  fmden.  Das  ist  auch  ein 
Beweis  zäher  Lebensfähigkeit  germanischer 
Bauersame. 

Bei  der  Schilderung  germanischer  Sinnes- 
art erwähnt  der  Verfasser  die  deutsche 
Treue.  Aber  gerade  dem  fränkischen  Stamme 
machen  die  Römer  übereinstimmend  den 
Vorwurf  der  Treulosigkeit.  Salvianus  de 
Gubematione  Dei  IV,  14:  Gens  Saxonum  fera 
est,  Francorum  infidelis,  Gepidarum  inhumana, 
sed  numquid  tarn  accusabilis  Francorum  per- 
fidia  quam  nostra?  Si  pejeret  Francus,  quid 
novi  faciet,  qui  perjurium  ipsum  sermonis 
genus  putat  esse,  noncriminis?  VII,  15:  Franci 
mendaces,  sed  hospitales.  Flav.  Vopiscus  in 
Proculo  XIII,  4  (Teubn.) :  A  Francis  origincm 
se  trahere  ipse  dicebat,  ipsis  prodentibus 
Francis,  quibus  familiäre  est  ridendo  fidem 
frangere.  Procop.  de  Bello  Gothico  II,  15 
(p.  247  ed.  Bonn.):  ^Ean  yäp  i^voq  touto  tö 
ic  fdoTtv    a^fiXeptorarov    äv^pwittov    diaiuTutv. 

II,    28     (p.   263):      7<)    dk    dr^     TOUTtÜV     TTKrTOV,     w 

ypTftp^at  aby^ntjofit  i^  TWivra^  ßapßdpouqt  fierd 
ye  ßopiyYouq  xcd  ro  Boopyoou^uovwv  ii^uag,  xal 
i^  Toö<;  ^ofifid)(o(}^  opjSiq  laipä  rStv  ävdp&v 
iTo^edetxTat .  .  .  xal  rt  fJet  rä  ^i^daa>ta  Xiyov- 
ra^  i/le^ecv  vd  rwv  ^pdYywv  ätrißr^iia.  Die 
germanische  Treue  tritt,  wie  man  aus 
den    epischen    Liedern    weifs,    mehr  in    dem 


886 


Besprechungen. 


Verhältnisse  des  Maooes  cum  Herrn  zu  Tage 
als  in  den  Gebieten,  in  welchen  wir  Moderne 
sie  suchen;  dieselben  Franken,  die  hier  als 
perfid  im  Verkehr  mit  andern  Stämmen  und 
Völkern  geschildert  werden,  erscheinen  in 
ihrer  Geschichte  und  in  ihren  Liedern  als  sehr 
eifersüchtig  auf  die  unangetastete  Ehre  der 
Mannentreue,  wovon  die  französische  Be- 
theuerung  foi  de  gentilhomme!  noch  ein 
spätes  Echo  enthält. 

In  Hinsicht  auf  die  angebliche  Frauen- 
verehrung ist  der  Verfasser,  wie  mir  scheint, 
gegen  die  herrschende  Stimmung  etwas  zu 
nachsichtig  gewesen.  Es  wäre  an  der  Zeit, 
diesen  schmeichelhaften  Traum  von  einem 
besondem  Frauenkultus  der  Germanen  endlich 
fahren  zu  lassen.  Die  arischen  Völker  alle, 
nicht  nur  die  Germanen,  haben  dem  Weibe 
eine  (allerdings  mehr  oder  minder)  menschen- 
würdige Stellung  angewiesen,  wenn  man  die- 
jenigen Perioden  ins  Auge  fafst,  wo  diese 
Völker  noch  unverdorben  lebten.  Beispiels- 
weise sei  an  das  häusliche  Walten  der 
Griechin  vor  dem  peloponnesischen  Kriege, 
an  das  der  Römerin  bis  zum  Ende  der 
punischen  Kriege  erinnert!  Erwiesen  ist  es 
von  keiner  Seite,  dais  n<lie|  Germanin  diese 
Griechin  und  diese  Römerin  an  sittlichem 
Werte  weit  überragte;"  wir  Deutsche  hören 
das  nur  gern,  darum  glauben  wirs.  Und  wer 
von  der  Existenz  germanischer  Priesterinnen  und 
weisen  Frauen  auf  eine  höhere  Achtung  des 
Weibes  bei  den  Germanen  Schlüsse  machen 
will,  der  mufs  das  auch  thun  bei  jenen 
Griechen  und  jenen  Römern,  da  auch  bei 
ihnen  Priesterinnen  und  weise  Frauen  er- 
wähnt werden.  Anders  fallt  begreiflich  der 
Vergleich  aus  (den  die  Alten  übrigens  selbst 
schon  anstellten),  als  die  Germanen  mit 
ihrem  zwar  etwas  rauhen,  fast  rohen,  aber  noch 
keuschen  und  sittigenden  Familienleben  sich 
auf  römischem  Boden  heimisch  machten,  zu 
einer  Zeit,  wo  eine  fürchterliche  Unzucht  und 
Hurerei  das  Leben  der  Romanen  zerfressen 
hatte,  wie  uns  Orosius,  Salvian,  Marius, 
Victor,  Sidonius  Apollinaris  und  andere 
übereinstimmend  berichten.  Von  einem 
Frauenkultus  im    modernen  Sinne  aber  oder 


auch  nur  in  annähernd  moderner  Weise,  wie 
er  von  deutschtümelnden  Autoren  immer 
noch  den  Germanen  zugeschrieben  wird, 
weifs  die  germanische  Altertumskunde  nichts; 
wäre  derselbe  in  so  intensiver  Weise  be- 
tätigt worden,  wie  man  vorgibt,  so  müfste 
doch  bei  derjenigen  Klasse  deutscher  oder 
französischer  Bevölkerung,  welche  alte  Lebens- 
weise, alte  Sitten  am  zähesten  und  treuesten 
bewahrt  hat,  ich  meine  bei  den  Bauern,  noch 
heute  oder  in  den  nächst  vergangenen  Jahr- 
hunderten etwas  davon  zu  finden  sein. 
Selbst  das  germanische  Recht,  das  auf  fran- 
zösischem Boden  wie  auf  deutschem  ein  so 
langes  Leben  fristete,  kennt  keinerlei 
Grundsätze  besonderer  Frauen  Verehrung;  es 
weist  dem  Weibe  lediglich  ein  menschen- 
würdiges Dasein  an,  ohne  von  besonderem 
„honneur  aux  dames"  zu  reden.  Dafs  die 
Frauenverehrung  im  Sinne  der  Galanterie, 
wie  sie  in  Frankreich  aufkam  und  von  da  in 
das  übrige  civilisierte  Europa  drang,  eine 
Erfindung  des  Feudaladels  gewesen  sein 
mufs,  weife  nicht  nur  der  Kenner  mittelalter- 
licher Dichtung  hinlänglich  aus  der  Minne- 
sprache,  die  ihr  galantes  Vocabulaire  so  zu 
sagen  mit  Vorliebe  aus  dem  Lehenswesen 
herübergenommen  hat,  sondern  auch  der 
Kenner  des  Lehenswesens  aus  denjenig^en 
Bestimmungen,  welche  eine  Lehensfähigkeit 
der  Frauen  begründeten  oder  zuliefsen. 

Im  zweiten  Kapitel,  wo  die  germanischen 
Nachwirkungen  im  Leben  der  Franzosen  be- 
handelt werden,  hätte  der  franz.  Adel  an  erster 
Stelle  erwähnt  werden  können,  der  mit  einer 
gewissen  Ostentation  die  Reinheit  der  Uebcr- 
lieferung  festhielt.  Schon  in  der  äuü>em 
Erscheinung  galten  unter  diesem  Stande  bis 
in  späte  Zeit  blaue  Augen  und  blonde  Haare 
als  sichere  Zeichen  besserer  Herkunft  Ge- 
radezu auffallend  ist  aber  das  Festhalten  ade- 
liger Familien  an  deutschen  Taufhamen. 
Eine  Zusammenstellung  derselben  würde  reiche 
Ausbeute  gewähren ;  hier  nur  einige  Beispiele 
von  Familien  aus  verschiedenen  Gegenden 
Frankreichs.  Narbonne:  Amalaric  (Amauri)^ 
Aimeri,  Berenger,  Raymond.  Auvergne:  Ber- 
trand, Gilbert,  Guillaume,  Louis,  Robert.  R  o  u  s  - 


Besprechungen. 


337 


sillon:  Gausfred,  Gerard,  Guimar,  Hughes, 
Suniaire.  Beaujolais:  Guichard,  Henri,  Hum- 
bert, Louis.  Chalon-sur-Saone:  Adelaide, 
Guerin,  Guillaume,  Hugues,  Lambert,  Thibaut 
Thierry,  Warin.  Mäcon:  Alberic  (Aubry), 
Girard,  Gui  (Wido),  Renaud,  Wilbert.  Bour- 
bon:  Archambaud,  Charles,  Louis.  Mont- 
morency:  Bouchard,  Charles,  Ogier,  Rolland, 
Thibaut.  B  o  u  r  g  e  s :  Chunibert,  Endes  (Otto), 
Geoffroy,  Guillaume,  Humbert.  Evreux: 
Amauri,  Charles,  Guillaume,  Richard.  Wer 
die  Kontinuität  kennt,  welche  deutsche  Adels- 
familien in  ihren  Tauihamen  bis  in  die  neuere 
Zeit  kennzeichnet,  wird  diese  Erscheinung, 
die  sich  auch  beim  französischen  Adel  findet, 
als  ein  sehr  willkommenes  Zeugnis  fQr  die 
Dauer  germanischer  Oberlieferungen  in  Frank- 
reich zu  schätzen  wissen.  Oberhaupt  dürfte 
för  unser  Thema  nächst  dem  Bauernstand  der 
französische  Adel  in  den  verschiedensten 
Lebensbeziehungen  reichen  Stoff  der  Beobach- 
tung darbieten.  Gleichwie  der  Peudaladel 
seine  Wohnung  auf  hohen  Burgen  suchte,  so 
erhob  er  sich  auch  leiblich  und  geistig  über 
die  im  Tale,  leitete  mit  weiterm  Horizonte 
die  Geschicke  der  Nation,  entfaltete  ein  reiches 
Kulturleben,  schon  ziemlich  früh  im  Mittel- 
alter und  nochmals  im  17.  Jahrhundert;  er 
mufste  aber  das  eine  germanische  Erbübe], 
den  unechten,  das  heilst  Übertriebenen  In- 
dividualismus, dadurch  büfsen,  dafs  er  durch 
das  Königtum  seine  Unabhängigkeit  verlor, 
und  das  andere,  die  Sucht  der  Unterdrückung 
des  Bauernstandes,  die  der  französischen 
Nation  den  ersten  Schrei  der  Entrüstung  in 
dem  Edikt  von  Quiercy  in  kerlingischer  Zeit 
auspreiste,  und  die  fortan  durch  die  glänze 
französische  Geschichte  hindurch  zu  den 
wildesten  Ausbrüchen  sich  steigerte,  fand 
seine  Sühne  zunächst  während  der  denkwür- 
digen Nacht  vom  4.  August  1789  in  dem 
freiwilligen  Verzicht  des  Adels  auf  alle 
Standesvorrechte  und  weiterhin  auf  gewaltsame 
Weise  durch  die  Guillotine,  die  erbarmungs- 
los mit  dem  blauen  Blute  die  französische 
Erde  düngte  und  den  echten  samt  dem 
unechten  Adel  grausam  vertilgte. 

Interessant    sind    die    ausdrücklichen    Er- 


innerungen der  Franzosen  an  ihre  germanische 
Herkunft  (S.  13).  Ich  vermag  noch  ein  Bei- 
spiel aus  ganz  später  Zeit,  nämlich  vom 
4.  Juli  1 649  beizubringen,  aus  den  Abschieden 
der  schweizerischen  Tagsatzung,  wo  die 
Nachkommen  der  Burgundionen  sich  ähnlich 
aussprachen  wie  jene  Franzosen  des  12.  Jahr- 
hunderts: „Die  Bevollmächtigten  der  Frei- 
grafschaft Burgund^S  heifst  es  in  diesem  Pro- 
tokoll, „stellen  das  Ansuchen,  die  Neutralität 
der  Freigrafschaft  gegen  die  von  einer  an- 
dern Macht  (Frankreich)  ihr  drohenden  Ge- 
fahren um  so  mehr  in  Schutz  zu  nehmen,  da 
die  Bewohner  der  Freigrafschafit  ein  aus 
Deutschland  herstammendes  Volk 
seien,  das  sich  mit  dem  ,,Humor**  der  alten 
Eidgenossenschaft  besser  vertrage,  als  das 
bei  einer  andern  Macht  (Frankreich)  der 
Fall  sei.»*) 

In  vortrefflicher  Obersicht  hat  der  Ver- 
fasser die  mythischen  Reste  germanischen 
Glaubens,  wie  sie  noch  in  französischen 
Sagen  leben,  geschildert:  Feen,  Werwölfe, 
wildes  Heer,  Bertha  die  Spinnerin,  Oberon 
und  Maugis.  Ob  nicht  auch  die  deutsche 
Heldensage  Spuren  in  Frankreich  hinterlassen 
hat,  da  doch  Gothen,  Burgundionen  und 
Franken  so  vieles  von  ihrer  Nationalität 
durch  Jahrhunderte  hindurch  retteten?  Die 
allitterierende  Reihe  von  Königsnamen  in 
der  Lex  Burg.  tit.  3:  Gibicam,  Godomarem, 
Gislaharium,  Gundaharium  weist  noch  deut- 
lich auf  die  Geburtsstunde  der  Sage  aus  der 
Geschichte  hin ,  wie  schon  Wackemagel 
gesagt  hat.  Mehr  noch  scheinen  gothische 
Sagen  gehaftet  zu  haben.  Flodoard  erzählt 
in  seiner  Geschichte  der  Kirche  zu  Rheims 
(Pertz,  MGScript.  m,  365),  dafs  Fulco,  Erz- 
bischof von  Rheims,  den  deutschen  König 
Arnulf  (887 — 899)  in  einem  Schreiben  er- 
mahnt habe,  redlich  gegen  Karl,  den  Ein- 
fältigen, den  letzten  aus  dem  königlichen 
Stamme,  zu  verfahren,  unter  einem  Hinweis 
auf    die     gothische     Sage     von    Ermenrich: 


*)  Einige  Zeit  vorher  hatte  Gustav  Adolf 
die  Eidgenossen  an  ihre  schwedische  Herkunft 
mahnen  lassen. 


} 


338 


Besprechungett. 


subjicit  etiam  ex  libris  teutonicis  de  rege 
quodaxn  Hermenrico  nomine,  qui  omnem 
progeniem  suam  niorti  destinaverit  inipiis 
consiliis  cuiusquam  consillarii  sui  (Sibich), 
supplicatque  ne  sceleratis  hie  rex  adquiescat 
consiliis,  sed  misereatur  gentis  hujus  et  regio 
generi  subveniat  decidenti.  Das  mittelfran- 
zösische Epos  Hörn  und  Rimenild  enthält  in 
einer  Episode  die  Überliefemng  von  Hilde- 
brand und  Hadubrand.  Was  die  fränkische 
Stammsage  von  Siegfried,  Brunhild  und  den 
Nibelungen  betrifft,  so  bat  sich  im  nördlichen 
Frankreich,  zumal  im  Lande  Valois  der  Name 
Nevelon  lange  als  Personenname  erhalten 
und  ist  dort  der  Name  der  mythischen  Brun- 
hild zähe  an  den  alten  Römerstrafsen 
(Chauss^es  de  Brun^haut)  haften  geblieben. 
Mehr  Bezüge  und  Ähnlichkeiten  bieten  Begos 
Tod  im  Garin  le  Loherain  (Alemannia  II,  33), 
das  Märchen  vom  Dornröschen  (La  Belle  au 
bois  dormant),  femer  le  Tartaro  reconnais- 
sant  et  le  serpent  ä  sept  t^tes  (bei  S^billot, 
Contes)  u.  a. 

Mit  Recht  hebt  Supfle  bei  Besprechung 
der  französischen  Epopöen  hervor,  dais, 
wenn  auch  die  Stoffe  derselben  auf  fran- 
zösischem Boden  erwachsen  seien,  der  darin 
herrschende  Geist  germanische  Herkunft  ver- 
rate. Die  Thaten  und  Kämpfe,  welche,  in 
diesen  Dichtungen  erzählt  werden,  gehen 
fast  ausschliefslich  vom  Adel  aus;  w^ie  im 
Nibelungenliede  und  in  der  Gudrun  werden 
BQrger  und  Bauern  fast  ausnahmslos  ignoriert: 
alles  besorgt  der  Adel.  Das  ist  ein  deut- 
licher Fingerzeig  för  die  Zeit  der  Entstehung 
derselben,  abgesehen  davon,  dais  alle  Feinde 
der  Franzosen  in  Sarazenen  verwandelt 
werden,  selbst  Vandalen  (im  Garin)  und 
Sachsen  (in  der  Chanson  des  Saxons).  Der 
französische  Adel  aber  war  im  9. — 12.  Jahr- 
hundert so  zu  sagen  unvermischt  germanischen 
Geblüts;  kein  Wunder  daher,  wenn  in  diesen 
seinen  Epopöen  ^ deutsches  Königtum,  deut- 
sches Recht,  deutsches  Kriegswesen,  deutsche 
Namen,  deutsche  Anschauungen  und  Gefühle, 
deutsche  Sitten,  deutsches  Leben  uns  überall 
entgegen  treten." 

Schade,  dafs  der  Verfasser  der   neu  auf- 


gebrachten Hypothese,  als  sei  die  französische 
Tiersage  (im  Roman  de  Renard)  indischen 
statt  deutschen  Ursprungs,  so  leichten  Glauben 
beigemessen  hat;  wenigstens  hätte  .die  andere 
Ansicht,  die  durch  Wackeniagel  (Kleine  Schrif- 
ten II,  234—326)  neuerdings  gestützt  wurde, 
grölsere  Berücksichtigung  verdient. 

Der  Raum  würde  mir  versagt  sein,  wenn 
ich  die  folgenden  Partien  des  herrlichen 
Buches  in  einläislicher  Weise  besprechen 
wollte.  Das  dritte  Kapitel  erörtert  die  Kultur- 
einflüsse Deutschlands  auf  Frankreich  während 
des  Mittelalters  und  der  Renaissance.  Von 
litterarischen  Rückwirkungen  kann  da  nicht 
viel  die  Rede  sein;  denn  mit  dem  franzö- 
sischen Ritterwesen  ward  auch  Inhalt  und 
Form  der  französischen  ritterlichen  Poesie 
tonangebend  für  die  dvilisierte  Welt.  Da- 
gegen fanden  deutsche  Erfindungen  und 
deutsche  Künste,  Eisentreiben,  Malerei,  Buch- 
druckerei Eingang  bei  dem  Nachbarvolke. 
Erst  als  nach  dem  Verwelken  der  ritterlichen 
Poesie  auch  in  Frankreich  das  BOr]gertuin 
aktiven  und  passiven  Anteil  an  der  Litteratur 
nahm,  gestattete  man  den  litterarischen  Er- 
scheinungen Deutschlands,  das  schon  früher 
und  energischer  eine  ähnliche  Bahn  beschritten 
hatte,  einigen  Einfluls,  wie  dies  im  4.  Kapitel 
genauer  erörtert  ist.  Die  folgenden  beiden 
Kapitel  behandeln  die  Wirkungen  der  Re- 
formation und  der  neuen  schweizerisch- 
deutschen Kriegt;; :r:  ri  tf  »las  geistige  und 
politische  Leben  der  Franzosen.  Daran  reibt 
sich  in  zwei  Kapiteln  eine  sorgfältige  Unter- 
suchung über  die  germanischen,  speziell  die 
deutschen  Bestandteile  des  fran2ösischen 
Sprachschatzes. 

Als  durch  eine  Reihe  von  innern  und 
äufsem  Impulsen  die  französische  Dichtung 
und  Prosa  unter  Ludwig  XIV.  ihre  klassische 
Blüte  erlebte,  und  das  durch  den  dreifsig- 
jährigen  Krieg  erdrückte  Deutschland  den 
glänzenden  Namen  eines  Corneille,  Racine, 
Moliere  nur  einen  Hoffmann  von  Hoffmanns- 
waldau,  Lohenstein,  Abram  a  Santa  Clara 
oder  Weise  nebst  einigen  Kirchenliederdichtem 
gegenüber  zu  stellen  hatte,  da  konnte  von 
deutschen     Kultureinflüssen     auf    Frankreich 


I 


Besprechungen. 


339 


nicht  viel  die  Rede  sein;  vielmehr  begann 
jetzt  zum  zweitenmale  eine  Herrschaft  des 
französischen  Geschmacks  wie  über  andere 
Nachbarländer  so  auch  Qber  Deutschland,  in 
letzterm  Lande  allerdings  am  stärksten,  sich 
geltend  zu  machen,  als  dessen  Bahnbrecher 
Ziegler,  Besser  und  Canitz  bis  auf  Gottsched, 
Geliert  und  Wieland  herunter  zu  nennen 
sind.  Daher  schrieb  der  jQngere  Racine  in 
der  Mitte  des  i8.  Jahrhunderts:  La  po^sie 
dramatique  fut  connue  en  Allemagne  plus 
tard  que  partout  ailleurs,  et  le  goüt  des 
repr^entations  saintes  y  dura  si  longtemps 
qu'on  repr^entait  encore  k  Vienne,  il  y  a 
trente  ans,  la  Passion  de  notre  Seigneur, 
piöce  oü,  apres  Adam,  Eve  et  MoTse,  parais- 
sait  Tenfant  J^sus,  ä  qui  on  donnait  de  la 
bouillie.  Les  premi^res  trag^dies  profanes 
y  furent  semblables  aux  pi^es  anglaises  et 
hollandaises,  cVst-ä-dire  pleines  de  meurtres, 
de  supplices,  de  spectres.  Trois  poetes, 
tous  trois  de  Sil^sie,  en  composerent  de  plus 
reguli^res,  et  les  nötres,  ayant  6t6  traduites, 
furent  enfin  pr^ferecs  aux  anciennes  pieces 
de  la  nation. 

Erst  ungefähr  seit  der  Mitte  des  vorigen 
Jahrhunderts  beginnt  Frankreich  wie  natürlich 
(was  hätte  ihm  seit  Ausgang  des  i6.  Jahr- 
hunderts an  deutscher  Dichtung  und  Prosa 
viel  Beachtung  erregen  kfinnen?)  auf  unsere 
Litteratur  aufmerksam  zu  werden  und  widmet 
ihr  ein  steigendes  Interesse,  sei  es  in  der 
Kritik,  sei  es  durch  Übersetzungen.  Diesen 
Regungen  der  Aufoierksamkeit  gegenüber 
einem  Halier,  Geliert  und  den  Leipzigern, 
auch  einem  Gefsner  und  Klopstock  widmet 
der  Verfasser  aufserordentlichen  Pleifs  in 
fünf  Kapiteln  (12—16),  die  unbestritten  als 
die  verdienstlichste  Partie  dieses  ersten  Bandes 
werden  angesehen  sein  mfissen,  weil  sie  fast 
durchweg  auf  ganz  neuen  und  unmittelbaren 
Forschungen  beruhen.  Die  zahlreichen  Be- 
legstellen am  Schlüsse  des  Bandes  legen 
beredtes  Zeugnis  von  der  treuen  Arbeit  des 
Verfassers  ab. 

Als  Referent  nur  erst  die  Anzeige  dieses 
Werkes  zu  lesen  bekam,  empfand  er  grolse 
Freude    darüber,    dais    endlich    einmal    eine 


längst  klaffende  Lücke  in  der  Geschichte  der 
französischen  Litteratur  ergänzt  werden  sollte ; 
seine  Erwartungen  sind  durch  das  Buch  selbst 
übertroffen  worden,  nicht  allein  durch  den 
reichen  Inhalt,  der  viel  ungeahntes  Material 
an  den  Tag  gefördert  hat,  sondern  auch 
durch  den  ruhigen  Ton  und  die  objektive 
Darstellung,  welche  jedem  Franzosen  die 
Lektüre  ermöglichen  werden.  Nirgends  ist 
das  bekannte  widerwärtige  Phrasengeklingel 
von  deutscher  Gemütstiefe,  deutscher  Gründ- 
lichkeit und  dergleichen  angeschlagen  worden; 
überall  lälst  der  Verfasser  die  Thatsachen 
sprechen.  Möge  dieses  Werk,  das  seines  Inhalts 
wegen  eigentlich  von  einem  Franzosen  hätte  ge- 
schrieben werden  sollen,  hüben  und  drüben 
die  rechten  Leser  finden! 

Frauenfeld.  Johannes  Meyer. 

Oesterlen, Theodor:  Komik  und  Humor 
bei  Horaz.  Ein  Beitrag  zur  römischen 
Litteraturgeschichte.  8».  I.  Heft:  Die  Sati- 
ren und  Epoden.  135  S.  II.  Heft:  Die 
Oden.    133  S.  Stuttgart,  Metzler,  1885,  1886. 

Wenn  wir  uns  erlauben,  die  Leser  dieser 
Zeitschrift  auf  eine  Bereicherung  der  Horaz- 
litteratur  aufmerksam  zu  machen,  so  glauben 
wir  uns  gegen  den  Vorwurf  des  Übergriffes 
in  das  Gebiet  der  speziellen  Litteratur- 
geschichte nicht  sowohl  durch  Hinweis  auf 
das  internationale  Interesse,  dessen  sich  der 
Dichter  billig  erfreut,  als  durch  Betonung 
der  vom  Verfasser  mehrfach  befolgten  Methode, 
Werke  unserer  Litteratur  vergleichend  heran- 
zuziehen, verteidigen  zu  dürfen.  Oesterlen 
hat  als  praktischer  Schulmann  seinen  Horatius 
gründlich  studiert  und  von  Herzen  lieb- 
gewonnen, ohne  doch,  wie  so  viele  seiner 
Kollegen,  offiziell  in  den  Dichter  vernarrt 
und  für  dessen  Schwächen  blind  zu  sein.  Es 
war  ihm  vergönnt,  den  1885  erschienenen 
„Studien  zu  Vergil  und  Horaz '^  noch  im 
nämlichen  Jahre  den  ersten  Teil  der  vor- 
liegenden Untersuchungen  folgen  zu  lassen, 
als  deren  Zweck  er  bereits  im  Vorworte  der 
erstgenannten  Schrift  die  Herstellung  des 
geistigen  Bandes  zwischen  Horaz,  dem  Satiren- 
und  Epodendichter,  Horaz,  dem  Odendicbter, 


340 


Besprechungen. 


und  Horaz,  dem  Epistelndichter,  bezeichnet 
hatte.  Durch  genauen  Nachweis  der  bedeuten- 
den Rolle,  welche  Komik  und  Humor  im 
ganzen  Horatius  spielen,  soll  die  ^Kontinuität 
seines  Wesens  und  seiner  Dichtung"  (U«  6i) 
gezeigt  werden,  und  der  empfindungsselige 
Humor  als  seine  —  cum  grano  salis  — 
Gnindstimmung  hervortreten  (I,  39).  Der 
hier  so  nahe  liegenden  Gefahr,  des  Guten  zu 
viel  zu  thun  und  die  behandelten  Erscheinungen 
auch  da  zu  erblicken,  wo  sie  schwerlich  in 
des  Dichters  Intention  lagen,  ist  freilich  auch 
unser  Verfasser  nicht  entgangen,  und  seine 
Auffassung  wird  im  einzelnen  auf  vielfachen 
Widerspruch  sto&en,  indes  —  kein  Gelehrter, 
der  an  die  Bearbeitung  einer  ästhetisch- 
litterarhistorischen  Frage  schreitet,  wird  sich 
mit  der  Hoffnung  schmeicheln,  dafs  die  fach- 
genössischen  Kreise  seine  Resultate,  wie 
Dogmen  gläubig  entgegennehmen  werden.  — 
Nachdem  Oesterlen  in  einer  kurzen  Ein- 
leitung (I,  5 — 11)  im  Anschlufs  an  Carriere, 
Lazarus  und  besonders  Vischer  das  Wesen 
der  Komik  und  des  Humors  erörtert  und 
(S.  10)  eine  sehr  vernünftige,  den  Litterar- 
historikem  gewifs  sympathische  Ansicht  über 
das  Verhältnis  von  Textkritik  und  Philologie 
ausgesprochen,  prüft  er  in  sorgfältiger  Unter- 
suchung (S.  II  — 124)  die  Satiren  (vgl.  über 
die  Beibehaltung  dieses  Namens  S.  135)  und 
Epoden,  Gedicht  für  Gedicht,  auf  ihren 
komisch-humoristischen  Gehalt,  wobei  ihm 
A.  Kielslings  schöne  Ausgabe  leider  nur  für 
die  Epoden  vorlag.  Es  sei  uns  gestattet, 
eine  Reihe  von  Einzelnheiten  herauszugreifen. 
S,  13  f.  werden  bei  Behandlung  der  zweiten 
Satire  des  ersten  Buches,  wo  die  Frage  über 
die  Berechtigung  des  Cynischen  in  der  Komik 
nicht  umgangen  werden  kann,  sehr  passend 
Schillers  „Gedanken  über  den  Gebrauch  des 
Niedrigen  und  Gemeinen  in  der  Kunst"  heran- 
gezogen, S.  15  wird  „nicht  zur  Recht- 
fertigung, aber  zur  Erklärung"  an  des  näm- 
lichen Dichters  nMännerwürde",  „An  einen 
Moralisten",  «Der  Venuswagen"  erinnert. 
Dals  der  Verfasser  S.  16  in  v.  25  der  gleichen 
Satire  „Maltinus  tunicis  demissis  ambulat"  die 
Anspielung  auf  Mäcenas,   gegen  welche  sich 


schon  der  beste  Scholiast,  Porph3rTio,  erklärt, 
f&r  möglich  hält,  scheint  um  so  weniger 
begreiflich,  als  er  unten  bei  Besprechung  von 
Sat.  I,  6,  5  und  H,  4  (S.  36  und  80)  der- 
artige Annahmen  entschieden  zurückweist. 
S.  32  mufste  bemerkt  werden,  dafs  die  be^ 
kannte  euphemistische  Bezeichnung  körper- 
licher Fehler  (Sat.  I,  3,  44  ff.)  im  wesentlichen 
aus  einer  griechischen  Quelle  geschöpft  ist; 
vgl.  O.  Ribbecks  interessante  ethologische 
Studie  „Kolax"  in  den  Abhdl.  der  sächs. 
Ges.  d.  W.  phil.-hist.  Cl.  IX  (1883)  S.  46  ff. 
S.  42  wird  mit  den  Anfangsworten  des  Priapus 
(Sat  I,  8)  passend  Jesaja  44,  17  verglichen, 
wie  denn  der  Verfasser  überhaupt  der  heiligen 
Schrift  g^gnete  Parallelen  zu  entnehmen 
weils  (vgl.  im  2.  Teil,  S.  69,  105,  108).  S.  43 
konnte  an  die  spöttischen  Bemerkungen  der 
christlichen  Apologeten  über  die  von  den 
Vögeln  des  Himmels  so  wenig  respektierten 
Götterbilder  erinnert  werden;  s.  z.  B.  Minucius 
Felix  Octav.  c.  24,  i  und  besonders  Amobius 
adv.  nat.  VI,  16  p.  229  ed.  Reißerscheid. 
S.  5 1  wird  Oesterlen  mit  dem  vielbesprochenen 
„tricesima  sabbata"  (Sat.  I,  9,  69)  durch 
Annahme  einer  komischen  Erfindung  von 
Seiten  des  boshaften  Aristius  viel  leichter 
und  besser  fertig,  als  seiner  Zeit  der  groise 
Gregorius  von  Nazianz  mit  dem  ,^adßßa.TOf^ 
deortp6i:pü}ro)f**  bei  Luc.  6,  i,  der  seinen  wils- 
begierigen  Schüler  Hieronymus  mit  einem 
eitlen  Witzworte  abspeiste.  (O.  Zoeckler, 
Hieronymus.  Gotha  1865,  S.  82.)  Über  die 
„armen  acht  Verse"  (S.  55),  welche  in  einigen 
Handschriften  Sat.  I,  10  eröffiien,  kann  nach 
meiner  Ansicht  nicht  mehr  gestritten  werden. 
Ihr  nicht  horazischer  Ursprung  ist  schon 
durch  Wölfflins  sprachliche  Beobachtung 
(Lat.  und  röm.  Comparation.  Erlangen  1879, 
S.  40)  erwiesen,  und  mit  Recht  hat  sie  Emil 
Baehrens  in  seine  „ftagmenta  poetarum  Roma- 
norum" (Lips.  1886)  aufgenommen.  S.  64 
konnte  auf  die  komische  Wirkung  der  Litotes 
„non  parcus"  (veteris  aceti)  Sat.  II,  2,  62 
hingewiesen  werden;  vgl.  die  vom  Ref.  in 
Jahrb.  f.  Philol,  Suppl.  XV,  S.  528,  ange- 
ßhrten  Worte  des  Silius  Italicus  X,  32. 
S.  68    sehen   wir  mit  Betrübnis,    wie  es  ein 


Besprechungen. 


341 


über  die  Komik    des   Horatius    schreibender 
Gelehrter    über    sich    bringen     kann,     den 
„xuf/wuovaTo^  itoajT^^*  um  des  gleichnamigen 
Philosophen  willen  vom  rechtmäfsigen  Platze 
an    der  Seite    seiner  Kollegen  Eupolis  und 
Menander  zu   verdrängen  I     In  dem  meister- 
haften Dialog  zwischen  Agamemnon  und  dem 
Krieger  (Sat  II,  3,  187  ff.)  vermag  ich  nicht 
mit  Oesterlen  (S.  73)   eine  Travestie  zu  er- 
kennen, vielleicht  aber  liegt  eine  solche  in 
der  Beschreibung  des  „lächerlichen  Unheils**, 
welches  das  Gastmahl  des  Nasidienus  unter- 
bricht   (Sat  n,  8,  54  ff.  vgl.  O.  S.  99.)    Es 
wäre  nämlich    denkbar,    dafs    dem   Horatius 
die  «vulgata  fabula**  (Quintil.  inst.  or.  XI,  2, 
I  z)  von  dem  Einstürze  des  Speisesaales  vor- 
schwebte,   dem    der    Dichter    Simonides    so 
wunderbar    entgangen    sein    soll.     Über  den 
Epikureismus    der    Stadtmaus    (O.   S.  89)    s. 
Kieislings  Bemerkung  zu  II,  6,  93.     Aus  dem 
die  Epoden  behandelnden  Abschnitte  notieren 
wir  den  Vergleich  von  Epod.  8   mit  Spiegel- 
bergs Erzählung  von  der  Szene   im   Kloster 
(S.  iii),  von  Epod.  IG,  wo   Horatius    in   der 
Verhöhnung    des    Dichterlings    Maevius    mit 
Vergilius   zusammentrifft,    mit    dem    Xenien- 
kämpfe  Goethes  und  Schillers  «gegen  gemein- 
same litterarische  und  persönliche  Gegner", 
(S.  113)  von  Epod.  17,  70  ff.  mit  Schubarts 
ewigem  Juden.     (S.  123.)      Den  Schlufs  des 
ersten  Teiles  bildet  eine  „Zusammenfassung**, 
(S.  125—135)   in  welcher  eine  Klassifikation 
der  behandelten  Gedichte  nach  ihrem  scherz- 
haften Gehalte    versucht    und    die    „Technik 
des    Dichters    in  seiner  Komik    und    seinem 
Humor**  (S.  129)  näher  beleuchtet  wird.    Die 
„Fähigkeit   der  Selbstparodie**   (&  133),    ein 
Haupterfordemis  humoristischer  Darstellung, 
teilt  der  römische  Poet,  —  um  von  anderen 
abzusehen,    —    mit    unsrem    Wolfram    von 
Eschenbach,   worüber  auf  die   Ausfiihrungen 
von  K.  Kant:  Scherz  und   Humor   in  W.  v. 
E.    Dichtungen.      Heilbronn    1878,  S.  82  ff., 
verwiesen   sein    mag,    welcher    an    Goethes 
Spruch  erinnert:    „Wer  sich  nicht  selbst  zum 
Besten  haben  kann,  der  ist  gewifs  nicht  von 
den  Besten.** 

In     der    Einleitung    zum    zweiten    Teile 
Ztchr.  C  Tgl.  Litt-GeKh.  L 


(S.  5 — 8)  werden  die  Oden  in  vier  Klassen 
eingeordnet,    und    „eigentlich  komisch-humo- 
ristische",   solche    „in    denen    in    sehr    ver- 
schiedener Weise  und  in  sehr  verschiedenem 
Grade  eine  Mischung  von  Scherz  und  Ernst 
vorliegt",     „Gedichte    sinniger    Betrachtung" 
und  „feierliche,  eigentlich  pathetische  Oden" 
unterschieden.    Auch  spricht  sich  der  Verfasser 
an  dieser  Stelle  (S.  7  f )  über  Kieislings  neue 
Ausgabe  aus,  an  der  man  bei  einer  Arbeit 
über  die  Oden  des  Horatius  allerdings  „nicht 
vorübergehen  kann."     Mit  Unrecht,  wie  ich 
glaube,    hält    er    sich    über    die   sorgfältige 
Nachweisung  griechischer  Vorbilder  auf,  wo- 
durch ihm  Horatius  zum  bloisen  Nachahmer 
herabgedrückt  zu  werden  scheint.     Wenn  ich 
nicht  irre,    hat    es    Wilamowitz  einmal    aus- 
gesprochen,  dafs  wir  uns  Horatius  als  einen 
der    gründlichsten    Kenner   der    griechischen 
Litteratur  vorstellen  müssen.    Auch  that  sich 
bekanntlich  der  augusteische  Dichter  in  diesem 
Punkte  bedeutend  leichter,  als  der  auf  seinen 
Bergk  angewiesene  deutsche  Professor,  dessen 
Belesenheit  er  „nach  Kieisling  gehabt  haben 
müfste**.     S.  9 — 122   werden   die  in   der  an- 
gegebenen Weise    klassifizierten    Oden    ana- 
lysiert.    Ich    mufe    mich,    um  nicht  zu  weit- 
läufig zu   werden    und    den    Rahmen    dieser 
Zeitschrift  zu  überschreiten,  auf  eine  Zusammen- 
stellung der  Parallelen   beschränken,  welche 
in  diesem  Teile  aus  naheliegenden  Gründen 
zahlreicher  sind.    Zu  Od.  I,  8  erinnert  Oester- 
len an  Schillers  „Er  flieht  der  Brüder  wilden 
Reih*n",  (S.  13)  zu  I,  29,  9,  f.  an  „Wer  wird 
künftig  deinen  Kleinen  lehren  Speere  werfen?" 
(S.  24)  zu  III,  19  an  Goethes  „Es  schlug  mein 
Herz:    geschwind    zu    Pferde!"    (S.  47.     Es 
handelt  sich  um   die  Frage,   ob  das  Gedicht 
„freie    Fiktion    oder    poetische    Wiedergabe 
eines    Erlebnisses   sei".)     Zu   in,    13,    4    an 
Pikkol.    rV,    6     „noch     einen    Schlaftrunk?*' 
(S.  49)  zu  I,  9,  23  ff.  an  die  Szene  im  Garten- 
häuschen.   M.  „Er  kommt  !**  F.  „Ach  Schelm, 
so  neckst  du  michl  u.  s.  w.",  (S.  66)  zu  I,  38 
an  Goethe,    chinesisch-deutsche   Jahres-   und 
Tageszeiten  XIII  „die  stille  Freude  wollt  ihr 
stören?  u.  s.  w.",   (S.  72)   zu  II,  16,  i  ff.  an 
die  Stelle  eines  Kirchenliedes  „Ruhe  ist  das 

23 


842 


Besprechungen. 


beste  Gut,  das  man  haben  kann**,  (S.  75)  zu 
n,  19  an  Goethes  Zueig^nung  ,,da  schwebte 
ndt     den     Wolken     hergetragen    u.   s.   w.", 
Schillers   Dithjrrambe   „Nimmer^    das    glaubt 
mir,(crediteHor.)  erscheinen  die  Göttern,  s.w.** 
und  Lessings  „der  Tod",  (S.  79»  um  die  An- 
nahme eines  rein  geistigen  Schaueos  zurück- 
zuweisen), zu  1,  15  an  das  Schillersche  Sieges- 
fest   „wo    die    trojanische    Sage    auch    eine 
lyrisch-dramatisch-epische  Behandlung  erfahren 
hat**  (S.  92)  und  wegen   des  „prophetischen 
Elementes"  an  den  Donauübergsmg  im  Nibe- 
lungenliede, (S.  93)  zu  ni,  18,  3  (incedas)  an 
das  eleusische  Pest  „die  Königin  ziehet  ein", 
(S.  105)  zu  III,  I — 6  an  die  deutschen  Freiheits- 
sänger.    Wenn  er  aber  (S.  25)  den  Horatius, 
der  Od.  II,    4,    21,    bracchia    et    voltum    — 
„einer  Dirne  schön   Gesicht  mufe  allgemein 
sein,  wie*s  Sonnenlicht"  sagt  der  zweite  Jäger 
in    Wallensteins    Lager   —  teretesque    suras 
der  von   Xanthias  geliebten   Sklavin    preist, 
mit  dem  „Leipziger"  zusammenstellt,  der  die 
berühmte  Frau  topographisch,  wie  eine  F^estung 
aufnimmt,  so  mufs  ich   hingegen  im  Namen 
der  jüngeren   Generation,    welcher  der  Ver- 
fasser   (S.  31)    die    endgültige   Interpretation 
der  schwierigen   Kufsstelle  (Od.  II,  12,  25  f.) 
fiberläfst,  Einspruch  erheben.    Auch  im  zweiten 
Teile  folgt  auf  die  Detailuntersuchungen  eine 
„Zusammenfassung",    (S.    123 — 131)    worauf 
eine  Übersicht  der  vier  Odenklassen  und  ein 
Register  den  Beschluis  bilden.     Wir  können 
die  Schrift,  deren   einfacher   Stil   sich  wohl- 
thuend    von    dem    feuilletonistischen    Jargon 
unterscheidet,    der  uns  in   gewissen   neueren 
Erscheinungen  der   Horazlitteratur  so    unan- 
genehm   berührt,    den    Lesern    dieser    Zeit- 
schrift   bestens    empfehlen    und    sehen    dem 
noch  ausstehenden  dritten  Teile  mit  Spannung 
entgegen. 

München.  Karl  Weyman. 

Reinhardstoeftner,  Karl  von:  Die  klas- 
sischen Schriftsteller  des  Altertums 
in  ihrem  Einflüsse  auf  die  späteren 
Litteraturen.  Ein  Beitrag  zur  vergleichen- 
den Litteraturgeschichte.  I.  Band.  P 1  a  u  t  u  s. 
Spätere  Bearbeitungen  plautinischer 


Lustspiele.     Leipzig,  Verlag  von  Wilhelm 
Friedrich.     1886.     XVI,  793S.  8«. 

Dem  im  Vorwort  Raum  gegebenen  Zweifel 
des  Verfassers  darüber,  was  beschämender 
sei,  für  den  Autor  die  Herausgabe  einer 
Schrift,  wie  die  vorliegende,  oder  fiSr  den 
Rezensenten  die  kritische  Besprechung  der- 
selben, —  denn  das  überreiche  Material  kann 
natürlich  in  einer  auch  nur  relativ  vollstän- 
digen Weise  kaum  von  beiden  beherrscht 
werden  —  möchte  der  Unterzeichnete  in  An- 
sehung seiner  Beurteilung  der  ganz  bedeuten- 
den Arbeit  von  Reinhardstoettners  zum 
Teil  auch  för  sich  selbst  in  Anspruch  nehmen, 
gleichsam  als  Entschuldigung  oder  auch  als 
Rechtfertigung  seines  Beginnens.  Denn  der 
Verfasser  hat  unzweifelhaft  Recht,  wenn  er 
schreibt:  „Es  ist  für  einen  einzelnen  Forscher 
nicht  durchführbar,  die  gesamten  Nach- 
ahmungen z.  B.  der  plautinischen  Lustspiele 
nicht  allenfalls  bei  den  Kulturvölkern  Europas, 
sondern  nur  einem  einzigen,  etwa  Italien, 
nachzuweisen.**  Aus  naheliegendem  Grunde 
werde  ich  daher  mich  wohl  hüten,  mit  kritischer 
Subjektivität  meine  Ansichten  über  das  vor- 
liegende Werk  auszusprechen,  und  werde  mich 
vielmehr  lediglich  auf  eine  rein  sachliche 
Anzeige  des  vielumfassenden  Inhalts  der  inter- 
essanten Arbeit  beschränken. 

Der  Herr  Verfasser  selber  ist  bescheiden 
genug,  sein  Werk  nur  „eine  Grundlage  för 
fernere  Forschungen**  zu  nennen;  und  hatte 
er  trotz  des  unbestreitbaren  Erfolges  seiner 
vor  nunmehr  sechs  Jahren  in  gleichem  Ver- 
lage erschienenen  tüchtigen  Schrift:  „Die 
plautinischen  Lustspiele  in  späteren  Bear- 
beitungen, I,,  Amphitnio*  sich  anfänglich  in- 
folge der  übergrofsen  Schwierigkeit,  das  ge- 
samte Material  zu  bewältigen,  entschlossen, 
die  begonnene  Arbeit  nicht  weiterzuführen, 
so  ergab  sich  ihm  doch  glücklicherweise  ein 
anderer  Gesichtspunkt,  der  auch  bei  aller 
Strenge  der  Selbstkritik  die  Veröffentlichung 
seiner  Studien  gerechtfertigt  erscheinen  lieis  — 
„die  Rücksicht  auf  die  vergleichende 
Litteraturgeschichte.**  — „Hier  möchten,* 
schreibt  der  Herr  Verfasser,  „die  zahlreichen 
Lücken  eher  verzeihlich  erscheinen;  handelte 


Besprechungen. 


843 


es  sich  ja  doch  nicht  um  einen  Katalog 
aller  irgend  wo  einmal  erschienenen  Plautus- 
nachahmungen,  als  vielmehr  darum,  zu  zeigen, 
welche  von  den  Komödien  des  alten  römischen 
Lustspieldichters  hat  die  Teilnahme  der 
modernen  Völker  am  meisten  für  sich  be- 
ansprucht; welches  Volk  hat  sich  der  An- 
tike am  meisten,  welches  am  wenigsten  ge- 
nähert; was  ist  unter  verschiedenen  Himmels- 
strichen, zu  verschiedenen  Zeitaltem  und  unter 
dem  Einflüsse  verschiedener  religiöser,  poli- 
tischer, sozialer  Strömungen  aus  dem  gleichen 
Stücke  geworden  —  kurz:  wie  hat  sich 
dasselbe  Samenkorn  unter  den  ein- 
ander entgegengesetzten  Zonen  zu 
einer  mehr  oder  minder  bedeutenden 
Pflanze  entwickeln  können?  Wie 
könnte  sich  die  poetische  Fähigkeit,  das 
dichterische  Gestaltungsvermögen,  die  sitt- 
liche Anschauung  einzelner  Nationen  zu- 
treffender mit  einander  vergleichen  lassen, 
als  wenn  allen  so  zu  sagen  die  gleiche 
Aufgabe  gestellt  ist,  deren  Bearbeitung  er- 
geben wird,  wie  die  einen  ängstlich  am 
Wortlaute  des  Originals  haften  blieben,  an- 
dere sich  mit  der  Lokalisierung  des  Stoffes 
begnügten,  wieder  andere,  die  Freiheiten  des 
alten  Dichters  verabscheuend,  sein  Stück  zu 
einem  Moral ezempel  zu  gestalten  suchten, 
indessen  andere  gerade  hierin  ihr  Feld 
fanden  und  die  dem  Römer  kaum  mehr  ver- 
zeihliche Unmoralität  einzelner  Vorwürfe  in 
öppigster  Form  erweiterten,  wie  die  einen 
sich  von  der  leitenden  Hand  des  Meisters  nicht 
losrangen,  während  andere,  ihm  treu  zwar 
im  Greisen  und  Ganzen,  Meisterwerke  für 
alle  Jahrhunderte  schufen,  wie  Moli^re  mit 
seinem  „Geizigen?"  Diese  vergleichende 
Litteraturgeschichte,  auf  welche  die  gleichen 
Stoffe  in  ihrer  mannigfachen  Bearbeitung 
hinweisen  müssen,  gestaltet  sich  zu  einem 
Stück  Kulturgeschichte  und  findet  hierin  ihre 
höchste  Bedeutung.** 

Aus  diesem  Grunde  war  der  Verfasser 
mit  Recht  bestrebt,  sein  Hauptaugenmerk  in 
erster  Linie  nur  auf  die  bedeutendstenBearbei- 
ungen  der  plautinischen  Stücke  zu  richten,  wo- 
bei er  allerdings,  wie  es  mir  scheinen  will,  zu- 


weilen vielleicht  etwas  weitläufiger  auf  die  tiefer 
liegenden  Gründe  der  Veränderungen  infolge 
nationaler  Unterschiede  hätte  eingehen  können. 
Im  Ganzen  verfolgt  der  Herr  Verfasser  die 
Methode,  zuerst  immer  eine  genaue  Analyse 
des  betreffenden  von  Plautus  herrührenden 
Originals  zu  geben,  häufig  mit  Benutzung  des 
ursprünglichen  Wortlauts,  und  daran  an- 
knüpfend, die  einzelnen  Nachahmungen  je 
nach  Bedürfiiis  mehr  oder  weniger  ausführ- 
lich zu  besprechen.  Mit  g^ter  Einsicht  be- 
leuchtet der  Herr  Verfasser  bei  den  einzelnen 
Stücken  die  Gruppen  der  Charaktere  in 
übersichtlicher  Darstellung,  auch  bei  den- 
jenigen Stücken,  welche,  wie  z.  B.  Stichus 
und  Pseudolus,  den  Nachahmern  nur  ge- 
ringe Ausbeute  gewährten;  denn  alle  diese 
Gestalten  zusammen  aus  sämtlichen  Stücken 
(die  Kuppler  und  Parasiten,  die  grofsspreche- 
rischen  Soldaten,  die  Pedanten,  die  ver- 
schlagenen Sklaven)  sind  die  ruffiani  und 
arlecchini,  die  capitani  und  famiglii  u.  s.  w. 
der  spätem  Komödie  geworden;  ihr  Ge- 
samtbild ist  aus  allen  jenen  Stücken  ge- 
nommen, in  welchen  sie  bei  Plautus  spielen, 
und  darum  schien  ihre  Charakteristik,  wo 
immer  sie  vorkommen,  unentbehrlich.** 

Wenn  dem  Herrn  Verfasser  mit  Rücksicht 
auf  seine  frühere  kleinere  Arbeit  von  einigen 
Beurteilem  derselben  der  Vorwurf  allzu- 
häufiger fremdsprachlicher  Citate  gemacht 
worden  ist,  so  verteidigt  sich  derselbe  jetzt 
mit  verschiedenen  Gründen,  worunter  der 
stichhaltigste  in  dem  Hinweise  auf  die  Selten- 
heit so  mancher  an  Plautus  sich  anlehnenden 
Dichtungen  bestehen  dürfte.  Dafs  der  Herr 
Verfasser  in  dieser  Hinsicht  übrigens  mit  der 
gröfsten  Gewissenhaftigkeit  zu  Werke  ge- 
gangen ist,  ergibt  sich  unter  anderm  auch 
daraus,  daüs  er  an  mehr  als  an  einer  Stelle 
Gelegenheit  nimmt,  zu  erklären  und  nachzu- 
weisen, wie  mangelhaft  oder  gar  grundlos 
die  Berechtig^ung  so  mancher  seiner  litte- 
rarhistorischen  Vorgänger  gewesen  ist,  dies 
oder  jenes  Produkt  einer  späteren  Zeit  als 
Ausflufs  oder  selbst  als  Nachahmung  plau- 
tinischer  Arbeit  hinzustellen. 

Nach  Vorausnahme  dieser  die  prinzipielle 

23* 


1 


844 


Besprechungen. 


Anordnung  des  Buches  berQhrenden  Ausdn- 
andersetsungen  sei  es  gestattet,  einen  kurzen 
Blick  auf  den  reichen  Inhalt  des  trefiflichen 
Buches  selber  su  werfen. 

Herr  von  Reinhardstoettner  hat 
dasselbe  in  zwei  der  Natur  nach  ungleiche 
Teile  gegliedert,  deren  erster  auf  iii  Seiten 
in  groisen  Zügen  den  «ISinflufs  des 
Plautus  und  Terenz  auf  die  späteren 
Litteraturen"  schildert,  während  der 
zweite  Teil  die  Überschrift  trägt:  «Die 
plautinischen  Lustspiele  und  ihre 
hervorragendsten  Bearbeitungen.**  (S. 
115—776.) 

In  der  stilistisch  vortrefflich  geschriebenen 
Einleitung  (S.  i—- zi)  ist  besonders  die 
Wärme  erfreulich,  mit  welcher  der  Herr  Ver* 
fasser  gegen  die  heute  so  beliebte  und  durch 
Autoritäten,  wie  Fr.  Paulsen,*)  gestützte 
Verunglimpfung  des  Studiums  der  antiken 
Kultur  zu  Felde  zieht 

Bei  aller  Bewunderung  der  Antike  aber 
bewahrt  sich  der  Verfasser  stets  die  nötige 
Objektivität  in  der  Beurteilung,  welche, 
durch  einen  bis  in  die  scheinbar  geringfügigsten 
Einzelheiten  der  klassischen  philologischen 
Forschung  sich  erstreckenden  Fleiis  ge- 
wonnen, denselben  insbesondere  dazu  befähigen 
dürfte,  in  der  Folgezeit  nächst  dem  Plautus 
auch  die  Einwirkungen  zu  behandeln,  welche 
die  späteren  Litteraturen  von  Terenz, 
Aristophanes,  Aeschylus,  Sophokles,  Euri- 
pides,  Seneka,  sowie  von  den  griechisch- 
römischen Epikern,  Elegikem,  Lyrikern, 
Satirikern ,  Epigrammatisten ,  Didaktikem, 
Fabeldichtem  und  schlieislich  von  den  groisen 
Prosaikern  des  Altertums  erfahren  haben. 
Auf  den  nach  S.  11  folgenden  Blättern 
bespricht  der  Herr  Verfasser  die  Ansichten 
der  Alten  über  Plautus  und  Terenz  mit  mög- 
lichster Vollständigkeit  —  nur  hätte  derselbe 


•)  Vgl.  Friedrich  Paulsen,  Geschichte 
des  gelehrten  Unterrichts  auf  den  deutschen 
Schulen  und  Universitäten  vom  Ausgang  des 
Mittelalters  bis  zur  Gegenwart.  Mit  be- 
sonderer Rücksicht  auf  den  klassischen 
Unterricht     Berlin  1885. 


dabei  den  Plautus  möglichst  nach  der  von 
G.  Löwe  (t).  Fr.  Scholl  und  G.  Götz  fort- 
gesetzten Ritschlschen  Ausgabe  citiren 
sollen  — ,  geht  dann  über  auf  die  Aner- 
kennux^,  welche  die  genannten  Komiker  im 
Mittelalter  gefunden  haben,  im  Weiteren 
berührt  er  die  Gründe  für  die  Bevorzugung 
des  Terenz  dem  Plautus  gegenüber,  kommt 
sodann  auf  den  Terentius  Christianus  des 
Schonaeus  zu  reden,  führt  sodann  zahlreiche 
Belege  an  für  die  Aufführungen  der  Komö- 
dien der  beiden  Dichter  bis  auf  die  neueste 
^eit  hinein,  geht  auf  die  Nachahmtmgen  der- 
selben in  den  Schulkomödien  über,  wendet 
sich  dabei  im  einzelnen  zur  Besprechung  der 
lateinischen  Bearbeitungen  und  Nachahmung^ 
der  beiden  Alten  in  Italien,  in  Spanien,  in 
Portugal,  in  England,  in  den  Niederlanden, 
in  Frankreich,  in  Dänemark,  in  Schweden, 
in  Ungarn  und  schlieislich  in  Deutschland.  — 
Endlich  ist  von  groisem  Interesse  die  ge- 
schickte Darstelltmg  der  ständigen  Figuren 
in  den  Dramen  der  alten  Dichter,  wie  des 
Sklaven,  der  Soubrette,  des  Pädagogen,  des 
Parasiten,  des  Prahlers  u.  s.  w. 

Wenn  ich  mir  in  Bezug  auf  die  Aus- 
führungen des  Verfassers  im  einzelnen  ein 
paar  ausstellende  Bemerkungen  gestatte,  so 
geschieht  dies  mit  dem  Wunsche,  es  möge 
der  gelehrte  Herr  Verfasser  dieselben  bei 
seinen  von  allen  Freunden  der  vergleichenden 
Litteraturgeschichte  sehnlichst  erwartetes 
weiteren  Arbeiten  einer  prüfenden  Erwägung 
unterziehen.  So  fällt  dem  unbe^uigenen 
Leser  eüi  öf^er  wiederkehrender  Fehler 
auf,  der  auf  einen  Mangel  an  selbstständigem 
Urteil  schlielsen  lassen  könnte,  wenn  anders 
nicht  das  gesamte  Buch  das  G^enteil  er- 
wiese, die  Art  und  Weise  nämlich,  wie  der 
Herr  Verfisisser  mit  Hilfe  fremder  Dar- 
stellung, ja  nur  allzu  oft  mit  Benutzung  des 
z.  B.  in  Bemhardys  oder  in  Teuffels  be- 
kannten Werken  über  römische  Litteratur 
oder  von  anderen  Litterarhistorikem  ge- 
gebenen Wortlautes  selbst  seine  Ansichten 
ausspricht  So  schreibt  er  z.  B.  auf  S.  17: 
„Bei  der  Wahl  seiner  Stoffe  „„zog  ihn, 
den  römischen  Volksdicbter,  Philemon  mehr 


Besprechung«!. 


345 


an,  als  der  feine  Menander****  und  fügt 
die  Quelle  hinzu;  auf  S.  152  der  vierten 
Auflage  von  Teuffels  „R.  L.**  vom  Jahre 
1882  finden  sich  wirklich  dieselben  Worte. 
Ein  solches  Verfahren  möchte  einmal,  auch 
zwei-  und  dreimal  zu  entschuldigen  sein; 
allein  der  Herr  Ver£aisser  geht  in  dieser  Hinsicht 
zu  weit;  schon  auf  S.  18  findet  sich  wieder 
eine  wörtliche  Entlehnung  aus  Bemhardys 
römischer  Litteraturgeschichte;  es  sind  dies 
die  Worte:  ,, während  Plautus  aus  dem 
volkstümlichen  Idiom  ein  reines  und 
durchsichtiges  Latein  zog  und  seine  komischen 
Mittel  ein  dem  gemeinen  Manne  geniefsbares 
Lustspiel  bezweckten**  (auf  S.  219  der 
fünften  Bearbeitung  aus  dem  Jahre  1872); 
oder  der  Herr  Verfasser  benutzt  sogar  in  einem 
Satz  die  Worte  der  beiden  genannten 
Litteraturhistoriker,  wenn  er  auf  derselben 
Seite  (S.  18)  schreibt]:  ^Bei  allen  diesen 
Stücken  erwies  sich  Plautus  „„erfindsam  und 
frisch****  (Bemhardy,  S.  454),  mit  eigenem 
Witze,  der  „„häufig  derb  nicht  leicht  aber 
fad****  (Teuffei,  S.  162)  ist,  ausgestattet;** 
u.  s.  w.  Weshalb  bedient  sich  Herr  von  Rdn- 
hardstoettner  nicht  seiner  eigenen  Sprache, 
da  dieselbe  doch  ohne  Zweifel  das  Gleiche 
zu  leisten  vermag,  als  die  seiner  zahlreichen 
Gewährsmänner?  Macht  doch  ein  solches 
Verfahren,  auf  £ast  jeder  Seite  zur  Anwendung 
gebracht,  nur  allzuhäufig  den  Eindruck  com- 
pilatorischer  Arbeit  und  schädigt  die  ur- 
sprüngliche Frische  der  Darstellung. 

Von  dieser  Ausstellung  rein  äuiserer  Natur 
abgesehen  aber,  macht  auch  der  erste  Teil 
der  Arbeit  einen  mehr  als  blois  erfreulichen 
Eindruck  und  enthält  eine  Fülle  von  inter- 
essanten Einzelheiten,  die  sich  natürlich  ge- 
legentlich vermehren  lassen;  namentlich,  was 
die  l^nwirkung  des  Plautus  und  Terenz  auf 
die  Entwicklung  des  lateinischen  Schauspiels 
an  den  englischen  Hochschulen  Oxford  und 
Cambridge  anlangt.*) 

Der    zweite    Haüptteil    des    Werkes, 


*)  Ich  behalte  mir  vor,  gelegentliche  Nach- 
träge hierzu  in  dieser  Zeischrift  oder  sonst 
an  geeigneter  Stelle  bekannt  zu  geben. 


der  die  hervorragendsten  Bearbeitungen  der 
plautinischen  Lusstpiele  behandelt,  beginnt 
auf  S.  115  und  macht  den  wesentlichen  In- 
halt des  Buches  aus.  Die  Zahl  der  auf  jede 
der  einzelnen  Komödien  verwendeten  Seiten 
drückt  naturgemäfs  die  Menge  oder  die  Be- 
deutung der  jeweiligen  Nachahmungen  inner- 
halb der  Litteratur  eines  oder  mehrerer 
Völker  aus  und  giebt  somit  ein  zutreffendes, 
wenn  auch  zunächst  rein  äusserliches  Bild  von 
dem  Umfang  der  Einwirkung  der  verschiedenen 
Lustspiele  auf  die  nachahmenden  Dichter* 
So  weist  die  den  „Amphitruo**  behandelnde 
Darstellung  die  höchste  Zahl  auf;  ganze 
114  Seiten  (115  bis  229)  sind  einzig  dieser 
Komödie  gewidmet.  Die  Abhandlung  über 
die  „Menaechmi**  ist  die  nächstdem  umfang- 
reichste; sie  umfaist  105  Seiten  (S.  490—595); 
dann  folgt  die  „Aulularia**  mit  119  Seiten 
(S.  255—324);  den  geringsten  Einfluis  scheint 
der  nPersa**  ausgeübt  zu  haben,  dessen 
Inhalt,  weil  die  handelnden  Personen  nur 
Sklaven  sind,  von  den  Franzosen  gering 
geschätzt,  keine  direkte  Nachahmung  hervor- 
rief (S.  719—722).  Von  den  übrigen  sind 
die  nAsinaria**  behandelt  auf  S.  229  bis  255, 
die  „Captivi**  auf  S.  324-355,  der  „Curculio** 
auf  S.  355— 3ö5i  d^«  ..Casina**  aufS.  365-390, 
„die  Cistellaria**  auf  S.  390—400,  der 
„Epidicus**  auf  S.  401—426,  die  nBaccbldes** 
auf  S.  427—444,  die  „Mostellaria**  auf 
S.  444 — 489,  der  nMercator**  auf  S.  680—689; 
der  nPseudolus**  auf  S.  690—714;  der 
nPoenulus**  auf  S.  714 — 718,  der  „Rudens** 
auf  S.  712  —  736;  der  »Stichus**  auf  S. 
737 — 745»  ^^  „Trinummus**  auf  &  746  bis 
767 ;  endlich  der  „Truculentus**  auf  S.  767 
bis  776.  Den  Abschluis  des  ganzen  Werkes 
bildet  ein  vollständiges,  sechszefan  Seiten  um- 
fassendes Register. 

Was  die  Methode  der  Darstellung  an- 
langt, so  wäre  es  auch  hier  wünschenswert 
gewesen,  dais  der  Herr  Verfasser  bei  der 
Kritik  der  Wertschätzung  der  einzelnen 
Lustspiele  weniger  häufig  Wendungen  und 
Auslassungen  fremder  Gewährsmänner  wört- 
lich angeführt,  oder  auch  dem  Leser  ein 
Verzeichnis    der     verschiedenen    Plautusaus« 


346 


Besprechungen. 


gaben,  wie  auf  S.  115,  Anm.  6  fiir  den 
«Amphitruo'*  erspart  hätte,  da  durch  ein 
solches  der  Zweck  des  Herrn  Verfassers  natur- 
mäls  nicht  gefördert  werden  dQrfte.  Oft  geht  der 
Herr  Verfasser  auch  zu  verschwenderisch  um 
mit  seinem  Wissen;  so,  wenn  er  in  einer  länge- 
ren Anmerkung  auf  plastische  Darstellungen 
von  Szenen  der  Amphitruo-Sage  zu  reden 
kommt  (S.i  16)  oder  wenn  er  zur  Erklärung  des 
Namens  „Rhintonicae**  und  dergleichen  den 
Rahmen  und  Umfang  seines  Buches  unnötig 
erweiternde  Anmerkungen  macht.  Der  Herr 
Verfasser  hat  ja  sonst  soviel  zu  sagen,  dafs 
der  Leser  auf  solche  Abschweifungen  gerne 
verzichten  wird. 

Von  der  Reichhaltigkeit  des  Werkes  ge- 
winnt man  am  ehesten  eine  entsprechende 
Vorstellung,  wenn  man  z.  B.  die  interessante 
Abhandlung  über  den  MAmphitrao"*  liest. 
Auf  den  Seiten  117—124  liefert  der  Herr 
Verfasser  die  Inhaltsangabe  und  eine  zu- 
treffende Charakteristik  des  römischen  Ori- 
ginals. Sodann  geht  er  über  auf  die  Be- 
arbeitungen desselben,  unter  denen  de^' 
„Amphitryon"  («Geta  und  Byrrhia")  des  be- 
kannten Vitalis  Blefsensis  füglich  di'j  erste 
Stelle  einnimmt.  Darauf  giebt  der  Herr 
Verfasser  eine  Reihe  äufsert  dankenswerter 
bibliographisischer  Nachweise  und  im  An- 
schlüsse daran  bespricht  er  unter  Anführung 
erläuternder  Proben  (S.  130  f.)  die  Über- 
setzung dieser  Nachbildung  des  Originals 
durch  Eustache  Deschamps,  welche  aus  dem 
Jahre  1421  herrührt  Alsdann  kommt  die 
Reihe  an  den  italienischen  n^eta"  (S.  131 
bis  138);  dann  folgen  Spanien  (S.  138 — 146), 
Portugal  (S.  146—154),  welches  durch  keinen 
geringeren,  als  durch  den  grofsen  Camoes 
vertreten  ist,  nach  welchem  zwei  Jahrhunderte 
später  der  geniale  portugisische  Dichter, 
der  „Jude**  Don  Centonio  Jos^  da  Silva  dem 
Amphitruostoff  z.  T.  ganz  neue  Seiten  abge- 
wann (S.  115—161);  es  folgen  dann  die 
Nachahmungen  der  Italiener  (S.  161— 174)) 
wobei  der  Herr  Verfasser  von  der  formvol- 
lendeten Übersetzung  des  Originals  durch 
Colenuccio  (1530)  ausgeht,  um  im  weiteren 
den  Leser  überzuführen  zu  Lodovico  Dolce*s 


Komödie  „II  marito**  aus  dem  Jahre  1545 
'  (S.  163—174)  und  zu  Croto  Cieco's  höchst 
I  schlüpfrigem  Pastoraldrama  „La  CaUsto* 
I  (Venedig  1583),  wobei  der  Herr  Verfasser 
eingehend  verweilt.  Sodann  kommt  er 
(S.  174)  auf  Frankreich,  wo  zuerst  Jean 
Rotrou  unter  dem  Titel  „Les  Sosies"  (Paris, 
1636  und  1638)  eine  vollständige  Bearbeitung 
des  Amphitruo  für  die  französische  Bühne 
versuchte  (S.  174—177).  Dieses  Stflck, 
welches  eine  unzählige  Menge  von  MAmphi- 
tryon-Ballets**  veranlafst  bat,  wurde  durch 
die  am  13.  Januar  1668  auf  die  Bretter  ge- 
brachte Neubearbeitung  desselben  Stoffes  vod 
Seiten  Moli^res*  verdrängt,  welche  neunund- 
zwanzig mal  nach^einander  aufgeführt  werden 
mufiste.  „Mit  Molieres  Bearbeitung,* 
schreibt  der  Herr  Verfasser,  „war  der 
Amphitruo  ein  Stück  für  die  ganze 
Welt  geworden.*  Alle  auf  dieselbe  be- 
züglichen Fragen  finden  auf  den  Seiten 
179  bis  185  eine  durchaus  sachgemäise  und 
bei  aller  Kürze  umfassende  Darstellung.  Auf 
S.  186  begannt  die  Untersuchung  über  den 
Einfluss  des  Amphitruo  auf  die  Englischen 
Dramatiker,  wobei  naturgemäfs  dem  Interlude 
von  „Jack  Juggler"  aus  der  Mitte  des  sech- 
zehnten Jahrhunderts  der  zeitliche  Vorrang 
gebührt,  wenn  es  auch  vom  römischen  Ori- 
ginal in  vielen  Zügen  bedeutend  abweicht, 
ebenso  wie  Tomkins  „Albumazar**  (1615), 
während  Tho.  Heywood*s  „silver  age"  (1613) 
ganz  das  hält,  was  der  Titel  verspricht: 
„The  Silver  Age  including  the  love  of 
Jupiter  to  Alcmena*"  u.  s.  w.  (S.  193—197). 
Allgemeiner  bekannt  dürfte  das  nunmehr 
folgende  Stück  sein,  John  Dryden's  „Amphi- 
tryon  or  the  two  Sodas,  a  comedy"  (1690), 
dessen  Bearbeiter,  Dr.  Hawkesworth,  im 
Jahre  1792  der  veränderten  Geschmacks- 
richtung seines  Publikums  Rechnung  trug 
(S.  204 — 207).  Nunmehr  wendet  sich  auf 
S.  208  der  Herr  Verfasser  zu  Deutschland 
und  behandelt,  nach  einem  Hinweise  aus 
M.  Wolfhart  Spangenbergs  äufserst  seltene 
„Comödia,  inhaltend  die  Empfengknüss  vnd 
Geburt  Herculis,  auss  dem  Lateinischen 
Maccii  Accii  Plautii"  vom  Jahre  1608,  zunächst 


Bespr^iangen. 


847 


«eine  der  seltsamsten  Paraphrasen  des  Amphi- 
truo,  des  Johannes  Burmeister  Stück  nSacri 
Mater  Virgo.**  Daran  schlieisen  sich  inter- 
essante Nachweise  über  Amphitruobear- 
beitungen,  beziehungsweise  Aufführungen  in 
Dresden,  Wien  u.  s.  w.,  während  den  Schlufs 
der  gehaltreichen  Abhandlung  über  den 
„Amphitruo"  ein  Hinweis  auf  J.  D.  Falks 
im  ersten  BAndchen  vom  ^ Taschenbuch  für 
Freunde  des  Scherzes  und  der  Satire** 
(Leipzig  1797,  S.  215-316)  veröffentlichte 
dramatische  Szene  „Die  Uhu**  und  die  ein- 
gehenden Untersuchungen  bilden  über  Falks 
fönfaktiges  Lustspiel  „Amphitruon**  (Halle 
1804),  sowie  über  Heinrich  von  Kleists  nicht 
eben  allzuglücklicke  Nachbildung  desMoli^re- 
sehen  Lustspiels  aus  dem  Jahre  1807. 

Mit  gleicher  Gründlichkeit,  wie  die  eben 
besprochene  Komödie,  «sind  die  übrigen 
Stücke  des  Plautus  in  ihrer  Weiterbildung  inner- 
halb der  versclüedenen  Litteraturen  Europas 
behandelt  worden.  Der  Raum  gestattet  es 
nicht,  den  Inhalt  auch  der  folgenden  Abschnitte 
eingehend  zu  besprechen. 

Das  für  den  Litteraturfreund,  wie  für  den 
Philologen  von  Fach  ganz  unschätzbare 
Werk  ist  eine  fast  unerschöpfliche  Fundgrube 
für  die  gelehrte  Forschung,  welche  durch  die 
staunenswerte  Belesenheit  Keinhardstoettners 
nach  mehr,  als  einer  Seite  bin  befruchtet 
werden  dürfte.  Möchte  es  ihm  vergönnt 
sein,  das  auf  S.  9  gegebene  Versprechen 
im  Laufe  der  kommenden  Jahre  voll  und 
ganz  zu  erfüllen.  Die  internationale  Gelehrten- 
republik wird  ihm  im  hohen  Grade  dankbar 
dafür  sein. 

Der  Druck  ist  bis  auf  ein  paar  ver- 
schwindende Versehen  vortrefflich,  und  die 
glänzende  Aussattung  des  Buches  ist  würdig 
seines  gediegenen  Inhalts. 

Weimar.  Otto  Francke. 

GQnther,  Otto:  Plautuserneuerungen 
in  der  deutschen  Litteratur  des  XV.  bis 
XVn.  Jahrhunderts  und  ihre  Verfasser. 
Leipzig  1886.     92  S.     8'^. 

Eine  vielversprechende  Brstlingsarbeit 
des  Verfassers,  mit  welcher  er   die  Doktor- 


würde in  Leipzig  erlangte.  Sie  zeugt  von 
eingehenden  Studien  und  giebt  neue  wertvolle 
Aufschlüsse  Über  die  auf  Plautus  gerichteten 
Bestrebungen  des  Humanismus.  Wir  erfahren, 
dals  der  erste  deutsche  Plautusübersetzer 
Albrecht  von  Eyb  die  Anregung  zu  seinen 
Verdeutschungen  der  Menächmen  und  der 
Bacchides  in  Italien  erhielt  und  zwar  durch 
den  noch  ziemlich  unbekannten  Balthasar 
Rasinus,  Professor  in  Pavia,  der  1468  starb. 
Die  Entstehungszeit  der  Margarita  poetica, 
die  erst  1472  gedruckt  wurde,  fallt  nach 
Günthers  Untersuchungen  in  die  Jahre  1461 
bis  1464.  Der  Herausgeber  des  „Spiegels  der 
Sitten"*,  dessen  3.  und  4.  Teil  die  beiden 
Plautinischen  Komödien  (in  Verbindung  mit 
der  Philogenie  des  Ugolino  von  Parma) 
bilden,  Eybs  Neffe,  der  Bischof  von  Eichstätt 
Gabriel  von  Eyb,  beauftragte  den  Domherrn 
Johann  Huff  mit  der  Sichtung  des  Manuskripts, 
und  so  erschien  das  Werk  151 1,  also  fast 
ein  Menschenalter  nach  dem  Tode  des  Ver- 
fassers (t  1475)-  Da  dies  lange  Zeit  unbe- 
kannt war  oder  nicht  beachtet  wurde,  so 
wird  die  Lebenszeit  Albrecht  von  Eybs  in 
vielen  Litteraturgeschichten  falsch  angegeben ; 
er  soll  151 1  in  der  Vorrede  seines  Werkes 
dies  und  das  gesagt  haben;  ja  Otto  Francke 
in  seinem  Buche  «Terenz  und  die  lateinische 
Schulkomödie  in  Deutschland**  (Weimar  1877) 
läfst  ihn  noch  1537  am  Leben  sein,  weil  er 
gerade  eine  Ausgabe  dieses  Jahres  benutzt 
hat,  und  was  noch  schlimmer  ist,  läfst  Albrecht 
von  Eyb  bei  der  Namengebung  in  den  Menäch- 
men sich  auf  das  Beispiel  des  Hans  Sachs  be- 
rufen, dessen  Menächmenbearbeitung  erst  vom 
Jahre  1548  datiert.  —  Mit  bibliographischer 
Genauigkeit  führt  Günther  die  verschiedenen 
Ausgaben  der  von  A.  v.  Eyb  verdeutschten 
Komödien  auf.  Beiläufig  bemerke  ich,  dafs 
Ugolino's  Pbilogenia  eine  zweite  (poetische) 
Bearbeitung  erfahren  hat,  welche  Martin  Glaser 
zu  Nürnberg  1552  unter  diesem  Titel  erscheinen 
liefs:  „Ein  Comedi  und  Fafsnacht  Spil,  welches 
sagt  von  einer  Junckfrawen,  die  zu  bösen 
Ehren  beredt  wurd,  und  letstlich  einem  Baum 
für  ein  Junckfrawen  gegeben.**  (Exemplar  in 
Berlin,  königliche  Bibliothek,  Yp.  9341.) 


348 


Bespredmiigieii. 


Hans  Sachs  hat  nach  Albrechts  Über- 
seizung  gearbeitet,  ohne  den  lateinischen  Text 
aberbaupt  zur  Hand  gehabt  zu  haben.  —  Der 
Verfasser  läfet  nun  di«  Bespredim«  der  drei  ; 
lateinischen  nach  Plautus  gearbeiteten  pro-  ' 
saischen  Stücke  von  Jacob  Locher  und  { 
Christoph  Hegendorfer  folgen.  Lochers  ludi* 
cnun  drama  ist  eine  Fortsetzung  der  Asinaria. 
Wie  Lochers,  so  sind  auch  Hegendorfers 
Dramen  als  Jugendarbeiten  nicht  bedeutend.*) 
Aber  was  der  Verfasser  im  2.  Anhang 
(S.  70 — 91)  über  das  Leben  und  die  Werke 
dieses  Leipziger  Humanisten  bringt,  ist  in 
jedem  Betracht  die  Frucht  sehr  sorgfältiger 
Forschungen  und  eine  sehr  glückliche  Vor- 
arbeit für  eine  erschöpfende  Biographie,  die 
um  so  wünschenswerter  ist,  als  die  wenigen 
bis  jetzt  bekannten  biographischen  Notizen 
über  Hegendorfer  meist  fehlerhaft  sind  (vgl. 
den  betreffenden  Aufsatz  in  der  Allgemeinen 
deutschen  Biographie).  Den  Namen  Hegen- 
dorfer verdanken  wir  ebenfalls  dem  Verfasser. 
Unter  den  von  Schulmeistern  verfaüsten  und 
von  deren  Schülern  aufgeführten  Plautusver- 
deutschungen  bespricht  Günther  Joachim 
Greffs  Aulularia  (1535)1  Christoph  Freüslebens 
Stichus  (1539)1  Jonas  Bitners  Menächmen 
(1570);  bei  Bitner  bemerke  ich,  dals  dieser 
auiser  Buchanans  Jephthes  auch  des  Com. 
Crocus  Joseph  US  verdeutschte  (Strafsb.  1583, 
Exemplar  in  Berlin,  königliche  Bibliothek 
Yp.  761).  Von  Wolfhart  Spangenbergs 
deutschem  Amphltruo  (Strafsb.  1608)  hat 
Günther  leider  kein  Exemplar  aufgefunden. 
S.  39  ff.  bespricht  Günther  Martin  Hayneccius* 
Captivi  (1582)  und  giebt  im  i.  Anhang 
(S.  64—  70)  einige  bisher  nicht  veröffentlichte 
Nachrichten  Über  des  Grimmaer  Rektors 
Hayneccius  Leben,  die  den  Annalen  der 
Grimmaer  Fürstenschule  entstammen.  Jacob 
Ayrers  Comödia  von  zweyen  Brüdern  aus 
Syracusa  (1598)  ist  den  Menächmen  nach- 
gebildet, doch  sind  die  Abweichungen  sehr 


*)  Dafs  Hegendorfers  Comödia  nova 
in  Gottscheds  nötigem  Vorrat  II,  174 — 190 
wieder  gedruckt  ist,  konnte  wohl  Erwähnung 
fmden. 


bedeutend.  ENe  letzten  Bearbeiter  des  Flaatns, 
Heinrich  Zenckfrey,  Lehrer  am  grauen  Kloster 
in  Berlin,  und  Joh.  Burmeister  aus  Lüneburgi 
Fastor  zu  Gulzau,  haben  sich  mit  der  Anln- 
laria  und  dem  Amphitrao  be£dst,  der  erstere, 
indem  er  eine  deutsche  Cbertragung  mit 
vielem  dem  Geschmack  der  Zeit  angepaisten 
unnützen  Beiwerk  von  Zank-  und  Schimpf- 
Szenen  lieferte  (1607),  der  andere,  indem  er 
dos  Plantinische  Stück  unter  Entfernung  alles 
Anstößigen  zu  einem  lateinischen  Drama 
Mater- Virgo  (1621)  umgestaltete,  einem  Weih- 
nachtsspiele,  in  welchem  der  Teufel  Asmodes 
dem  Heiland  den  Makel  unehelicher  Geburt 
vergeblich  anzuheften  versucht  Am  Schlnfe 
steht  ein  deutscher  geistlicher  Hirtengesang 
von  der  Geburt  Christi.  Das  Stück  macht 
nach  Günther  einen  wunderlichen  Eindruck 
und  kann  nur  als  Kuriosität  registriert  werden. 

Wir  wünschen,  dafs  der  Verfasser  seine 
dem  Drama  des  XVI.  Jahrhunderts  zugewandten 
Studien  fortsetzen  und  die  Terenzemeueningen 
(Goedeke  II,,  317  f.)  zum  Gegenstande  seiner 
demnächstigen  Forschung  machen  möge. 

Wilhelmshaven.  Hugo  Holstein. 

Sohuohardt,  Hugo:  Romanisches  und 
Keltisches.  Gesammelte  Aufsätze. 
Berlin,  R.  Oppenheim  1886.  VII,  499  S.  8*. 
M.  7ySO. 

Es  ist  in  neuerer  Zeit  und  besonders  in 
Deutschland  eine  Art  Büchererzeugung  Mode 
geworden,  welche  gar  sehr  an  die  Port- 
pflanzungsart gewiiser  Pilze  erinnert.  Da 
entsteht  nSmlich  aus  den  Sporen  der  einen 
Fruktifikation  ein  Pilz,  der  von  demjenigen, 
von  welchem  die  Sporen  abstammen  ganz 
verschieden  ist,  aber  dennoch  nur  eine  Gene- 
ration desselben  darstellt,  indem  erst  aus 
seinen  Sporen  wieder  der  ursprüngliche  Püz 
hervorgeht.  So  ruft  jedes  neu  erschienene 
Buch  eine  Reihe  von  Kritiken,  Anzeigen  und 
Feuilletons  hervor,  welche  ja  gsmz  etwas 
anderes  als  ein  Buch  sind.  Aber  Herr  X., 
der  eine  gewilse  Zahl  solcher  kritisierender 
Feuilletons  geschrieben  hat,  denkt  sich: 
warum  soll  ich  nicht  auch  ein  Buch  machen 
wie  die  Herren  A,  B,  und  C,,  deren  Werke 


Besprechungfen. 


349 


ich  80  erfindlich  und  so  geistreich  besprochen 
habe.  Er  sucht  also  seine  alten  Aufsätze 
lusammen,  findet  auch  einen  gefälligen  Ver- 
leger und  8o  entsteht  aus  den  Sporen  wieder 
ein  frischer  Pilx.  Das  neue  Buch  des  Herrn 
X.  wird  nun  von  Herrn  Y.  kritisiert,  der 
wieder  nach  einiger  Zeit  seine  ,,gesammelten 
Anfsätse"  herausgiebt  Und  so  geht  es  fort 
sine  gratia  in  infinitum. 

Ich  will  damit  nicht  gesagt  haben,  dafs 
alle  Aufsätze,  die  einmal  in  Zeitungen  er- 
schienen sind,  das  Schicksal  von  Eintags- 
fliegen verdienen;  giebt  es  doch  so  viele, 
die  einen  unvergänglichen  Wert  besitzen  und 
die  auch  in  Buchform  wiederholt  gedruckt 
wurden,  wie  z.  R  die  Essays  von  liacaulay. 
Aber  der  groise  englische  Essayist  hat,  wohl- 
gemerkt, nicht  alle  seine  in  Zeitschriften  er- 
schienenen Aufsätze  des  Wiederabdrucks 
wfirdig  gehalten  und  eine  solche  weise 
Selbstkritik  haben  nicht  alle  kontinentalen 
Essayisten  geübt 

Ich  hätte  schon  lange  zu  diesen  Be- 
merkungen Anlais  gehabt,  aber  nach  der 
Lehre  Dantes 

Chi  Panimo  di  quel  ch*ode  non  posa, 
Ni  ferma  fede,  per  esempio  c*haia 
La  sua  radice  incognita  e  nascosa 
habe   ich    mit   ihnen   zurflckgehalten  bis  ich 
damit    einen    von    den     „höchsten    Gipfeln** 
treffen  konnte. 

Wenn  ein  Tagesschrübteller  dritten  oder 
vierten  Ranges  dem  GelQste,  aus  seinen 
Zeitungsartikeln  ein  Buch  zu  machen,  nicht 
widerstehen  kann,  so  kfimmem  wir  uns 
weiter  nicht  darum.  Wir  haben  nichts 
Grofses  erwartet  und  sind  nicht  enttäuscht 
worden. 

Wenn  at>er  ein  Mann  von  der  wissen- 
schafUichen  Bedeutung  und  stylistischen 
Eleganz  Hugo  Schuchardts  mit  einem  der- 
artigen Sammelwerke  vor  die  Öffentlichkeit 
tritt,  dann  fordern  wir  von  ihm  das  Beste 
und  werden  schmerzlich  enttäuscht,  wenn  wir 
neben  vielem  Guten  auch  ziemlich  viel  Mittel- 
mälsiges  finden,  Mittelmäüsiges,  das  kaum 
gut  war,  als  es  vor  zehn  oder  fünfzehn  Jahren 
in   den  Spalten    einer    Zeitung  erschien  und 


das   durch    das    lange   Liegen   nicht   besser 
geworden  ist« 

Macaulay,  dessen  Ansichten  Aber  das 
Herausgeben  „gesammelter  Aufsätze**  wir 
Jedem,  der  solche  Buchmacherei  beabsichtigt 
zur  Beherzigung  empfehlen,  Macaulay,  der 
sich  erst  dann  entschlofs,  eine  Sammlung 
seiner  Aufsätze  herauszugeben,  als  ameri- 
kanische Nachdrucker  unkorrekte  und  mit 
Unechtem  vermehrte  AbdrQcke  derselben  ver- 
anstalteten, Macaulay,  dieser  Meister  des 
Essays  hielt  eine  derartige  Sammlung  für 
etwas  sehr  Gewagtes,  den  Ruf  eines  Autors 
sehr  Gefährdendes.  Und  doch  handelte  es 
sich  bei  Macaulay  um^gr6fsere,  meistens  auf 
gründlicher  Forschung  beruhende  Arbeiten, 
während  man  heutzutage  kein  Bedenken 
trägt,  Eintagsfliegen,  für  das  Interesse  des 
Tages  berechnete  Feuilletons  nach  einem 
Dutzend  Jahren  dem  Publikum  als  Buch 
wieder  aufzutischen.  So  ein  Feuilleton  — 
mag  es  nun  unter  oder  über  dem  „Strich** 
—  erschienen  sein,  kann  ja  sehr  geistreich 
und  witzig,  sehr  fesselnd  und  glänzend  ge- 
schrieben sein ;  aber  wenn  es  uns  eine  halbe 
Stunde  oder  wenn  es  hoch  kommt  einen 
halben  Tag  unterhalten  hat,  dann  ist  sein 
Zweck  erfüllt.  So  wie  wir  uns  die  Süfsig- 
keit  eines  Bonbons  eine  Minute  lang  schmecken 
lassen,  so  geniefsen  wir  auch  ein  gutes 
Feuilleton.  Wer  wird  aber  Bonbons  auf 
ihren  Nährwert  prüfen  oder  den  wissenschaft- 
lichen Wert  eines  Feuilletons  untersuchen? 
Wenn  Schuchardt  gelegentlich  der  Aufführung 
der  Operette  „Boccaccio**  ein  recht  hübsches 
Feuilleton  über  den  Erzähler  der  hundert 
Novellen  schreibt,  so  lesen  wir  es  mit  Ver- 
gnügen, wenn  wir  auch  den  Kopf  darüber 
schütteln,  dals  er  in  einem  Atem  auch 
Attilio  Hortis*  grundgelehrtes  Werk  über 
Boccaccio  abthut,  ein  Werk  das  In  einem 
ausführlichen  gründlichen  Artikel  besprochen 
zu  werden  verdiente.  Wir  fiagten  damals 
nicht,  ob  auch  Schuchardt  das  Werk  von 
Hortis  aufinerksam  gelesen  hat  —  es  ist 
950  Seiten  in  Quarto  stark  —  und  ob  er 
gründliche  Studien  über  Boccaccio  gemacht 
hat.     Es  war  ja    ein  Feuilleton,    vorzüglich 


860 


Besprechungen. 


bestimmt  für  Jene,  welche  die  Operette 
Supp^s  hören  wollten,  und  wer  wird  mit 
einem  solchem  streng  ins  Gericht  gehen? 
Wenn  er  uns  aber  nach  sechs  Jahren  dieses 
Feuilleton  wieder  auftischt,  ohne  von  all 
dem,  was  in  dieser  Zeit  über  Boccaccio  ver- 
öffentlicht wurde,  Notiz  zu  nehmen,  wenn  er 
es  in  einem  Buche  wieder  abdruckt,  das  den 
so  interessanten  und  wertvollen  gediegenen 
Aufsatz  über  „Reim  und  Rhythmus  im  Deut- 
schen und  Romanischen**  enthält,  dann  ist  es 
mit  einem  „ allgemeinen  Schütteln  des  Kopfes** 
nicht  abgethan. 

Auch  der  Aufsatz  ^die  Geschichte  von 
den  drei  Ringen**  enthielt,  als  er  im  Jahre 
1871  erschien  fär  alle,  die  sich  mit  Boccaccio 
beschäftigen,  nichts  Neues.  Wozu  soll  der 
Wiederabdruck  nach  fünfzehn  Jahren  dienen.^ 

Der  Artikel  über  ,, Belli  und  die  römische 
Satire**,  war  als  er  vor  fünfzehn  Jahren  erschien 
sehr  interessant  und  belehrend,  ist  aber  jetzt 
nach  dem  Vielen,  das  seitdem  über  Belli 
publiziert  wurde,  etwas  veraltet.  Schuchardt 
hat  dies  selbst  gefühlt,  denn  er  bittet  wegen 
des  Wiederabdrucks  um  besondere  Nachsicht. 
Warum  soll  aber  ein  Mann  wie  Schuchardt 
um  Nachsicht  bitten  müssen?  Hätte  er  den 
Aufsatz  mit  Benutzung  der  einschlägigen 
Publikationen  umgearbeitet  und  vervoll- 
kommnet, so  hätte  er  nicht  um  Nachsicht  zu 
bitten  sondern  auf  Dankbarkeit  zu  rechnen 
gehabt. 

Und  diese  Dankbarkeit  möchten  wir  ihm 
för  den  Wiederabdruck  der  Artikel  über 
nCamoens**,  „Stecchetti**  und  ,,Französisch  und 
Englisch**  aussprechen,  namentlich  das,  was  er 
am  Ende  des  letzterwähnten  Aufsatzes  Über 
Romanen  und  Germanen  sagt,  kann  nicht 
genug  gelobt  und  beherzigt  werden.  Es 
sind  ja  auch  diese  Aufsätze  zumeist  durch 
das  Tagesinteresse  hervorgerufen  worden, 
aber  sie  haben  einen  weit  über  dieses  hinaus- 
reichenden Wert. 

Auch  die  Artikel  über  „Pompei**,  „Virgil  im 
Mittelalter**,  „Liebesmetaphem**  haben  bleiben- 
des Interesse,  dagegen  hätten  „Ariost**,  „Eine 
portugiesische  Dorfgeschichte**  und  „eine 
Diezstiftung**    gut    wegbleiben   können.     Der 


Diez-Aufsatz  war  als  er  vor  neun  Jahren  tj- 
schien  gewifis  zeitgemäfs  und  nützlich;  aber 
—  er  hat  seinen  Zweck  erfüllt  und  sein 
Wiedererscheinen  dünkt  uns  etwas  fiberflüssig. 
Die  pi^ces  de  r^istance  von  Schuchardts 
Buch  sind  die  Aufisätze  über  «Goethe  und 
Calderon**  und  die  „Keltischen  Briefe**;  sie 
nehmen  von  den  436  Seiten  des  Textes  157 
und  mehr  als  die  Hälfte  der  Anmerkungen 
ein.  Ober  die  Calderon-Goethe-Aufsätze  zu 
urteilen  will  ich  einem  kompetenteren  Richter 
überlassen.  Die  keltischen  Briefe  machen 
auf  keine  wissenschaftliche  Bedeutung  An- 
spruch. Sie  sind  sehr  hübsch  und  amüsant 
geschrieben,  Schilderungen  von  Land  und 
Volk  im  FÜrstentupi  Wales,  die  ich,  als  sie 
vor  acht  bis  zehn  Jahren  erschienen,  mit 
vielem  Behagen  gelesen  habe  und  die  ich 
jetzt  gern  zum  zweiten  Male  las.  Sie  dürften 
auch  Kennern  des  Ländchens  nicht  veraltet 
erscheinen,  denn  es  wird  sich  dort  in  den 
paar  Jahren  nicht  vieles  geändert  haben. 

Ziehen  wir  nun  die  Summe  aus  unseren 
Betrachtungen,  so  ergiebt  sich  als  Resultat: 
„Weniger  wäre  mehr!**  Hätte  Schuchardt, 
etwa  mit  Hilfe  eines  aufrichtigen  Freundes 
eine  strenge  Auswahl  unter  seinen  Arbeiten 
getroffen,  manches  ganz  weggelassen,  anderes 
unter  Berücksichtigung  der  Arbeiten  Anderer 
verbessert  und  vervollkommnet,  so  hätten  wir 
statt  eines  Buches  von  über  vierhundert 
Seiten  eines  von  zwei-  bis  dreihundert  zu 
beurteilen  gehabt.  Wir  hätten  anstatt  manches 
zu  tadeln  und  manches  zu  loben  nur  zu  loben 
gehabt.  Mit  einem  Worte,  es  wäre  ein  Buch 
geworden  wie  man  es  von  Schuchardt  zu  er- 
warten berechtigt  ist. 

Fragt  man  nun,  wozu  das  Alles  gesagt 
wurde,  da  doch  Schuchardt  unseres  guten 
Rates  nicht  bedarf,  so  antworte  ich,  dafs 
ich  mir  auch  nicht  anmafse  ihn  zu  belehren, 
wohl  aber  eine  schwache  Hoffnung  habe, 
dafs  sich  manche  Dii  minorum  gentium  das 
hier  Gesagfte  zu  Herzen  nehmen  werden. 
Vielleicht  werden  sie  an  das 

Quid  sum  miser  tunc  dicturus 
Quem  patronum  rogaturus 
Quum  vix  justus  sit  securus. 


BesprechungexL 


351 


aich  erinnernd,  es  sich  zwei-,  dreimal  über- 
legen bevor  sie  ihre  gesanunelten  Aufsätze 
in  K Buchform**  erscheinen  lassen  und  dann 
mit  Hilfe  eines  strengen  Richters  eine  Aus- 
wahl treffen.  Und  wenn  die  Sflnder  der 
Feder  auf  meine  Worte  nicht  achten,  viel- 
leicht thun  es  die  patroni  —  die  Verleger 
und  lassen  sich  dann  um  so  schwerer  finden. 

Wien.  Marcus  Landau. 

> 

Meyer,  Paul:  Alexandre  legrand  dans 
la  litt^rature  franpaise  du  moyen  äge. 
Paris  1886  bei  Vieweg.  2  Bde.  Band  I  Texte. 
XXm,  343  S.  Band  II  histolre  de  la  le- 
gende, 400  S.    8*. 

Für  die  mittelalterlichen  Vulgärsprachen 
ist  es  von  der  gröfsten  Bedeutung,  wenn 
Stoffe,  welche  im  Mittelalter  überall  bekannt 
und  beliebt  waren,  wie  dies  z.  B.  mit  dem 
klassischen  Sagenkreise  der  Fall  ist,  an  erster 
Stelle  dort  eine  genauere  Untersuchung  er- 
fahren, wo  sie  zuerst  auftreten.  Die  Litte- 
raturgeschichte  der  mittelalterlichen  Völker 
ist  eigentlich  eine  vergleichende  zu  nennen, 
da  ja  niemals  Entlehnung  und  Übernahme  so 
im  Schwange  war,  als  in  jenen  Zeiten.  Die 
Erscheinungen  der  einzelnen  Litteraturen 
können  nur  im  Zusammenbange  mit  den 
anderen  begriffen  werden  und  in  den  meisten 
Fällen  werden  wir,  soweit  es  sich  nicht  ge- 
radezu um  ausschliefsliches  Nationalprodukt 
eines  Volkes  handelt,  auf  die  französische 
Litteraturgeschichte  als  Ausgangspunkt  zu- 
rückgehen müssen.  Jeder  Schritt,  der  auf 
dem  Gebiete  der  altfranzösischen  Litteratur- 
geschichte näher  zum  Ziele  führt  und  Klar- 
heit über  bisher  noch  dunkle  Punkte  ver- 
breitet, ist  darum  mit  Freuden  zu  begrüfsen, 
da  oft  auch  andere  Nationen  und  vor  allem 
wir  Deutschen  davon  Förderung  erwarten 
dürfen.  P.  Meyer  hat  die  Geschichte  der 
Alexandersage  einer  eingehenden  Unter- 
suchung unterworfen  und  ihre  Entwicklung 
in  klarer  Weise  dargestellt.  Der  erste  Band 
enthält  zum  gröfsten  Teil  noch  unedierte 
Texte  und  bietet  ein  reiches,  verlässiges 
Material  für  Untersuchungen.  Von  der  Alex- 
andersage waren   bisher  nur  das  Fragment 


'  des  Alberich  von  Besan^on  bekannt  und  der 
Roman  in  Alexandrinern,  von  Michellant  aber 
nach  einer  durchaus  ungenügenden  Hand- 
schrift mit  Benutzung  einer  zweiten  heraus- 
gegeben. Ausser  dem  Fragment  des  Albe- 
rich enthält  der  erste  Band  zwei  grosse 
Stücke  einer  Redaktion  in  zehnsilbigen  Ver- 
sen nach  der  Handschrift  der  Arsenalbiblio- 
thek zu  Paris  und  einer  Venezianerhandschrift. 
S.  59 — 105  enthält  Fragmente  der  Version 
in  Alexandrinern  ebenfalls  nach  der  Pariser 
Handschrift.  S.  115 — 175  ist  der  Anfang 
des  Romanes  nach  der  Handschrift  789  der 
Pariser  Nationalbibliothek  gegeben,  welche 
verschiedene  Tiraden  enthält,  die  in  der 
gewöhnlichen  von  Michellant  edierten  Redak- 
tion fehlen.  S.  177 — 236  giebt  Teile  aus 
der  Version  des  Thomas  von  Kent,  und  zwar 
ein  Inhaltsverzeichnis  nach  einem  Durham- 
Manuskript  und  Textauszüge  aus  einer  Pariser 
Handschrift.  Der  zweite  Band  enthält  nun 
eine  Geschichte  der  Legende.  Kapitel  I — IV 
werden  die  lateinischen  Quellen  behandelt, 
welche  als  der  Ausgangspunkt  für  die  fran- 
zösischen Bearbeitungen  zu  gelten  haben. 
Es  kommen  hauptsächlich  zwei  lateinische 
Übersetzungen  der  griechischen  Geschichte 
des  Pseudo-Callisthenes  in  Betracht:  die  des 
Julius  Valerius  und  diejenige,  welche  unter 
dem  Namen  der  historia  de  proeliis  Alexan- 
dri  bekannt  ist.  J.  Valerius  war  im  Mittel- 
alter hauptsächlich  in  einer  gekürzten  Form 
bekannt,  in  der  Epitome;  diese  ist  es  auch, 
der  die  französischen  Bearbeitungen  folgten. 
Nach  einem  Oxforder  Manuskript  weist  der 
Verfasser  (S.  20  ff.)  überzeugend  das  Vor- 
handensein von  Versionen  nach,  welche  in 
der  Mitte  zwischen  den  meist  einzig  berück- 
sichtigten vollständigen  und  stark  gekürzten 
Valeriusfassungen  liegen.  An  die  Epitome 
anschliefsend  und  meistens  auch  in  denselben 
Handschriften  mit  ihr  erhalten  ist  der  Brief 
des  Alexander  an  Aristoteles,  welcher  die 
Wunder  und  Abenteuer  des  indischen  Zuges 
schildert.  Dieser  Brief  scheint  sich  vom 
ursprünglichen  Pseudo  -  Callisthenes  (resp. 
seiner  Übertragung  des  Valerius  III,  17)  ab- 
gezweigt   und     eine    Sonderexistenz    weiter 


353 


Besprechungen. 


geführt  XU  haben.  Ebenso  steht  es  mit  dem 
Briefwechsel  zwischen  Alexander  und  dem 
König  der  Brahmanen,  Dindimus,  in  dem 
letzterer  Aufschluls  Ober  die  in  seinem  Reiche 
herrschenden  Sitten  und  Gebräuche  erteilt. 
Die  historiadeproeiiis  ging  aus  einem  von  dem 
J.  Valerius  vorliegenden  wesentlich  verschie- 
denen Texte  des  Pseudo-Callisthencs  hervor. 
Die  letzte  in  Betracht  kommende  Quelle  ist 
das  iter  ad  paradisum.  Kapitel  IV  enthält 
einen  nicht  direkt  zur  Sache  gehörigen  £x- 
curs  Aber  zwei  historische  Kompilationen, 
deren  eine,  welche  Meyer  die  von  St.  Alban 
nennt,  den  Zweck  hat,  den  fabulösen  Tradi- 
tionen eine  auf  wirkliche  historische  Quellen 
gestützte  gegenüber  zu  stellen.  Später  wurde 
ein  weiterer  Versuch  gemacht,  die  Angaben 
des  Valerius,  gegen  welche  jene  erste  Kom- 
pilation offenbar  sich  richtet,  mit  eben  dieser 
zu  verschmelzen. 

Die  Untersuchung  Ober  die  lateinischen 
Quellen  ist  hiermit  abgeschlossen  mit  dem 
bereits  S.  39  mitgeteilten  und  im  weiteren 
Verlaufe  mehrfach  gestützten  Resultat:  dais 
fOr  die  ältere  Zeit  Valerius  und  der  Brief  an 
Aristoteles  verwendet  werden,  während  die 
historia  erst  später  beigezogen  wird.  Kapi- 
tel V  ist  Alberich  von  Besan9on  gewidmet, 
und  zwar  Untersuchungen  über  seine  Metrik 
und  Sprache  und  seine  Quellen.  Bemerkens- 
wert ist  die  von  Meyer  im  Texte  einge- 
führte Korrektur  von  „omne**  -  hominem  för 
das  fehlerhafte,  von  den  Herausgebern  aber 
unbeanstandete  handschriftliche  „oume.**  In 
seinen  sprachlichen  Untersuchungen  kommt 
der  Verfasser  zu  dem  Schlüsse,  dais  als  Hei- 
mat des  Dialektes  Besan9on  absolut  aus- 
geschlossen bleibe  (er  vermutet  S.  93  und 
I  S.  XVII,  Anmerkung,  vielleicht  falschlich 
für  Brianpon  oder  Pisan^on),  und  entscheidet 
sich  für  Lyonnais  oder  Dauphin^,  zwischen 
dem  44,30.  und  45.  Breitegprad  (vgl.  die  Ab- 
handlung von  Flechtner,  Die  Sprache  des 
Alexanderfragments,  Breslau  i88z,  welche 
ebenfalls  für  das  Fragment  den  Dialekt  von 
Lyon  ansetzt).  Die  Quelle  ist  die  Epitome 
des  Valerius,  welche  Alberich  nur  in  Bezug  auf 
Alexanders  Abstammung  wahrscheinlich  nach 


Orosius  III,  XI  berichtigt.  Interessant  für 
die  Sagengeschichte  sind  die  Bemerkan^fen 
auf  Seite  95  und  96.  S.  93  verwirft  Meyer 
die  Ansicht,  welche  man  sich  nach  A.  37 
„dicunt  alquant  estrobatour**  bilden  könnte, 
dass  nämlich  bereits  Erzählungen  von  Alexan- 
ders Geburt  nach  Pseudo-Callisthenes  um- 
liefen; ich  vermag  dem  nur  entgegenzuhalten, 
dafs  der  Ausdruck  „estrobatour"*  für  lateinische 
Texte  mir  sehr  seltsam  vorkommt.  Man 
müiste  eben  annehmen,  dais  diese  Version 
durch  Alberich  völlig  zurückgedrängt  wurde 
und  erst  etwa  in  der  Version  des  Thomas 
von  Kent  (Band  I  S.  197 — 308)  und  in  der 
Baseler  Handschrift  des  Lamprecht,  wenn 
diese  einer  französischen  Vorlage  folgte, 
wieder  auftauchte,  doch  können  beide  auch 
ebensogut  direkt  aus  der  lateinischen  Quelle 
geschöpft  haben.  Kapitel  VI  behandelt  die 
Redaktion  in  zehnsilbigen  Versen.  Hier 
bringt  mit  dem  neuen  Stoffe  Meyer  auch 
durchaus  neue  Gedanken  vor.  Diese  Redak- 
tion schliefst  sich  zunächst  genau  an  Albe- 
rich und  später  an  dessen  Quelle,  an  Vale- 
rius, an.  Beide  Handschriften,  die  Venezianer 
und  die  Pariser,  brechen  an  derselben  Stelle 
ab,  bei  Alexanders  Zug  gegen  den  Könige 
Nicolaus;  es  ist  darum  wahrscheinlich,  dafe 
das  Gedicht  Überhaupt  nicht  weiter  gereicht 
hat  und  eine  Neubearbeitung  des  Alberich- 
sehen  Werkes  bietet,  das  ebenfalls  nur  bis 
zu  diesem  Punkte  reichte.  Eine  Stütze  erhält 
diese  Ansicht  durch  den  Umstand,  dafs  auch 
in  Lamprechts  Gedichte  von  hier  an  eine 
Verschiedenheit  bemerkbar  wird.  Während 
nämlich  Lamprecht  seither  eine  ziemliche 
Unabhängigkeit  von  den  lateinischen  Quellen 
aufwies,  die  sich  wohl  am  leichtesten  daraus  er- 
klärt, dafs  er  aus  Alberich  und  nicht  aus  ihnen 
schöpfte,  schliesst  sich  von  nun  an  Lamprecht 
ziemlich  genau  an  die  Epitome  des  Valerius, 
an  den  Brief  Alexanders  an  Aristoteles  und  an 
das  iter  ad  paradisum  an ;  also  auch  seine  fran- 
zösische Vorlage  scheint  hier  abgebrochen 
zu  haben.  Eine  durchaus  verschiedene  An- 
sicht findet  sich  bei  Kinzel  in  der  Ausgabe 
des  Alexanderliedes.  Kinzel  betrachtet  die 
historia  de  proelüs  als  die  Quelle  Lamprechts, 


Besprechungen. 


853 


resp.  Alberichs,  doch  scheint  sich  diese  An- 
nahme schon  dadurch  zu  widerlegen,  dais, 
wie  ein  auch  nur  flüchtiger  Überblick  fiber 
die  von  Kinzel  unter  dem  Texte  beigezogenen 
Stellen  der  historia  zeigt,  zur  Erklärung  sehr 
häufig  auf  Valerius  rekurriert  werden  mufs. 
Des  Verfassers  hier  niedergelegte  Beob- 
achtungen werfen  ein  sehr  interessantes 
Licht  auf  die  Quellenirage  des  deutschen 
Gedichtes  und  sind  einer  von  diesem  Stand- 
punkte aus  unternommenen  genaueren  Nach- 
prüfung wert.  £s  liegt  viel  Bestechendes  in 
dieser  Ansicht.  Die  reizende  Episode  mit 
den  Blumenmädchen  auf  dem  indischen  Zuge 
wäre  demnach  nicht  von  Alberich,  sondern 
von  Lamprecht  zuerst  in  die  Litteratur  ein- 
geführt worden  nach  irgend  einer  lateinischen 
Vorlage,  da  sie  sich  nämlich  im  Briefe  nicht 
vorfindet.  Ich  gestehe  allerdings,  dass  ich 
dies  eher  Alberich  zutraue  als  seinem  deutschen 
Übersetzer.  Die  umfangreichsten  Kapitel,  VII 
und  Vm,  enthalten  im  Anschluis  an  die  in 
Romania  XI  pag.  313  ff.  veröffentlichte  „^tude 
sur  les  manuscrits  du  roman  d* Alexandre** 
eine  Untersuchung  über  das  Verhältnis  der 
einzelnen  Teile  des  Romanes  zu  den  lateini- 
schen Quellen,  über  die  verschiedenen  Ver- 
fasser etc.  Sie  ist  unternommen  auf  Grund 
des  handschriftlichen  Materiales,  das  bisher 
unediert  ist,  und  dient  als  Vorarbeit  zu 
einer  kritischen  Ausgabe  des  Romanes.  Wir 
können  uns  auf  Einzelheiten  nicht  einlassen 
und  begnügen  uns,  Über  die  Hauptresultate 
zu  berichten.  Meyer  unterscheidet  drei  Ver- 
fasser, Lambert  le  Tort,  Alexandre  de  Ber- 
nai  und  Pierre  de  St.  Cloud,  und  vier  gröfsere 
Abteilungen.  Lambert  ist  der  Verfasser  der 
dritten,  ältesten;  sie  enthält  des  Darius  Tod 
und  die  indische  Expedition.  Quellen:  der 
Brief  und  die  Epitome  des  Valerius.  Einige 
Interpolationen  wurden  erst  später  hin- 
eingetragen. Alexanders  Jugendgeschichte 
existierte  bereits  in  Alberichs  Gedicht  und 
der  neuen  Bearbeitung  in  Zehensilblem.  Die 
vierte  Abteilung  stammt  von  zwei  Verfassern, 
Alexandre  de  Bemai,  welcher  der  historia 
de  proelüs  folgte,  und  Pierre  de  St.  Cloud, 
der  seinerseits  sich  an  die  Epitome  anschlofs. 


Der  Roman  befand  sich  einmal  in  einem  Zu- 
stande, daüs  die  Jugendgeschichte  Alexanders 
in  der  Zehnsilbler-Redaktion  vorausstand,  ihr 
folgte  in  Alexandrinern  Lamberts  Werk  und 
dann  der  Schlufs  von  Alexander.  Dies  wird 
repräsentiert  durch  die  Handschriften  von 
Venedig  und  der  Arsenalbibliothek.  Das 
letzte  Stadium  ist  die  Umarbeitung  der  Jugend- 
geschichte in  Alexandriner,  ferner  der  Ein- 
schub  einer  grösseren  Abteilung  zwischen 
deren  Schlufs  und  den  Anfang  von  Lamberts 
Gedicht,  bestehend  aus  einer  „Fuerre  de 
Gadres**  und  Elementen  aus  Josephus  und 
Quintus  Curtius  entlehnt,  ebenfalls  Alexanders 
Werk.  Der  Verfasser  argumentiert  aus  Wider- 
sprüchen in  den  einzelnen  Teilen  und  aus 
der  verschiedenartigen  Quellenbenutzung. 
Die  Darstellung  ist  ziemlich  einleuchtend. 
Völlig  entschieden  werden  dürfte  die  Frage 
erst  mit  einer  kritischen  Ausgabe  und  den 
dadurch  gegebenen  weiteren  Beweisen  aus 
sprachlichen,  stilistischen  etc.  Gründen.  Kapi- 
tel IX  beschreibt  die  Fortsetzung  des  Romanes, 
in  der  „vengeance  Alexandre**  des  Gui  de 
Cambrai  und  Jean  de  Nevelois.  Kapitel  X 
handelt  über  den  „roman  de  toute  chevale- 
rie"  des  Thomas  oder  Eustache  de  Kent. 
Vier  Handschriften  desselben  werden  be- 
schrieben (Band  I  enthält  Auszüge  aus  einer 
Pariser  Handschrift).  Der  hier  gegebene 
Alexander-Roman  bildet  die  Grundlage  für 
das  mittelenglische  Gedicht  King  Alisaunder. 
Kapitel  XI  giebt  eine  Beschreibung  dreier 
prosaischen  Romane,  einerfranzösischen  Über- 
setzung der  Epitome  und  des  Briefes,  einer 
Übersetzung  der  historia  de  proeliis  und  der 
aus  anderen  Materialien  geflossenen  Gesc  ichte 
Alexanders  von  Jean  Wauquelin.  In  Kapitel 
XII  finden  sich  Bemerkungen  über  die  Alex- 
andersage, soweit  sie  als  wahre  Geschichte 
aufgefalst  sich  in  lateinischen  und  französi- 
schen historischen  Kompilationen  vom  XII. 
bis  zum  XV.  Jahrhundert  Eingang  verschaffte. 
Auch  einzelne  Episoden,  losgelöst  vom  Gan- 
zen, sind  in  geschichtliche  und  romanhafte 
Werke  Übergegangen,  wie  an  einem  Beispiel, 
dem  iter  ad  paradisum  erläutert  wird  (Kapitel 
XIII).    Das  letzte,  XIV.,  Kapitel  enthält  einige 


354 


Besprechungen. 


I 


Beobachtungen  allgemeinerer  Natur  über  die  in 
allen  dichterischen  Quellen  verbreitete  Kennt- 
nis der  Sage  und  Qber  die  durch  die  Zeit 
bedingte  Variabilität  der  Anschauung  Qber 
den  Charakter  des  makedonischen  Königs. 

Das  auch  äufserlich  sehr  gut  ausgestattete 
Werk  Paul  Meyers  zeichnet  sich  durch  eine 
klare,  lichtvolle  Darstellung  des  Gegenstandes 
aus,  durch  eine  bemerkenswerte  Sicherheit 
des  Urteils,  die  nur  aus  einer  langen  Beschäf- 
tigung mit  dem  Stoffe  resultieren  kann.  Für 
die  Litteraturgeschichte  beruht  der  Haupt- 
gewinn in  dem  strikt  geführten  Nachweise, 
wie  sich  die  Dichter  zu  den  Stoffen  des 
klassischen  Sagenkreises  verhielten.  Nicht 
die  Erfindung  von  Abenteuern  kommt  ihnen 
zu,  der  Stoff  ist  vielmehr  genau  und  fest 
gegeben.  Ihre  eigene  Thätigkeit  beschränkt 
sich  darauf,  die  Personen  und  Verhältnisse 
in  das  Gewand  ihrer  Zeit  zu  kleiden.  Sehr 
wertvoll  ist  das  Buch  durch  die  neu  edierten 
Texte  und  die  Angaben  über  eine  grofse  An- 
zahl vom  Verfasser  studierter,  sonst  nur  wenig 
und  ungenügend  bekannter  Handschriften. 

Die  Vorzüge  liegen  nicht  allein  in  dem 
neu  gegebenen  Materiale,  in  den  aus  diesem 
gewonnenen  Resultaten,  sondern  auch  in  den 
vielen  lebendigen  Anregungen,  welche  die 
Forschung  nach  verschiedenen  Richtungen 
durch  die  vom  Verfasser  aufgeworfenen  und 
angebahnten  Fragen  erhält.  Nicht  sowohl  in 
Einzelfragen,  als  auch  in  allgemeinen  An- 
schauungen über  die  Verhältnisse  der  alt- 
französischen Litteratur  erhält  man  durch  das 
Buch  vielfach  Förderung  und  Klärung,  und 
wir  sind  dem  Verfasser  zu  Danke  verpflichtet 
für  die  eingehende,  zusammenfassende  Be- 
handlung der  für  die  vergleichende  Litteratur- 
geschichte des  Mittelalters  so  überaus  wich- 
tigen Alexandersage. 

München.  Wolfgang  Golther. 

Bieling,  Alexander:  Quellenschriften 
zur  neueren  deutschen  Litteratur.  No.  i 
Gottscheds  Reineke  Fuchs.  Abdruck  der 
hochdeutschen  Prosa-Übersetzung  vom  Jahre 
1753.     Halle.     M.  Niemeyer.     1886. 

Die    stattliche    Reihe    von    Neudrucken,   , 


welche  seit  Braunes  bekannter  Sammlung 
bereits  zu  Tage  getreten  ist,  soll  durch  obiges 
Unternehmen  abermals  einen  Zuwachs  er- 
halten. Es  handelt  sich  darum,  seltene  Drucke, 
welche  bedeutenden  Werken  unserer  neueren 
Litteratur  als  Quelle  dienten,  weiteren  Kreisen 
aufs  neue  zugänglich  zu  machen;  gewiss  ein 
dankenswertes  Vorhaben,  welchem  der  Erfolg 
umsoweniger  fehlen  wird,  je  mehr  die  histo- 
risch-philologische Richtung  gegenwärtig  auch 
das  Studium  der  modernen  Litteratur  be- 
herrscht. Ein  Wiederabdruck  von  Gottscheds 
Übersetzung  des  Reineke  Fuchs,  der  Haupt- 
quelle für  Goethes  Dichtung,  eröffnet  die 
Serie  und  giebt  nun  Jedermann  bequeme 
Gelegenheit,  sich  selbständig  davon  zu  über- 
zeugen, wie  eng  sich  der  Dichter  an  Gott- 
sched anschlofs  und  mit  wie  erstaunlich  ein- 
fachen Mitteln  er  dessen  immerhin  etwas 
steifleinene  Prosa  in  jene  Hexameter  umgols, 
deren  schalkhafte  Grazie  dem  alten  viel- 
behandelten Stoffe  erst  die  endgültige,  klassi- 
sche Form  gab.  Eine  erschöpfende  Unter- 
suchung des  Quellenverhältnisses  wird  zwar 
immer  die  Hinzuziehung  des  niederdeutschen 
Originals  erheischen,  welches  Goethe  in 
zweiter  Linie  benutzte  und  welches  er  in  einigen 
Fällen  besser  verstanden  hat  als  sein  Gewährs- 
mann ;  trotzdem  wird  man  nichts  dagegen  ein- 
zuwenden haben,  dafs  in  Anbetracht  der 
leicht  zugänglichen  Ausgaben  des  Reineke 
Vos  Gottscheds  niederdeutscher  Text  in  der 
vorliegenden  Publikation  fortgelassen  wurde, 
wodurch  sich  ein  mäfsiger  Umfang  des  Bänd- 
cheDs  ermöglichen  lieüs.  Die  Vorbemerkungen 
des  auf  diesem  Gebiete  auch  sonst  verdienten 
Herausgebers  behandeln  kurz  und  gut  die 
Geschichte  von  Gottscheds  Werk  und  teilen 
aus  und  über  dessen  Einleitung  und  Anmer- 
kungen das  Wichtigste  mit.  Nur  Eines  läfst 
die  Ausgabe  zu  wünschen  übrig,  nämlich 
einen  fortlaufenden  Verweis  auf  Goethes 
Gedicht  durch  Beigabe  der  Gesang-  und 
Verszahlen  desselben.  Bei  der  grofsen  CTber- 
einstimmung  der  beiden  Texte  hätte  sich  das 
gut  bewerkstelligen  4assen,  und  die  Ver- 
gleichung  würde  dadurch  wesentlich  erleich- 
tert sein.     Hoffentlich  werden  die  folgenden 


Besprechungen. 


855 


Hefte  auch  in  dieser  Beziehung  allen  berech- 
tigten Ansprüchen  der  Leser  Rechnung  tragen. 
Kiel.  F.  Vogt. 

Elze,  Karl:  Lord  Byron.  Dritte  Auf- 
lage. Verlag*  von  Robert  Oppenheim,  Ber- 
lin 1886.     524  S.  8®.     Mark  7,50. 

Karl  Elzes  ^Lord  Byron**  Hegt  in 
dritter,  verbesserter 'Auflage  vor.  Ein  wohl- 
verdienter Erfolg.  Denn  wir  schätzen  an 
Karl  Elzes  Werk  ebenso  die  Treue  und  Ver- 
läfslichkeit  seiner  Quellenforschungen,  die 
vollkommene  Beherrschung  des  einschlägigen 
Materials,  wie  eine  natürliche,  ungezwungene, 
fast  weltmännische  Darstellungsgabe.  Unter 
so  mancher  hervorragenden  Leistung  der 
neueren  biographischen  Geschichtsschreibung 
in  Deutschland  zieht  an  Elzes  Werk  unmittel- 
bar und  in  erster  Linie  eine  merkwürdig 
flüssige  Erzählungsgabe  an,  welche  freilich 
hie  und  da  an  den  Stil  des  Feuilletonisten 
streift,  aber  immer  durch  einen  gediegenen 
Gelehrtensinn  gezügelt  bleibt.  Eine  solche 
Eigenschaft  machte  Karl  Elze  gerade  zur 
Schilderung  des  Lebenslaufes  des  weltmänni- 
schesten Dichters  und  Aristokraten  der  neueren 
Zeit  besonders  geeignet  und,  wenn  wir  Um- 
schau halten  über  die  deutschen  biographi- 
schen Darstellungen  Lord  Byrons,  so  werden 
wir  gestehen  müssen,  dafs  Elzes  Werk  zur 
Zeit  noch  immer  das  Beste  ist,  was  wir  in 
dieser  Art  besitzen  und  dafs  wir  durch  die 
Fülle  der  Quellennachweise  bei  Elze  in  der 
verwirrtesten  und  dunkelsten  aller  Lebens- 
geschichten relativ  auf  einem  sicheren  Boden 
sind,  dem  wir  uns  gern  vertrauend  überlassen. 

Wir  rühmen  an  Elzes  Werk  im  Einzelnen 
Partieen,  wie  seine  Schilderung  der  Pilger- 
fahrt Lord  Byrons,  seine  lebendige  Darstellung 
aller  häuslichen  und  sonstigen  Verhältnisse, 
so  wenig  wir  in  zahlreichen  Einzelheiten  auch 
mit  seinen  Auffassungen  übereinstimmen.  Es 
wird  vor  Allem  Elzes  dauerndes  Verdienst 
bleiben,  zuerst  und  am  Nachdrücklichsten 
in  der  dunklen  Geschichte  von  Byrons  Ehe- 
scheidung Licht  geschaffen  und  Byron  von 
dem  schmählichsten  Verdacht  gereinigt  zu 
haben   durch   die  scharfsinnige   und  eindrin- 


gende Aufdeckung  aller  Widersprüche  in  die- 
ser Angelegenheit.  Wenn  Jeafiresops  „The 
real  Lord  Byron"  uns  freilich  in  vieler  Hin- 
sicht der  Elzeschen  Darstellung  vorzuziehen 
scheint,  so  werden  wir  uns  stets  zu  gewär- 
tigen haben,  wie  vieles  Jeaffi-eson  gerade 
unserm  Karl  Elze  verdankt.  Denn  es  mufs 
ausgesprochen  werden,  dafs  wir  in  Karl  Elze 
immerdar  den  Bahnbrecher  zu  verehren  haben 
werden  zu  einer  kritischeren,  möglicheren 
Beurteilung  Byrons  als  Mensch  und  Dichter; 
dafs  vor  Karl  Elze  in  Deutschland  wie  in 
England  das  Chaos  war  in  Allem,  was  Über 
Byrons  Leben  als  solches  geschrieben  ward 
und  dafs  Karl  Elze  zuerst  als  ordnender 
Geist,  mit  der  Treue  des  deutschen  Forschers, 
diese  disparaten  Elemente  zu  einer  Gestalt 
zu  formen  versucht  hat.  Seit  dem  Erscheinen 
von  Elzes  Werk  ist  man  erst  zu  einer  be- 
sonnenen Beurteilung  des  Menschen  und 
Dichters  im  Guten  und  Schlimmen  gelanget 
und  Elzes  vereinzeltes,  grundlegendes  Stre- 
ben ist  unterdessen  zum  Gemeingut  geworden 
in  der  englischen  Kritik  wie  in  der  deutschen. 
Ein  solches  Verdienst  mufs  vor  Allem  fest- 
gehalten werden  und  in  diesem  Sinne  haben 
wir  Elze  als  einen  Altmeister  dankbar  zu 
verehren. 

Aber  die  Lesung  dieser  dritten  Auflage 
des  Werkes  hat  uns  mehr  als  die  früheren 
Ausgaben  auch  die  Schwäche  des  Elzeschen 
Werkes  kennen  gelehrt.  Der  Wert  dieses 
Buches  besteht  weit  mehr  in  seiner  negativen 
Seite  gegenüber  dem,  was  bis  dahin  als 
Wahrheit  über  Byron  galt,  als  in  dem,  was 
der  Biograph  als  positiver  Geschichts- 
schreiber, Psycholog  und  Kritiker  aus  seinem 
Helden  zu  machen  weifs.  Gestehen  wir  es 
uns  offen  ein:  Wer  Lord  Byron  war,  das 
wissen  wir  nach  der  Aufnahme  des  Elzeschen 
Buches  am  w^enigsten,  so  viele  der  verläfs- 
lichsten  Daten  und  Ereignisse  der  Biograph 
auch  an  unserem  Geiste  vorübergeführt  hat. 
Wie  erklärt  sich  das  Rätsel?  Es  findet 
seine  Auflösung  in  Nichts  Anderem  als  in 
der  —  nach  unserer  bescheidenen  Meinung  -«- 
unrichtigen  biographischen  Methode  Karl 
Elzes.     Es  ist  freilich   scheinbar   eine  unter- 


856 


Besprechungen. 


geordnete  Frage,  ob  die  Auseinandersetzung 
mit  den  nachträglichen  „nicht  unwesentlichen" 
Berichtigungen,  welche  in  den  sechszehn  Jah- 
ren seit  dem    ersten  Erscheinen   von   Elzes 
Werk,  zur  Byronbiographie  geliefert  worden 
sind,  als  ein  selbständiges  Kapitel  „Nachträge 
und  Abschlüsse**  zu  geben  war,  oder  ob  diese 
Berichtigungen,  Modificationen  u.  s.  w.  in  die 
Darstellung   als    solche  neu   zu  verarbeiten 
waren.     Elze  hat  sich  für  das  erstere  ent- 
schieden   und    wir    müssen    bei   genauerem 
Eingehen   auf  seinen  biographischen  Stand- 
punkt   zugestehen,    dais    er    nach    der   Art 
seiner  Methode  ganz  Recht  hatte  und  ohne 
Schaden  für  die  besondere  Art  seines  Wer- 
kes  dies  auch  riskieren  konnte.      Aber  es 
Ist   ein  bedenklicher  Standpunkt,    der    eine 
solche  Möglichkeit  zuläfst.     Wirklich  ist  er 
nur  da  zu  rechtfertigen,  wo  ein  biographisches 
Gesamtbild  überhaupt  nicht  besteht,  wo  eine 
psychologische  Durchdringung  des  gescliilder- 
ten  Charakters  kaum  beabsichtigt  geschweige 
geleistet    ist,    wo    weder    der    Geschichts- 
schreiber zur  Intuition  seines  Helden  gelangt, 
noch  im  Leser  die  Intuition  eines  Menschen, 
der  gehen  und  stehen  kann  als  ein  leibhaftiges 
Wesen,  erweckt  wird.     Und  in  diesen  Fall 
versetzt    uns    Elzes   Werk.    —    Das   zehnte 
Kapitel  dieses  Buches  lautet:  „Zur  Charakte- 
ristik."   Das  wunderlichste  Unternehmen  von 
der  Welt  in  der  That,  in  welchem  eine  Lebens- 
schilderung eines  Menschen  beabsichtigt  und 
gegen  den  Schluis  des  Ganzen  ein  besonderes 
Kapitel  aufgestellt  wird,  welches  eine  „Cha- 
rakteristik"  noch  obendrein  giebt.      Es   ist 
zehn  gegen  eins  zu  wetten,   dafs  gar  keine 
Charakteristik,  noch  weniger   aber  ein  fafs- 
barer,  bestimmter  Charakter   dabei  heraus- 
springt, selbst  wenn   es   der  Charakter   der 
Charakterlosigkeit  wäre.      Man   denke  sich 
eine  Biographie  Goethes,  in  der  zum  Schlüsse 
ein   Charakterbild    des  Menschen   entworfen 
würde.    Es  würde  darin  erzählt,  dafs  dieser 
Goethe  einer  seiner  vielen  Geliebten  geraten 
hat,  das  Kaffeetrinken  zu  unterlassen,  da  es 
Kongestionen  und  andere  Zufälle  bei  ihr  ver- 
ursache,   dafs   derselbe  Mensch  infolge  un- 
mäfsiger  Lebensweise  noch  vor  seinem  zwanzig- 


sten Lebensjahre  einen  Blutsturz  überstanden 
habe  und  dafs  er  eine  auffällige  Vorliebe  für 
geschlechtliche  Vorstellungen  gehabt,  derart, 
dafs  er  nicht  nur    „Römische  Elegien"    ver- 
öffentlicht, sondern  im  Stillen  für  sich,  aus 
reiner  Privatliebhaberei  eine  Reihe  von  Ge- 
dichten verübt,  wie  das  „Tagebuch,"  welche 
vollkommen  in  den  entarteten  Phantasiekreis 
gewisser  athenischer  Orgien  pausten.     Der- 
selbe Mann  habe   aber    auch   ganze   Bände 
von  schmeichlerischen  Hofgedichten  veriafst, 
habe  schon  in   seiner  Jugend  sich  in  einer 
Rezension     über     deutsche    Vaterlandsliebe 
lustig  gemacht  und  ein  edles  elsässer  La&d- 
mädchen  schmählich  sitzen  lassen.   Mit  Natur- 
wissenschaften habe  er  sich,  wie  mit  hundert 
anderen  Dingen  abgegeben,  ein  grolser  Natur- 
forscher   aber     habe    ihn     darin   für  einen 
Dilettanten  erklärt  etc.    Kurz,  eine  Mischung 
von   Philisterhaftigkeit   und  ausschweifender 
Phantasie,  Charakterlosigkeit,  eine  Welt  von 
Widersprüchen,  Rätseln  des  Charakters  und 
„Charakterzügen,"     von    denen   r^elmäfsig 
Einer  den  Andern  aufhebt. 

Es  ist  der  Fehler  der  anekdotischen  Charak- 
teristik, welche  einzelne  verbürgte  und  wieder- 
erzählte „Züge"  und  persönliche  Eigen- 
schaften zusammenstellt,  dafs  sie  niemals  ein 
bestimmtes  Charakterbild  zu  geben  vermag. 
Karl  Elze  folgt  dieser  grundfalschen  Methode, 
welche  durchaus  dem  Gesetze  des  wirklichen 
Lebens  widerspricht.  Gerade  diese  vermeint- 
lich „charakteristischen"  Züge  aus  dem  Leben 
eines  Menschen,  wenn  sie  auch  noch  so  geist- 
voll ausgewählt  werden,  sie  geben  nie- 
mals ein  Bild  eines  Menschen,  sondern  je 
nach  der  Ideenassociation  des  Lesers  und 
seiner  Erfahrung  nur  eine  vage  Vorstellung. 
Im  wirklichen  Leben  sind  diese  Züge  ja 
stets  nur  das  momentane  Resultat  einer 
Kreuzung  des  Charakters  des  Helden  mit 
dem  Charakter  derer,  mit  welchen  er  spricht, 
mit  dem  Charakter  der  Ereignisse,  in  denen 
er  steht.  Eine  Biographie,  welche  diesen 
Namen  verdient,  hat  daher  diese  „Züge,** 
dieses  anekdotische  Beiwerk,  zu  entwickeln 
aus  der  jeweiligen  Situation,  sie  hat  jene  Ab- 
sichtslosigkeit,   welche  im  wirklichen  Leben 


ßespreclrnngeil. 


ft&7 


den  Charakter  eines  Menschen  v  macht,  auch 
in  der  Darstellung  zu  bewähren  und  aus 
einer  Intuition  der  Psyche  des  Heiden,  die 
man  aus  der  Gesamtheit  seiner  Existenz 
gewinnt,  die  Zufälligkeit  des  einzelnen  so- 
genannten Charakterzuges  zu  erklären.  Elzes 
Werk  ist  schon  darin  merkwürdig,  dais  es 
in  keiner  Weise  Bjnron  als  einen  sich  ent- 
wickelnden Charakter  und  Menschen  zeichnet; 
was  Elze  in  dieser  Hinsicht  vorbringt,  ge- 
schieht nur  in  Form  des  gelegentlichen  Aper- 
cus. Gerade  in  Byron  aber  ist,  sowohl  als 
Dichter  wie  als  Mensch,  eine  ganz  unver- 
kennbare EntWickelung  vorhanden;  ja,  bei 
Keinem  ist  der  Gang  dieser  Entwickelung 
verbältnismäfsig  so  leicht  zu  bestimmen  aus 
den  eingreifenden  Ereignissen  seines  Lebens 
wie  bei  ihm.  Goethe  bietet  dem  Psychologen 
in  dieser  Hinsicht  bei  Weitem  grdfsere 
Schwierigkeiten,  so  klar  im  groüsen  Ganzen 
auch  die  Gnmdzfige  des  Goetheschen  Wesens 
vor  uns  Allen  stehen  in  seinen  EHchtungen 
und  durch  seine  mannigfaltigen  autobiogra- 
phischen Aufzeichnungen.  — 

Karl  Elze  steht  noch  ganz  in  der  anek- 
dotischen Auf&ssung  der  Biographie  früherer 
Jahrzehnte,  welche  von  den  verschiedensten 
Seiten  aus  in  neuerer  Zeit,  wir  dürfen  wohl 
sagen,  „über wunden**  ward  (Erich  Schmidt, 
Richard  Weltrich  u.  A.).  Wohl  vermag  uns 
ein  Metternich  und  mancher  Diplomat  mit 
dem  angeborenen  Blicke  staatsmännischer 
Menschen-Kenntnis  mit  wenigen  sicheren 
Strichen  das  nPortrait**  eines  Alexander  I. 
zu  entwerfen.  Aber  es  ist  nur  Essay  erstens 
und  zweitens  würde  die  feinere  Menschen- 
kenntnis auch  diese  oft  so  anziehenden  diplo- 
matischen Charakteristiken  doch  immer  nur 
als  Beitrag  zur  Charakteristik  gelten  lassen. 
Bei  einem  Dichter  liegen  zudem  die  biogra- 
phischen Verhältnisse  besonders  eigentümlich. 
Nur  aus  einer  feinsinnigen  psychologischen 
Analyse  der  dichterischen  Geisteskräfte  eines 
solchen  Mannes  wird  sich  auch  die  Erkennt- 
nis seines  menschlichen  Charakters  ergeben. 
Einzelne  Charakterzüge  und  Anekdoten  aus 
dem  Leben  eines  Dichters  mufs  der  Psycho- 
log und  Menschenkenner  mit  noch  viel 
ZtKhr.  f.  vgl.  Lttt.-GMch.  I. 


gröfserer  Vorsicht  au&ehmen,  als  man  sie 
g^enüber  einem  Staatsmann,  einem  Feld- 
herm,  aufzufassen  hat  Denn  wo  das  I^ben 
eines  Dichters  eine  Lücke  aufweist,  da  wird 
zumeist  sein  Dichten  sie  ergänzen,  wo  sein 
Dichten  lückenhaft  bleibt,  wird  das  Leben 
eine  Antwort  enthalten.  Kaum  ist  das  bei 
einem  Dichter  so  der  Fall  wie  bei  Byron. 
Im  Ganzen  ist  es  die  oberste  Forderung 
einer  kunstvollen  Biographie,  dais  der  Cha- 
rakter des  Helden  sich  immanent  aus  der 
Darstellung  ergiebt,  wie  er  es  aus  dem  Leben 
thut.  Eine  von  aufsen  herangebrachte  Cha- 
rakteristik, welche  den  Charakter  in  Worte 
zu  fassen  versucht,  widerspricht  einem  fctnen 
Gesetze  des  Lebens  und  es  wird  zumeist 
nur  eine  Aufzählung  von  Eigenschaften  dar- 
aus, deren  inneres  Band  wir  nicht  aus  dem 
Centrum  begreifen.  — - 

Karl    Elze    hat    seiner    psychologischen 
Forschung   diese  Prinzipien   nicht  zu   Gute 
kommen    lassen.      Recht    bezeichnend    AUt 
der  Mensch  und  der  Dichter  in  Byron  schon 
rein^  äufserlich    in   zwei    unvereinte    BUder 
auseinander,    indem   Elze   nach  jenem   Ab- 
schnitt wzur  Charakteristik**  in  einem  selbst- 
ständigen   Kapitel    Byrons   Stellung   in    der 
Lltteratur  als  selbständigen  Essay  abhandelt. 
Demgemäls    erscheint    das    Werk    in    der 
That  als  eine  Folge  von  Essays  über  Byron, 
die   sich  keineswegs   folgerichtig  ergänzen. 
Eine  eigentliche  biographische  Arbeit,  welche 
Byrons    Entwickelung    zeichnet,    würde    die 
Zusammenhänge     der     Byronschen     Poesie 
mit   der  Pope*s    schon    in    der  Schilderung 
von  Byrons   Studienzeit   vorbereitet   haben, 
würde  uns   geschildert   haben,   wie  Byrons 
Lebensgang  als  solcher  ihn  allmählich  von 
dieser  Popeschen  Methode  emanzipiert u. s.w. 
Freilich  ist  die  Beurteilung  des  Dichters  und 
der  Dichtungen  des  Lords  wohl  überhaupt 
die  schwächste  Seite  an  dem  vorliegenden 
Werke;    eine    feinere    ästhetische    Bildung 
spricht  uns  aus  Elzes  Buch   kaum   an  und 
wenn  sie  an  sich  vorhanden  ist,   so  kommt 
sie  zum  mindesten  hier  nicht  zu  Worte.    Eine 
gewisse  Äußerlichkeit,   welche    an  den  Zu- 
fälligkeiten der  geistigen  Erscheinungen  haftet, 

2i 


858 


Besprechungeil. 


mehr  als  an  dem  eigentlichen  Inhalte,  will 
uns  als  Hindernis  einer  glaubwürdigen  Auf- 
fassung des  Menschen  sowohl  wie  des  Dich- 
tet's erscheinen  und  Blxes  Buch  spiegelt  un- 
bewulst  in  dieser  Hinsicht  seine  zahlreichen 
Quellen  in  englischer  Litteratur  wieder  und 
ihren  äuliserlichen  Geist.  Die  Biographie, 
welche  Byron  wirklich  gerecht  wird  als 
Mensch  und  Dichter,  bleibt  auch  nach  Elzes 
Werk  noch  immer  zu  schreiben. 

Es  würde  zu  weit  führen,  die  Differenz- 
punkte hier  im  Einzelnen,  besonders  in  der 
Beurteilung  des  Menschen  und  noch  mehr 
des  Dichters  auseinander  zu  legen.  Wir 
dürfen  auf  unsere  Einleitung  zu  Byrons 
Werken  (Cottasche  Bibliothek  der  Welt- 
litteratur)  verweisen,  welche  zur  Beurteilung 
Byrons  wesentlich  andere  Gesichtspunkte, 
als  Karl  Elze  aufstellt  und,  bei  grofser  Ver- 
ehrung des  Elzeschen  Werkes,  bei  vielen 
verwandten  Aufstellungen  und  Ansichten,  zu- 
gleich als  eine  stillschweigende  Kritik  der 
Biographie  Karl  Elzes  dienen  kann.  Die 
„neuen  Bahnen**  der  Charakteristik,  wdche 
Elze  in  den  deutschen  Arbeiten  im  Ganzen 
vermifst,  dürften  darin  wenigstens  angedeutet 
sein. 

Es  ist  also  im  Ganzen  mehr  eine  verän- 
derte Ansicht  von  der  Aufgabe  und  Methode 
der  Biographie,  welche  unsere  Ausstellungen 
an    Elzes    Werk    rechtfertigen    dürfte.      Zu 
wenig  macht  Elze  den  Versuch,  aus  psycho- 
logischen Beobachtungen,  aus  den  Gesetzen 
des  Lebens  und  der  Phantasie,  uns  das  Bild- 
nis Byrons  verständlich  zu  machen.    Mit  dem 
Worte    nl^isharmonie,**    die    der    Grundzug 
von  Byrons  „  Leben  und  Phantasie**  gewesen 
ist,  wie  Elze  schliefst,  ist  in   der  That  eine 
positive  Charakteristik,  welche  den  Menschen- 
kenner und  Menschenbeurteiler  materiell  be- 
friedigen könnte,  nicht  gegeben:  es  ist  zwar 
das  populärste  Wort  in  England  und  Deutsch- 
land   über   Byron,    aber    ein    musikalischer 
Vergleich,  der  im  Grunde  gar    nichts    sagt. 
Wir  wollen  die  feinen  Wurzeln  des  Lebens 
kennen,    die    geheimnisvollen    ethischen  Ur- 
sprünge der  Dichtungen)  wir  wollen  begreifen, 
wie  eine  so  geartete  Phantasie,  wie  die  Byron- 


sche,  sich  im  wirklichen  Leben,  unter  den 
Eindrücken  dieses  Lebens,  in  Handlungen 
umsetzen  mufste  von  solcher  Art  und  wollen 
dies  Alles  nicht  nur  als  ein  Aper9u  gdegent- 
lich  vernehmen,  sondern  den  Biographen  im 
Centrum  der  Seele  seines  Helden  sehen  und 
aus  einer  solchen  Allgemeinempfindung  kultur- 
geschichtlich wie  ästhetisch,  individuell  wie 
gesellschaftlich  den  Charakter  und  das 
Leben  des  Helden  als  eine  innere  Notwendig- 
keit erwachsen  und  sich  entwickeln  sehen. 
Grofs  ist  die  Forderung,  aber  sie  ward  oft 
genug  erfüllt,  so  dafs  man  auch  Elze  g^en- 
Über  sie  aussprechen  darf,  nicht  nur  in  Goethes 
Selbstbiographie,  sondern  in  so  manchem 
neueren  Werke. 

Eine  Frage  ist  freilich,  ob  die  voiliande- 
nen   Quellenmateriale,   ob  das  thatsächliche 
Ergebnis    der  Byronforschung    bereits    eine 
solche  Arbeit  zuläüst.     Soweit    es   sich    um 
den  Dichter  und  den  Menschen  in  ihm  han- 
delt, ist  diese  Frage  mit  Ja  zu  beantworten; 
Elzes  Werk  gerade  wäre  ein  unentbehrliches 
Vademecum   für   den   Byronbiographen.     In 
anderer  Richtung  freilich  mufs  ein  Nein   er- 
folgen, denn  noch  ist  zuviel  wichtiges  Mate- 
rial nicht  bekannt  und  so  mochte  Elze  auch 
wiederum  Recht  haben  sich  auf  eine  Art  der 
biographischen  Darstellung   zu  beschränken, 
welche  zwar  nicht  den  höchsten  Ansprüchen 
genügt,  aber  auf  alle  Fälle  den  Vorteil  der 
fast  populären  Unterhaltung  über  einen  rätsel- 
haften Menschen  hat,  welche  unsere  Neugierde 
erregt,    unsere  Spannung   erhält,    und   über 
das  Thatsächliche  uns  ebenso  gewissenhaft 
wie  gründlich  belehrt.    Und  in  diesem  Sinne 
können  wir  nicht  imihin,  bei  allen  Ausstellungen, 
die  gröfste  Achtung  vor  dem  Werke  zu  haben, 
das  in  seiner  Art  doch  wieder  ein  Meister- 
werk ist,  vor  Allem  durch  die  im  engeren 
Sinne  litterarische  Qualität,  welche  zwar  die 
psychologische    Vertiefung     nicht     ersetzen 
kann,  aber  doch  auch  eine  geistige  Befrie- 
digung hinterläfst. 

Wir  dürfen  diese  Besprechung  nicht 
schliefsen,  ohne  der  anschaulichen  Kenntnis 
englischer  Verhältnisse  zu  gedenken,  der 
Schilderung  von   Land   und  Leuten,   welche 


Besprechungen . 


869 


dem  Bizeschen  Werke  einen  besonderen  und 
eigentflmlichen  Reix  verleiht. 

München.         Wolfgang  Kirchbach. 

Dreohtler,  Paul:  Wencel  Scher  ff  er 
von  Scherffenstein.  Bin  Beitrag  zur 
Geschichte  der  deutschen  Litteratur  im  17. 
Jahrhundert.  Breslau,  Wilhelm  Koebner,  1886. 
67  S.  8*.    M.   i,3o. 

Der  Hauptwert  von  Wencel  Scherfifers 
zahlreichen  Werken  lieg^  in  ihrer  lexiko- 
graphischen Falle  an  schlesischen  Ausdrücken 
und  Wendungen,  dem  Gebrauche  alt-  und 
niederdeutscher  Worte.  Mit  diesem  Urteile 
(S.  39)  über  die  Originaldichtungen  des  „  Hof- 
dichters der  Piasten**  steht  das  dem  Ober- 
setzer (S.  36)  gespendete  Lob  in  einem  un- 
verträglichen Widerspruche.  Scherffer,  sagt 
sein  zwischen  dem  Enthusiasmus  des  Spezial- 
forschers  und  kritischer  Würdigung  schwan- 
kender Biograph,  ,,schulte  vor  allem  seine 
dichterische  Kraft  an  der  Übersetzung  aus 
dem  Lateinischen.  Dadurch  mehrte  er  seinen 
Gedankenreichtum  und  erwarb  eine  nicht  un- 
bedeutende Formgewandtheit,  Bigenschaften, 
die  ihn  zu  einem  der  eigentümlichsten  und 
selbständigfiten  Dichter  der  Opitzischen  Zeit 
machen.**  Eben  Scherffers  Thätigkeit  als 
Obersetzer  veranlalst,  die  Monographie  über 
ihn  hier  einer  Besprechung  zu  unterziehen,  aber 
solchen  günstigen  Binflufs,  wie  Drechsler  meint, 
konnte  seine  Obersetzermühen  unmöglich  auf 
ihn  ausgeübt  haben  und  hat  es  auch  nach 
Drechslers  übriger  Darstellung  keineswegs 
ausgeübt.  Der  Vergleich  zwischen  der  Ober- 
setzung des  Dedekindschen  Grobianus  durch 
den  Opitzianer  Scherffer  (1640)  und  der  von 
Scheidt  (1551)  ist  von  Interesse  und  von 
dem  Verfasser  mit  Geschick  geführt;  die 
Oebersetzung  der  pia  desideria  des  Jesuiten 
Hermann  Hugo  brauchte  nur  erwähnt  werden, 
dagegen  hätte  Drechsler  auf  die  Obersetzungen 
aus  dem  Polnischen  näher  eingehen  dürfen. 
Die  fleilsige  Dissertation  macht  einen  etwas 
unreifen  Eindruck  und  ein  S.  59  gebrauchtes 
Bild  erinnert  selbst  zu  sehr  an  Muster  der 
sogenannten  zweiten  schlesischen  Schule. 
Immerhin  aber  haben  wir  eine  Erstlingsarbeit 


vor  uns,  die  zu  den  ergebnisreichen  gerech- 
net werden  muüs.  Die  neue  Auflage  von 
Goedekes  Grundrifs  fuhrt  filr  Scherffer,  dessen 
Adel  ihm  unbekannt  geblieben,  vier  Nummern 
an,  Drechsler,  dem  die  Binzelndrucke  der 
Breslauer  Bibliotheken  zu  Gebote  standen, 
vierunddreifsig!  Möchte  der  Verfasser 
seine  Kenntnisse  der  schlesischen  Litteratur 
auch  künftig  mit  fortgeschrittenen  Kräften 
erfreulich  bethätigen. 
Marburg  i.  H.  Max  Koch. 

Melzor,  Enwt:  Goethes  philosophi- 
sche EntWickelung.  Ein  Beitrag  zur 
Geschichte  der  Philosophie  unserer  Dichter- 
heroen.    Neisse  1884.     7a  S.  8*. 

Dais  am  Ende  des  vorigen  und  am  An- 
fange dieses  Jahrhunderts  in  Deutschland 
Philosophie  und  Dichtung  gleichzeitig  einen 
gewaltigen  Aufschwung  erlebten,  ist  kein  zu- 
fälliges Zusammentreffen.  Es  fand  eine  Ver- 
tiefung des  ganzen  Wesens  der  Nation  statt 
und  es  war  eine  und  dieselbe  Botschaft,  die 
von  Philosophen  sowohl  als  von  Dichtem 
verkündet  wurde.  Die  deutsche  Philosophie 
und  die  deutsche  Dichtung  der  klassischen 
Periode  fliefsen  aus  einer  Geistesrichtung. 
Daraus  erklärt  es  sich,  warum  unsere  gröis- 
ten  Dichter :  Lessing,  Herder,  Schiller,  Goethe 
auch  den  Drang  fühlten,  sich  mit  den  tiefsten 
Fragen  der  Wissenschaft  auseinanderzusetzen. 
Sie  sind  nicht  blofs  vollendete  Künstler,  sie 
sind  vollendete  Menschen  im  höchsten 
Sinne  des  Wortes.  Dafs  neben  den  der 
Betrachtung  der  Kunstschöpfungen  unserer 
Klassiker  gewidmeten  Schriften  auch  die 
ihren  philosophischen  Gedankenkreisen  zu- 
gewendeten stets  zunehmen,  ist  hieraus  er- 
klärlich. Das  oben  genannte  Buch  behandelt 
die  philosophische  Entwickelung  Goethes. 

Der  Geist,  in  dessen  Schaffen  die  ver- 
schiedenen Ausgestaltungen  des  deutschen 
Volksgeistes  sich  zu  der  schönsten  Harmonie 
vereinigt  haben,  ist  Goethe.  Künstlerische 
Gestaltungskraft  und  wissenschaftlicher  Ein- 
blick in  die  Triebkräfte  der  Natur  und  des 
Menschengeistes  sind  die  Elemente,  die  in 
das  Wesen  dieses  Geistes  eingeflossen,  je- 

24* 


MO 


Besprechungen. 


doch  so,  dafs  sie  ihr  Sonderdasein  aufgegeben 
haben  und  xu  einem  einheitlichen  Ganzen, 
zu  einer  unsere  Weltanschauung  zugleich  er- 
weiternden und  vertiefenden  IndiTidualität 
wurden.  Nur  so  betrachtet  wird  die  Rolle 
klar,  die  die  Philosophie  in  dem  Organismus 
des  Goetheschen  Geistes  spielt.  Eine  Schrift 
ttber  Goethes  philosophische  Entwickelung 
mülste  zeigen,  inwiefern  die  Philosophie 
erstens  eine  bei  seinem  künstlerischen  Schaffen 
mitthätige  Kraft  und  zweitens  eine  seine 
wissenschaftlichen  Versuche  stützende  Grund- 
lage ist.  Aus  den  aphoristischen  Äusserungen 
über  seine  Weltanschauung  allein  können 
wir  kein  Bild  derselben  gewinnen,  wenn  sie 
auch  vielfach  klärend  und  ergänzend  für  das- 
selbe sind.  Wenden  wir  das  Gesagte  auf 
Melzers  Buch  an,  so  müssen  wir  gestehen, 
da£s  der  Verfasser  die  springenden  Punkte 
der  Sache  nicht  erkannt  hat.  Wir  möchten 
dabei  manches  Gute  seines  Buches  nicht 
übersehen.  £s  gehört  dazu  vor  allem  die 
Grundtendenz  desselben,  Goethe  nicht  aus 
einzelnen  Aufserungen,  sondern  aus  dem 
Gange  seiner  Entwickelung  zu  erkennen  (S.  3). 
Wenn  aber  der  Verfasser  trotz  dieser  Ten- 
denz (S.  36)  z.  B.  findet,  dals  Goethes  philo- 
sophisch-religiöse Ansicht  am  Ende  seiner 
Jugendperiode  eine  Art  Mittelding  zwischen 
Rationalismus  und  Orthodoxie  sei,  so  zeigt 
das,  wie  wenig  er  sieht,  worauf  es  eigent- 
lich ankommt.  Schlagworte,  wie  Naturalis- 
mus, Rationalismus,  Pantheismus,  fuhren  uns 
in  Goethes  Geist  einmal  nicht  hinein;  sie 
verlegen  uns  nur  den  Zugang  in  die  Tiefe 
seines  Wesens.  Deshalb  geht  für  Melzer 
auch  das  Vollbestimmte,  Individuelle  der 
Goetheschen  Weltanschauung  verloren.  So 
sieht  er  die  Quintessenz  des  Aufeatzes  n<Üe 
Natur**  (S.  34)  in  dem  Satze :  «sie  (die  Natur) 
ist  Alles**  und  definiert  demzufolge  Goethes 
Ansicht  als  Naturalismus.  Während  aber 
der  Naturalismus  die  Natur  nur  in  ihren  ferti- 
gen Produkten  sieht,  als  tote,  abgeschlossene, 
und  in  dieser  Gestalt  den  Geist  mit  ihr  iden- 
tifiziert, geht  Goethe  auf  sie  als  Produzentin, 
als  schöpferische  zurück  und  dringt  so  über 
die  ZufMligkeit  zur  Notwendigkeit  vor.   Er  er* 


reicht  damit  jene  Quelle,  aus  der  Geist  und 
Natur  zugleich  fliefsen  und  kann  von  dieser 
wirklich  sagen:  „sie  ist  Alles.**  Goethe  hatte 
der  Welt  etwas  zu  verkünden,  was  sich  mit 
keinem  überlieferten  Gedankengebäude  um- 
spannen, noch  weniger  mit  den  hergebrachten 
philosophischen  Kunstausdrücken  aussprechen 
läfst.  Es  lag  in  ihm  eine  Welt  von  ur- 
sprünglichen Ideen,  und  wenn  von  dem 
Einflufs  älterer  oder  neuerer  Philosophen 
auf  ihn  gesprochen  wird,  so  kann  das  nicht 
in  dem  Sinne  geschehen  —  wie  es  Melzer 
thut  —  als  ob  er  auf  Grund  von  deren  Leh- 
ren seine  Ansichten  gebildet  habe.  Er  suchte 
Formeln,  eine  wissenschaftliche  Sprache, 
um  den  in  ihm  liegenden  geistigen  Reichtum 
auszusprechen.  Diese  fand  er  bei  den  Philo- 
sophen, vornehmlich  bei  Spinoza.  Den 
Fehler,  Goethes  Ideenwelt  als  das  Resultat 
verschiedener  von  ihm  aufgenommener  Leh- 
ren darstellen  zu  wollen,  teilt  Melzer  mit 
vielen,  die  sich  mit  der  dem  Goetheschen 
Schaffen  zu  Grunde  liegenden  Philosophie 
beschäftigt  haben.  Es  wird  dabei  übersehen, 
dafs,  wer  Goethes  philosophische  Entwicke- 
lung darstellen  will,  vor  allem  aus  dessen 
Wirken  den  Glauben  an  die  Ursprünglich- 
keit seiner  Sendung  und  die  Genialität  seines 
Wesens  gewonnen  haben  muis. 

Brunn  bei  Wien.         Rudolf  Steiner. 

Pfaff,  Friedrioh:  Romantik  und  Ger- 
manische Philologie.  29  S.  8*.  M.0,60. 
(Sammlung  von  Vorträgen,  herausgegeben 
von  W.  Frommel  und  Friedrich  Pfaff,  XV.  9.) 
Heidelberg,  Carl  Winters  Universitätsbuch- 
handlung. x886. 

Jeder  Versuch,  einen  Überblick  über  die 
Gesamtheit  oder  eine  bestimmte  Klasse  der 
Erscheinungen  unserer  romantischen  Litteratur- 
periode  in  kurzen  Zügen  zu  geben,  muis  mit 
Freude  begrülst  und  mit  Achtung  vor  der 
Arbeit,  die  er  erfordert,  behandelt  werden. 
Wie  die  deutschen  Romantiker  in  ihrer 
Dichtung,  ihrer  Religion,  in  ihrem  ganzen 
Leben  auf  die  Vermischung  aller  Formen 
ausgingen,  so  zeig^  nun  die  Gesamtheit  ihrer 
Charaktere,    Schicksale   und   Schriften   dem 


Besprechungen. 


861 


Auge  des  historischen  oder  kritischen  Be- 
trachters eine  derartig  yerschwommene 
Physiognomie,  dais  es  schwer  ist,  die  Haupt- 
züge herauszufinden,  und  noch  schwerer, 
sie  bestimmt  charakterisierend  wiederzugeben. 
Ein  so  wenig  umfangreicher  Vortrag,  wie 
der  vorliegende,  der,  um  die  Entwicklung 
der  germanischen  Philologie  bis  zum  Auf- 
treten der  Brüder  Grimm  historisch  darzu- 
stellen, zugleich  eine  kurze  Skizze  des  Ur- 
sprungs der  deutschen  Romantik  und  ihrer 
beiden  Blütezeiten  in  Jena  und  Heidelberg 
liefert,  setzt  deshalb  fleissigere  und  tiefer 
gehende  Vorarbeiten  voraus,  als  es  auf  den 
ersten  Blick  scheinen  könnte.  Der  Verfasser 
selbst  deutet  im  Schlulswort  an,  wie  er 
seine  Schrift  beurteilt  wissen  will:  wenn  sie 
auch  auf  eigenen  Studien  beruht,  so  bleibt 
doch  für  deren  Resultate,  die  notwendiger- 
weise dem  Gebiet  der  Spezialforschung  an- 
gehören, in  dem  knappen  Rahmen  nur  ein 
sehr  beschränkter  Raum,  einziger  Zweck 
einer  solchen  Obersicht  kann  Klarheit  der 
Gruppierung  und  Zusammenstellung  der  meist 
schon  bekannten  allgemeinen  Thatsachen 
sein.  Diese  lälst  bei  Pfaff  nichts  zu  wünschen 
übrig  und  ist  um  so  mehr  anzuerkennen,  als 
er  dabei  doch  eine  so  systematische,  dem 
Charakter  der  Romantik  durchaus  wider- 
sprechende Klassifikation  der  verschiedenen 
Erscheinungen  vermeidet,  wie  sie  Hettner 
seiner  sonst  so  glänzenden  Darstellung  zu 
Grunde  legt.  Der  Ton  des  Vortrags  ist  der 
Natur  des  Gegenstandes  gemäis  sachlich  und 
ruhig  gehalten,  nur  bei  der  Schilderung  des 
romantischen  Zusammenlebens  von  Brentano, 
Arnim  und  Görres  in  Heidelberg  gewinnt  er 
lebhaftere  Färbung  und  im  Schlufsabschnitt 
bei  dem  Hinweis  auf  die  nationale  Aufgabe 
der  germanistischen  Wissenschaft  eine  Wärme, 
die  jeden  Deutschen  sympathisch  berühren  mufs. 
Noch  einige  wenige  Bemerkungen  seien 
mir  gestattet.  Mit  Recht  betont  Pfaff  ener- 
gischer, als  es  gewöhnlich  geschieht,  das 
unmittelbare  Hervorgehen  der  romantischen 
aus  der  klassischen  Periode  unserer  Litteratur. 
Man  vergilst  dies  leicht  in  dem  Bestreben, 
die  später  hervortretenden  Gegensätze  beider 


Generationen  mögUcfast  klar  vor  Augen  zu 
stellen.  Wieland  fehlt  auch  bei  Pfaif  unter 
den  Hauptvorläufem  der  Romantik.  Es  ist 
merkwürdig,  wie  wenig  er  in  diesem  Zu- 
sammenhang bisher  beachtet  ist,  und  doch 
lese  man  nur  z.  B.  »Don  Sylvio  von  Ro- 
salva"",  wie  oft  wird  man  da  an  die  Schriften 
der  Romantiker  erinnert!  Den  Sinn  für  das 
Märchenhaft  -  Phantastische,  Abenteuerliche 
des  mittelalterlichen  Ritterlebens  hat  doch 
keiner  so  wie  Wieland  im  deutschen  Publikum 
genährt.  Durch  A.  W.  Schlegels  schonungs- 
lose Angriffe  auf  ihn  darf  man  sich  nicht 
irre  machen  lassen.  Für  Pfaff  mag  im  vor- 
liegenden Falle  mafsgebend  gewesen  sein, 
dafs  Wielands  mittelalterliche  Sagenwelt  mehr 
romanischen  als  germanischen  Geist  atmet, 
doch  ist  eine  Unterscheidung  in  dieser  Be- 
ziehung für  die  Anfänge  der  Romantik  schwer- 
lich am  Platze. 

Speziell  für  die  vergleichende  Litteratur- 
geschichte  enthält  Pfafis  Vortrag,  wie  es 
seine  Kürze  verlangte,  nur  die  bekannten 
Thatsachen.  Diese  moderne  Wissenschaft 
steht  zu  der  Romantik  in  demselben  Tochter- 
verhältnis wie  die  germanische  Philologie. 
Herder  —  Goethe  —  Schlegel,  das  sind 
auch  fÜf  sie  die  ersten  bedeutenden  Namen, 
und  wie  der  germanischen  Philologie  eine 
poetische  Erneuerung  des  deutschen  Alter- 
tums zur  Seite  ging,  so  der  vergleichenden 
Litteraturbetrachtung  eine  Obersetzung  und 
Nachahmung  aufserdeutscher  Dichtung.  Im 
allgemeinen  ist  dies  oft  genug  betont,  aber 
Einzeluntersuchungen  fehlen  noch  überall. 
Vorzüglich  die  Spanier  müssen  nach  meiner 
Ansicht  energischer  zur  Vergleichung  heran- 
gezogen werden.  Dafs  Cervantes,  Calderon 
auf  Tieck,  Schlegel,  Brentano  und  ihre  Ge- 
sinnungsgenossen eingewirkt  haben,  wissen 
wir,  aber  das  Wie  verlangt  endlich  einmal 
genauere  Bestimmung.  Die  Periode  der 
deutschen  Romantik  ist,  wie  der  Ausgangs- 
punkt der  vergleichenden  Litteraturgeschichte, 
so  trotz  des  Feststehens  der  allgemeinen 
Zusammenhänge  auch  heute  noch  das  er- 
giebigste Feld  für  ihre  Arbeit 
Freiburg i.B.     Richard  Weissenfeis. 


362 


Besprechungen. 


Bnigsoh,  Heinrich:  Die  Muse  in  Tehe- 
ran. Frankfurt  a.  O.  Verlag  von  Trowitzsch 
und  Sohn.     1886.     M.  8. 

Auf  128  Seiten  kl.  8*  begegnen  wir  in 
dem  vorliegenden  Büchlein  180  kleinen  Sinn- 
gedichten nebst  etlichen  Sprichwörtern,  welche 
der  Verfasser  selbst  auf  Seite  V  „eine  Aus- 
wahl persischer  Dichterstimmen  älterer  und 
jüngerer  Zeit  in  deutscher  Übertragung""  und 
auf  Seite  VI  „einen  iranischen  Lieder-  und 
Spruchschatz"*  nennt.  Daraus  ergiebt  sich 
auch  der  doppelte  Standpunkt,  von  dem 
aus  wir  seine  Arbeit  beurteilen  können  a)  als 
eine  Übersetzung,  b)  als  -eine  Aphorismen- 
sanunliing.  Das  erstere  anlangend,  charak- 
terisiert der  Verfasser  seine  Übersetzung  auf 
Seite  Xn  als  eine  freie,  den  Inhalt  des  Ge- 
dankens als  das  Wesentliche  betrachtende, 
wozu  wir  bemerken,  dais  diese  Freiheit  mit- 
unter an  Willkür  streift.  Von  einer  „Über- 
setzung"" kann,  wie  eine  Vergleichung  mit 
den  Originalstellen  —  die  allerdings  mühsam 
aufgesucht  werden  müssen,  da  der  Autor 
die  persischen  Dichterstimmen  so  wiedergiebt, 
wie  er  sie  (im  Umgang  mit  Persern)  gehört 
oder  gelesen,  unbekümmert  um  Zeit  und 
Namen  —  lehrt,  in  den  wenigsten  Fällen 
die  Rede  sein;  in  den  meisten  Fällen  ist 
blos  der  Hauptgedanke  —  hie  und  da  der 
Gedankengang  —  beibehalten  worden,  wo- 
bei jedoch  bei  der  freien  Behandlung  der 
Form  von  Seiten  des  Autors,  der  mitunter 
zwei  verschiedene  Dichterstellen  zu  einem 
Spruche  verbindet,  andererseits  einen  persi- 
schen Spruch  in  zwei  Sprüche  trennt  und 
sehr  of^  aus  dem  ganzen  Gedichte  blos  diesen 
oder  jenen  Vers  herausgreift  und  frei  bear- 
beitet, auch  dieser  mitunter  schwer  wieder- 
zuerkennen ist.  Vereinzelt  kommen  auch 
kleine  Versehen  vor,  wie  z.  B.  auf  Seite  33, 
wo  der  Übersetzer  „Saturn  als  Schreibgehilfen 
dingt,"*  während  doch  nach  der  orientalischen 
Ansicht  Merkur  fUtärid)  der  Schreiber  des 
Himmels  ist.  —  Dies  alles  läfst  allerdings 
das  vorliegende  Büchlein  als  keine  Bereiche- 
rung der  Litteratur  von  Übersetzungen  aus 
dem  Persischen  erscheinen,  zumal  von  den 
zu  Grunde  liegenden  Texten  —  es  sind  dies 


vorzugsweise  *Omar  Chajjäm^s  Vierzeiler,  Sa'- 
dTs  Rosengarten  und  Häfizens  Divän*)  — 
bereits  viel  bessere,  vollständige  Übersetzun- 
gen existieren.  Doch  verliert  es  dadurch 
nichts  von  seinem  Werte  als  eine  Aphoris- 
mensammlung, die  für  weitere  Kreise  be- 
stimmt ist  und  den  Zweck  verfolgt,  den  euro- 
päischen Leser  mit  den  Eigentümlichkeiten 
der  persischen  Denkweise  und  Anschauung 
vertraut  zu  machen,  die  trotz  der  indoeuro- 
päischen Bruderschaft  des  Persers  dennoch 
echt  morgenländisch  bleiben.  Im  G^enteil 
finden  wir  es  sogar  dem  Zwecke  des  Buches 
ganz  angemessen  und  vorteilhaft,  dais  der 
Verfasser  die  kostbaren  Gedanken  der  per- 
sischen Dichter  und  Denker,  von  ihrer  orienta- 
lischen Form  absehend,  in  einfache,  allge- 
mein verständliche  Worte  gekleidet,  die  das 


*)  Aus  *Omar  Chajjäm  sind  entlehnt:  Seite 
3b,  4b,  7,  8a,  9,  IG,  xxa,  b,  12a,  b,  13b,  16, 
17,  i8a,  19,  20b,  21,  26,  47a,  48,  49,  50a» 
Sia,  b,  S2b,  53*1  b»  54t)|  56a,  b,  57»,  b,  58, 
59,  61,  62,  63,  65,  66,  67,  68a,  69b,  70a, 
71a,  b,  72,  75,  76,  77,  79a»  b,  80,99b,  102b, 
io8b.  Aus  Sa'drs  Gulistän:  13a,  15a,  b, 
23,  24b,  25a,  b,  29b,  30a,  38b,  40a,  b,  42a, 
43a,  83a,  b,  84a,  85b,  86,  87b,  88a,  b,  91b, 
93»  95b,  96a,  b,  97a,  b,  98a,  b,  99a,  xoia,  b, 
102b,  xo3a,  b,  104a,  b,  105b,  xo6b,  107b, 
xo8a,  xo9a,  b,  xioa,  iixa,  b,  112a,  113a,  b, 
1 14a,  b,  1 15a,  1  i6b,  II 7a,  b,  XI 8a,  b,  1 24b, 
128  a.  Aus  Häfiz  43  b,  55  a,  b,  68  b,  70  b 
und  gewifs  eine  Anzahl  anderer,  die  sich  bei 
einer  genaueren  Lektüre  herausstellen  würden. 
Mit  Rücksicht  darauf,  dafs  sich  bereits  aus 
den  drei  Dichtern  (bei  Sa*df  wurde  nur  sein 
Rosengarten  untersucht)  bei  einer  nicht  ge- 
nauen Lektüre  von  den  x8o  Sinngedichten 
der  Sammlung  1x9  nachweisen  lassen,  er- 
scheint es,  da  neben  diesen  noch  eine  ansehn- 
liche Anzahl  berühmter  Dichter  vorkommt, 
die  jedenfalls  auch  stückweise  im  Munde  des 
Volkes  leben,  höchst  unwahrscheinlich,  dafs 
etwas  in  der  vorliegenden  Sammlung  den 
jüngeren  Dichtern  entnommen  sein  sollte, 
ausser  '  etwa  in  Nachahmung  oder  Wieder- 
holung des  Alten. 


Besprechungen. 


363 


an  sich  interessante  Bfichlein  den  Lesern 
noch  anziehender  machen  müssen.  Denn 
dem  Verfasser  ist  es  wirklich  geiung'en,  aus 
dem  Ideenkreise  der  persischen  Dichter  das 
Charakteristische  herauszugreifen.  Schick- 
sal, Wein,  Liebe,  Lebensgenuis,  Freundschaft, 
Feindschaft  u.  s.  w.,  Fragen,  die  den 
Orientalen  immer  bewegt  haben  und  immer 
bewegen  werden  —  und  dasselbe  als  eine 
Quintessenz  der  ganzen  orientalischen  Poesie, 
und,  da  diese  ihren  Pflegern  eine  treue  Be- 
gleiterin durch's  Leben  ist  in  guten  wie  in 
trüben  Stunden,  des  orientalischen  Lebens 
überhaupt,  zu  einem  Ganzen  zu  verbinden, 
das  mit  Recht  allgemeines  Interesse  bean- 
spruchen kann.  Der  Verfasser  legt  sein 
Büchlein  in  einer  höchst  eleganten,  dem  kost- 
baren Inhalte  Gleichgewicht  haltenden,  eben- 
falls echt  persischen  Ausstattung  vor,  die  es 
auch  nach  dieser  Richtung  hin  sehr  anziehend 
erscheinen  läfst. 

Prag.  Rudolf  Dvofdk. 

Kirste^  J.:DerBergkranz.  (Die  Befreiung 
MiMitenegros.)  Historisches  Gemälde  aus 
dem  Ende  des  siebzehnten  Jahrhunderts 
von  Petar  Petrovic  NjeguS,  Fürstbischof 
von  Montenegro.  Zum  ersten  Male  aus  dem 
Serbischen  in  das  Deutsche  übertragen. 
Wien,  Verlag  von  Carl  Konegen,  z886.  VII, 
123  S.  8*.    M.  a,8o. 

In  den  vierziger  Jahren  erschien  in  Cetinje 
in  Montenegro  ein  Gedicht,  das  seitdem  einen 
ehrenvollen  Platz  in  der  serbischen  Litteratur 
eingenommen  hat  £s  nannte  sich  der  nBerg- 
kranz**  oder  „Bergbund "  und  behandelte  in 
einer  Folge  lose  aneinander  gereihter  drama- 
tischer Szenen  die  Befreiung  Montenegros 
von  der  Türkenherrschafl,  im  Jahre  1703. 
Der  Dichter  war  der  Herrscher  des  Ländchens, 
Feter  II  Petrovic  Njegus  (1813  —  1851).  Seine 
Dichtung  hatte  einen  grofsen  Erfolg  nicht  nur 
in  seinem  Lande,  sondern  bei  allen  Südslaven. 
Die  patriotische  Tendenz,  der  in  kräftiger 
Sprache  ausgedrückte  Türkenhais  mufste  dem 
Gedicht  besonders  dort  überall  Leser  zuführen, 
wo  das  Türkenjoch  noch  schwer  lastete: 
man  fand  den  eignen  Zustand  wiederg^spiegelt, 


das  was  man  kaum  zu  denken  wagte,  frei 
ausgesprochen;  die  Hoffnung  wurde  geweckt, 
die  gehalsten  Unterdrücker  einst  ebenso  aus 
dem  Lande  werfen  zu  können,  wie  es  die 
Helden' der  schwarzen  Berge  gethan  hatten. 
Die  litterarische  Schätzung  des  Gedichtes 
geschah,  wie  es  bei  derartigen  Werken  poli- 
tischer Färbung  zu  sein  pflegt  und  auch 
durchaus  verständlich  ist,  bewulst  und  unbe- 
wufst  lediglich  vom  patriotischen  Standpunkt 
aus.  Dazu  kam,  dafs  die  serbische  Litteratur 
in  den  Windeln  lag  und  man  das  Gedicht 
mit  Recht  mit  zu  dem  Besten'  zählen  durfte, 
was  von  einem  serbischen  Dichter  geleistet 
worden  war.  Und  so  bildet  der  „ Bergkranz** 
heute  noch  einen  respektabeln  Bestandteil 
serbischen  Schrifttums  und  die  Litterar- 
historiker  der  Südslaven  sind  in  ihrer  Be- 
wunderung desselben  durchaus  einig. 

Ob  die  Übersetzung  dieser  Dichtung  dem 
deutschen  Leser  ein  ähnliches  Interesse  ein- 
zuflöisen  vermag,  wie  das  Original  dem  Süd- 
slaven (und  dies  ist  doch  der  Zweck  einer 
jeden  Übersetzung)  ist  eine  andere  Frage. 
Offen  gestanden,  glaube  ich  es  kaum.  Den 
Übersetzer  trifit  die  wenigste  Schuld,  er  hat 
sein  mögliches  gethan.  Er  ist  mit  der  Sprache 
genügend  vertraut  und  schreibt  ein  anständiges 
Deutsch,  während  sonst  bekanntlich  bei  Über- 
setzungen aus  dem  Slavischen  in  der  Regel 
ein  Idiom  angewendet  zu  werden  pflegt,  das 
nur  mehr  oder  weniger  entfernt  an  unsere 
Muttersprache  erinnert.  Seine  Übersetzung 
ist  frei  von  Fehlem;  stellenweise  hätte  er 
durch  einfachere  Ausdrucksweise  dem  Original 
näher  kommen  können.  Allein  dies  mag  mit 
daran  liegen,  dafs  er  geglaubt  hat,  das 
Metrum  des  Originals  respektieren  zu  müssen, 
und  dieses  Versmafs  im  Deutschen  nicht  g^t 
wiederzugeben  ist.  Der  serbische  Zehnsilber 
wird  nämlich  durch  einen  Einschnitt  nach  der 
vierten  Silbe  rhythmisch  sowohl  als  logisch 
in  zwei  abgeschlossene  Teile  getrennt  Wird 
nun  dieser  Einschnitt  in  der  Übersetzimg 
nicht  innegehalten,  so  geht  das  Charakte- 
ristische des  Verses  verloren  und  es  entsteht 
ein  Zwittergebilde,  das  absolut  sinnlos  ist« 
Verse  wie; 


364 


068pr0CBiiii|^dl. 


Als  wir  von  Cet-  |  tinjes  Kämplen  hörten  -~ 
Wir  Pfiret  Niko-  |  la  und  aUe  Männer  — • 

(S.  io8), 

Doch  mein  Sohn!  doch  |  kommt  mir  keine 

TrÄne  — 
Helf  uns  Gott  und  |  seine  kleine  Weihnacht 

—  (S.  109), 
g'eben    alles    andere    wieder,    nur   nicht   den 
serbischen  Zehnsüber.     Einige  Verse    leiden 
aufserdem  an  falscher  Betonung: 

Schon  ist  B^zanz  nichts  mehr  als  die  Mit- 

gift  -  (S.   i), 
oder  gar: 
Dann  las  uns  das  Evangelium  der 
Pope  —  (S.  5a), 

oder: 

Was  ist  Scaevola,  was  Leonidas, 
Wenn  Obtti<i  auf  den  Kamp^latz  schreitet 

(S.  10). 

Im  Allgemeinen  aber  darf  man  wohl  sagen, 
dais  der  Obersetier  bei  den  nicht  geringen 
Schwierigkeiten,  die  dem  Verständnis  des 
Originals  im  Wege  stehen,  seine  Sache  recht 
brav  gemacht  hat.  —  Wenn  der  deutsche 
Leser  trotzdem  nicht  viel  Geschmack  an  der 
Dichtung  finden  wird,  so  liegt  dies  erstens 
daran,  dals  der  Inhalt  nicht  geeignet  ist,  ihm 
ein  tieferes  Interesse  einzuflöfsen.  Die  Be- 
freiung Montenegros,  so  wichtig  sie  för  die 
Völker  der  Balkanhalbinsel  gewesen  sein 
mag,  an  und  f&r  sich  ist  sie  dem  West- 
europäer gleichgültig.  Interesse  daf&r  hätte 
geweckt  werden  können,  wenn  der  Dichter 
aus  seinem  Stoff  ein  packendes  Drama  hätte 
machen  wollen  und  können.  Das  ist  aber 
nicht  der  Fall.  Die  Dichtung  ist  so  un- 
dramatisch,  wie  möglich:  es  sind  dialogisierte 


Szenen  ohne  Zusammenhang,  ohne  Handlung. 
Femer  leidet  das  Gedicht  an  nnvolkstflmlichen 
Elementen.  Der  Reigen  singt  z.  B.  von 
Spartanern,  Römern,  Scaevola,  Leonidas,  dem 
Tartarus  u.  s.  w. 

Schließlich  kann  der  deutsche  Leser,  der 
wie  es  doch  meist  za  erwarten  steht,  mit 
Geschichte  und  Volkseposder  Sädslaven  nicht 
vertraut  ist,  gar  kein  Interesse  f&r  die  Tor- 
kommenden  Personen  haben:  ihm  bleiben  sie, 
den  Fürstbischof  eingeschlossen,  der  lange 
Monologe  und  Reden  hält,  ohne  was  zu  thun, 
vollständig  gleichgQltig;  ihm  sind  die  Namen 
bei  denen  das  Herz  des  Serben  höher  schlägt, 
da  er  sie  aus  den  Liedern  seines  Volkes  kennt, 
leere  Namen.  —  Kurz  ich  glaube  nicht,  dals 
das  deutsche  Publikum  Verständnis  Rlr  diese 
Dichtung  haben  kann.  ~  Zum  Schlnfs  noch 
eine  Bemerkung.  Es  wird  in  unsem  Tagen 
vidSlavisches  übersetzt,  besonders  Russisches, 
Gutes  und  Mittelmäfsiges.  Hoffen  wir,  da& 
das  Interesse,  welches  diese  Übersetzung^en 
hervorruft  nicht  nur  Modesache  ist.  Die 
Teilnahme  unseres  Publikums  für  slavische 
Litteratur  wird  aber  nur  dann  von  Dauer 
sein,  wenn  die  Übersetzer  in  der  Auswahl 
des  zu  Übertragenden  strenger  vorgehen,  als 
es  bisher  der  Fall  war.  Vergesse  man  doch 
nicht,  dafs  man  einen  Leserkreis  vor  sich  hat, 
der  mehr  als  irgend  ein  anderer  europäischer 
befähigt  und  berechtigt  ist  zu  vergleichen 
und  Kritik  zu  flben  und  sei  man  daher  vor- 
sichtig in  dem,  was  man  dem  Vergleich  aus- 
setzt. Schon  die  Rücksicht  auf  die  fremde 
Litteratur,  die  der  Übersetzer  seinen  Lands- 
leuten nur  von  der  interessantesten  Seite 
zeigen  darf,  sollte  dies  gebieten. 

Leipzig.  Wilhelm  Wollner. 


Uhlands    Beziehungen    zu    ausländischen    Litteraturen 
nebst  Übersicht  der   neuesten  Uhlandlitteratur. 


Von 
Hermann  Fischer. 


Jubiläen  grofser  Männer  pflegen  neben  den  bald  verrauschenden  Fest- 
lichkeiten auch  ein  bleibendes  Denkmal  in  litterarischen  Erscheinungen 
zu  hinterlassen.  Namentlich  das  Schillerfest  von  1859  hat,  während 
Goethes  Jubiläum  zehn  Jahre  früher  wenig  Stimmung  zu  festlichen 
Aufserungen  der  Freude  gefunden  hatte,  in  einer  erdrückenden  Menge 
von  Jubelschriften  seine  mächtige  Spur  zurückgelassen. 

Stiller  wird  das  Säkularfest  Ludwig  Uhlands  vorübergehen.  Ist  es 
doch  mehr  eine  Angelegenheit  seiner  engeren  Heimat,  mehr  eine  Feier 
stiller  Dichter-  und  Charaktergröfse ,  als  die  eines  weltbeherrschenden 
Genius,  der  einem  ganzen  Jahrhundert  den  Stempel  seines  Geistes  auf- 
gedrückt hätte.  Uhland  selber  hat  einmal  aufs  feinste  und  schlagendste 
den  Unterschied  zwischen  solchen  Dichtern,  welche  im  Zusammenhang 
mit  der  ganzen  Wissenschaft  und  Kultur  ihrer  Zeit  stehen,  und  denjenigen 
gekennzeichnet,  welche  solche  der  Poesie  fremde  Stoffe  von  sich  aus- 
schliefsen,  „bei  denen  aber  das  wahre,  innerste  Wesen  der  Poesie  reiner 
vorhanden  ist  als  bei  jenen."  Er  hat  als  Beispiel  für  die  Letztern 
Hölderlin  angeführt;  richtiger  dürfen  wir  an  dessen  Statt  Uhland  selber 
nennen.  Er  wird  nicht  als  ein  Heros  modemer  Kultur  gefeiert  werden, 
aber  innerhalb  der  lyrischen  Poesie  Deutschlands  sehen  wir  keinen  aufser 
Goethe  und  Heine,  den  wir  neben  ihn  stellen  könnten;  er  ist  nicht  für 
die  Geschichte  des  ganzen  Deutschlands  von  Bedeutung  geworden,  aber 
sein  Württemberg  nennt  ihn  für  alle  Zeiten  als  den  vielverehrten  Ver- 
treter liberaler  Politik;  seine  Stelle  ist  nicht  in  der  Geschichte  der  Wissen- 

Ztachr.  f.  vgl.  Litt.-Geach.  I.  25 


366  Hermann  Fischer. 


Schaft  für  die  ganze  Welt,  aber  er  nimmt  einen  hohen  Ehrenplatz  in  dem 
Spezialfache  der  deutschen  Altertumsforschung  ein. 

Man  konnte  sich  kaum  eine  sehr  grofse  Litteratur  zu  Uhlands  Jubiläum 
erwarten.  Persönliches,  Biographisches  wird,  soviel  sich  übersehen  läfst, 
kaum  mehr  in  besonderer  Menge  und  von  besonderer  Erheblichkeit  zu 
erwarten  sein.  Dafür  ist  schon  sehr  viel  geschehen.  Uhlands  Witwe  in 
ihrem  kösdichen  Buche  und  in  noch  gröfserer  Ausdehnung  Karl  Mayer 
in  seinem  zweibändigen  Werke  haben  eine  sehr  grofse  Menge  von 
biographischem  Material  geliefert;  in  Uhlands  funfundsiebzigjährigem  Leben 
ist  kein  einziges  Jahr,  ja  kaum  ein  halbes,  über  das  uns  keine  gedruckten 
biographischen  Einzelheiten  zu  Gebote  stünden,  imd  für  viele  Teile  des- 
selben fliefsen  die  Quellen  fast  überreichlich.  Eine  oder  wohl  richtiger 
die  Hauptquelle  ist  freilich  noch  nicht  eröffnet.  AUe  Leser  des  Buches 
von  Frau  Emilie  Uhland  erinnern  sich  mancher  Anfuhrungen,  die  dasselbe 
aus  Uhlands  Tagbuch  macht.  Aus  diesem  selben  Tagbuch  hat 
W.  L.  Holland  in  den  letzten  Ausgaben  der  Gedichte  das  Datum  für  die 
weitaus  gröfste  Zahl  von  Gedichten  anzugeben  vermocht.  Es  mufs  also 
dieses  Tagbuch  von  Uhland  mit  all  der  Genauigkeit  und  Pünktlichkeit 
gefuhrt  worden  sein,  welche  sein  ganzes  Leben  und  Arbeiten  kennzeichnet 
Sollte  dieses  Tagbuch  nicht  vieles  enthalten,  was  der  Veröffentlichung 
neben  dem  schon  Veröffentlichten  wert  wäre?  Ich  gehöre  nicht  zu  denen, 
welche  es  für  wünschenswert  halten,  dafs  von  allen  Figuren  unserer 
Litteraturgeschichte  die  hüllenden  Decken  weggerissen  werden,  welche 
ihnen  die  Pietät  ihrer  Angehörigen  und  Freunde  gelassen  hat.  Aber 
Uhlands  Aufzeichnungen  werden  schwerlich  Dinge  enthalten,  die  man  vor 
den  Augen  der  Welt  zu  verhüllen  brauchte.  Und  wenn  ich  mich  auch 
nicht  zu  den  „exakten"  Forschern  gezählt  wissen  möchte,  denen  eine 
möglichst  grofse  Menge  möglichst  kleiner  Einzelheiten  als  ein  Venerabile 
erscheint,  so  möchte  ich  doch  an  den  glücklichen  Besitzer  die  leise  Frage 
richten:  will  er  uns  nicht  aus  Uhlands  Tagbuch  das  einmal  mitteilen, 
was  nach  billiger  Schätzung  für  die  Welt  von  einigem  Wert  sein  möchte? 

Dieser  Wunsch  wird  einem  auf  die  Zunge  gelegt  durch  ein  gegen 
Ende  des  letzten  Jahres  erschienenes  Buch,  welches  nicht  blofs  als  die 
bedeutendste  unter  den  bis  jetzt  zum  Vorschein  gekommenen  Säkular- 
gaben bezeichnet  werden  mufs,  sondern  welches  vor  allem  die  einzige 
ist,  die  dokumentarische  Mitteilungen  aus  Uhlands  Leben  und  Werken 
enthält  Ich  meine  die  Veröffentlichung  von  Uhlands  Nachfolger 
Wilhelm  Ludwig  Holland,  in  welcher  derselbe  nach  Uhlands 
eigenhändigen     Aufzeichnungen     uns     über     des    Dichters    akademische 


Obersicht  der  neuesten  Uhland-Litteratur.  367 


Thätigkeit  höchst  dankenswerte  Belehrung  gegeben  hat*).  In  den 
wenigen  Jahren,  welche  Uhlands  Wirken  an  der  Tübinger  Hochschule 
ausfüllte  (1830— 1833),  ^^^  ^^  nicht  blofs  wissenschaftliche  Vorlesungen 
gehalten,  welche  nach  seinem  Tode  von  Pfeiffer,  Keller  und  Holland 
veröffentlicht  wurden,  sondern  er  hat  auch  in  vier  Semestern  eine  Art 
von  stilistischem  Seminar  oder  Disputatorium  gehalten,  welches  sehr, 
zahlreichen  Besuch  hatte  und  den  ehemaligen  Teilnehmern  in  vortrefflichem 
Angedenken  steht.  Holland  hat  nun  eben  Uhlands  Aufzeichnungen  aus 
diesem  „Stilistikum"  veröffendicht  und  die  nötigen  Erläuterungen  dazu 
gethan.  Der  Umfang  der  Übungen  war  weit  gesteckt.  Es  sollten 
zwar  nur  solche  Dinge  zum  Vortrag  und  zur  Diskussion  kommen,  welche 
kein  blofs  fachmännisches  Interesse  hätten;  aber  es  war  nicht  nur 
gestattet,  sondern  gewünscht,  dafs  auch  aus  dem  Gebiete  der  Einzel- 
wissenschaften manches  in  gebildeter,  allgemein  verständlicher  Form  vor- 
vorgetragen werde,  wodurch  andere  Gelegenheit  zu  einem  Einblick  in 
die  zeitbewegenden  Momente  der  verschiedenen  Wissenschaften,  der 
Vortragende  selbst  aber  die  Veranlassung  bekäme,  sich  über  die  treibenden 
Dinge  in  seiner  Disziplin  klar  zu  werden,  das  docendo  discimus  an  sich 
zu  erproben.  So  wurden  denn,  wie  Uhlands  Aufzeichnungen  ergeben, 
manche  Vorträge  aus  den  einzelnen  Fakultätswissenschaften  gehalten 
und  diskutiert,  natürlich  mit  Vorliebe  aus  dem  Gebiete  der  allgemeiner 
verständlichen  und  mit  der  Zeitkultur  sich  eng  berührenden  „Geistes- 
wissenschaften", der  Philosophie  und  der  Theologie,  was  schon  durch 
die  grofse  Anzahl  der  in  den  Geistesbewegungen  der  Tübinger  Hoch- 
schule stets  voranstehenden  „Stiftler"  gegeben  war,  welche  an  den 
Übungen  teil  nahmen.  Einen  ebenso  grofsen,  wie  es  scheint  noch  einen 
gröfseren  Raum  nahm  die  Poesie  ein,  durch  Vortrag  eigener  dichterischer 
Versuche  wie  durch  Übersetzungen.  Uhland  behielt  sich  nur  die  Ober- 
leitung der  Übungen  vor;  er  liefs  sich  die  Vorträge  vorher  anmelden, 
verteilte  sie  in  passender  Gruppierung,  warf  da  und  dort  eigene 
Bemerkungen  ein,  fafste  am  Schlufs  der  Disputationen  die  Ergebnisse  kurz 
zusammen;  im  übrigen  liefs  er  seinen  Studenten  alle  mögliche  Freiheit. 
Uhlands  Notizen  zeigen  ihn  in  seiner  ganzen  ruhigen  Gefafstheit  und 
Zurückhaltung.  Er  sagt  seine  Meinung,  wenn  es  sein  mufs,  unverhohlen, 
aber  immer  auf  die  mildeste  und  edelste  Weise,  niemals  wehthuend,  und 
doch   mochte    mehr   als  einmal  der  Reiz  dazu  vorhanden  sein,    denn  es 


*)  Zu    Ludwig    Uhlands    Gedächtnis.     Mitteilungen    aus    seiner    akademischen    Lehr- 
thätigkeit  von  Wilhelm  Ludwig  Holland.      Leipzig,    Verlag    von  S.  Hirzel,    1886.     1028.8«. 

26* 


368  Hermann  Fischer. 


kamen    namentlich    in    den    poetischen  Produktionen   allerlei  Dinge   zum 
Vortrag,  wie  man  an  manchen  Orten  durch  Uhlands  gemäfsig^e  Ausdrucks- 
weise hindurch  zu  spüren  vermag.     Am  reichlichsten  ist  der  Ertrag  des 
Buches  in  Bezug  auf  Uhlands   poetische   und  ästhetische  Anschauungen 
im    allgemeinen;    namentlich    über    die    Technik    der  Poesie,    das  Wort 
Technik  im  weitesten  Sinne  genommen,  fmden  sich  sehr  feine  Bemerkungen ; 
aber    auch    die  Topik  kommt  nicht  zu  kurz,   denn  von   der  Wahl   ver- 
fehlter  Stoffe    mufste  Uhland  oft    genug   abraten.     Über  zeitgenössische 
Dichter  finden  wir  fast  gar  keine  Aufserungen;  nur  die  Weltschmerzlyrik 
ist  mehrmals  gestreift,  doch  ohne  alle  persönliche  Invektive.     Leider  erfahrt 
man  über  Uhlands  eigenes  poetisches  -Schaffen,  fast  gar  nichts.    Doch  ist 
auch  die  eine   Mitteilung,    welche   wir  über  einen  früheren  Gedichtplan 
Uhlands  bekommen,  Dankes  wert.     Ein  Student  hatte  drei  Sonette   „der 
Heimatlose"    eingereicht.     Der    Gegenstand    erinnerte   Uhland    an  einen 
eigenen  Entwurf  aus    früherer  Zeit  und  er  teilte   den  Plan  seines  alten 
Gedichtes  mit.     Derselbe  nimmt  eine  etwas  isolierte  Stellung  in  Uhlands 
Poesie  ein.     Ein  Wanderer,  der  sich  lange  auf  dem  Ozean  umgetrieben 
hat,  kommt  in  sein  Heimadand  zurück  und  durchwandert  das  Land  vom 
Meeresufer  den  Flufs  hinauf  bis  an  dessen  Ursprung,   an  welchem  dem 
um    einen  Trunk  Bittenden  eine  Jungfrau   den  Krug  mit  Wasser  reicht, 
in    der    er    mit  Erstaunen    seine    erste  Jugendliebe  wiedererkennt.     Der 
symbolisierende  Charakter  des  Gedichtes  ist  deutlich;  es  fehlt  an  Gedichten 
solcher  Art  bei  Uhland  nicht  ganz,  wenn  auch  eine  länger  ausgeführte 
Symbolik  nur  selten  von  ihm  beliebt  wird,  aber  ganz  von  seiner  sonstigen 
Art   abweichend  ist  die   grofsartige  Behandlung  der  Landschaft,  welche 
da    in    ihren    verschiedensten    Gestaltungen    der    Reihe   nach  vorgeführt 
werden    sollte.     Diese  Behandlungsweise  gemahnt  entschieden  mehr  an 
Goethe.     Nur    zwei    aufeinanderfolgende    Verse,    gereimte     trochäische 
Tetrapodien,    haben  sich  dem   Dichter  in  seine  prosaische  Analyse  ein- 
geschlichen.     Über  die  Zeit,  in  die  der  Plan  des  Gedichts  fallen  möchte, 
ist  es  kaum  möglich  irgend  etwas  zu  vermuthen. 

Wenn  wir  in  Hollands  Buch  eine  sehr  erfreuliche  Bereicherung  der 
Uhlandischen  Paralipomena  zu  begrüfsen  haben,  so  ist  dagegen  von 
Werken  über  den  Dichter  sehr  wenig  zu  vermelden.  Ein  nach  allen 
Seiten  erschöpfendes  Buch,  das  den  Dichter,  den  Forscher  und,  wenngleich 
in  dritter  Linie,  den  Politiker  Uhland  in  der  abschliefsenden  Weise  be- 
handeln würde,  wie  manche  andere  unserer  grofsen  Geister  schon  be- 
handelt sind,  fehlt  uns  noch,  wie  uns  auch  über  Schiller  ein  solches  fehlt 


Übersicht  der  neuesten  Uhland-Litteratur.  360 

. —  ■ 1^ 

(Weltrich  steht  ja  leider  noch  immer  ganz  in  den  Anfängen),  von  Goethe, 
bei  dem  die  Aufgabe  fast  unermefslich  ist,  ganz  zu  schweigen.  Wir 
müssen  uns  da  mit  älteren,  das  Wesentliche  nur  andeutenden  Werken 
begnügen,  deren  wir  vortreffliche  haben;  denn  was  uns  von  solcher 
Säkularlitteratur  vorliegt,  kann  den  Ansprüchen  der  Litteraturforschung 
nicht  besonders  genügend  heifsen.  Es  sind  mir  vier  Werke  über  Uhland 
zu  Gesicht  gekommen,  die  man  als  solche  Jubelschriften  bezeichnen  kann. 

Eine  derselben  tritt  freilich,  da  sie  gar  nicht  für  litterarhistorische 
Zwecke  bestimmt  ist,  aus  dem  Kreise  unserer  Betrachtung  heraus  und 
soll  nur  kurz  erwähnt  werden.  Ich  meine  das  Büchlein  meines  schwäbischen 
Landsmannes  Eduard  Paulus,  welches  schon  vor  neunzehn  Jahren  er- 
schienen, jetzt  aber,  um  eine  Anzahl  von  Illustrationen  des  zu  früh  ver- 
storbenen Gustav  Clofs  vermehrt,  auch  im  Texte  da  und  dort  umge- 
arbeitet, neu  herausgegeben  worden  ist.*)  Ein  Buch,  das  nicht  blofs  uns 
Schwaben  lieb  und  wert  sein  mufs,  weil  es  mit  dichterischer  Empfindung 
und  Darstellungsgabe  einen  der  schönsten  Teile  unserer  Heimat  schildert, 
sondern  überhaupt  als  eine  vortreflfliche  Einfuhrung  in  „des  Dichters 
Lande"  bezeichnet  werden  darf.  Der  landschaftliche  und  historische 
Boden,  auf  welchem  Uhlands  Poesie  erwachsen  ist,  wird  aufs  prächtigste 
geschildert,  und  die  zum  Teil  vorzüglichen  landschaftlichen  Zeichnungen 
tragen  das  ihre  dazu  bei;  Biographisches  und  Litterarisches  wird  nur 
gestreift. 

Dagegen  haben  wir  eine  wirkliche  Biographie  Uhlands  vor  uns  in 
der  Schrift  eines  andern  Landsmanns,  des  Oberschulrats  Adolf  Rümelin 
in  Dessau,  desselben,  dem  man  die  feine  Studie  über  Uhland  als 
Dramatiker  in  Band  42  der  preufsischen  Jahrbücher  verdankt.**)  Seine 
Darstellung  zielt,  gemäfs  dem  Programm  der  Sammlung,  welcher  sie  ein- 
verleibt ist,  auf  allgemeine  Verständlichkeit  hin;  d.  h.  sie  ist  nicht  für  den 
Litterarhistoriker  als  solchen,  aber  doch  wesendich  für  den  Kreis  der 
Gebildeten  bestimmt.  Daher  vermeidet  Rümelin  rein  ästhetische  Aus- 
führungen und  Abschweifungen,  aber  er  giebt  auch  von  der  Dichterart 
Uhlands  ein  gut  und  rund  gezeichnetes  Bild.  Die  Darstellung  hat  sich 
äufserlich    enge    Schranken    setzen    müssen,    um    sich    innerhalb  des  ihr 


•)  Ludwig  Uhland  und  seine  Heimat  Tübingen.  Von  Eduard  Paulus.  Mit  24  Illustra- 
tionen von  Gustav  Clofs.  Jubiläumsausgabe.  Stuttgart,  Verlag  von  Carl  Krabbe,  1887. 
Vm,  48  S.     4«. 

♦*)  Wörttembergische  Vierteljahrsblätter.  Viertes  Blatt.  1887.  Ludwig  Uhland.  Zum 
hundertsten  Gedenktage  seiner  Geburt  Von  Adolf  Rümelin.  Stuttgart,  Verlag  von 
D.  Gundert.     48  S.     8«. 


} 


370  Hermann  Fischer. 


gesteckten  Rahmens  zu  halten.  Aber  ich  bezeichne  gern  die  Schrift  als 
eine  sehr  erfreuliche  Leistung,  die  ihren  Zweck  reciit  gut  erfüllt  und  als 
Säkulargedenkbuch  wohl  den  ersten  Platz  unter  den  bis  jetzt  erschienenen 
verdient  haben  dürfte. 

Ausführlicher  ist  das  Werk  von  Hermann  Dede rieh,  das  ebenfalls 
Biographie  und  Litteraturgeschichte  vereinigt,  doch  so,  dafs  die  Letztere 
überwiegt.*)  Die  Darstellung  enthält  nicht  viel  Neues;  vielleicht  hätte  sie, 
kurz  wie  sie  ist  —  gehört  sie  doch  einer  Sammlung  von  Dichterbiographien 
an,  die  wohl  in  erster  Linie  für  die  Jugend  bestimmt  sein  sollen  — ,  noch 
kürzer  gehalten  werden  können,  wenn  der  Verfasser  darauf  Verzicht  ge- 
leistet hätte,  an  Uhlands  erzählenden  Gedichten  den  Unterschied  zwischen 
Romanze,  Ballade  und  Rhapsodie  zu  exemplifizieren.  Ich  halte  diese 
Ausfuhrungen  nicht  allein  für  zu  breit  im  Verhältnis  zum  Gegenstande 
selbst,  sondern  bin  auch  der  Meinung,  dafs  dabei  nichts  herauskomme. 
Es  geht  schon  bei  der  praktischen  Verwendung  jener  zwei  ersten  Begriffe, 
wobei  die  Ballade  wieder,  wie  schon  bei  andern  Ästhetikern,  das  nordisch- 
geheimnisvolle, die  Romanze  das  südlich-klare  vorstellen  soll,  gar  nicht 
ohne  beständiges  Stolpern  ab,  und  historisch  betrachtet  hat  jene  Unter- 
scheidung ohnehin  gar  keinen  Sinn,  sofern  die  beiden  Ausdrücke  gar 
nichts  mit  einander  zu  thun  haben,  einander  weder  ausschliefsen  noch 
ergänzen,  in  dem  seit  einem  Jahrhundert  gewordenen  deutschen  Sprach- 
gebrauch aber  meines  Erachtens  ganz  das  Gleiche  bedeuten.  Der  Ver- 
fasser stellt  ein  eigenes  Werk  über  diese  Dinge  in  Aussicht,  auf  das  wir 
uns  ja  füglich  vertrösten  können.**)  —  Wenn  ich  demnach  das  Buch 
selbst    als     keine    besondere    Förderung    unseres    litterargeschichtlichen 


*)  Ludwig  Uhland  als  Dichter  und  Patriot  Nebst  einem  Anhang:  Quellennachweise 
zu  den  episch-lyrischen  Dichtungen  und  litterar-histoHsche  Bellagen  und  Bemerkungen.  Von 
Hermann  Dederich.  —  Gotha,  Friedrich  Andreas  Perthes,  1886.  163  S.  8'.  Das  Buch  gehört  zu 
einer  Sammlung,  in  welcher  Ausgaben  deutscher  Dichtungen  (bis  jetzt  von  Klopstock,  Goethe, 
Schiller)  und  Dichterbiographien  (bis  jetzt  E.  M.  Arndt  und  Uhland)   vereinigt  werden  sollen. 

**)  Möge  er  in  demselben  nur  wenigstens  die  unglückliche  Etymologie  des  Wortes 
„Ballade**  bei  Seite  lassen,  welche  er  S.  41  vorträgt.  Danach  soll  das  Wort  vom  altbritischen 
Gwaelawd  „Volkslied^*  herkommen  und  sich  durch  das  Angelsächsische  und  Mittelenglische 
als  Ausdruck  för  Bänkelsängerlieder  fortgeerbt  haben.  Nun  kommt  das  Wort  aber  (s.  Murrays 
neues  Wörterbuch)  im  Englischen  zuerst  1385  vor,  also  in  jener  Zeit,  da  Gower,  der  poly- 
glotte Dichter,  seine  „Balladen"  dichtete.  Es  stammt  mit  der  übrigen  Poesie  seiner  Zeit  aus 
dem  Romanischen  und  ist  nichts  anderes  als  „ballata"  =  „Tanzlied"  (wie  das  altdeutsche 
„leich"),  von  ital.  ballare  tanzen  (s.  Diez,  Wörterbuch,  s.  v.  ballare).  Ich  weifs  zwar,  dafs 
gegen  die  Keltomanie  kein  Kraut  gewachsen  ist,  aber  jene  chronologische  Instanz  sollte  doch 
wohl  bei  Niemand  einen  Zweifel  lassen. 


Übersicht  der  neuesten  Uhland-Litteratur.  371 

t 

Wissens  bezeichnen  kann,  so  ist  der  Anhang  desselben  um  so  dankens- 
werter. In  diesem  werden  die  erzählenden  Dichtungen  Uhlands  in  chrono- 
logischer Reihenfolge  aufgeführt  und  bei  den  einzelnen  ihre  Veranlassung, 
ihre  Quellen,  die  Litteratur  über  dieselben  angegeben,  auch  manchmal 
kleinere  Exkurse  daran  angeknüpft.  Nur  einen  kleinen  Teil  der  hier 
behandelten  Gedichte,  ein  starkes  Fünftel,  hatte  schon  Eichholtz  in 
seinen  durch  den  Tod  zu  früh  abgebrochenen  Studien  behandelt,  und  so 
ist  Dederichs,  Zusammenstellung  neben  den  Erläuterungen  Düntzers  zu 
Uhlands  Balladen  und  Romanzen  von  Werte.  Auf  das  Einzelne  einzu- 
gehen kann  hier  der  Ort  nicht  sein. 

In  dem  letzten  der  Bücher,  welche  hier  zu  besprechen  sind,  von 
Ambros  Mayr,  sind  neben  Uhland  noch  vier  andere  schwäbische 
Dichter  behandelt:  Justinus  Kerner,  Gustav  Schwab,  Karl  Mayer, 
Eduard  Mörike,  Gustav  Pfizer*).  Die  Zusammenstellung  ist  neu  nach 
der  Auswahl  wie  nach  der  Gruppierung  der  behandelten  Dichter,  und 
über  den  seltsamen  Titel,  der  von  einem  Dichter-„Bund"  spricht,  will  ich 
mit  dem  Verfasser  nicht  rechten.  Ebensowenig  lafse  ich  mich  auf  eine 
Kritik  der  Behandlung  ein,  welche  den  andern  Dichtern  aufser  Uhland 
zu  teil  geworden  ist,  obschon  ich  da  einiges  auf  dem  Herzen  hätte**); 
ich  beschränke  mich  auf  den  Aufsatz  über  Uhland  speziell.  Der  Verfasser 
hat  es  mit  seiner  Darstellung  ernst  genommen,  und  eine  fast  vollständige 
Litteratur  über  seine  fünf  Dichter  zusammengebracht,  die  er  in  den 
zahlreichen  Anmerkungen  zu  jeder  Monographie  fleifsig  zitiert.  Er  selbst 
hat  namentlich  sprachliche  Studien  angestellt,  über  die  Neologien  bei  den 
einzelnen  Dichtern,  über  sprachliche  Härten,  Beobachtung  oder  Verletzung 
der  metrischen  Form  und  des  Reims.  Bei  Uhland  war  freilich  von 
solchen  Freiheiten  kaum  etwas  zu  melden,  und  der  Verfasser  erkennt 
in  ihm  mit  Recht  einen  auch  in  formeller  Beziehung  höchst  vollendeten 
Dichter.     Um  so  auffallender  mufs  es  erscheinen,  wenn  er  am  Fortunat, 


*)  Der  schwäbische  Dichterbund.  Ludwig  Uhland.  Justinus  Kemer  [u.  s.  f.  wie  oben], 
Studien  von  Dr.  Ambros  Mayr.  Innsbruck,  Verlag  der  Wagnerischen  Universitäts-Buchhandlung. 
1886.  Xn,  224  S.  8  ^  4 

**)  Doch  kann  ich  nicht  umhin,  im  Vorbeigehen  efnln  Irrtum  bezüglich  meines 
Schriftchens  Ober  Mörike  zu  erwähnen.  Der  Verfasser  läfst  mich  von  dem  Märchen  „der 
Schatz**  sagen,  dasselbe  sei,  „was  von  Mörikes  früheren  Arbeiten  grölseren  Umfangs  keine 
war,  ein  Kunstwerk  aus  einem  Gufs.^^  Ich  habe  (S!  39  meines  Schriftchens)  diese  Wendung 
vielmehr,  wie  nach  dem  Context  keinen  Augenblick  zweifelhaft  sein  kann,  von  dem  „Stuttgarter 
Hutzelmännlein^^  gebraucht.  Auf  den  „Schatz^*  würde  mein  Ausdruck  nicht  nur  überhaupt 
kaum  passen,  sondern  auch  noch  deswegen  nicht,  weil  derselbe  vor  der  „Idylle  vom 
Bodensee^*  entstanden  ist,  an  der  ich  ausdrücklich  den  Mangel  einheitlicher  Komposition 
hervorgehoben  habe  (S.  37). 


J 


372  Hermann  Fischer. 


dessen  Form  auch  der  mit  dem  Gedicht  sonst  unzufriedene  Vischer 
anerkennt,  formelle  Härten  auszusetzen  findet.  Er  hat  (S.  59,  Anm.  iio) 
zwanzig  Stellen  zusammengebracht,  welche  gegen  Prosodie,  Wortgebrauch 
u.  s.  w.  verstofsen  sollen.  Nun,  das  wäre  ein  Fehler  auf  fünf  bis  sechs 
Strophen.  Ich  kann  aber  Mayrs  Ausstellungen  zum  allergröfsten  Teil 
nicht  anerkennen.  Manche  beziehen  sich  auf  schwebende  Betonungen, 
wie  sie  in  Blankversen  und  namentlich  in  den  italianisierenden  Strophen- 
formen auch  sonst  häufig  sind  und  für  durchaus  geduldet  gelten  dürfen. 
Andere  gehen  auf  seltsam  scheinende  ungewöhnliche  Ausdrücke  (von 
welchen  übrigens  „sitzen**  ^=  sich  setzen  und  „handeln**  =  feilschen  1 
wenigstens  für  uns  Schwaben  nichts  auffallendes  haben);  hätte  der  Ver- 
fasserbedacht, dafsUhlands Gedicht  zu  derselben  parodistisch-humoristischen 
Gattung  gehört,  wie  z.  B.  Byrons  Don  Juan,  um  gleich  das  bedeutsamste 
Beispiel  zu  nennen,  so  hätte  er  solche  Besonderheiten  namentlich  im 
Reim  als  zu  der  ganzen  Manier  gehörig  empfinden  müssen;  eben  der 
Don  Juan  wimmelt  ja  von  solchen  burlesken  Wendungen  und  gesuchten 
Reimen,  nicht  etwa  20  auf  880  Zeilen,  sondern  in  jeder  Oktave  gleich 
ein  paar!  Und  eben  zu  diesem  parodistischen  Stil  gehört  auch  die 
Katachrese,  eine  Hand  um  Rachb  rufen  zu  lassen,  welche  Uhland  in 
einem  ernsthaften  Gedicht  sicher  nicht  eingefallen  wäre.  „Über  den 
Mangel  an  Grazie,  Leichtigkeit  und  Glätte  der  Stanzen  sich  zu  verwundern," 
ist  gewifs  aufser  dem  Verfasser  noch  niemand  zu  Sinn  gekommen. 
Wenn  er  den  Charakter  des  Gedichtes  für  mehr  Wielandisch  erklärt, 
so  läfst  sich  das  dem  Inhalt  nach  hören;  von  der  Form  aus  aber  wäre 
wohl  niemand  auf  Wieland  verfallen,  der  die  grofsartige  Salopperie  der 
Oktaven  im  Oberon  in  Erinnerung  hätte.  So  ganz  und  gar  fremd- 
artig steht  das  Fragment  gerade  nicht  unter  Uhlands  andern  Werken; 
es  ist  wie  aus  derselben  Zeit,  so  auch  aus  derselben  ironisierenden, 
tieckisierenden  Richtung  hervorgegangen,  wie  die  andern  romantischen 
Manifeste  des  Dichters:  das  „Frühlingslied  des  Rezensenten",  die  „Bekehrung 
zum  Sonett",  die  Glossen  u.  a.  Aber  Uhland,  das  kann  dem  Verfasser 
zugegeben  werden,  ist  des  Tones,  der  im  ganzen  ihm  doch  fremd  war, 
müde  geworden  und  hat  den  Fortunat  als  Fragment  stehen  lassen;  doch 
gewifs  nicht  weil  „Abälardische  Motive**  (Gesang  i,  Str.  44  f.)  nicht  zu 
seinem  reinen  Gemüt  gepafst  hätten  —  dazu  war  der  Dichter  von 
„Graf  Eberstein"  doch  nicht  zimpferlich  genug;  —  sondern  weil  es  ihm 
widerstand,  ein  ganzes  langes  Gedicht  hindurch  witzig  zu  sein.*) 

*)  Man  kann  jetzt  in  Hollands»  zuerst  besprochener  Publikation  S.  56  die  sehr  lehrreiche 
Ausführung  über  das  komische  Epos  nachlesen. 


Obersicht  der  neuesten  Uhland-Litteratur.  373 

•-I  — —      —  -  -  -    —  -  -  ■  -  ■ 

Wie  schon  diese  Probe  zeigen  kann,  ist  der  Verfasser  nicht  bei  dem 
rein  formalen  in  der  Poesie  stehen  geblieben,  vielmehr  auch  auf  das 
Sachliche  eingegangen.  Ästhetische  Urteile  sind  nun  freilich  Geschmack- 
^ache^  und  so  hätte  es  am  Ende  in  dieser  kurzen  Zusammenstellung 
wenig  Wert,  wenn  ich  zu  vielen  Ausführungen  des  Verfassers  meine 
Zustimmung  geben,  andere  bekämpfen  wollte.  Eins  darf  ich  jedoch 
nicht  verschweigen:  die  Ausfuhrungen  Mayrs  sind  wesentlich  ästhetisch, 
nicht  litterarhistorisch.  Er  hat  zwar  die  Perioden  in  Uhlands  Dichtung 
zu  sondern  gesucht,  aber  den  Zusammenhang  derselben  mit  unserer 
deutschen  Litteraturgcschichte  überhaupt  nicht  erörtert.  Ich  halte  das 
für  einen  Mangel,  wenn  es  auch  gewollt  sein  mag.  Denn  ein  volles 
Verständnis  des  Dichters  ist  doch  ohne  seinen  Zusammenhang  mit  seiner 
Zeit  nicht  zu  erreichen. 

Schon  oben  habe  ich  darauf  hingedeutet,  dafs  eine  litterarhistorische 
Betrachtung  zu  einem  billigeren  Urteil  über  den  Fortunat  hätte  fuhren 
müssen.  Noch  sicherer  aber  hätte  eine  genauere  Kenntnis  von  dem  Zu- 
sammenhang Uhlands  mit  der  Romantik  das  unglückliche  Kapitel  über 
Uhlands  Sonette  (S.  25)  ungeschrieben  lassen  müssen. 

Dort  steht  nämlich,  Uhland  sei  ein  Gegner  des  Sonetts  gewesen, 
und  dafiir  wird  ein  von  seiner  Witwe  (Uhlands  Leben,  S.  40)  abgedruckter 
Brief  an  Kölle  vom  Jahr  1807  angeführt,  in  welchem  Uhland  „diese 
Gedichtsform,  so  schön  sie  sich  im  Einzelnen  ausnehmen  mag,  im  Ganzen 
unserer  Sprache  nicht  angemessen  findet"  Allein  Mayr  selbst  zitiert 
zugleich  Uhlands  späteren  Brief  an  Graf  Loben  vom  18.  März  181 2,  wo 
Uhland  (Leben,  S.  81)  sich  in  wesentlich  anderer  Weise  ausspricht.  Und 
jedenfalls  stehen  in  Uhlands  Gedichtsammlung  nicht  weniger  als  einund- 
zwanzig Sonette,  etwa  ein  Fünfzehntel  aller  Gedichte.  Eine  litterar- 
historische  Betrachtung  hätte  dem  Verfasser  sofort  zeigen  müssen,  dafs 
Uhlands  Sonettdichtung  im  Zusammenhang  steht  mit  seiner  zeitweiligen 
Hinneigung  zu  romantischem,  genauer  tieckischem  Humor  und  Formen- 
spiel. Alle  Sonette  Uhlands  sind  aus  den  Jahren  1809  bis  18 16,  ebenso 
seine  anderen  Gedichte  in  romantisch-südländischen  Formen :  die  Glossen 
von  181 3  und  1814,  die  Oktaven  aus  den  Jahren  1807  bis  181 9.  Und 
eben  in  die  erste  Hälfte  der  zehner  Jahre  fallt  auch  Uhlands  Beteiligung 
an  den  Kämpfen  zwischen  Romantikern  und  Klassicisten. 

Die  Kenntnis  dieser  Kämpfe  hätte  dem  Verfasser  einen  fast 
unglaublich  scheinenden  Irrtum  ersparen  müssen.  „Uhland",  sagt 
er  im  selben  Zusammenhange,  „scherzt  über  sich  selbst  in  launiger 
Weise,  dafs  er,   der  ausgesprochene    Gegner    der   Sonettform,  sich    nun 


874  Hermann  Fischer. 


doch  auch  derselben  bediene"  und  zwar  in  dem  Gedicht  „Bekehrung 
zum  Sonett."  Ich  lasse  dahingestellt,  ob  die  Worte  jenes  Gedichts 
als  zur  Selbstverhöhnung  passend  angesehen  werden  können;  etwas 
zweifelhaft  hätte  den  Verfasser  doch  schon  der  Umstand  machen  sollen, 
dafs  Uhland  dort  von  „einem  Sonetdein"  und  zwar  einem  ganz  be- 
stimmten redet,  während  er  doch  vor  jenem  Gedicht  schon  neunzehn 
Sonette  gedichtet  hatte.  Wenn  ich  mich  besinne,  wie  Mayr  wohl  auf 
eine  solche  Vermutung  kommen  konnte,  so  will  mir  nichts  anderes  ein- 
fallen als  die  Worte  in  der  Glosse  „der  Rezensent**: 

Lais,  mein  Kind,  die  spansche  Mode! 
Lafe  die  fremden  Triolctte! 
Lais  die  welsche  Klangmethode 
Der  Kanzonen  und  Sonette!  u.  s.  w. 

Diese  Worte  mufs  er  für  bare  Münze  genommen  haben,  da  sie 
doch  pure  Ironie  sind ;  dessen  hätte  ihn  schon  die  folgende  Strophe  be- 
lehren können: 

In  antiken  Verskolossen 
Stampft  sie  besser  ihren  Reigen 
Mit  Spondeen  und  Molossen; 

Worte,  die  doch  kein  Mensch  für  ernsthaft  gemeint  halten  wird!  Nun, 
die  Kundigen  wissen  längst,  wie  die  Sache  sich  verhält.  Jene  satirischen 
Gedichte  sind  Verhöhnungen  der  Antiromantiker,  sie  gehören  zu  dem 
grofsen  Kampf,  der  zwischen  Romantikern  und  Klassicisten,  Sonettisten 
und  Sonettfeinden  entbrannt  war  und  über  den  das  Genauere  in  Weltis 
Geschichte  des  Sonettes  sowie  in  PfafFs  Einleitung  zu  seinem  Neudruck 
von  „Trost  Einsamkeit"  zu  finden  ist.  Speziell  „der  Rezensent"  geht, 
wenigstens  in  seiner  letzten  Strophe,  auf  Vofs,  den  Führer  der  Anti- 
romantiker, mit  seinen  antiken  Metren  und  Wortungetümen;  „die  Bekehrung 
zum  Sonett"  aber  auf  Friedrich  Weisser,  das  Haupt  der  schwäbischen 
Antiromantiker,  der  im  Jahr  1814  ein  Liebessonett  gedichtet  hatte,  das 
in  seinen  Werken  noch  zu  lesen  ist. 

Ich  habe  oben  gesagt,  dafs  wir  noch  keine  abschliefsende  Studie 
über  die  Genesis  von  Uhlands  Poesie  besitzen.  In  dieser  dem  inter- 
nationalen Litteraturverkehr  gewidmeten  Zeitschrift  mag  es  mir  verstattet 
sein,  einen  kleinen  Beitrag  zu  jenem  Endzweck  zu  geben  durch  Dar- 
stellung von  Uhlands  Beziehungen  zu  ausländischen  Litteraturen, 
Etwas  in  sich  Zusammenhängendes  zu  geben  ist  da  allerdings  nach  der 
Natur  der  Sache  nicht  möglich;  meine  Leser  müssen  sich  mit  einer  mehr 


Uhlands  Beziehungen  zu  ausländischen  Litteraturen.  875 


äufserlichen,  aber,  wie  ich  hoflfe,  das  Thatsächliche  erschöpfenden  Be- 
handlungsweise  zufrieden  geben. 

Wenn  Uhland  nicht  zu  den  Dichtern  für  die  Weh  gehört,  so  hat  er 
doch  für  seine  Poesie  sich  nicht  an  die  Grenzen  der  deutschen  Nation 
gebunden  —  das  hat  noch  keiner  von  unsern  wirklich  grofsen  Dichtern 
gethan  —  und  hat  auch  wissenschaftlich  sich  mit  fremder  Litteratur  be- 
schäftigt Auf  den  engen  Zusammenhang  zwischen  seinen  Studien  und 
seiner  Dichtung  haben  schon  andere  oft  genug  hingewiesen.  Aber  eben 
in  Beziehung  auf  die  dichterische  Verwendung  fremder  Stoffe  erweist  sich 
Uhland  als  echter  Dichter.  Er  erscheint  nie  blofs  als  Anempfinder  oder 
als  virtuoser  Nachahmer  fremdländischer  Poesie,  sondern  fremde  StoflFe 
und  Formen  haben  bei  ihm  durchaus  das  Medium  seiner  kräftigen 
dichterischen  Individualität  passieren  müssen. 

Uhlands  wissenschaftliche  Thätigkeit  ist  in  ihrer  vollen  Bedeutung 
erst  nach  seinem  Tod  bekannt  geworden.  Die  Schriften  über  Walther 
von  der  Vogelweide  und  den  Mythus  von  Thor  waren  als  vorzügliche 
Leistungen  und  bedeutende  Förderungen  der  Wissenschaft  allerdings 
bekannt.  Der  Aufsatz  über  das  altfranzösische  Epos  aber  lag  in  Fouques 
Zeitschrift  „die  Musen"  so  gut  wie  begraben,  und  von  Uhlands  Lebens- 
werk, der  Volksliedersammlung,  waren  zwar  die  Texte  erschienen,  noch 
fehlte  aber,  was  den  tiefsten  Einblick  in  die  Genauigkeit  und  Feinheit 
seines  Schaffens  gewähren  konnte,  die  Abhandlung  und  die  Anmerkungen 
zu  denselben. 

Erst  die  acht  Bände  „Schriften  zur  Geschichte  der  Dichtung  und 
Sage,"  welche  seine  drei  germanistischen  Freunde  W.  L.  Holland, 
A.  Keller,  F.  Pfeiffer  herausgegeben  haben,  konnten  uns  eine  genauere 
Kenntnis  des  Gelehrten  Uhland  vermitteln,  und  diese  Veröffentlichungen 
müssen  die  höchste  Achtung  vor  ihm  erwecken. 

Mit  einer  weisen  Beschränkung,  die  für  ihn  kein  Zwang  war,  denn 
sie  ging  aus  seinen  tiefgewurzelten  poetischen  Neigungen  hervor,  hat 
Uhland  lediglich  die  mittelalterliche  Poesie  zum  Gegenstand  seiner 
Forschung  gemacht.  Die  Poesie:  diesen  Begriff  betont  er  mehr  als 
einmal;  mythologische  oder  litterarhistorische  Gesichtspunkte  stehen  ihm 
in  zweiter  Linie.  Und  innerhalb  der  Poesie  ist  es  wieder  in  erster  Linie 
die  volkstümliche  Dichtung,  was  ihn  beschäftigt.  In  dieser  letzteren 
Beziehung  kann  man  ihn  mit  dem  befreundeten  und  menschlich  ihm 
ähnlichen  Jakob  Grimm  vergleichen,  wenn  er  in  der  liebevollen  Aus- 
arbeitung seiner  Werke  mehr  dem  jüngeren  Bruder  Wilhelm  ähnelt.  Es 
liegt  dem  Gegenstande  dieses  Aufsatzes  ferne,  das  Gesagte  in  bezug  auf 


376  Hermann  Fischer. 


Uhlands  deutsche  Studien  auszufuhren,  wo  es  sich  am  schönsten  zeigen 
und  verfolgen  liefse.  Ich  mufs  mich  hier  auf  die  Behandlung  aufser- 
deutscher  Gegenstände  beschränken.  Fremde  Litteraturen  spielen  aller- 
dings, wie  das  bei  der  Behandlung  des  Mittelalters  gar  nicht  anders 
möglich  ist,  auch  in  jene  Aufsätze  und  Vorlesungen  über  die  deutsche 
Poesie  herein,  sei  es,  dafs  die  altnordische  Mythologie  und  Heldensage 
als  erster  Teil  der  „Sagengeschichte  der  germanischen  und  romanischen 
Völker"  vorgetragen  wird,  sei  es,  dafs  in  denselben  Vorlesungen  die 
altfranzösische  Heldensage  behandelt  ist,  welche  in  ihren  deutschen 
Übersetzungen  und  Bearbeitungen  auch  im  zweiten  Teil  der  „Geschichte 
der  altdeutschen  Poesie"  vorkommt,  sei  es  endlich,  dafs  in  den  Arbeiten 
über  das  Volkslied  mit  einem  staunenswerten  Fleifse  die  verschiedensten 
fremden  Lieder,  namendich  solche  des  skandinavischen  Nordens,  herbei- 
gezogen und  mit  Glück  verwertet  sind. 

Uhland  hat  sich  aber  in  einigen  wenigen  Arbeiten  auch  ausschliefsUch 
mit  der  aufserdeutschen  Poesie  des  Mittelalters  befafst.  Gleich  seine 
erste  gelehrte  Arbeit  gehört  daher  und  war  ein  Meisterstück.  Ich  meine  den 
Aufsatz  über  das  altfranzösische  Epos,  welcher  in  der  von  Fouque 
und  Neumann  herausgegebenen  Zeitschrift  „die  Musen",  1812,  3.  Quartal, 
erschien,  und  welchem  im  nächsten  Hefte  „Proben"  dazu  nachfolgten; 
beides  in  Uhlands  Schriften,  Bd.  IV,  wieder  abgedruckt.  Der  Aufsatz 
ist  die  Frucht  des  Aufenthalts  ins  Paris  von  1810  und  1811  und  giebt 
das  beste  Zeugnis  dafür,  wie  vortrefflich  Uhland  diesen  nur  dreiviertel- 
jährigen Aufenthalt  ausgenützt  hat.  Ohne  die  bequemen  gedruckten 
Hilfsmittel  unseres  Jahrhunderts,  zumeist  durch  mühevolles  Studium  der 
in  dem  unvergleichlichen  Bücherschatze  der  National bibliothek  angehäuften 
Handschriften,  gelang  es  ihm,  einen  tiefen  Einblick  in  das  Wesen  und 
die  Geschichte  des  altfranzösischen  Epos  zu  gewinnen.  Die  Fachmänner 
wissen  den  Wert  des  Aufsatzes  zu  schätzen,  der  unter  die  grundlegenden 
in  jenem  damals  noch  kaum  betretenen  Litteraturgebiete  gehört.*) 
Uhland  hat  hier  schon  ganz  bündig  den  durch  spätere  Forschung  nur 
bestätigten  Nachweis  gefuhrt,  dafs  und  wie  die  auf  der  Karlssage  ruhenden, 
für  den  Gesang  bestimmten,  in  alexandrinischen  Tiraden  gedichteten 
Chansons  von  den  bretonischen,  zum  Lesen  gedichteten,  in  kurzen  Reim- 
paaren verfafsten  Contes  verschieden  sind;  auch  der  Nachweis  ist  schon 
von  ihm  gefuhrt  worden,  dafs  jene  karolingischen  Epen  nicht,  wie  früher 
angenommen  wurde,  auf  der  sogenannten  Turpinischen  Chronik  beruhen. 


^)  Vgl.  Jahn,  Uhland,  S  69. 


J 


Uhlands  Beziehungen  zu  ausländischen  Litteraturen.  377 


Ein  anderes  Werk  fuhrt  in  den  skandinavischen  Norden,  die  „Sagen- 
forschungen." Von  diesen  hat  Uhland  selbst  blofs  den  ersten  Band 
erscheinen  lassen,  welcher  den  „Mythus  von  Thor  nach  nordischen 
Quellen"  behandelt  (Stuttgart  und  Augsburg,  Cotta  1836).  Ihm  sollte 
ein  zweiter  über  den  Mythus  von  Odin  nachfolgen;  eine  Einleitung  dazu 
schrieb  Uhland  schon  1837,  und  in  seinen  Briefen  erwähnt  er  das  Vor- 
haben noch  öfters.  Aber  erst  in  seiner  spätesten  Zeit,  wie  das  aus  der 
Handschrift  und  aus  manchen  Zitaten  hervorgeht,  hat  er  die  Abhandlung 
selbst  niedergeschrieben;  es  ist  wohl  kein  Grund,  dieselbe  für  unvollendet 
anzusehen,  aber  sie  erschien  nicht  mehr  zu  Uhlands  Lebzeiten.  Erst  fünf 
Jahre  nach  seinem  Tode  wurde  sie,  zusammen  mit  der  über  Thor,  als 
sechster  Band  der  Schriften  veröffentlicht. 

Die  Abhandlung  über  Thor  erschien  ein  Jahr  nach  J.  Grimms 
Mythologie.  Ihre  Anlage  ist  aber  eine  ganz  andere  und  vollkommen 
selbständige.  Die  deutsche  Mythologie  ist  ganz  bei  Seite  gelassen;  es 
werden  die  einzelnen  altnordischen  Mythen  von  Thor  erzählt,  im  ganzen 
aufsteigend  von  den  sofort  verständlichen  zu  den  schwierigeren,  ver- 
wickeiteren, durch  freiere  poetische  Zuthaten  getrübten.  Die  sinnige, 
einen  echten  Dichter  von  feinem  Verständnis  für  das  Volkstümliche  ver- 
ratende Art,  wie  Uhland  diese  Mythen  erklärt  hat,  ist  längst  bekannt 
und  geschätzt.  Manches  ist  geradezu  unübertrefflich;  andere  jener  Mythen 
aber,  deren  Erklärung  Uhland  selbst  als  keineswegs  sicher  bekannt  hat, 
hätten    auch  jeden   anderen  Erklärer  zur  Verzweiflung  bringen  müssen. 

Zwischen  dieser  Abhandlung  und  der  über  Odin  liegen  etwa  zwanzig 
Jahre,  in  welchen  manches  für  nordische  und  deutsche  Mythologie 
geschehen  ist  Das  merkt  man  bei  der  Lektüre  der  zweiten  Abhandlung 
deutlich.  Sie  geht  mehr  systematisch  vor;  verglichen  mit  der  früheren 
Methode  des  langsamen  Vorwärtsschreitens  von  einer  Mythenerzählung 
zur  andern  ist  mehr  Räsonnement  und  Diskussion  im  Grofsen  angestellt. 
Es  ist  überhaupt,  was  bei  der  Darstellung  der  von  dem  mythologischen 
System  der  Nordländer  in  den  Mittelpunkt  des  Ganzen  gestellten  Gottheit 
nicht  anders  möglich  war,  die  nordische  Mythologie  insgesammt  in 
Betracht  gezogen;  namentlich  der  Abschnitt  über  die  Vanen  ist  beachtungs- 
wert. Von  der  Naturerklärung,  die  beim  Thormythus  Mittelpunkt  und 
Endpunkt  des  Ganzen  war,  ist  hier  vollständig  abgesehen.  Uhland 
scheint  an  eine  Naturbedeutung  Odins  gar  nicht  geglaubt  zu  haben,  schon 
in  den  Vorlesungen  über  Sagengeschichte  (Schriften  VII,  64)  ist  eine 
solche  zurückgewiesen.  Ein  bezeichnender  Unterschied  gegen  jene  Vor- 
lesungen,   welche   schon   vor  der  Schrift   über  Thor,    im   Jahr  1831    und 


378  Hermann  Fischer. 


1832,  gehalten  wurden,  liegt  in  der  starken  Hereinziehung  des  historischen 
und  geographischen  Elements,  welche  nunmehr  versucht  wird.  In  den 
Vorlesungen  sind  die  Vanen  lediglich  als  Naturmächte  dargestellt;  im 
Odin  wird  auf  ihren  Zusammenhang  mit  Schweden,  wie  auf  den  Odins 
mit  Dänemark  und  dem  Festland  hingewiesen;  ja  es  wird  der  kühne 
Versuch  gemacht,  Freyas  Halsband  „Brisingamen"  aus  einer  Form 
Brysingamen  zu  erklären,  als  das  „preufsische",  aus  dem  Bernstein  der 
estnischen  Küste  gefertigte;  Bragi,  der  in  den  Vorlesungen  noch  als 
Ase  erschien,  wird  nunmehr  für  einen  erst  später  in  die  Asenwelt  ein- 
gedrungenen Skaldenurvater  erklärt.  Durch  solche  Züge  klingen  Uhlands 
Forschungen  schon  bedeutsam  an  spätere  nordischer  Gelehrter  (ich  nenne 
Bang,  Petersen,  Bugge)  an,  welche,  wenn  man  auch  gewifs  sehr  viel 
davon  abziehen  darf,  das  Gebäude  der  altnordischen  und  der  von  Grimm 
daran  angelehnten  deutschen  Mythologie  bedeutend  erschüttert  haben. 

Was  Uhlands  Mythenforschungen  charakterisiert  und  ihnen  in  ihrem 
bescheidenem  Umfang  einen  Vorzug  vor  den  grofsartigeren  aber  auch 
öfters  in  der  Irre  gehenden  Jacob  Grimms  verleiht,  das  ist  eben  jene 
Beschränkung  auf  die  nordische  Sage.  Uhlands  Forschung  ist  stets 
behutsam  und  vorsichtig;  von  den  überkühnen  Gleichungen,  die  wir  in 
Grimms  Mythologie  finden,  ist  bei  Uhland  nichts  wahrzunehmen.  Diese 
Vorsicht  spricht  sich,  um  nur  zwei  Einzelheiten  zu  erwähnen,  aus,  wenn 
Uhland  Grimms  Beziehung  der  mittelhochdeutschen  Personifikation  des 
„Wunsches"  auf  Odin  (Oski)  zurückweist*),  und  noch  viel  später,  wenn 
er  dem  begeisterten  Franz  Pfeiffer  gegenüber  seine  schweren,  in  der 
Folge  glänzend  gerechtfertigten  Bedenken  wider  die  Echtheit  des  bekannten 
althochdeutschen  Schlummerliedes  ausspricht.  **) 


*)  Schriften  TV,  16:  „Die  Personifikation  des  Wunsches  ist  nicht  als  eine  mythische 
nachgewiesen,  sondern  nur  als  eine  allegorische  oder  vielmehr  sprachliche,  aus  der  fort- 
wirkenden Lebendigkeit  und  Bildlichkeit  der  Sprache  hervorgegangene ;  die  Belege  sind  auch 
nur  der  Ritterpoesie  entnommen.*'  Diese  Worte  stehen  in  den  von  Uhland  selbst  nicht  xam 
Drucke  gebrachten  Anmerkungen  zu  den  Volksliedern.  Schon  am  31.  Dezember  1830 
schrieb  Jac.  Grimm  an  Uhland  über  diesen  Gegenstand  (Uhlands  Leben,  S.  382);  es  läfst  sich 
aber  nicht  erkennen,  ob  beide  über  denselben  des  weiteren  brieflich  (oder  später  mündlich) 
mit  einander  verhandelt  haben. 

**)  Im  Anhang  zum  Briefwechsel  mit  Lassberg,  S.  328:  „Es  erregt  mir  Bedenken, 
dafs  dieses  poetisch  anziehende  Stück  mit  geringen  Ausnahmen  so  genau  mit  Grafis  Sprach- 
schatz, Grimms  Grammatik  und  Mythologie  übereinstimmt,  während  die  Merseburger  Segen 
so  manches  Rätsel  zu  lösen  g^ben.  Unter  den  aufgezählten  Gottheiten  ist  keine,  die  nicht 
in  der  Mythologie  stände"  u.  s.  f.  Uhlands  nüchterne  Kritik  erinnert  sehr  lebhaft  an  manche 
in  demselben  Band  abgedruckte  Aufserungen  Lassbergs,  welcher  in  mythologischen  Dingen 
sehr  skeptisch  war  und  stets  vor  dem  Zusammenwerfen  deutscher  und  skandinavischer  Sagen 
gewarnt  hat. 


Uhlands  Beziehungen  zu  ausländischen  Litteraturen.  379 

Gehen  wir  zu  der  dichterischen  Behandlung  fremder  Stoffe  bei 
Uhland  über,  so  ist  auch  hier  in  der  Hauptsache  jene  Beschränkung  auf 
die  mittelalterlichen  Völker  und  Litteraturen  wahrzunehmen,  aber  doch 
nur  in  der  Hauptsache.  Allerdings  hat  Uhland  nur  selten  Gegenstände 
aus  dem  Altertum  oder  aus  der  Gegenwart  behandelt.  Die  letzteren 
beschränken  sich,  wenn  ich  meinem  Programm  gemäfs  die  Gedichte  über 
deutsche  Zeitgenossen,  wie  Wilhelm  Hauff,  Gangloff,  die  poetischen 
Freunde  Kerner,  Mayer  u.  a.,  ausnehme,  auf  die  beiden  hauptsächlich  von 
politischer  Sympathie  eingegebenen  Gedichte  Mickiewicz  (1833; 
S.  470  f.  der  59.  Aufl.  der  Gedichte  von  1874)  und  die  Bidassoabrücke 
(15/16.  März  1834;  Ged.  S.  289  ff.);  wozu  man  noch  die  ihrer  ganzen 
Manier  nach  vereinzelt  unter  Uhlands  Gedichten  stehende  Mähderin 
(9.  Februar  181 5;  Ged.  S.  238  flf.)  stellen  kann,  als  Bearbeitung  einer  zeit- 
genössischen Zeitungsanekdote,  sofern  nämlich  die  zu  Grund  liegende 
Geschichte  sich  in  Frankreich  begeben  haben  sollte.  Die  beiden  letzt- 
genannten Gedichte  sind  bekannt  genug,  die  Bidassoabrücke  mit  Recht 
berühmt,  die  Mähderin  von  W.  L.  Holland  zum  Gegenstand  einer  kleinen 
Monographie  gemacht  (Tübingen  1874);  das  Gedicht  auf  Mickiewicz, 
welches  den  Dichter  als  Bürgen  für  die  noch  nicht  ganz  untergegangene 
Gröfse  seines  Vaterlandes  beg^üfst,  ist  erst  von  Holland  aiis  dem  hand- 
schriftlichen Nachlafs  Uhlands  herausgegeben  worden. 

Dagegen  spielt  das  Altertum,  wenn  man  näher  zusieht,  doch  keine 
so  völlig  bedeutungslose  Rolle  bei  Uhland.  Der  Orient  allerdings, 
einschliefslich  der  biblischen  Stoffe,  ist  in  Uhlands  Gedichtsammlung 
ganz  unvertreten.  Unter  dem  handschriftlichen  Nachlafs  finden  sich 
drei  in  den  gewöhnlichen  modern-christlichen,  zum  teil  noch  an 
Klopstock  gemahnenden  Tönen  gehaltene  Gedichte  „Simeon",  „Jesu 
Kreuzestod",  „Jesu  Auferstehung  und  Hinunelfahrt"*),  welche  be- 
zeichnenderweise alle  aus  dem  Jahr  1801,  also  der  Zeit  der  Konfirmation 
stammen.  Später  hat  der  religiös,  aber  nicht  konfessionell  gesinnte 
Uhland  sich  solcher  Stoflfe  gänzlich  enthalten;  zu  der  bekannten  „Bitte" 
an  die  geistlichen  Dichter  (18.  Juni  1816;  Ged.  S.  41),  ihren  bekannten 
Ton  „nicht  länger  zu  fuhren",  läfst  sich  nunmehr  noch  eine  Aufserung 
Uhlands  aus  seinem  Stilistikum  fugen,  in  welcher  er  die  Schwierigkeit, 
ja  Bedenklichkeit  biblischer  Stoffe  für  die  Poesie  sehr  klar  darthut.**) 

Das  klassische  Altertum,  seine  Stoffe  und  Formen,  nehmen  einen 
etwas  gröfseren  Raum  bei  Uhland  ein,  als  man  gewöhnlich  liest.     Er  hat 


*)  Das  letzte  abgedruckt:  Uhlands  Leben,  S.  12  flf. 
**)  Holland,  zu  L.  Uhlands  Gedächtnis,  S.  34  f. 


1 


380  Hermann  Fischer. 


sich  auf  der  anatolischen  Schule  zu  Tübingen  einen  sehr  guten  Schulsack 
geholt  und  war,  wie  man  da  und  dort  lesen  kann,  ein  sehr  gewandter  Jünger 
der  jetzt  verschollenen  Kunst,  lateinische  Verse  zu  machen.  Otto  Jahn 
(L.  Uhland,  S.  109  ff.)  hat  zwei  Proben  dieser  Kunst  veröffentlicht,  eine 
in  Distichen,  die  andere  in  sapphischen  Strophen,  beide  aus  dem  Jahr  1803; 
ein  weiteres  sapphisches  Gedicht,  Ende  1802  verfafst,  ist  mir  handschriftlich 
bekannt.  In  den  sapphischen  Oden  hat  das  offenbar  minder  gewohnte 
und  gröfsem  Zwang  auflegende  Versmafs  zu  manchen  Härten  gefuhrt. 
Die  Distichen  aber  sind  höchst  elegant  und  graziös  gemacht.  In  seinen 
deutschen  Gedichten,  soweit  sie  in  seine  Sammlung  aufgenommen  sind, 
hat  sich  Uhland  antiker  Versmafse  ganz  enthalten;  nur  das  Distichon  ist 
in  der  Abteilung  „Sinngedichte"  (Gedichte,  S.  109  ff.)  öfters  verwendet, 
aber  keines  der  Gedichte  geht  übers  Jahr  1814  herab.  In  den 
ungedruckten,  bezw.  nicht  in  die  Sammlung  aufgenommenen  Gedichten 
aus  Uhlands  Jugendzeit  finde  ich  antike  Mafse  häufiger  verwendet,  aber 
auch  als  Ausnahme:  öfters  das  Distichon,  in  einem  Versuch  aus  dem 
Jahr  1800  („Scipios  Wahl",  s.  u.)  den  Hexameter,  einmal  in  einem 
Gedicht  von  1805  die  sapphische  Ode,  in  der  Klopstockischen  bei  den 
deutschen  Poeten  jener  Zeit  nicht  seltenen  Form,  die  den  Dactylus  im 
ersten  Vers  als  ersten,  im  zweiten  als  zweiten,  im  dritten  als  dritten  Fufs 
hat,  zweimal  (1805  ^"^  ^807),  freie  Rythmen  in  Goethes  Weise.  Es  ist 
für  Uhlands  spätere  Neigung  zum  Reim  charakteristisch,  dafs  er  eines 
der  beiden  letztgenannten  Gedichte  später  mit  Reimen  versehen  hat  (jetzt 
Nr.  5.  in  dem  Cyklus  „der  Königssohn" ,  Gedichte,  S.  386  f;  vgl.  Jahn, 
S.  121.) 

Auch  die  Stoffe  des  klassischen  Altertums  sind  in  Uhlands 
dichterischen  Anfangen  mehrfach  vertreten.  Er  hat  im  Jahr  1800  eine 
Partie  aus  Silius  Italiens  unter  dem  Titel  „Scipios  Wahl"  in  Hexametern 
übersetzt;  in  die  folgenden  Jahre,  ohne  dafs  eine  genauere  Datierung 
möglich  wäre,  fallt  die  Übersetzung  von  Senecas  Thyestes,  welche 
Keller  in  seinem  an  interessanten  Aufschlüssen  überaus  reichen  Buche 
über  „Uhland  als  Dramatiker"  (S.  13  ff.)  mitgeteilt  hat.  Vier  Jahre 
später  hat  er  eine  Tragödie  „Achilleus  Tod"  geplant,  schon  in  der 
Zeit,  da  romantische  Stoffe  mächtiger  auf  ihn  einwirkten,  wie  er  denn 
dieser  Einwirkung  es  selber  zuschreibt,  dafs  der  Plan  liegen  blieb  (Keller, 
S.  70).  Eine  etwas  phrasenhaft  ausgeführte  Vision  ist  „Manus  auf 
Karthagos  Trümmern"  von  1801;  in  den  bacchischen  Ideenkreis  stellt 
sich  der  junge  Dichter  mit  mehr  Glück  in  einer  „Dithyrambe"  von  1803; 
von  1810  ist  ein  Distichon  „Hero  und  Leander",  dem  wohl  wegen  seines 


Uhlands  Beziehungen  zu  ausländischen  Litteraturen.  381 


Mangels  an  einer  Pointe  die  Aufnahme  in  die  Gedichtsammlung  ver- 
weigert wurde;  und  ein  Jahr  später  nimmt  ein  Sonett  „die  neue  Thetis" 
wenigstens  in  Form  einer  leichten  Anspielung  Bezug  auf  antiken  Mythus. 
In  den  ersten  Ausgaben  der  Gedichte  stand  auch  noch  das  Distichon 
„Helena",  zuerst  in  Kerners  Almanach  auf  1812  abgedruckt.  (Jahn 
S.  126). 

Nicht  bedeutender  an  Zahl,  wohl  aber  an  Gehalt  als  diese  aus  der 
Gedichtsammlung  ausgeschlossenen  Versuche  sind  die  in  sie  aufge- 
nommenen. Hier  sind  die  epigrammatischen  Distichen  Achill  (273.  Dez. 
1809;  Gedichte  S.  109);  Narciss  und  Echo  (3.  Dezember  1809;  Ged. 
S.  110,  wozu  aber  noch  mehrere  ungedruckte  gehören),  Die  Götter 
des  Altertums  (24.  Juni  18 14,  Ged.  S.  iio)  zu  nennen,  woran  sich, 
wenigstens  seiner  Nomenklatur  nach  antik,  Amors  Pfeil  (14.  September 
18 10;  Ged.  S.  113)  anreiht.  In  allen  diesen  entspricht  dem  antikisierenden 
Inhalt  auch  die  metrische  Form.  Aber  auch  das  Sonett  In  Varnhagens 
Stammbuch  (27.  Februar  1809;  Ged.  S.  126  f.)  hat,  und  zwar  in  der 
glänzendsten  und  feinsten  Weise,  eine  antike  Sage  bearbeitet.  Ganz  frei 
erfunden,  aber  aus  gut  antiker  Anschauung  heraus,  ist  Die  Bildsäule 
des  Bacchus  (8.  Dezember  1814;  Ged.  S.  314  ff.),  und  noch  am  26.  Nov. 
1829  ist  dem  Dichter  sein  bedeutendster  Wurf  auf  dem  Gebiet  antiker 
Stoffe,  Ver  sacrum  (Ged.  S.  379  ff.),  geglückt.  Ich  will  nicht  wider- 
kauen, was  über  dieses  wirklich  grofsartige  Gedicht  hin  und  wider  ge- 
schrieben worden  ist.  Aber  ich  möchte  den  Grund,  warum  dieses 
Gedicht  weitaus  die  andern  antiken  Gedichte  Uhlands  überragt,  eben  in 
den  tiefsten  Neigungen  des  Dichters  suchen.  Hier  ist  keine  fein  aus- 
gebildete, in  klassischer  Marmorkälte  sich  darstellende  antike  Kulturwelt, 
hier  ist  jungfräulicher  Boden  alten  Volkstums,- der  am  Tiber  und  am 
Rhein,  an  der  Nordsee  und  am  Indus  den  gleichen  Erdgeruch  ausströmt. 
Diese  einfachen,  grofsen  Züge  heroischer  Vorzeit  hat  Uhland  mit  genialster 
Meisterschaft  aus  den  Notizen  römischer  Historiker  wiederhergestellt;  sie 
sind  im  tiefsten  Wesen  keine  andern  als  die  der  germanischen  Vorzeit 
auch,  und  wir  könnten  uns  die  Szene  ebenso  wohl  am  Strande  Norwegens 
denken,  von  wo  ein  Vikingerschiff  nordische  Landskraft  über  das  Meer 
hinträgt,  während  Asathor  mit  seiner  Blitzesflamme  den  Segen  dazu  giebt. 

Bleiben  wir  gleich  in  Skandinavien,  dessen  Mythenwelt  Uhland  so 
glücklich  behandelt  hat,  so  finden  wir  ihn  schon  lange  vor  jenen  Studien 
poetisch  mit  der  Welt  des  Nordens  beschäftigt,  vielleicht  nicht  so  häufig, 
als  man  es  nach  der  düstem,  verschwimmenden,  etwas  ossianisch  an- 
mutenden Romantik  seiner  ersten   gedruckten   Gedichte  erwarten  sollte. 

Ztscbr.  f.  vgrl,  LiU.-Gesch.  L  Oß 


383  Hermann  Fischer. 


Übrigens  sticht  gleich  das  erste  Gedicht,  das  hier  zu  erwähnen  ist,  durch 
markige  Kraft  sehr  vorteilhaft  von  den  andern  jener  Zeit  ab:  Die 
sterbenden  Helden,  1804  ^"^  14-  J^li  gedichtet  (Ged.  S.  199  f.).  Wenn 
dieses  Gedicht  frei  erfunden  ist,  höchstens  angeregt  durch  eine  Stelle 
des  Saxö  Grammaticus, *)  so  ist  dagegen  Der  blinde  König  (Ged. 
S.  201  ff.),  einen  Monat  später  gedichtet,  aber  in  der  Gestalt,  wie  es  in 
der  Sammlung  steht,  erst  eine  Überarbeitung  vom  5.  Dezember  181 4, 
auf  eine  Erzählung  Saxos  aufgebaut.  Auch  dramatisch  hat  sich  Uhland 
mit  dem  Norden  zu  thun  gemacht,  wie  die  etwa  1807/ 1808  fallenden 
Fragmente  Hyld  und  Helgo  (Keller  S.  75  ff.)  und  Alfer  und  Auruna 
(Keller  S.  79  ff.)  beweisen.  Die  schönste  Behandlung  der  nordischen 
Welt  aber,  „Normannischer  Brauch",  ist  erst  bei  den  französischen  Stoffen 
zu  besprechen. 

Mit  dem  Übergang  aus  dem  skandinavischen  Norden  in  den 
romanischen  Westen  und  Süden  treten  wir  in  den  Mittelpunkt  der 
romantischen  Dichtung  des  Mittelalters  ein,  und  hierher  gehört  auch 
weitaus  das  meiste,  was  noch  zu  erörtern  ist. 

Unter  den  romanischen  litteraturen  und  Sagen  des  Mittelalters 
nimmt  wiederum,  wie  in  der  historischen  Wirklichkeit,  so  auch  in  Uhlands 
Dichtung,  die  französische,  mit  Einschlufs  der  provenzalischen,  den 
ersten  Rang  ein.  Mit  ihr  hat  sich  Uhland  in  Paris  aufs  Liebevollste  be- 
schäftigt, doch  sind  (s.  u.)  auch  schon  vor  1810  Gedichte  aus  ihrem 
Kreise  entstanden.  Eine  ganz  unmittelbar  aus  den  Pariser  Studien  heraus- 
gewachsene Frucht  sind  jedenfalls  die  Übersetzungen,  bezw.  Be- 
arbeitungen altfranzösischer  Erzählungen,  welche  in  der  Gedichtsammlung 
S.  411  f.  unter  der  Bezeichnung  „Altfranzösische  Gedichte"  vereinigt  sind: 
Graf  Richard  Ohnefurcht  (19./21.  Oktober  1810),  nach  dem  Roman 
de  Rou;  Legende  (22.  Oktober  1810),  nach  einer  Pariser  Handschrift; 
Roland  und  Alda  (28.  Februar  181 1),  nur  die  fünf  ersten  Tiraden  von 
den  als  Beilage  zum  Aufsatz  über  das  altfranzösische  Epos  (s.  o.)  er- 
schienenen Mitteilungen  aus  „Gerhard  von  Viane";*)  endlich,  nach  einem 
französischen  Volksliede,  Die  Königstochter  (26.  September  1810). 

*)  Genauere  Angaben  Über  Uhlands  Quellen  mufs  ich  im  folgenden  schon  des  Raums 
wegen  unterlassen,  hätte  aber  darüber  auch  nichts  Neues  zu  bieten.  Ich  verweise  auf 
Dederichs  oben  besprochenes  Werk,  auf  Düntzers  Erläuterungen  zu  Uhlands  Balladen  und 
Romanzen  und  auf  Eichhol tz'  leider  unvollendet  gebliebene  Studien. 

**)  Diese  fünf  Tiraden  standen  schon  in  Kemers  Almanach  für  18 12  und  wurden  dann  für 
den  Wiederabdruck  in  Fouqu^*s  Musen  „einer  nochmaligen  Durchsicht  unterworfen.**  Die 
Form  aber,  unter  der  wir  dieselben  in  der  Gedichtsammlung  lesen,  weicht  davon  abermals 
an  mehreren  Stellen  ab. 


Uhlands  Beziehungen  lu  ausländischen  Litteraturen.  383 

Daran  reihe  ich  zwei  Balladen,  die  aus  dem  vorhin  genannten  Roman 
de  Rou  geflossen  sind:  Die  Jagd  von  Winchester  (lo.  November 
1810;  Gedichte  S.  304  £)  und  Taillefer  (10. — 12.  Dezember  1812, 
S.  349  fF.).  Wenn  Scherer  von  dem  letzteren  sagt,  dafs  sich  in  ihm 
Uhlands  ,,  bestes  Können  zusammengefafst  habe^',  so  nennt  es  Eichholtz 
„die  reifste  Frucht  von  Uhlands  altfranzösischen  Studien  und  überhaupt 
eins  seiner  besten  Gedichte";  es  ist  in  der  That  eine  Ballade  von  ganz 
entzückender  Frische,  in  der  sich  die  hellaufjubelnde  Kampfeslust  glänzend 
widerspiegelt,  in  ihren  unregelmäfsigen  springenden  Rhythmen  wie  der 
Galopp  einer  dahinsprengenden  Heldenschaar  ertönend. 

Die  Sage  von  Karl  dem  Grofsen,  welcher  „Roland  und  Alda" 
entnommen  ist,  hat  Uhland  auch  zu  eigenen  Gedichten  angeregt,  welche 
wohl  die  bekanntesten  unter  seinen  französischen  Balladen  sein  dürften. 
Am  17.  und  18.  Dezember  1808  entstand  Klein  Roland  (Ged.  S.  333  ff.). 
Nach  Uhlands  eigener  Angabe  entnahm  er  den  StoflF  aus  einer  1713  er- 
schienenen  deutschen  Übersetzung  der  spanischen  „Noches  de  inviemo";*) 
eine  im  wesentlichen  gleiche  Darstellung  der  Geschichte  findet  sich  aber 
schon  in  den  Reali  di  Francia.**)  Roland  Schildträger  (Ged.  S.  339  ff.) 
ist  frei  erfunden,  gedichtet  am  10.  September  181 1.  Ebenso  ist  König 
Karls  Meerfahrt  (Ged.  S.  346  ff.,  gedichtet  31.  Januar  1812)  freie  Er- 
findung Uhlands;  nur  die  Situation  der  Fahrt  übers  Meer  ist  der  be- 
kannten Sage  von  Karls  Zug  nach  dem  heiligen  .  Grab  entnommen. 
Diesen  Zug  wollte  Uhland  auch  zum  Gegenstand  eines  in  der  Art  von 
Tiecks  Stücken  echt  romantisch  gedachten,  daher  auch  wohl  in  die 
tieckisierende  Periode  des  Dichters  fallenden  Dramas  machen:  Karl  der 
Grofse  in  Jerusalem  (Keller,  S.  313  ff.)  von  welchem  ein  Fragment 
in  mittelalterlichen  Reimpaaren  erhalten  ist  ***)     Eine  weitere  dramatische 


*)  Diese  Quelle  giebt  Uhland  selbst  in  einem  Briefe  an  Alex.  Kaufmann  an;  s.  Eich- 
holtz oder  Herrigs  Archiv  XXXV,  476  f.,  wo  der  ganze  Brief  abgedruckt  ist. 

**)  Wenn  Siegmund  Levy  im  Archiv  für  Litteraturgeschichte  XII,  481  f.,  Uhlands 
Gedicht  aus  der  Szene  II,  7  in  Shakespeare*s  As  you  like  it  ableiten  will,  so  ist  das,  von 
Uhlands  eigenem  Zeugnis  abgesehen,  schon  deshalb  unmöglich,  weil  die  Darstellung  bei 
Shakespeare  von  der,  wie  sie  in  Noches,  Reali  und  Uhlands  Gedicht  wesentlich  gleich  er- 
scheint, abweicht.  Vielmehr  hat  Shakespeare  die  Szene,  wie  der  von  ihm  gewählte  Name 
Orlando  beweist,  selbst  aus  der  Karlssage  entnommen  und  für  seine  Zwecke  modifiziert. 

***)  In  diesem  Fragment  findet  sich,  an  den  Rand  geschrieben,  der  Schlufs  der 
«Schwäbischen  Kunde".  Dieses  Gedicht  ist  am  6.  Dezember  18 14  gedichtet.  Nach  einer 
kleinen  Abweichung  im  Text  mufs  man  wohl  schliefsen,  dafs  der  Eintrag  in  das  dramatische 
Fragment  vor  die  Abfassung  des  Gedichtes,  so  wie  es  in  der  Sammlung  steht,  fallen  müsse; 
wie  lange  vorher,  kann  aber  niemand  wissen.     Ich  möchte  daher  die  von  Keller,  S.  313,  mit 

86* 


n 


384  Hermann  Fischer. 


oder  doch  dialogische  Behandlung  altfranzösischer  (bezw.  normannischer) 
StofFwelt  ist  der  liebliche  Normannische  Brauch  (Ged.  S-  170  ff.; 
Keller,  S.  311  f.);  er  wurde  am  15.  Juni  18 14  entworfen  und  angefangen, 
am  14./ 15»  Februar  181 5  ausgeführt.  Das  Gedicht  beruht  auf  keiner 
speziellen  Sage,  sondern  scheint  frei  erfunden;  den  Brauch,  dafs  der  Gast 
seinen  Wirt  durch  eine  Erzählung  belohnen  mufs,  konnte  Uhland  aus 
mehr  als  einem  französischen  Fabliau  entnehmen. 

Bis  jetzt  haben  wir  uns  durchaus  in  der  Welt  der  von  altertümlicher 
Einfachheit,  reckenhafter  Frische  und  sinnigem  Gemüt  beseelten  franzö^ 
sischen  Heldensage  bewegt  Aber  auch  die  glänzende  Ritter-Romantik 
des  provenzalischen  Troubadours  hat  Uhland  zu  Gedichten  gereizt. 
Hier  ist  schon  das  Original  weit  von  der  alten  Naturwüchsigkeit  entfernt, 
konventionell  und  stilisiert.  So  hat  auch  Uhland,  was  sonst,  von  den 
blofsen  Übersetzungen  abgesehen,  nicht  seine  Sitte  war,  sich  mehr  dem 
zierlichen,  galanten  Tone  jener  höfischen  Dichtung  bequemt.  Wenigstens 
ist  dies  der  Fall  in  dem  Cyklus  Sängerliebe  (Ged.  S.  266  ff.;  1812 
und  1814  gedichtet),  dessen  meiste  Bestandteile  eben  den  Kreisen  der 
Troubadours  entnommen  sind:  Rüde  11  o  (13.  Juni  181 2  —  5.  August  181 4), 
Durand  (27.  Juli  1814)  und  der  Castellan  von  Coucy  (17.  Juni  1812)*) 
Die  Geschichte  des  Castellans  von  Coucy,  der  sterbend  sein  Herz  an 
seine  Geliebte  schickt,    hat  Uhland   auch   in   dem  Sonett  Vermächtnis 


einem  ^ vielleicht**  angegebene  Jahreszahl  1814  nur  als  terminus  ad  quem  ansehen^  denn  die 
Schlufsverse  der  Schwäbischen  Kunde  sind  ja  auch  erst  nach  der  Niederschrift  des  Qbrigen 
Fragments  beigeschrieben.  Frühjahr  1809  wurde  Uhlands  Nachspiel  zu  Kemers  Eginhart  verfafst 
(Keller,  S.  184  ff.)«  welches,  allerdings  in  Prosa,  auch  in  ähnlicher,  nur  noch  mehr  humoristisch 
gefärbter  Tieckischer  Art  gedichtet  ist.  Ich  erinnere  femer  an  das  humoristische  ^Ständ- 
chen**, ursprünglich  zu  dem  Drama  „Tamlan  und  Jannet"  gehörig  (Keller,  S.  263  ff.),  und 
an  die  mit  Kemer  gemeinsam  verfafste  Posse  „Der  Bär"  (Keller,  S.  193  ff.),  welche  beide 
gleichfalls  vom  Jahr  1809  sind.  Die  andern  romantischen  Manifeste  in  Tiecks  Art  (s.  o.) 
sind  aus  der  Zeh  zwischen  1809  und  1814,  ^^^  damit  dürften  die  Grenzbestimmungen  für 
das  Fragment  ^Karl  der  Grofse  in  Jerusalem"  gegeben  sein.  (Das  Versmafs  dieses 
Fragments  hat  Uhland  auch  noch  zwei  Jahre  später  dramatisch  verwendet,  in  den  Frag- 
menten der  „Weiber  von  Weinsberg",  Keller,  S.  359  ff.) 

*)  Auiser  diesen  gehören  überhaupt  die  Romanzen,  welche  Ged.  S.  253 — 283  stehen, 
nach  Versmafs  und  Stil  durchaus  zusammen :  Der  Sieger,  der  nächtliche  Ritter,  der  castilische 
Ritter,  Sanct  Georgs  Ritter,  Romanze  vom  kleinen  Däumling,  Romanze  vom  Rezensenten, 
Ritter  Paris,  der  Räuber,  Sängerliebe,  Liebesklagen ;  in  der  Form  unterscheiden  sie  sich 
nur  dadurch,  dafs  die  ersten  fiinf  Assonanzen,  und  zwar  nach  Art  der  afr.  Tiraden  durch 
das  ganze  Gedicht  hindurch,  die  andern  strophisch  wechselnde  Reime  haben.  Sie  alle  sind 
aus  den  Jahren  1809 — 181 5,  also  wiederum,  wozu  Form  und  Inhalt  stimmt,  aus  der  Tieckischen 
Periode  Uhlands. 


Uhlands  Beziehungen  zu  ausländischen  Litteraturen.  385 

(23.  August  181 1;  Ged.  S.  125)  symbolisch  verwendet  Zweifellos  ist 
freilich,  dafs  Uhland  auch  diesen  Stoffen  ein  gut  Teil  eigenen  Ernstes  und 
bedeutender  Geistestiefe  zu  verleihen  gewufst  hat.  Aber  unendlich  höher 
mufs  doch  jedem  Leser  die  Blüte  der  Troubadourromanzen  Uhlands, 
Bertran  de  Born  (Gedichte  S.  284  ff.),  stehen.  Das  Lob  dieses  Ge- 
dichtes ist  schon  oft  genug  gesungen  worden;  ich  möchte  nur  ähnlich 
wie  bei  „Ver  sacrum"  fragen:  wie  kommt  es,  dafs  dieses  Gedicht  uns 
so  weitaus  bedeutender  erscheint  und  so  viel  tiefer  ergreift  als  jene? 
Die  Antwort  ist  die  nämliche:  weil  sein  treibendes,  inneres  Motiv  unab- 
hängig ist  von  jeder  zeitlich  und  modisch  beschränkten  Kultur. 

Es  sei  mir  aber  gestattet,  an  dieses  letztgenannte  Gedicht  noch  eine 
stilistische  Bemerkung  anzuknüpfen.  Bertran  de  Born  wurde  im  Jahre 
1829  gedichtet.  Zu  derselben  Zeit  (s.  u.)  „der  Waller".  Beide  sind  iii 
dem  nämlichen  Versmafs  gedichtet  wie  „Sängerliebe"  und  die  damit  nächst- 
verwandten Gedichte:  trochäische  Tetrapodien,  die  ungeraden  Zeilen  reim- 
los, die  geraden  gereimt;  nur  dafs  dieses  Versmafs  in  „Sängerliebe"  etc. 
je  zwei  Reimzeilen  hat,  in  Bertran  de  Born  und  Waller  je  vier  mit  dem- 
selben Reim,  wodurch  das  an  sich  l^cht  und  bedeutungslos  dahinfliefsende 
Versmafs  zu  einer  unleugbaren  lapidaren  Grofsartigkeit,  dem  tieferen 
geistigen  Gehalt  der  beiden  Gedichte  entsprechend,  gesteigert  ist.  Es 
ist  wohl  kein  Zufall,  dafs  Uhland,  als  er  nach  anderthalb  Jahrzehnten 
wieder  zum  ersten  (und  letzten)  Mal  einen  Stoff  aus  der  Geschichte  der 
Troubadours  bearbeitete,  sich  auch  wieder  des  nämlichen,  sonst  nicht 
von  ihm  gebrauchten  Versmafses  bedient  hat — den  mutmafslichen  Ursprung 
dieses  Versmafses  werde  ich  nachher  zu  erörtern  haben  — ;  es  wird  um 
so  weniger  ein  Zufall  sein,  als  Uhland  in  dem  nämlichen  Jahr  1829  manche 
andere  Gegenstände  in  anderen  Formen  behandelt  hat.  Der  Waller  fallt 
jedenfalls  etwas  später,  er  ist  am  17.  Dezember  1829  gedichtet,  während 
Bertran  de  Born,  von  dem  kein  bestimmtes  Datum  der  Abfassung  vor- 
liegt, schon  am  26.  November  veröffentlicht  wurde.  Von  einer  näheren 
Verwandtschaft  des  Stoffes  kann  hier  allerdings  nicht  die  Rede  sein ;  das 
einmal  mit  Glanz  verwendete  Metrum  konnte  auch  ohne  eine  solche  zur 
baldigen  Widerverwendung  reizen.  Ich  werde  aber  sofort  auszufuhren 
haben,  dafs  der  Grund,  warum  dieselbe  metrische  Form  gewählt  wurde, 
doch  noch  etwas  tiefer  zu  suchen  sein  dürfte. 

Von  den  Troubadour-Romanzen  ist  nur  ein  kleiner  Schritt  nach 
Spanien.  Wie  die  Kunst  der  Troubadours  auch  südlich  der  Pyrenäen 
geblüht  hat,  so  schliefsen  sich  Uhlands  spanische  Gedichte  in  der  Form 
ganz  genau  an  die  aus  dem  provenzalischen  Stoffkreise  an.  Der  castilische 


386  Hermann  Fischer. 


Ritter  (16./17.  März  1810;  Ged.  S.  255  flF.),  Sanct  Georgs  Ritter 
(5.  Juli  181 1;  S.  257  ff.)  und  die  in  der  Gedichtsammlung  weggelassenen 
Gedichte  Casilde  und  Sanct  Ildefons,  letzteres  eine  nach  Wort  und 
Versmafs  getreue  Übersetzung  aus  dem  König  Wamba  des  Lope,  beide 
in  Kerners  Almanach  auf  181 2  erschienen,  also  spätestens  181 1  gedichtet, 
haben  das  nämliche  Versmafs  wie  „Sängerliebe",  nur  statt  der  Reime 
Assonanzen;  während  Don  Massias  (14.  Juni  1812;  Ged.  S.  276  f.),  der 
einen  Teil  von  „Sängerliebe"  bildet,  und  der  Student  (Nr.  i  der  „Liebes- 
klagen," verfafst  181 4;  Ged.  S.  280  ff.)  genau  gereimt  sind.  Fünfzehn 
Jahre  später  kam  Uhland  wider  auf  dasselbe  Versmafs  zurück,  um  es, 
wie  oben  gesagt  wurde,  modifiziert  und  in  der  Wirkung  verstärkt,  im 
Waller  (17.  Dezember  1829;  Ged.  S.  286  ff.)  zu  verwenden,  der  zwar 
nur  äufserlich  nach  Spanien  verlegt  ist,  während  sein  geistiger  Kern,  den 
Katholizismus  freilich  unbedingt  voraussetzend,  in  jedem  andern  Lande 
gleichermafsen  zu  denken  wäre,  was  abermals,  wie  schon  in  zwei  andern 
Fällen,  mit  als  ein  Grund  der  tieferen  Bedeutung  und  eminenten  Wirkung 
dieses  Gedichtes  gelten  darf.  Noch  fünf  Jahre  später  ist  aber  Uhland  in 
der  schon  oben  erwähnten  Bidassombrücke  (15./16.  März  1834;  Ged. 
S.  289  ff.)  zu  einem  spanischen  Gegenstand  und  abermals  zu  der  alten 
metrischen  Form  (und  zwar  in  der  früheren  Weise  ohne  die  Modifikation 
in  Bertran  de  Born  und  Waller)  zurückgekehrt. 

Solche  Übereinstimmung  der  Form  in  Gedichten,  die  inhaltlich  zum 
Teil  weit  auseinander  liegen,  aber  den  —  südfranzösischen  oder  spanischen 
—  Schauplatz  mit  einander  gemein  haben,  kann  kein  Zufall  sein.  In  der 
That  ist  die  Entstehung  dieser  Form  nicht  so  schwer  zu  erklären.  Man 
mufs  beachten,  dafs  die  ältesten  der  Gedichte,  die  hier  in  Betracht  kommen, 
zum  Teil  reinen  Reim,  zum  Teil  blofse  Assonanz  haben  und  dafs  erst 
nach  181 2  der  reine  Reim  durchaus  Regel  wird.*)  Die  Assonanzen  weisen 
auf  Spanien,  gerade  wie  das  Metrum,  das  Uhland  ja  in  einem  der  ge- 
nannten Gedichte  dem  spanischen  Original  getreu  nachgebildet  hat.  Man 
mufs  dazu  nehmen,  dafs  gerade  die  ältesten  jener  Gedichte,  soweit  sie 
einen  bestimmten  Schauplatz  haben,  in  Spanien  spielen,  und  so  ist  die  An- 
nahme wohl  zweifellos,  dafs  das  Metrum  von  Uhland  aus  der  spanischen 
Poesie  (bezw.  dem,  was  er  durch  Übersetzungen,  Aufsätze,  davon  kennen 
lernte,  denn  er  hat  erst  in  Paris  bei  Immanuel  Bekker  gründlich  spanisch 


*)  n Roland  und  Alda**  (s.  o.),  aus  derselben  Zeit,    etwa  181 1,  hat  auch  Assonanzen, 
statt  der  Reime  des  Originals,  um  des  geringeren  Reimvorrats  der  deutschen  Sprache  willen. 


Uhlands  Beziehungen  2u  ausländischen  Litteraturen.  387 


getrieben)  entnommen  wurde ;  er  hat  es  dann  auf  die  verwandten  proven- 
zalischen  Stoffe  übertragen,*)  und  als  er  späterhin  wieder  ein  paar  mal  auf 
spanische  und  provenzalische  Gegenstände  verfiel,  bot  es  sich  ihm  durch 
eine  begreifliche  Ideenverbindimg  wie  von  selbst  dar. 

Noch  ein  paar  andere  Behandlungen  spanischer  Gegenstände  sind 
namhaft  zu  machen. 

Im  Taschenbuch  für  Damen  auf  1820  (S.  200  f.)  stand  von  Uhland 
die  Übersetzung  eines  Liebesgedichtes  von  Juan  Rodriguez  de  la  Camara 
(oder  del  Padrön),  einem  Freund  imd  Schüler  des  von  Uhland  besungenen 
DonMassias;  das  damals  noch  ungedruckte  Original  hatte  Uhland  wohl 
aus  Paris  mitgebracht,  wo  es  sich  in  drei  Handschriften  findet  (falls  es 
ihm  nicht  von  J.  Bekker  mitgeteilt  worden  ist).  Caroline  Michaelis  de 
Vasconcellos,  die  gelehrte  Hispanologin,  hat  die  vortreffliche  Über- 
setzung nebst  dem  Original  im  Archiv  für  Litteraturgeschichte  abdrucken 
lassen  (XIV,  189  f.). 

Auch  ein  paar  dramatische  Stoffe  hat  Uhland  aus  dem  Spanischen 
gezogen.  Eine  bedeutende  poetische  Kraft  zeigt  sich  in  dem  Entwurf  und  den 
Fragmenten  von  Bernardo  del  Carpio  (Keller,  S.  427  ff.),  welche  aus 
den  Jahren  181 9  und,  zum  kleineren  Teil,  1822  stammen.  Während  einige 
Szenen  prosaisch,  andere  im  Blankvers  entworfen  sind,  zeigt  eine  Szene 
abermals  das  wohlbekannte  spanische  Versmafs  und  zwar  gereimt,  wie 
„Sängerliebe".  Auch  freien  dramatischen  Erfindungen  hat  Uhland  den 
spanischen  Schauplatz  gegeben.  In  erster  Linie  ist  die  schon  oben 
erwähnte,  in  Gemeinschaft  mit  Kemer  im  Jahr  1809  gedichtete  Posse 
Der  Bär  (Keller,  S.  193  ff.)  zu  nennen.  Es  ist  nicht  möglich,  den  Anteil 
beider  Dichter  an  diesem  humoristischen  Dramolet,  das  mit  Kemers 
Eginhart  und  Uhlands  Nachspiel  dazu  aus  derselben  übermütigen  Roman- 
tikerlaune hervorgegangen  ist,  genau  zu  sondern.  Nach  dem  Briefe 
Uhlands  an  Kemer  vom  10.  Juni  1809  (Notter,  Uhland,  S.  84;  Keller, 
S.  193  f.)  wäre  die  Prosa  Kerners  Anteil,  die  Gesänge  Uhlands.  Wenn 
sich  das  auch  nicht  mit  aller  Bestimmtheit  in  solcher  Weite  abgrenzen 
läfst,  so  glaube  ich  jedenfalls  so  viel  annehmen  zu  dürfen,  dafs  die  Arien 
mindestens  zum  gröfsern  Teil  von  Uhland  sind,  vielleicht  aber  auch  alle. 
Es  geht  das  nicht  nur  aus  Uhlands  brieflicher  Aufserung  hervor,  sondern 
auch  aus  dem  Metrum.    Dieses  ist  nämlich  bei  den  meisten  Arien  wieder 


*)  Dais  er  in  den  Jahren  1809 — 18 15  dasselbe  Versmals,  dessen  er  sich  damals  öfters 
bediente,  auch  auf  andere  Gegenstände  übertrug,  die  für  dasselbe  schicklich  dünkten,  ist 
natürlich;  früher  und  später  findet  sich  von  solcher  Verwendung  nichts. 


388  Hermann  Fischer. 


das  schon  mehrfach  besprochene  mit  reinen  Reimen,  manchmal  auch 
leicht  modifiziert;  z.  B.  so,  dafs  auch  die  ungraden  Zeilen  gereimt  sind. 
Ich  habe  übrigens  nichts  dagegen,  alles  Lyrische  als  Uhlands  Eigentum 
anzusehen.***)  Leider  ist  alles,  was  man  über  diesen  Gegenstand  sagen 
mag,  blofse  Vermutung,  die  durch  die  Mitteilung  aus  dem  im  Besitz  von 
Kerners  Sohn  befindlichen  Originalmanuskript  der  beiden  Dichter  jeden 
Augenblick  bestätigt  oder  auch  umgestürzt  werden  kann. 

Endlich  ist  auch  noch  der  Schauplatz  des  Lustpiels  Die  Serenade 
(1809;  Keller,  S.  256  ff.),  welches  nur  bis  zu  einem  Szenarium  und  einem 
kleinen  Wechselgesang  gediehen  ist,  von  Uhland  nach  Spanien  ver- 
legt worden. 

Nur  wenig  hat  sich  Uhland  mit  italienischen  Stoffen  zu  thun 
gemacht.  Er  selbst  war  nie  in  Italien,  er  hat,  so  oft  ihn  seine  Wander- 
lust in  die  Alpen  führte,  die  Pässe  nach  Süden  nie  überschritten;  »dem 
Lande  blieb  ich  ferne,  wo  die  Orangen  blühn",  diese  Worte  der 
„Wanderung**  hat  er  zeidebens  wahr  gemacht  Kunstschätze  zogen 
ihn  nicht  an;  neben  der  blofsen  Lust  zu  reisen  haben  ihn  immer 
nur  seine  Studien  und  der  Wunsch  nach  näherer  Kenntnis  volks- 
tümlicher Art  an  bestimmte  Orte  getrieben.  So  ist*s  auch  in  litte- 
rarischer Beziehung.  Die  eigentlich  mittelalterliche  Dichtung  hat  in 
Italien  nur  Nebenzweige  von  kurzer  Lebensdauer  getrieben.  Lange 
Zeit  hat  sich* die  italienische  Lyrik  der  provenzalischen,  das  Epos  der 
fi-anzösischen  Sprache  bedient.  Die  Antike  war  südlich  der  Alpen  nie  völlig 
erloschen;  schon  im  13.  Jahrhundert  wurde  die  theologisch-mystische  Richtung 
lebendig,  die  in  Dante  sofort  ihren  Klassiker  erzeugte,  und  nicht  lang 
nach  diesem  begann  mit  Petrarka  die  alles  beherrschende  Renaissance. 
Da  war  für  Uhlands  Art  nicht  viel  zu  holen.  Wenn  er  an  Petrarka 
ein  sinnvolles  Sonett  richtet  (3.  September  181 1;  Ged.  S.  126),  so  ist  es 
natürlich  der  Sänger  der  Lauragedichte,  nicht  der  Humanist,  den  er 
anredet.  Gegen  Dante  hatte  Uhland  eine  tiefe  Verehrung.  Aber  wenn 
er  ihn  im  Gedicht  besingt  (Dante,  Nr.  5  der  „Sängerliebe",  beendigt 
26.  Juli  1814;  Ged.  S.  277  ff.),  so  singt  er  die  aus  der  irdischen  heraus- 
gewachsene himmlische  Liebe,  die  dem  Dichter  seine  hohen  Gesänge 
diktiert  hat,  nicht  den  Himmel,  Erde  und  Hölle  umspannenden  Inhalt 
dieser  Gesänge. 


*)  Vielleicht  noch  mehr.'  In  den  nRheinblQten"^  auf  1822  war  eine  Szene  abgedruckt 
und  Kerners  Name  angegeben.  Kerner  erklärte  dagegen  im  Morgenblatt,  dafs  die  Szene 
nicht  von  ihm  sei.     Dieselbe  enthält  Prosaisches  und  Lyrisches. 


Uhlands  Beziehungen  zu  ausländischen  Litteraturen.  389 

Aus  Dante  hat  Uhland  auch  einen  Dramenstoff  genommen,  Francesca 
da  Rimino  (Keller,  S.  88  ff.);  die  Tragödie  wurde  ihm  von  Seckendorff 
1807  empfohlen  und  1807 — 1809  in  Pausen  bearbeitet.  Neben  einem 
ausfuhrlichen  Plan  ist  auch  einzelnes  schon  wörtlich  entworfen,  in  Blank- 
versen, deren  Ausdrucksweise  mir  öfters  an  Goethes  Tasso  vernehmlich 
anzuklingen  scheint. 

Man  kann  sich  wundem,  dafs  Uhland  nur  selten  nach  England 
hinübergegriffen  hat,  dessen  Vorzeit  einerseits  der  deutsch -nordischen, 
andererseits  der  französischen  doch  so  nahe  steht  Ein  wenig  häufiger 
sind  englische  Stoffe  allerdings  bei  ihm  als  italienische;  und  es  ist 
wenigstens  den  lyrischen  Gedichten  dieses  Kreises  ein  gewisser  Familien- 
zug eigen.  Die  skandinavischen  zeigten  eine  ernste,  düstere  Färbung, 
die  französichen  frische  Männlichkeit  und  Heldenhaftigkeit,  die  proven- 
zalischen,  spanischen  und  italienischen  zumeist  erotische  Gegenstände  und 
öfters  eine  höfisch-galante  Art  der  Behandlung;  so  ist  den  englischen 
Balladen  Uhlands  das  zauber-,  feen-,  auch  elfenhafte  als  Grundzug  eigen. 
Die  ^Jagd  von  Winchester"  kann  man  ausnehmen,  obwohl  auch  sie  mit 
einem  Traum  beginnt;  denn  sie  spielt  zwar  in  England,  ist  aber  aus  alt- 
französischer  Poesie  entnommen  und  daher  oben  besprochen  worden. 
Aber  die  andern  englischen  Balladen,  Harald  (10.  März  181 1;  Ged. 
S.  306  ff.),  Merlin  der  Wilde  (10. — 12.  Dezember  1829;  Ged.  S.  310  ff.) 
und  Das  Glück  von  Edenhall  (16.  Juli  1834;  Ged.  S.  354  ff.),  haben 
alle  mit  dämonischen  Mächten  zu  thun;  und  wenn  dieser  Gedichte  nur 
drei  sind,  so  gehören  sie  dafür  sämdich  zu  den  ausgezeichneten 
Leistungen  Uhlands.  „Merlin"  habe  ich  hierher  gezogen,  weil  die 
Geburt  dieses  Zauberers  von  der  Sage  nach  Britannien  verlegt  wird.*) 
„Harald"  aber  gehört  sicher  nach  England;  denn  (wie  Keller,  S.  264 
angiebt)  Uhland  hat  diese  Ballade  für  das  damals  von  ihm  geplante 
Drama  Tamlan  und  Jannet  (1809 — 181 1;  Keller,  S.  263  ff.)  bestimmt, 
dessen  Stoff  er  eine»  von  Conz  übersetzten  englischen  Ballade  entnommen 
hat.  Es  ist  von  diesem  Drama  nur  wenig  zustande  gekommen;  ein  Stück 
davon  hat,  wie  bereits  erwähnt  wurde,  Uhland  in  die  Gedichtsammlung 


*)  Dieselbe  ist  dann  freilich  allg^emeines  Gut  geworden,  wie  z.  B.  die  von  Fortunatus,  deren 
Bearbeitung  durch  Uhland  ich  im  Zusammenhang  dieser  Darstellung  gar  nicht  erwähnt  habe ; 
es  ist  ohnehin  kein  Grund  zu  finden,  warum  Uhland  nicht  aus  dem  deutschen  Volksbuch 
von  Fortunat  geschöpft  haben  sollte,  das  er  im  Jahr  1809  gelegentlich  erwähnt  (Mayer, 
Uhland,  I,  120.). 


890  Hermann  Fischer. 


aufgenommen,  unter  dem  Titel  „Das  Ständchen"  (Ged.  S.  164  ff.).  Ein 
englischer,  genauer  schottischer  Dramenstoff  ist  auch  Der  eifersüchtige 
König  (Keller,  S.  309  f.),  den  Uhland  am  21.  Januar  1 810  gegen  Kemer 
erwähnt;  von  einer  Ausfuhrung  hat  sich  nichts  gefunden.  Endlich  darf 
auch  noch  der  Stellen  aus- Thomas  Kyd's  „Spanish  Tragedy"  gedacht 
werden,  welche  Uhland  aus  Bouterwecks  Geschichte  der  Poesie  über- 
setzt und  (1809  — 18 10)  ^"  Kerner  geschickt  hat  (Keller,  S.  478.) 


Wir  haben  Uhland  durch  einen  sehr  beträchtlichen  Teil  seines 
poetischen  Schaffens  begleitet.  Nehmen  die  Gedichte  mit  ausländischen 
Stoffen  in  der  Sammlung  der  Gedichte  zusammen  etwa  ein  Achtel  ein, 
so  steigt  die  Verhältniszahl  in  den  Balladen  und  Romanzen  auf  ein 
Viertel,  in  den  Dramen  und  Dramen-Entwürfen  auf  ein  starkes  Drittel. 
Der  Zeit  nach  erstrecken  sie  sich  über  die  ganze  Zeit  von  Uhlands 
poetischer  Produktion,  von  1804 — 1834,  nach  welchem  Jahr  wir  über- 
haupt kaum  noch  ein  Dutzend  Gedichte  von  Uhland  haben;  weitaus  die 
meisten,  zwei  Drittel  von  allen,  fallen  in  jene  Jahre  1809 — 1814^  in 
welchen  Uhland  sich  so  gern  in  romantischen  Formen  und  Stoffen  nach 
der  Weise  Tiecks  bewegte,  in  welche  überdies  der  Aufenthalt  nach  Paris 
mit  seinen  Wirkungen  fallt.*)  Die  skandinavischen  Stoffe  eröffnen  den 
Reigen,  dann  treten,  nach  einer  Pause  von  zwei  Jahren,  die  anderen 
Nationen  ziemlich  zu  gleicher  Zeit  auf  den  Schauplatz.  Den  breitesten 
Raum  nimmt  Frankreich  ein;  um  den  Preis  der  Vorzüglichkeit  aber 
wollen  wir  keinen  Wettkampf  veranstalten.  Mehrere  der  vorzüglichsten 
und  reifsten  Gedichte  Uhlands,  zumal  unter  seinen  Balladen,  wie 
Ver  Sacrum,  Taillefer,  Bertran  de  Born,  Der  Waller,  haben  ausländische 
Gegenstände  und  können  sich  mit  Fug  auf  dieselbe  Linie  der  Trefflich- 
keit mit  allen  anderen  stellen. 

Man  fragt  aber  mit  Recht  nach  zwei  Dingen:  bleibt  ein  Dichter,  der 
fremde  Stoffe  behandelt,  dem  Geist  ihrer  Völker  und  Zeiten  treu;  und 
auf  der  anderen  Seite:  vermag  er  es,  die  Klippen  des  Antiquarischen, 
Anfremdenden,  Akademisch -Gelehrten  zu  umsegeln,  aus  dem  fremden 
Stoff  ein  uns  von  selbst  anmutendes  Bild  zu  gestalten? 


*)  Von  Uhlands  gesamter  Poesie  fällt  in  jene  allerdings  auch  sonst  besonders  reichen 
Jahre  doch  nicht  ganz  die  Hälfte. 


Uhlands  Beziehungen  zu  ausländischen  Litteraturen.  391 

Beides  darf  kecklich  bejaht  werden.  Nur  in  einem  Teil  seiner  aus- 
ländischen Gedichte  —  und  trotz  vieles  Trefflichen  nicht  in  dem  vorzüg- 
lichsten derselben  —  hat  Uhland  fremde  Formen  und  Konventionen 
angenommen  oder  angedeutet;  auch  diese  Gedichte  sind  mit  eigener 
Empfindung  getränkt  und  anziehend  auch  ohne  ihren  stofflich-stylistischen 
Reiz.  In  seinem  Besten  hat  er  die  Nachahmung  fremder  Formen  ver- 
schmäht, aber  den  Gehalt  treu  zur  Darstellung  gebracht.  Er  hat  kaum 
je  Stoffe  gewählt,  die  nicht  unmittelbar,  ohne  antiquarische  Kenntnisse 
oder  Liebhabereien,  zum  allgemeinen  Geschmack  und  Gefühl  sprechen, 
und  die  höchste  Vollendung  hat  er  da  erreicht,  wo  der  National-  und 
Zeitgehalt  mit  dem  rein  Menschlichen,  voraussetzungslos  Schönen  und 
Erhabenen  zusammenfallt.  So  läuft  mir  diese  Darstellung  von  selbst  in 
einen  zu  der  Säkularfeier  stimmenden  Ton  aus.*) 

Stuttgart. 


*)  In  diesem  Zusammenhang^e  ist  wohl  daran  zu  erinnern,  dafs  der  geehrte  Verfasser 
vorstehenden  Aufsatzes  selbst  einen  grö&eren  Beitrag  zur  neuesten  Uhland-Litteratur  soeben 
veröffentlicht  hat :  Ludwig  Uhland.  Eine  Studie  zu  seiner  Säkularfeier  von  Hermann  Fischer. 
Stuttgart  1887.  [Anm.  d.  Red.] 


-•••- 


Zwei  Kapitel  aus  der  Geschichte  der  Don  Juan-Sage, 


Von 
Karl  Engel.*) 


I.     Die  Grundlage  der  Don  Juan-Sage. 

Die  Don  Juan-Sage  stammt  aus  Spanien  und  ist  den  Deutschen  durch 
Mozarts  grofse  Tondichtung  näher  bekannt  geworden,  in  gleicher 
Weise  wie  dies  bei  der  Faustsage  durch  Goethe  geschah.  In  ihrer  ge- 
heimnisvollen Schauerlichkeit  stimmen  beide  Sagen  überein,  in  ihrer  ur- 
sprünglichen Veranlassung  sind  sie  Seiten-  oder  Gegenstücke.  Bei  Faust 
überschreitet  mafsloses  Forschen,  unbefriedigte  Begier  nach  Erkenntnis, 
bei  Don  Juan  das  mafslose  Streben  nach  Sinnengenufs  die  der  Mensch- 
heit vorgeschriebenen  Grenzen  und  fuhrt  zu  Sünde  und  Verbrechen,  bei 
diesem  durch  leibliches,  bei  Faust  durch  geistiges  Überheben.  Beide 
umschliefsen  somit  in  ihrer  Gesamtheit  den  ganzen  Kreis  des  menschlichen 
Irrens  und  Freveins. 

Beide  Sagen  stehen  unter  einander  in  so  naher  Verwandtschaft,  dafs 
eine  Vergleichung  derselben  sehr  nahe  liegt  und  von  verschiedenen  Schrift- 
stellern häufig  versucht  worden  ist.  Grabbe  und  Vogt  haben  sie  sogar 
zu  einem  einheitlichen  Ganzen  verschmolzen.  Hieraus  scheint  sich  der 
vielfach  verbreitete  Irrtum  zu  erklären,  als  seien  beide  Sagen  aus  ein  und 
derselben  Wurzel  entsprossen.  Mögen  beide  Sagen  wegen  geistiger 
Verwandtschaft  ihres  Gegenstandes  sich  auch  gegenseitig  beeinflufst  haben, 
so  läfst  sich  doch  nachweisen,  dafs  die  Träger  ihrer  Namen  zu  sehr  ver- 


*)  Die  hier  mitgeteilten  Abschnitte  sind  Fragmente  aus  einem  gröfserem  Werke  Karl 
Engels  „Die  Don  Juan-Sage  auf  der  Bühne",  welches  als  Festschrift  zur  hundertjährigen 
Feier  der  ersten  Auffuhrung  von  Mozarts  Don  Juan  (29.  Oktober  1787)  noch  in  diesem 
Herbste  erscheinen  wird.  Engel  giebt  in  seinem  Buche  nicht  nur  eine  Geschichte  der  Don 
Juan-Sage,  sondern  auch  eine  umfassende  ^^bibliographische  Zusammenstellung  der  Don  Juan 
Litteratur",  eine  Parallelarbeit  zu  seiner  trefflichen  „Zusammenstellung  der  Faustbücher  vom 
16.  Jahrhundert  bis  Mitte  1884"  (Oldenburg  1885).  [Anm.  d.  Red.] 


Zwei  Kapitel  aus  der  Geschichte  der  Don  Juan-Sage.  393 

schiedenen  Zeiten  und  unter  sehr  verschiedenen  Verhältnissen  als  geschicht- 
liche Personen  gelebt  haben. 

Wie  jede  Sage,  so  hat  auch  die  von  Don  Juan  eine  geschichdiche 
Grundlage  und  aus  glaubwürdigen  Forschungen  lassen  sich  folgende 
Thatsachen  aus  dem  Leben  Don  Juans  zusammenstellen. 

Don  Juan  lebte  im  vierzehnten  Jahrhundert,  zur  Zeit  Peters  des 
Grausamen  (Königs  von  Kastilien),  also  ungefähr  zweihundert  Jahre  früher 
wie  Faust,  der  bekanntlich  im  sechszehnten  Jahrhundert  lebte. 

Don  Juan  war  in  Sevilla  geboren  und  stammte  aus  dem  ange- 
sehenen Hidalgogeschlecht  der  Tenorio.  Sein  Vater,  Alonzo  Jufre 
Tenorio,  war  ein  berühmter  Admiral  (unter  Alfons  XI.,  König  von 
Kastilien),  welcher  sich  im  Kampfe  gegen  die  Mauren  grofsen  Rühm  er- 
warb. Er  fiel  als  Held  in  einer  Seeschlacht  gegen  die  Mauren,  in  der 
Nähe  von  Trafalgar,  mit  dem  Schwerte  in  der  einen,  seine  Flagge  in  der 
andern  Hand  und  gab,  nachdem  er  bereits  beide  Beine  verloren,  fechtend 
seinen  Geist  auf.  Er  hinterliefs  von  seiner  Gemahlin  El  vir  a  mehrere 
Kinder,  davon  der  jüngste  Juan  genannt,  mit  König  Peter  dem  Grau- 
samen, dessen  Jugendspielgenosse  er  gewesen,  ziemlich  in  gleichen 
Jahren  und  dessen  vertrauter  Freund  war. 

König  Peter  der  Grausame,  gewöhnlich  schlichtweg  Don  Pedro 
genannt,  zweiter  Sohn  des  Königs  Alfons  XL,  welcher  1350  den  kastilischen 
Tron  bestieg,  ernannte  Don  Juans  ältesten  Bruder  Alonzo  Jufre  zum 
Alguacil  des  Tores  von  Visagra  in  Toledo.*)  Garcia,  der  andere 
Bruder  Don  Juans,  hatte  die  Partei  des  rebellischen  Halbbruders  des 
Königs,  Heinrich  von  Trastamara,  ergriffen  und  fiel  der  Rache  Don 
Pedros  anheim.  Therese,  die  Schwester  Don  Juans,  bewohnte  den 
Familienpalast  in  Sevilla,  der  den  Tenorios  bei  der  Eroberung  der  Stadt 
aus  den  Händen  der  Mauren  verliehen  worden  war.  Don  Juan,  dessen 
übermütiger  wilder  Sinn  zu  dem  des  Don  Pedro  pafste,  ward  dessen 
Liebling,  wozu  noch  der  Umstand  kam,  dafs  Don  Juan  mit  der  berühmten 
Maria  Padilla,  der  Geliebten  des  Königs,  nahe  verwandt  war.  Don 
Pedro  erhob  den  Don  Juan  de  Tenorio  zum  Ritter  der  Banda**)  und 
ernannte  ihn  zu  seinem  Ober-Kellermeister.  Im  vertrautesten  Umgang 
mit  dem  lasterhaften  Könige,  wetteiferte  Don  Juan  mit  ihm  in  allen 
erdenklichen  Ausschweifungen,  so  dafs  sein  Name   in  Sevilla    und  Um- 


*)  Alguacil,  im  Spanischen  Titel  des  mit  der  Ausübung  der  Justiz  Betrauten. 
**)  Cavalieros  de  la  Banda,  Ritter   von  der  roten  Binde,   einer  der  ältesten  Ritter- 
orden, gestiftet  von  Alfons  XI.   1330. 


394  Karl  Engel. 

gegend  zum  Gegenstande  der  abenteuerlichsten  und  schaudenrollsten  Er- 
zählungen ward. 

Don  Juan  wollte  in  einer  Nacht  die  Tochter  des  Komthur  Gonzalo 
de  Ulloa  gewaltsam  entfuhren,  als  dieser  ihm  entgegentrat,  tötete  er 
ihn.  Die  Leiche  ward  im  Kloster  San  Franzisko  in  der  Grabkapelle  des 
Hauses  beigesetzt.  Die  rachsüchtigen  Hinterbliebenen  konnten  den  über- 
mütigen Mörder,  den  Stellung  und  Geburt  schützten,  nicht  vor  dem 
Richter  zur  Verantwortung  ziehen.  Sie  lockten  ihn  daher  durch  eine 
Liebesbotschaft  zu  einer  nächtlichen  Zusammenkunft  in  das  Kloster,  aus 
dem  er  jedoch  nicht  wieder  zurückkehrte  und  wahrscheinlich  heimlich 
ermordet  wurde.  Die  Franziskaner  sprengten  das  Gerücht  aus,  Don  Juan 
habe  die  Statue  des  Komthurs  in  der  Kapelle  insultiert,  die  marmorne 
Gestalt  habe  sich  plötzlich  geregt,  die  Erde  sich  aufgethan,  und  der 
Frevler  sei  von  der  Statue  in  die  Hölle  gestürzt  worden.  Kein  Spanier 
zweifelte  daran  und  das  Wunder  wurde  von  der  abergläubischen  Menge 
anerkannt. 

Die  Kapelle  und  die  Statue  des  Komthurs  wurden  etwa  um  die 
Mitte  des  achtzehnten  Jahrhunderts  durch  eine  Feuersbrunst  zerstört. 
Noch  jetzt  steht  in  Sevilla  in  der  Nähe  der  alten  Promenade  (Alameda 
vieja),  ein  Rest  der  Statue,  woran  der  Verbrecher  seinen  frevelhaften 
Mutwillen  zu  seinem  eigenen  Verderben  ausgelassen  haben  soll.  Im  Munde 
des  Volks  heilst  sie  noch  jetzt  „der  steinerne  Gast.** 

Der  Familienpalast  der  Tenorios,  worin  die  Schwester  Don  Juans 
(Therese)  bis  zum  Jahre  1369  wohnte,  wurde  vom  König  den  Nonnen 
von  St.  Leander  übergeben.  Das  daraus  entstandene  Kloster  steht 
heute  noch. 

Das  Wappen  der  Tenorios,  wie  man  es  in  einer  alten  Handschrift, 
welche  ein  Verzeichnis  der  Ritter  der  Banda  enthält,  findet,  war  ein 
springender  roter  Löwe  in  goldenem  Felde,  durch  das  drei  gewürfelte 
Balken,  blau  mit  Silber,  gingen. 

Diese  geschichtlichen  Nachrichten  über  die  Person  des  Don  Juan 
wie  der  Familie  Tenorio,  sollen  sich,  wie  verschiedene  Schriftsteller  mit- 
teilen, in  spanischen  Chroniken  befinden. 

Noch  heutigen  Tages  zeigt  der  Sevillaner  den  Fremden  das  Haus 
des  Don  Juan,  wobei  erzählt  wird,  wie  derselbe  ein  Wüstling  und 
Mädchenverfuhrer  ersten  Ranges  gewesen  sei,  und  wie  ihn  zur  Strafe 
der  Teufel  geholt  habe.  Auch  erzählt  man,  dafs  Don  Juan  eines  Abends 
auf  dem  linken  Ufer  des  Guadalquivir  spazieren  gegangen  sei  und  in 
seiner  Weinlaune  Feuer  von  einem  auf  dem  rechten  Ufer  gehenden  und 


Zwei  Kapitel  aus  der  Geschichte  der  Don  Juan-Sage.  395 

eine  Cigarre  rauchenden  Manne  verlangt  habe,  dafs  dann  der  Arm  des 
Rauchers,  der  Niemand  anders,  als  der  Teufel  selbst  gewesen,  sich  bis  über 
den  ganzen  Flufs  hinübergestreckt  und  die  brennende  Cigarre  Don  Juan 
präsentiert  habe,  der  dann  seine  eigene,  ohne  nur  mit  einem  Auge  zu 
zucken,  und  ohne  im  mindesten  diese  Warnung  zu  Herzen  zu  nehmen  — 
so  arg  sei  er  verstockt  und  verhärtet  gewesen  —  daran  angezündet  habe. 

Auf  den  Strafsen  Sevillas  werden  noch  heute  fliegende  Blätter  ver- 
kauft, welche  die  Sage  von  Don  Juan  in  Romanzenform  erzählen. 

Das  Haus,  welches  dem  Fremden  als  dasjenige  bezeichnet  wird, 
welches  Don  Juan  bewohnt  haben  soll,  befindet  sich  in  einem  seitab 
gelegenen  Winkel  des  Marktplatzes  (Plaza  de  la  feria),  dicht  hinter  dem 
Chorende  der  Kirche  omnium  sanctorum,  ein  mehr  zierliches  denn  grofses 
Haus  mit  einem  halb  arabischen,  halb  germanischen  Doppelfenster  über 
dem  Balkon.  Dasselbe  gehört  jetzt  dem  gräflichen  Geschlechte  Mon- 
tijo  von  Theba. 

In  spanischen  Reiseberichten  findet  sich  manche  Sage  über  Don  Juan, 
die,  im  Volke  festgewurzelt,  auch  eigentümliche  .Gebräuche  hervor- 
gerufen hat.  So  erzählt  ein  Reisender  io  seinen  Briefen  aus  Madrid, 
(S.  Lewaids  Europa  1837,  ß^*  ^^»  S*  ^5^)  folgendes:  „Bekanndich  ist  der 
selige  Don  Juan,  Mozarts,  Molieres  und  Byrons  Don  Juan,  von  rein 
spanischem  Geblüt,  auch  scheint  es,  dafs  man  sich  seiner  in  seinem 
Vaterlande  noch  recht  gut  erinnert.  Am  Fastnachtsdienstag  nämlich 
wird  dieser  Don  Juan  von  Kopf  bis  zu  den  Füfsen  weifs  gekleidet,  mit  dem 
alten  spanischen  Mantel  umgethan,  das  Pederbarett  auf  dem  Haupte  und 
auf  einem  weifsen  Kissen  knieend,  in  feierlichem  Zuge  von  vier  Männern 
auf  dem  Platze  der  Stiergefechte  herumgetragen  und  spaziert  auch  auf 
diese  Weise  durch  den  Prado.  Es  scheint  fast,  als  habe  der  alte  Sünder 
das  Mafs  seiner  Bufse  noch  nicht  ganz  erfüllt,  und  müsse  durch  diese 
nachträgliche  Strafe  den  unauslöschlichen  Skandal  seines  Lebens  büfsen/' 

„Die  zweite  noch  seltsamere  und  unerklärlichere  Zeremonie  findet 
am  Aschermittwoch  statt.  Ein  schwarz  gekleideter,  mit  zusammen- 
gebundenen Füfsen  auf  dem  Rücken  liegender,  dem  Anscheine  nach  toter 
Mann,  wird  auf  einer  Bahre  herumgetragen.  Zwischen  den  gefalteten 
Händen  hält  er  eine  Sardelle,  ihm  nach  folgen  viele  Kerzenträger,  zahl- 
lose Geistliche  begleiten  vorn  und  hinten  den  Toten,  und  murmeln 
Gebete.  Mit  grofser  Feierlichkeit  zieht  die  Prozession  bis  an  den  eine 
halbe  Stunde  von  Madrid  entfernten  Kanal.  Hier  macht  die  Begleitung 
halt,  der  Tote  wird  wieder  lebendig  und  der  Nachmittag  lustig  mit 
Trinken  zugebracht.    Dies  nennt  man  „Enterrar  la  sardina^  (die  Sardelle 


396  Karl  Engel. 


begraben).  Ich  forschte  nach  der  Entstehung  dieses  Gebrauches,  und 
erhielt  zur  Antwort:  ^ es  sei  so  in  der  Gewohnheit;"  und  als  ich  weiter 
fragte:  warum?  antwortete  man  mir  ganz  gescheidt:  ^daruml"  Man 
begreift  leicht,  dafs  ich  nach  einer  so  peremptorischen  Erklärung  nichts 
weiter  verlangen  konnte,  und  begnüge  mich  folglich,  sie  so,  wie  ich  sie 
erhalten,  meinen  werten  Lesern  und  den  geistreichen  Novellenschreibern 
mitzuteilen,  die  leicht  aus  dieser  Volkssitte  irgend  eine  schauerliche 
Teufels-Legende  fabrizieren  können/' 

Ebenso  wenig  als  der  Sinn  dieser  Volksgebräuche,  welche  in  Madrid 
vorgenommen  werden,  ist  ausgemacht,  welchem  Don  Juan  sie  gelten, 
denn  die  Stadt  Sevilla  hat  noch  einen  zweiten  Don  Juan  aufzuweisen, 
welcher  ebenfalls  als  ein  Wüstling  bekannt  oder  vielmehr  berüchtigt  war. 
Dieser  Don  Juan  gehörte  zu  der  Familie  derer  von  Maranna,  er  starb 
als  reuiger  Sünder,  und  ist  von  Don  Juan  Tenorio,  den,  wie  die 
Sage  erzählt,  ein  Steinbild  entführte,  sehr  wohl  zu  unterscheiden.  Das 
Ende  des  Don  Juan  de  Maranna,  erzählt  die  Sage  folgendermafsen: 
Einst  bei  Nacht  durchstreifte  er,  nachdem  er  eben  ein  Gelage  verlassen, 
die  Strafsen  von  Sevilla  auf,  Liebesabenteuer.  Ein  Leichenzug  kommt 
ihm  entgegen.  Mit  trunkenem  Hohn  hält  er  denselben  an  und  fragt  nach 
dem  Gestorbenen.  Einer  der  Kerzen  tragenden  Gestalten  antwortet  mit 
hohler  Grabesstimme:  „Wir  begraben  den  Don  Juan  de  Maranna. "^ 
Halb  betroffen,  wollte  er  sich  entfernen,  allein  die  grofse  Zahl  der 
Büfsenden  und  die  Pracht  der  ganzen  Prozession  fesselten  ihn,  und  halb 
zum  Spott  schliefst  er  sich  an  und  wandelt  mit  dem  Zug  durch  die 
Gassen.  Die  Prozession  nahm  ihre  Richtung  nach  einer  nahe  gelegenen 
Kirche.  Die  Pforten  derselben  öffnen  sich  und  der  Zug  tritt  ein.  Don 
Juan,  in  der  Meinung  er  werde  vxjrdem  falsch  gehört  haben,  fragt  noch- 
mals einen  der  zunächststehenden,  wen  man  hier  begrabe  und  abermals 
antwortet  eine  hohle  Grabesstimme:  „Den  Grafen  Don  Juan  von  Maranna l"" 
Don  Juan  fühlt  sein  Blut  erstarren  und  alle  seine  Stärke  von  sich  weichen. 
Unter  Gesängen,  die  wie  Stimmen  des  letzten  Gerichtes  tönen,  wird  der 
Sarg  vor  dem  Altar  niedergesetzt  und  der  Deckel  abgehoben.  Mit  Auf- 
bietung aller  seiner  Kräfte  ruft  Don  Juan  laut:  „In  des  Himmels  Namen 
sagt  an,  fiir  wen  betet  ihr  hier  und  wer  seid  ihr?"  „Wir  beten  für  den 
Grafen  Don  Juan  von  Maranna!"  ertönt  die  Antwort  in  gjauenvollera 
Chor.  Halb  ohnmächtig  schwankt  Don  Juan  zum  Altar,  da  wirklich  er- 
kennt er  sich  selber  im  Sarg  liegend  und  stürzt  bewufstlos  nieder.  In 
der  Morgendämmerung  erwacht  er,  und  zu  seinem  Erstaunen  befindet  er 
sich  ganz  allein  in  einer  leeren  Kirche.     Aber  er  erwachte  auch  zu  einem 


Zwei  Kapitel  aus  der  Geschichte  der  Don  Juan-Sage.  397 

neuen  Leben.  Die  nächtliche  Vision  hat  seinen  Sinn  vollständig  geändert. 
Er  thut  aufrichtige  Bufse,  baut  aus  den  Reichtümern,  die  ihm  noch  übrig 
sind,  das  grofse  Armen-  und  Krankenhaus  der  christlichen  Liebe,  das 
Hospicio  de  la  caridad,  und  widmet  eben  diesem  in  büfsender  Frömmig- 
keit den  Rest  seines  Lebens.  Auf  seinem  Sterbebette  bat  er,  dafs  man 
ihn  unter  die  Schwelle  der  Kirchentür  beerdige,  damit  ein  Jeder,  der 
zu  ihr  eingehe,  ihn  noch  mit  Füfsen  trete,  allein  es  wurde  nicht  für  an- 
gemessen gehalten,  diesen  Wunsch  auszufuhren.  In  der  von  ihm  ge- 
stifteten Kapelle  wurde  er  beim  Hauptaltare  beigesetzt,  und  dem  seine 
sterbliche  Hülle  deckenden  Stein  die  von  ihm  selbst  verfalste  Inschrift 
eingegraben:  Aqui  y  accel  peor  hombre  que  fue  en  el  munde.  — *) 
Sein  Hospital  und  die  Kapelle,  in  der  er  liegt,  werden  von  allen  Fremden, 
die  durch  Sevilla  reisen,  besucht 

Dieser  Don  Juan  indeis  ist  nicht  der  Don  Juan  Mozarts,  wie  einige 
Schriftsteller  falschlich  angaben.  Dieser  Irrtum  entstand  wohl  dadurch, 
dafs  die  mündlichen  Überlieferungen  die  Abenteuer  Beider  mit  der  Zeit 
ineinander  schmolzen,  aber  die  endliche  Entwicklung  ist  sehr  verschieden 
und  schon  Prosper  Merimee,  welcher  die  Geschichte  des  Don  Juan 
von  Maranna  mit  einigen  Veränderungen  und  Ausschmückungen  erzählt, 
unterscheidet  genau  zwischen  Don  Juan  de  Maranna  und  Don  Juan  de 
Tenorio.  Er  sagt  am  Schlüsse  seiner  Einleitung,  dafs  er  versucht  habe, 
von  seinem  Helden,  dem  Don  Juan  de  Maranna,  nur  solche  Abenteuer 
zu  erzählen,  die  nicht  dem  aller  Welt  durch  Molieres  und  Mozarts  Meister- 
werke bekannten  Don  Juan  de  Tenorio  zugehören.**)  Auch  Tirso,  der 
erste  Bearbeiter  der  Don  Juan-Sage,  nennt  seinen  Helden  mit  dem  richtigen 
Namen  Tenorio. 

In  Mozarts  Leben  von  G.  N.  v.  Nissen  (Leipzig  1828)  wie  auch  in 
^Mozarts  Geist"  (S.  298)  wird  gesagt,  die  Quelle  der  Sage  sei  ein  in 
Portugal  erschienener  jesuitischer  Roman:  vita  et  mors  sceleratissimi 
principis  Domini  Joannis.  Darunter  sei  König  Alfons  VI.  gemeint,  Sohn 
des  Don  Juan  de  Brag^nza.  Man  habe  ihn  in  einem  Turme  bei  Lissa- 
bon gefangen  gehalten,  und  die  Jesuiten  hätten  dem  Volke  weifs  gemacht, 
der  Teufel  hätte  ihn  weggeführt.  Jedoch  diese  ganz  andere  Geschichte 
in  Beziehung  mit  unserem  Don  Juan  zu  bringen,  entbehrt  jeder  Bürg- 
schaft und  Begründung. 

Nach  allem  was  die  Forschung  erwiesen  hat,  ist  der  oben  erwähnte 
Don  Juan  aus  der  Familie  der  Tenorio,  eines  einst  in  Sevilla  ansäfsigen 

*)  „Hier  liegt  der  schlimmste  Mensch,  der  jemals  auf  der  Welt  gewesen." 

**)  Dodecaton.  Paris  1836,     Deutsch,  Stuttgart  1837.     ß^-  ^• 

Ztschr.  f.  vgl.  Litt.-Geach.  I.  27 


398  Karl  Engel. 

sehr  angesehenen,  aber  nun  längst  ausgestorbenen  Geschlechts,  der  Trager 
der  Don  Juan-Sage. 

Von  Don  Pedro,  den  die  Geschichte  mit  dem  Namen  des  „Grau- 
samen" bezeichnet,  (dessen  Günstling  und  Vertrauter  Don  Juan  war),  hat 
sich  in  Sevilla  eine  Tradition  erhalten,  welche  sich  an  einen  in  Stein  ge- 
hauenen Königskopf  knüpft.  Die  Sage  lautet:  Don  Pedro  habe  einmal 
auf  einem  seiner  einsamen  Nachtgänge  einen  Mann,  der  ihm  eifersüchtig 
den  Weg  vertrat,  notgedrungen  ermordet.  Tags  darauf,  als  der  Asistente, 
der  oberste  Beamte  der  Stadt,  bei  Hofe  erschien,  berichtete  ihm  Don 
Pedro,  es  sei  in  dieser  Nacht  Jemand  ermordet  worden;  der  Asistente 
solle  den  Thäter  ermitteln  und  den  Kopf  desselben  da  aufpflanzen,  wo 
die  Unthat  geschehen  sei.  Bald  darauf  kam  der  König  wiederum  in  jene 
Gegend,  und  sah  in  derselben  Strafse,  in  derselben  Ecke  in  einer  Mauer- 
blende den  gekrönten  Kopf  eines  Königes  aufgestellt.  Ihm  wohl  ver- 
ständlich und  nicht  ohne  höflich  zu  warnen  hatte  der  Asistente  den  Be- 
fehl vollzogen.  Nach  einem  Bericht  aus  dem  Jahre  1854  (Wackemagel^ 
Sevilla,  S.  30)  soll  der  Kopf  in  der   Mauerblende    noch  vorhanden  sein. 

Im  Munde  des  spanischen  Volkes  hatten  sich  die  Abenteuer  Don 
Juans  mit  mehr  oder  weniger  Ausschmückungen  fortgepflanzt,  bis  endlich 
nach  über  250  Jahren  die  sagenhaft  schwankenden  Umrisse  der  Volks- 
traditionen durch  die  Feder  feste  Gestalt  erhielten  und  der  Litteratur  in 
poetischem  Gewände  zugeführt  wurden. 

Gabriel  Tellez,  Mönch  und  Prior  eines  Klosters  der  barmherzigen 
Brüder  in  Madrid,  der  von  etwa  1570  bis  1650  lebte  und  unter  dem 
Namen  Tirso  de  Molina  beliebte  Komödien  schrieb,  war  der  erste, 
welcher  die  Sage  vom  Don  Juan  dramatisch  behandelte.  Die  Lebens- 
umstände des  Gabriel  Tellez  sind  wenig  bekannt. 

Eugenie  de  Ochoa,  (spanischer  Dichter,  Kritiker  und  politischer 
Schriftsteller,  geb.  19.  April  18 15  zu  Lezo  in  Guipuzcoa,  gest.  zu  Madrid 
als  wirkl.  Kammerherr  am  29.  Februar  1872),  berichtet  über  die  Person 
des  Tirso  de  Molina  Folgendes:  „Über  diesen  berühmten  Schriftsteller 
sind  uns  nur  kurze  Notizen  geblieben,  ein  Mifsgeschick,  das  er  mit 
mehreren  berühmten  Koryphäen  der  spanischen  Litteratur  teilt.  Fast  alle, 
welche  über  ihn  und  seine  Werke  geschrieben,  haben  im  Wesentlichen 
nur  das  Wenige  wiederholt,  welches  Montalvan  in  seinem  Buche  para 
todos  sagt:  „Der  Meister  Fray  Gabriel  Tellez,  Beneficiat  des  Ordens 
„Unserer  lieben  Frau  von  der  Gnade",  Prediger,  Theolog,  Poet,  und  in 
Allem  grofs,  hat  unter  dem  angenommenen  Namen  Meister  Tirso  de 
Molina  viele  vortreffliche  Komödien  und  die  Cigarrales  (Obstgärten)  de 


Zwei  Kapitel  aus  der  Geschichte  der  Don  Juan-Sage.  399 

Toledo  geschrieben,  und  ist  im  Begriffe,  einige  auserlesene  Novellen  in 
den  Druck  zu  geben,  von  denen  es  anstatt  weiteren  Rühmens  genügt  zu 
sagen,  dafs  er  sie  schrieb." 

Aufser  diesen  glaubwürdigen  Daten  liefs  sich  nur  noch  das  ermitteln, 
dafs  er  1620  in  gedachtes  Madrider  Kloster  der  heiligen  Jungfrau  eintrat, 
als  er  bereits  die  Fünfziger  erreicht  hatte,  woraus  man  schliefst,  das  er 
etwa  1570,  sieben  oder  acht  Jahre  nach  Lope  de  Vega  geboren  sein 
mag.  Im  September  1645  wurde  er  zu  einer  Commende  des  Klosters 
von  Soria  erwählt,  und  man  glaubt,  dafs  er  1648  im  achtundsiebzigsten 
Jahre  dort  starb.  Sein  Orden  übertrug  ihm  allmälig  die  Aemter  des 
Vorsitzers,  Magisters,  Theologen,  Predigers  und  Chronicisten  des  Ordens 
für  die  Provinz  Neu-Castilien.  Die  strengen  Pflichten  des  Mönchlebens 
müssen  allerdings  mit  dem  eigentümlichen  Charakter  des  Meisters  Tirso 
schlecht  zusammen  gepafst  haben,  denn  er  ist  bei  weitem  der  heiterste 
und  ungebundenste  der  alten  spanischen  Lustspieldichter.  Doch  ist  diese 
Anomalie  nicht  so  überraschend,  da  seine  berühmtesten  Kunstgenossen, 
namentlich  Torres  Naharro,  Lope  da  Vega,  Tarraga,  Calderon,  Moreto 
Solls  etc.  alle  dem  geistlichen  Stande  angehörten.^ 

Tirsos  Komödien  sind  gesammelt  in  fünf  Quartbänden,  welche  teils 
in  Madrid,  teils  in  Tortosa,  Sevilla  und  Valencia  von  161 6  bis  1652  ge- 
druckt und  neu  aufgelegt  sind.  Das  Schauspiel  Tirsos,  welches  die  Sage 
vom  Don  Juan  behandelt,  fuhrt  den  Titel:  El  Burlador  de  Sevilla  y 
Convidado.  de  piedra.  Es  wurde  zuerst  gedruckt  im  Jahre  1634,  wurde 
oft  aufgelegt,  ist  jedoch  in  Deutschland  eine  grofse  Seltenheit.  Plan  und 
Gang  der  Handlung  kannte  man  hauptsächlich  nur  aus  dem  auch  nicht 
häufigen  Werke:  Tart  de  la  comedie  par  Mr.  de  Cailhava  (Paris  1772) 
worin  im  3.  Teil,  S.  217,  aus  Opposition  gegen  den,  denselben  StoflF  be- 
handelnden Moliere,  sichere  Kunde  über  die  Beschaffenheit  des  Tirso- 
schen  Burlador  gegeben  wird.  Erst  im  Jahre  1841  wurde  das  Stück  in 
einer  vollständigen  Übersetzung  dem  deutschen  Publikum  zugänglich 
gemacht  durch  E.  A.  Dohrn.  (Spanische  Dramen.  Berlin  1841.  T.  I.).*) 
Dohrn  übersetzte  das  Stück  aus  der  Sammlung  der  spanischen  Ausgabe, 
welche  1831  bei  Baudry  in  Paris  unter  dem  Titel:  Coleccion  de  los 
mejores  autores  espanoles  erschien,  worin  die  dramatische  Abteilung 
Tesoro  del  teatro  espanol  von  Don  Eugenio  de  Ochoa  redigirt  ist. 
Ochoa  sagt  u.  a.  über  Tirso*s  Burlador  in  einem  Vorwort:  „Der  Held 
dieses  Stückes  ist  der  bekannte  Don  Juan  Tenorio,  von   dem  uns  die 


*)   1856  folgte  eine  Übersetzung  von  L.  Braunfels. 

2V 


400  Karl  Engel. 


Tradition  so  viel  Aufserordentliches  berichtet,  und  der  einer  grofsen  Zahl 
ähnlicher  Charaktere  zum  Typus  gedient  hat.  Nach  unserm  Tirso  de 
Molina  haben  ihn  später  Zamora,  Moliere,  Byron  und  Dumas  zum  Gegen- 
stande ihrer  Dichtungen  .gemacht,  indefs  gebührt  seine  Erfindung  nicht 
unserm  Madrider  Poeten,   vielmehr  fand   er  diesen  Charakter  bereits  in 

den  Chroniken  von  Sevilla  skizzirt Tirsos  Stück     kann    freilich 

nicht  als  ein  Muster  gelten,  doch  enthält  es  viele  einzelne  Schönheiten, 
und  wir  haben  es  dieser  Sammlung  einverleibt,  da  es  nicht  nur  wenig 
bekannt  ist,  sondern  wir  auch  voraussetzen  durften,  der  Leser  werde 
einen  überall  so  populär  gewordenen  Stoff  gern  in  der  ersten  drama- 
tischen Bearbeitung  kennen  lernen.  Auch  dünkt  uns  das  Lesen  dieses 
Stückes  eine  vortreffliche  Vorbereitung,  um  den  genialen  Don  Giovanni 
von  Mozart  mit  der  gebührenden  Andacht  zu  hören."  In  den  „An- 
merkungen des  Übersetzers**  heifst  es  S.  411 :  „Es  leuchtet  auf  den  ersten 
Blick  ein,  dafs  dieser  Don  Juan  nicht  von  dämonischer,  mit  sich  und  der 
Welt  zerfallener  Sophisterei  getrieben  wird,  die  bürgerlich  sittliche 
Ordnung  mit  Füfsen  zu  treten;  er  ist  ein  derber  sinnlicher  Epikuräer, 
dessen  Charakteristik  der  Dichter  ihm  selber  bezeichnend  genug  in  den 
Mund  gelegt  hat.  Dennoch  ist  es  dem  Dichter  gelungen,  diesem  Wüst- 
linge durch  einen  Anhauch  von  ritterlicher  Tapferkeit  ein  so  energ^isches 
Colorit  zu  geben,  dafs  sein  Don  Juan  der  Grundtypus  geworden  ist,  nach 
welchem  fast  alle  europäischen  Litteraturen  diesen  Charakter  sich  zuge- 
eignet haben.  Es  galt  also,  dem  ersten  Entdecker  dieser  so  reich  aus- 
gebeuteten belletristischen  Ader  seine  gebührende  Ehre  zu  vindiciren, 
eine  Arbeit,  welcher  ich  mich  um  so  lieber  unterzog,  als  ich  bestimmt 
hoffen  darf,  meine  Leser  —  und  wer  von  ihnen  kennte  und  liebte  nicht 
Mozarts  unsterbliche  Partitur?  —  werden  mir  Dank  wissen,  sie  mit  dem- 
jenigen Werke  bekannt  zu  machen,  welches  dem  Don  Giovanni  wesent- 
lich, mitunter  wörtlich  zum  Grunde  liegt.** 

Dieses  berühmte  Schauspiel  war  die  Quelle,  woraus  alle  spätem 
Bearbeiter  der  Don  Juan-Sage  geschöpft  haben. 

Tirsos  Schauspiel  erregte  so  viel  Aufsehen,  dafs  es  bald  von 
Italienern  und  Franzosen  nachgeahmt  wurde.  Bevor  wir  die  weiteren 
Bühnenbearbeitungen  betrachten,  müssen  wir  noch  einen  Blick  auf  die 
wandelnde,  sprechende  und  wirkende  Statue  werfen,  welche  in  der  Don 
Juan-Geschichte  als  die  Hauptsache  erscheint.  Lange  Zeit  hindurch 
wurde  die  Geschichte  des  Don  Juan  fiir  eine  Fantasie  des  Dichters  gehalten 
und  man  fand  es  gar  zu  unwahrscheinlich  und  unnatürlich,  dem  Publikum 
eine  handelnde,  redende  Steinfigur  vorzufuhren.   Wenn  aber  in  Betracht 


Zwei  Kapitel  aus  der  Geschiebte  der  Don  Juan -Sage.  401 

genommen  wird,  dafs  hier  keine  dichterische  Erfindung,  sondern  allgemeines 
Sagengut  vorliegt,  welches  uns  der  Dichter  im  poetischen  Gewände 
vorfuhrt,  so  wird  uns  das  vorgeführte  Steinbild  weniger  befremdlich 
erscheinen.  Der  Glaube,  dafs  unter  Umständen  auch  Stein-  oder  Metall- 
Bilder  zu  Lebensäufserungen  fähig  sind,  ist  uralt.  Erzählungen  von 
wandelnden  Bildsäulen,  sprechenden  Köpfen,  belebten  Statuen  u.  s.  w., 
finden  sich  in  den  Werken  älterer  Schriftsteller  in  Menge  vor  und  datiren 
bis  ins  hohe  Altertum  zurück.  Bekanntlich  schafft  die  Sage  ihre  Gestalten 
nie  aus  dem  Nichts,  sondern  sie  bildet  eine  Hülle  um  einen  vorhandenen 
Kern.  Historische  Nachrichten  über  den  Träger  der  Don  Juan-Sage  sind 
vorhanden  und  wurden  oben  mitgeteilt.  Den  Gipfelpunkt  der  Sage  aber 
bildet  der  fabelhafte  „steinerne  Gast".  Dieser  steinerne  Gast  wurzelte 
ursprünglich  in  der  oben  erwähnten  Lüge  der  Franziskaner -Mönche, 
welche,  um  den  Verdacht  einer  Unthat  von  sich  abzulenken,  das  Gerücht 
verbreiteten,  Don  Juan  habe  des  Comthurs  Statue  insultiert  und  sei  von 
ihr  in  die  Hölle  gestürzt  worden.  Aus  diesem  Lügenmärchen  allein,  hätte 
sich  wohl  kaum  eine  Volkssage  entwickeln  können,  wenn  nicht  schon 
ähnliches  Sagengut  vorhanden  gewesen  wäre,  worauf  sich  die  Lüge  der 
Mönche  stützte.  Alles  was  sich  ähnlich  sieht,  vergleicht  man  gerne. 
Vorhandene  Spukgeschichten  von  Bildsäulen  wurden  mit  der  Don  Juan- 
Begebenheit  in  Verbindung  gebracht  und  so  entwickelte  sich  mit  der 
Zeit  die  Sage  im  Munde  des  Volkes,  gleich  wie  in  Deutschland  die  vor- 
handenen Teufelsbündler-Sagen  sich  schliefslich  an  die  Person  des  Doktor 
Faust  hefteten. 

Der  Dichter  Tirso  brachte  also  nicht  aus  eigener  Erfindung  den 
steinernen  Gast  in  die  Geschichte  des  Don  Juan  hinein,  er  fand  ihn 
im  Volksmunde  vor,  der  steinerne  Gast  ist  eng  mit  dem  Abenteurer 
Don  Juan  verwachsen,  er  bildet  den  Gipfelpunkt  der  Sage  und  Tirso 
hielt  sich  demgemäfs  in  seiner  dramatischen  Bearbeitung  der  Don  Juan- 
Sage  streng  an  die  Tradition.  Wenn  spätere  Bearbeiter  sich  heraus- 
nahmen, den  steinernen  Gast  zu  entfernen,  sich  nur  auf  die  Abenteuer 
Don  Juans  beschränkten  und  ihren  Helden  durch  Blitzstrahl  oder  Gift 
umkommen  liefsen,  so  ist  das  eine  Verstümmelung  der  Sage,  welche 
weder  zu  büligen  noch  zu  rechtfertigen  ist. 

Die  allerfrappanteste  Ähnlichkeit  mit  der  Don  Juan-Sage,  findet  sich, 
wie  J.  Mähly  mitteilt,*)  in  einer  aus  dem  Altertum  stammenden  Notiz, 
die  Mähly    leider  nur  aus   dem  Gedächtnis  anfuhren,    nicht  aber    durch 


*)  Die  Grenzboten.     35.  Jahrgang,  Nr.  17.     Leipzig,   1876.     S.  136. 


402  Karl  Engel. 

litterarischen  Nachweis  bestätigen  kann.  Er  sagt:  „Sie  ist  in  einem 
griechischen  Schriftsteller  enthalten  und  besagt  kurz  und  gut:  Als  einst 
eine  Bildsäule  durch  die  bewaffnete  Hand  eines  ihr  im  Leben  feindlich 
gesinnten  Mannes  insultiert  worden  sei,  da  sei  sie  vom  Piedestal  herunter- 
gekommen und  habe  den  Frevler  erschlagen.  Hier  haben  wir  also  den 
Frevler  und  zugleich  auch  die  wunderbare  Art  der  Strafe,  und  auch  hier 
mufs  ein  Glaube  an  die  Möglichkeit  solchen  Vorkommens  angenommen 
werden.  Die  Tradition  setzt  sich  aber  ununterbrochen  bis  ins  späte 
Mittelalter  fort  und  hier  bemächtigt  sich  ihrer  nicht  sowohl  der  Aber- 
glaube, als  die  Sage,  und  in  ganz  natürlicher  Verbindung  mit  ihr  die  Poesie." 

II.     Don  Juan  in  Deutschland  vor  Mozart. 

In  Deutschland  wurde  Don  Juan  ebenfalls  ein  beliebter  Stoff  und 
gehörte  seit  dem  Anfange  des  achtzehnten  Jahrhunderts  zum  stehenden 
Repertoire  der  improvisierenden  Schauspieler,  welche  wahrscheinlich  die 
Traditionen  der  Italiener  benutzten. 

Prehauser,  der  in  Hanswurst-Rollen  sich  Berühmtheit  erwarb, 
machte  1716  seinen  ersten  theatralischen  Versuch  als  Don  Philippo  im 
„steinernen  Gast." 

Auf  dem  Repertoir  der  Ackermannschen  Gesellschaft  findet  sich 
1742  ein  Nachspiel  „Don  Juan"  und  1769  wurde  von  derselben  Gesellschaft 
ein  pantominisches  Ballet  „Don  Juan"  aufgeführt.*) 

In  Dresden  wurde  1 752  von  den  Königlich-Polnischen  und  Churfurst- 
lich  Sächsischen  Hof-Comödianten  ein  Don  Juan  aufgeführt,  wobei  Moliere 
benutzt  war. 

Der  später  als  Schauspieler  und  Dramaturg  berühmt  gewordene 
Friedrich  Ludwig  Schröder,  trat  1766  in  Hamburg  (da  er  22  Jahr 
alt  war)  im  Moliere*schen  Don  Juan  als  „Sganarelle"  auf,  und  übertraf 
hochgespannte  Erwartungen.**) 

In  Wien  wurde  regelmäfsig  in  der  Allerseelenoctav,  bis  zum  Jahre 
1772  ein  improvisiertes  „steinernes  Gastmal"  anfgeführt. ***) 

Aus  den  in  Deutschland  vielfach  aufgeführten  improvisierten  Burlesken, 
entwickelte  sich  das  Volksschauspiel  Don  Juan,  welches  sich  später 
unter  der  Puppenspielerzunft  durch  mündliche  Tradition  und  schriftliche 
Aufzeichnungen  erhalten  hat.  Es  blieb  ein  gern  gesehenes  Stück  und 
da  den  Verbrecher  schliefslich  der  Teufel  holt,  hielt  man  die  Moralität 
für  vollständig  gewahrt  und  erbaute  sich  an  den  Strafreden  der  Statue. 


*)  Schütze,  Hamburg.    Theatergeschichte,  375. 

**)  Meyer,  Schröders  Biographie. 

***)  Geschichte  des  ges,  Theaterwesens  zu  Wien.  328. 


Zwei  Kapitel  aus  der  Geschichte  der  Don- Juan  Sage.  403 

Nach/dem  das  Stück  ausschUefsliches  Eigentum  der  Puppenspieler 
geworden,  hat  es  mannigfache  Veränderungen  erlitten,  denn  diese 
behandelten  ihre  überlieferten  Texte  sehr  willkürlich. 

In  Hamburg  wurde  1774  der  Molieresche  Don  Juan  als  Singspiel 
für  Puppen  aufgeführt.*) 

In  Hannover  wurde  im  Winter  1777 — 1778  von  dem  Puppenspieler 
Storm,  welcher  im  Ballhofssaal  wie  auch  auf  dem  Rathaussaal  Vor- 
stellungen gab,  „Donschang,  der  desparate  Ritter"  aufgeführt.**) 

Die  bekannten  Puppenspieler  Schütz  und  Dreher,  welche  1804 — ^807 
häufig  Berlin  und  Potsdam  besuchten,  hatten  auf  ihrem  reichhaltigen 
Repertoir  „Don  Juan  oder:  das  Todtengastmahl."  Die  Gebrüder 
Lorgie,  welche  in  den  dreifsiger  Jahren  die  Jahrmärkte  Deutschlands 
bezogen,  führten  „Don  Juan  oder  der  Vater-  und  Brudermörder" 
auf.  Ebenso  Genesius,  Eberle,  Franke,  Wiepking,  Schwiegerling 
u.  a.  m.  unter  verschiedenen  Titeln,  als  z.  B.  „Don  Juan,  der  vierfache 
Mörder,  oder:  Das  Gastmahl  um  Mitternacht  auf  dem  Kirchhofe."  „Der 
steinerne  Gast  oder:  Der  spanische  Ritter  Don  Juan."  „Don  Juan  der 
siebenfache  Mörder  oder:  Der  geladene  Gast  um  Mitternacht"  u.  s.  w. 
Im  Puppenspiel  wird  natürlich  Hanswurst  (Kasperle)  völlig  zur  Haupt- 
person, die  Liebesabenteuer  Don  Juans  treten  vor  seinen  Mordthaten 
zurück,  und  der  gefahrliche  Mädchenverführer  erhält  mehr  das  Ansehen 
eines  Banditen.  Am  vollständigsten  und  reinsten  scheint  sich  das  alte 
deutsche  Volksschausspiel  vom  Don  Juan,  bei  den  Puppenspielern 
E.  Wiepking  und  C.  Franke  erhalten  zu  haben.  In  dieser  Fassung  ist 
es  auch  jetzt  noch  auf  dem  ständigen  Marionettentheater  in  München, 
unter  Direktion  von  J.  Schmid  ein  beliebtes  Repertoirstück.***)  Die 
Namen  der  Personen  wie  die  Hauptsituationen  weisen  auf  die  französischen 
Bearbeitungen  des  italienischen  Stückes  als  vornehmlichste  Quelle  hin. 
Im  Vergleich  hierzu,  sind  die  in  Scheibles  Klosterf)  mitgeteilten 
Don  Juan-Spiele  vom  Augsburger,  Strafsburgei:  und  Ulmer  Puppen- 
theater, sehr  mittelmäfsig  und  lückenhaft. 

Ein  Ballet  „Don  Juan"  mit  Musik  von  Chr.  W.  von  Gluck,  wurde 
1761  in  Wien  aufgeführt,  auch  später  in  Paris,  woselbst  in  der  Bibliothek 
der  ecole  de  musique  sich  ein  in  französischer  Sprache  geschriebenes 
Programm    gefunden    hat.     Das  Programm    ist    vor   dem  Klavierauszug 


*)  Schletterer,  deutsche  Sing^splele.  S.  152. 

**)  H.  Müller.     Chronik  des  Königlichen  Hoftheaters  zu  Hannover.     S.  72. 
***)  Vgl.  Karl  Engel.     „Deutsche  Puppenkomödien",  Heft  III.  Oldenburg  1875. 
t)  Band  3,  S.  399  u.  f. 


404  Karl  Engel. 


(heraUvSgegeben  von  Marr)   und  auch  von  Lobe  (Fliegende  Blätter  für 
Musik  I,   122  u.  f.)  mitgeteilt. 

Das  Ballet:  II  convitato  di  Pietra  ossia  Don  Giovanni,  welches  1780 
in  Neapel,  1783  und  1788  in  Mailand  aufgeführt  wurde,  ist  wahrscheinlich 
identisch  mit  dem  Ballet  von  Gluck.  Nach  der  Einrichtung  des  Ballet- 
meisters  Crux,  wurde  1786  das  Ballet  „Don  Juan"  mit  der  Musik  von 
Gluck,  in  München  aufgeführt.*)  „Don  Juan,  oder  der  steinerne  Gast.*' 
Grofses  Ballet  in  5  Aufzügen,  wurde  1788  in  Coblenz  aufgeführt.**) 
In  verschiedenen  Theaterchroniken  findet  man  häufig  in  der  Zeit  von 
1765  bis  etwa  1800  Don  Juan  als  Ballet  angegeben,  ohne  alle  nähere 
Angabe  des  Komponisten.  Es  ist  kein  Zweifel,  dafs  dies  immer  dasselbe 
Ballet  von  Gluck  war,  welches  die  Bühnenrunde  machte,  denn  eine 
andere  Ballet-Musik  zu  einem  Don  Juan  aus  jener  Zeit,  ist  nicht  bekannt 
geworden.     Der  Hauptinhalt  des  Ballets  ist  folgender: 

Szene:  Madrid.  Promenade.  Haus  des  Kommandeurs.  —  Don  Juan 
und  sein  Diener  kommen.  Musiker  bringen  der  Nichte  des  Kommandeurs 
ein  Ständchen.  Sie  läfst  die  Thür  öffnen.  Don  Juan  schlüpft  hinein. 
Man  hört  Degengeklirr.  Die  Musiker  entfernen  sich.  Zweikampf  auf  der 
Strafse  zwischen  Don  Juan  und  dem  Kommandeur.  Letzterer  wird  er- 
stochen. -  Szene:  Saal  in  Don  Juans  Hause.  —  Fest.  —  Don  Juan 
tanzt  mit  der  Nichte  des  Kommandeurs  ein  pas  de  deux.  Gastmahl. 
Die  Statue  des  Ermordeten  tritt  ein.  Gäste  fliehen.  Die  Statue  wird  ein- 
geladen, Platz  zu  nehmen.  Die  Statue  ladet  Don  Juan  in  das  Grab- 
gewölbe ein  und  verschwindet.  —  Der  Ball  geht  fort.  —  Don  Juan  be- 
giebt  sich  allein,  den  Degen  in  der  Hand  hinweg.  —  Szene:  Grabgewölbe.  — 
Die  Statue  will  den  Frevler  zur  Reue  zwingen,  sie  läfst  ihn  das  Geheule 
der  in  der  Unterwelt  Verdammten  hören,  und  stürzt  ihn,  da  Alles  ver- 
geblich ist,  in  den  Abgrund.  —  Szene:  Die  Hölle.  —  Furienballet.  Don 
Juan  wird  von  den  Teufeln  gefesselt  und  in  den  tiefsten  der  Abgründe 
geworfen.  — 

Sara  Goudar  in  ihren  Remarques  sur  la  musique  italienne  et  sur 
la  danse  (Paris  1773)  schrieb  über  Gluck:  Gluck,  AUemand  comme  Hasse^ 
Timita  (Jomelli);  quelquefois  meme  le  surpassa,  mais  souvent  il  fit  mieux 
danser  que  chanter.  Dans  le  ballet  de  Don  Juan  ou  le  festin  de  Pierre 
il  composa  une  musique  admirable. 

Christoph  Willibald  Ritter  von  Gluck,  geboren  2.  Juli  1714 
auf  der  Fürstlich  Lobkowitz*schen  Herrschaft  Weidenwang  bei  Neumarkt 

*)  Grandaur.     Chronik  des  Königlichen  Theaters  in  München. 

**)  Allgemeines  Churtrierisches  Intelligenzblatt.     Coblenz,  17.  Oktober  1788. 


Zwei  Kapitel  aus  der  Geschichte  der  Don  Juan-Sage.  406 

in  der  Oberpfalz  (wo  sein  Vater,    Alexander  Gluck,    Förster  war),   ge- 
storben in  Wien  am  15.  November  1787. 

Der  zweite,  welcher  den  Gedanken  ausführte,  den  so  beliebt  ge- 
wordenen Stoff  zur  Oper  zu  erheben,  war  Vincenzo  Righini.  Sein 
Dramma  tragicomico  „II  convitato  di  pietra  osia  il  dissoluto"  wurde 
zuerst  1776  in  Prag  aufgeführt,  woselbst  Righini,  damals  bei  der 
Bustellischen  Gesellschaft  als  Sänger  und  Komponist  thätig  war.  Den 
Inhalt  dieser  Oper  teilt  Dr.  A.  Kahlert,  *)  dem  ein  Textbuch  vorlag,  das 
für  eine  Aufführung  in  Wien  gedruckt  wurde,  in  kurzen  Umrissen  mit 
und  bemerkt  vorher:  „Auf  grofse  Oper  ist  hier  zwar  noch  nicht  abge- 
sehen, doch  sind  die  Hauptcharaktere  auf  musikalische  Ausfuhrung  an- 
gelegt, und  das  Ganze  nicht  übel  disponiert."  Es  folge  hier  der  Inhalt 
nach  Otto  Jahn,**)  dem  gleichfalls  ein  Textbuch  vorlag  und  der  etwas 
ausführlicher  als  Kahlert  über  den  Inhalt  berichtet. 

Die  Fischerin  Elisa  und  ihr  Geliebter  Ombrino  retten  Don  Gio- 
vanni und  seinen  Diener  Arlechino  aus  den  Fluten.  Don  Giovanni, 
der  in  Neapel  Isabella,  Tochter  des  Duca  d'Altamonte  verfuhrt  hat 
und  entflohen  ist,  gewinnt  rasch  die  Liebe  der  leichtgläubigen  Elisa. 
Der  Commendatore  di  Loiva,  siegreich  heimgekehrt,  wird  von  Don 
Alfonso  im  Namen  des  Königs  von  Castilien  begrüfst,  der  zu  seiner 
Ehre  seine  Statue  errichtet  hat  und  seine  Tochter  Donna  Anna  mit 
dem  DucaOttavio  zu  vermählen  verhelfst.  Donna  Anna  weigert  sich 
trotz  der  heftigen  Bedrohung  ihres  Vaters.  —  Don  Giovanni,  dessen 
Verbrechen  und  Flucht  Don  Alfonso  angezeigt  worden  ist,  begiebt  sich 
mit  Arlechino  in  das  Haus  des  Commendatore,  wo  Donna  Anna  ihr 
Kammermädchen  Lisette  entlassen  hat,  um  sich  zu  entkleiden.  Er 
sucht  sie  zu  entführen,  sie  wiedersetzt  sich  seiner  Gewaltthätigkeit  und 
erkennt  ihn;  darüberkommt  der  Commendatore  zu  und  fallt  im  Zwei- 
kampf Donna  Anna  findet  die  Leiche  und  schwört  dem  Mörder  Rache. 
—  Im  zweiten  Aufzug  beschliefst  Don  Giovanni  zu  flifehen  und  befiehlt 
Arlechino,  im  Wirtshaus  alles  vorzubereiten  und  ein  Mahl  zu  bestellen.  — 
Isabella,  welche  Don  Giovanni  nachgereist  ist,  erhäk  von  Don  Alfonso 
das  Versprechen  seiner  Bestrafung.  —  Don  Giovanni  sucht,  von  Ge- 
wissensbissen ergriffen,  Ruhe  und  Zuflucht  im  Mausoleum  des  Commen- 
datore und  schläft  neben  seiner  Statue  ein.  Dort  findet  ihn  die  trauernde 
Anna,  deren  Liebe  und  Mitleid  er  vergebens  zu  erregen  sucht.     Arle- 


*)  Freihafen,  Jahrg.  1841,  S.  113. 

♦*)  O.  Jahn,  Mozart,  3.  Aufl.,  Bd.  II,  S.  334. 


406  Karl  Engel. 

chino  fordert  ihn  auf,  ins  Wirtshaus  zu  kommen,  wo  alles  bereit  sei; 
er  mufs  die  Statue  zu  Gast  laden,  die  Antwort  derselben  versetzt  Don 
Giovanni  in  die  bedenklichste  Stinunung.  —  Arlechino  liebelt  im 
Wirtshaus  mit  der  Wirtin  Corallino.  —  Donna  Anna  erhält  von 
Don  Alfonso  die  Zusicherung  nachdrücklicher  Verfolgung  und  Be- 
strafung Don  Giovannis.  —  Don  Giovanni  speist,  bedient  von  Corallina 
und  dem  Kellner  Tiburzio,  in  heiterer  Laune  mit  Arlechino;  erbringt 
einen  Toast  auf  das  geneigte  Publikum,  Arlechino  auf  die  schönen 
Mädchen  —  in  deutschen  Versen!  —  aus.  Die  Statue  erscheint  ohne 
etwas  zu  geniefsen,  ladet  Don  Giovanni,  der  zusagt,  ein  und  verschwindet; 
mit  der  gröfsten  Ausgelassenheit  wird  das  Mahl  beendet.  —  Im  dritten 
Akt  ist  Don  Giovanni  mit  Arlechino  beim  Commendatore  im  Trauer- 
zimmer zu  Gast,  er  weigert  sich  zu  büfsen  und  wird  vom  Abgrund  ver- 
schlungen. —  Don  Alfonso  und  Donna  Anna  werden  durch  Arlechino 
von  diesem  Ausgang  unterrichtet.  —  Don  Giovanni  wird  in  der  Hölle 
von  Furien  gepeinig^.  — 

Nächst  Prag  wurde  Righinis  Werk  am  21.  August  1777  in  Wien 
aufgeführt.  Im  Jahr  1782  auch  in  Braunschweig.*)  Die  Musik  fiel 
bald  der  Vergessenheit  anheim. 

Vincenzo  Righini,  geb.  22.  Januar  1756  zu  Bologna,  besuchte 
das  Konservatorium  seiner  Vaterstadt,  ward  in  seinem  i8.  Jahr  als  Tenorist 
bei  der  Opera  buffa  zu  Prag  angestellt,  wirkte  später  als  Kapellmeister 
zu  Wien,  seit  1788  zu  Mainz  und  seit  1793  zu  Berlin.  Er  starb  am 
19.  August  1812  zu  Bologna.  Rhiginis  Kompositionen  tragen  mehr  den 
deutschen  als  den  italienischen  Charakter.  Aufser  Opern,  Messen  etc. 
sind  von  ihm  noch  zahlreiche  Gesangskompositionen  vorhanden,  welche 
jedoch  dem  modernen  Zeitgeschmack  nicht  mehr  entsprechen. 

Nächst  Righini  wählte  der  Italiener  Giovacchino  Albertini  den 
Don  Juan-Stoff  zu  einer  Oper.  Sein  „II  Convitato  di  Pietra"  wurde 
im  Jahr  1784  in  Venedig  aufgeführt.  Giovacchino  Albertini,  geboren 
1751,  gestorben  181 1,  war  seiner  Zeit  ein  beliebter  Opernkomponist, 
wurde  königlich  polnischer  Kapellmeister  tind  lebte  seit  1804  in  Warschau, 
wo  sein  Gastmahl  Don  Pedros  ebenfalls  zur  Aufführung  kam. 

Im  Jahr  1787  erschien  nun  dasjenige  Werk,  welches  der  Sage  die 
Unsterblichkeit  sichern  sollte,  Mozarts  Oper;  Don  Juan. 


*)  Cramer,  Mag.  f.  Musik.  I,  474. 

Dresden. 


-.•»- 


Die  ästhetische  Naturbeseelung 
in  antiker  und  moderner  Poesie. 


Von 
Alfred  Biese. 


m. 

Die  ästhetische  Naturbeseelung  gewinnt  bei  Shakespeare  einen  Grad 
der  Verinnerlichung  und  Vertiefung,  wie  es  von  keinem  Dichter  zuvor 
erreicht  wurde  resp.  erreicht  werden  konnte.  Wir  sahen,  wie  im  Laufe 
der  Litteraturentwicklung  bei  den  Griechen  die  Beseelungen  allmählich 
immer  individueller  wurden,  wie  auch  hierin  eine  fortschreitende  Be- 
wegung zum  Modernen  hin  sich  uns  zeigte,  wie  dann  erst  die  Renaissance 
die  Fäden  des  Hellenismus  weiter  spann  —  Shakespeare  thut  einen  weiten 
Schritt  noch  über  jene  hinaus.  Treffend  stellt  Hense  in  seinem  Buche 
Poetische  Personifikation  in  griechischen  Dichtungen*)  Aschylos  und 
Shakespeare  einander  gegenüber,  indem  er  die  Beseelungen  des  ersteren 
als  wesentlich  plastisch,  die  des  letzteren  als  individuell  charakterisiert: 
„Es  ist  plastische  Personifikation,  wenn  Aschylos  die  Höhen  die  Nachbarn 
der  Sterne  nennt  (Prom.  746),  individueller  empfunden,  wenn  Shakespeare 
von  Hügeln  spricht,  die  den  Himmel  küssen  (Hamlet  III,  4,  Del.  p.  loi); 
es  ist  plastisch,  wenn  Aschylos  sagt,  dafs  Feuer  und  Meer,  sonst  Feinde, 
sich  verschworen  und  sich  Treue  bewiesen,  indem  sie  das  unglückliche 
Heer  der  Argiver  vernichteten  (Agam.  632);  es  ist  individuell,  wenn 
Shakespeare  Meer  und  Wind  alte  Zänker  (Raufbolde)  nennt,  die  augen- 
blicklich einen  Waffenstillstand  machen  (Troil.  II,  2,  Del.  p.  45).  Wenn 
derselbe  Dichter  den  Wind  einen  Buhler,  die  Luft  einen  ungebundenen 
Wüstling,  das  Gelächter  einen  Gecken,  den  Eigennutz  einen  Herrn  mit 
glattem    Angesicht    nennt,    wenn    er    von    der  Zeit  sagt,    sie  trägt  einen 


*)  Halle  1868,  S.  XXXII;  vgl.  auch  Hense,  Shakespeare,  Untersuchungen  und  Studien, 
Halle  1884,  Kap.  IV.,  Shakespeare's  Naturanschauung. 


40B  Alfred  Biese. 


Ranzen  auf  dem  Rücken,  worin  sie  Brocken  wirft  für  das  Verg^essen; 
wenn  er  die  Zeit  mit  modern  individueller  Anschauung  den  alten  Glöckner, 
den  kahlen  Küster  nennt,  so  sind  das  Personifikationen,  welche  sich  bei 
den  Alten  nicht  finden  und  nicht  finden  können."^ 

Je  reicher  das  Gemütsleben  des  Einzelnen  wird,  je  individueller  er 
alles  empfindet,  desto  intensiver  wird  auch  die  Übertragung  des  Geistigen 
auf  die  Natur,  d.  h.  die  Beseelung  der  Naturerscheinungen.  Shakespeare's 
Phantasie  schwelgt  in  der  Fülle  von  Bildern,  blitzartig  thun  sich  immer 
neue  Bezüge  zwischen  Aufsen-  und  Innenwelt  in  seinen  Vergleichen  auf, 
immer  neue  hochprägnante  Metaphern  entströmen  dem  unerschöpflichen 
Born  seiner  Einbildungskraft.  —  Die  Liebe  wird  auch  bei  ihm  zur 
Wünschelrute,  welche  die  verborgensten  Tiefen  der  Verwandtschaft  des 
Seelen-  und  Naturlebens  erschliefst.  Wohl  klagt  schon  Ibykos*),  dafs  es 
draufsen  lachender  Frühling  sei,  in  seinem  Herzen  aber  Eros  wie 
thrakischer  Wintersturm  wüte,  so  dafs  die  herrliche  Frühlingsnatur  mit 
seiner  Seele  kontrastiere;  wohl  weicht  bei  Theokritos **)  beim  Scheiden 
der  schönen  Hirtin  auch  die  Fruchtbarkeit  des  Feldes  und  der  Heerde 
und  zieht  die  liebliche  Nais  die  gesamte  Naturumgebung  in  ihren  Zauber- 
bann; wohl  meint  Akontios  bei  Kallimachos,***)  wenn  die  Bäume  Liebes- 
leid und  -lust  kennten,  würden  sie  ihr  Laub  verlieren  müssen.  Wohl 
sind  alle  solche  Ideen,  die  also  schon  im  Altertum  ausgesprochen  sich 
finden,  durchaus  modern,  wem  entginge  aber  der  tiefe  Unterschied  in 
der  Verquickung  aller  dieser  Gedankenreihen,  wie  sie  sich  findet  in  dem 
einen  Sonett  Shakespeare's  (no.  33): 

Wie  ward  zum  schaurig  öden  Winter  mir 

Die  Trennungszeit  von  dir,  mein  Glück  und  Leben! 
Welch'  dunkle  Tage  liegen  hinter  mir, 
Welch*  ein  Dezemberfrost  hat  mich  umgeben! 

Und  war*s  doch  Sommer,  als  ich  scheiden  mufst! 
Dann  kam  der  Herbst  .  .  . 

Doch  Glück  und  Sommer  wandeln  stets  mit  dir, 
Und  wo  du  fehlst,  schweigt  selbst  der  Vögel  Sang 

Und  sängen  sie,  war*  es  so  bang  zu  hören, 
Dafs  Bäume,  winterscheu,  ihr  Grün  verlören. 

Ahnlich  ist  no.  34: 

„Ich  war  getrennt  von  dir  im  Frühling  auch, 
Als  der  April  im  farbenbunten  Drang 
Die  Welt  belebt  mit  frischem  Jugendhauch, 
Dafs  selbst  Satumus  mit  ihm  lachf  und  sprang. 

♦)  Biese,  Entw.  d.  N.  bei  den  Gr.,  S.  30 
♦*)  Ebenda,  S.  72. 
•♦*)  Ebenda,  S.  68. 


Die  ästhetische  Naturbeseeluog  in  antiker  und  moderner  Poesie.  III.  409 


Doch  nicht  der  Vögel  Sang  in  Wald  und  GrQnden 
Noch  aller  Blumen  Duft  und  Farbenspiel 
Verlockte  mich,  des  Sommers  Lob  zu  künden.  . 
Und  immer  schien  mir's  Winter  ohne  dich, 
Nur  wie  dein  Schattenspiel  ergötzt  er  mich. 

Wie  bei  Theokritos*)  die  Cypressen  die  einzigen  Zeugen  des  Liebes- 
bundes sind  und  bei  unserm  Walther  das  verschwiegene  Vöglein,  die 
Nachtigall,  so  sagt  Venus  in  Shakespeare*s  „Venus  und  Adonis"  Str.  21: 
„Die  blauen  Veilchen  hier,  darauf  wir  ruhn,  Sie  plaudern  nicht,  verstehen 
nicht,  was  wir  thun."  —  Vergleiche  schöner  Frauenlippen  mit  Rosen, 
ihrer  Hände  mit  Lilien  finden  sich  auch  schon  bei  den  alten  Dichtern, 
aber  wie  viel  moderner  ist  die  beseelende  Wendung,  Son.  35: 

So  schalt  ich  früher  Veilchen  Obermut: 
Woher  nahmt  ihr  den  Duft,  der  mich  entzückt, 
Wenn  nicht  von  ihrem  Mund?  .  . 
Den  Lilien  hielt  ich  deine  Hände  vor, 
Dem  Majoran,  dafs  er  dein  Haar  dir  nahm; 
Furchtsam  auf  Domen  stand  der  Rosen  Chor, 
Hier  vor  Verzweiflung  weife,  dort  rot  vor  Scham  .  . 
Mehr  Blumen  sah  ich  noch,  doch  in  der  Zahl 
Nicht  eine,  die  nicht  Färb*  und  Duft  dir  stahl. 

Aber  wie  grandios  weifs  er  auch  in  den  Sonetten  zu  schildern!  So 
beginnt  Son.  48  mit  der  herrlichsten  Personifikation  des  Morgens: 

Wohl  manchen  Morgen  sah  ich  stolz  wie  diesen 
Mit  Herrscherblick  der  Berge  Häupter  grüfsen, 
Mit  goldnem  Antlitz  küfet  er  grüne  Wiesen, 
Vergoldet  bleiche  Ström*  ihm  tief  zu  Füfsen. 
Doch  dann  durch  niedre  Wolken  ganz  entstellt. 
Umschwärzt  er  seine  himmel klare  Wange, 
Entzieht  sein  Auge  der  verlornen  Welt 
Und  eilt  in  Schmach  verhüllt  zum  Untergange. 

Dies  prächtige  Naturbild   wird  zum  Gegenbild  seiner  eigenen  Lage: 

So  sah  ich  einst  auch  meiner  Sonne  Schein 
Glorreich  am  Morgen  meine  Stirn  beleuchten. 
Doch  achl  nur  eine  Stunde  war  er  mein. 
Dann  kamen  Wolken,  die  den  Glanz  verscheuchten. 
Doch:  kann  des  Himmels  Sonne  trübe  werden. 
Darf  meine  nicht  ein  Gleiches  thun  auf  Erden? 


*)  Biese,  Entw.  d.  Naturgefuhts  bei  den  Griechen,  S.  74. 


410  Alfred  Biese. 


In  dunklem  Wolkengewand  zeigt  uns  die  Nacht  Str.  89  in  Venus 
und  Adonis: 

Die  Sonne  hat  vollendet  ihre  Bahn 

Und  ruht  im  Westen  von  des  Tages  Bürde. 
Der  Uhu  meldet  schon  des  Abends  Nah'n, 

Der  Vogel  sucht  das  Nest,  das  Lamm  die  Hürde; 
Schon  kommt  die  Nacht,  in  Wolken  schwarz  gekleidet, 
Und  ruft  uns  zu:  nun  ist  es  Zeit,  nun  scheidet. 

In  Romeo  und  Julia  begegnen  uns  die  schönen  Zeilen,  II  3:  Der 
Morgen  lächelt  froh  der  Nacht  ins  Ansgesicht  Und  säumet  das  Gewölk 
im  Ost  mit  Streifen  Licht.  Die  matte  Finsternis  flieht  wankend  wie 
betrunken,  Vor  Titans  Pfad  besprüht  von  seiner  Rosse  Funken.  Eh*  höher 
nun  die  Sonn'  ihr  glühend  Aug'  erhebt,  Den  Tau  der  Nacht  verzehrt 
und  neu  die  Welt  belebt,  Mufs  ich  .  .  u.  s.  f.,  und  in  Verlorene  Liebes- 
müh, IV,  I :  So  lieblich  küfst  die  goldne  Sonne  nicht  die  Morgenperlen, 
die  an  Rosen  hangen.  Als  Deiner  Augen  frisches  Strahlenlicht  Die  Nacht 
des  Taus  vertilgt  auf  meinen  Wangen.  —  Es  würde  uns  zu  weit  fuhren, 
die  Beseelungen  der  einzelnen  Naturerscheinungen  eingehend  zu  verfolgen, 
obwohl  es  eine  lohnende  Aufgabe  wäre;  ungemein  häufig  sind  Wendungen 
wie  das  wütende  rasende  Meer  (z.  B.  Heinr.  VI,  2,  III,  i),  die  stolz  empor- 
steigende oder  müde  sich  zur  Ruhe  neigende  Sonne  (Rieh.  III,  V,  3)  oder 
die  aus  goldenem  Fenster  schauende  Sonne  (Romeo  und  Julia,  I,  i)  oder 
die  den  Tag  mit  ihren  Morgenstrahlen  grüfsende  (Titus  Andron.,  II,  i) 
oder  der  gleich  einem  Silberbogen  am  Himmel  aufgespannte,  die  stille 
Nacht  beschauende  Mond  (Sommernachtstraum,  I,  i)  oder  der  vor  Zorn 
bleiche  (ebenda,  II,  i)  —  Titania  sagt  III,  i:  Mich  dünkt,  von  Tränen 
blinke  Lunas  Glanz  .  .  Und  wenn  sie  weint,  weint  jede  kleine  Blume  — 
oder  der  Bach,  der  durch  die  Nebel  und  Niederfalle  stolz  gemacht  die 
Dämme  niederreifst  (ebenda,  II,  i)  oder  der  sonst  mit  sanftem  Murmeln 
schleicht  und  nun  ungeduldig  tobt,  sobald  er  eingedämmt  (beide  Veroneser, 
II,  7);  oder  der  zärtliche  Liebe  zur  Ulme  empfindende  Epheu  —  wie 
IV,  I  Titania  bekennt:  Dich  soll  mein  Arm  umwinden  .  .  So  lind  um- 
flicht mit  süfsen  Blütenranken  das  Geisblatt,  so  umringelt  weiblich  zart 
der  F3pheu  seines  Ulmbaums  rauhe  Finger;  —  den  Blumen  werden  leuchtende 
lachende  Augen  vindiziert,  der  Tau  wird  als  Tränen  gedeutet  (ebenda: 
der  Tau  stand  in  der  zarten  Blümchen  Augen  wie  Tränen) ;  der  Himmel 
weint;  der  Sturmwind  rast  mit  schwellendem  Gesicht;  die  Anemonen 
fesseln  des  Märzes  Wind  mit  ihrer  Schönheit;  die  Primeln  sind  bleich, 
die  sterben  unvermählt,  eh*  sie  geschaut  des  goldnen  Phöbus  mächtigen 


Die  ästhetische  Naturbeseelun^  in  antiker  und  moderner  Poesie.  HI.  411 


Strahl.  Wellen  und  Wind  nennt  Goethe  Liebesgesellen  (Wind  ist  der 
Welle  lieblicher  Buhler),  Shakespeare  läfst  den  Wind  als  Raufer  dem 
sanften  Meer  entgegentreten,  wie  schon  oben  erwähnt,  Troil.  und  Cress., 
I,  3:  Auf  stiller  See,  wie  fahrt  so  mancher  gaukelnd  winzige  Kahn  Auf 
ihrer  ruhigen  Brust  und  gleitet  hin  Mit  Segeln  mächtigen  Baus?  Doch 
lafs  den  Raufer  Boreas  erzürnen  die  sanfte  Thetis  —  rasch  durchschneidet 
dann  Das  starkgerippte  Schiff  die  Wellenberge,  Springt  zwischen  beiden 
feuchten  Elementen  Gleich  Perseus'  Rofs.  Ebenda  heifst  es  auch:  Welch 
Stürmen  auf  der  See!  Wie  bebt  die  Erde!  Wie  rast  der  Wind! . .  Empört 
dem  Ufer  Erschwollen  die  Gewässer  übers  Land  u.  s.  f  —  Halb  mythisch 
ist  die  Flufsbeseelung  in  Heinrich  IV,  I,  i,  3:  .  .  An  des  schönen  Severn 
bins*gem  Ufer  Im  einzelnen  Gefechte  handgemein  Er  (Mortimer)  eine 
volle  Stunde  fast  verlor.  Dem  mächt'gen  Glendower  Stand  zu  halten; 
Dreimal  verschnauften  sie  und  tranken  dreimal  Nach  Übereinkunft  aus 
des  Severn  Flut,  Der,  bang  vor  ihren  blutbegier'gen  Blicken,  Sein  bebend 
Schilf  entlang  erschrocken  lief  Und  barg  sein  krauses  Haupt  im  hohlen 
Ufer,  Befleckt  mit  dieser  tapfern  Streiter  Blut  (Who  then  affrighted  with 
their  bloody  looks.  Ran  fearfully  among  the  trembling  reeds  And  hid 
his  crisp  head  in  the  hoUow  bank,  Blood-stained  with  these  valiant  com- 
batants).  In  Antonius  und  Cleopatra  II,  2  staunt  selbst  der  Wind  und 
die  Flut  über  die  Pracht  der  königlichen  Barke:  Die  Bark',  in  der  sie 
safs,  ein  Feuertron,  Brannt*  auf  dem  Strom:  getriebnes  Gold  der  Spiegel, 
Die  Purpursegel  duftend,  dafs  der  Wind  Entzückt  nachzog;  die  Ruder 
waren  Silber,  Die  nach  der  Flöten  Ton  Takt  hielten,  dafs  das  Wasser, 
wie  sie's  trafen,  schneller  strömte,  Verliebt  in  ihren  Schlag  (Purple  the 
sails  and  so  perfumed,  that  The  winds  were  lovesick  with  them:  the  oars 
were  silver,  Which  to  the  tune  of  flutes  kept  stroke,  and  made  The  water, 
which  thy  beat,  to  foUow  fast  er,  As  amorous  of  their  strokes)  und  Marc 
Anton,  hochtronend  auf  dem  Marktplatz,  safs  allein  Und  pfiff  der  Luft, 
die,  war'  ein  Leeres  möglich,  Sich  auch  verlor,  Kleopatra  zu  schaun, 
Und  einen  Rifs  in  der  Natur  zurückliefs  (Whistling  to  the  air,  which, 
but  for  vacancy,  Had  gone  to  gaze  on  Cleopatra  too.  And  made  a  gap 
in  nature).  — 

Solche  Beseelungen  der  einzelnen  Naturerscheiungen  liefsen  sich 
leicht  noch  einzeln  häufen;  gehen  wir  nun  noch  einige  Haupf-Dramen 
durch,  in  denen  mehr  als  in  anderen  die  Natur  in  feinster  Weise  der 
Handlung  den  rechten  Hintergrund,  das  lichte  oder  düstere  Kolorit  giebt 
und  als  mithandelnd  in  dieselbe  hineingezogen  wird,  so  dafs  die  grofs- 
artigsten  Beseelungen  sich  wie  von  selbst  ergeben. 


412  Alfred  Biese. 


Am  Anfang  des  dritten  Aktes  im  Lear  fragt  Kern :  Was  ist  da  aufser 
schlechtem  Wetter?  Ritter:  Ein  Mann,  gleich  diesem  Wetter,  höchst 
bewegt.  —  Wo  ist  der  König?  —  Im  Kampf  mit  dem  erzürnten  Element. 
Er  heifst  dem  Sturm  die  Erde  weh'n  ins  Meer,  Oder  die  krause  Flut  das 
Land  ertränken,  Dafs  alles  wandle  oder  untergeh\  Rauft  aus  sein  weifses 
Haar,  das.  wüt'ge  Windsbraut  Mit  blindem  Grimm  erfafst  und  macht  zu 
nichts.  Er  will  in  seiner  kleinen  Menschenwelt  Des  Sturms  und  Regens 
Wettkampf  übertrotzen!  — 

Auf  der  öden,  schaurigen  Haide,  im  nächtigen  Sturm  findet  der 
arme  Greis  im  Kampf  der  Elemente  den  Widerhall  seiner  inneren 
Erregung;  die  Undankbarkeit  seiner  Töchter,  ihre  grausame  Unnatur 
bildet  eine  ähnliche  Wandlung  in  der  sittlichen  Welt  wie  der  chaotische 
Aufruhr  in  der  natürlichen  Welt.     Da  bricht  er  in  die  Worte  aus  (III,  2): 

Blast,  Wind*  und  sprengt  die  Backen! 

Wütet  I  Blast  I  Ihr  Katarakt*  und  Wolkenbrüche,  speit, 

Bis  ihr  die  Turm*  ertränkt,  die  Hahn*  ertränkt! 

Ihr  schweflichten,  gedankenschnellen  Blitze, 

Vortrab  dem  Donnerkeil,  der  Eichen  spaltet, 

Versengt  mein  weifses  Haupt!  Du  Donner  schmetternd, 

Schlag*  flach  das  mächt*ge  Rund  der  Welt,  zerbrich 

Die  Formen  dör  Natur,  vernicht*  auf  eins 

Den  Schöpfungskeim  des  undankbaren  Menschen. 

Blow,  winds,  and  crack  your  cheeks!  rage!  blow!  You  cataracts  and 
hurricanoes,  spout  Till  you  have  drench*d  our  steeples,  drown'd  the 
cocks!  You  sulphurous  and  thougt-executing  fires,  Vaunt-couriers  of  oak- 
cleaving  thunderbolts,  Singe  my  white  head!  Andthou,  all-shaking  thunder, 
Smite  flat  the  thick  rotundity  o*  the  world!  Crack  nature's  moulds,  all 
germens  spill  at  once,  That  make  ing^ateful  man! 

.  .  Rassle  nach  Herzens  Lust!  Spei  Feuer,  flute  Regen; 

Nicht  Regen,  Wind,  Blitz,  Donner  sind  meine  Töchter: 

Euch  schelt*  ich  grausam  nicht,  ihr  Elemente: 

Euch  gab  ich  Kronen  nicht,  nannt*  euch  nicht  Kinder, 

Euch  bindet  kein  Gehorsam;  darum  büfst 

Die  grause  Lust:  Hier  steh*  ich,  euer  Sklav, 

Ein  alter  Mann,  arm,  elend,  siech,  verachtet; 

Und  dennoch  knecht*sche  Helfer  nenn*  ich  euch. 

Die  ihr  im  Bund  mit  zwei  verruchten  Töchtern, 

Türmt  eure  hohen  Schlachtreih*n  auf  ein  Haupt, 

So  alt  und  weiüs  als  dies.     O,  o  *s  ist  schändlich!  — 

Wie  wunderbar  weifs  hier  der  Dichter  leblose  und  belebte  Natur, 
die  vernünftige  Welt  der  Sittlichkeit  und  die  unvernünftige  der  Elemente 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  moderner  Poesie,  m.  413 

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in  einander  zu  weben  und  zu  verflechten,  das  Tote  zu  beleben  und  den 
lebenden,  empfindenden  und  leidenden  Menschen  eine  Kraft  der  Empfindung 
und  der  Leidenschaft  zu  geben,  die  nicht  minder  elementar  ist,  wie  der 
grollende  Donner  und  der  rasende  Sturm! 

Auch  im  Othello  ist  die  Natur  in  einem  furchtbaren  Aufruhr,  II,  i: 

Stellt  euch  nur  an  den  beschäumten  Strand, 

Die  zorn*ge  Woge  sprüht  bis  an  die  Wolken  — 

Nie  sah  ich  so  verderblichen  Tumult  des  zom*gen  Meeres. 

Aber  selbst  die  unbändigen  Elemente  nehmen  schonende  Rücksicht 
auf  Desdemona.  — 

Die  Stürme  selbst,  die  Strömung,  wilde  Wetter, 

Gezackte  Klippen,  aufgehäufter  Sand 

—  Unschuldgen  Kiel  zu  fährden,  leicht  verhüllt,  — 

Als  hätten  sie  für  Schönheit  Sinn,  vergafsen 

Ihr  tötlich  Amt  und  liefsen  ungekränkt 

Die  holde  Desdemona  durch. 

Kurz  vorher  hat  Cassio  noch  „den  grofsen  Kampf  des  Himmels  und 
des  Meeres"  erwähnt,  doch  wie  Othello  mit  Desdemona  zusammentrifft, 
da  bricht  er  in  den  Jubelruf  aus:  O  mein  Entzücken!  Wenn  jedem  Sturm 
so  heitre  Stille  folgt.  Dann  blast,  Orkane,  bis  den  Tod  ihr  weckt!  Dann 
klimme,  Schiff,  die  Wogenberg'  hinan.  Hoch  wie  Olymp  und  tauch* 
hinunter  tief  Zum  Grund  der  Hölle!  Galt  es  jetzt  zu  sterben,  jetzt  war's 
mir  höchste  Wonne! 

Zu  Zeugen  seiner  Treue  ruft  Jago  die  Elemente  an,  III,  3:  Bezeugt's 
ihr  ewig  glühenden  Lichter  dort!  Ihr  Elemente,  die  ihr  uns  umschliefst. 
Bezeugt,  dafs  Jago  hier  sich  weiht  mit  allem,  was  sein  Verstand,  was 
Herz  und  Hand  vermag!  — 

Doch  kurz  ist  das  Glück  Othellos,  der  Teufel  der  Eifersucht  packt 
ihn;  selbst  der  Natur  soll  ekeln  vor  solchem  Treubruch  der  Vielgelieb- 
ten —  wie  er,  IV,  2  ausruft:  Dem  Himmel  ekelts  und  der  Mond  verbirgt 
sich:  der  Buhler  Wind,  der  küfst,  was  ihm 'begegnet.  Versteckt  sich  in 
den  Höhlungen  der  Erde  Und  will  nichts  davon  hören.  Was  begeh'n? 
Schamlose  Metze!  Heaven  stops  the  nose  at  it  and  the  moon  winks: 
The  bawdy  wind  that  kisses  all  it  meets  Is  hush'd  within  the  hollow 
mine  of  earth.  And  will  not  hear  it.  What  committedl  und  in  seiner 
schrecklichen  Seelen  Verwirrung  stöhnt  er:  V,  2:  O  unerträglich! 
O  furchtbare  Stunde!  Nun,  dächt  ich,  müfst'  ein  grofs  Verfinstern  sein 
An  Sonn  und  Mond,  und  die  erschreckte  Erde  Sich  aufthun  vor  Entsetzen. 

ZtKhr.  f.  Tgl.  Litl.-Gcach.  I.  ^ 


414  Alfred  Biese. 


Desdemona  singt,  IV,  3:  Das  Mägdlein  safs  vsingend  am  Feigenbaum 
früh,  Singt  Weide,  g^ne  Weide  .  .  .  Das  Bächlein,  es  murmelt  und 
stimmt  mit  ein.  Singt  Weide,  grüne  Weide.  —  In  einem  andern  eingelegten 
Liede  (Cymbeline  II  3)  findet  sich  eine  anmutige  Blumenbeseelung:  Horch! 
Lerch'  am  Himmelstor  singt  hell,  Und  Phöbus  steigt  herauf,  Sein  Rofs- 
gespann  trinkt  süfsen  Quell  Von  Blumenkelchen  auf,  Die  Ringelblum'  er- 
wacht  aus  Traum,  Thut  gülden  Auglein  auf.  Lacht  jede  Blut'  im  grünen 
Raum,  Drum,  holdes  Kind,  steh  auf!  — 

Im  Macbeth  begegnet  uns  wiederholt  der  Gedanke,  dafs  der  Natur 
mitgrauen  mufs  vor  dem  scheufslichen  Verbrechen  und  dafs  sie  selbst 
sich  verdüstert  und  unheilvolle  Zeichen  giebt.  So  ruft  Macbeth,  I,  4: 
Verbirg  dich,  Sternenlicht!  Schau  meine  schwarzen  tiefen  Wünsche 
nicht!  Sieh,  Auge,  nicht  die  Hand,  doch  lafs  geschehen,  Was,  wenn's 
geschah,  das  Auge  scheint  zu  sehen.  Und  Lady  Macbeth  sagt,  I,  5: 
Selbst  der  Rab'  ist  heiser,  der  Duncan's  schicksalsvollen  Eingang  krächzt 
Unter  mein  Dach.  Komm,  schwarze  Nacht,  Umwölk'  dich  mit  dem 
dicksten  Dampf  der  Hölle,  dafs  nicht  mein  scharfes  Messer  sieht  die 
Wunde,  Die  es  geschlagen;  noch  der  Himmel,  durchschauend  aus  des 
Dunkels  Vorhang  rufe:  Halt!  Halt!  —  Und  wiederum  Macbeth  11,  i: 
Jetzt  auf  der  halben  Erde  scheint  tot  Natur  —  Du  festgefügte  Erde, 
leicht  verwundbar.  Hör'  meine  Schritte  nicht,  wo  sie  auch  wandeln,  Dafs 
nicht  ausschwatzen  selber  deine  Steine  Mein  Wohinaus.  —  Die  grauen- 
volle Nacht  schildert  Lenox,  II,  2:  Die  Nacht  war  sturmisch;  wo  wir 
schliefen,  heult'  es  den  Schlot  herab;  und  wie  man  sagt,  erscholl  Ein 
Wimmern  in  der  Luft,  ein  Todesstöhnen,  Ein  Prophezei'n  in  fürchterlichem 
Laut,  Von  wildem  Brand  und  gräfslichen  Geschichten,  Neu  ausgebrütet 
einer  Zeit  des  Leidens;  Der  dunkle  Vogel  schrie  die  ganze  Nacht  hin- 
durch: Man  sagt,  die  Erde  bebte  fieberkrank  —  die  earth  was  feverous, 
vgl.  Coriolan,  I,  4,  thou  mad'st  thine  enemies  shake  as  if  the  world  were 
feverous  and  did  tremble  —  H,  3  sagt  ein  Alter:  Auf  70  Jahre  kann 
ich  mich  gut  erinnern.  In  diesem  Zeitraum  sah  ich  Schreckenstage  Und 
wunderbare  Ding',  doch  diese  böse  Nacht  Macht  alles  Vor'gc  klein.  — 
Rosse:  O  guter  Vater,  der  Himmel,  sieh,  als  zürn'  er  Menschentfaaten, 
Dräut  dieser  blut'gen  Bühn'.  Die  Uhr  zeigt  Tag,  Doch  dunkle  Nacht 
erstickt  die  Wanderlampe:  Ist's  Sieg  der  Nacht,  ist  es  die  Scham  des 
Tages,  Dafs  Finsternis  der  Erd'  Antlitz  begräbt,  Wenn  lebend  Licht  6s 
küssen  sollte?  — 

So  kommt  also  überall  das  sympathetische  Naturgefuhl,  welches  der 
Natur   Mitgefühl     leiht,     in     ihr     ein     menschengleiches   Schaudern  vor 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  moderner  Poesie.  III.  415 


dem  Bösen,  ein  Entsetzen  vor  dem  Verbrechen  ahnt,  zum  erschütternden 
Ausdruck  —  am  erschütterndsten  wohl  in  den  Worten  des  mörderischen 
Macbeth,  HI,  3: 

Komm* 
Mit  deiner  dunklen  Binde,  Nacht,  verschlicfse 
Des  mitleidvollen  Tages  zartes  Auge; 
Durchstreich  mit  unsichtbarer  blutiger  Hand 
Und  reifs  in  Stücke  jenen  grolsen  Schuldbrief, 
Der  meine  Wangen  bleicht  I 

Come,  seeling  night,  Scarf  up  the  tender  eye  of  pitiful  day;  And  with 
thy  bloody  and  invisible  hand  Cancel  and  tear  to  pieces  that  great 
bond  Which  keeps  me  pale!   — 

Auch  im  Hamlet  flöfst  die  Unthat  der  Menschen  Entsetzen  der  Natur 
ein,  in,  4:  Solch  eine  That  (der  König^in)  Die  alte  Huld  der  Sittsamkeit 
entstellt,  Des  Himmels  Antlitz  glüht  (vor  Zorn  oder  Scham),  ja  diese 
Feste,  Dies  Weltgebäu,  mit  trauerndem  Gesicht,  Als  nahte  sich  der 
jüngste  Tag,  gedenkt  trübsinnig  dieser  That  —  Heavens  face  doth  glow, 
Yea,  this  solidity  and  Compound  mass,  With  tristful  visage,  as  against 
the  doom,  Is  thoughtsick  at  the  act.  — 

Doch  auch  andere  Beseelungen  begegnen  in  dieser  wunderbarsten 
aller  Tragödien  —  wie  die  grofsartige  des  Morgens  (vgl.  o.),  I,  i :  Doch 
sieh,  der  Morgen,  angethan  mit  Purpur,  Betritt  den  Tau  des  hohen 
Hügels  dort:  But  look,  the  mom,  in  russet  mantle  clad,  Walks  o*er  the 
dew  of  yon  high  eastward  hill.  Die  Stille  vor  dem  Sturm  malt  der  dekla- 
mirende  Schauspieler,  II,  2 :  Doch  wie  wir  oftmals  seh'n  vor  einem  Sturm 
Ein  Schweigen  in  den  Himmeln,  still  die  Wolken,  die  Winde  sprachlos 
und  der  Erdball  drunten  Dumpf  wie  der  Tod  —  A  silence  in  the  heavens, 
the  rack  stand  still,  The  bold  winds  speechless  and  the  orb  below  As 
hush  as  death.  — 

Ophelia  sinkt  IV,  7,  von  Blumen  umwunden,  ins  weinende  Gewässer, 
und  Laertes  sagt,  V,  i :  Legt  sie  in  den  Grund,  und  ihrer  schönen  un- 
befleckten Hülle  Entspriefsen  Veilchen  1  — 

Es  leuchtet  demnach  ein,  wie  die  Phantasie  des  g^ofsen  Dichters  die 
ganze  Natur  in  ihren  einzelnen  Erscheinungen  belebt  und  beseelt,  wie  er 
der  Grundstimmung  der  Tragödie  nicht  nur  durch  die  landschaftliche 
Szenerie  den  rechten  Hintergrund  verleiht,  sondern  auch  die  Stimmung 
der  Handelnden  auf  die  Natur  überträgt,  so  dafs  sie  das  lichte  Glück 
widerstrahlt  oder  dafs  sie  selbst  Grauen  vor  dem  Verbrechen  empfindet. 
Und  allen  Sphären  des  Naturlebens  weifs  er  individualisierend  charak- 
teristische Merkmale  abzugewinnen  und  ihnen  das  Seelische  anzupassen, 

38* 


416  Alfred  Biese. 


oft  mit  jener  intuitiven  Dichterkraft,  welche  mit  der  mythologischen 
Phantasie  sich  so  nahe  berührt.  Und  nicht  sind  es  blofs  die  grofsartigen 
elementaren  Gewalten,  wie  Sturm  und  Unwetter,  Blitz  und  Donner  und 
Meeres  wüten,  sondern  ebenso  der  murmelnde  Bach,  die  friedlich 
träumende  Blume,  das  goldene  Sonnenlicht,  denen  er  Mitempfinden  und 
Mitgefühl  leiht.  Und  immer  und  überall  ist  die  Auffassung  individueller 
und  subjektiver  als  wie  sie  uns  in  unserer  bisherigen  Untersuchung  be. 
gegnet  ist,  — 

Es  bedarf  einer  langen  und  zumeist  öden  Wanderung,  ehe  wir  im 
Laufe  der  Entwicklung  der  Weltlitteratur  die  ästhetische  Naturbeseelung 
auf  der  Höhe  der  Shakespeareschen  wiederfinden.  In  der  deutschen 
Litteratur  des  sechzehnten  Jahrhunderts,  die  ihren  Stempel  durch  den 
Meistergesang  erhalten,  suchen  wir  vergebens  nach  empfindungswarmen 
Naturbeseelungen;  selbst  bei  dem  biedern  HansSachs  und  bei  einem  der 
ersten  Geister  seiner  Zeit,  bei  Fisch art  ist  die  Ausbeute  gering.  Eine 
Probe  mag  genügen.  In  seinem  „Glückhafft  Schiflf"  wird  die  Einfahrt  in 
den  Rhein,  der  sie  wie  in  altrömischen  Epen  ein  Flufsgott  empfangt, 
also  beschrieben: 

Da  freuten  sich  die  Reifsgeferten,  Als  sie  den  Rein  da  rauschen  hörten, 

Und  wünschten  auf  ein  neues  Glück,  Das  glücklich  sie  der  Rein  fortschick, 

Und  grüfsten  in  da  mit  Trommeten.     ,,Nun  han  wir  deiner  hilfT  vonnöten 

O  Rein  mit  deinem  hellen  Pluis,  dien*  du  uns  nun  zur  Fürdemufsl 

Lafs  uns  geniesen  deiner  Gunst,  Dieweil  du  doch  entspringst  bei  uns  .  .  . 

Schalt  dÜs  Wagschülin  nach  begehren,  Wir  wollen  dir  es  doch  verehren*'  ,  . 

Der  Rein  mocht  difs  kaum  hören  auls,  Da  wund  er  umb  daG>  schiff  sich  krauis, 

Macht  umb  die  Räder  ein  weit  Rad,  Und  schlug  mit  Freuden  anfs  Gestad, 

Und  liefs  ein  rauschend  Stimm  da  hören,  Drauis  man   möcht  diese  Wort  erklären: 

„Frisch  dran  ir  lieben  Eydgenossen I"  sprach  er,  „frisch  dran!  seit  unverdrossen! 

Gleichwie  euch  nun  dils  wetter  Übt,  Also  bin  ich  auch  unbetrübt: 

Ihr  sehet  ja  mein  Wasser  klar  Gleich  wie  ein  Spiegel  offenbar." 

Solch  stimm  der  Gesellschaft  letzam  war  Und  schwieg  drob  still  erstaunet  gar, 

Es  däucht  sie  das  sie  die  Stimm  flil  Als  wenn  ein  wind  biieis  in  ein  hül  .  . 

Der  Steuermann  stund  fest  an  dem  pflüg  Und  schnitt  solch  furchen  in  den  Rein, 

Dais  das  underst  zu  oberst  schein.     Die  Sonn  hat  auch  ir  Freud  damit, 

Das  so  dapffer  das  Schiff  fortschritt  .  .  das  gestad  schertzt  auch  mit  dem  Schiff: 

Wenn  das  Wasser  dem  land  zuliff,  Dann  gab  es  einen  Widerton 

Gleichwie  die  Räder  thäten  gon  .  .  Ja  der  Rein  warff  auch  auff  klein  wällen, 

Die  dantzten  umb  das  Schiff  zu  gsellen  (geleiten). 

In  der  empfindungsöden  Leere  der  Litteratur  des   17.  Jahrhunderts, 
bei  dem  trostlosen  Verfall  des  geistigen  Lebens  in  Deutschland  infolge 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  aotiker  und  moderner  Poesie.  IQ.  417 

des  unseligsten  aller  Kriege  ragt  einsam  auf  als  Träger  echten  Gefühls  — 
das  evangelische  Kirchenlied.  Während  in  beiden  schlesischen  Dichter- 
schulen das  Erkünstelte,  Gezierte,  Bombastische  vorherrscht,  wird  im 
Kirchenliede  der  volkstümliche  Ton  wahrer  Herzensempfindung  ange- 
schlagen. Es  will  mir  dünken,  als  ob  ganze  Haufen  von  Opitz*schen 
Reimereien  aufgewogen  vmrden  durch  die  schlichten  und  so  schönen 
Zeilen  Paul  Gerhards: 

Nun  ruhen  alle  Wälder,  Vieh,  Menschen,  Stadt'  und  Felder,  Es 
schläft  die  ganze  Welt  —  eine  Beseelung,  die  uns  an  das  Alkman'sche 
Fragment  idooai  dk  tpdpayytq  tu  r.  X.  gemahnt  —  dann  heifst  es  weiter: 
„der  Tag  ist  nun  vergangen,  die  güldnen  Sternlein  prangen  Am  blauen 
Himmelssaal"  —  wie  eine  Schar  zu  Gottes  Tron  Gerufener. 

In  solchen  wenigen  Worten  steckt  mehr  Poesie  als  in  Philipp  Zesens 
gesamter  „Frühlingslust  und  dichterischem  Rosen-  und  Lilienthal''  mit 
seinen  Daktylen:  Blitzet  ihr  Himmel,  Schwitzet  (!)  uns  Regen,  Machet 
Getümmel,  Lachet  mit  Segen  Unsere  Wälder  und  Felder  doch  an! 
Glimmet  ihr  Sterne,  Tauet  ihr  Lüfte,  Schimmert  von  ferne,  Schauet  durch 
Klüfte,  Schauet  auf  diesen  verdunkelten  Plan  etc. 

Lohenstein  überbietet  aber  alle  an  Schwulst,  die  Art  seiner  Natur- 
anschauung und  Naturbeseelung  ist  aus  folgenden  Versen  seiner  Venus 
ersichtlich: 

Ja  selbst  die  Zeit  wird  Braut,  die  Blumengöttin  schmücket 
Ihr  selbst  das  Brautgewand,  und  ihre  Kunsthand  sticket 
Der  Tellus  grünen  Rock  mit  frischem  Rosenschnee 
Und  weiisen  Lilien  aus.     Hier  wachset  fetter  Klee 
Auf  Hyblens  Marmelbrust,  dort  bücken  die  Narcissen 
Sich  zu  den  Tulpen  hin,  einander  recht  zu  küssen  (!). 
Hier  schmilzt  das  Thränensalz  vom  rauhen  Hyacinth, 
Wo  der  Krystallenbach  aus  hellen  Klippen  rinnt, 
Voll  Lust  sein  herbes  Leid  (I)  darinnen  zu  bespiegeln. 
Indessen  feuchtet  dort  mit  den  bethauten  Flügeln 
Der  zuckersüfse  West  die  Wiese,  die  fast  lechst  (!), 
Das  weiisbeperlte  Gras,  das  in  den  Thälem  wächst, 
Bekränzt  der  Sternenthau.     Die  Wälder  werden  düstern, 
Nun  sich  der  Wurzeln  Saft  den  Asten  will  verschwistem ; 
Das  bunte  Flügel volk,  das  stumme  Wasserheer, 
Ja  selbst  der  kluge  Mensch  und  was  Luft,  Erd*  und  Meer 
Beseeltes  (!)  in  sich  hat,  wird  gleichsam  jung  und  rege. 

Wir  lernten  herrliche  Zeilen  des  Aschylos  kennen,  in  denen  er  die 
Frühlingszeit    als    die    Zeit    der  Liebe    zwischen    dem    Himmel    und  der 


418  Alfred  Biese. 


keuschen  Erde  pries,*)  und  nicht  minder  echt  griechisch  und  poetisch 
ist  der  Gedanke,  dafs  der  das  All  belebende  Hauch  Liebe  ist,  dafs  nicht 
der  Streit,  sondern  die  Liebe  die  Mutter  aller  Dinge  ist  —  und  damit 
vergleiche  man  nun  obige  Zeilen  und  die  folgenden,  die  noch  nicht  seine 
schlechtesten  sind: 

Wem  pflanzt  der  Liebe  Geist  nicht  Lieb'  und  Flammen  ein? 

Man  sieht  das  Liebes-Ö1  in  Stemen-Ampeln  brennen. 

Die  angenehme  Glut  kann  nichts  als  Liebe  sein, 

Für  der  sich  mufs  der  Tau  von  Phöbus  Schleier  trennen. 

Der  Himmel  liebt  der  Erde  schönen  Ball 

Und  blickt  zu  Nacht  sie  mit  tausend  Augen  an. 

Sie  auch:  dafe  sie  dem  Himmel  wohlgefall, 

Flicht  in  ihr  grünes  Haar  Klee,  Lilgen,  Tulipan. 

Die  See  und  Flüsse  fuhrn  selbst  sfifse  Liebesflammen; 

Ja  Arethusens  Kwäll*  und  Alpheus  kreucht  zusammen  .  . 

Ja,  selbst  die  Pflanzenliebe,  die  bei  den  spätesten  griechischen  Roman- 
dichtern eine  solche  Rolle  spielte,  taucht  auch  hier  wieder  auf: 

Ist  ferner  dies  der  Liebe  Wirkung  nicht? 

Wennn  sich  der  Rebenstock  umb  Ulme  Bäume  schleust, 

Wenn  Eppich  sich  umb  Mandel-Bäume  flicht, 

Und  da  man  sie  zertheilt,  gar  Thränen  —  Saltz  vergeust  .  . 
Wo  nun  die  Liebes-Gluth  die  Blumen  kan  entzünden, 

Wird  man  an  Rosen  leicht  die  grösten  Flammen  finden  .  . 

Es  ist  wie  ein  Trunk  aus  erfrischendem  Quell,  wenn  man  neben 
dieser  „völlig  zur  Mumie  vertrockneten"  Kunstdichtung  doch  noch  eine 
Volkspoesie**)  findet,  deren  Strom  lauter  und  rein  wie  je  dahinfliefst,  »^un- 
beirrt durch  die  Mode  des  Tages,  immer  jung  und  verjüngend  aus  der 
Gesammtmasse  des  Volkes  hervorbrechend."  Man  ersieht  da  aus  wenigen 
stimmungsvollen  Versen,  wie  doch  die  alte  innige  urgermanische  Natur- 
liebe nicht  ganz  erstorben  ist,  wie  die  altbekannten  herzlichen  Töne  nicht 
ganz  verklungen  sind.  So  haben  wir  die  uralte  bukolische  Beseelung 
wieder,  wenn  es  von  der  ,Mutter  Gottes*  heifst:  „Maria,  die  ging  über 
d'  Haid,  Da  weinte  Gras  und  Blum  vor  Leid,  Sie  fand  nicht  ihren  Sohn." 
Und  der  ins  Kloster  gesandte  Jüngling  möchte,  dafs  nun  die  Natur  auch 
mit  ihm  klage:  „Euch  grüfs'  ich  aJl  Ihr  Berg'  und  Thal,  Wollt  mich  nit 


*)  Vergl.  das  Logau'sche  Epig^ramm  über  den  Mai:  Dieser  Monat  ist  ein  Kufs,  den 
der  Himmel  giebt  der  Erde,  Dafe  sie  jetzund  seine  Braut,  künftig  eine  Mutter  werde. 

**)  Vergl.  Freiherr  v.  Ditfurth,  Deutsche  Volks-  und  GesellschaftsHeder  des  17.  und 
18.  Jahrhunderts  1872. 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  moderner  Poesie,  m.  419 

weiter  treiben;  —  Laub  und  Gras  Und  alles  was  grünet  in  wilden  Waiden, 
O  Baum  verlier  Dein  grüne  Zier,  Klag,  Sterb'n,  wie  mir,  Gebühret  Dir." 

Der  Jäger,  der  zur  ,Frühjagd*  aufbricht,  singt:  „Wenn  ich  komm  nun 
in  den  Wald,  Da  ist  alles  stumm  und  stille,  Schlummrig  auch  noch  von 
Gestalt,  Nur  die  Lutt  ist  frisch  und  kühle.  .  .  Jetzt  die  höchste  Tannen- 
spitz Thut  Aurora  güldig  malen,  Drauf  das  Finklein  hat  sein*  Sitz  Und 
sein  Lobgesang  läfst  schallen  Als  ein  Dank  vor  diese  Nacht,  Davon  neu 
die  Welt  erwacht.  Leislich  kommt  der  Morgenwind,  Wieget  in  den 
oberst  Zweigen,  Dafs  sie  wie  die  frommen  Kind  Als  zum  Beten  sich 
verneigen.  Auch  ein  Thau  als  Opfer  dar.  Fällt  aus  ihrem  Haar.  O  was 
Schön's  ist  zu  erschauen.  Zu  vernehmen  in  dem  Wald,  Dafs  ein*  könnt 
das  Herz  zerthau*n  Vor  solch  Wundem  mannigfalte."  Wer  möchte  hier 
nicht  den  Fulsschlag  echter  innigster  Empfindung  vernehmen  —  klingt 
es  doch  wie  latente  Melodie:  ,Leislich  kommt  der  Morgenwind,  Wieget 
in  den  oberst  Zweigen"  —  so  dafs  man  den  jungen  Goethe,  der  auch 
an  Neubildungen  nicht  arm  ist,  schon  singen  zu  hören  glaubt,  und  ist 
doch  die  Beseelung  der  sich  wie  betende  Kinder  neigenden  Zweige  eine 
so  rührend  naive  \md  treffende  I 

Doch  auch  in  der  Kunstdichtung  läfst  sich  eine  Reaktion  gegen  die 
Unnatürlichkeit  der  Lohensteiner  erkennen.  Friedrich  von  Spee,  obwohl 
wesentlich  süfslich  pietistisch  in  seinen  Gedichten,  hat  doch  ein  offenes 
Auge  für  die  Gotteswelt  und  bietet  manche  stimmungsvolle  Zeile  wie 
z.  B. :  „Der  Winter  ist  furbei,  Die  Kranich  wiederkehren,  Nun  reget  sich 
der  Vogelschrei,  Die  Nester  sich  vermehren;  Laub  mit  gemach  Nun 
schleicht  an  Tag,  Die  Blümlein  sich  nun  melden;  Wie  Schlänglein  krumm 
Gehn  lächelnd  um  Die  Bächlein  kühl  im  Walde."  Personifikationen 
sind  nicht  selten.  Der  Mond  ist  ein  guter  Hirte,  der  seine  Schäflein,  die 
Sterne,  auf  die  blauen  Haiden  treibt  und  ihnen  auf  lindgestinuntem  Rohr 
etwas  vorbläst;  im  Frühling  schmückt  sich  die  reine  Sonne,  setzt  ihre 
Krone  auf,  gürtet  sich  mit  Rosen,  füllt  ihren  Köcher  mit  Pfeilen  und 
läfst  auf  marmorglatten  Meilen  ihre  Rosse  dahinsausen;  der  Wind  fliegt 
umher,  verschnauft  von  Zeit  zu  Zeit,  schüttelt  seine  Flügel  aus  und  zieht 
sich  in  sein  Haus  zurück,  wenn  er  sich  matt  geflogen:  der  Bach  Kedron 
sitzt,  auf  einen  Eimer  gelehnt,  in  einer  Kluft  und  strählt  seine  Binsenhaare, 
seine  Schultern  bedecken  Gras  und  Wasserblätter,  seinen  Wässerlein 
bläst  er  ein  Schlummerlied  oder  treibt  sie  vor  sich  her  u.  s.  f  Doch 
der  ächteste  Vorgänger  Goethes  als  Gefuhlslyriker,  der  da  dichtet,  weil 
ein  inneres  Mufs  ihn  treibt,  weil  er  loslösen  mufs  von  seiner  Brust,  was 
sie    drückt,    ist  der  geniale,    aber  unglückliche  —  denn  er  wufste  sich 


4^  Alfred  Biese. 


nicht  zu  zähmen  —  Christian  Günther.  Auch  für  unser  Thema  bietet 
er  Manches.  Als  er  die  Statte  wieder  betritt,  wo  er  mit  der  Geliebten 
gekost,  ruft  er,  (I,  4):*)  „Erinnert  euch  mit  mir,  ihr  Blumen,  Bäirni*  und 
Schatten,  Der  oft  mit  Flavien  gehaltnen  Abendlust!  Hier  war  es,  wo  ihr 
Haupt  mir  oft  die  Achsel  drückte;  Verschweiget  ihr  Linden  mehr,  als  ich 
nicht  sagen  darf"  —  wieder  denkt  man  an  Walthers  verschwiegenes  Vög- 
lein unter  der  Linden!  No.  28  beschwort  er  die  Winde:  „Erzahlt,  ihr  kalten 
Nordwinde,  die  Seufzer  meiner  Schäferin!  Verkündigt  dem  verlafsnen 
Kinde,  dafs  ich  der  alte  Redlich  bin!**  Auch  sonst  macht  er  wie  das  Volks- 
lied den  Wind  zum  Boten  seiner  Grüfse  an  die  Geliebte,  II,  28:  „Hier 
hör'  ich  bei  der  schlanken  Fichte  Den  sanften  Wind  nach  Schweidnitz 
ziehn  Und  gab  ihm  allzeit  brünstiglich  Viel  tausend  heifseKüfs'  an  dich!"  Und 
als  er  dort  ist,  singt  er  III,  2:  „Seid  tausendmal  gegrüfst  ihr  Felder, 
Strauch'  und  Bäume,  Ihr  kennt  wohl  diesen  noch,  von  dem  ihr  so  viel 
Reime,  So  manches  Lied  gehört,  so  manchen  Kufs  gesehen;  Besinnt  euch 
auf  die  Lust  der  heitern  Sommernächte!"  Und  als  es  ^wieder  Frühling  ist, 
mahnt  er  die  Verlassene  (6):  „Dort  soll  der  jungen  Vögel  Schrein  Die 
Botschaft  meiner  Sehnsucht  sein,  Und  scherzt  der  West  mit  Kleid  und 
Wangen,  So  wiss'  und  glaube  sicherlich:  Er  meldet  dir  mein  heifs  Ver- 
langen Und  küfst  dich  tausendmal  vor  mich."  Mit  Lear*schem  Pathos 
klagt  er,  wie  sein  Glück  zertrümmert,  seine  Hoffnungen  zerschlagen  sind: 
„Stürmt,  reifst  und  rast,  ihr  Unglückswinde,  Zeigt  eure  ganze  Tyrannei, 
Verdreht,  zerschlitzt  so  Zweig  als  Rinde  Und  brecht  den  HofFnungsbaum 
entzwei!  Dies  Hagelwetter  Triflft  Stamm  und  Blätter,  Die  Wurzel  bleibt, 
Bis  Sturm  und  Regen  Ihr  Wüten  legen,  Da  sie  von  neuem  grünt  und 
Äste  treibt." 

Teilnahme  und  Mitleid  sucht  und  findet  er  immer  wieder  in  der 
Natur,  IV,  5;  „Die  ihr  alles  hört  und  saget,  Luft  und  Forst  und  Meer 
durchjaget,  Echo,  Sonne,  Mond  und  Wind,  Sagt  mir  doch,  wo  steckt 
mein  Kind?"  21:  „Den  sanften  West  bewegt  mein  Klagen,  Es  rauscht 
die  Bach  Den  Seufzern  nach  Aus  Mitleid  meiner  Plagen!"  oder:  „Sieh 
die  Tropfen  an  den  Birken  Thun  dir  selbst  ihr  Mitleid  kund,  Weil  ver- 
liebte Thränen  wirken,  Weinen  sie  um  unsern  Bund."  —  Eine  bewufste 
Reaktion  gegen  die  Unnatur  der  schlesischen  Schulen  ging  auch  noch 
von  den  Dichtern  Wernicke,  Canitz  und  Brockes  aus.  Der  letztere  fand 
den  Hauptübelstand  in  der  Mangelhaftigkeit  der  poetischen  Stoffe  und 


*)  Gedichte  von  Joh.  Chr.  Günther,    herausgegeben    von   Julius  Tittmann    (Deutsche 
Dichter  des  17.  Jahrhunderts  von  Carl  Goedeke  und  Julius  Tittmann),  6.  Bd.,  Leipzig  1874. 


J 


Die  ästhetische  NaturbeseeluDj^  in  antiker  und  modemer  Poesie.  III.  421 

entdeckte  den  würdigsten  in  der  Natur,  weil  sie,  wie  er  selbst  bekennt, 
„Objekte  bietet,  woraus  die  Menschen  nebst  einer  erlaubten  Belustigung 
zugleich  erbaut  werden  könnten."  Doch  war  seine  Poesie  nicht  Original, 
seine  Muster  sind  die  „Jahreszeiten"  von  Thomson.  Dieser  ward  der 
Vater  jener  vielberüchtigften  Naturschilderung,  die  ein  Bild  an  das  andere 
reiht,  die  Natur  getreu  abzeichnet,  ohne  ihr  aber  immer  eine  stimmungs- 
volle Seele,  jenen  notwendigen  immanenten  Bezug  zum  Geistigen  zu  ver- 
leihen. Thomson  und  Brockes  haben  fast  keine  echte  signifikante  und 
individuelle  Beseelung  —  man  müfste  denn  dazu  seufzende  Winde,  leb- 
haftes, lachendes  Grün  u.  dergl.  und  Allegorieen  wie:  die  Nacht,  in  weitem 
losem  Gewände,  dahin  rechnen  —  meistens  überwiegt  die  monotone 
Abmalung  einer  Fülle  von  Einzelbildern,  und  die  Pausen  werden  durch 
moralisierende  Lehren  ausgefüllt.  Aber  dem  vielgeschmähten  Brockes 
mit  seiner  gereimten  Botanik  und  Physik  mufs  man  doch  ebenso  wie 
Thomson  das  Verdienst  lassen,  dafs  sie  die  Liebe  zur  Natur,  welche  sie 
ehrlich  empfanden,  auch  bei  anderen  geweckt  haben.  Es  beginnt  seit 
ihren  Versuchen  die  Natur,  das  Landschaftliche,  sowie  das  Elementare 
überhaupt  einen  weit  breiteren  Raum  in  der  Poesie  einzunehmen,  was 
allerdings  nicht  immer  Zeugnis  ablegt  von  einem  vertieften,  sondern  oft 
genug  von  einem  verflachten  Naturgefuhl.  War  im  Zeitalter  Ludwigs  XV. 
die  Unnatur  auf  die  Spitze  getrieben,  in  der  Zeit  der  Perücke  und  des 
Zopfes,  so  dafs  nur  das  Gekünstelte  und  Verschnörkelte  für  schön  galt 
und  selbst  die  Natur  in  ihren  Formen  vergewaltiget,  zugestutzt  und  ver- 
stümmelt wurde,  —  so  dafs  die  öden  Ebenen  am  meisten  gepriesen 
wurden,  weil  des  Gartenkünstlers  Hand  daselbst  den  meisten  freien  Spiel- 
raum für  seine  Launen  hatte  —  so  trat  nunmehr  in  England  und  bald 
auch  in  Deutschland  eine  Umwandlung  des  Geschmackes  ein;  man  wandte 
sich  der  Natur  wieder  zu,  suchte  natürlich  zu  sein,  verfiel  aber  zunächst 
in  das  Extrem  der  sentimentalsten  Rührseligkeit  und  Empfindsamkeit, 
um  erst  nach  schwerem  Ringen  sich  zu  einer  gesunderen  AufFassungsweise 
hindurch  zu  winden.  Doch  um  auch  der  sentimental  und  melancholisch 
gefärbten  Naturbeseelung  hier  zu  gedenken,  will  ich  nur  eine  Stelle  aus 
Young's  Klagen  oder  Nachtgedanken  über  Leben,  Tod  und  Unsterblich- 
keit (übersetzt  von  J.  A.  Ebert,  Bd.  I,  Braunschweig  1760)  ausschreiben: 
I.  Nacht  (S.  sf):  „Ich  erwache,  wie  ich  pflege  von  einem  kurzen  und 
unruhigen  Schlummer".  .  .  Die  Göttin  Nacht  streckt  jetzt  von  ihrem 
schwarzen  Throne  in  'strahlenloser  Majestät  ihren  bleiernen  Zepter  über 
eine  schlummernde  Welt  aus.  Welch  eine  tote  Stille!  Welch  eine  tiefe 
Finsternis!    Weder    das  Auge    noch  das   Ohr   findet  einen  Gegenstand. 


4S2  Alfred  Biese. 


Die  Schöpfung  schläft.  Es  ist,  als  wenn  der  allgemeine  Puls  des  Lebens 
still  stände  und  die  Natur  eine  Pause  machte,  eine  fürchterliche  Pause, 
die  ihr  Ende  prophezeit"  .  .  . 

Solche  krankhafte  Schwermut  warf  auch  auf  die  deutsche  Litteratur 
ihre  Schatten  —  den  Selbstreinigungsprozefs  von  diesem  epidemischen 
Übel  vollzog  erst  der  Werther. 

Liebe  zum  Naturschildem  verrät  die  gesamte  deutsche  Dichtung  bis 
Goethe,  doch  an  weiter  (uhrenden,  recht  individuellen,  an  die  Shake- 
speare*schen  heranreichenden  Naturbeseelungen  dürfte  der  Reichtum  nicht 
allzu  grofs  sein;  meist  bewegen  sie  sich  in  den  ausgetretenen  Bahnen 
und  entbehren  des  charakteristischen  Lebens.  Es  ist  mehr  Anempfundenes 
als  wirklich  Selbstempfundenes  —  spielen  doch  eingestandenermafsen  so 
viele  Dichter  nur  mit  der  Poesie,  wie  die  ganze  Schar  der  Anakreontiker. 

Selbst  Albrecht  von  Haller  ist  mehr  Maler  undMoralist  als  Stimmung 
machender  Schilderer  der  Alpenwelt.  Er  hat  kaum  eine  poetische  Be- 
seelung. Was  besagen  Zeilen  wie  „dann  hier,  wo  Gotthards  Haupt  die 
Wolken  übersteigt**  oder:  „Wenn  Titans  erster  Strahl  der  Felsen  Höh* 
vergüldet  Und  sein  verklärter  Blick  die  Nebel  unterdrückt**  oder:  „Durch- 
sucht das  holde  Reich  der  buntgeschmückten  Kräuter,  Die  ein  verliebter 
West  mit  frühen  Perlen  tränkt"  u.  a.?  Statt  der  beseelenden  poetischen 
Phantasie  finden  wir  auch  bei  ihm  mehr  die  mythologische  Gelehrsam- 
keit mit  Titan,  Aurora,  Zephyr  etc.  wirksam.  —  Aber  die  Reihe  jener 
Dichterlinge  bis  Klopstock  und  Goethe  zeigen  wenigstens,  was  als 
wichtiges  Moment  in  der  Entwicklung  des  Naturgefuhls  gelten  mufs,  jene 
wachsende  Hinneigung  zum  Landleben,  den  teils  müden,  teils  kräftigeren 
Zug  zmn  Elegisch-Idyllischen.  Immer  wieder  begegnen  uns  Oden  „Auf 
das  Landleben"  oder  an  fingierte  Hirten  und  Hirtinnen,  immer  wieder 
wird  die  Stille  und  Unschuld  der  ländlichen  Trift  im  Gegensatz  zu  der 
Falschheit  und  Unruhe  des  städtischen  Lebens  geschildert.  Die  dabei 
mit  unterlaufenden  Beseelungen  der  Natur  tragen  den  Charakter  der  ge- 
samten Dichtart  der  Zeit,  den  des  Weichen  und  Süfslichen.  Eine  knappe 
Blütenlese  wird  als  Illustration  des  Gesagften  genügen.  —  So  besingt 
Hagedorn  „die  Landlust":  „Es  webet,  wallt  und  spielet  Das  Laub  um 
jeden  Strauch,  Und  jede  Stunde  fühlet  Des  lauhen  Zephyrs  Hauch. 
Was  mir  vor  Augen  schwebet,  Gefallt  und  hüpft  und  singt.  Und  alles, 
alles  lebet  Und  alles  scheint  verjüngt"  oder  im  Gedicht  „der  Mai":  „Wie 
buhlerisch,  wie  so  gelinde  Erwärmen  die  westlichen  Winde  Das  Ufer,  den 
Hügel,  die  Gruft.**  — 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  modemer  Poesie,  m.  423 

Carl  Arnold  Schmid  findet  im  Walde  den  rechten  Platz  für  den 
Dichter,  und  wie  er  diesem  allein  das  rechte  Verständnis  für  den  Zauber 
des  Waldesdunkels  und  des  Blätterrauschens  zuspricht,  so  setzt  er  auch 
ein  empfangliches  Gehör'  bei  den  alten  hohen  Bäumen  voraus.  In 
„Unser  Wald"  ermahnt  er  seinen  Freund: 

Komm,  Gärtner,  dies  heilige  Dunkel  der  Eichen 

Ruft  (]ich  mit  mir  gebieterisch  herbei:  Hier  soll  uns  kein  lauernder  Pöbel  beschleichen, 
Die  Luft  ist  hier  unser  und  freL  —  Freund,   höre  der  Blätter  verständliches  Rauschen! 
Der  Nestor  dort,  wie  weislich  er  spricht!     Er   läfst  sich  allein  von  Poeten  belauschen, 
Ihn  findet  kein  Menschengesicht.  —  Willkommen,  du  fröhlicher  Alter,  willkommen! 
Gesegnet  sei  dein  Schatten  und  du!  .  . 

Und  am  Schlufs  heifst  es: 

Hier,  Gärtner,  hier  wäre  dein  Land  der  Poeten  .  . 

In  Grotten  umzingeln  uns  Götter  und  Musen.     Du  fühlst  es.     Sie  fordern  dein  Lied. 

Der  Wald  wird  schon  ohren;  es  horchet  (!)  sein^Schweigen 

Den  Ton  sich  her,  der  sanft  dir  entfliefst 

Sing,  kühn  auf  dich  selber,  den  durstenden  (I)  Zweigen 

Ein  Lied,  das  sich  stemweis  ergiefsti 

Wie  kläglich  scheitert  hier  der  Dichter,  pointiert  beseelen  zu  wollen! 
Die  Litotes  gfrenzt  hier  doch  schon  stark  an  Nonsens. 
Auch  Gleim  feiert  „den  Landmann": 

„Wie  selig  ist,  wer  ohne  Sorgen 

Sein  väterliches  Erbe  pflügt  I 

Die  Sonne  lächelt  jeden  Morgen 

Den  Rasen  an,  auf  dem  er  liegt! 

Sie  lächelt  ihm,  sie  geht  ihm  unter, 

Und  nun,  willkommen  süfse  Nacht! 

Er  singt  sich  in  den  Schlaf,  und  munter 

Erwacht  er,  wenn  die  Sonn*  erwacht",  u.  s.  f. 

Johann  Peter  Uzjauchzt  in  seinen  „Empfindungen  an  einem  Frühlings- 
morgen" : 

„O  welche  frische  Luft  haucht  vom  bebüschten  Hug^l!  Welch  angenehmer  West  durchzieht 
Mit  rauschendem  bethauten  Flügel  dies  holde  Thal,  wo  alles  grünt  und  blüht!  .  . 
Wie  blitzt  der  junge  Klee  vom  farbenreichen  Thaue! 
Wie  himmlisch  lächelt  die  Natur!»  .  .  . 

Ein  ander  Mal  dankt  er  Gott,  dafs  er  den  Frühling  gesandt  „in 
seinem  schimmernden  Gewand,  Und  Rosen  um  sein  Haupt  gewunden. 
Holdlächelnd  kömmt  er  schon!  .  .    Er  geht  in  Büschen,  und  sie  blüh'n» 


424  Alfred  Biese. 


Den  Fluren  kömmt  ihr  frisches  Grün,  Und  Wäldern  wächst  ihr  Schatten 
wieder,  Der  West,  liebkosend,  schwingt  Sein  thauendes  Gefieder, 
Und  jeder  frohe  Vogel  singt," 

So  preist  auch  Ewald  v.  Kleist  den  „Frühling'':  „Es  lachen  die 
Gründe  voll  Blumen,  und  alles  freut  sich,  als  flösse  der  Himmel  selber 
zur  Erden!"  und  a.  a.  Stelle:  „Empfangt  mich,  heilige  Schatten,  ihr 
Wohnungen  süfser  Entzückung.  Und  ihr,  ihr  lachenden  Wiesen,  Ihr 
holden  Thäler  voll  Rosen,  ihr  Labyrinthe  der  Bäche,  Ich  wül  die  Wollust 
in  mich  mit  eurem  Balsamhauch  ziehen.  Und  wenn  Aurora  euch  weckt, 
mit  ihrem  Purpur."  Hübsch  ist  das  Bild:  „Auf  rosenfarbenem  Gewölk, 
bekränzt  mit  Tulpen  und  Lilien,  Sank  jüngst  der  Frühling  vom  Himmel." 

Niemand  spiegelt  den  Zeitgeist  so  wieder  wie  Klopstock.  Küsse 
und  Tränen  sind  die  Losung  dieser  Epoche;  und  dafs  auch  Klopstock 
in  seinen  Jugendjahren  mehr  schöner  Frauen  Lippen  [lockten  als  der 
Alpen  Firnen,  das  geben  seine  Briefe  aus  der  Schweiz  Zeugnis  oder  die 
Berichte  (z.  B.  Hirzels)  über  ihn.  Aber  bald  nahm  seine  Phantasie  immer 
höheren  Flug  und  mit  künsderischer  Kraft  zwang  er  die  Sprache,  den 
kühnsten  und  höchsten  Gedanken  Ausdruck  zu  geben.  Er  hat  oft  in 
vollen,  wohlklingenden  Rhythmen  den  Preis  der  Natur  gesungen,  mit  dem 
Pathos  der  Psalmen  oder  des  Ossian,  aber  das  Meiste  ist  von  solchem 
seraphischen  Taumel  zu  den  Stemenhöhen  emporgehoben,  dafs  das  Indi- 
viduelle verloren  geht  —  damit  ist  aber  der  ästhetischen  Beseelung  der 
Boden  entzogen.  Sie  findet  sich  daher  äufserst  selten;  oft  nur  im  Ansatz, 
denn  der  Gedanken  Flug  hastet  von  Bild  zu  Bild,  nirgend  verweilend 
und  oft  in  Stammeln  der  Anbetung  sich  verlierend. 

So  in  der  „Frühlingsfeier":  „Lüfte,  die  um  mich  weh*n  und  sanfte 
Kühlung  Auf  mein  glühendes  Angesicht  hauchen.  Euch,  wunderbare 
Lüfte,  Sandte  der  Herr?  der  Unendliche?  Aber  jetzt  werden  sie  still, 
kaum  atmen  sie  .  .  Nun  schweben  und  rauschen  und  wirbeln  die  Winde! 
Wie  beugt  sich  der  Wald!  wie  hebt  sich  der  Strom!  Sichtbar,  wie  du 
es  Sterblichen  sein  kannst,  Ja,  das  bist  du,  sichtbar.  Unendlicher!  Der 
Wald  neigt  sich,  der  Strom  fliehet  und  ich  falle  nicht  auf  mein  Ange- 
sicht? Herr!  Herr!  .  .  Alles  ist  stille  vor  dir,  du  Naher!  Rings  umher 
ist  alles  stille!  .  .  Und  die  Gewitterwinde?  Sie  tragen  den  Donner!  Wie 
sie  rauschen!  wie  sie  die  Wälder  durchrauschen!  Und  nun  schweigen  sie. 
Langsam  wandelt  die  schwarze  Wolke." 

Sein  schwärmerisches  Gemüt,  das  Wonne  und  Wehmut  aus  der 
Natur  saugt,  ist  besonders  freund  dem  milden  Mondlicht,  er  beseelt  den 
bleichen    Gefährten    der    Nacht,    er  ist   ihm    lieb    wie  ein  Genosse.     So 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  moderner  Poesie,  m.  425 

schreibt  Carl  Friedrich  Cramer*):  (In  der  Gesellschaft)  „könnt*  ers  oft 
nicht  langer  ausdauem,  mit  vollem  Herzen,  in  dem  eitlen  Geräusche  zu 
sein.  Er  ging  hinaus  und  weidete  sich  an  der  grofsen  Szene  der  uner- 
mefslichen  Natur.  Da  wandelten  die  Orionen  und  Plejaden  über  seinem 
Haupte  herauf,  und  der  liebe  Mond  stand  gegen  ihm  über.  Wie  er  ihm 
doch  so  innig  in  sein  himmlisches  freundliches  Angesicht  sah,  Grufs  auf 
Grufs  ihm  zuwarf,  als  war*  es  ihres  gewesen,  oft  nicht  sich  halten  konnte, 
ihm  zuzurufen  mit  dem  Geliebten!  —  Mond!  Mond!  —  Gedankenfreundin! 
Eile  nicht!  Bleib!  Lieber  Mond!  wie  heifsest  du?  Luna?  Cyllene?  Cynthia? 
—  Oder  soll  ich  dich  die  schöne  Betty  (!)  des  Himmels  nennen?"  Und 
so  heifst  es  in  „die  frühen  Gräber":  „Willkommen,  o  silberner  Mond, 
Schöner  stiller  Gefahrte  der  Nacht!  Du  entfliehst?  Eile  nicht,  bleib, 
Gedankenfreund!  Sehet,  er  bleibt,  das  Gewölk  wallte  nur  hin.  Des 
Maies  Erwachen  ist  nur  Schöner  noch,  wie  die  Sommernacht.  Wenn 
ihm  Thau,  hell  wie  Licht,  aus  der  Locke  träuft,  Und  zu  dem  Hügel 
herauf  röthlich  er  kommt." 

Mächtig  war  die  Einwirkung  Klopstocks  auf  seine  Zeitgenossen;  das 
Interesse  für  deutsche  Dichtung  ward  neu  belebt;  wir  treten  in  die  Epoche 
der  Musenalmanache.  Und  echte  Herztöne  werden  darin  angeschlagen, 
und  sinnige  Naturbeseelungen  wissen  gar  manche  ihren  Liedern  einzu- 
streuen. Wie  rührend  naiv,  so  des  Volkes  Sprache  treffend  ist  das 
„Morgenlied  eines  Bauemmannes"  des  wackeren  Matthias  Claudius? 

Da  kömmt  die  liebe  Sonne  wieder,  da  kömmt  sie  wieder  her! 

Sie  schlummert  nicht  und  wird  nicht  mfider,  Und  läuft  doch  immer  sehr. 

und  sein  herrliches  „Abendlied": 

Der  Mond  ist  aufgegangen,  Die  goldnen  Sterne  prangen 

Am  Himmel  hell  und  klar;  Der  Wald  steht  schwarz  und  schweiget, 

Und  aus  den  Wiesen  steiget  Der  weifse  Nebel  wunderbar. 

Wie  ist  die  Welt  so  stille,  Und  in  der  Dämmrung  Hülle 

So  traulich  und  so  holdl  .  . 

So  singt  auch  Boie  „An  den  Abend**: 

Wie  still  wird  itzt  die  LuftI  —  Die  Winde  Wie  lieblich  sind  sie  und  wie  schwach! 
Sanft  lispelnd  spielt  das  Laub  der  Linde,  Und  sanfter  lispelt  Echo  nach. 
Durch  Blumen  rinnt  die  Silberquelle;  Es  wäscht,  dem  Ohr  vernehmlich  kaum. 
Mit  klagendem  Geräusch  die  Welle  Der  schauervollen  Grotte  Saum  .  .  . 

Wie  Bürger  immer  den^Schelm  im  Nacken  hat,  so  auch,  wenn  er 
wie  Claudius  den  Mond  apostrophiert.  „Auch  ein  Lied  an  den  liebenMond" : 


*)  Klopstock  (In  Fragmenten  aus  Briefen  von  Tellow  an  Elise)  Haunburg  1777,  I,  S.  149. 


426  Alfred  Biese. 


Ei  schönen  guten  Abend,  Dort  am  Himmel! 

Man  freuet  sich,  Ihn  nah  fein  wohl  zu  sehn. 

Willkommen  mir  vor  allem  Stemgewimmel  I 

Vor  allem  Stemgewimmel  lieb  und  schön!  — 

Was  lächelst  du  so  bittlich  her,  mein  Theurer?**   .  .  . 

und  SO  geht  das  Getandle  weiter.  — 

Kräftiger  als  die  Genannten  und  als  der  friedlich-idyllische  Voss  und 
der  schwärmerische  Hölty,  die  sonst  beide  einen  offenen  und  empfanglichen 
Sinn  für  die  stillen  Reize  der  Natur  nicht  verleugnen,  weifs  Friedrich 
Stolberg  in  die  Saiten  zu  schlagen,  speziell  was  die  Naturbeseelung  be- 
trifft.    So  in  dem  Gedichte  „Der  Harz": 

Herzlich  sei  mir  geg^üfst,  wertes  Cheruskerland  \ 

Land  des  nervigen  Arms  und  der  gefiirchteten 

Kühnheit,  freieren  Geistes  denn  das  flache  Gefild*  umher! 

Dir  gab  Mutter  Natur,  aus  der  vergeudenden 

Urne,  männlichen  Schmuck,  Einfalt  und  Würde  dir! 

Im  antwortenden  Thal  wallet  die  goldene 

Flut  des  Segens  und  strömt  in  den  genügsamen 

Schoofs  des  lächelnden  Fleifees,  Der  nicht  kärglich  die  Garben  zählt. 

.  .  Dort  im  wehenden  Hain  wohnt  die  Begeisterung; 

Felsen  jauchzten  zurück,  wenn  sich  der  Barden  Sang 

Unter  bebenden  Wipfeln  Durch  das  hallende  Thal  ergofe  .  .  . 

Wie  Stolberg  hier  das  vor  ihm  selten  gepriesene  Gebirge  feiert,  so 
giebt  er  auch  dem  grofsartigen  Eindruck,  den  das  Meer  auf  ihn  macht, 
folgende  Worte  ,An  das  Meer': 

Du  heiliges  und  weites  Meer,  Wie  ist  dein  Anblick  mir  so  hehrl 
Sei  mir  im  frühen  Strahl  gegrüfst,  Der  zitternd  deine  Lippen  küfst!  .  . 
Wenn  sich  zu  dir  die  Sonne  neigt,  Errötend  in  dein  Lager  steigt, 
Dann  tönet  deiner  Wogen  Klang  Der  müden  Erde  Wiegensang. 
Es  höret  dich  der  Abendstern  Und  winket  freundlich  dir  von  fem; 
Dir  lächelt  Luna,  wenn  ihr  Licht  Sich  millionenfaltig  bricht!  .  . 

Wie  schön  und  wie  individuell  sind  in  diesen  Zeilen  die  Beseelungen! 
Wie  malerisch  deutet  er  das  Huschen  der  frühen  Morgenstrahlen  über 
die  Meeresfläche  als  ein  zitterndes  Küssen  der  Flut,  —  das  Herabsinken 
der  Sonne  ins  Meer,  das  von  dem  rosigen  Abendschein  übergössen  wird, 
schildert  er,  als  ob  ein  keusches  Mädchen  errötend  ihr  Lager  bestiege; 
und  das  Rauschen  des  Meeres  wird  ihm  zum  Wiegenlied  für  die  müde 
Erde,  wie  das  Blitzen  des  Abendsterns  zum  freundlichen  Winken.  — 

Doch,  die  deutsche  Lyrik  gipfelt  in  Goethe.  Er  sammelt  nur  in 
einen  Brennpunkt  die  Einzel-Strahlen  der  Naturempfindung,  wie  wir  sie  in 
der  Lyrik  vor  ihm  kennen  gelernt  haben.  Aber  zugleich  vereint  re 
Homerische  Naivetät  mit  Rousseau'scher  Naturschwärmerei  und  Ossian'scher 


j 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  moderner  Poesie.  III.  427 

Melancholie.  Aus  diesen  drei  Momenten  ist  jenes  Gedicht  zusammenge- 
woben,  das  wie  keine  andere  seiner  Dichtungen  durchglüht  ist  von  der 
Flamme  reinster  Naturbegeisterung,  herzlichster  Liebe  zu  ihren  Erschei- 
nungen im  Einzelnen  und  anbetender  Bewunderung  ihrer  Allgröfse  und 
Allherrlichkeit.  Vor  Rousseau  hat  Goethe  voraus  das  —  deutsche  Gemüt; 
wie  viel  wärmer  und  herzlicher  sind  die  Naturschilderungen  im  Wert  her 
als  in  der  Neuen  Heloise.  Jede  Schilderung  im  Werther  ist  getaucht  in 
den  Strom  der  Empfindung,  ja  man  möchte  sagen  in  das  Blut  seines 
Herzens  —  sie  sind  belebt  und  beseelt  von  dem  mächtigen  Gefühl,  das 
in  seiner  Brust  lebt,  und  umgekehrt  findet  er  für  die  tiefsten  Seelenregungen 
stets  in  der  Natur  ein  Analogon,  harmonisch  oder  kontrastierend.  Die 
Natur  ist  ihm  ein  Spiegel  seines  Innern  —  und  darum  lebt  alles  in  ihr 
ein  ähnliches  Leben  wie  sein  eigen  Herz,  darum  beseelt  er  alles,  aber 
sie  ist  auch  zugleich  der  Balsam  für  sein  wundes  Herz,  der  Trost  in  der 
Einsamkeit,  kurz  sein  bester  —  Freund,  und  darum  gewinnt  die  Beseelung 
einen  so  warmen,  herzlichen  Ton  —  wie  ihn  Rousseau  nie  gefunden  hat. 
Goethe  sagt  selbst  in  ,Wahrheit  und  Dichtung*  über  die  Naturstimmung 
des  , Werther':  „Ich  suchte  mich  innerlich  von  allem  Fremden  zu  entbinden, 
das  Aufsere  liebevoll  zu  betrachten  und  alle  Wesen,  vom  menschlichen 
an,  so  tief  hinab  als  sie  nur  fafslich  sein  konnten,  jedes  in  seiner  Art  auf 
mich  wirken  zu  lassen.  Dadurch  entstand  eine  wundersame  Verwandt- 
schaft mit  den  einzelnen  Gegenständen  der  Natur  und  ein  inniges  An- 
klingen, ein  Mitstimmen  ins  Ganze,  so  dafs  ein  jeder  Wechsel,  es  sei  der 
Ortschaften  und  Gegenden,  oder  der  Tages-  und  Jahreszeiten,  oder 
was  sonst  sich  ereignen  konnte,  mich  aufs  Innigste  berührte.  Der  malerische 
Blick  gesellte  sich  zu  dem  dichterischen,  die  schöne  ländliche,  durch  den 
freundlichen  Flufs  belebte  Landschaft  vermehrte  meine  Neigung  zur  Ein- 
samkeit und  begünstigte  meine  stillen  nach  allen  Seiten  hin  sich  aus- 
breitenden Betrachtungen,"  Ja,  fürwahr  Natur  und  Seele  sind  ihm  zwei 
gleich  gestimmte  Saiten,  deren  Töne  herüber  und  hinübertönen,  und  was 
seine  Beseelungen  von  denen  vieler  anderer  z.  B.,  —  wie  wir  sehen  werden 
—  Heine's  unterscheidet,  ist  jene  Objektivität,  mit  welcher  er  stets  das 
immanente  Wesen  jeder  Naturerscheinung  wohl  im  Auge  behält,  so  dafs 
er  eben,  wie  er  selbst  sagt.  Jedes  in  seiner  Art  auf  sich  wirken  läfstS 
Mit  vollem  Recht  haben  Erich  Schmidt,  Brandes  u.  a.  bemerkt,  dafs 
der  erste  Teil  des  Werthers  ein  naiveres,  der  zweite  ein  sentimentaleres 
Verhältnis  zur  Natur  bekundet,  in  dem  letzteren  macht  sich  der  Einflufs 
Ossian*s  mit  seiner  Schwermut  zu  sehr  geltend.  Werther  selbst  schreibt 
(r2.  Oktober):  ,Ossian  hat  in  meinem  Herzen  den  Homer  verdrängt*. 


428  Alfred  Biese. 


Es  spiegelt  sich  dies  auch  in  den  Naturbeseelungen  wieder.  Sie  sind 
am  schönsten  und  innigsten  in  der  ersten  Hälfte.  Welche  wärmende 
Glut  der  Beseelung,  welche  Poesie  des  Pantheismus  —  der  nun  einmal 
zu  allen  Zeiten  die  Geburtsstätte  des  intensivesten  Naturgefuhls  gewesen 
ist  —  liegt  in  der  Schilderung  des  süfsen  Frühlingsmorgens  (lo.  Mai): 

„Wenn  das  liebe  Thal  um  mich  dampft  und  die  hohe  Sonne  an  der 
Oberfläche  der  undurchdringlichen  Finsternis  meines  Waldes  ruht  und 
nur  einzelne  Strahlen  sich  in  das  innere  Heiligtum  stehlen,  ich  dann  im 
hohen  Grase  am  fallenden  Bache  liege  und  näher  an  der  Erde  tausend 
mannigfaltige  Gräschen  mir  merkwürdig  werden;  wenn  ich  das  Wimmeln 
der  kleinen  Welt  zwischen  Halmen,  die  unzähligen,  unergründlichen  Ge- 
stalten der  Würmchen,  der  Mückchen  näher  an  meinem  Herzen  fühle; 
und  fühle  die  Gegenwart  des  Allmächtigen,  der  uns  nach  seinem  Bilde 
schuf,  das  Wehen  des  Allliebenden,  der  uns  in  ewiger  Wonne  schwebend 
trägt  und  erhält!  Mein  Freund,  wenn's  dann  um  meine  Augen  dämmert 
und  die  Welt  um  mich  her  und  der  Himmel  ganz  in  meiner  Seele 
ruhen  wie  die  Gestalt  einer  Geliebten;  dann  sehne  ich  mich  oft  und 
denke:  Ach!  könntest  du  das  wieder  ausdrücken,  könntest  dem  Papier 
das  einhauchen,  was  so  voll,  so  warm  in  dir  lebt,  dafs  es  würde  der 
Spiegel  deiner  Seele,  wie  deine  Seele  ist  der  Spiegel  des  unendlichen 
Gottes!  Mein  Freund!  —  Aber  ich  gehe  darüber  zu  Grunde,  ich  erliege 
unter  der  Gewalt  der  Herrlichkeit  dieser  Erscheinungen." 

Hier  ist  Gott  und  Natur,  Religion  und  Naturgefuhl  eins!  —  Die 
Leuchte  in  den  Wundergängen  der  Natur  ist  auch  für  Werther  die  Liebe. 
„Was  ist  unserm  Herzen  die  Welt  ohne  Liebe!  Was  eine  Zauberlaterne 
ohne  Licht!"  bekennt  er,  und  gleich  darauf  (24  Julius):  „Noch  nie  war 
ich  glücklicher,  noch  nie  war  meine  Empfindung  an  die  Natur,  bis  aufs 
Steinchen,  aufs  Gräschen  herunter,  voller  und  inniger;  und  doch  —  ich 
weifs  nicht,  wie  ich  mich  ausdrücken  soll  —  meine  vorstellende  Kraft 
ist  so  schwach,  alles  schwimmt  und  schwankt  so  vor  meiner  Seele,  dafs 
ich  keinen  Umrifs  packen  kann." 

Für  alles  und  jedes  in  der  landschaftlichen  Umgebung  hat  er  persön- 
liches Interesse,  der  Brunnen  und  die  Allee,  in  der  er  spazieren  geht,  ist 
ihm  „lieb"  —  „Ich  stand  auf  der  Terrasse,"  heifst  es  vom  10.  September 
„unter  den  hohen  Kastanienbäumen  und  sah  der  Sonne  nach,  die  mir 
nun  zum  letztenmal  über  dem  lieblichen  Thale,  über  dem  sanften  Flufs 
unterging.  Ich  ging  in  der  Allee  auf  und  ab,  die  mir  so  lieb  war;  ein 
geheimer  sympathetischer  Zug  hatte  auch  mich  hier  so  oft  gehalten, 
ehe  ich  noch  Lotten  kannte,  und  wie  freuten  wir  uns,  als  wir  im  Anfang 


J 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  moderner  Poesie.  III.  429 

. —  ■  ■  ^' 

unserer  Bekanntschaft    die    wechselseitige  Neigung  zu  diesem  Plätz- 
chen entdeckten!" 

Das  „volle,  warme  Gefühl  seines  Herzens  an  der  lebendigen  Natur 
überströmt  ihn  mit  Wonne,"  wenn  er  vom  Berge  herab  ins  sonnen- 
beglänzte  Tal  hinabschaut  und  sich  sehnt,  „mit  Fittigen  des  Kranichs 
zu  dem  Ufer  des  ungemessenen  Meeres  zu  fliegen,  aus  dem  schäumen- 
den Becher  des  Unendlichen  jene  schwellende  Lebenswonne  zu  trinken 
und  nur  einen  Augenblick  einen  Tropfen  der  Seligkeit  des  Wesens  zu 
fühlen,  das  alles  in  sich  und  durch  sich  hervorbringt."  Natur  und  Seele 
sind  ihm  eins.  Er  beseelt  die  Natur  und  nimmt  von  der  Natur  ein  Bild 
fiir  seine  Seele  — wenn  er  schreibt  (4.  September):  „Ja,  es  ist  so!  Wie 
die  Natur  sich  zum  Herbste  neigt,  wird  es  Herbst  in  mir  und  um  mich 
her.  Meine  Blätter  werden  gelb,  und  schon  sind  die  Blätter  der  benach- 
barten Bäume  abgefallen." 

Je  düsterer  seine  Stimmung  wird,  desto  mehr  sagt  ihm  Ossian  zu  — 
mit  seiner  Haide,  „umsaust  vom  Sturmwinde,  mit  den  dampfenden  Nebeln, 
dem  Gebrülle  des  Waldstroms,  dem  verwehten  Ächzen  der  Geister,"  dem 
„Murmeln  des  Giefsbachs  oder  dem  Klagen  des  Windes"  u.  s.  f.  An 
dem  schaurigen  Schauspiele  des  übergetretenen  Flusses  weidet  er  sich 
(12.  Dezember):  „Nachts  nach  eilfe  rannte  ich  hinaus.  Ein  fürchterliches 
Schauspiel,  vom  Fels  herunter  die  wühlenden  Fluten  in  dem  Mondenlichte 
wirbeln  zu  sehen,  über  Acker  und  Wiesen  und  Hecken  und  Alles  und 
das  weite  Tal  hinauf  und  hinab  eine  stürmende  See  im  Sausen  des 
Windes!  Und  wenn  dann  der  Mond  wieder  hervortrat  und  über  der 
schwarzen  Wolke  ruhte  und  vor  mir  hinaus  die  Flut  in  fürchterlich 
herrlichem  Wiederschein  rollte  und  klang:  da  überfiel  mich  ein  Schauer 
und  wieder  ein  Sehnen  I  Achl  mit  offenen  Armen  stand  ich  gegen  den 
Abgrund  und  atmete  hinab!  hinab!  und  verlor  mich  in  der  Wonne, 
meine  Qualen,  meine  Leiden  da  hinab  zu  stürmen!  dahinzu brausen 
wie  die  Wellen?" 

Wenn  von  irgend  einem  Goetheschen  Werke,  so  gilt  vom  Werther 
das  treffende  Wort  von  Rosenkranz:  „Die  Natur  wird  in  ihm  zum  unmittel- 
baren Selbstgefühl",  und  Werther  könnte  wie  Faust  im  vollen  Sinne  Goethes 
selber  bekennen : 

Erhabner  Geist,  du  gabst  mir,  gabst  mir  alles  .  . 
Gabst  mir  die  herrliche  Natur  zum  Königreich, 
Kraft,,  sie  zu  fühlen,  zu  geniefsen.     Nicht 
Kalt  staunenden  Besuch  erlaubst  du  nur, 
Vergönnest  mir,  in  ihre  tiefe  Brust 
Wie  in  den  Busen  eines  Freunds,  zu  schauen. 
Zttchr.  f.  Tgl    Litt.-Geach.  1.  ^ 


480  Alfred  BicM. 


Die  gesamte  Lyrik  Goethes  ist  durchwirkt  von  den  stimmungs- 
vollsten Beseelungen,  welche  durchaus  auf  jener  Basis  ruhen,  welche  die 
im  Werther  gekennzeichnete  Liebe  zur  Natur,  jenes  Mitklingen  respektive 
jener  Einklang  von  Seele  und  Natur  kennzeichnet. 

Man  mag  eben  Goethe  fassen,  von  welcher  Seite  man  will,  er  ist 
überall  gleich  grofs  —  ein  Riese  hebt  er  sich  über  seine  Zeitgenossen 
und  über  die  deutschen  Dichter,  die  vor  ihm  gewesen.  Wie  süfslich, 
manieriert  und  gekünstelt  oder  wie  monoton,  nur  einen  kleinen  Kreis 
der  Anschauung  beschreibend  sind  die  meisten  Beseelungen  seit  der 
Zeit  der  schlesischen  Schulen  —  und  wie  universell  und  individuell  zu- 
gleich sind  dieselben  bei  Goethel  — 

In  der  Entwicklung,  welche  wir  bisher  aufzeigten,  in  der  Geschichte 
der  Naturbeseelung,  bezeichnet  die  Goethesche  Lyrik  nicht  blofs  die 
Sammlung  der  in  der  bisherigen  deutschen  Dichtung  angeschlagenen 
Motive,  sondern  die  Weiterfuhrung  der  Shakespeareschen  sympathetischen 
Naturauffassung  und  jener  Innerlichkeit,  welche  von  Petrarka  zuerst  in 
die  moderne  Poesie  als  Quelle  und  Trägerin  aller  Empfindungen  hinein- 
geleitet ist.  Goethe  vereint  auch  speziell  was  die  Naturbeseelung  anlangt, 
die  plastische  Anschaulichkeit  der  Griechen,  die  Naivität  des  Genies  mit 
der  ganzen  Seelentiefe  und  Seelenwärme,  mit  der  Gefuhlsinnigkeit  und 
die  Abgründe  des  eigenen  Herzens  völlig  überschauenden  Geistesschärfe 
wie  sie  nur  einem  modernen  Kulturmenschen  eignet.  —  Seine  Anschauungs- 
weise berührt  sich  daher  einerseits  oft  ganz  nahe  mit  der  mythologischen 
—  wie  Mythologie  und  Poesie  im  Grunde  eins  —  und  ist  doch 
wieder  andererseits  eminent  subjektiv  und  trägt  den  Stempel  einer 
genialen  Eigenart.   Auch  hier  können  wir  uns  nur  auf  Umrisse  beschränken« 

Welche  Poesie  der  Anschauung  atmen  gleich  die  ersten  Zeilen  der 
,Zueig^ung^' 

Der  Morgen  kanxy  es  scheuchten  seine  Tritte 
Den  leisen  Schlaf,  der  mich  gelind  umfing  .  . 
Der  junge  Tag  erhob  sich  mit  Entzücken, 
Und  alles  war  erquickt  mich  zu  erquicken  .  . 

Wie  rührend  weifs  er  den  märchenhaft  kindlichen  Ton  zu  treffen, 
wenn  er  dem  „Haideröslein"  oder  dem  „Veilchen",  das  „in  sich  gebückt** 
dasteht  und  „sich  freut",  zu  den  Püfsen  des  Mädchens  zu  sterben,  oder 
das  im  Waldesschatten  blüht,  wie  Sterne  leuchtend,  wie  Äuglein  schön," 
eine  Seele  und  Sprache  leiht.  In  der  Sommernacht  neigen  sich  die 
Birken  vor  Luna  und  streuen  den  süfsten  Weihrauch  ihr  („die  stille  Nacht"), 
aber    „des    Mondes    lieblichen   ladenden    Glanz    überscheint    die    Sonne 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  modemer  Poesie.  III.  4M 

(„Gegenwart^'):     „Ladend  und  lieblich  bist  du,  Und  Blumen,  Mond  und 
Gestirne  huldigen,  Sonne,  nur  dir." 

Im  Bade  umkosen  wie  Liebchens  Hände  ihn  die  Wellen  (Wechsel): 

Auf  Kieseln  im  Bache  da  lie^  ich,  wie  helle? 

Verbreite  die  Arme  der  kommenden  Welle, 
Und  buhlerisch  drückt  sie  die  sehnende  Brust; 

Dann  fUhrt  sie  der  Leichtsinn  im  Strome  danieder; 
Es  naht  sich  die  zweite,  sie  streichelt  mich  wieder: 

So  ftthr  ich  die  Freuden  der  wechselnden  Lust. 

Durch  und  durch  seelenvoll  d.  h.  die  Natur  selbst  mit  dem  eigenen 
Liebesleben  füllend  ist  das  wunderbare  „Mailied^^  ;*) 

Wie  herrlich  leuchtet  Mir  die  Natur! 

Wie  glänzt  die  Sonne!  Wie  lacht  die  Flur! 

Es  dringen  Blüten  Aus  Jedem  Zweige, 

Und  tausend  Stimmen  Aus  dem  Gesträuch, 

Und  Freud*  und  Wonne  Aus  jeder  Brust. 

O  Erd!  o  Sonne!  O  Glück,  o  Lust! 

O  Lieb*  o  Liebe!  .  .  du  segnest  herrlich  das  frische  Feld, 

Im  Blütendampfe  die  yolle  Welt. 

O  Mädchen,  Mädchen,  Wie  lieb*  ich  dich  ... 

So  liebt  die  Lerche  Gesang  und  Luft, 

Und  Morgenblumen  den  Himmelsduft, 

Wie  ich  dich  liebe  Mit  warmem  Blut  .  .  . 

m 

Bei  Niemandem  kann  man  mehr  als  bei  Goethe  sehen,  wie  das 
innere  Leben,  das  die  Brust  fast  zum  Springen  füllt,  hinaus  drängt,  um 
auch  die  tote  Natur  mit  Lebensfulle  zu  beseelen,  vor  allem  wenn  das 
Herz  in  Liebe  schwillt,  welche  die  ganze  Welt  in  neuem  Lichte  zeigt,  mit 
rosigem  Hauche  übergiefst  und  überall  wie  in  der  eigenen  Brust  ein 
ähnlich  Fühlen  und  Liebesweben  voraussetzt  oder  ahnt.  Das  ist  der 
Grundton  dieses  schonen,  im  Worte  schon  „musikalischen**  Liedes.  Aber 
atich  in  anderen  an  Friederike  gerichteten  Gedichten  sieht  das  Auge  des 
Liebenden  um  sich  her  in  den  Naturerscheinungen  lebende,  fühlende, 
liebende  Wesen. 


*)  Vgl.  in  Erwin  und  Elmire,  H,  6,  den  Monolog  Elmire's:  Mit  vollen  Atemzügen 
Saug'  ich,  Natur,  aus  dir.  Ein  schmerzliches  Vergnügen.  Wie  lebt,  Wie  bebt,  Wie  strebt  das 
Hera  in  mirl  Freundlich  begleiten  mich  Lüftlein  gelinde.  Flohene  Freuden,  Ach,  säusehi  im 
Winde.  .  Du  lachst  mir,  angenehmes  Tal,  Und  du,  o  reine  Himmelssonne,  Erfüllst  seit 
langer  Zeit  zum  erstenmal  Mein  Herz  mit  süfser  Frühlingswonne  .  . 

8»* 


482  Alfred  Biese. 


So  in  „Willkommen  und  Abschied": 

Der  Abend  wiegte  schon  die  Erde,  Und  an  den  Bergen  hing  die  Nacht; 
S<;hon  stand  im  Nebelkleid  die  Eiche,  Ein  auf^etflrmter  Riese  da, 
Wo  Finsternis  aus  dem  Gesträuche  Mit  hundert  schwarzen  Augen  sah, 
Der  Mond  von  einem  Wolkenhügel  Sah  kläglich  aus  dem  Duft  hervor; 
Die  Winde  schwangen  leise  Flügel,  Umsausten  schauerlich  mein  Ohr.  .  . 

Hier  lebt  alles;  selbst  die  Dunkelheit  bekommt  Augen,  dem  Mond 
wird  die  Abschiedsstimmung  des  Dichters  vindiziert,  und  die  Winde  denkt 
sich  seine  Phantasie  als  geflügelte  Wesen. 

„Auf  dem  See**  singt  er: 

Wie  ist  Natur  so  hold  und  gut,  Die  mich  am  Busen  hältl 

Die  Welle  wieget  unsern  Kahn  Im  Rudertakt  hinauf. 

Und  Berge,  wolkig  himmelan,  Begegnen  imserm  Lauf. 

Aug\  mein  Aug',  was  sinkst  du  nieder?  Goldne  Träume,  kommt  ihr  wieder? 

Weg,  du  Traum!  so  Gold  du  bist  1  Hier  auch  Lieb'  und  Leben  isu 

Auf  der  Welle  blinken  Tausend  schwebende  Sterne; 

Weiche  Nebel  trinken  Rings  die  türmende  Feme; 

Morgenwind  umflügelt  Die  beschattete  Bucht, 

Und  im  See  bespiegelt  Sich  die  reifende  Frucht. 

Auch  im  „Herbstgefuhl**  *)  tritt  jene  so  stimmungsvolle  Fähigkeit  des 
Dichters  hervor,  das  aufsen  Geschaute  mit  der  Glut  des  eigenen  Herzens 
zu  erwärmen:  er  schaut  zum  Fenster  hinaus,  zu  dem  der  Weinstock  mit 
vollen  Beeren  gleichsam  heraufdrängt  —  seine  eigene  Liebesempfindung 
überträgt  er;  die  Lebensfulle,  welche  aus  Blatt  und  Beere  strotzt,  den 
schaffenden  Lebenstrieb  der  Natur,  ihr  gesamtes  Wirken  und  Weben 
interpretiert  er  als  Liebe;  Sonne  und  Himmel  und  Mond  scheinen  ihm 
liebend  zu  sorgen  für  die  Beeren  wie  für  ihre  Kindlein: 

„Euch  brütet  der  Mutter  Sonne  Scheideblick,  euch  umsäuselt  des 
holden  Himmels  fruchtende  Fülle,  Euch  kühlet  des  Mondes  freund- 
licher Zauberhauch.  , 

Man  mufs  von  den  konventionellen  Liedchen  „An  den  Mond**,  wie 
sie  die  Anakreontiker  u.  a.  fabrizierten,  herkommen,  um  den  groisen 
Zauber  des  Goetheschen  Liedes  zu  empfinden  mit  den  schönen  Be- 
seelungen: Füllest  wieder  Busch  und  Tal  Still  mit  Nebelglanz  .  . 
Breitest  über  mein  Gefild  Lindernd  deinen  Blick,  Wie  des  Freundes  Auge 
mild  Über  mein  Geschick.  .  Rausche,  Flufs,  das  Tal  entlang,  Ohne  Rast 
und  Ruh,  Rausche,  flüstre  meinem  Sang  Melodien  zu,  Wenn  du  in  der 
Winternacht  Wütend  überschwillst  Oder  um  die  Frühlingspracht  Junger 
Knospen  quillst.  .  . 


•)  Vergl.  die  schöne  Deutung    des  Gedichtes    im  Progr.   von  Braunschweig,  „Herbst- 
gefühl'*,    Gedicht  von  Goethe.     Analysiert  vom  Oberl.  H.  Corvinus.     1878. 


Die  istfaetlsche  Näturbeseelung  In  antiker  und  moderner  Poesie,  m.  438 

'  ^^^"^  »  ■    ■■  ■ 

Und  worin  liegt  der  magische  Reiz  des  „Erlkönigs"  und  des 
„Fischers*S  wenn  nicht  in  jener  Personifizierung  des  Unheimlichen,  das  in 
dem  abendlichen  Dunkel  liegt,  wie  der  bestrickenden,  lockenden  Macht, 
welche  der  blinkenden  Flut  innewohnt.  Und  welche  beseelende  Poesie, 
welche  Musik  liegt  in  den  Zeilen: 

Labt  sich  die  liebe  Sonne  nicht,  Der  Mond  sich  nicht  im  Meer? 
Kehrt  wellenatmend  ihr  Gesicht  lischt  doppelt  schöner  her?  .  . 

Landschaftsbild  und  Seelenstimmung  —  in  abendlichem  Frieden  zu* 
sammenstimmend  —  durchdringen  sich  aber  in  keinem  Gedichte  enger 
wie  in  den  wenigen  unvergleichlichen  Zeilen: 

Ober  allen  Gipfeln  Ist  Ruh\ 
In  allen  Wipfeln  Spürest  du 

Kaum  einen  Hauch. 
Die  Vöj^elein  schweigen  im  Walde. 
Warte  nur,  balde 

Ruhest  du  auch« 

Ein  Naturbild,  aber  völlig  untergetaucht  in  den  Strom  der  Empfindung; 
plastisch  und  musikalisch  zugleich.  Ein  geistreicher  Franzose*)  sagt 
treffend:  „Die  Stille  des  Abends,  das  Verstummen  der  Wünsche  in  dem 
Schweigen  des  Waldes,  die  schönste  Auflösung  aller  Mifsklänge  in  den 
vollendeten  Einklang  der  Natur,  der  naive  und  grofsartige  Pantheismus 
einer  Seele,  die  sich  eins  (uhlt  mit  der  Welt;  das  alles  ist  nicht  besonders 
ausgesprochen  in  des  Wanderers  Nachtlied,  aber  es  klingt  durch  wie  die 
vereinten  Stimmen  in  einer  lieblichen  Symphonie." 

Auch  in  dem  herrlichen  Gedichte  ,Ilmenau'  reiht  sich  eine  herzliche 
Beseelung  an  die  andere: 

,Anmutis^  Tal!  du  immerg^rüner  Hain? 

Mein 'Herz  begrülst  euch  wieder  auf  das  beste;  .  . 

Ich  sorg:e  still,  indes  ihr  ruhig  grünet  .  . 

Ihr  seid  mir  hold,  ihr  gdnnt  mir  diese  Träume  .  . 

Melodisch  rauscht  die  hohe  Tanne  wieder, 

Melodisch  eilt  der  Wasserfall  hernieder; 

Die  Wolke  sinkt,  der  Nebel  drückt  ins  Tal, 

Und  es  ist  Nacht  und  Dämmrung  auf  einmal.  .  . 

In  „Mahomets  Gesang"  wird  die  Beseelung  des  Quells,  der  —  ein 
GegenbÜd  des  Menschen  —  zum  Strome  schwillt  und  seinem  Vater,  dem 
Ozean  zuströmt,  in  hochpoetischer  Weise  durchgeführt,  indem  zugleich 
alles  Nebenwerk  dem  Grundgedanken  angepafst  wird:  Seht  den  Felsen- 
quell, Freudehell,  Wie  ein  Sternenblick;  Über  Wolken  Nährten  seine 


")  Schürt,  Geschichte  des  deutschen  Liedes,  Berlin,  1870,  S.  307. 


484  Alfred  Biese. 


Jugend  Gute  Geister  Zwischen  Klippen  im  Gebüsch.  Jünglingfrisch 
Tanzt  er  aus  der  Wolke  Auf  die  Marmorfelsen  nieder,  Jauchzet  wieder 
Nach  dem  Himmel.  Durch  die  Gipfelgänge  Jagt  er  bunten  Kieseln  nacb^ 
Und  mit  frühem  Führertritt  Reifst  er  seine  Brüderquellen  Mit  sich  fort; 
Drunten  werden  in  dem  Tal  Unter  seinem  Fufstritt  Blumen,  Und 
die  Wiese  Lebt  von  seinem  Hauch.  Doch  ihn  hält  kein  Schattental, 
Keine  Blumen,  Die  ihm  seine  Knie  umschlingen.  Ihm  mit  Liebes- 
Augen  schmeicheln:  Nach  der  Ebne  dringtsein  Lauf,  Schlangenwandelnd. 
Bäche  schmiegen  Sich  gesellig  an.  Nun  tritt  er  In  die  Ebne  silberprangend 
Und  die  Ebne  prangt  mit  ihm,  Und  die  Flüsse  von  der  Ebne  Und  die 
Bäche  von  den  Bergen  Jauchzen  ihm  und  rufen:  Bruder!  Bruder,  nimm 
die  Brüder  mit.  Mit  zu  deinem  alten  Vater,  Zu  dem  ew*gen  Ozean, 
Der  mit  ausgespannten  Armen  Unser  wartet  .  .  .  Und  so  trägt  er  seine 
Brüder,  Seine  Schätze,  seine  Kinder,  Dem  erwartenden  Erzeuger  Freude- 
brausend an  das  Herz. 

Doch  wie  eng  der  Pantheismus  mit  der  ästhetischen  Naturbeseelung 
verknüpft  ist,  wie  derselbe  gleichsam  in  dieser  seine  konkrete  dichterische 
Form  findet,  das  lehrt  kein  Gedicht  anschaulicher  als  „Ganymed",  in  dem 
die  Liebe,  die  aus  der  gegenständlichen  Welt  uns  entgegenströmt,  zusammen- 
flutet mit  der  Liebe  des  empfindenden  Menschen,  so  dafs  der  Einklang 
zwischen  Natur  und  Geist,  die  innerliche  Verwandtschaft  beider  deutlich 
hervortritt.     Es  ist  ein  Hymnus  des  poetischen  Fantheismus: 

Wie  im  Morgenglanze  Du  rings  mich  anglühst,  Frühling,  Ge- 
liebter! Mit  tausendfacher  Liebeswonne  Sich  an  mein  Herz  drängt 
Deiner  ewigen  Wärme  Heilig  Gefühl.  Unendliche  Schöne!  Dafs 
ich  Dich  fassen  möcht*  In  diesen  Arm!  Ach,  an  deinem  Busen  lieg' 
ich,  schmachte,  Und  deine  Blumen,  Dein  Gras,  Drängen  sich  an 
mein  Herz.  Du  kühlst  den  brennenden  Durst  meines  Busens,  Lieb- 
licher Morgenwind!  Ruft  drein  die  Nachtigall  Liebend  nach  mir 
aus  dem  Nebeltal.  Ich  komm\  ich  komme!  Wohin?  Ach,  wohin? 
Hinauf!  hinauf  strebt's.  Es  schweben  die  Wolken  Abwärts,  die  Wolken 
Neigen  sich  der  sehnenden  Liebe.  Mir!  Mir!  In  eurem  Schoofse 
Aufwärts!  Umfangend  umfangen!  Aufwärts  an  deinen  Busen,  All- 
liebender Vater! 

Auch  der  „Faust"  ist  durchweht  von  diesem  Pantheismus,  der  alles 
Lebende  als  Spiegelbild  der  einen  Gott-Natur  auffafst  und  so  von  dem 
ewigen  Leben  einen  Strom  überleitet  in  jedes  Einzelne,  noch  so  Geringe 
—  wie  des  „Künstlers  Abendlied"  bekennt:  Wie  sehn*  ich  mich,  Natur, 
nach  dir,   Dich  treu  und  lieb  zu  fühlen!   Ein  lust'ger  Springbrunn,   wirst 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  In  antiker  und  moderner  Poesie,  m.  435 

du  mir  Aus  tausend  Röhren  spielen.  Wirst  alle  meine  Kräfte  mir  in 
meinem  Sinn  erheitern  Und  dieses  enge  Dasein  mir  zur  Ewigkeit  erweitern. 

Philosophischer  und  künstlerischer  Pantheismus  verweben  sich  im 
„Faust",  Die  dichterische  Phantasie  beseelt  und  belebt  alles  Gegenständliche 
der  Aufsenwelt,  und  der  Philosoph  entdeckt  in  allem  nur  das  Wehen 
desselben  Geistes,  dessen  Kraft  allenthalben  wirksam  ist:  In  Lebens- 
fluten,  im  Thatensturm  WaU'  ich  auf  und  ab,  Webe  hin  imd  her!  Geburt 
und  Grab,  Ein  ewiges  Meer,  Ein  wechselnd  Weben,  Ein  glühend  Leben, 
So  schaff  ich  am  sausenden  Webstuhl  der  Zeit  Und  wirke  der  Gottheit 
lebendiges  Kleid. 

Schöner  und  tiefer  ist  nie  der  Ausdruck  für  die  Frühlingsstimmung 
gefunden  wie  auf  jener  Wanderung  des  Faust  mit  Wagner  aus  der  Enge  der 
Stadt  in  die  freie  Natur;  wie  idyllisch  wirkt  die  Beseelung  in  den  Worten: 

Vom  Bise  befreit  sind  Strom  und  Bäche 

Durch  des  Frühlings  holden,  belebenden  Blick; 

Im  Tale  grünet  Hoffhungsglück ! 

Der  alte  Winter  in  seiner  Schwäche, 

Zog  sich  in  rauhe  Berge  zurück.  .  . 

Überall  regt  sich  Bildung  und  Streben 

Allee  will  sie  (die  Sonne)  mit  Farben  beleben  .  .  . 

und  wie  übermächtig  wirkt  der  Anblick  der  untergehenden  Sonne,  deren 
allmäliges  Herabsinken  die  Sehnsucht  in  die  grenzenlose  Ferne,  das 
Heimweh  nach  dem  Zielpunkt  alles  menschlichen  Daseins  weckt: 

Betrachte,  wie  in  Abendsonne-Glut 

Die  grünumgebnen  Hütten  schimmern. 

Sie  rückt  und  weicht,  der  Tag  ist  überlebt.  .  . 

O  dafs  kein  Flügel  mich  vom  Boden  hebt, 

Ihr  nach  und  immer  nach  zu  streben  I 

Ich  sah*  im  ewigen  Abendstrahl 

Die  stille  Welt  zu  meinen  Füisen, 

Entzündet  alle  Höh*n,  beruhigt  jed6s  Tal.  .  . 

Und  wieder  bricht  jener  pantheistische  Zug  hindurch  in  dem  Monolog: 

^Erhabner  Geist,  du  gabst  mir  alles  .  .  . 
Du  führst  die  Reihe  der  Lebendigen 
Vor  mir  vorbei,    und  lehrst  mich  meine  Brüder 
Im  stillen  Busch,  in  Luft  und  Wasser  kennen  .  . 
Und  steigt  vor  meinem  Blick  der  reine  Mond 
Besänftigend  herüber,  schweben  mir 
Von  Felsenwänden,  aus  dem  feuchten  Busch 
Der  Vorwelt  silberne  Gestalten  auf  .  . 

sowie  in  dem  Glaubensbekenntnis  des  Pantheismus: 

Wer  darf  ihn  nennen?  .  . 

Der  AUumfasser,  Der  Allerhalter  Faist  und  erhält  er  nicht 


486  Alfred  Biese. 


Dich,  micb,  sich  selbst?    Wölbt  ^ch  der  Hünmel  nicht  dadroben? 

Liegt  die  Erde  nicht  hierunten  fest? 

Und  steigen  freundlich  blickend  Ewige  Sterne  nicht  herauf?   .  . 

Es  ist  klar:  Zu  einem  so  tiefen  Naturempfinden  konnte  die  antike 
Welt  nicht  gelangen.  Goethe  steht  auf  der  vollen  Höhe  des  modernen 
Kulturlebens,  auch  in  dieser  Hinsicht  Die  Unendlichkeit  des  Ichs  ist 
dem  Bewufetsein  völlig  aufgegangen,  aber  auch  die  Natur  in  ihrer  ganzen 
Tiefe ;  der  Blick  über  das  All  als  ein  Universum  ward  im  Altertum  kaum 
angedeutet,  nun  ist  er  ebenso  ein  Ferment  der  Allgemeinbildung  wie  der 
Blick  ins  Einzelne,  bis  ins  kleinste  Leben  hinein  —  denn  Goethe  war 
Dichter  und  Naturforscher  zugleich.  Die  Auffassung  aller  Natur- 
erscheinungen sub  specie  aeternitatis  und  doch  wiederum  mit  der  liebe- 
vollsten Versenkung  bis  ins  Einzelnste  und  Kleinste,  mit  nachfühlendem, 
mit  empfindendem  Verständnis :  darin  liegt  der  grofse  Unterschied  zwischen 
antikem  und  modernem  Naturgefuhl.  Das  letztere  ist  universeller  und  in- 
dividueller zugleich.  Was  im  Altertum  noch  in  geschlossener  Knospe 
schlummerte,  ist  in  der  modertien  Zeit  zur  prangenden  Blüte,  zur  reifen, 
ja  oft  überreifen  Frucht  geworden,  die  nicht  selten  von  dem  Wurm  der 
Reflexion,  der  Selbstironie,  des  Weltschmerzes,  kurz  der  krankhaften 
Sentimentalität  innen  zerfressen  ist. 

Den  Romantikern  wurden  die  klassischen  Schranken,  welche  Goethe 
und  Schiller  —  dessen  Hauptstärke  nicht  im  lyrischen  Liede,  nicht  in 
der  Naturdichtung  lag  —  im  engen  Anschlüsse  an  die  Normen  antiker 
Dichter  und  Künstler  gezogen  hatten,  zu  enge.  Auch  ihr  Naturgefuhl  und 
somit  die  Naturbeseelung,  aufs  höchste  Mafs  der  Subjektivität  getrieben, 
ward  phantastisch,  schwärmerisch,  doch  der  Grundakkord  bleibt  pan- 
theistisch.     Ich  greife  nur  Weniges  heraus  zum  Beleg.     So  heifst  es  bei 

Hölderlin  im  Hyperion  einmal:    „Verloren  ins  weite  Blau  blick*  ich  oft 

••  •  

hinauf  in  den  Äther  und  hinein  ins  heilige  Meer,  und  mir  ist,  als  öffnete 
ein  verwandter  Geist  mir  die  Arme,  als  löste  der  Schmerz  der  Einsam- 
keit sich  auf  ins  Leben  der  Gottheit.  Eins  zu  sein  mit  allem,  das  ist  Leben 
der  Gottheit,  das  ist  der  Himmel  der  Menschen.  Eins  zu  sein  mit  allem,  was 
lebt,  in  seliger  Selbstvergessenheit  wiederzukehren  ins  All  der  Natur,  das  ist 
der  Gipfel  der  Gedanken  und  Freuden."  Bei  Novalis  zerfliefst  alles  ins 
Ahnungsvolle,  in  Dämmerung  und  Nacht;  das  in  der  Brust  unbewufst 
Ruhende,  nie  Auszusagende  wird  durchwühlt;  die  klare  Plastik  fehlt 
völlig,  die  Grenze  zur  Mystik  wird  überschritten.  So  heifst  es  in 
„Heinrich  von  Ofterdingen":  „Ich  möchte  die  ganze  Welt  mit  Liebes- 
gesängen durchströmen,  den  Mondschimmer  und  die  Morgenröte  an- 
rühren, dafs  sie  mein  Leid  und  Glück  wiederklingen,  dafs  die  Melodie 


J 


Die  Sstfaetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  moderner  Poesie.  IIL  487 

■  — ^_— .^— — 

Bäume,  Zweige,  Blätter  und  Gräser  ergreife,  damit  alle  spielend  meinen 
Gesang  wie  mit  Millionen  Zungen  wiederholen  müisten^^  oder  mit  der 
intensivesten  Naturbeseelung  und  Gefuhlsschwelgerei:  „Die  Gewächse 
sind  die  unmittelbarste  Sprache  des  Bodens,  jedes  neue  Blatt,  jede  sonder- 
bare Blume  ist  irgend  ein  Geheimnis,  das  sich  hervordrängt,  .  .  man 
möchte  vor  Freuden  weinen  und  abgesondert  von  der  Welt  nur  seine 
Hände  und  Füfse  in  die  Erde  stecken,  um  Wurzeln  zu  treiben  und  nie 
diese  glückliche  Nachbarschaft  zu  verlassen".  Ein  gleiches  spricht  im 
„Lied"  Friedrich  Schlegel  aus,  indem  er  bewufst  Gefühl  und  Denken, 
schrankenlose  Phantasie  von  der  Vernunft  trennt,  in  höchst  charak- 
teristischer Weise: 

^Wenn  die  Nachtigallen  schla^^en,  Hell  die  sn^ne  Farbe  brennt, 
Will  ich,  was  die  Blumen  sagen  Und  das  Auge  nur  erkennt, 
Leise  kaum  mich  selbst  befragen.     Wenn  ich  wandl*  auf  stiller  Flur, 
Still  verfolgend  die  Natur,  Und  sie  fühlend  denken  lerne, 
Folg*  ich  den  Gef&hlen  nur,  Denn  Gedanken  stehen  zu  ferne. 

Ahnlich  Eichendorff  „Die  Nachtigallen": 

Möcht*  wissen,  was  sie  schlagen,  So  schön  bei  der  Nacht, 
*s  ist  in  der  Welt  ja  doch  niemand,  Der  mit  ihnen  wacht. 
Und  die  Wolken  sie  reisen.  Und  das  Land  ist  so  blafs. 
Und  die  Nacht  wandert  leise  Durch  den  Wald  übers  Gras  .  . 

Eichendorff  weifs  überhaupt  neben  der  Schwermut,  die  seit 
Matthissons  und  Salis*  Abend-  und  Mondscheinliedern  auch  bei  den 
Romantikem  in  den  Naturliedern  die  Grundstimmung  giebt,  auch  heitere, 
kindlich  naive  Töne  eines  echten  Lyrikers  anzuschlagen  —  so  „Wandernder 
Dichter" : 

„Ich  weifs  nicht,  was  das  sagen  willl  Kaum  tret*  ich  von  der  Schwelle  still, 
Gleich  schwingt  sich  eine  Lerche  auf  Und  jubiliert  durchs  Blau  vorauf. 
Das  Gras  ringsum,  die  Blumen  gar  Stehn  mit  Juwelen  und  PerPn  im  Haar, 
Die  schlanken  Pappeln,  Busch  und  Saat  Verneigen  sich  im  gröisten  Staat. 
Ais  Bot'  vorauf  das  Bächlein  eUt,  Und  wo  der  Wind  die  Wipfel  theilt. 
Die  Au*  verstohlen  nach  mir  schaut,  Als  war*  sie  meine  liebe  Braut. "^ 

Oder  „Morgengebet":  „O  wunderbares,  tiefes  Schweigen,  Wie  einsam 
ist's  noch  auf  der  Welt!  Die  Wälder  nur  sich  leise  neigen.  Als  ging  der 
Herr  durchs  stiQe  Feld."  Oder  „Schöne  Fremde":  „Was  sprichst  du 
wirr  wie  in  Träumen  Zu  mir,  phantastische  Nacht?  —  Es  funkeln  auf 
mich  alle  Sterne  Mit  glühendem  Liebesblick,  Es  redet  trunken  die  Feme 
Wie  von  künftigem  grofsen  Glück"  .  .  Doch  der  romantische  Pantheismus 
hat  seinen  vollendetsten  Ausdruck  in  Hölderlins  Naturoden  gefunden. 


488  Alfred  BittM. 


Hier  ist  alles  durchgeistigte,  beseelte  Natur.     Er  bekennt  selbst  „An  die 
Natur*^ : 

Da  zur  Sonne  noch  mein  Herz  sich  wandte,  Als  vero&fasie  seine  Töne  sie, 

Und  die  Sterne  seine  Brüder  nannte  Und  den  Frühling  Gottes  Melodie, 

Da  im  Hauche,  der  den  Hain  bewegte,  Noch  dein  Geist,  dein  Geist  der  Freude  sich  — 

In  des  Herzens  stiller  Welle  regte,  Da  umfingen  goldne  Tage  mich  .  . 

Der  Mensch  ist  ihm  —  vgl.  „der  Mensch"  —  der  Erde  schönstes 
Kind  vom  Vater  Helios,  seine  erstgebornen  Brüder  sind  die  Berge  und 
Inseln,  Bäume  und  Blumen;  seine  Amme  ist  die  heil'ge  Rebe  mit  den 
süfsen  Beeren;  die  Berge  sind  seine  Hüter,  des  Stromes  Wellen  sind 
seine  Gespielen;  seine  Liebe  ist  ihre  edelste  Pflanze;  sein  Gemüt  ist  ihr 
Saitenspiel,  auf  dem  sie  mit  Nebeln  und  Träumen  spielt;  Leid  und  Lust 
teilen  Mutter  und  Sohn  mit  vollster  Sympathie;  Sie  trauert  mit  ihm; 
mit  lebendigerem  Quellenrauschen,  mit  dem  Liebesatem  ihrer  Blüten 
begrüfst  sie  hinwieder  seine  Freude:  —  Alles  das  sind  einzelne  Gedanken 
aus  seinen  Gedichten,*)  am  klarsten  kommt  dieseSeite  seiner  sympathetisch 
pantheistischen  Naturstimmung  in  den  Worten  Hyperions  zu  Tage:  „O 
wenn  sie  eines  Vaters  Tochter  ist,  die  herrliche  Natur,  ist  das  Herz 
der  Tochter  nicht  sein  Herz?  Ihr  Innerstes,  ist's  nicht  er?  Aber  hab*  ich's 
denn?  Kenn'  ich's  denn?  Es  ist,  als  sah'  ich,  aber  dann  erschreck  ich 
wieder,  als  war's  meine  eigne  Gestalt,  was  ich  gesehen,  es  ist,  als  fühlt' 
ich  ihn,  den  Geist  der  Welt,  aber  ich  erwache  und  meine,  ich  habe 
meinen  eignen  Finger  gehalten."  Alles  Menschenwesen  wird  so  in  die 
engste  Beziehung  zum  Naturleben  gesetzt  und  umgekehrt;  aber  was 
Hölderlin  von  Goethe  trennt,  ist  die  Phantastik,  die  Mystik.  Am  nächsten 
kommt  er  ihm  noch  in  dem  „gefesselten  Strom",  das  direkt  an  Goethesche 
Motive  anklingt:  Gehüllt  in  sich,  säumt  am  kalten  Ufer,  er,  des  Ozeans 
Sohn  —  da  sendet  der  Vater  die  Liebesboten,  die  lebenatmenden  Lüfte, 
und  *  „Schon  tönt,  schon  tönt  es  ihm  in  der  Brust!  es  quillt.  Wie  er  da 
noch  im  Schoofse  der  Felder  spielt!  Ihm  auf;  und  nun  gedenkt  er  seiner 
Kraft,  der  Gewaltige,  nun,  nun  eilt  er,  .  .  spottet  der  Fesseln  nun,  .  . 
und  von  der  Stimme  des  Göttersohnes  erwachen  die  Berge  rings,  Es 
regen  sich  die  Wälder,  es  hört  die  Kluft  Den  Herold  fern,  imd  schaudernd 
reg^  im  Busen  der  Erde  sich  Freude  wieder. 

Der  neue  Frühling  dämmert^  es  blüht  um  ihn; 
Er  aber  wandelt  hin  zu  Unsterblichen; 
Denn  nirgend  darf  er  bleiben,  als  wo 
Ihn  in  die  Arme  der  Vater  aufnimmt. 


*)  Vgl.  Stiefel:  die  deutsche  Lyrik  des  i8.  Jahrhunderts.     Leipzig,  1871,  S.  «63. 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  moderner  Poesie.  HI.  489 

«  - 

In  der  That  ein  dramatisches,  tiefdurchgeistigtes  Naturgemälde! 

Es  hat  vielleicht  Niemand  in  Deutschland  seit  Goethe  gröfsere  lyrische 
Begabung  besessen  als  Heine.  Aber  was  jedem  Künstler  unentbehrlich 
ist,  der  Humor,  hat  sich  bei  ihm  in  Ironie  gewandelt,  und  der  tiefg^reifende 
Unterschied  zwischen  Goethescher  und  Heinescher  Lyrik  kann  nicht 
deutlicher  hervortreten,  als  bei  Betrachtung  der  ästhetischen  Naturbeseelung 
beider  Dichter.  Wohl  überträgt  Goethe  nicht  blofs  das  allgemein  Mensch- 
liche, sondern  auch  das  Spezifische  seiner  Eigenart,  seiner  momentanen 
Stimmung  auf  die  Natur,  aber  er  beachtet  stets  das  objektive  Wesen 
der  beseelten  Naturerscheinung,  er  octroyiert  ihr  nichts  absolut  Fremdes; 
sein  Dichterauge  entdeckt  gleichsam,  wie  Gervinus  a.  a.  O.  treffend 
sagt,  „die  in  der  Natur  von  Ewigkeit  her  schlummernde  Lyrik."  In 
erster  Linie  steht  ihm  immer  das  Charakteristische  des  Gegenstandes, 
und  das,  was  in  diesem  ihn  an  Menschliches  gemahnt,  vermählt  er  mit 
diesem;  er  schlägt  gleichsam  den  schlummernden  Funken  heraus  und 
weckt  ihn  mit  beseelendem  Hauche  zur  lebendigen  Flamme.  Anders 
Heine.  Ihm  steht  nicht  die  Anschauung  und  die  Naturwahrheit,  sondern 
der  Witz,  die  Pointe,  der  Effekt  in  erster  Linie.  Je  heterogener  —  desto 
witziger  die  Kombination!  Selbst  wenn  er  mit  echt  poetischem  Geiste  die 
Natur  durchdringt,  an  Goethesche  Naturempfindung  anklingt,  ja  mit  einer 
Intuition,  die  an  die  Erhabenheit  der  Mythenbildung  streift,  die  lebens- 
vollsten Naturgemälde  entwirft,  mischt  sich  dies  manierirte  Haschen  nach 
Effekten  ein,  so  dafs  seine  Dichtungen  den  Nixen  gleichen,  deren  herrlicher 
Oberleib  in  einen  häfslichen  Fischschwanz  ausläuft.  Und  bei  alledem 
welcher  Zauber  der  Sprache,  welche  berückende  Melodie!  Doch  meistens 
sind  es  lose  flatternde  Akkorde,  —  die  Goethesche  plastische  Aus- 
gestaltung wird  ersetzt  durch  die  Pointe. 

Die  krankhafte  Liebesstimmung  seines  eigenen  Herzens  findet  er 
überall  "wieder  — 

Es  stehen  unbeweglich  Die  Sterne  in  der  Höh\ 

Viel  tausend*  Jahr'  und  schauen  Sich  an  mit  Liebesweh.  .  . 

Viel  anschaulicher  und  naturgemäfser  — gleich  dem  Goethe*schen  Morgen, 
dessen  Tritte  die  Nacht  verscheuchen  —  ist  die  Beseelung  indem  Liede: 

Sterne  mit  den  goldnen  POfschen  Wandeln  droben  bang  und  sacht, 
'Dais  sie  nicht  die  Erde  wecken,  Die  da  schläft  im  Schoofs  der  Nacht. 

Aber  sofort  wieder  manieriert  heifst  es  weiter:  Horchend  stehn 
die  stummen  Wälder,  Jedes  Blatt  ein  grünes  Ohr!  Und  der  Berg, 
wie  träumend  streckt  er  Seinen  Schattenarm  hervor.  — 

Ernst  und  Trauer  findet  er  selbst  im  Frühling:  Ernst  ist  der  Frühling, 
seine  Träume  Sind  traurig,  jede  Blume  schaut  Von  Schmerz  bewegt,  es 


440  Alfred  Biese. 


bebt  geheime  Wehmut  im  Nachtigallenlaut.  —  Höchst  stimmungsvoll  aber 
ist  das  berühmte: 

Die  Lotosblume  ängstigt  Sich  vor  der  Sonne  Pracht, 
Und  mit  gesenktem  Haupte  Erwartet  sie  träumend  die  Nacht. 
Der  Mond,  der  ist  ihr  Buhle,  Er  weckt  sie  mit  seinem  Licht, 
Und  ihm  entschleiert  sie  freundlich  Ihr  frommes  BlumengesichL 
Sie  blüht  und  glüht  und  leuchtet  Und  starret  stumm  in  die  Höh\ 
Sie  duftet  und  weinet  und  zittert  Vor  Liebe  und  Liebesweh  — 

Doch  wer  möchte  auch  hier  die  Übertreibung  im  Schlufsvers  ver- 
kennen? So  bezaubernd  auch  das  vielgepriesene:  Ein  Fichtenbaum  steht 
einsam  Im  Norden  auf  kahler  Höh\  Ihn  schläfert;  mit  weifser  Decke 
Umhüllen  ihn  Eis  und  Schnee.  Er  träumt  von  einer  Palme,  Die,  fem  im 
Morgenland,  Einsam  und  schweigend  trauert  Aufbrennender  Felsenwand  — 
so  ist  doch  der  Sprung  von  Norwegens  Fichte  zu  der  Palme  im  Morgen- 
land ein  recht  weiter,  die  Beseelung  eine  entschieden  gesuchte. 

Zu  letzteren  gehören:  „Die  Lilie,  die  klagend  hauchen  soll  ein  Lied 
von  der  Liebsten  mein*",  „Die  Rosen  sind  so  blafs,  die  Veilchen  so  stumm"  — 
da  die  Geliebte  ihn  verliefs;  oder:  „Ich  habe  die  Bäume  aus  dem  Schlaf 
gerüttelt,  sie  haben  mitleidig  die  Köpfe  geschüttelt",  oder:  „Der  Wind 
zieht  seine  Hosen  an"  u.  dgl.  m. 

Seine  „Harzreise"  ist  durchweht  von  jener  Stimmung,  die  er  selbst 
also  wiedergiebt:  „Unendlich  selig  ist  das  Gefühl,  wenn  die  Erscheinungs- 
welt mit  unserer  Gemütswelt  zusammenrinnt,  und  grüne  Bäume,  Gedanken, 
Vogelgesang,  Wehmut,  Himmelsbläue,  Erinnerung  und  Kräuterduft  sich 
in  süfsen  Arabesken  verschlingen."  Und  so  leiht  er  sein  Herz  den 
Bäumen  und  Blumen,  Flüssen  und  Wäldern,  an  denen  er  vorüberzieht; 
die  Bäume  sprechen,  die  Sonnenstrahlen  klingen,  die  Wiesenblümchen 
tanzen,  der  blaue  Himmel  umarmt  die  grüne  Erde;  die  rauschenden 
Tannen  verstehen  den  Träumer,  ihre  Zweige  thun  sich  an  einander, 
bewegen  sich  herauf  und  herab,  gleich  stummen  Menschen,  die  ihre 
Freude  bezeigen,  und  die  zischende,  schäumende  Ilse  ist  dem  Dichter 
eine  Prinzessin,  die  lachend  und  blühend  von  Schönheit  den  Berg  hinab- 
läuft: „Wie  blinkt  im  Sonnenschein  ihr  weiises  Schaumgewand!  Wie 
flattern  im  Winde  ihre  silbernen  Busenbänder  1  Wie  funkeln  und  blitzen 
ihre  Diamanten!  Die  hohen  Buchen  stehen  dabei  gleich  ernsten  Vätern, 
die  verstohlen  lächelnd  dem  Mutwillen  des  lieblichen  Kindes  zusehen;  die 
weifsen  Birken  bewegen  sich  tantenhaft  vergnügt,  und  doch  zugleich 
ängstlich  über  die  gewagften  Sprünge"  u.  s.  f. 

Auch  hier  läfst  sich  schwer  die  Grenze  aufweisen,  wo  das  ästhetisch 
Schöne  und  Erhabene  aufhört  und  der  baare  Witz  beginnt!     Am  grofs- 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  modemer  Poesie.  III.  441 

artigsten  tritt  diese  Mischung  von  hochpoetischer  Anschauung  und 
schelmischer  Koketterie  in  den  „Nordseebildern**  hervor  —  oft  bewufst, 
unverhüllt  wie  im  „Sonnenuntergang":  Die  glühend  rote  Sonne  steigt 
Hinab  ins  weit  aufschauernde  Silbergraue  Weltmeer;  Luftgebilde,  rosig 
angehaucht,  Wallen  ihr  nach;  und  gegenüber,  Aus  herbstlich  dämmernden 
Wolkenschleiern,  Ein  traurig  totblasses  Antlitz,  Bricht  hervor  der  Mond, 
Und  hinter  ihm,  Lichtfunkchen,  Nebelweit,  schimmern  die  Sterne  —  Einst 
vom  Himmel  glänzten,  Ehlich  vereint,  Luna,  die  Göttin,  und  Sol,  der 
Gott,  Und  es  wimmelten  um  sie  her  die  Sterne,  Die  kleinen  unschuldigen 
Kinder  — !  — 

Heine  steht  Lenau  am  nächsten;  so  schön  vieles  Einzelne  ist,  so 
gewaltsam  wieder  anderes,  weil  er  das  Spezifische,  die  Objektivität  der 
Erscheinungen  zu  wenig  berücksichtigt  resp.  sie  mit  seiner  Subjektivität 
gleichsam  völlig  aufzehrt.  Seine  düstere  Melancholie  haucht  er  auch  der 
Natur  ein;  das  Klagen,  Seufzen,  Weinen  von  Baum  und  Bach,  von  Luft 
und  Flut  nimmt  kein  Ende.  So  heifst  es  z.  B.  „Vom  Berge  schaut 
hinaus  ins  tiefe  Schweigen  Der  mondbeglänzten  schönen  Sommernacht, 
Die  Burgruine;  und  in  Tannenzweigen  Hinseufzt  ein  Lüftchen,  das  allein 
bewacht  Die  trümmervolle  Einsamkeit,  den  bangen  Laut:  „Vergänglich- 
keit"; oder;  „Und  die  Natur  verstummt,  im  Dämmerlicht  Schwermütig 
ihrem  Tode  nachzusinnen;  Dort,  wo  die  Eiche  rauscht  am  Bergesfufs, 
Wo  bang  vorüberklag^  des  Baches  Welle,*'  oder  „Gleichwie  Nachtlüfte 
Wehmütig  säuseln  Und  Nachtigallen  durch  Gebüsche  klagen**;  oder 
„Komm,  o  Wolke,  weine,  weine  Mir  zu  die  geheimen  Zähren!'*  oder  „Und 
störrisch  klagt  der  trüben  Welle  Gang:  Das  ist  des  holden  Frühlings  Todes- 
stunde!** „Mürrisch  braust  der  Eichwald.**  .  „Und  er  sieht  das  Hüttchen 
trauern.  Hört  davor  die  Linde  schauern  Und  den  Bach  vorüberweinen** 
u.  s.  f.  Es  ist  kaum  ein  Dichter  so  reich  an  Metaphern  und  Beseelungen 
wie  Lenau,  aber  es  ist  charakteristisch  für  seine  —  excentrische  —  Phan- 
tasie, dafs  seine  Vergleiche  und  Bilder  oft  den  Kernpunkt  nicht  treffen 
resp.  unschön  wirken,  indem  sie  Unvergleichbares  zu  einander  in  Be- 
ziehung setzen,  wie  in  demselben  Gedichte,  'die  „Werbung**  „die  Säbel- 
narben, Ehrenröslein,  purpurfarben**  genannt  werden  und  von  dem  Jüng- 
ling es  heifst:  „Er  hört  es  schweigend.  In  die  Schatten  der  Gedanken, 
Die  ihn  bang  und  süfs  umranken  (!),  Still  sein  schönes  Antlitz  neigend*" 
und  vor  allem  erregt  Bedenken  das  sonderbare  Gleichnis:  »Wie  beim 
Sonnenuntergänge  Hier  und  dort  vom  Saatgefild  Still  waldeinwärts 
schleicht  das  Wild:  Also  von  der  Ungarn  Wange  Flüchtet  in  den  Bart 
herab  Still  die  scheue  Männerzähre**! 


442  Alfred  Biese. 


Auch  viele  seiner  Beseelungen  halten  sich  nicht  auf  der  geraden 
Linie  des  Einfach-Schönen,  sondern  sind  gesucht,  reflektiert  und  unnatür- 
lich; wie  wenn  er  vom  Lenz,  dem  schönen  Jungen,  sagt:  „Er  zieht  das 
Herz  an  Liebesketten,  Rasch  über  manche  Kluft  Und  schleudert  Sing- 
raketen (I),  Die  Lerchen,  in  die  Luft"  oder:  „Der  Lenz  hat  Rosen  an- 
gezündet An  Leuchtern  von  Smaragd  im  Dom,  Und  jede  Seele  schwillt 
und  mündet  Hinüber  in  den  Opferstrom"  —  während  von  echter  poetischer 
Anschauung  die  Zeile  zeugt:  „An  ihren  bunten  Liedern  klettert  die 
Lerche  selig  in  die  Luft",  imd  folgende  Schilderung:  „Der  Frühling  ist 
zu  Berg  und  Tal  gekommen.  Sein  Freudenruf  ist  durch  die  Luft  er- 
klungen; Kaum  hat  die  Erd'  im  Schlafe  ihn  vernommen,  Hat  sie  vom 
Traume  sich  emporgerungen,  der  ihren  Busen  deckte  schwer  und  kalt^^ 
Schön  und  voU  unmittelbarster  Naturpoesie  sind  Verse  wie:  „Durch  den 
Wald,  den  dunkeln,  geht  Holde  Frühlingsmorgenstunde,  Durch  den  Wald 
vom  Himmel  weht  Eine  leise  Liebeskunde"  .  . 

Wie  rührend  ist  „die  Bitte",  die  ihm  „die  Wehmut,  die  stille  Freundin 
seiner  Einsamkeit",  eingiebt:  „Weil'  auf  mir,  du  dunkles  Auge,  Übe 
deine  ganze  Macht,  Ernste,  milde,  träumerische.  Unergründlich  süfse 
Nacht  I  Nimm  mit  deinem  Zauberdunkel  Diese  Welt  von  hinnen  mir,  Dafs 
du  über  meinem  Leben  Einsam  schwebest  für  und  für." 

Als  ein  Musterbeispiel  modemer  Naturmythe,  d.  h.  eines  durch  und 
durch  beseelten,  ja  dramatisch  belebten  Naturbildes,  in  welchem  Sturm 
und  Meer  und  Wolken  wie  lebensvolle  Gestalten  auftreten,  kann  die 
„Sturmesmythe"  gelten  mit  den  prächtigen  Strophen: 

Stumm  und   regungslos  in  sich  verschlossen  Ruht  die  tiefe  See  dahingegossen, 

Sendet  ihren  Grufs  dem  Strande  nicht;  Ihre  Wellenpulse  sind  versunken, 

UngespOret  glühn  die  Abendfunken,  Wie  auf  einem  Totenangesicht. 

Nicht  ein  Blatt  am  Strande  wagt  zu  rauschen,  Wie  betroffen  stehn  die  Bäume,  lauschen. 

Ob  kein  Lüftchen,  keine  Welle  wacht?  .  .  . 

Plötzlich  auf  am  Horizonte  tauchen  Dunkle  Wolken,  die  herflberhauchen 

Schwer,  in  stürmischer  Beklommenheit;  Eilend  kommen  sie  heraufge&hren 

Haben  sich  in  angstverworrenen  Schaaren  Um  die  stumme  Schäferin  gereiht. 

Mit  scheuem  Grauen  beugen  sie  sich  nieder  —  Ob  die  alte  Mutter  tot,  die  See? 

„Nein  sie  lebtl  sie  lebtl  der  Töchter  Kummer  hat  sie  aufgestört  aus  ihrem  Schlummer, 

Und  sie  springt  vom  Lager  hoch  empor :  Mutter  —  Kinder  —  brausend  sich  umschlingen 

Und  sie  tanzen  freudenwild  und  singen  Ihrer  Lieb  ein  Lied  im  Sturmeschor. " 

Der  Grundgedanke  ist  durchaus  mythisch,  elementar!  Aber  kein 
griechischer  Name;  alles  ist  völlig  losgelöst  von  jeder  Mythologie  — 
und  doch  wie  plastisch  und  malerisch  zugleich!  Welch  g^ndioses  Bild  — 
diese    sorgende   Liebe  der  Elemente  zu   einander  —  Wolken  und  Meer 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  modemer  Poesie.  HI.  443 

wie  Kinder  und  Mutter  zärtlich  I  Wie  erhaben  ist  die  Ruhe  der  See 
geschildert,  —  der  Wellen  Pulse  haben  aufgehört  zu  schlagen  —  und 
wie  naturwahr  der  Sturm,  in  dem  Wolken  und  Wellen  einen  wilden 
Tanz  aufzuführen  scheinen!  Genug.  Hier  erreicht  der  moderne  Dichter 
deshalb  mehr,  wie  jeder  andke  mit  seinen  Göttermythen,  weil  in  dieser  frei- 
poetischen Beseelung  die  tiefe  Inn^lichkeit  moderner  Anschauung  hindurch- 
zittert, zu  welcher  die  altgriechischen  Dichter  doch  nur  Ansätze  bieten.  — 

Der  modernste  Dichter  der  Modernen  und  nächst  Goethe  der 
gröfste,  den  Europa  in  diesem  Jahrhundert  gesehen,  ist  aber  Byron.  Er 
ist  der  Dichter  der  schrankenlosesten  Subjektivität,  des  leidenschaftlichsten 
Individualismus.  Ein  dämonisches  Genie.  Der  Drang  zur  Freiheit  ist  in 
ihm  ebenso  grofs  wie  zur  Natur,  zur  Einsamkeit,  zur  Melancholie.  Er 
ist  der  erste  ganz  moderne  Naturschwärmer  auf  Reisen;  seine  Schilderungen 
der  gewaltig  erhabenen  wie  der  stillen  friedlichen  Landschaft,  der  im 
Schnee  glänzenden  Alpen  wie  des  friedlichen  Gebirgssees,  des  aufgeregten 
im  Sturme  gepeitschten  Meeres,  wie  der  die  Sonne  blendend  wieder- 
spiegelnden klaren  Fläche  —  tragen  den  Abglanz  einer  das  All  um- 
spannenden Phantasie  und  eines  in  die  tiefen  Gründe  menschlichen  Wesens 
hineindringenden  Scharfblicks.  Aber  so  wild  sein  Leben,  so  schroff  der 
Übergang  von  abgöttischer  Verehrung,  die  ihm  die  englische  Gesellschaft 
zu  teil  werden  liefs,  zu  gemeinstem  Hafs,  der  das  Heiligste  seiner  Seele 
antastete,  so  leidenschaftlich  gesteigert  daher  sein  Empfinden  wurde  und 
zugleich  verbittert,  —  so  wogt  auch  sein  Dichten  auf  und  ab;  immer 
mehr  überwieget  allmälig  die  tragische  Auffassung  des  Lebens,  die  sich 
bald  mit  beifsendem  Hohn  drapiert,  bald  mit  modernem  Weltschmerz,  im 
Grunde  aber  wirklich  tiefe  Schwermut  über  die  Nichtigkeit  und  das 
Elend  alles  Menschlichen  ist.  Die  ästhetische  Naturbeseelung  verleugnet 
auch  diesen  Pessimismus  nicht.  Das  All  spiegelt  sich  in  seinem  Herzen, 
und  ist  dies  auch  wund  und  krank,  zerfressen  von  dem  Wurm  der  Ver- 
zweiflung, „es  ist  ein  Abgrund  der  Tiefe,  in  den  man  hinabsieht,  eine 
Steigerung  des  Seelenlebens,  das  alles  beseelend  in  seinen  Bann  zieht, 
alles  nur  als  Teil  seiner  Selbst  fühlt  und  betrachtet."  — 

Wie  Wellenrauschen  umtönen  den  Leser  die  herrlichen  Rhythmen 
des  Lebewohls  an  sein  Heimatland  im  ersten  Gesang  desChilde  Haröld  I,  12: 

Das    Segel    schwoll,    die    Winde    bliesen    leicht,    Als    trieben    sie    ihn    gern    vom 

Heimatland,  — 
Doch  als  ins  Meer  die  liebe  Sonne  schied,  Griff  er  zur  Harfe,  die  ihn  oft  berauscht  — 
Leb  wohl,     mein   Heimatstrand,  lebwohl,     Das  Meer  hüllt   dich  mir  ein.  Der  Nacht- 
wind seufzt. 
Die  See  geht  hohl,  Und  wilde  Möwen  Schrein.     Die  Sonne   sinkt  ins  Meer  und  wir, 
Wir  folgen  ihrer  Pracht,  Ihr  dieses  Lebewohl  imd  dir,  O  Heimat  gute  Nacht  I 


444  Alfr«d  Biese. 


Wohl  empfindet  er  den  Reiz  des  Lieblichen  —  wie  in  Spanien  I,  33: 
Ein  Silberflüfschen  gleitet  nur  dazwischen  (zwischen  Tal  und  Höhn)  .  .  Hier 
lehnt  am  Stab  der  Schäfer  wie  im  Traum^  Schaut  müfsig  in  der  Wogen 
sanften  Schaum,  die  üriedlich  bittrer  Feinde  Reich  umspülen  .  .  oder  U,  21: 
Der  Mond  geht  auf.  O  schönes  Abendgrauen  I  Lichtströme  tanzen 
auf  der  blauen  Flut  .  .  Beleuchtet  wir<}  von  Lunas  Strahl  Das  Land  der 
schwarzgeaugten  Frau*n  und  Mohren.  Ha!  Wie  sie  am  Strande  von  Hispania 
Auf  Wald  und  Felsen  wirkt  ihr  Strahlenmieder,  Obschon  sich  dunkelnd, 
ihrer  Phase  nah  .  . 

Aber  es  sagt  ihm  doch  die  Natur  in  ihrer  Erhabenheit,  in  der  Wildheit 
des  Zornes  am  meisten  zu.  Str.  37  bekennt  er:  Die  gütigste  der  Mütter 
ist  Natur,  Stets  mild,  und  wechselt  sie  auch  oft  geschwind,  Lafst  schwelgen 
mich  an  ihrem  Busen  nur,  Ihr  nie  entwöhntes,  doch  nicht  liebstes  Kind; 
Wie  schön  selbst  ihre  wilden  Züge  sind.  Wo  Kunst  sie  nidit  entweiht 
auf  ihren  Auen,  Bei  Tag  und  Nacht  war  sie  mir  hold  und  lind,  Wohl 
möcht'  ich  sie  wie  niemand  sonst  erschauen.  Ich  such*  am  liebsten  sie 
in  ihres  Zornes  Grauen.  —  ,Melancholisch'  rauscht  die  Welle  unter  dem 
Bug  des  Schiffes,  —  und  an  dem  Kloster  Zitza  bewundert  er  den  magischen 
Reiz,  den  Fels,  Wald,  Gebirg  und  Strom  zusammenweben  —  ,»Tief  unten 
giebt  des  Stromes  Rauschen  Kunde  Von  Wasserfallen  über  Felsgestein, 
Was  bald  dem  Herzen  Graun  bald  Wonne  mag  verleihn**. 

Es  läfst  sich  Schwerin  Worte  fassen,  wesentlich  nur  nachempfinden,  worin 
der  Zauber  der  Eigenart  auch  in  seinen  Naturbeseelungen  liegt  —  bis 
ins  Einzelne  hinein  ist  nichts  gekünstelt,  sondern  alles  in  der  Anschauung 
gedichtet,  voll  des  feinsten  Sinnes  für  die  Nuancen  des  Naturschönen, 
ob  es  nun  die  Poesie  des  Meeres  oder  des  Waldes  ist  —  wenn  er 
singt  II,  70: 

Hier,  wo  den  Bog^en  formt  Utraikay's  Bucht, 

Die  mOde  Welle  schimmernd  schlafen  geht, 

Welch  braunes  Laub  in  g^ner  Hagelschlucht  I 

Des  Nachts  die  Brust  der  stillen  Bai  umweht, 

Wenn  sanfter  Westwind  leisen  Hauches  fleht 

Und  küfst,  nicht  stört  das  heitre  Blau  der  Wogen  — 

Hier,  wo  als  Gast  willkommen  Harold  steht, 

Wird  mächtig  er  vom  Anblick  hingezogen, 

Indem  er  manche  Lust  der  stillen  Nacht  entzogen. 

Er  verachtet  die  Menschen,  flieht  die  Städte,  um  mit  der  Natur  allein 
zu  sein  —  er  fühlt,  ,er  tauge  zum  Verkehr  mit  Menschen  nicht'  (III,  1 2), 
pantheistisch  weifs  er  sich  eins  mit  seiner  Mutter  Natur,  fühlt  er  sich 
als  Bruder  aller  ihrer  Geschöpfe  in  Wald  und  Feld  — 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  moderner  Poesie.  III.  445 


„Wo  Berge  ragten,  waren  ihm  Verwandte,  Wo  Meere  rollten,  seine 
Heimatsau'n,  Wo  blauer  Himmel  auf  die  Fluren  brannte.  Trieb  Kraft 
und  Neigung  ihn,  das  Land  zu  schau'n.  Wald,  Höhlen,  Wüsten  und  des 
Meeres  Grau'n  War  ihm  Gesellschaft,  Ihre  Schrift  verstand  Er  besser  als 
die  seiner  Heimatsau^n.  Er  tauschte  jedes  Buch  gern,  jeden  Band  Für 
dich  Natur,  wenn  dort  im  See  die  Sonne  schwand.  (III,   1 3). 

„Ich  lebe  nicht  in  mir  allein,  ich  fühle  Mich  einen  Teil  von  dem,  was 
mich  umringt,  Mich  freuen  Bergeshöh'n,  doch  das  Gewühle  Der  Menschen 
ist's,  was  mich  zu  klagen  zwingt.  .  (72)  Sind  nicht  der  Fels,  das  Himmels- 
licht, die  Wogen  Von  mir  ein  Teil,  ein  Teil  von  ihnen  ich? 
Ist's  Liebe  nicht,  was  so  mich  angezogen?  Was  war'  das 
andre,  wenn  ichs  dem  verglich?"  Die  Naturbetrachtung  ist  ihm  — 
wie  Werther  —  Andacht,  Religion.  Allem  in  der  Natur  fühlt  er  sich 
seelenverwandt,  alles  ist  wie  er  selbst  Teil  eines  und  desselben  gött- 
lichen Wesens. 

Auf  den  Schneefirnen  der  Alpen  sieht  er  die  Ewigkeit  tronen. 
Wohl  preist  er  den  Rhein,"  wo  die  Natur  zu  ernst  nicht,  noch  zu  heiter, 
wild,  doch  nicht  rauh,  hehr,  doch  nicht  freudebar,'^  doch  alles  „das  tritt 
zurück  vor  jenen  Alpen  droben!  Paläste  der  Natur,  auf  euem  Spitzen, 
Den  weifsen  Häuptern,  wolkenhoch  erhoben.  Sieht  man  die  Ewigkeit 
erstarrend  sitzen.  Um  welche  rings  die  eisigen  Hallen  blitzen!  Lawinen- 
sturz —  ein  schneeiger  Donnerkeil!  Hier  schwillt  der  Geist,  umstarrt 
von  Felsenritzen,  Und  bebt  zugleich,  es  ragen  jäh  und  steil  die  Gipfel  — 
unten  bleibt  der  Menschen  schwacher  Teil."  — 

Am  Genfer  See  scheint  sich  ihm  von  den  Sternen  ein  stiller  Liebes- 
tau zu  neigen:  „Sie  weinen,  bis  ihr  heller  Glanz  entwich,  Bis  sich  der 
Farben  Geist  ins  Herz  der  Gegend  schlich!  — 

„Ihr  seid  des  Himmels  Poesie,  ihr  Sterne!  .  .  . 

„Rings  Erd'  und  Himmel  stiU!  Doch  schlafend  nicht!  Zwar  stumm, 
doch  so,  wie  wenn  wir  innig  fühlen,  Wie  wenn^s  in  unserm  Innern  mächtig 
spricht!     Rings  Erd'  und  Hinunel  still!" 

So  fühlt  er  am  schweigenden  Strand  das  Wehen  desselben  Geistes, 
der  in  der  eigenen  Brust  wohnt  —  und  im  nächtigen  Meeressturm  jauchzt 
er:  ,»Und  das  ist  eine  Nacht!  glorreichste  Nacht!  Bist  du  gesandt  nur, 
dafs  wir  schlafen  sollen?  Teilnehmer  lafs  mich  sein  der  wilden  Pracht 
Ein  Teil  von  dir  und  Teil  von  Sturmes  Grollen!  Wie  dort  des 
Sees  phosphor'sche  Wellen  rollen!  Wie  tanzend  jetzt  der  Regen  nieder- 
schwebt! Jetzt  schwarz!  —  wie  jetzt  der  Hagel  schallt  vom  tollen  Ge- 
lächter! wie  er  mitzujubeln  strebt.   Als  war'  auch  ihm  es  recht,  dafs  so 

Ztschr.  f.  rg\.  Litu-Geach.  I.  3q 


446  Alfred  Biese. 


die  Erde  bebt!  .  .  Ihr  Stürme  sagt,  wann  endet  eure  Schlacht?     Ob  ihr 
dem  Sturm  in  unserm  Busen  gleichet?"  .  . 

Doch  wie  er  dieselbe  elementare  Macht  der  Leidenschaft,  die  er  in 
seiner  Brust  empfindet,  auch  in  dem  Sturme  ahnt,  so  auch  dieselbe  Qual 
und  Angst  in  der  Natur;  ja  selbst  der  kleine  liebliche  Nemi-See  erscheint 
ihm  „still  wie  verhaltener  Hafs^^  und  die  Caduta  delle  marmore  des 
Velino  unweit  Spoleto  und  Temi  beschreibt  er  also  IV,  69: 

Gebrfill  von  Wassern!    Hoch  vom  Pelsensitf  Kommt  der  Velino  durch  die  Schlucht 

gesaust; 
Ein  Sturz  von  Wassern !  Nieder  schäumt,  wie  Blitz,  die  weifse  Masse,  die  den  Abgrund 

zaust  I 
Hölle  von  Wassern I  Drinnen  heult  und  braust  Und  kocht  die  Flut,  von  ewiger  Qual 

gehetzt; 
Der  Angstschwdls  ihrer  grofsen  Folter  kraust  Sich  um  die  schwarzen  Klippen,  die 

benetzt 
Den  Pfuhl  umstarren,  .ohn*  Erbarmen,  doch  entsetzt.  Und  steigt  zum  Hinunel,  und  vom 

Himmel  rinnt 
Er  wieder  abwärts,  wie  ein  Wolkenschofs,  Und  seine  Regenschauer  sind 
Ein  ewiger  April  för  Laub  und  Moos,  Die  sind  wie  ein  Smaragd.     Wie  bodenlos 
Der  Pfuhll     Wie  rasend  springt  die  Riesenkraft  Von  Block  zu  Block,  und  ihres 

Fufses  Stofs 
Zermalmt  die  Felsen,  die  sie  mit  sich  rafi^,  Bis  dann  im  grausigen  Spalt  der  Schlund 

entgegen  klafil. 

Die  schottische  Hochwaldnatur  hatte  dem  Dichter  schon  in  der 
Jugend  die  Liebe  zu  der  grofsartigen  Gebirgswelt  eingeflöfst  —  wie  er 
selbst  mit  sehnsüchtiger  Erinnerung  bekennt  „die  Insel"  11,  12: 

Was  uns  auch  trenne  von  der  Kindheit  Glfick,  Man  steht  doch  gern  auf  jene  Zeit  zurQck; 
Wen  schon  als  Kind  des  Hochlands  Blau  entzückt,  LiebV  jede  Höh\  die  gleiche  Farbe 

schmflckt, 
Grflfst  jeden  Fels,  wie  man  fiür  Freunde  glüht,  Umarmt  den  Berg  in  liebendem  Gemüt.  — 

Und  niemand  unter  den  neueren  Dichtem  spricht  selbst  deutlicher 
den  Ursprung  aller  Naturbeseelung  aus,  als  Byron,  wenn  er  ebeada 
Str.  16  sie  auf  den  Geist  zurücldfuhrt,  der  eben  in  allem  lebt,  dessen  Mani- 
festationen gleichsam  nur  verschiedene  Gestalt  im  Wald  und  Berg,  im 
Stern  und  Himmel,  in  der  Pflanze  und  —  im  Menschen  angehommen 
haben: 

Wie  oft  vergessen  wir  in  Einsamkeit,  Im  Staunen  herrlicher  Natur  die  Zeit, 
Wenn  aus  dem  Walde,  Wasser,  Flur  und  Licht  Ihr  Geist  zu  uns  so  allgewaltig  spricht: 
Lebt  nicht  der  Berg?  der  Stern?  Und  sind  die  Wogen  nicht  auch  beseelt? 
Hat  nicht  der  Höhle  Bogen  Gefühle,  wenn  er  tropft  in  stillen  Zfthren? 
Gewifsl  sie  locken  uns  in  ihre  Sphären  Und  lösen  vor  der  2^it  des  Staubes  Klois, 
Die  Seele  tauchend  in  des  Weltalls  Schofsl  — 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  modemer  Poesie,  m.  447 


Bei  einem  Pantheismus  von  so  urwüchsiger  Kraft,  von  einer  solchen 
Glut  der  Überzeugung,  der  nicht  etwa  eine  dichterische  Form,  eine  Um- 
kleidung einer  momentanen  Idee,  sondern  —  sagen  wir  —  poetisches 
Glaubensbekenntnis  ist,  leuchtet  wenigstens  die  Grundwahrheit  ein,  dafs 
all  unser  Fühlen  und  Denken,  wie  es  sich  auf  die  Aufsenwelt  erstreckt, 
auf  einer  Spiegelung  unserer  selbst  beruht.  Es  ist  im  Grunde  genommen 
dasselbe,  ob  wir  sagen:  Sind  alle  Dinge  nicht  belebt?  Fühlt  nicht  der 
tropfende  Fels  oder  der  schäumend  (vor  Zorn)  sich  herabstürzende  Quell? 
oder  ob  wir  sagen:  Es  ist  dem  Menschen  eingeboren,  dafs  er  alles  be- 
leben mufs,  wenn  es  ihm  in  seinem  Grundwesen  verständlich  werden  soll, 
er  mufs  ihm  seine  Seele  leihen,  wenn  er  es  begreifen  soll.  Es  ist  das- 
selbe, ob  wir.  formulieren:  Die  Dinge  nötigen  uns,  in  ihnen  ein  gleiches 
(verhülltes)  Seelenleben  vorauszusetzen,  oder:  Wir  können  von  uns  selbst 
nicht  abstrahieren,  sondern  müssen  unser  Ich  zum  Mafsstabe  aller  Dinge 
machen.  Aber  auch  das  ist  eine  notwendige  Folge  aus  dieser  Thatsache, 
die  bei  einer  so  ausgeprägten  Individualität,  wie  die  Byron*s  ist,  besonders 
klar  hervortritt:  Wenn. Mensch  und  Welt,  wenn  Geist  und  Natur  nicht 
in  ihrem  innersten  Wesen  etwas  Verwandtes  hätten,  wenn  nicht  ein 
inneres  Band  sie  verknüpfte,  ja  sagen  wir  ein  Geist  sie  belebte  (mag 
man  diesen  sich  immanent  oder  transcendent  denken  —  die  Poesie  ist 
keine  Theologie!),  würde  eine  solche  Wechselbeziehung  unmöglich  sein. 
Der  Dichter  vollzieht  die  Gleichung  zwischen  Objekt  und  Subjekt,  für 
ihn  existiert  die  Welt  nur  in  Bezug  auf  ihn,  auf  sein  Gemüt  —  ja,  nicht 
die  kleinsten  von  ihnen  sind  Pantheisten  gewesen.  Sie  fühlen  die  Dinge 
als  ein  Teil  ihrer  selbst  —  weil  ein  Teil  ihrer  Seele  in  sie  hinüber- 
geleitet wird  —  und  sich  selbst  als  ein  Teil  der  Dinge.  „Sind  die  Sterne 
nicht  ein  Teil  von  mir  und  ich  von  ihnen?"  Die  Beseelung  ist  die  natur- 
gemäfse  Folge  solcher  Betrachtungsweise.  Natur  und  Seele  sind  zwei 
gleichgestimmte  Instrumente;  ein  Geist  spielt  in  ihren  Saiten  —  und  wer 
will,  es  leugnen,  dafs  die  Melodien,  die  er  beiden  zugleich  entlockt,  zu 
dem  Schönsten  der  Poesie  gehören  —  und  femer,  dafs  die  Art  der 
Durchgeistigung  der  Natur  einen  Mafsstab  für  das  Können  der  Dichter 
ist  —  denn  sie  ist  bei  den  gewöhnlichen  konventionell,  sie  konmien 
über  lachen,  seufzen,  stöhnen,  klagen,  weinen  nicht  hinaus,  —  und  bei  den 
gottbegnadeten  Genies  trägt  sie  den  Stempel  der  Individualität,  wie  in 
so   hohem    Grade   bei    Goethe    und    bei    Byron.  — 

Die  Naturphantasie  Shelleys,  des  im  Leben  so  viel  geschmähten,  nach 
dem  Tode  erst  als  gröfsten  Lyriker  Englands  anerkannten  Freundes  Byrons, 
ist  nicht  minder  pantheistisch,  ja  man  hat  sie  „kosmisch"  nennen  können  — 

30* 


448  Alfred  Biese. 


denn  die  schönsten  seiner  Lieder  sind  den  Wolken  und  Winden  gewidmet 
Byron  wird  vornehmlich  durch  das  Grofsartige  und  zugleich  Wilde  in  der 
Natur  gefesselt,  Shelley,  dessen  Blick  auch  in  die  Weiten  imd  Femen 
des  Weltenraumes  schweift,  liebt  die  Natur  mehr  in  ihrer  heiligen  ^n- 
falt  und  stillen  Gröfse.  Vielleicht  hat  sich  kein  Dichter  so  berauscht  an 
dem  Anblick  der  Natur  wie  Shelley,  kaum  jemand  das  Meer  so  heifs 
geliebt  wie  er  — 

Die  Sonn'  ist  warm  und  stille  die  See,  Mit  Lächeln  blickt  der  Himmel  drein, 
Der  Inseln  Blau,  der  Berge  Schnee  Umkränzt  der  goldne  Abendschein  .  . 
Wie  Stemenflut,  der  Wellen  Blau  hinplätschert  leis  zum  Uferrand  .  . 
Der  Flut  entblitzt  wie  leuchtend  Erz  Ein  Funkeln,  und  im  Abendbrand 
Entsteigt  ein  Klingen  uferwärts  .  .  Ja,  hier  ist  selbst  Verzweiflung  lind; 
Ein  Leben  voll  Verdrufe,  Das  ich  ertrug  und  tragen  mufe, 
Bis  mir  der  Tod  den  Schlummer  bringt,  Bis  in  der  Lfif^e  warmem  Guls 
Mein  Geist  ins  weite  All  verklingt   Und   meinem  Ohr  das  Meer  sein  letztes  Murmeln 

singt.*) 

So  schrieb  er  am  Golf  von  Neapel.  Es  sollte  Wahrheit  werden, 
in  den  Armen  des  Meeres  sollte  er  sterben,  und  am  Meeresstrande  liefs 
Byron  die  irdischen  Überreste  des  grofeen  Dichters  verbrennen.  Die 
Natur  war  seine  Geliebte,  die  Natur  sein  Gott.  In  schönen  Worten  kenn- 
zeichnet er  selbst  einmal  des  Menschen  unwiderstehlichen  Drang  nach 
Sympathie  und  sagt  dann,  aus  eigenster  bitterster  Erfahrung,  er,  der 
Verfemte  —  „daher  kommt  es,  dafs  wir  in  dem  verlassenen  Zustande, 
wo  wir  von  Menschen  umring^  sind  und  doch  diese  nicht  mit  uns  sym- 
pathisieren, Blumen,  frisches  Grün,  das  Wasser,  den  Himmel,  die  Bered- 
samkeit des  Windes  und  die  Melodie  der  Wogen  mit  einem  Entzücken 
gleich  demjenigen  lieben,  mit  dem  wir  der  Stimme  einer  Geliebten  lauschen, 
deren  Gesang  für  uns  allein  ertönt."  Pflanzen  und  Tiere  nennt  er  seine 
geliebten  Brüder  und  Schweistern,  „sein  Puls  pocht  in  geheimnisvoller 
Sympathie  mit  dem  Pulse  der  Natur."  Auf  dem  Grabstein  zu  Rom  setzte 
seine  Gattin  unter  den  Namen  des  Geliebten  nur  die  Worte  Cor  cordium. 
Mit  Recht,  auch  in  seinem  Verhältnis  zur  Natur.  Er  fühlte  sein  eigen 
Herz  eins  mit  dem  Herzen  der  Welten,  mit  dem  Geist  des  Alls;  sein  Herz 
vibrierte  auf  das  Sensibelste  mit  —  mochte  er  nun  die  fernen  Welten 
der  Sterne  betrachten  und  das  Blitzen  derselben  zu  ihm  hinableuchten, 
oder  mochte  er  im  Boote  liegend  sich  schaukeln  lassen  von  den  Wellen 
und  ihren  geheimnisvollen  Melodien  lauschen.  Er  leiht  sein  ganzes,  für 
die  Menschen  und  die  Welt  so  heifs  schlagendes  Herz  der  Wolke,  wenn 
er  in  seinem  herrlichen  Gedichte    ihre    segnende    Macht    schildert,    und 


*)  Vergl.  Brandes,  Hauptströmungen  der  Litteratur  des  19.  Jahrhunderts  IV,  340. 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  modemer  Poesie,  m.  449 


seine  ganze  geniale  Lebensfrische,  wenn  er  ihre  verschiedenen  Daseins- 
phasen ausmalt,  mit  einer  Kraft  der  Beseelung,  die  an  dramatischer 
Lebendigkeit  wie  auch  an  intensiver  Detailzeichnung  die  Sturmesmythe 
Lenau*s  noch  weit  übertrifft: 

Der  Gewässer  Segen  giels'  ich  im  Regen  Auf  den  dürstenden  Blütenbaum,  . 
Werf*  leichte  Schatten  auf  schlummernde  Matten  In  ihrem  mittäglichen  Traum. 
Ich  schüttle  die  Schwingen;  den  Morgeng^is  bringen  Die  tauigen  den  Vögeln  all, 
Die    in  Schlummers  Wiegen  an  der  Mutter  Brust  liegen,    Wenn   sie  tanzt  um  den 

Sonnenball. 
Auf  weifsem  Rosse,  des  Hagels  Geschosse,  Reit*  ich  durchs  grüne  Feld; 
Dann*  send*  ich  sie  wieder  im  Regen  nieder  Und  lache,  zum  Donner  gesellt. 
Ich  siebe  die  Flocken  auf  der  Berge  Locken,   Und  die  Fichte  schauert  und  kracht; 
Von  Windsann  umkettet  und  schneeweifs  gebettet,  So  schlaf  ich  die  ganze  Nacht . . 
Ich  gürte  der  Sonne  die  brennende  Zone  Und  dem  Monde  das  Perlengewand; 
Vulkane  verglimmen  und  Sterne  verschwimmen,  Nimmt  der  Sturm  mein  Panier  in 

die  Hand. 
Von  Kap  zu  Kap  schlage  die  Brück*  ich  und  tage  Gewölbt  über  strömendem  Meer; 
Bin  fest  vor  den  Pfeilen  der  Sonn*  und  zu  Säulen  Nehm*  ich  die  Gebirge  umher. 
Des  Luftreichs  Götter,  Schnee,  Feuer  und  Wetter,  Unter  meinen  Wagen  gebracht. 
So  komm*  ich  gezogen  durch  den  Ehrenbogen,  Den  Bogen  von  buntester  Pracht, 
Den  die  Lichter  der  Sphären  in  Farben  verklären,  Wenn  die  trunkene  Erde  lacht.  — 
Bin  von  Wasser  und  Erde  die  Tochter  und  werde  Gesäug^t  von  dem  himmlischen  Licht; 
Ich    dring*    durch   die  Röhren   von  Ländern   und  Meeren,    Ich  wechsle,   doch  sterb 

ich  nicht. 
Wenn  der  Regen  vergangen  und  im  reinsten  Prangen  Sich  öffnet  das  Himmelsgezelt 
Wenn  die  Winde   erschlossen,   samt   den  Sonnengeschossen,   Das  azurne  Lufischlofs 

der  Welt  — 
Meinem  Sarge,  dem  leeren,  dann  lach*  ich  zu  Ehren  Und  wie  Kinder  aus  Mutterschois, 
Wie  aus  Grabesschois  Seelen,  entschlüpf  ich  den  Höhlen  Des  Dampfs  und  zerstöre 

das  Schlois.*) 

So  grandios  und  stolz  in  diesen  Zeilen  die  Wolke  dargestellt  wird, 
so  friedlich  und  still  in  anderen  wieder,  „wenn  sie  sich  in  ihrem  Neste 
zusammenschmiegt,  da  der  scharlachne  Mantel  des  Abends  vom  Himmels- 
gewölbe herabfallt  und  das  helle  Meer  drunten  sein  brennendes  Sehnen 
nach  Ruhe  und  Liebe  ausathmet.^ 

Wie  nahe  Shelley  in  solchen  ^kosmischen*  Gedichten  der  mytholog^ischen 
Naturanschauung  kommt,  springt  in  die  Augen.  Mit  Recht  sagt  Brandes 
a.  a.  O.:    ,Wenn    die  Wolke   von  jener  in  weifse  Flammen   gekleideten 


♦)  Die  Übersetzung,  welche  ich  der  Sammlung  English  Poets  etc.  Leipzig,  1856  ent- 
nehme, zeigt  in  ihren  unvermeidlichen  Schwächen  recht,  wie  unmöglich  fast  es  ist,  Shelley*s 
Dichtungen  wiederzugeben;  bei  einem  so  sensitiven  Fühlen  und  so  individuellen  Ausdruck 
ist  der  Schmelz,  der  über  den  Originalen  liegt,  unübertragbar. 


450  Alfred  Biese. 


Jungfrau  spricht,  welche  die  Sterblichen  den  Mond  nennen,  die  über 
ihren  flockigen  Teppich  blinkend  dahin  gleitet,  und  deren  unsichtbare 
Füfse  mit  leichten  Tritten,  die  nur  die  Engel  vernehmen,  das  Gewebe 
ihres  dünnen  Zeltdachs  durchbricht,  oder  wenn  sie  von  dem  blutigen 
Sonnenaufgange  mit  den  Meteor- Augen  singt,  so  hat  der  Dichter,  vermöge 
der  Urfrische  seiner  Phantasie,  den  Leser  in  die  Zeit  zurückversetzt, 
wo  die  Naturerscheinungen  sich  in  voller  Neuheit  zu  Mythologien 
gestalteten." 

Auch  in  dem  herrlichsten  seiner  Gedichte,  in  der  „Ode  an  den  West- 
wind", tritt  diese  dem  Mythus  so  verwandte  Nafcurbetrachtung  hervor,  wenn 
er  den  Westwind  anredet  (c.  2):  „Du,  dessen  Strom  am  wetterdunklen 
Himmel  Zerrissene  Wolken,  Blätter  vom  Gezweig  des  Weltbaums  trägt,"  und 
von  den  Locken  des  Sturmes  spricht,  welche  über  das  lustige  Azurfeld  flattern, 
wie  das  lichte  Haar,  das  sich  auf  dem  Haupte  einer  zornigen  Mänade  sträubt! 
Er  nennt  ihn  des  Herbstes  Atemzug,  den  Fuhrmann,  der  das  tote  Laub, 
die  rote,  schwarze,  gelbe  Schar,  den  Raub  des  Fiebers  und  der  Pest, 
dahinfegt  und  sie  zudeckt  wie  kleine  Leichen  .  .  Ihn  ruft  er:  „Höre  mich, 
o  höre,  der  dich  ruft!"  Er  fühlt  sich  dem  Geist  des  Windes,  der  belebt 
und  zerstört,  verwandt  und  vertraut: 

War  ich  ein  totes  Blatt,  von  dir  entrückt, 
Flog*  ich  als  Wolke  schnell  mit  dir  dahin, 

Nahm*  ich  als  Woge,  schwer  von  dir  gedrückt, 
Auch  deiner  Triebkraft  Anteil  zum  Gewinn, 

So  frei  fast,  Ungezügelter,  wie  du  .  . 

Und  von  welcher  Poesie  der  Anschauung,  von  welcher  Wehmut  sind 
die  Schlufsstrophen  durchdrungen: 

Mach*  mich  zu  deiner  Harfe  gleich  dem  Wald, 
Ob  auch  mein  Laub  muis  fallen  wie  das  seine! 
Durch  beide  dann  mit  mächtigem  Brausen  schallt 
Ein  Lied  von  herbstlich  tiefem  Ton,  das  deine, 
Voll  süfser  Wehmut.     Geist  voll  wilder  Macht 
Sei  du  mein  Geist,  dein  Ungestüm  der  meine! 
Treib  durch  die  Welt,  was  sterbend  ich  gedacht, 
Gleich  welkem  Laub,  zu  fördern  neues  Werde; 
Und  lafs,  wie  Asche,  blasend  angefacht 
In  Funken  sprüht  vom  unerloschnen  Herde, 
Mein  Wort  vernehmen  Jülich  Menschenkind  I 
Prophetisch  sei  der  unerweckten  Erde 
Durch  mich  dein  Hall!  Wenn  Winter  naht,  o  Wind 
Ob  denn  noch  fern  des  Frühlings  Tage  sind?   — 


r 


Die  ästhetische  Naturbeseeluog  in  antiker  und  moderner  Poesie,  m.  451 

Shelley  und  Byron  sind  die  gröfsten  Lyriker  Englands,  gehen  wir 
nach  Frankreich  hinüber  und  prüfen  wir  die  lyrischen  Gedichte  der 
beiden  gefeiertsten  Poeten  am  Anfang  dieses  Jahrhunderts,  Lamartine^s 
und  Victor  Hugo 's.  Rousseau  hatte  für  Frankreich  die  landschaftliche 
Schönheit  entdeckt,  denn  was  vor  ihm  in  Lyrik  und  Epos  und  Drama 
von  Land  und  Meer,  von  Berg  und  Tal  und  Flufs  und  See  gesungen, 
war  entweder  kühl  rhetorisch,  konventionell  oder  süfslich  idyllisch, 
oft  tändelnde  Nachahmung  der  Antike  —  wie  bei  Ronsard.  Aber  seit 
dem  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  blühen  die  Blumen,  grünen  die 
Wiesen,  tobt  das  Meer  oder  lacht  die  Flut,  schimmern  im  Gletscherschnee 
die  Alpen  —  in  der  französischen  Lyrik  nicht  minder  bedeutungsvoll 
wie  in  denen  der  anderen  Nationen.  Auch  hier  ist  die  Art  der  ästhetischen 
Natiu-beseelung  charakteristisch  für  die  einzelnen  Poeten.  Nach  den 
Stürmen  der  grofsen  Revolution,  die  mit  der  Religion,  wie  mit  allen 
sonst  Bestehenden  so  radikal  aufgeräumt  hatte,  trat  die  Reaktion  hervor  — 
das  Christentum  zog  mit  neuer  Kraft  und  Wärme  in  die  Herzen  ein,  eine 
gesteigerte  Innerlichkeit  herbeiführend  —  ich  denke  an  Chateaubriand  — , 
und  die  Lyriker  werden  nicht  müde,  die  Natur  als  Spiegelbild  der  grofsen 
Schöpfungsgedanken  Gottes  zu  preisen.  Darnach  bestimmt  sich  auch  ein 
wesentliches  Ingredienz  der  Naturbeseelung. 

Lamartine  ist  ein  sentimentaler  Träumer,  für  den  oft  das  Wort  nicht 
ausreicht,  um  seine  hochfliegenden  Gedanken  wiederzugeben,  die  sich  in 
das  Unsagbare,  Nebelhafte  der  Empfindung  verlieren.  Er  versenkt  sich 
mit  Andacht  und  Wehmut  in  die  Natur;  der  Abend,  die  Mondscheinnacht 
sind  die  weihevollsten  Zeiten  für  seine  „Meditations. ""  Dann  sucht  er  die 
Abgeschiedenheit,  die  Einsamkeit  (No.  I,  Tisolement),  läfst  seinen  Blick 
über  die  Ebene  schweifen:  „hier  braust  der  Flufs  mit  schäumenden  Wogen, 
schlängelt  sich  dahin  und  verliert  sich  in  die  dunkle  Feme,  dort  dehnt 
der  unbewegliche  See  seine  schlummernden  Wasser  —  la  le  lac  immobile 
etend  ses  eaux  dormantes  —  da  taucht  der  dunstige  Wagen  der  Königin 
der  Schatten  auf  —  die  Nacht  steigt  herauf^  .  .  .  Eine  ähnliche  Situation 
malt  die  vierte  Betrachtung:  „Der  Abend  fuhrt  die  Stille  herauf,  der 
Wagen  der  Nacht  rückt  näher,  der  Abendstern  wirft  seinen  geheimnis- 
vollen Schein  auf  die  Wiesen  —  im  dunkeln  Laub  der  Buche  höre  ich 
die  Zweige  schaudern  (frissonner),  ein  Strahl  des  nächtlichen  Gestirns 
streift  lind  meine  schweigende  Stirn"  —  „süfser  Wiederschein  einer  Flammen- 
kugel, was  willst  du?  Willst  du  Licht  tragen  in  meinen  Busen?  Steigst 
du  herab,  mir  zu  enthüllen  das  göttliche  Geheimnis  der  Welten?^  u.  s.  f 
Das  Sternenlicht  sieht  er  im  Dunkel  der  Nacht  wie  den  einzigen  Genossen 


452  Alfred  Biese. 


an,  verkehrt  mit  dem  freundlichen  Strahl  wie  mit  einem  Freund,  wie  mit 
einem  Boten  Gottes. 

Voll  Wehmut  der  Erinnerung  an  schön  vergangene  Stunden  ist 
No.  Xni;  er  fragt  den  See,  ob  er  noch  sich  erinnere,  wie  er  mit  der  Ge- 
liebten auf  seinen  Wogen  im  Schweigen  gerudert  —  „nur  die  Schlage  der 
Ruder,  die  deine  melodischen  Wellen  (tes  flots  harmonieux)  trafen,  waren 
vernehmbar;  da  sprach  sie,  die  Teure  —  und  die  Welle  ward  aufmerk- 
sam (le  flot  fut  attentif);  sie  möchte  die  Nacht  aufhalten,  den  Anbruch 
des  Morgens  verzögern  —  ... 

O  lac!  rochers  muets!  grottes!  for^ts  obscures!  .  . 
Gardez  de  cette  nuit,  gardez,  belle oature  Au  moins  le  souv^nir! 
Qu*il  soit  dans  ton  repos,  qu*il  soit  dans  tes  orages, 
Beau  lac,  et  dans  Taspect  de  tes  riants  coteaux  .  .  . 
Que  le  vent  qui  gcmit,  le  roseau  qui  soupire, 
Que  les  parfums  l^gers  de  ton  air  embaum^, 
Que  tout  ce  qu^on  entend,  Ton  voit  ou  Ton  respire, 
Tout  dise:  üs  ont  alm^l 

So  zieht  er  die  Natur  zum  Mitgefühl  heran,  und  von  selbst  ergeben 
sich  durch  diese  sympathetische  Naturbetrachtung  die  Beseelungen.  Von 
echtem  religiösen  Naturgefuhl,  das  den  Erscheinungen  die  Sprache  des 
Rühmens  und  Preisens  ihres  Schöpfers  leiht,  zeugt  Med.  XVI  ,1a  priere*: 
^Der  glänzende  König  des  Tages  steigt  herab  von  seinem  Siegeswagen, 
die  leuchtende  Wolke  bewahrt  in  Streifen  Goldes  seine  Spur  am  Himmel 
und  übergiefst  mit  Purpurschein  den  Raum,  .  .  der  Mond  schwebt  herauf, 
seine  bleichen  Strahlen  ruhen  auf  dem  Rasen  (ses  rayons  affaiblis  dorment 
sur  le  gazon),  und  der  Schleier  der  Nacht  breitet  sich  über  die  Berge** 
—  und  mit  schönen  schwungvollen  Worten  fahrt  er  fort: 

C*est  rheure  oü  la  nature,  un  moment  recueillie, 
Entre  la  nuit  qui  tombe  et  le  jour  qui  s^enfiiit, 
S^^l^ve  au  createur  du  jour  et  de  la  nuit, 
Et  semble  ofirir  ä  Dieu,  dans  son  brillant  langage, 
De  la  creation  le  mag^nifique  hommage, 
Voilä  le  sacrifice  immense,  universell 
L^univers  est  le  temple  et  la  terre  est  Tautel, 
Les  cieux  en  sont  le  d6me  .  . 

Aber  der  Dichter  weifs:  Erst  unsere  Intelligenz  verleiht  der  Natur 
die  Seele,  La  voix  de  Tunivers  c'est  mon  intelligence.  Sur  les  rayons 
du  soleil,  sur  les  ailes  du  vent  Elle  s'eleve  a  Dieu  .  . 

Ein  andermal  (XXI)  ist  solche  Abendstunde  für  ihn  die  Stunde  der 
Melancholie  —   selbst    in  die  Naturstimmung  überträgt  er  sie:     „Vois-tu 


Die  ästhetische  Naturbeseelung  in  antiker  und  moderner  Poesie.  HI.  453 


comme  le  flot  paisible  Sur  le  rivage  vient  mourir?  Vois-tu  le  volage 
Zephyr  Rider  d'une  baieine  sensible,  L'onde  qu'il  aime  parcourir?  .  .  Au 
soin  de  Tonde  fremissante  Je  trace  un  rapide  sillon  .  .  .  Schweigen  er- 
greift die  Lüfte,  das  ist  die  Stunde,  wo  die  Melancholie  nachdenklich 
sich  sammelt  an  den  schweigenden  Gestaden  des  Meeres,  nachsinnend 
auf  Ruinen^  u.  s.  f. 

Die  Schwermut  des  eigenen  Herzens  überträgt  er  auch  auf  die  Natur, 
im  Herbst,  Med.  XXIX:  Salut  1  bois  couronnes  d'un  reste  verdure!  .  . 
le  deuil  de  la  nature  Convient  ä  la  douleur  et  plait  ä  mes  regards. 

Die  Natur  liebt  er  wie  seinen  Freund,  ihr  Sterben  ist  ihm  das 
Scheiden  eines  Freundes  —  la  nature  expire  .  .  c'est  Tadieu  d'un  ami, 
c'est  le  dernier  sourire  Des  levres  que  la  mort  vu  fermer  pour  jamais. 

Die  Sterne  sind  seine  lieben  Gefährten  in  der  Einsamkeit,  XXXIV, 
vous  brillantes  soeurs  .  .  mes  compagnes  .  .  Vos  rayons  m'apprendraient 
ä  louer  celui  .  .  que  vous  voyez  peut-etre. 

Er  leiht  den  Sternen  auch  Gefühl:  Et  voyant  dans  mon  sein  ses 
tremblantes  clartes  Je  sentirais  en  lui  tout  ce  que  vous  sentez! 

In  Ischia  (XXXIX)  sieht  er  den  Mond  die  Wellen  mit  seinem  silbernen 
Lichte  überfluten,  die  Strahlen  ruhen  in  den  Tälern  (dormir  dans  les 
vallons),  und  das  Wellenmurmeln  erscheint  ihm  so  süfs  wie  das  Atmen 
eines  träumenden  Kindes  —  doux  comme  le  soupir  d'un  enfant  qui 
sommeille,  Un  son  vague  et  plaintif  se  repand  dans  les  airs  .  .,  Mörtel,  , 
Re^ois  par  tous  les  sens  les  charmes  de  la  nuit!  —  Der  Gedanke  an  die 
Vergänglichkeit,  die  das  Loos  alles  Irdischen  ist,  durchbebt  auch  die 
Natur,  die  \Yelle,  welche  das  Ufer  küfst,  das  Rohr  an  dem  Ufer,  klagen 
und  seufzen  QCLVI)  .  ,  L'onde  qui  baise  ce  rivage'  De  quoi  se  plaint-elle 
ä  ses  bords?  Pourquoi  le  roseau  sur  la  plage,  Fourquoi  le  ruisseau 
sous  Tombrage  Rendent-ils  de  tristes  accords?  De  quoi  gemit  la  tourterelle?  . 
Tout  nait,  tout  paise  .  .  . 

Das  Meer  liebt  er  wie  einen  Genossen  aus  der  Jugendzeit  L  (I), 
wie  eine  treue  Geliebte  (une  amante  fidele),  von  seinen  Wellen  läfst  er 
sich  schaukeln  (Berce  cet  enfant  qui  t'adore);  er  liebt  es,  wenn  unter  dem 
Hauch  des  Zephyrs  das  Ufer  zu  lächeln  scheint  und  —  quand  le  vent 
caresse  Ton  sein  mollement  agitd  — 

Vient  donner  le  baiser  d^adieux;  Roule  autour  une  voix  plaintive, 
Et  de  r^cume  de  ta  rive  Mouille  encore  mon  front  et  mes  yeux.  .  . 

Eine  so  träumerische  Naturbetrachtung,  die  ein  so  herzliches  Ver- 
hältnis zur  Natur  und  somit  auch  eine  so  intensive  Beseelung  hervorrief, 
war  in  früheren  Jahrhunderten    in   Frankreich    nicht    zu  finden  gewesen. 


464  Alfred  Biese. 


seit  Rousseau  aber  ist  das  Eis  durchbrochen  und  ein  warmer  Strom  voll 
Leben  und  Empfindung  hat  sich  auch  in  der  französischen  Poesie  über 
die  Natur  ergossen;  der  Lyriker  verkehrt  mit  ihr,  wie  mit  einem  Bruder, 
wie  mit  einem  Freunde  oder  wie  mit  einer  Geliebten.  —  In  Deutschland 
und  England  war  der  Pantheismus,  in  Frankreich  der  Theismus  die 
Geburtsstatte  einer  seelenvollen  Naturanschauung.  Das  zeigt  auch  Victor 
Hugo ,  der  sonst  weit  plastischer  und  klarer  als  der  weiche,  schwärmerische 
Lamartine  ist,  in  den  schönsten  seiner  Gedichte,  in  den  Feuillcs  d*automne. 
Er  ist  ein  echter  Lyriker,  er  kennt  die  geheime,  stille  Sprache  der 
Natur  und  —  das  Wesen  und  das  Elend  der  Menschen.  Von  Faustischem 
Geiste  durchweht  ist  das  schöne  Gedicht  (No.  V)  Ce  qu*on  entend  sur 
la  naontagne.  Ein  Dichter  sieht  und  hört  mehr  als  gewöhnliche  Sterb- 
liche. Victor  Hugo  erzählt,  einst  sei  er  auf  den  Gipfel  eines  Berges  ge- 
st Liegen,  unter  sich  auf  der  einen  Seite  die  Erde,  auf  der  anderen  das 
^^vleer,  und  da  habe  er  eine  Stimme  gehört,  wie  sie  sonst  niemals  einem 
Munde  entströmt  oder  an  ein  Ohr  dringt,  in  dem  gewaltigen  Gebrause 
habe  er  zwei  Stimmen  unterschieden,  —  und  nun  prefst  er  gleichsam  die 
Fülle  der  Natureindrücke  mit  ihrem  Frieden  und  ihrer  Schönheit  in  einem 
Laut  zusammen: 

L'une  venait  des  mers,  chant  de  sloire!  hymne  heureuz! 

L*etait  la  voix  des  flots,  qui  se  parlaient  entre  eux  — 

Or  .  .  Tocean  magnifique  ^pendait  une  voix  joyeuse  et  pacifique, 

Chantait  comroe  la  harpe  aux  temples  de  Sion 

Et  louait  la  beautc  de  la  cr^ation. 

Dagegen  die  andere  Stimme!  Pleurs  et  cris!  l'injure,  Tanatheme  .  . 
C'etait  la  terre,  et  Thomme,  qul  pleuraienti  Lune  (voix)  disait:  Nature! 
et  Tautre:  Humanite!    - 

Ein  Gedanke  voll  Erhabenheit  und  Tiefe  —  und  zugleich  wie  schön 
sind  die  Beseelungen  der  Wellen,  des  Meeres,  dieses  Sinnbildes  aller 
Naturschönheit.  —  Das  Meer  und  der  Sternenhimmel  gelten  ihm  als  das 
Erhabenste  in  der  Welt  und  was  am  deutlichsten  die  Gröfee  des  Schöpfers 
dokumentiert.  Es  erinnert  an  Augustin,  wenn  er  auf  die  Frage  der  übrigen 
Wesenheiten,  das  Meer  und  den  Himmel  bekennen  läfet,  dafs  Gott  der 
Herr  sei,  in  den  schönen  Strophen: 

J'6tais  seul  pris  des  flots  par  une  nuit  d^etoiles,  Pas  un  nuage  aux  cieux,  sur  les  mers 

pas  de  volles, 
Et  les  bois  et  les  monts  et  toute  la  nature  Semblaient  interroger  dans  confus  murmure 
Les  flots  des  mers,  les  feux  du   ciel. 


Die  ästhetische  Naturbeseeluog  in  antiker  und  moderner  Poesie.  III.  455 

Et  les  ^tolles  d'or,  legions  infinies,  A  votx  haute,  ä  voix  basse,  avec  mille  harmonies, 
Disaient  en  inclinant  leurs  couronnes  de  feu,  Et  les  flots  bleus,  que  rien  gouverne  et 

n*arrete, 
Disaient  en  reconrbant  T^cume  de  leur  crete:  —  Cest  le  Seigneur  Dieu,  le  Seigneur 

Dieu! 

Überhaupt  übt  auf  ihn  der  Sternenhimmel  den  gröfsten  Zauber  aus 
f.  XXI:  Parfois,  lorsque  tout  dort,  je  m'assieds  plein  de  joie  Sous  le 
döme  etoile  qui  sur  nos  fronts  flamboie  .  .,  er  hört  dann  Stinunen  aus 
der  Höhe,  von  den  fernen  fremden  Welten,  es  entzückt  ihn  das  glänzende 
Schauspiel,  das  die  Sterne  geben,  der  leuchtende  Himmel,  welcher  der 
Welt  die  Nacht  giebt  —  und  wie  der  Mensch  niemals  es  lassen  kann, 
alles  auf  sich  selbst  zu  beziehen,  bekennt  er:  Souvent  alors  j'ai  cru  .  . 
Que  j'etais,  moi,  vaine  ombre  obscure  et  taciturne,  Le  roi  mysterieux 
de  la  pompe  nocturne;  Que  le  ciel  pour  moi  seul  s'etait  illumincl  — 

Victor  Hugo  ist  sich  selbst  sehr  wohl  bewufst,  dafs  auch  von  den 
Dichtern  nicht  alle  die  Natur  so  zu  interpretieren  verstehen  wie  er,  er 
weist  (No.  XXXIII)  an  diese  ewig  strömende  Quelle  der  Schönheit  und 
spricht  zugleich  in  treffendster  Weise  die  Grundbedingung  aller  Freude, 
alles  Genusses  an  der  Natiu",  und  somit  auch  der  sympathetischen  Natur- 
beseelung aus  —  nämlich,  dafs  man  selbst  Ideen  und  Geist,  Gemüt  und 
Stimmung  in  Beziehung  setzen  mufs  zu  der  Natur,  um  die  Stumme  reden, 
die  Tote  belebt  zu  machen: 

Si  vous  avez  en  vous,  Vivantes  et  pressees, 
Un  monde  intörieur   dMmages,  de  pensees, 
De  sentimenSf  d^amour,  d*ardente  passion, 
Pour  feconder  ce  monde,  ^chanjjez-le  sans  cesse 
Avec  Tautre  univers  visible  qui  vous  presse! 
M^lez  toute  votre  äme  a  la  cr^ation  .  . 
Que  sous  nos  doig^  puissans  exhalc  la  nature, 
Cette  immense  clavier! 

In  der  That!  Eine  Welt  von  Gedanken  mufs  der  Dichter  zu  der 
Welt  der  Erscheinungen  in  Bezug  setzen,  —  und  auf  alle  Töne 
seines  Innern  antwortet  das  Echo  der  Natur;  der  grofse  Weltenmeister 
hat  unsere  Seele  und  die  Natur  gleichsam  auf  denselben  Ton  gestimmt, 
—  unter  dem  Zauberstabe  des  Dichters  klingen  die  Klaviaturen  beider 
zu  herrlichen  Harmonien  zusammen.  —  Was  bedarf  es  weiter  Zeugnis?  — 
Dem  modernen  Menschen  ist  die  Natur  ein  träumender  Geist,  jedes  Einzelne 
ein  Spiegel  des  Ganzen,  ein  Gedanke,  ein  Geheimnis.  Wie  das  Land- 
schaftsbild des  Malers  erst  schön  ist,  wenn  er  es  verstanden  hat,  den 
undefinirbaren  Hauch  der  Stimmung  darüber  zu  breiten,  dem  Nebeneinander 


1 


466  Alfred  Biese. 


von  Licht  und  Farbe  und  Linien  ein  inneres,  vereinendes  Band  zu  leihen, 
so  wird  auch  die  Welt  um  uns  erst  schön,  wenn  wir  ihr  unsere  Seele, 
unser  Empfinden  einhauchen,  wenn  wir  sie  —  beseelen. 

Je  nach  ihrer  Denkart  und  Weltanschauung  unterscheiden  sich  hierin, 
wie  wir  sahen,  die  Völker  der  verschiedenen  Jahrhunderte  und  die  Dichter 
der  einzelnen  Epochen.*)  Was  längst  untergegangene  Nationen,  getrennt 
von  einander,  gedacht  und  geschaffen  haben,  der  moderne  Mensch,  der  auf 
den  Schultern  hinabgesunkener  Generationen  steht,  vereint  all  das  Hetero- 
gene wie  in  einem  Brennpunkt:  unser  Denken  ist  universeller  denn  je  ge- 
worden; aber  auch  die  immensen  Errungenschaften  unseres  Geisteslebens, 
die  grofsartigen  Erfolge  der  Wissenschaft,  speziell  unseres  Wissens  von 
den  Kräften  der  Natur  und  von  der  Herrschaft  über  dieselben  haben  das 
Interesse  auch  für  das  Einzelnste,  Kleinste  geschärft:  unser  Denken  ist 
individueller  denn  je  geworden.  Der  moderne  Mensch  fühlt  sich  als 
Mikrokosmos  im  Makrokosmos.  Und  so  singt  Geibel  —  dem  wir  nur 
noch  als  einem  Hauptvertreter  der  modernsten  deutschen  Lyriker  das 
Schlufswort  geben  wollen: 

Nur  zu  rasten,  zu  lieben,  Still  an  sich  selber  zu  bau*n, 
Fühlt  sich  die  Seele  getrieben,  Und  mit  Liebe  zu  schau*n. 
Und  so  schreit*  ich  im  Tale,  In  den  Bergen,  am  Bach, 
Jedem  segnenden  Strahle,  Jedem  verzehrenden  nach. 
Jedem  leisen  Verfärben  Lausch'  ich  mit  stillem  BemQh*n, 
Jedem  Wachsen  und  Sterben,  Jedem  Welken  und  BlQh*n. 
Selig  lern*  ich  es  spüren,  Wie  die  Schöpfung  entlang 
Geist  und  Welt  sich  berühren  Zu  harmonischem  Klang. 
Was  da  webet  im  Ringe,  Was  da  blüht  auf  der  Flur, 
Sinnbild  ewiger  Dinge  Ist*s  dem  Schauenden  nur. 
Jede  sprossende  Pflanze,  Die  mit  Düften  sich  füllt. 
Trägt  im  Kelche  das  ganze  Weltgeheimnis  verhüllt. 
Schweigend  blickt's  aus  der  Klippe,  Spricht  im  Quellengebraua; 
Doch  mit  seliger  Lippe,  Deutet  die  Muse  es  aus. 

Kid. 


*)  Ausführlich  habe  ich  die  Geschichte  des  Naturgefühls  im  Mittelalter  und  in  der  Neu- 
zeit in  einem  Werke  dargestellt,  welches  hoffentlich  noch  im  Herbst  d.  J.  erscheinen  wird. 


NEUE  MITTEILUNGEN. 


-•••- 


Die  Episode  des  Gottesgerichts  in  „Tristan  und  Isolde" 
unter  den  transsilvanischen  Zeltzigeunem  und  Rumänen. 


Von 
Heinrich  von  Wlislocki. 


B.  Jülg  hat  in  seinem  Werke:  „Mongolische  Märchen,  Erzählung  aus 
der  Sammlung  Ardschi  Bordschi"  (Innsbruck,  1867)  ^^^  interessantes 
Seitenstück  zum  Gottesgericht  in  Tristan  und  Isolde  geliefert.  Diese  Er- 
zählung, welche  die  letzte  Stelle  in  der  mongolischen  Märchensammlung 
„Geschichte  des  Ardschi  Bordschi  Chan**  einnimmt,  findet  sich  auch  in 
der  indischen  Sammlung  „(^ukasaptati**  (70  Erzählungen  eines  Papagei) 
vor  und  hat  ihre  weiteren  Ausläufer  Benfey,  Pantschatantra  I,  246—249, 
456 — 459  nachgewiesen,  ebenso  eine  böhmische  Gestaltung  dieses  Mär- 
chens (Pantschat.  I.  S.  XXIV  f.)  angeführt.  Im  Folgenden  nun  erlaube 
ich  mir  aus  meiner  unedirten  Sammlung  siebenbürgischer  Volksdichtungen 
zwei  bislang  unbekannte  Märchen  mitzuteilen  und  zwar  ein  Märchen  der 
transsilvanischen  Zeltzigeuner,  wie  ich  solches  während  meines  mehr- 
monatlichen Studienaufenthaltes  bei  einer  transsilvanischen  Wander- 
zigeunertruppe (im  Jahre  1883)  aufgezeichnet  habe,  —  und  ein  Märchen 
der  transsilvanischen  Rumänen,  auf  welches  mich  Herr  Dr.  P.  Russu  in 
Klausenburg  aufmerksam  zu  machen  die  Freundlichkeit  hatte.  Das 
rumänische  Märchen  ist  schon  deshalb  interessant,  weil  darin  eine  Art 
des  Gottesurteils  vorkommt,  die  sonst  bei  den  Rumänen  nicht  nach- 
gewiesen ist.  Beide  Märchen  haben  aufser  ihrer  engen  Verwandtschaft 
mit  einander,  eine  schlagende  Ähnlichkeit  mit  der  von  B.  Jülg  mitge- 
teilten Erzählung  aus  der  „Geschichte  des  Ardschi  Bordschi  Chan**,  und 
was  uns  besonders  interessieren  mag,  mit  der  Episode  des  Gottesgerichts 
in  Tristan  und  Isolde. 


458  Heinrich  von  Wlislocki. 


Das  Märchen  der  transsilvanischen  Zeltzigeuner  lautet  in  wörtlicher 
Übersetzung  also: 

Die  schlaue  Königstochter. 

Es  war  einmal  ein  reicher  König,  der  hatte  eine  wunderschöne 
Tochter,  die  nicht  einmal  die  Sonne  sehen  durfte.  Nur  abends,  wenn 
der  Mond  schien  und  kein  Mann  im  Garten  des  Königs  sich  befand, 
da  ging  die  schöne  Königstochter  hinaus  ins  Freie  und  lustwandelte  mit 
ihren  Dienerinnen.  Die  Leute  wufsten,  dafs  der  König  eine  Tochter  habe, 
sie  hatten  auch  gehört,  dafs  dieselbe  sehr  schön  sei,  konnten  sich  aber 
nicht  denken,  warum  der  König  sie  vor  den  Augen  der  Welt  versteckt 
halte.  Da  liefs  einmal  der  König  allen  Leuten  kund  geben:  wer  seine 
Tochter  ansähe,  dem  würden  die  Augen  ausgestochen;  wer 
sich  ihr  nähere,  dem  würden  beide  Beine  entzwei  geschlagen; 
kein  Mann  dürfe  sie  heiraten,  denn  sie  sei  viel  zu  schön  für  einen  Sterb- 
lichen; nur  der  König  der  Sonne  oder  der  Mondkönig  seien  ihrer 
würdig.  Da  lachten  die  Leute  und  bekümmerten  sich  nicht  mehr  um 
die  schöne  Königstochter.  Es  lebte  aber  im  Lande  ein  schöner,  junger 
Mann,  der  hatte  auch  von  der  schönen  Königstochter  gehört  und  be- 
schlossen, dieselbe  auf  welche  Weise  immer  zu  sehen.  Er  zog  sich  zer- 
rissene Kleider  an  und  ging  in  die  Stadt  des  Königs,  wo  er  sich  vom 
jeichen  König  als  Diener  aufnehmen  Hefs  und  den  ganzen  Tag  über  die 
Pferde  putzen  mufste.  Eines  Abends,  als  der  Mond  schien,  stieg  er  über 
den  Zaun  in  den  Garten  und  sah  unter  einem  Baume  die  wunder- 
schöne Königstochter  sitzen.  Sie  hatte  ihn  auch  bemerkt  und  winkte 
ihn  zu  sich.  Sie  sagte:  „Gleich  kommt  meine  Amme  zurück  und  wenn 
sie  dich  hier  findet,  so  könnte  es  dir  schlecht  ergehen.  Verberge  dich 
hier  im  Garten;  um  Mitternacht  komme  ich  hieher  allein  zurück!"  Drauf 
ging  sie  in  ihr  Haus  zurück. 

Gegen  Mitternacht  kam  die  schöne  Königstochter  in  den  Garten 
zurück,  und  nun  unterhielten  sich  die  Beiden  bis  es  anfing  zu  dämmern. 
Da  kam  eine  Dienerin  in  den  Garten  und  sah  die  Beiden  sich  küssen 
und  herzen.  Sie  lief  sogleich  zum  König  und  erzählte  ihm,  was  sie  ge- 
sehen. Da  erzürnte  der  König  gar  sehr  und  schickte  seine  Soldaten  in 
den  Garten,  um  die  Beiden  einzufangen.  Aber  die  Soldaten  fenden  nur 
die  schöne  Königstochter  in  dem  Garten;  der  junge  Mann  hatte  sich  bei 
Zeiten  auf  und  davon  gemacht.  Die  Soldaten  führten  die  schöne  Königs- 
tochter vor  den  König  und  dieser  liefs  sie  in  den  Kerker  werfen.  Niemand 
durfte  sie  besuchen;  nur  ihre  alte  Amme  brachte  ihr  täglich  einmal  Speise 
und  Trank  und  weinte  mit  ihr.  Sie  hatte  ihr  schönes  Pflegekind  gar  lieb 
und  es  tat  ihrem  Herzen  weh,  dafs  sie  es  aus  dem  Kerker  nicht  retten 
konnte.  Da  sprach  sie  einmal  zur  schönen  Königstochter:  „Wenn  du 
mir  die  Wahrheit  sagst,  so  will  ich  dich  aus  dem  Kerker  befreien.  Sag* 
mir,  ist  es  wahr,  dafs  du  mit  einem  Manne  eine  ganze  Nacht  hindurch 
dich  im  Garten  unterhalten  hast?**  —  „Ja,  es  ist  wahr!**  antwortete  die 
schöne  Maid,  „ich  habe  mich  mit  dem  Diener  meines  Vaters  unterhalten, 
der  die  Pferde  besorgt."     Da    sagte    die    gute    Amme:     „Nun,  was  ge- 


1 


Bie  Episode  des  Gottesf  ericfats  in  ,,Tristan  und  Isolde*^  459 

schehen  ist,  ist  geschehen!  Ich  will  jetzt  zu  deinem  Vater  gehen  und 
ihn  bitten,  dafs  er  dich  einen  Eid  über  Stechapfelsamen*)  leisten  lasse. 
Wenn  alle  Leute  versammelt  sind,  dann  wird  auch  ein  schmutziger,  zer* 
fetzter  Bettler  erscheinen,  den  sollst  du  bei  der  Hand  nehmen  und 
schwören,  dafs  du  dich  nie  mit  einem  Manne  unterhalten,  es  sei  denn 
dieser  Mann,  den  du  bei  der  Hand  hältst.  Der  Bettler  wird  dein  Ge- 
liebter sein  imd  da  du  nicht  falsch  schwörst,  so  werden  auch  die  Stech- 
apfelsamen von  der  Zaubertrommel  nicht  herabspringen!"**) 

Die  gute  Amme  ging  also  zum  König  und  dieser  liefs  seine  Tochter 
über  Stechapfelsamen  schwören.  Als  sie  dastand,  kam  auch  ein  Bettler 
heran  und  diesen  nahm  sie  bei  der  Hand  und  sprach:  ^Nie  habe  ich 
mit  einem  Menschen  männlichen  Umgang  gepflogen,  es  sei 
denn  mit  diesem  schmutzigen  Bettler  hier!"  Da  lachten  die  Leute 
über  diese  Rede  und  freuten  sich,  dafs  die  Stechapfelkörner  nicht  herab- 
gesprungen, denn  die  schöne  Königstochter  hatte  ja  die  Wahrheit 
gesprochen.  Drauf  riefen  die  Leute  dem  Könige  zu:  „Wir  haben  Deine 
Tochter  jetzt  gesehen,  also  ist  es  nicht  nötig,  dafs  Du  sie  fernerhin  vor 
den  Augen  der  Welt  verbirgst!  Lafs  sie  sich  "jetzt  einen  Mann  wählen, 
damit  man  ihr  später  nichts  Übles  nachreden  kann!"  Und  der  König 
willigte  ein  und  liefs  seine  Tochter  sich  einen  Mann  wählen.  Da  schritt 
die  schöne  Königstochter  auf  den  Diener  ihres  Vaters  los  —  dieser  hatte 
inzwischen  seinen  Bettleranzug  abgeleg^t  und  sich  rein  gewaschen  —  und 
sie  sprach  nun:  ^Dieser  werde  mein  Mann!"  Der  König  mufste  nun  wohl 
oder  übel  in  die  Heirat  einwilligen  und  die  Beiden  wurden  nun  ein  Paar. 
Ich  war  auch  auf  ihrer  Hochzeit  und  hörte  dort  diese  Geschichte.  ..." 

Dies  das  Märchen  der  transsilvanischen  Zeltzigeuner.  Das  rumänische 
Märchen  lautet  in  beinahe  wörtlicher  Verdeutschung  also: 

Die  schlaue  Mutter. 

Es  lebte  einmal  im  fernen  Türkenreich  ein  mächtiger  Kaiser,  der 
hatte  eine  wunderschöne  Tochter,  die  er  nie  auf  die  Strafse  gehen  lies 
und  die  er  zu  schauen,  keinem  Menschen  gestattete.  Die  arme  Jungfrau 
lebte  wie  eine  Gefangene  und  sah  den  ganzen  Tag  über  keinen  Menschen 
aufser  ihrer  Mutter.  Da  geschah  es  einmal,  dafs  sie  hinausging  in  den 
Garten  und  an  den  schönen  Blumen  und  am  lichten  Mondschein  sich 
ergötzte.     Sie  legte  sich  unter  einem  Baume  nieder  und  sag^e  laut  vor 

*)  Der  Stechapfel,  dessen  Samen  die  Zigeuner  zu  verschiedenen  Geheimmitteln  und 
Zauberstücken  auch  noch  heutzutag^e  g^ebrauchen,  hat  sich  erst  mit  ihnen  über  ganz  Buropa 
verbreitet. 

.  **)  Die  Zaubertrommel,  deren  sich  die  transsilvanischen  Zeltzigeuner  auch  noch  heut- 
zutage bei  der  Wahrsagerei  bedienen,  hat  die  Form  einer  ovalen,  flachen  Schachtel,  woran 
der  Boden  fehlt.  Statt  des  Deckels  ist  sie  mit  einer  Haut  überspannt,  worauf  neun  Linien 
gezogen  sind,  deren  jede  ihre  besondere  Bedeutung  hat.  Will  man  eine  solche  um  Rat 
fragen,  so  wird  eine  gewisse  Anzahl  von  Stechapfelsamen  darauf  gestreut,  die  sich  durch 
neunmaliges  Schlagen  auf  die  Haut  in  Bewegung  setzen  und  je  nachdem  sie  sich  auf  den 
neun  Linien  verteilen.  Glück  oder  Unglück  bedeuten.  In  früheren  Zeiten  wurden  auch  diese 
Trommeln  bei  Eidleistungen  gebraucht. 


460  Heinrich  von  Wlislocki. 


sich  hin:  Wenn  ich  doch  wüfste,  was  mein  Vater  mit  mir  vorhat! 
Andere  Mädchen  in  meinem  Alter,  die  heiraten  schon  und  wie  mir  meine 
gute  Mutter  erzählt  hat,  haben  sie  auch  schon  Kinder  und  ich  mufs  hier 
einsam,  ohne  Freude  verwelken!  Da  sprach  Jemand  vom  Baume  herab: 
„Arme  Jungfrau!  furchte  dich  nicht!  ich  bin  der  erste  Mann  deines  Vaters; 
ich  habe  die  ganze  Welt  geschlagen  und  für  ihn  viele  Länder  erobert! 
Ich  hörte  nun,  dafs  er  dich  wie  eine  Gefangene  hält  und  keinem  Manne 
es  gestattet,  dafs  er  dich  sehe.  Schön  ist  der  Sonnenschein,  doch  du 
bist  noch  schöner.  Wahrlich,  dein  Vater  hat  Recht,  wenn  er  dich  so 
strenge  bewachen  läfst  und  keinem  Manne  gestattet,  dich  zu  sehen!"  Dies 
gefiel  der  schönen  Jungfirau  gar  sehr  und  bald  kroch  der  Mann  vom 
Baume  herab  und  —  ich  weifs  nicht,  wie  und  was  geschah  —  kurz,  die 
Beiden  blieben  die  ganze  Nacht  über  bei  einander.  Am  Morgen,  zeitig 
in  der  Frühe,  kam  eine  Dienerin  in  den  Garten,  sah  die  Beiden  unter 
dem  Baume  liegen  und  straks  lief  sie  zum  Kaiser  und  sagte  ihm,  was 
sie  gesehen.  Aber  auch  der  junge  Mann,  der  ein  Feldherr  des 
türkischen  Kaisers  war,  hatte  die  Dienerin  gesehen  und  sich  schnell  aus 
dem  Staube  gemacht. 

Als  der  Kaiser  zu  seiner  Tochter  kam  und  sie  fragte:  wo  der  Mann 
hin  sei,  der  soeben  bei  ihr  gewesen,  da  sagte  die  Maid:  „Ich  habe  in 
meinem  ganzen  Leben  aufser  dir  keinen  Mann  gesehen!"  Da  ergrimmte 
der  Kaiser,  rief  seine  Diener  herbei  und  wollte  seine  Tochter  in  einen 
Sack  einnähen  und  von  Pferden  zertreten  lassen;*)  aber  da  trat  seine 
Frau  hinzu  und  bat  ihn,  er  solle  es  ihr  gestatten,  dass  sie  sich  von  ihrer 
Tochter  verabschiede.  Der  Kaiser  gewährte  die  Bitte  seiner  Frau  und 
diese  führte  ihre  Tochter  in  das  Zimmer  und  drang  in  sie,  ihr  die 
Wahrheit  zu  gestehen.  Da  gestand  nun  die  Maid,  dafs  sie  sich  mit  dem 
ersten  Feldherrn  des  Kaisers  im  Garten  unterhalten  habe.  Die  Mutter 
schüttelte  den  Kopf  und  sprach  dann  also:  „Das  hast  du  nicht  Not  gehabt 
zu  tun,  denn  dein  Vater  hat  dich  ohnehin  dem  Manne  bestimmt,  der 
ihm  das  gröfste  Land  auf  der  Welt  erobere,  und  dies  hat  vor  einigen 
Tagen  sein  erster  Feldherr  gethan,  mit  dem  du  dich  unterhalten  hast. 
Aber  das  dürfen  wir  ihm  nicht  sagen,  denn  sonst  liesse  er  euch  Beide 
von  den  Hufen  der  Pferde  zertreten.  Ich  werde  ihn  bitten,  dafs  er  dir 
gewähre,  einen  Eid  zu  leisten,  dafs  du  mit  keinem  Manne  dich  je  unter- 
halten, es  sei  denn  der  Bettler,  den  du  dann  vor  den  Leuten  umarmen 
wirst.  Dieser  Bettler  aber  wird  der  erste  Feldherr  sein,  der  verkleidet 
im  Hofe  erscheinen  wird." 

Als  sie  vor  den  Kaiser  kam  und  ihn  bat,  er  möge  seiner  Tochter 
gestatten,  dafs  sie  schwöre,  da  willigte  er  ein  und  liefs  die  Geistlichen 
zusammenrufen,  um  seine  Tochter  schwören  zu  lassen.  Diese  nahmen 
einen  Stein,  legten  denselben  ins  Feuer  und  als  er  glühend  heifs'war, 
sollte  ihn  die  schöne  Maid  in  die  Hände  nehmen.  Verbrannte  sie  ihre 
Hände,  so  war  sie  schuldig,  blieben  aber  ihre  Hände  unversehrt,  so  war 
sie   unschuldig.     Doch  bevor   sie  den  heifsen  Stein  berührte,   schritt  sie 


*)  Vgl.  Liebrecht.   Zur  Volkskunde  (S.  296:  Eine  alte  Todesstrafe). 


Die  Episode  des  Gottesg;erichts  in  „Tristan  und  Isolde".  461 

auf  den  Bettler  los,  umarmte  ihn  und  sprach:  „So  wahr  mir  Gott  helfe, 
ich  habe  mich  nie  mit  einem  Manne  unterhalten,  es  sei  denn  dieser  Bettler 
gewesen  I"  Da  rief  die  Mutter:  „Ich  weifs,  unsere  Tochter  ist  unschuldig. 
Ich  schwöre,  dafs  ihr  in  der  vergangenen  Nacht  nichts  mehr  noch  weniger 
geschehen  ist,  als  mir!"*)  Sie  war  nämlich  die  gfanze  verflossene  Nacht 
bei  ihrem  Manne  gelegen.  Während  dieser  Reden  war  der  Stein  ziemlich 
abgekühlt  und  als  ihn  die  Maid  in  die  Hand  nahm,  verbrannte  sie  sich 
kaum  sichtbar  und  die  Geistlichen  sagten:  sie  sei  unschuldig.  Da  freute 
sich  auch  der  Kaiser  und  liefs  seinen  ersten  Feldherm  rufen.  Dieser 
war  als  Bettler  inzwischen  nach  Hause  gelaufen,  hatte  sich  entkleidet  und 
als  die  Diener  des  Kaisers  zu  ihm  kamen,  da  zog  er  sich  schnell  an  und 
kam  zu  seinem  Herrn.  Da  sprach  zu  ihm  der  Kaiser:  „Wenn  du  willst, 
so  kannst  du  meine  Tochter  heiraten.  Sie  ist  so  schön  wie  die  Sonne, 
so  angenehm  wie  der  Mond,  und  Niemand  hat  sie  berührt,  es  sei  denn 
du,  was  eben  nicht  hat  geschehen  können!"  Der  erste  Feldherr  heiratete 
die  schöne  Tochter  seines  Kaisers  und  lebte  mit  ihr  in  Glück  und  Frieden 
und  wenn  sie  noch  nicht  gestorben  sind,  so  leben  sie  auch  noch  jetzt!"  . . 

Dies  das  rumänische  Märchen.  Vergleicht  man  nun  die  Episode  des 
Gottesgerichts  in  Tristan  und  Isolde  und  die  mongolische  Erzählung  aus 
Ardschi  Bordschi  mit  den  hier  mitgeteilten  transsilvanischen  Märchen,  so 
bieten  sich,  wie  schon  der  erste  Blick  zeigt,  eine  grofse  Zahl  von 
Parallelen,  die  man  weiter  bis  ins  einzelne  verfolgen  könnte  und  die 
ich  hier  nur  knapp  zusammenstellen  will. 

Die  Szenen  in  Ardschi  Bordschi  und  in  Tristan  und  Isolde  spielen 
im  Garten,  ebenso  in  unseren  beiden  Märchen;  in  der  mongolischen 
Erzählung  heifst  die  Königstochter  Naran  Gerel  („Sonnenschein") 
und  in  Tristan  und  Isolde  wird  bei  der  Zusammenkunft  wiederholt  der 
Sonnenschein  betont,  der  auch  in  unseren  Märchen  erwähnt  wird.  Der 
Baum,  wo  der  mongolische  Minister  Ssaran  die  Zusammenkunft  mit 
Naran  Gerel  hat,  erinnert  an  den  Ölbaum  im  Baumgarten,  auf  welchem 
der  Zwerg  Melot  und  König  Mark  lauschen,  die  der  Mondschein  verrät; 
Ssaran  ist  mongolisch  „Mond,"  der  auch  in  dem  Märchen  der  Zigeuner 
und  Rumänen  erwähnt  wird,  während  dem  Minister  der  erste  Feldherr 
im  rumänischen  Märchen  entspricht.  Brangäne  und  Ssarans  Frau  stellen 
etwa  die  Amme  und  Mutter  unserer  Märchen  vor. 

Zieht  man  nun  die  täuschende  Ähnlichkeit  der  in  Rede  stehenden 
Märchen  und  Erzählungen  in  Betracht,  so  dürfte  man  wohl  eine  ursprüngliche 
Identität  derselben  anzunehmen  geneigt  sein.  Welche  Version  man  aber 
als  die  ältere  zu  betrachten  habe,  ist  jedoch  nicht  so  leicht  zu  bestimmen. 
Was  indes  die  Frage  betrifft,  wo  die  Heimat  der  vorliegenden  Märchen 
und  Erzählungen  ursprünglich  war,  so  ist  dieselbe  jedenfalls  im  Osten 
zu  suchen.  Man  könnte  auch  gar  leicht  versucht  sein,  anzunehmen,  dafs 
die  rumänische  Fassung  infolge  der  häufigen  Berührung  der  Rumänen 
mit   den  Mongolen  in  Bessarabien  und  am  schwarzen  Meere  überhaupt 


*)  Eine    ähnliche  Pointe    hat    ein    humoristisches  Gedicht    von    Lang^bein,    dessen 
Titel  aber  mir  entfallen  ist. 

Ztichr.  f.  vgl.  Litt-Geach.    I.  31 


462  Heinrich  von  Wlislocki. 


—  von  Letzteren  entlehnt  worden  sei,  worauf  abgesehen  „vom  ersten 
Feldherm",  der  dem  mongolischen  Minister  Ssaran  entspricht,  auch  die 
Erwähnung  des  „Türkenreichs"  und  des  „türkischen  Kaisers"  indirekt 
hinzuweisen  scheint;  denn  die  Rumänen  und  die  Bewohner  Siebenbürgens 
überhaupt,  verwechseln  in  ihren  Volksdichtungen  Tataren  und  Mongolen 
beinahe  immer  mit  den  Türken  und  gelten  bei  ihnen  diese  Völker,  deren 
Bekanntschaft  zu  machen,  sie  in  früheren  Jahrhunderten  häufig  genug 
Gelegenheit  hatten,  für  identisch.  Das  Märchen  der  transilvanischen 
Zeltzigeuner  mag  dann  vielleicht  eine  Entlehnung  aus  dem  rumänischen  sein. 


Mühlbach  i.  Siebenbürgen. 


-*•- 


^  Annenisches  und  Zigeunerisches 

ZU  ^^Barlaam  und  Josaphat/^ 


Von 
Heinrich  von  Wlisiocki. 


Felix  Liebrecht  hat  in  seinem  trefflichen  Werke  „Zur  Volkskunde" 
auch  die  „Quellen  des  Barlaam  und  Josaphat"  behandelt,  dieses,  dem 
heiligen  Johannes  von  Damaskus  zugeschriebenen  Romans,  der  von  den 
Volksbüchern  des  Mittelalters  eine  über  granz  Europa  erstreckende  Ver- 
breitung genofs.  Liebrecht  hat  in  seinem  erwähnten  Aufsatze  die  vor 
ihm  häufig  berührte  und  für  und  wider  besprochene  Frage:  ob  nämlich 
der  dem  Barlaam  und  Josaphat  zu  Grunde  liegende  StofF  geschichtlich 
sei  oder  nicht,  —  bejahend  gelöst,  indem  er  diesen  geistlichen  Roman 
auf  Grund  des  1860  herausgekommenen  Werkes  von  Barthelemy 
Saint-Hilaire:  „Le  Boudha  et  sa  Religion"  mit  der  mit  vielen 
Wundem  ausgeschmückten  Lebensbeschreibung  des  Buddha,  nämlich  der 
Lalitavistära  (verfasst  im  Jahre  76  n.  Chr.)  eingehend  verglich.  Er 
hat  den  unerschütterlichen  Nachweis  gefuhrt,  dafs  das  christliche  Mittel- 
alter in  Barlaam  und  Josaphat  „schon  seit  vielen  Jahrhunderten,  ohne  es 
zu  wissen,  eine  Lebensbeschreibung  des  Buddha  besafs,  nur  unter  einem 
anderen  Namen,  was  die  vor  nicht  langer  Zeit  entdeckten  indischen 
Originale  erst  jetzt  offenbaren." 

Schon  Rudolph  von  Beckedorff  hat  in  seinem  Vorwort  zu 
Liebrechts  Übertragung  der  in  Rede  stehenden  griechischen  Erzählung 
(Münster  1847)    die    Ansicht    ausgesprochen,    dafs   die    Geschichte   des 


Armenisches  und  Zigeunerisches  cu  „Barlaam  und  Josaphat"  463 

indischen  Königssohnes,  ,,dessen  Verzichtleistung  auf  die  väterliche  Krone 
und  Umwandlung  in  einen  strengen  Asketen  sowie  späteres  Aposteltum 
Johannes  von  Damascus  (oder  irgend  ein  anderer  morgenländischer 
Christ)  erzählt  hat,  die  des  indischen  Prinzen  Josaphat,  des  Sohnes 
Abenners  sei."  Doch  dies  ist  —  wie  Liebrecht  es  erwiesen  hat  — 
tiicht  der  Fall.  Denn  weder  Josaphat,  noch  Abenner  haben  je  gelebt, 
sondern  die  Geschichte  des  christlichen  Josaphat  ist  „die  des  Siddhärta 
(Sohn  des  Königs  von  Kapilavastu  Qüddhodana),  der  später  unter 
dem  Namen  Buddha  (der  Erleuchtete)  Stifter  des  Buddhismus  wurde  und 
im  Jahre  543  v.  Chr.  im  Alter  von  80  Jahren  starb." 

Im  Ajnschluis  an  Liebrechts  Untersuchungen  will  ich  im  Folgenden 
zu  Barlaam  und  Josaphat  einen  kleinen  Beitrag  liefern  und  zwar  eine 
bislang  unbekannte  armenische  Erzählung  und  ein  zigeunerisches  Märchen 
aus  Siebenbürgen,  welche  die  Geschichte  Josaphats  resp.  Buddhas  ohne 
historische  Färbung  erzählen.  Die  armenische  Erzählung  schrieb  ich 
1882  während  meines  Aufenthaltes  im  Nordosten  Siebenbürgens  (Szepviz) 
phonetisch  nach.  Eine  alte  Armenierin,  deren  Vater  Meerschaumhändler 
in  Gifteler  (bei  Eskischeir  in  Anatolien)  war  und  später  nach  Sieben- 
bürgen einwanderte,  erzählte  sie  mir.  Sie  hatte  diese  Erzählung  von 
ihrem  Vater  gehört  Eine  unwesentliche  Variante  derselben  Erzählung 
teilte  mir  Frau  Pernidän,  eine  geborene  Armenierin  in  Sächsisch- 
Regen  (Siebenbürgen)  -mit.  Bei  der  Verdeutschung  war  mir  Herr 
Dr.  Werthänes  Jakudjian,  Mechitaristen-Friester,  behülflich,  ohne 
dessen  freundliche  Beihilfe  diese  Übertragung  bei  meiner  mangelhaften 
Kenntnis  des  Armenischen  wohl  kaum  zu  Stande  gekommen  wäre.  Ab- 
gesehen von  der  überraschenden  Ähnlichkeit  der  Namen  (dem  indischen 
Prinzen  Siddhärta  entspricht  in  der  armenischen  Erzählung  der  Königs- 
sohn Gimärtän;  der  Wagenlenker  Buddhas  heifst  Tschhandaka,  der 
Freund  Gimartäns  heüst  Tschändakän),  enthält  diese  Erzählung  zahl- 
reiche Züge,  die  sich  sowohl  in  Barlaam  und  Josaphat,  als  auch  in  der 
Lebensgeschichte  des  Buddha  wiederfinden. 

Die  unedirte  armenische  Erzählung  lautet  in  wörtlicher  Über- 
setzung also: 

Der  heilige  König. 

Vor  vielen  tausend  Jahren  lebte  im  fernen  Morgenlande  ein  stolzer 
mächtiger  König,  der  sich  einbildete,  Gott  an  Grösse  und  Macht  eben- 
bürtig zu  sein.  Da  geschah  es,  dafs  seine  Gattin  ihm  einen  Sohn  schenkte, 
der  an  Schönheit  alle  Kinder  übertraf.  Als  der  kleine  Knabe  zum  ersten 
Mal  in  seiner  goldenen  Wiege  ruhte,  flogen  Bienen  herbei  und  legten 
süfsen  Honig  auf  seine  Lippen.  Da  fragte  der  König  seine  Räte,  was 
das  zu  bedeuten  habe?  Und  diese  meinten:  das  Kind  sei  berufen,  ein 
grofser,  berühmter  Mann  zu  werden.  Der  König  freute  sich  darob  gar 
sehr  und  gab  nun  seinen  Untertanen  Feste  über  Feste.  Doch  einmal 
trat  ein  fremder  Mann  vor  den  König  und  sprach  also  zu  ihm:  „Freue 
dich,  König,  dafs  dir  ein  Sohn  geboren  ist,   der  ein  grofser,  berühmter 

31* 


464  Heinrich  von  Wlislocki. 


Mann  werden  wird;  glaube  aber  ja  nicht,  dafs  er  dereinst  deinen  Tron 
einnehmen  und  dein  Reich  vergröfsern  wird.  Er  wird  arm  und  einsam 
in  einer  Wüste  sterben,  denn  ihm  werden  irdische  Schätze  keine  Freude 
bereiten,  wohl  aber  wird  er  die  Kranken  pflegen,  die  Armen  und  Ver- 
lassenen trösten  und  allen  Menschen  Gutes  erweisen!"  Darob  erschrak 
der  König  gar  sehr  und  liefe  seinem  Sohne  aus  Gold  und  Diamanten  ein 
wundervolles  Haus  erbauen  und  umgab  ihn  mit  aller  denkbaren  Pracht, 
damit  er  sich  frühzeitig  daran  gewöhne  und  freiwillig  nie  diesem  Wohl- 
leben entsage.  Der  junge  Königssohn  hiefs  Gimartän  und  hatte  einen 
gleichaltrigen  Genossen,  den  man  Tschandakan  nannte.  Beide  wuchsen 
zusammen  im  prachtvollen  Hause  auf  und  wurden  unzertrennliche  Freunde. 
Die  Zeit  verging  und  Gimartän,  der*  Königssohn,  wurde  ein  wunder- 
schöner Jüngling.  Da  traf  es  sich  einmal,  dafs  er  mit  seinem  Freunde 
Tschandakan  auf  die  Jagd  ging  und  sich  in  einem  g^ofsen  Walde 
verirrte.  Den  ganzen  Tag  über  suchten  sie  nach  einem  Ausweg,  fanden 
aber  keinen.  Gegen  Abend  hörten  sie  endlich  irgendwo  in  der  Feme 
ein  Jammern  und  Stöhnen.  Sie  gingen  in  der  Richtung  vorwärts  und 
fanden  in  einem  Graben  einen  kranken  Mann,  der  nicht  mehr  gehen 
konnte.  Erstaunt  blieb  der  Königssohn  vor  dem  Kranken  stehen  und 
fragte  endlich  seinen  Freund:  „Was  ist  das  für  ein  Mann?"  Tschanda- 
kan entgegnete:  „Er  ist  krank."  —  „Warum  ist  er  krank?  Müssen  wir 
alle  krank  werden?"  fragte  drauf  der  Königssohn.  Tschandakan  er- 
widerte: „Ja,  wir  alle  können  krank  werden.  Die  Krankheiten  schickt 
uns  Gott,  damit  wir  uns  bessern  und  dadurch  nach  dem  Leben  ins 
Himmelreich  einkehren  können!"  Drauf  sprach  der  Prinz  kein  Wort 
mehr,  sondern  lud  den  kranken  Mann  auf  seine  Schultern  und  schritt 
dann  mit  seinem  Freunde  vorwärts.  Endlich  fanden  sie  den  Ausweg 
aus  dem  Walde  und  der  Königssohn  trug  den  kranken  Mann  in  seine 
prachtvolle  Wohnung,  wo  er  ihn  pflegte,  bis  er  wieder  gesund  wurde. 
Von  der  Zeit  an  wurde  der  schöne  Königssohn  gar  wortkarg  und  be- 
suchte von  nun  an  am  liebsten  die  kranken  Leute,  die  er  pflegte  und 
tröstete.  Da  traf  es  sich  einmal,  dafs  er  mit  seinem  Freunde  wieder  bei 
einem  kranken  Manne  verweilte,  der  grade  während  dieses  Besuches 
starb.  Gimartän  sah  die  letzten  Leiden  des  armen  Mannes  und  als 
dieser  verschied,  fragte  er  seinen  Freund  Tschandakan:  „Was  ist 
diesem  Manne  geschehen?  Warum  liegt  er  regungslos  und  kalt  da?" 
Sein  Freund  antwortete:  „Er  ist  gestorben  und  wir  alle  müssen  einmal 
sterben!"  Der  Königssohn  sprach  drauf  kein  Wort,  sondern  kehrte  heim 
und  wurde  von  nun  an  noch  wortkarger.  Nach  einiger  Zeit  traf  es  sich 
wieder,  dafs  die  beiden  Freunde  auf  die  Jagd  gingen.  Sie  ritten  hinauf 
ins  Gebirge  und  nachdem  sie  viele  Tiere  erlegt  hatten,  kehrten  sie  um 
und  wollten  heimreiten.  Da  bemerkten  sie  in  einem  Graben  den  Leich- 
nam eines  alten  Mannes,  der  schon  halbverwest,  unbeerdigt  dalag. 
Gimartän  hielt  sein  Rofs  an  und  fragte  seinen  Freund  also:  „Was  ist 
das?  Ist  das  auch  ein  Mensch?"  Tschandakan  entgegnete:  „Das  ist  der 
Leichnam  eines  Mannes,  der  einmal  auch  so  war,  wie  wir;  und  wir 
werden  einmal  auch  ihm  gleich  werden!"     Der  Königssohn  sprach  drauf 


Armenisches  und  Zigeunerisches  zu  „Barlaam  und  Josaphat.**  465 

kein  Wort,  sondern  ritt  heim  und  wurde  von  nun  an  noch  wortkarger. 
Er  nahm  einen  frommen  Mann  zu  sich  in  sein  prachtvolles  Haus,  der  ihn 
nun  in  allen  göttlichen  Dingen  unterrichtete.  Von  nun  an  lebte  Gimartän 
von  der  Welt  zurückgezogen  seine  Tage,  besonders  da  ohne  sein  Wissen 
sein  Vater  den  Lehrer  hatte  heimlich  umbringen  lassen.  Er  fürchtete 
sich,  dafs  er  seinen  Sohn  Gimartän  verderbe,  besonders  da  er  auf 
dessen  Umwandlungvon  Tschändakän  aufmerksam  gemacht  worden  war. 

Ein  Jahr  verging  nach  dem  andern  und  der  alte  König  schlofs  eines 
Tages  seine  Augen  für  immer.  Nun  sollte  sein  Sohn,  Gimartän  König 
werden,  doch  als  ihm  die  Räte  die  Krone  aufsetzen  wollten,  sprach  er 
also:  „Gebt  die  Krone  einem  andern  Manne,  der  an  irdischen  Dingen 
Freude  hat!  Ich  habe  längst  schon  eingesehen,  dafs  alles  Schöne  und 
Prachtvolle  hier  auf  Erden  zu  Grunde  gehen  mufs  und  nur  die  Liebe  zu 
Gott  allein  besteht.  Ich  will  Gott  allein  dienen,  drum  lafst  mich  ziehen 
und  gebt  die  Krone  meinem  Freunde  Tschändakän."  Drauf  ent- 
gegnete Tschändakän:  „O  König,  wie  kannst  du  auf  eine  Krone  ver- 
zichten? Auch  als  König  kann  man  Gott  dienen !^^  Doch  Gimartän 
blieb  bei  seinem  Entschlufs  und  entfernte  sich  heimlich  aus  seiner  Wohnung, 
nachdem  die  Räte  in  seine  Entsagung  nicht  einwilligen  wollten.  Doch 
Tschändakän  bemerkte  seine  Flucht  und  eilte  ihm  nach.  Er  holte  ihn 
auch  ein,  doch  konnte  er  ihn  zur  Rückkehr  nicht  bewegen.  So  ging 
denn  Tschändakän  zurück  in  die  Königstadt  und  setzte  sich  die 
Königskrone  auf.  Er  wurde  also  König,  während  Gimartän  draufsen 
in  der  Wüste  einsam  und  allein  Gott  diente  und  sich  von  Wurzeln  und 
Kräutern  nährte.  Welcher  von  beiden  Freunden  war  wohl  der  glück- 
lichere? Tschändakän  mufste  nach  seinem  Tode  wohl  noch  im  Fege- 
feuer verweilen,  während  Gimartän  als  heiliger  Mann  nach  seinem  Tode 
gleich  in  den  Himmel  einzog 

Im  Folgenden  will  ich  nun  die  obige  ^  armenische  Erzählung  mit 
„Barlaam  und  Josaphat"  (in  Liebrechts  Übertragung)  und  mit  dem 
oben  erwähnten  Werke  von  Barthelemy  Saint-Hilaire,  wenn  auch 
nur  oberflächlich,  vergleichen. 

Von  Buddha  wird  erzählt,  dafs  er  so  schön  war,  wie  seine  Mutter 
Mäyä  Devi,  von  der  es  heifst:  „sa  beaute  etait  tellement  extraordinaire 
qu'on  lui  avait  donne  ce  sumom  de  Mäyä  ou  Vlllusion,  parce  que  son 
Corps,  ainsi  que  le  dit  le  Lalitavistära,  semblait  etre  le  produit  d*une 
Illusion  ravissante*^  Saint-Hilaire  p.  4).  Gewisse  Zeichen  verkünden  den 
dereinstigen  grossen  Mann  vorher,  der  die  väterliche  Krone  mit  dem 
Asketenleben  vertauschen  wird.  „Les  principaux  vieillards  des  (J^äkyas 
(die  Familie,  welcher  Buddha  entstammte)  se  souvenaient  de  la  prediction 
des  Brahmanes  qui  avaient  annonce  que  Siddhärta  pourrait  bien  renoncer 
ä  la  couronne  pour  se  faire  ascete"  (St.  Hilaire  p.  6).  Von  Josaphat 
heifst  es:  „  .  .  .  dem  König  .  .  .  wurde  ein  ganz  besonders  wohl- 
gebildetes Knäblein  geboren,  das  schon  durch  seine  äufsere  Schönheit 
seine  Zukimft  vorausverkündete**  (Barlaam  und  Josaphat  S.  14).  Der 
Oberste  der  Sterndeuter  sagt:  „Wie  der  Lauf  der  Sterne  mich  lehrt, 
o  König,  so  wird  der  Ruhm    des    dir  jetzt   geborenen    Sohnes  nicht  in 


466  Heinrieb  von  WUslocki. 


deinem  Reiche  seine  Stelle  finden,  sondern  in  einem  andern,  bessern  und 
unvergleichlich  erhabenem"  (B.  u.  J.  S.  15).  Siddhärtas  Vater  fürchtend, 
dafs  sich  die  Weissagungen  verwirklichen,  läfst  seinem  Sohne  Paläste 
bauen  und  ihn  streng  bewachen.  „Cependant  le  roi  (^üddhodana 
devinait  les  projets  qui  agitaient  le  coeur  de  son  fils.  II  redoubla  de 
caresses  et  de  soin  pour  lui.  II  lui  fit  faire  trois  palais  nouveaux,  un 
pour  le  printemps,  un  pour  Tete  et  un  autre  pour  l'hiver;  et  craignant 
que  le  jeune  homme  ne  profitat  de  ses  excursions  pour  echapper  ä  sa 
famille,  il  donna  les  ordres  les  plus  severes  et  les  plus  secrets  pour  qu'on 
surveillät  toutes  ses  demarches"  (St.  H.  p.  12).  Von  Josaphats  Vater 
Abenner  heifst  es:  Indefs  liefs  er  in  einer  abgelegenen  Stadt  einen  sehr 
schönen  Palast  erbauen  und  prächtige  Gemächer  darin  ausschmücken 
und  wies  ihn  seinem  Sohne,  sobald  er  die  erste  Jugend  zurückgelegt, 
zum  Wohnsitz  an"  (B.  u.  J.  S.  16).  Dies  Alles  passt  auch  auf  den  ersten 
Teil  der  mitgeteilten  armenischen  Erzählung. 

Gehen  wir  nun  zum  zweiten  Teile  über,  worin  die  Begegnung 
Gimartans  mit  dem  Kranken,  Toten  und  dem  halbverwesten  Leichnam 
erzählt  wird.  Von  Josaphat  wird  berichtet:  „Da  nun  so  der  Prinz 
häufig  den  Palast  verliefs,  sah  er  eines  Tages  durch  eine  Nachlässigkeit 
der  Diener  zwei  Menschen,  von  denen  der  eine  aussätzig,  der  andere 
aber  blind  war.  Bei  diesem  Anblick  von  einem  unangenehmen  Gefühle 
ergriffen,  fragte  er  seinen  Begleiter:  „Was  sind  das  für  Leute?  und  wo- 
her ihr  widerliches  Aussehen?"  Da  nun  jene  dieses  Schauspiel  nicht 
verbergen  konnten,  versetzten  sie:  „Dies  sind  Krankheiten  der  Menschen, 
von  denen  sie  bei  verdorbener  Beschaffenheit  ihres  Grundstoffes  und  durch 
die  bösen  Säfte  ihres  Körpers  befallen  zu  werden  pflegen."  Hierauf 
entgegnete  der  Prinz:  „Werden  alle  Menschen  davon  befallen?"  u.  s.  w. 
(B.  u.  J.  S.  27).  Dasselbe  wird  von  Buddha  berichtet:  „Une  autre  fois, 
il  se  dirigeait  avec  une  suite  nombreuse,  par  la  porte  du  midi,  au  jardin 
de  plaisance,  quand  il  aper^ut  sur  le  chemin  un  homme  atteint  de  msdadie, 
brüle  de  la  fievre,  le  corps  tout  amaigri  et  tout  souille,  sans  compagnons, 
Sans  asile,  respirant  avec  une  grande  peine,  tout  essoufle  et  paraissant 
obsede  de  la  frayeur  du  mal  et  des  approches  de  la  mort.  Apres 
s'etre  adresse  ä  son  cocher,  et  en  avoir  re^u  la  reponse  qu'il  en  atten- 
dait,  „La  sante,  dit  le  jeune  prince,  est  donc  comme  le  jeu  d'un  reve, 
et  la  crainte  du  mal  a  donc  cette  forme  insupportablel  Quel  est  Thomme 
sage  qui,  apres  avoir  vu  ce  quelle  est,  pourra  desormais  avoir  Tidee  de 
la  joie  et  du  plaisir?"  Le  prince  detouma  son  char,  et  rentra  dans  la 
ville,  sans  vouloir  aller  plus  loin"  (St.  H,  p.  13).  Nun  findet  die  Be- 
gegnung Buddhas  mit  dem  Greise  und  dem  Toten  statt,  die  im  „Barlaam 
und  Josaphat"  in  eins  zusammengefasst  ist  (B.  u.  J.  S.  28  f.  und  St.  H. 
p.  12  f).  Im  Armenischen  fehlt  die  Begegnung  mit  dem  Greise,  die  sich 
im  unten  mitgeteilten  Märchen  der  transsilvanischen  Zigeuner  wiederfindet 
Gimärtän  nimmt  sich  „einen  frommen  Mann  in  sein  prachtvolles  Haus, 
der  ihn  nun  in  allen  göttlichen  Dingen  unterrichtet."  Für  Buddhas  ganzes 
künftiges  Leben   ist  sein  Zusanunentreffen  mit  einem  Bettelmöndie  ent- 


Armenisches  und  Zigeunerisches  xu  „Barlaam  und  Josaphat**.  467 

scheidend  (St.  H.  p.  15).     Ebenso  entscheidend  für  Josaphats  Zukunft  ist 
seine  Zusammenkunft  mit  dem  Asketen  Barlaam  (B.  u.  J.  Cap.  6 — 21). 

Im  dritten  und  letzten  Teil  der  armenischen  Erzählung  entsagt 
Gimartan  der  väterlichen  Krone  und  entflieht  heimlich  aus  der  Residenz, 
worauf  ihm  sein  Freund  Tschandakan  nacheilt  imd  ihn  zur  Rückkehr 
bereden  will.  Doch  vergeblich!  Tschandakan  wird  nun  König  und 
Gimartan  stirbt  als  Einsiedler  in  der  Wüste.  Buddha  entsagt  ebenfalls 
der  Krone,  entflieht  heimlich  und  wird  von  seinem  Wagenlenker  Tschhan- 
daka  vergeblich  zur  Rückkehr  aufgefordert  (St,  H.  p.  17  f).  Ganz 
ebenso  Josaphat«  Er  bittet  den  obersten  Würdenträger  Barachias  die 
Regierung  zu  übernehmen.  Barachias  weigert  sich  dies  zu  thun,  worauf 
Josaphat  zur  Nachtzeit  in  die  Wüste  entflieht  (B.  u.  J.  S.  267  f.  u.  S.  274). 
Nun  werden  die  üinern  Kämpfe  Buddhas  und  Josaphats  geschildert,  die 
sich  aber  in  der  armenischen  Erzählimg  nicht  vorfinden  und  uns  dem- 
gemäfs  nicht  näher  angehen. 

Somit  hätten  wir  die  Reihe  derjenigen  Züge  geschlossen,  die  sich 
sowohl  im  Leben  des  historischen  Buddha  und  des  erdichteten  Josaphat, 
als  auch  in  der  mitgeteilten  armenischen  Erzählung  wiederfinden. 
Zweifelsohne  ist  letztere  unter  dem  direkten  Einflüsse  indischer  Quellen 
entstanden  und  kam  aus  dem  Orient  mit  den  Armeniern  nach  Sieben- 
bürgen. Fehlt  auch  der  dogmatische  Teil,  der  sich  in  Buddhas  Lebens- 
beschreibung und  in  „Barlaam  und  Josaphat^^  vorfindet,  so  verrät  doch 
die  ganze  Erzählung  einigen  Einflufs  von  buddhistischen  Anschauungen. 

Zum  Schlufs  will  ich  noch  das  Märchen  der  transsilvanischen  Zelt- 
zigeuner mitteilen,  das  ich  während  meines  ersten  Studienaufenthaltes 
bei  einer  Wanderzigeunertruppe  im  Jahre  1883  im  Original  aufgezeichnet 
habe.  Dasselbe  behandelt  —  wenn  auch  anders  motiviert  —  gleich  der 
armenischen  Erzählung,  denselben  Stoff,  den  wir  in  „Barlaam  und  Josaphat" 
und  in  Buddha*s  Lebensbeschreibung  besitzen.  Zweifelsohne  stammt  dies 
Märchen  ebenfalls  aus  dem  Orient  und  kam  mit  den  Zigeunern  herüber 
nach  Europa,  wie  denn  auch  einige  Parabeln  die  in  Buddhas  und  Josaphats 
Lebensbeschreibungen  eingeflochten  sind,  sich  selbständig  unter  den 
Zigeunern  vorfinden.  Bei  Gelegenheit  will  ich  auf  dieselben  zurückkommen. 

Das  Märchen  der  transsilvanischen  Zeltzigeuner  lautet  in  beinahe 
wörtlicher  Übersetzung  also: 

Der  gute  Konigssohn. 

Vor  vielen  tausend  Jahren  lebte  ein  mächtiger  König  mit  seiner 
schönen,  jungen  Frau  in  Glück  und  Zufiiedenheit.  Lange  Zeit  hindurch 
hatten  sie  keine  Kinder  und  das  tat  dem  Herzen  der  Königin  gar  weh. 
Da  geschah  es  einmal,  dafs  die  Königin  in  gesegnete  Umstände  kam 
und  in  einer  Nacht  einen  wunderschönen  Knaben  gebar.  Der  König 
war  aufser  sich  vor  Freude  und  brachte  die  ganze  Nacht  bei  seiner 
kranken  Frau  zu.  Gegen  Morgen  schlief  die  Königin  ein  und  der  König 
legte    sich    auch    nieder    und   wollte   eben  einschlafen,    als   drei  weifse 


468  Heinrich  von  Wlislocki. 


Frauen  in  das  Zimmer  traten.  Sie  blieben  vor  dem  Bette  stehen  und 
die  erste  Urme*)  sprach  also:  „Dieser  Knabe  soll  das  schönste  und 
beste  Weib  der  Erde  heiraten!"  Die  zweite  Urme  sprach:  „Dieser  Knabe 
soll  als  Mann  arm  und  allein  in  einer  Wüste  sterben!"  Und  die  dritte 
Urme  sprach  also:  „Dieser  Knabe  soll  den  Reichtum  verachten,  er  soll 
ein  frommer  Mann  werden  und  die  armen  Leute  lieben.  Er  soll  nie 
König  werden!"  Daraufgingen  die  drei  Frauen  aus  dem  Zimmer  hinweg. 
Der  König  hatte  ihre  Worte  gehört  und  erschrack  darob  gar  sehr. 
Seiner  Frau  sagte  er  nichts  davon,  sondern  liefs  schon  am  nächsten  Tage 
für  seinen  Sohn  ein  prachtvolles  Haus  erbauen  und  liefs  denselben  daselbst 
wohnen.  Der  Königssohn  wuchs  heran  und  erhielt  von  seinem  Vater 
alles,  was  er  sich  nur  wünschte;  denn  sein  Vater  wollte,  dafs  er  das 
gute  Leben,  den  Reichtum  lieben  lerne,  damit  er  denselben  nie  verachte. 

Als  der  Königssohn  grofs  wurde,  schlofs  er  mit  einem  jungen  Herrn 
Freundschaft  und  lebte  mit  ihm  in  Freuden  und  Glück.  Einmal  gingen 
die  beiden  Freunde  zum  benachbarten  König  auf  Besuch.  Dieser  König 
hatte  eine  wunderschöne  Tochter  und  der  Königssohn  verliebte  sich  so 
sehr  in  dieselbe,  dafs  er  sie  sogleich  zur  Frau  begehrte.  Der  König 
gab  sie  ihm  auch  und  nun  erst  lebte  der  Königssohn  mit  seiner  schönen, 
jungen  Frau  in  wahrem  Glück.  Sie  liebten  einander  so,  wie  noch  nie 
Mann  und  Frau  sich  geliebt  haben.  Da  traf  es  sich  einmal,  dafs  der 
Königssohn  mit  seinem  Freunde  hinausging  auf  das  Feld.  Sie  spazierten 
dort  lange  Zeit  herum  und  als  sie  nach  Hause  gehen  woUten,  da  hörten 
sie  Jemanden  jammern  und  klagen  und  fanden  in  einem  Graben  eine 
arme,  kranke  Frau,  die  nicht  mehr  gehen  konnte.  Der  Königssohn 
fragte  seinen  Freund:  „Was  fehlt  dieser  Frau?"  Der  Freund  antwortete: 
„Diese  Frau  ist  sehr  krank."  Drauf  fragte  der  Königssohn:  „Kann  auch 
meine  Frau  krank  werden?"  Sein  Freund  entgegnete:  „Ja,  wir  alle  können 
krank  werden!"  Die  beiden  Freunde  hoben  nun  die  kranke  Frau  von 
der  Erde  auf  und  führten  sie  in  die  Stadt,  wo  sie  dieselbe  pflegten,  bis 
dafs  sie  gesund  wurde. 

Einmal  gingen  die  beiden  Freunde  wieder  hinaus  auf  das  Feld,  wo 
sie  eine  alte,  sehr  alte  Frau  begegneten,  die  kaum  mehr  gehen 
konnte.  Da  fragte  der  Königssohn  seinen  Freund:  „Was  fehlt  dieser 
Frau?"  Sein  Freund  antwortete:  „Diese  Frau  ist  sehr  alt!"  Drauf  fragte  der 
Königssohn:  „Wird  auch  meine  schöne  Frau  so  alt  und  häfslich  werden?" 
Sein  Freund  entgegnete:  „Auch  deine  Frau  wird  einmal  so  alt  und 
häfslich  werden!"  Drauf  gingen  sie  nach  Hause  und  von  der  Zeit  an 
war  der  Königssohn  sehr  traurig  und  alle  Leute  sahen  es  ihm  an,  dafs 
er  grofsen  Kummer  im  Herzen  hegte.  Da  traf  es  sich  wieder  einmal, 
dafs  die  beiden  Freunde  hinaus  auf  das  Feld  gingen  und  in  einem  Graben 
eine  tote  Frau  fanden,  die  schon  halb  verwest,  von  Würmern  bedeckt 
war.     Da  fragte  der  Königssohn  seinen  Freund:  „Was  fehlt  dieser  Frau?" 


*)  Urme  ist  die  Fee  der  Zigeuner.     Es  gieht  gute  und  schlechte   Urmen,  die  im 
Gebirge,  in  Seen  und  Höhlen  wohnen. 


Armenisches  und  Zigeunerisches  zu  „Barlaam  und  JosaphaL*  469 

^^-  Sein  Freund  antwortete:   „Diese  Frau  ist  tot  und  lebt  nicht  mehr.     Die 

•^f  Würmer  werden  sie  auflfressen!"  Drauf  fragte  der  Königssohn:  „Werden 

^fc  auch  meine  Frau  die  Würmer  fressen?"  Sein  Freund  entgegnete:  „Deine 

•^i  Frau,    du    und    ich,    wir   alle  werden  sterben  und  uns  alle  werden  die 

^1  Würmer  fressen."     Da  weinte  der  Königssohn  und  wurde  von  der  Zeit 
an  noch  trauriger. 

Da  starb  der  alte  König  und  sein  Sohn  sollte  nun  König  werden. 

^'^  Aber  der  Königssohn  sagte  also  zu  den  Leuten:   „Ich  will  nicht  König 

3l<  werden.     Mein  Freund    soll    meine  Frau    heiraten    und    König   werden. 

asfci  Ich  gehe  weit  in  die  Wüste  und  will  dort  leben  und  sterben.     Ich  will 

Vß  nicht  sehen,  wie  die  Menschen  krank  und  alt  werden  und  dann  sterben!" 

ers  Und   so    geschah    es    auch.     Der  Königssohn    ging   in  die  Wüste    und 

26  lebte    dort  arm    und    allein    als   ein    frommer  Mann;    sein  Freund  aber 

Her  heiratete  seine  Frau  und  wurde  König.  .  . 


m- 


in^ 


ik  Mühlbach  in  Siebenbürgen. 


11; 


ix 


VERMISCHTES. 


Eine  vernachlässigte  Aufgabe  der  Litteraturgeschichte, 


Von 
Marcus  Landau. 


Üeber  Mangel  an  Litteraturgeschichten  haben  wir  uns  jetzt  wohl 
nicht  zu  beklagen.  Wir  besitzen  allgemeine  Litteraturgeschichten  und 
solche  einzelner  Länder,  Völker,  Perioden  und  Litteraturgattungen,  von 
den  zahllosen  Biographien  einzelner  Dichter  und  Schriftsteller,  von  Spezial- 
untersuchungen über  einzelne  Werke  u.  dergl.  gar  nicht  zu  reden.  Und 
doch  fehlt  uns  eine  Geschichte  der  —  ich  weifs  keinen  besseren  Ausdruck 
—  der  angewendeten  Litteratur.  Ich  meine  nämlich  eine  Geschichte, 
die  sich  nicht  mit  den  Schriftstellern  und  ihren  Werken  sondern  mit  ihrer 
Wirkung  auf  die  nichtschreibenden  Leser  beschäftigt,  ich  sage  nicht- 
schreibenden,  denn  an  Arbeiten  über  den  Einflufs  von  Schriftstellem 
auf  ihresgleichen,  von  der  Litteratur  eines  Volkes  auf  die  eines  andern 
haben  wir  zwar  keinen  Überflufs,  aber  auch  keinen  grofsen  Mangel  und 
gerade  in  neuerer  Zeit  ist  dieses  Feld  der  Litteraturgeschichte  recht 
fleifsig  angebaut  worden.  Was  wissen  wir  aber  von  dem  Einflufs,  den 
die  Dichter  und  ihre  Werke  auf  das  Publikum  ausübten,  das  nur  liest, 
ohne  selbst  litterarisch  produzierend  zu  sein  und  ohne  Kritiken  zu 
schreiben?  Man  weifs  freilich,  dafs  die  Schriften  von  Kant,  von  Rousseau, 
von  Darwin  u.  s.  w.  einen  sehr  grofsen  Einfluss  ausübten,  aber  nur  weil 
der  Inhalt  dieser  Schriften  ein  wissenschaftlich-reformatischer,  man  könnte 
sagen  tendenziöser  war. 

Mit  imserer  Kenntnis  von  der  Wirkung  der  schöngeistigen  Litteratur 
ist  es  aber  ziemlich  schlecht  bestellt,  und  doch  könnte  niemand  den 
Einflufs  der  Werke  Dantes,  Petrarkas,  Goethes,  Schillers,  Byrons  u.  s.  w. 
leugnen.  Was  wissen  wir  aber  von  der  Verbreitung  dieser  Werke,  von 
der  Zahl  und  von  der  Bildungsstufe  ihrer  Leser  —  vor  und  nach  der 
Lektüre?  Wir  kennen  die  Anekdote  von  dem  Schmied,  der  die  Verse 
Dantes  schlecht  rezitierte,  wir  wissen,  dais  die  Gondolieri  in  Venedig  die 


Eine  yemachlässig:te  Aufgabe  der  Litteraturgeschichte.  471 

Stanzen  Tassos  sangen  und  man  könnte  noch  viele  ähnliche  Anekdoten 
zitieren;  aber  das  ist  alles  nur  mangelhaftes  Material  für  die  noch  zu 
schreibende  Geschichte  der  angewandten  Litteratur,  die  man  auch 
„Geschichte  der  Lektüre"  nennen  könnte.  Eine  solche  Geschichte  müfste 
sich  in  vielen  Punkten  mit  der  des  Buchhandels  berühren  und  würde  für 
die  neuere  Zeit  in  den  Geschäftsbüchern  der  Leihbibliothekare  reiches 
Material  finden.  Auch  die  Sanmilungen  „fliegender  Worte"  wären  dafür 
schätzbares  Material  insoweit  die  „Worte"  den  Werken  der  Dichter 
entnommen  sind;  denn  was  das  Volk  oft  zitiert,  das  hat  es  wohl  oft 
und  gern  gelesen,  obwohl  sehr  viele  dieser  Zitate  Gemeingut  geworden 
sind  und  von  Leuten  gebraucht  werden,  die  das  Werk,  aus  dem  sie 
stammen,  und  dessen  Verfasser  gar  nicht  kennen. 

Es  würde  sich  der  Mühe  lohnen,  an  die  eben  erwähnte  Anekdote 
anschliefsend,  zu  untersuchen,  wie  die  Kenntnis  des  italienischen  Volkes 
von  der  göttlichen  Komödie  in  den  sechsthalb  Jahrhunderten  seit  dem 
Tode  Dantes  beschaffen  war.  Sollen  wir  nach  der  urteilen,  welche  die 
Dichter  von  ihr  besafsen,  so  mufs  sie  eine  ziemlich  bedeutende  gewesen 
sein;  denn  sie  mischten  absichtlich  oder  unabsichtlich  sehr  oft  Verse 
Dantes  unter  die  ihrigen. 

Ich  habe  mir  die  Mühe  genommen,  aus  zwei  Dichtem  —  Filicaja 
(f  1707)  und  Berni  (f  1536)  —  die  Parallelstellen  heraus  zu  suchen  und 
lasse  sie  am  Schlüsse  dieser  Anregung  folgen.  Es  sind  ihrer  bei  dem 
Einen  allein  ein  Dutzend  aus  einem  mäfsigen  Bande  und  manches  ist  mir 
vielleicht  noch  entgangen. 

Wir  haben  es  zwar  hier  nur  mit  der  Wirkung  eines  Dichters  auf 
den  andern  zu  thun ;  aber  es  ist  anzunehmen,  dals  Filicaja  und  Berni  sich 
nicht  mit  fremden  Federn  schmücken  wollten  und  voraussetzten,  dafs  ihre 
Leser  die   Entlehnung  erkennen  und  nicht  als  Plagiat  betrachten  würden. 

Doch  kehren  wir  zu  unserer  projektirten  Litteraturgeschichte  zurück. 

Eine  solche  Geschichte  müfste  nachweisen,  wie  und  warum  manche 
Dichter  von  ihren  Zeitgenossen  vernachlässigt,  erst  nach  ihrem  Tode  die 
verdiente  Anerkennung  fanden,  wie  andere  im  Leben  berühmt,  nach  ihrem 
Tode  vernachlässigt  wurden,  andere  wieder  die  wechselvollsten  Schick- 
sale erlebten.  Ein  Beispiel  der  letzteren  Art  ist  Metastasio,  der  zu  seiner 
Zeit  als  einer  der  ersten  Dichter  geschätzt,  dann  beinahe  ein  ganzes  Jahr- 
hundert nach  seinem  Tode  unverdient  missachtet  wurde  und  jetzt  wieder 
in  der  Wertschätzung  seiner  Landsleute  zu  steigen  beginnt.  Gab  es 
nicht  eine  Zeit,  wo  man  Goethe  und  Schiller  gleich  achtete  und  wie 
verschieden  ist  jetzt  das  Urteil! 

Und  wie  lange  hat  es  gedauert  bis  Shakespeare  zur  vollen  Aner- 
kennung gelangte? 

Vielleicht  findet  sich  ein  jüngerer  Forscher  durch  diese  Zeilen  angeregt, 
wenn  nicht  die  Geschichte  einer  ganzen  Litteratur,  doch  wenigstens  die 
eines  Dichters  von  diesem  Gesichtspunkte  darzustellen.  Freilich  ist  eine 
solche  Arbeit  schwieriger  als  die,  immerhin  auch  mühsam  und  verdienst- 
liche, der  Sammlung  der  gedruckten  Kritiken  der  Werke  eines  Dichters, 
wie  solche  z.  B.  in  der  Ausgabe  der  Urteile  über  Schiller  geleistet  wurde. 


472 


Marcus  Landau. 


Und  nun  lasse  ich  die  versprochenen  Parallelstellen  folgen: 


Dante, 
quelle  stelle 


.     .     .     .     quelle  cose  belle 
(Inferno  I,  38). 

di  me  piü  degna 

(ib.  I,  122.) 

ma  guarda  e  passa 

(ib.  m,  51). 

colui 
Che  fece  per  viltate  il  gran  rifiuto 
(ib.  m,  60) 

A  noi  venendo  per  Taer  maligno 
(ib.  V,  86) 

Ambo  le  mani  per  dolor  mi  morsi. 
(ib.  XXXffl,  58). 

Amor  che  nella  mente  mi  ragiona 
(Convito,  trattato  HI,  Purgatorio  II,  112). 

Guarda  M  calor  del  sol  che  si  fa  vino 
Giunto  airamor  che  dalla  vite  cola. 
(Purg.  XXV.  77). 

Donna  m^apparve    .... 
(ib.  XXX,  32) 

.     .     .     e  vidi  cose,  che  ridire 
N^  sa  n^  pu6  quäl  di  lassu  discende 
(Paradiso  I,  5) 

Insino  a  qui  Tun  giogo  di  Pamasso 
Assai  mi  fii; 

(ib.  I,  16) 

Colpa  e  vergogna  delPumane  voglie. 
(ib.  I,  30). 


Vincenzo  Filicaja. 

sormontö  le  stelle 
£  quelle  cose  belle 
(Canzone  in  morte  del  Cardinale  di  Toscana). 

di  me  piü  degno 

(Terrine  alla  beatissima  vergine). 

ma  guardo  e  passo 

(II  primo  sacrifizio). 

colei  che  feo  del  trono 
Talto  rifiuto 

(n  secondo  sacrifizio). 

Giü  per  Taere  maligno 
(In  occasione  d^un  stranissimo  temporale). 

Ambo  le  labbra  per  dolor  si  morse 
(Terzine  alla  beat">*  vergine). 

Amor  che  nel  pensiero  a  me  ragiona. 
(Testamento  ai  figliuoli). 

Che  della  vite  in  seno, 
Qual  corre  a  fa^rsi  vin  Taccesa  luce. 
(Alli  Accademici  della  Crusca) 

Donna  m^apparve     .     .     . 
(La  Poesia) 

ivi  udii  cose 


che  il  dir  nostro  e*l  pensar  vincon  d'assaL 
(Caduta  di  NeuhaQsd) 

Del  pamasso  Celeste 
L*un  giogo  ascesi, 
(Ringraziamento  a.  S.  D.  Maestä). 

Colpa  e  vergog^  de*  toscani  inchiostri. 
(In  lode  della  beata  Umiliana) 


Dante. 

Queste  parole  di  colore  oscuro 
(Inferno  III,  10) 

Di  nuova  pena  mi  convien  far  versi 
(ib.  XX,  1) 

Ma  U  principe  de'  nuovi    £a.risei 
(ib.  XXVn,  85) 

Non  se  ne  sono  ancor  le  genti  accorte 
(Paradiso  XVII,  79). 

Wien. 


Francesco  BernL 

Questa  disgrazia  di  colore  oscuro 
(Sonetto:  Chi  fia  giammai) 

Di  nuova  istoria  mi  convien  far  vem, 
(Stanze  premesse  al  Canto  XX,  delV Or- 
lando innam). 

Primo  inventor  de*  nuovi  Farisei, 

(ibid.) 

Non  se  ne  sono  ancor  le  genti  accorte 
(Capitolo  al  Cardinal   Ippolito   de*    Medici) 


-••- 


Theodor  Aubanel  1839—1886.  478 


Theodor  Aubanel 

(1829 — 1886). 


Von 
Pol  de  Mont. 


Theodor  Aubanel,  durch  dessen  Arbeiten  die  provenzalische  Litteratur 
eine  gänzliche  Umgestaltung  erfuhr,  teilt  mit  wenigen  nur  die  Ehre, 
ein  höchlichst  lyrisches  Talent  zu  besitzen.  Während  die  meisten  und 
die  besten  seiner  Sprachgenossen,  Jansemin,  Mistral,  Roumaniho,  Gras, 
Foures,  Roux,  sich  hauptsächlich  epischer  Poesie  beflissen,  ist  er  mit  dem 
bescheidenen  doch  reich  begabten  Tavan,  und  gewifsermafsen  mit  Mathieu 
und  Bonaparte- Wyse,  die  erhabenste  Personifizierung  der  Poesie  wahrer 
Empfindung,  in  dem  Occitanien  dieses  Jahrhunderts. 

Die  Erzählung,  welche  die  rednerische  Darstellung  von  Ereignissen 
und  Begebenheiten  aus  der  wirklichen  Welt  ist,  bleibt  im  Allgemeinen  seiner 
künstlerischen  Anlage  fi'emd.  Dieses  ersieht  man  nicht  allein  in  den 
Balladen,  die  mit  dem  dritten  Teil  seines  Meisterstückes  La  Miougrano 
entreduberto  (1860)  endigen,  sondern  auch  in  seinen  dramatischen 
Werken,  —  ich  erwähne  Lou  Pan  doü  Pecat,  in  welchen  er  offenbar 
nicht  umhin  kann,  jedem  Ereignisse  oder  Zustande,  jedem  Gedanken 
oder  Worte,  eine  unbestreitbar  lyrische  Wendung  zu  geben. 

Einer  seiner  Biographen,  M.  S.  Reynaud,  leg^e  ganz  genau  diese 
eigentümliche  Seite  seines  Talentes  an  den  Tag:  „er  schildert  nur  Krisen, 
Angriffe.  In  einer  Folge  von  Büdem  versteht  es  niemand  besser,  als  er, 
auf  einer  einzigen  Seite,  in  einer  einzigen  Strophe,  in  einem  geradezu 
zum  Herzen  sprechenden  Verse  einen  ganzen  Stoff  zusammen  zu  fafsen. 

Kein  anderer  provenzalischer  Schriftsteller  entspricht  wohl  so  genau 
dem  Ideal,  welches  wir  uns  von  den  früheren  Minnesängern  wie  Arnaud 
Daniel,  Anselme  Faydit,  Guilhem  de  Cabestanh,  Hugues  Brun,  Pierre  Roger, 
Marcabrun,  Ventadour,  so  gerne  vorstellen,  wie  Theodor  Aubanel.  — 
„Les  poetes  provencaux,"  schreibt  Etienne  Pasquier  in  seinen  For- 
schungen über  Frankreich,  „etaient  appeles  troubadours  ä  cause 
des  inventions,  qu'ils  trouvaient  et  gisait  leur  poesie  ensonnets, 
Pastorales,  chansons,  sirventes,  tensons". 

Wer  in  der  Provence,  kann  sich  rühmen,  vollkommenere  Sonette, 
harmonischere  Lieder  gedichtet  zu  haben,  als  der  Verfasser  des  herrlichen 
Cyclus  Li  Fiho  d'Avignoun  und  der  25  auserlesenen  Minne-Elegien 
aus  Lou  Libro  de  TAmour? 

Besitzen  seine  bekannten  Balladen,  Lou  9  Thermidor,  Lis  Innocent, 
nicht  schon  die  gewaltige  Heftigkeit,  die  wir  in  den  uralten  Sirventen 
vorfinden?  Keine  neuere  dichterische  Schöpfung  steht  m.  a.  n.  in  näherer 
Beziehung  mit  den  Schilderungen,    die   uns  von  den  Minnesängern  und 


474  Pol  de  Moat 


Dichtem  des  Mittelalters,  u.  a.,  von  Petrarka,  bekannt  sind,  als  das  ent- 
zückend schöne  Büchlein  Lou  Libro  de  TAmour.  —  Zani,  das  bildschöne 
Mädchen,  welches  Aubanel,  im  Freudenrausche  seiner  frühen  Jugend,  zu 
seiner  Braut  erkoren,  legt  das  Bufsgewand  der  Ordensschwestern  an,  und 
der  Dichter  beweint  sieben  Jahre  lang,  seine  himmlischen,  nie  sich  ver- 
wirklichenden Träume. 

„Um  seinem  Schmerze  Stillschweigen  zu  gebieten,  verliess  er,"  sagt 
der  hervorragende  Frederi  Mistral,  „aufs  gerade  wohl  Avignoun.  Er  be- 
suchte Rom,  Paris  —  und  von  tiefem  Schmerze  durchdrungen,  kam  er  in  die 
Provence  zurück.  Er  bereiste  jetzt  den  Gebirgsstrich,  de  Santo-Baumo,  den 
Mont- Ventour,  die  Alpen.  .  .  .  Aber  die  Rose  war  entblättert;  es  blieben  nur 
Domen  übrig.    Niemand  konnte  sie  aus  der  Wunde  reifsen." 

Gleichwie  der  Verehrer  der  schönen  Laura,  war  er  ins  Labyrinth 
getreten,  ohne  Hoffnung,  irgend  einen  Ausgang  zu  finden. 

„Nel  labirinto  intrai  ne  veggio  ond*esca!" 

Oder,  um  mit  Aubanel  selbst  zusprechen:  „Veraqui  dins  Testäsi 
e  dins  lis  anci  de  Tamour;  jetzt  kannte  er  den  Taumel  und  die  Wehen 
der  Liebe. 

Unter  seinen  Werken  sind  hervorzuheben,  Lou  Libro  de  F Amour, 
von  vielen  mit  Heines  unnachahmlichem  Intermezzo  verglichen.  Es 
enthält  die  Erzählung  der  ersten,  seligen,  unvergesslichen  Begegnung, 
dort  in  der  Feme,  vor  dem  Kapellchen,  bei  dem  alten  Weidenbaum. 
Die  Erinnerung  an  den  anmutigen  Tanz,  von  „la  hello  enfant**  auf  der 
marmornen  Terrasse  ausgeführt,  während  nur  das  Zwitschern  der  Vögel 
sie  begleitete;  die  Erinnerung  an  den  Spaziergang  des  jugendlichen 
Paars  in  der  stillen  Nacht,  die  Trennung,  die  unwiederrufiiche  Trennung, 
einen  Besuch  in  dem  verlassenen  Stübchen  der  Jungfrau,  und  Tranen, 
Tränen.  —  Es  schliefst  mit  diesem  wehmütigen  Geständniss: 

„Ai  lo  cor  ben  malaut,  malaut  ä  n*en  mouri, 
Ai  Ion  cor  ben  malaut,  e  vole  pas  gari.  .  ." 

Soll  in  diesen  Schilderungen  des  Leidens  der  Liebenden,  nach  der 
Meinung  vieler,  die  Erklärung  gefunden  werden  des  ausnahmsweise  Düsteren 
und  Tragischen,  welches  wir  in  den  meisten  Stücken  aus  den  zwei 
Rubriken  des  schönen  Buches,  TEntrelusido  und  Lou  Libro  de  la  Mort, 
in  so  hohem  Mafse  vorfinden? 

Ich  erwähne  Lis  Esclau,  „die  Sklaven**,  ein  Weihnachtslied.  — 
Gottes  eingebomer  Sohn  ist  Mensch  geworden  und  auf  die  Erde  herab- 
gekonmien,  um  nach  so  vielen  Jahrhunderten  die  Sklavenketten  zu 
lösen.  Soll  der  Dichter  einen  Lobgesang  anstimmen?  Soll  er  die  unaus- 
sprechliche Freude  der  Unglücklichen  schildern,  die  auf  eine  baldige 
Erlösung  harren? 

In  einer  düsteren  Szene  schildert  Aubanel  uns  das  Elend  der  Unter- 
drückten und  Armen,  den  schimpflichen  Tod  des  Erlösers  selbst  zwischen 
zweiMissethätern,  und  endigt  würdevoll  seine  Skizze  mit  diesem  geistreiche.?, 
kräftigen  Satz: 

„Die  Sklaven  zitterten;  und  im  Stall  riefen  sie: 
^Caesar,  jetzt  ist  die  Reihe  an  dir,  um  zu  zittern!" 


Theodor  Aubanel  rSsp— 1886.  475 


La  Farn,  „der  Hunger"  mit  diesem  heftigen  Notgeschrei: 

„Quouro  manjan,  o  maire,  quouro?" 

Lou  Tregen,  „der  Dreizehnte";  der  schon  erwähnte  Lou  9  Ther- 
midor,  eine  blutfarbige  Personifizirung  dieses  schrecklichen  Tages,  mit 
dem  überraschenden,  stets  wiederholenden  Schlufsverse: 

„Ounte  vas  eme  toun  grand  couteu? 
—  Cjoupo  de  testo:  sien  bourreu;" 

wie  auch  die  Trilogie  Lis  Innocent,  (der  Mord  der  unschuldigen 
Kinder),  ein  Triptycon,  welches  von  Ribeira  gemalt  scheint.  —  Alle  diese 
Stücke,  die  in  ganz  Frankreich  allgemein  verbreitet  sind,  beweisen  den 
Grundsatz  unserer  Behauptung. 

Doch  hat  Aubanels  Muse  in  späteren  Jahren,  wahrscheinlich  unter 
dem  wohlthuenden  Einflufs  eines  stillen  und  glücklichen  Familienlebens, 
sich  mit  dem  Leben  und  seinen  zuweilen  harten  Anforderungen  versöhnt. 
Und  während  er  nun  unbemerkt  wohlklingenderen  Tönen  und 
helleren  Färbungen  den  Vorzug  gab,  kam  auch  ein  neuer,  bis  dahin 
verborgener  Zug  seines  dichterischen  Charakters  in  seinen  Schriften  mit 
mehr  Klarheit  zum  Vorschein.  Ich  meine:  seine  vielmehr  heidnische  als 
christliche,  seine  vielmehr  hellenische  als  moderne  Verehrung  für 
das  Schöne. 

In  einem  seiner  Sonette  besingt  Aubanel  einen  seiner  Vorfahren, 
einen  griechischen  Seekapitän,  der  zwanzig  Jahre  lang  den  Sarazenen  die 
Köpfe  spaltete  und  die  Wangen  rosenfarbiger  sarazenischer  Jungfrauen 
küsste. 

„Daher  kommt  es,"  sagt  er  selbst,  „dafs  meine  Verse  zuweilen  blutrot 
aussehen.     Von  ihm  besitze  ich  die  Liebe  für  die  Frauen  und  die  Sonne." 

Man  lese  eins  seiner  neueren  Bücher,  Li  Fiho  d'Avignoun;  man 
durchblättere  seine  Vorträge,  die  er  wiederholt  als  Präsident  der  „Jo 
Flourau"  gehalten: 

Ueberall  beweist  er,  dafs  er  ein  enthusiastischer  Bewunderer  der 
Liebe,  der  Frauen  und  der  Schönheit  ist. 

„Was  gibt*s  Schöneres,  Erhabeneres,  Göttlicheres  für  mich,  als 
die  Liebe?" 

„Beklagen  wir  die  Geliebten  nicht!  Sie  leiden  —  aber  sie  gemessen 
mitten  in  ihren  Qualen  eine  unaussprechliche  Wonne!" 

„Wehe  demjenigen,  der  bei  der  Anschauung  des  Antlitzes  einer 
blonden  Jungfrau  nie  sein  Herz  klopfen  fühlte!  Wehe  demjenigen,  welcher 
in  seinem  Geiste  keine  tausend  erhabenen  Gedanken  keimen  fühlte,  die 
alsdann  sein  Blut  in  fieberische  Aufvv^aUung  bringen.  .  ." 

Ich  kenne  zwei  Gedichte,  zwei  Oden  von  Aubanel,  worin  die 
ästhetische  Begeisterung,  welche  ich  so  eben  erwähnte,  auf  die  glänzendste 
Weise  ausgedrückt  wird.  Ich  meine  seinen  Toast  an  die  Dichtkunst, 
und  seine  Ode  an  die  Venus  von  Arles. 

Im  Jahre  1877  ^^^S  Aubanel  im  Arena-Gebäude  zu  Arles  zum  ersten 
Male  seinen  Venus-Hymnus  vor. 


476  Pol  de  Mont. 


„Für  unseren  Dichter/*  schrieb  ein  französischer  Beurteiler,  „ist 
Venus  nicht  allein  die  Personifizirung  der  Liebe  und  des  Anfanges  der 
Fruchtbarkeit  in  der  Natur;  sondern  auch  die  verführerische,  schöne 
Gestalt,  welche  unsere  Sinne  aufser  Fassung  bringt  und  die  Gefühle 
wiederum  beschwichtigt." 

„O  glänzende  Venus,  o  Königin  der  Provence  —  kein  Mantel  ver- 
birgt deine  prächtigen  Schultern.  Man  erkennt  an  dir  die  Göttin  und 
die  Tochter  des  azurblauen  Himmelsgewölbes  —  Dein  Busen  entblöfst 
sich  vor  uns,  und  unser  Auge,  voll  Liebesflamme,  —  bewundert  in 
Geisteswallung  den  jugendlichen  Glanz  der  sanften  imd  unbefleckten  Brust. 
Wie  schön  bist  du!  Kommt,  Völker,  saugt  aus  diesem  Busen  —  die 
Liebe  und  die  Schönheit  ein.  —  Was  wäre  wohl  diese  Erde  ohne  Schön- 
heit? Möge  alles,  was  schön  ist,  glänzen,  —  alles,  was  häfslich  ist, 
verborgen  bleiben  I  —  Zeige  uns  deine  nackten  Arme,  deine  bloise 
Brust,  deine  entblöfste  Hüfte;  —  zeige  dich,  o  göttliche  Venus  in 
deiner  Blöfse  —  deine  Schönheit  bedeckt  dich  besser,  als  dein  schnee- 
weifses  Kleid! 

nSüfse  Venus  von  Arles,  o  Fee  der  Jugend  und  der  Verführung! 
Deine  Schönheit,  die  über  der  ganzen  Provence  strahlt,  —  macht  unsere 
Jungfrauen  reizend  und  verleiht  imseren  Jünglingen  Stärke;  — unter  ihrer 
braunen  Haut,  o  Venus,  fliefst  dein  Blut,  welches  voll  Leben,  immer  warm 
ist. —  Deswegen  bedecken  unsere  Jungfrauen  den  Busen  nicht:  —  deswegen 
sind  unsere  heiteren  Jünglinge  so  tapfer  —  im  Kampf  mit  den  Stieren,  im 
Kampfe  der  Liebe  und  in  dem  auf  dem  Schlachtfelde.  Deswegen  liebe 
ich  dich,  deswegen  bezaubert  mich  deine  Schönheit,  und  deshalb  be- 
singe ich,  der  ich  Christ  bin,  dich,  o  grofse  Heidin." 

Gewifs  bleibt  nur  wenig  von  den  erhabenen  Eigenschaften  dieser 
unübersetzbaren  Verse  in  dieser  unvollständigen  Übersetzung  übrig. 
Doch  ist  auch  dieses  Wenige  hinreichend,  um  zu  beweisen,  dafs  Aubanel 
nicht  nur  wie  ein  Anakreon  oder  ein  Horatius  die  süfsesten  Gesänge 
anzuheben,  sondern  sich  auch  zu  gleicher  Zeit  einem  Pindaros  gleich, 
in  den  höchsten  Sphären  der  Lyrik  emporzuschwingen  weifs.  — 

Aubanel  hat  keine  Biographie  voll  anziehender^  wichtiger  Thatsachen. 
Er  wurde  im  Jahre  1829  (20.  März)  zu  Avignon  geboren,  stand  während  seines 
Lebens  an  der  Spitze  der  päpstlichen  Druckerei,  gründete  am  21.  Mai 
1854  auf  dem  Schlosse  von  Font-Seg^ugno  mit  Mistral  und  Roumaniho 
die  Gesellschaft  der  Felibres,  heiratete  und  wurde  Vater.  Erstarb  i.  No- 
vember 1886.  Das  ist  alles.  —  Wird  die  Lücke,  die  durch  sein  Hinscheiden 
in  den  Gliedern  der  provencalischen  Litteratur  entstanden  ist,  baldigst, 
und  auf  würdevolle  Weise  ausgefüllt  werden?    Ich  bezweifle  es. 

Kein  neuer  Dichter  hat  meines  Wissens  in  der  von  ihm  gepriesenen 
Dichtungsart  ebenso  herrliche  Früchte  hervorgebracht  Ein  einziger,  der 
Bauer-Troubadour  Tavan  den  man  mit  dem  Verstorbenen  gleichstellen 
kann  und  der  seit  einigen  Jahren  das  Stillschweigen  beobachtet  hat, 
könnte  uns  vielleicht,  durch  ein  neues  Werk  von  demselben  Werte  wie 
Amour  e  Plour  Aubanels  Verlust  ersetzen. 


Beaunoir  und  Rdchards  Theaterkalender.  477 

Es  sei  mir  vergönnt,  mit  folgenden  Worten,  welche  der  vielgerühmte 
Auteur  der  reizenden  Novellette,  Jean  des  Figues,  mein  lieber  College 
Paul  Arene,  seinem  hingeschiedenen  Busenfreunde  in  le  Gil  Blas  widmete, 
diese   kurzgefasste  Skizze  zu  schliefsen: 

„Um  dein  wohlgemeintes  Heidentum  zu  versinnlichen,  hätte  man 
unter  dem  Piedestal  des  Kreuzes,  unter  dessen  Schatten  du  ausruhst,  das 
edele  Bild  der  Venus  ausmeifseln  sollen,  welche  für  dich,  in  ihrem  Reize 
und  in  ihrer  Pracht,  die  Geburtsstätte  personifizirte.  Man  wird  es  nicht 
gestatten!  Doch  würde  ein  Leo  X.,  ohne  an  eine  Gotteslästerung  zu 
denken,  es  erlaubt  haben."*) 

Antwerpen. 


Beaunoir  und  Reichards  Theaterkalender. 


Von 
Berthold  Litzmann. 


ZU  dem  Aufsatz  von  Th.  Süpfle  in  Heft  3  und  4  (p.  327  ff.)  dieser 
Zeitschrift:  „Ein  Franzose  als  Originalverfasser  eines  deutschen 
Theaterstückes"  ist  berichtigend  zu  bemerken,  dafs  Beaunoir  mit  seiner 
Behauptung:  „kein  einziger  Deutscher  habe  eine  Ahnung  davon  gehabt, 
dafs  sein  1797  in  Berlin  aufgeführtes  Stück  einen  Franzosen  zum  Ver- 
fasser habe,*^  sich  mindestens  einer  starken  Übertreibung  schuldig  macht. 
Schon  in  dem  für  Reichards  Theaterkalender  von  1799  gelieferten 
(verspäteten)  Bericht  über  die  in  der  Zeit  vom  i.  August  1796  bis  zum 
I.August  1797  am  königl.  Nationaltheater  aufgeführten  Stücke  wird  zu  dem 
einaktigen  Lustspiel:  „Die  Freunde  auf  der  Probe"  (das  nebenbei  gesagt 
nur  drei  Aufführungen  erlebte!)  ausdrücklich  bemerkt:  „aus  dem  Fran- 
zösischen des  Beaunoir.^^ 

Jena. 


-•••- 


*)  Von  Schriften  des  Theodor  A  üb  an  el:  Li  Prouven9alo  und  Li  Nov^,  gemein- 
schaftlich herausgegeben,  von  Aubanei  und  Roumaniho'  1852;  La  Miougrano  entredu- 
berto,  1860;  Lou  Pan  döu  Pecat,  1882;  Li  Fiho  d*Avignoun,  1885;  eine  grofee 
Anzahl  von  Reden  und  Vorträgen,  und  schliefslich  zwei  noch  nicht  veröffentlichte  Dramen, 
Lou  Roubatori  und  Lou  Pastre. 

Zuchr,  f.  ygl.  Litt.-Gescli.  I.  32 


BESPRECHUNGEN. 


Bender,  Ferdinand:  Geschichte  der 
griechischen  Litteratur  von  ihren 
Anfängen  bis  auf  die  Zeit  der  Ptole- 
m  ä  er,  I>eipzig,  Verlag  von  Wilhelm  Friedrich, 
1887.     762  S.  gr.  8.«    M.  12. 

Gemäfs  dem  Programme  der  „Geschichte 
der  Weltlitteratur  in  Einzeldarstellungen,** 
deren  sechsten  Band  diese  Geschichte  der 
griechischen  Litteratur  bildet,  ist  sie  fiir 
gebildete,  der  hellenischen  Sprache  nicht 
mächtige  Leser  bestimmt.  Der  Verfasser 
hat  seine  Aufgabe  richtig  erfa&t:  Es  waren 
die  erhaltenen  Schriftwerke  überwiegend  zu 
berücksichtigen  und  unter  diesen  erforderten 
die  das  gröfsere  Publikum  mehr  anziehenden 
Dichtungen  den  Vorzug  vor  der  Prosa 
Gelehrter  Apparat  war  ausgeschlofsen ,  wo- 
gegen die  Form  der  Darstellung  gefalliger 
sein'  mufste  als  sie  strengwissenschaftlichen 
Werken  eigen  zu  sein  pflegt;  wir  wollen  deshalb 
auch  den  Verfasser  nicht  tadeln,  wenn  in  seinem 
angenehm  an  Otfried  MQller  erinnernden  Stil 
mancher  feuilletonhafte  Ausdruck  auffallt. 

Im  einzelnen  hätte  ein  Philologe  allerdings 
vieles  auszusetzen,  doch  dafi&r  ist  hier  nicht 
der  Ort,  sondern  wir  wollen  lieber  das  Buch 
auf  die  von  dieser  Zeitschrift  vertretenen 
Grundsätze  hin  prüfen. 

Bender  verspricht  in  der  Vorrede  die  ver- 
gleichende Berücksichtigung  der  übrigen 
Litteraturen,  indes  erfüllt  er  die  dadurch 
geweckten  Erwartungen  nicht  ganz.  Wenn- 
gleich    nämlich     der     Verfasser    zahlreiche 


Bemerkungen  über  neuere  Litteratur  und 
Musik,  ja  selbst  über  das,  was  Chinesen  und 
Polynesier  gedichtet  und  gedacht,  —  in  der 
Regel  geschickt  —  einstreut,  wird  die  ver- 
gleichende Geschichte  ganzer  Litteratur- 
gattungen  etwas  stiefmütterlich  behandelt. 
Fast  nur  beim  Drama  zieht  Bender  solche 
weitergreifende  Parallelen  (S.  268  ff.),  indes 
dürfte  hier  mancherlei  einzuwenden  sein: 
z.  B.  ist  S.  270  das  Verhältnis  von  Mysterium 
und  Volksschauspiel  weder  klar  noch  korrekt 
dargestellt.  S.  269  vergifst  der  Verfasser  zu 
erwähnen,  dafs  nicht  blofs  die  römische 
Komödie,  sondern  ganz  besonders  Seneca 
für  das  neuere  Drama  von  Bedeutung  war 
und  noch  unser  Lessing  die  Theorie  der 
Tragödie  eigentlich  zuerst  an  dessen  Schauer- 
stücken studierte. 

S.  200,  wo  eine  ausdrückliche  Hervor- 
hebung, dals  die  Neueren  statt  des  echten 
Anakreon  allein  die  Anakreontika  kannten, 
nicht  überflüssig  wäre,  stofsen  wir  auf  den  Satz: 
„Weil  S.  G.  Lange  kein  Englisch  verstand, 
hielt  er  sich  an  Horaz  und  Anakreon.** 
Richtiger  und  gerechter  hiefse  es:  „Weil  am 
Anfange  des  achtzehnten  Jahrhunderts  in 
Frankreich  die  po^tes  n^lig^s,  voran 
Guillaume  de  Chaulieu,  TAnacr^on  du  Temple, 
in  der  Mode  waren.** 

Warum  wird  S.  307,  wo  von  dem  Sterben 
auf  der  Bühne  die  Rede  ist,  gerade  „Kabale 
und  Liebe**  als  abschreckendes  Beispiel  an- 
geführt? Ich  dächte,  es  gäbe  genug  Beispiele, 


Besprechungen. 


479 


welche  das  moderne  Extrem  gegenüber  dem 

Altertum  drastischer  verträten. 

Doch  wir  wollten  ja  von  der  Vergleichung 

der  allgemeinen  Verhältnisse  und  Bedingungen 
sprechen  und  da  haben  wir  vor  allem  Homer 
in  dem  Sinne,  bei  welchem  Bender  mancherlei 
Bemerkungen  seiner  Vorgänger  hätte  benutzen 
können.  Er  spricht  allerdings  S.  57  von 
Widersprüchen  modemer  Dichter  und  flicht 
S.  65  einen  musikalischen  Vergleich  ein, 
indes  wird  dem  gröfseren  Publikum  unserer 
Zeit  die  homerische  Frage  gewifs  unver- 
ständlicher und  darum  einer  litteraturver- 
gl eichenden  Vorbereitung  bedürftiger  sein  als 
etwa  den  Zeitgenossen  Herders.  Wenn  wir 
versuchen,  einige  der  notwendigen  Vorkennt- 
nisse aufzuzählen,  so  sind  es  etwa  folgende, 
die  durch  Vergleichung  interessant  gemacht 
werden  können:  die  Fortpflanzung  der 
Dichtungen  lieg^  in  den  Händen  eines  Sänger^ 
Standes  (wie  im  Norden,  Irland,  Armenien, 
Altindien,  bei  den  Kalmüken  u.  s.  w.);  häufig 
widmen  sich  Blinde,  zu  anderer  Arbeit  un- 
brauchbar, auf  die  Reflexion  angewiesen  und 
in  der  Vergangenheit  lebend,  diesem  Berufe 
(auch  bei  den  Slawen  und  einst  bei  den 
Germanen,  s.  W.  Grimm,  deutsche  Helden- 
sage, S.  '384  A.  93).  Diese  Sänger  sangen 
ihre  Lieder  beim  Mahle  und  zum  Tanze. 
Jenes  kam  an  vielen  Orten  vor;  ich  erwähne 
nur  die  hunnische  Sitte,  dals,  wenn  Attila  unter 
seinen  Fürsten  schmauste,  zwei  hunnische 
Dichter  seine  Thaten  priesen,  wie  der  Byzan- 
tiner Priskos  (exe.  8,  p.  92  b  ed.  Müller)  als 
Augenzeuge  erzählt ;  dagegen  war  das  epische 
Lied,  auiser  bei  den  alten  Dithmarschen 
(Wackemagel,  Poetik  S.  59),  wohl  nicht 
häufig  eine  Begleitung  des  Tanzes.  Bei 
groisen  Festen  wetteiferten  die  Sänger  um 
den  Preis,  eine  Einrichtung,  die  wir  bei  den 
Skalden,  in  Frankreich,  in  der  Sage  vom 
Wartburgkrieg,  und  selbst  bei  wilden  Stämmen 
finden.  Zu  einem  solchen  Berufe  ist  aber 
ein  ausgezeichnetes  Gedächtnis  die  Haupt- 
beding^nis ;  um  die  Tragkraft  des  menschlichen 
Gehirnes  richtig  zu  schätzen,  müssen  wir 
aus  unserem    tintcnklecksenden   Säkulum  zu 


den  Druiden,  zu  den  Veda-Lehrem  Indiens 
(A.  Weber,  indische  Litteraturgeschichte,  S.  24) 
und  in  die  Koranschulen,  aus  denen  nur  der 
mit  dem  Titel  Hafis  hervorgeht,  welcher  den 
ganzen  Koran  rezitieren  kann,  endlich  auch,  wie 
Roth  in  Kuhns  Zeitschrift,  Bd.  26,  S.  53  A.  i, 
uns  belehrt,  in  die  Südsee  uns  versetzen. 
Wenn  wir  endlich  die  eigentliche  Entwicklung 
der  homerischen  Epen  und  ihrer  Sagen 
studieren  wollen,  kann  es  dem  Philologen 
wie  dem  gebildeten  Laien  nur  förderlich  sein, 
wenn  sie  zum  mindesten  die  Geschichte  der 
Nibelungensage  daneben  halten. 

Wer  in  der  Parallelisierung  der  Geschichte 
der  Litteratur  mit  der  Kunst  und  der  Politik 
eine  höhere  Stufe  der  litterarhistorischen 
Forschung  erblickt,  wird  in  dem  Verfasser 
einen  gewandten  Vertreter  dieser  Richtung 
finden;  ohne  einen  Prinzipienstreit  eröffnen 
zu  wollen,  haben  wir  hin  und  wieder 
ein  Fragezeichen  zu  setzen,  wo  der  Ver- 
fasser,  wie  es  bei  solchen  Vergleichen  auch 

m 

dem  Besten  begegnet,  eine  Ähnlichkeit  oder 
einen  Gegensatz  zu  apodiktisch  formuliert, 
z.  B.  wird  S.  671,  Z.  3  ff.  Lysipp  vergessen; 
S.  487  ff.  ist  die  Entwicklung  des  sogenannten 
perikleischen  Zeitalters  nicht  ganz  richtig 
erfafst  Denn,  nach  unserer  Ansicht  wenigstens, 
ist  der  offizielle  Radikalismus  von  dem 
privaten  zu  trennen  und  zwar  ist  jener,  der 
zuerst  das  gemeine  Volk  an  die  Regierung 
bringt  und  es  dann  durch  glänzenden  Augen- 
und  Ohrenschmaus  unterhält,  der  Zeit  nach 
erheblich  früher;  der  private  Radikalismus 
hingegen  oder  was  man  unter  Sophistik  zu 
verstehen  pflegt,  taucht  erst  in  den  letzten 
Jahren  des  Perlkles  auf  und  hat  sehr 
lange  gegen  die  öffentliche  Meinung  zu 
kämpfen. 

Fordert  nun  auch  Benders  Werk  oft  zum 
Widerspruche  heraus,  so  gehört  es  doch  zu  den 
Büchern,  welche,  zumal  wenn  der  Verfassei 
in  einer  zweiten  Auflage  seinen  Plan  im 
einzelnen  noch  exakter  ausführt,  der  Popu- 
larisierung unserer  Wissenschaft  recht  förder- 
lich sein  können. 

München.  Karl  Sittl. 

32* 


480 


Besprechung^en. 


Bornhaok,  Q:  Geschichte  der  fransö- 
sischen  Litteratur  von  den  ältesten 
Zeiten  bis  zum  Ende  des  zweiten 
Kaiserreichs.  Berlin  1886.  Nicolaische 
Verlags-Buchhandlung.     584  S.  gr.  8  *.    M.  9. 

Bei  der  Abfassung  dieses  umfangreichen 
Buches  hatte  der  Verfasser  nicht  die  Absicht, 
eigene  Forschungen  und  neue  Ergebnisse  vor- 
zulegen. Die  Aufgabe,  welche  er  sich  stellte, 
war  diejenige,  unter  Verwertung  der  hervor- 
ragenderen französischen  und  deutschen 
Arbeiten  eine  möglichst  vollständige  Über- 
sicht über  die  Geschichte  der  Litteratur 
unserer  westlichen  Nachbarn   zu  bieten.     So 

« 

entstand  eine  Art  von  Repertorium  der 
französischen  Schriftsteller  und  Werke  von 
den  frühesten  Zeiten  bis  nahe  in  unsere 
Gegenwart  herab. 

Bei  einer  derartigen  Zusammenstellung 
Hegt  zwar  die  Gefahr  nahe,  dass  die  Einheit 
der  Auffassung  und  des  Tones,  das  richtige 
Verhältnis  zwischen  dem  mehr  und  weniger 
Wesentlichen  gestört  und  der  frische  Hauch, 
welcher  eine  geschichtliche  Darstellung  be- 
leben soll,  vielleicht  ganz  verloren  geht 
Aber  gleichwohl  kann  auch  bei  der  vom 
Verfasser  gewählten  Behandlung  eine  Ge- 
schichte der  französischen  Litteratur  für 
manche  Leserkreise,  zumal  zum  Nachschlagen, 
erwünschte  Auskunft  und  Belehrung  bieten. 
Wir  wollen  im  folgenden  mehreres,  was  uns 
nach  verschiedenen  Beziehungen  hin  beim 
Lesen  auffiel,  im  Anschlüsse  an  den  Gang 
des  Buches   zu  kurzer  Besprechung  bringen. 

In  der  Einleitung  ist  der  Wert  der 
französischen  Kultur  allzu  hoch  angeschlagen. 
Für  den  Verfasser  gilt  der  alte  Anspruch  der 
Franzosen,  dafs  sie  an  der  Spitze  der  Civili- 
sation  marschieren,  auch  noch  für  unsere 
Gegenwart.  Auch  geht  er  zu  weit,  wenn  er 
behauptet,  dafs  fast  bei  allen  Völkern  Europas 
eine  französierende  Richtung  in  ihrer  Litteratur 
geblieben  ist.  Dies  kann  doch  nur  vom 
Roman  und  Lustspiel  gelten.  Ebensowenig 
zulässig  ist  die  Bemerkung,  dals  erst  in 
neuerer  Zeit  sich  auch  eine  Einwirkung  der 
deutschen    Litteratur     auf    die     französische 


nachweisen  ISfst.  Nicht  blofs  schon  seit  der 
zweiten  Hälfte  des  achtzehnten  Jahrhunderts, 
sondern  sogar  schon  am  Ende  des  fünfzehnten 
Jahrhunderts  haben  mehrere  deutsche  Dich- 
tungen Beachtung  und  Nachahmung  jenseits 
des  Rheins  gefunden.  Ebensowenig  ist  der 
Einflufs,  den  erst  Spanien  und  noch  viel  mehr 
England  auf  die  französische  Litteratur  aus- 
geübt hat,  erwähnt.  Eben  daselbst  vermifst 
man  bei  der  Charakterisierung  der  littera- 
rischen und  geistigen  Befähigung  der  franzö- 
sischen Nation  den  Hinweis,  dafs  sie  zwar  in 
hervorstechender  Weise  künstlerische  Ge- 
staltungsfähigkeit, aber  den  eigentlich  idealen 
Zug  nicht  besitzt  Mehr  als  überflüssig  dagegen 
war  es,  die  Behauptung,  dafis  die  Kelten  in  allen 
Künsten  des  verfeinerten  Lebens  tonangebend 
waren,  unter  anderem  durch  die  Bemerkung 
zu  stützen,  dals  sie  die  „Erfinder  des  Bein- 
kleides**  gewesen  sind!  Eigentümlich  ist 
auch  die  Angabe,  dafs  die  Römer  „gar 
vieles**  von  denselben  gelernt  haben.  Neben 
dem  „angeborenen  Schönheitssinn**  der 
Gallier  wäre  wohl  auch  ein  Won  von  ihrer 
Neigung  zur  Gewaittbätigkeit  und  Grausam- 
keit am  Platze  gewesen.  Dafs  die  keltische 
Sprache  „eine  fein  durchgebildete  war,  in 
welcher  man  die  subjektivsten  Empfindungen 
auszudrücken  vermochte",  müfste  wohl  noch 
zu  beweisen  sein.  Wenn  dann  ganz  kurz 
bei  der  Entstehung  des  Französischen  bemerkt 
wird,  dafs  in  die  lingua  romana  „eine  Anzahl 
keltischer  und  germanischer  Worte**  aufge- 
nommen wurden,  so  wird  durch  die  Gleich- 
stellung des  keltischen  Einflusses  mit  dem 
wichtigen  germanischen  das  Verhältnis  nicht 
entsprechend  bezeichnet  Noch  unvollstän- 
diger sind  die  anderen  fränkischen  Einflüsse 
auf  die  Galloromanen  ang^eben.  Selbst 
wenn  man  eine  sittliche  Einwirkung  der 
Germanen  nicht  gelten  lassen  will,  so  mufs 
man  wenigstens  die  kriegerische  und  die  auf 
die  Rechtsbildung  bezügliche  anerkennen. 
Der  Verfasser  erwähnt  nur  einen  innerlichen 
Einflufs  und  gerade  einen  sehr  bestreitbaren, 
wenn  er  sagt,  dafs  die  Galloromanen  „von 
den  Germanen    die  Zähigkeit  und  Ausdauer, 


Besprechung^en. 


481 


die  sie  bis  dahin  nicht  besessen**,  gelernt 
hätten.  Haben  sie  wirklich  diese  Eigenschaften 
angenommen  ?  Wenn  in  der  Einleitung  endlich 
noch  gesagt  wird,  dafs  „schon  bei  den  Kelten 
der  nicht  zu  bekämpfende  Hang  zur  Centra- 
lisation,  der  itmen  mit  den  Römern  gemein 
war**,  sich  gezeigt  habe,  so  ist  dies  nicht  zu- 
treffend. Das  centralisierende  Prinzip  wurde 
nach  Gallien  erst  durch  die  Römer  gebracht, 
wo  es  dann  bald  in  heftigen  Kampf  mit  dem 
durch  die  Franken  vertretenen  Gefühle  der 
persönlichen  Freiheit  geriet 

In  der  Darstellung  der  ersten  Periode 
der  französischen  Litteratur,  der  Zeit  der 
Feudalherrschaft,  wird  bei  der  Poesie  der 
Trouveres  der  Hinweis  vermifst,  dafs  die 
chansons  de  geste  vielfach  auf  germanischer 
Grundlage  beruhen.  In  dem  Paragraphen, 
welcher  über  das  Tierepos  handelt,  hätte 
wohl  die  alte  Auffassung,  dafs  die  Tiersage 
bei  den  Germanen  entstanden  und  durch 
die  Franken  nach  Gallien  gebracht  worden 
sei,  nicht  als  eine  ganz  sichere  angeführt 
werden  sollen. 

Hinsichtlich  der  Behandlung  des  Stoffes 
findet  sich  zum  Teil  schon  in  der  ersten 
Periode,  noch  weit  mehr  aber  in  den  späteren, 
eine  zwar  gewils  Manchem  willkommene 
aber  im  Verhältnis  zum  Ganzen  unVerhältnis- 
mäfeig  ausgedehnte  Angabe  des  Inhaltes 
zahlreicher  litterarischer  Erzeugnisse.  Zudem 
herrscht  dabei  nicht  immer  Gleichmäisigkeit. 
Während  z.  B.  für  Racines  „Athalie**,  bei 
deren  Erwähnung  die  „Demoiselles  de  St.  Cyr** 
sonderbar  mit  ,.junge  .  .  .  Töchter**  statt 
,Junge  Mädchen**  wiedergegeben  sind,  nur 
vier  Zeilen  gewidmet  werden,  und  während 
Moli^res  „l^Avare**  mit  der  Charakterisierung 
als  M  Geizhals  aus  den  höheren  Kreisen  der 
Pariser  Gesellschaft,  der  sich  deshalb  auch 
Bediente,  Pferde  und  Wagen  hält**  abgethan 
ist,  so  wird  dagegen  Balzacs  „la  Peau  de 
chagrin**  auf  öYt^^^ci^)  George  Sands 
„Jndiana**  auf  neun  Seiten,  Victor  Hugos 
„Nötre  Dame  de  Paris**  auf  nahezu  zehn 
Seiten  eingehend  erzählt.  Entbehrlich  war 
die  Analyse  des  vielgelesenen  ^Verre  d*eau** 


von  Scribe  und  des  zu  dem  bekannten  Opem- 
texte  benützten  Romanes  ^  Carmen**  von 
M^rim^e. 

Ausführlich,  bisweilen  vielleicht  zu  sehr, 
sind  auch  die  Lebensverhältnisse  der  Schrift- 
steller behandelt. 

Mit  Recht  hat  der  Verfasser  die  Biblio- 
graphie gebührend  berücksichtigt.  Die  be- 
treffenden Angaben  enthalten  sogar  oft  ent- 
behrliches. Doch  vermissen  wir  z.  B.  die 
Angabe  des  wichtigsten  Werkes  für  Calvin 
und  von  ein  oder  zwei  neueren  Arbeiten 
über  F.  M.  Grimm. 

Bisweilen  sind  einige  kurze  Stellen  aus 
dem  Texte  der  besprochenen  Litteraturer- 
zeugnisse  in  deutscher  Übersetzung  angegeben. 
Sonderbar  klingt  folgende  Übertragung  aus 
einem  Lustspiele  von  Pailleron:  „  Dieser 
Mann  hat  den  Höcker  der  Freundschaft**. 
Das  französische  Wort  „bosse**  bedeutet  hier 
nicht  „Höcker**,  sondern  so  viel  wie  „Beule** 
oder  „Erhöhung**  auf  dem  Kopfe  in  der 
phrenologischen  Kunstsprache.  Es  war  also 
zu  übersetzen:  „Dieser  Mann  hat  den  aus- 
geprägtesten Freundschaftssinn**. 

Bei  den  Angaben  über  Voltaire  heilst 
es  von  dessen  „Oedipe**,  dafs  dieser  „wegen 
seiner  schamlosen  Angriffe  auf  die  katholische 
Kirche  ganz  besonderen  Beifall  fand**  (S.  251). 
Statt  „katholische  Kirche**  war  „Kirche**  zu 
setzen.  Bei  der  Besprechung  von  Voltaire 
als  Dichter  fehlt  der  Hinweis  auf  seine, 
wenn  wir  nicht  irren,  gelung^ensten  Poesien, 
nämlich  die  Contes ,  Satires ,  Ödes, 
Stances  u.  s.  w. 

Etwas  vollständigere  Angaben  hätten  über 
Mercier  und  Marie  Joseph  de  Ch^nier  vor- 
gelegt werden  können. 

Unter  den  Ursachen,  welche  die  roman- 
tische Poesie  in  Frankreich  entwickeln  halfen, 
hätte  wohl  die  eingehendere  Kenntnis  der 
Litteraturen  der  Nachbarvölker,  besonders 
der  Deutschen  und  Engländer,  mehr  in  das 
Licht  gestellt  werden  sollen. 

Bei  dem  Bestreben,  die  einzelnen  Perioden 
der  französischen  Litteratur  recht  scharf  ab- 
zugrenzen,  ist  der  Verfasser   bisweilen  etwas 


482 


Besprechungen. 


zu  weit  gegangen  und  hat  so  manchmal  eng 
Zusammengehöriges  getrennt.  So  findet  sich 
2.  B.  die  „Histoire  de  la  r^volution  fran^ise** 
von  Thiers  auf  Seite  355  besprochen,  während 
dessen  »Histoire  du  consulat  et  de  I*empire** 
mehr  als  hundert  Seiten  später  (S.  479)  zur 
Sprache  gelangt.  Die  Schriften  von  Guizot 
sind  sogar  an  sechs,  die  von  A.  de  Vigny 
an  sieben  bis  acht  verschiedenen  Stellen 
besprochen. 

Wenn  den  neueren  französischen  Sozialisten 
und  Kommunisten  drei  volle  Paragraphen 
(§  79 1  S7i  94)  gewidmet  worden  sind,  so  ist 
diese  Berücksichtigung  in  einer  Geschichte 
der  Litteratur  wohl  zu  weitgehend. 

Wir  schliefsen  mit  der  Bemerkung,  dais 
für  die  leichtere  Benutzung  dieses  weniger 
zum  zusammenhängenden  Lesen  als  zum  Nach- 
schlagen dienlichen  Buches  eine  Angabe  der 
bisweilen  sehr  ausgedehnten  Paragraphen  auf 
jeder  einzelnen  Seite,  sowie  eine  Vervoll- 
ständigung des  beigefügten  Registers  sich 
empfohlen    haben  würde. 

Heidelberg.  Theodor  Süpfle. 

Borinski,  Karl:  Die  Poetik  der  Re- 
naissance und  die  Anfänge  der  litte- 
rarischen Kritik  in  Deutschland. 
Weidmann,  Beriin  1886.  XV,  396  S.  8». 
Mk.  7.  — 

Wenn  nach  der  Mitteilung  des  Verfassers 
sogar  die  Meister  der  Forschung  ihre  Uner- 
fahrenheit  auf  diesem  Gebiet  versichern 
mussten  (S.  X),  so  werde  ich  mich  um  so 
weniger  zu  schämen  brauchen,  wenn  ich  ge- 
stehe, dafs  die  Autoren,  welche  dies  Buch  be- 
handelt, mir  grofsen  Teils  selbst  dem  Namen 
nach  unbekannt  waren.  War  doch  dies 
ganze  Gebiet,  die  technische  Litteratur  des 
poetischen  Kunstgewerbes  um  das  17.  Jahr- 
hundert, von  Borinski  zwar  nicht  neu  zu  ent- 
decken, aber  doch  ganz  neu  auf  Bewohner, 
Sitten  und  Gesetze  zu  durchreisen.  Statt 
also  mit  den  wenigen  kleinen  Berichtigungen 
aufzuwarten  die  ich  aus  eigener  Kenntnis 
beisteuern  könnte,  will  ich  mich  hier  lieber 
völlig    auf  den    Standpunkt    des    dankbaren 


Schülers  stellen  und  nur  darüber  urteilen, 
wie  weit  das  Werk  in  jenes  wichtige  Stoff- 
gebiet einzuführen  geeignet  ist. 

Sichtlich  beherrscht  Borinski  das  riesige 
Material,  welches  er  zu  sammeln  und  aufm- 
arbeiten  hatte,  mit  grofser  Sicheilieit;  und 
dais  er  nicht  blos  mit  Fleils,  sondern  auch 
mit  Liebe  gearbeitet  hat,  beweisen  anschau- 
lich die  Portraits,  welche  er  gelegentlich  von 
den  bedeutenderen  Poetiken -Verfassern  ent. 
wirft  Man  wird  über  die  Auffassung  zuweilen 
streiten  können;  so  ist  Scaliger  (S.  9  f.) 
doch  wohl  zu  ausschliefslich  als  groteske 
Persönlichkeit  geschildert.  Vortrefflich  ist  die 
Charakteristik  Berkens  (S.  239—240)  und  er- 
freulich die  Fortführung  der  durch  Scherer 
angebatmten  Rettung  Opitzens  (S.  250  u.  ö.\ 

Noch  schwieriger  war  die  Aufgabe,  die 
besprochenen  Schriften  selbst  uns  fasslich 
vorzuführen.  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dafs 
Borinskis  Analysen  der  zahlreichen  Poetiken 
sich  recht  oft  ähnlich  sehen.  Dies  liegt  aber 
in  der  von  ihm  selbst  betonten  Familien- 
ähnlichkeit der  Originale  und  es  ist  dem 
Verfasser  als  Verdienst  anzurechnen,  dafs  er 
nicht  in  einer  nur  allzu  beliebten  Art  jede 
kleine  Verschiedenheit  zu  einem  Fundamental- 
Unterschied  aufzublasen  versucht  hat.  Dennoch 
hätte  er  wohl  Manches  durch  kontrastierende 
Vergleichung    schärfer   herausheben    können. 

Und  damit  kommen  wir  auf  den  wichtig- 
sten Punkt.  Borinskis  Arbeit  ist  ein  hervor- 
ragendes Beispiel  einer  Gattung  litterar- 
historischer  Schriften,  für  welche  Uhlands 
Werke  immer  unerreichte  Muster  bleiben 
werden,  und  welche  seit  W.  Menzels 
„Deutscher  Litteratur"  fast  brach  liegt:  die 
beschreibende  Litteraturgeschichte.  Hier  soll 
weniger  die  historische  Entwicklung  klar  ge- 
legt als  eine  möglichst  vollständige  Aufnahme 
einer  bestimmten  Schriftengruppe  gegeben 
werden.  Für  die  Vollständigkeit  wie  für  die 
Treue  dieser  Aufnahme  birgt  des  Verfassers 
aufserordentliche  Gewissenhaftigkeit  und  sein 
lebhaftes  Gerechtigkeitsgefühl.  Vor  engherziger 
Beschränkung  seiner  Aufgabe  schützt  ihn  nicht 
nur  eine  ungewöhnliche  klassische  und  philo- 


Besprechung^en. 


483 


sophische  Bildung,  sondern  schon  das  Thema 
selbst.  Eine  Rezension  seiner  Arbeit  gehörte 
ja  nicht  in  die  Zeitschrift  ffir  vergleichende 
Litteraturgeschichte,  wenn  ffir  das  Werk  die 
deutsche  Litteratur  ausschlieislich  in  Betracht 
käme.  Aber  nicht  nur  ist  die  Poetik  der 
Renaissance  an  sich  fremden  Ursprungs, 
sondern  auch  nach-  ihrer  Einführung  bleibt  ihr 
Schicksal  nicht  freier  Entwicklung  aberlassen; 
unaufhörlich  strömt  von  neuem  romanischer 
Einfluss  zu  und  läfst  herzlich  wenig  Deutsch- 
nationales aufkommen.  Mit  der  gröüsten  Sorg- 
falt hat  Borinski  nun  diese  Einwirkungen  ver- 
folgt und  auch  die  gegenseitige  Beeinflussung 
der  französischen  und  italienischen  Poetik 
beachtet.  Dennoch  wird  g^ade  hier  die 
Grenze  fühlbar,  welche  durch  diebeschreibende 
Methode  der  Verwendbarkeit  des  Buches 
gezogen  ist.  Man  vermisst  durchgreifende 
Gesichtspunkte,  die  eine  Einordnung  der  ge- 
gebenen Daten  in  die  Reihe  der  allgemeinen 
Entwicklung  ermöglichen  könnten.  Man  wird 
gleichsam  zum  Zeitgenossen  der  besprochenen 
Autoren  gemacht  und  hülst  darüber  den  Vor- 
teil ein,  aus  der  späteren  Evolution  jener 
Anfinge  über  deren  Kraft  und  Richtung 
klarer  urteilen  zu  können.  Bündestens  wäre 
als'  Einleitung  oder  Schluis  ein  derartiger 
Oberblick  erwünscht  gewesen.  Denn  statt 
ein  Supplement  zur  Litteraturgeschichte  -des 
17.  Jahrhunderts  zu  sein,  ist  das  Werk  jetzt 
eine  Sammlung  von  Supplementen  zu  den 
einzelnen  litterarhistorischen  Monographien 
über  jene  Zeit  Als  solche  ist  es  freilich 
fortan  unentbehrlich;  bei  jedem  Dichter  der 
behandelten  Epoche  wird  man  von  nun  an 
vermittelst  dieser  Arbeit  prüfen  müssen,  in 
welche  Schule  er  hineingehört  und  wie  weit 
seine  Praxis  durch  die  Theorie  seiner  Lehrer 
bedingt  war.  — 

Wenn  Borinski  selbst  bemerkt,  er  habe 
die  Arbeit  ansprechend  zu  gestalten  g^ucht, 
so  muis  dies  wohlgelungene  Bestreben  dankend 
anerkannt  werden;  doppelt  ist  es  zu  loben, 
wo  ein  oft  so  trockener  Stoff  zu  bewältigen 
war.  Gelegentlich  geht  die  Heiterkeit  des 
Stils   vielleicht    sogar   etwas   zu  weit;    öfter 


aber  —  so  in  der  Behandlung  des  Fürsten 
Ludwig  von  Anhalt  —  ist  sie  von  gesundem 
Humor  erfüllt  Ein  weniger  glückliches 
Mittel,  den  Stil  zu  beleben^  sind  die  oft  allzu 
kühnen  Metaphern  („ein  Cola  Rienzi  der 
Metrik**  S.  35);  auch  stören  häfsliche  Wort- 
bildungen wie  „Codificirer**  (S.  lai),  „Crass- 
heit*"  (S.  188)  und  ziemlich  häufig  Druckfehler 
(ex  propiositis  93,  Aslatica  99).  (Gtaubte  man 
139,  Erzbischoff  ebd.  Anm.  u.  a.).  Die  Vor- 
liebe für  leicht  zu  vermeidende  Fremdwörter 
(«ein  maitre  des  bei  canto**  S.  216)  verbindet 
sich  zuweilen  mit  ungewandter  Benutzung  der- 
selben (^als  geschmacklos  dekretiert **  S.  202). 
Überall  aber  tritt  uns  ein  ernstes  und  auf- 
richtiges Streben  entgegen  und  die  warme 
Verteidigung  der  klassischen  Bildung  erfreut 
um  so  mehr,  als  sie  jetzt  leider  so  not- 
wendig ist.  — 

Berlin.  Richard  M.  Meyer. 

Wagner,  H.  F.:  Robinson  in  Österreich. 
Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  deutschen 
Robinson-Litteratur.  Salzburg,  Verlag  det- 
k.  k.  Hofbuchhandlung  H.  Dieter,  1886. 
27  S.     8». 

Zur  Herausgfabe  dieses  gehaltvollen  Schrift- 
chens  wurde  Professor  H.  F.  Wagner  durch 
das  Buch  „Österreichischer  Robinson**  von 
Ferdinand  Zöhrer,  welches  den  sechsten  Band 
des  im  Verlage  von  K.  Prochaska  (Wien 
und  Teschen)  erscheinenden  Jugendschriften- 
sammelwerkes „Collection  Prochaska"  bildet, 
veranlafst  und  stellte  sich  zur  Aufgabe,  das 
Verhältnis  dieses  neuesten  Robinsons  zu  den 
übrigen,  namentlich  auf  Osterreich  bezüglichen 
Produkten  des  betreffenden  Litteraturzweiges 
näher  zu  besprechen.  Von  dem  Urquell  aller 
Robinsonaden,  dem  1719  in  London  er- 
schienenen Robinson  Crusoe  des  Daniel  Defoö 
ausgehend,  zu  welchem  die  von  Pedro  Serrano 
und  Alexander  Selkirk  erlebten  Abenteuer  die 
hauptsächlichste  Anregung  gaben,  zeigt  Wagner 
dafs  es  auch  den  österreichischen  Schriftsteilem, 
welche  im  18.  Jahrhundert  eine  ziemlich  be- 
deutende Anzahl  von  Robinson-Romanen  in 
die  Welt  setzten,  nicht  an   Vorbildern  hiezu 


484 


Besprechungen. 


gefehlt  hat  und  er  erwähnt  als  der  bekann* 
testen  die  Lebensgeschichten  des  Andreas  Jelky, 
geb.  1730,  des  Grafen  Moritz  August  Ben- 
jowsky,  geb.  1741,  und  des  Leonhard  Eisen- 
schmid,  geb.  1771.  Mehr  oder  weniger 
schlielsen  sich  die  6sterreicbischen  Robinson- 
Romane  an  jenen  Defote  insofern  an,  als 
auch  sie  die  Schrecken  der  Einsamkeit  oder 
das  Zusammenleben  weniger  Schifibrüchiger 
schildern,  beziehungsweise  weiter  ausspinnen, 
wogegen  sämtliche  im  Gegensatze  zu  Defo£ 
ihrem  Helden  eine  weibliche  Gefährtin  in  der 
Einsamkeit  zuteilen.  Nicht  unerwähnt  möge 
gelassen  werden  —  und  dies  vermissen  wir 
in  Wagners  Schrift  —  daOs  einige  öster- 
reichische Robinson-Romane  (darunter  gerade 
der  bedeutendste)  zum  Teil  in  der  Türkei 
spielen  und  auch  Ereignisse  sowie  hervor- 
ragende Persönlichkeiten  aus  den  österreichisch- 
tflrkischen  Kriegen  des  vorigen  Jahrhunderts 
in  ihre  Erzählung  aufnehmen,  was  in  dem 
Verhältnisse  Österreichs  zum  Orient  begründet 
ist,  zugleich  aber  geeignet  sein  mufiste,  das 
Interesse  ffir  die  Produkte  des  in  Rede 
stehenden  Litteraturzweiges  nicht  wenig  zu 
erhöhen. 

Von  den  österreichischenRobinson-Romanen, 
welche  1753— 1808  erschienen  sind  und  sich 
den  politischen  Verhältnissen  entsprechend 
nach  Provinzen  teilen,  bespricht  Wagner  den 
österreichischen  Robinson  vom  Jahre  1791 
(wahrscheinlich  in  Salzburg  verfafst)  den 
steierischen,  den  böhmischen  und  ganz  be- 
sonders den  oberösterreichischen  Robinson, 
welch  letzterer  1803  und  nicht,  wie  sonst  an- 
genommen wurde,  1833  erschienen  ist,  in 
welchem  Jahre  er  die  vierte  Auflage  erlebt 
hat,  seit  welcher  Zeit  der  Robinson,  ver- 
einzelte Erscheinungen  abgerechnet,  aus  der 
deutschen  Romanlitteratur  verschwindet,  da- 
gegen in  der  Jugendlitteratur  seit  Campe  bis 
auf  unsere  Tage  sich  behauptet  hat.  In  diesen 
Kreis  gehört  auch  Zöhrers  österreichischer 
Robinson,  eine  Neubearbeitung  des  vorhin 
erwähnten  oberösterreichischen  Robinsons, 
deren  Verdienst  —  vom  pädagogischen  Stand- 
punkt abgesehen,  welchen  Wagner  gleichfalls 


im  Auge  hat  —  besonders  darin  besteht,  dafs 
durch  sie  ein  Werk  der  älteren  heimischen 
Litteratur  wiedererstanden  ist,  während  sonst 
die  für  die  Jugend  bestimmten  Robinsonaden 
meist  englischen  Romanen  entlehnt  sind. 

Wagners  Schrift,  mit  voller  Sachkenntnis 
geschrieben,  verdient  die  Beachtung  aller, 
welche  dem  Litteraturzweige  der  Robinsonaden 
ihre  nähere  Aufinerksamkeit  widmen. 

St  Johann  i  P.  A.  Luber. 

W«tz,  W.:  Die  Anfänge  der  ernsten 
bürgerlichen  Dichtung  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts.  Das  ruhrende 
Drama  und  bürgerliche  Trauerspiel  bis  zu 
Diderot,  der  Familienroman  des  Marivaux 
und  Richardson  und  die  dramatische  Theorie 
Diderots.  L  Band.  Allgemeiner  TeiL  Das 
rührende  Drama  der  Franzosen.  Erste  Ab- 
teilung. Worms.  Verlag  von  P.  Reiss.  1885. 
306  S.  8«. 

Die  bis  jetzt  vorliegende  Lieferung  giebt 
uns  von  dem,  wie  schon  der  Titel  zeigt, 
breit  angelegten  Werke  zwei  Abschnitte, 
den  allgemeinen  Teil  und  die  erste  Abteilung 
der  Behandlung  des  rührenden  Dramas  der 
Franzosen,  welche  dem  ernsthaften  Lustspiele 
des  Destouches  gewidmet  ist. 

Diese  beiden  Abschnitte,  von  denen  der 
zweite  doppelt  so  viel  Umfang  hat  wie  der 
erste,  sind  ihrem  Inhalte  nach  ebenso  wie  in 
Bezug  auf  die  Art  der  Behandlung  sehr  von 
einander  verschieden.  Dies  liegt  nur  in  der 
Natur  der  Sache  und  kann  daher  dem  Ver- 
fasser weder  zum  Vorwurf  gemacht,  noch  als 
Verdienst  angerechnet  werden.  Wenn  aber 
auch  der  Eindruck,  den  beide  Teile  auf  den 
Leser  machen,  in  sehr  verschiedenem  Grade 
befriedigend  ist,  so  wird  man  darüber  mit 
dem  Verfasser  vielleicht  rechten  dürfen.  Der 
Abschnitt  über  Destouches  nämlich  wird,  wie 
es  uns  scheint,  von  jedem  Unparteiischen  mit 
Interesse  gelesen  und  mit  dem  Anerkenntnis 
beiseite  gelegt  werden,  über  vieles  Aufklärung 
und  Belehrung  erhalten  zu  haben.  Wir  er- 
halten ein  klares,  übersichtliches  und  doch 
auch  bis  ins  Einzelne  ausgeführtes  Bild  eines 


Besprechungen. 


485 


litterarischen  Charakters,  der  tief  in  seiner 
2Mt  wurzelt,  in  seinen  Vorzfigen  wie  in  seinen 
Mängeln  dieselbe  treu  wiederspiegelt,  und 
^^  grade  deswegen,  well  ihm  die  Originali- 
tät des  Genies  abgeht,  eines  Dichters,  der  in 
seiner  Art,  Welt  und  Leben  auftufassen  und 
darzustellen,  nicht  immer  leicht  von  uns  ver- 
standen wird,  dessen  wichtige  historische 
Stellung  ihm  aber  von  vorn  herein  ein  be> 
deutendes  Interesse  bei  jedem  sichert,  für 
den  der  innere  Zusammenhang  und  die  Auf- 
einanderfolge der  Geschmacksrichtungen,  die 
Überwirkungen  der  verschiedenen  National- 
litteraturen  der  neueren  Zeit  auf  einander 
und  die  meist  bei  mehreren  Völkern  gleich- 
zeitig erfolgenden  Umwandlungen  der  poe- 
tischen Gattungen  und  Arten  überhaupt 
Gegenstände  der  Aufmerksamkeit  sind. 

Die  Hauptstärke  des  Herrn  Verfassers  sind 
die  kritischen  Analysen  der  Dramen  des 
Destouches.  Er  geht  ziemlich  streng  mit  ihm 
ins  Gericht,  jedoch,  wie  Referent  meint« 
durchaus  mit  Recht,  nicht  blofs  weil  die  auf* 
gedeckten  Mängel  wirklich  vorhanden  sind* 
sondern  weil  sie  bedeutungsvolle  Momente 
der  historischen  Entwickelung  der  Gattung 
bilden.  Zu  loben  ist  auch,  dals  mit  richtigem 
Takte  das  Bedeutende  von  dem  weniger 
Wichtigen  unterschieden  und  jenes  ein- 
gehender behandelt  wird.  Wir  machen  in 
dieser  Beziehung  besonders  auf  ^ie  Be- 
sprechungen des  „Verheirateten  Philosophen", 
S.  124  fil,  und  des  « Ruhmredigen",  S.  157  ff, 
aufmerksam,  Partien,  die  nach  unserem 
Urteile  alles  Lob  verdienen.  Dagegen 
können  wir  grade  diesen  letzten  zwei  Dritt- 
teilen des  Werkes  gegenüber,  die  uns  im 
allgemeinen  ansprechen  und  dem  Herrn  Ver- 
fasser zu  Danke  verpflichten,  mit  der  Aus- 
stellung nicht  zurückhalten ,  dafs  uns  die 
Bibliographie  zu  kurz  zu  kommen  scheint. 
Das  Buch  ist  doch  wohl  sicher  in  erster 
Linie  für  Fachgenossen  geschrieben,  und 
diese  werden  über  manches  Angaben  wünschen, 
die  sie  nicht  finden,  z.  B.  das  Erscheinen 
von  Einzeldrucken  und  Gesammtausgaben, 
Übersetzungen,  Bearbeitungen.  Referent  weifs 


wohl,  daüs  man  mit  dem  Streben  nach  Voll- 
ständigkeit in  solchen  Dingen  sich  leicht 
eine  ermüdende  Arbeit  aufladet,  die  nicht 
immer  durchaus  gelingen  kann  und  gar  leicht 
einer  übelwollenden  Kritik  Anlais  zu  wohl- 
feilen Angriffen  bietet,  indessen  mufs  es  doch 
versucht  werden,  und  wenn  es  versucht 
wird,  dann  wird  sich  deutlich  zeigen,  dals  es 
sich  nicht  blols  um  Äufserlichkeiten  handelt, 
sondern  sehr  oft  um  Thatsachen,  welche  den 
Charakter  und  die  Haltung  einer  litterrarischen 
Erscheinung  auf  interessante  Weise  zu  be- 
leuchten geeignet  sind. 

Was  nun  den  „ allgemeinen  Teil"  anlangt, 
so  möchte  sich  Referent  zunächst  die  Frage 
aufzustellen  erlauben,  ob  dieser  Abschnitt 
seinen  wesentlichen  Bestandteilen  nach  nicht 
besser  als  Rückblick  oder  Zusammenfassung 
der  Resultate  ans  Ende  des  ganzen  Werkes 
gestellt  worden  wäre.  Man  wird  geneigt, 
diese  Frage  mit  Ja  zu  beantworten,  wenn 
man  wahrnimmt,  dafs  der  Herr  Verfasser  bis 
Seite  35  „Einleitung"  giebt  und  darauf  eine 
„Charakteristik  der  ernsten  bürgerlichen 
Dichtung  im  zweiten  Drittel  des  vorigen 
Jahrhunderts".  Denn  hier  sagt  er  doch  mit 
eigenen  Worten,  dafe  er  das  Resultat  seiner 
Untersuchungen  voraus  schickt  und  dann  an 
die  Untersuchungen  selbst  geht.  Unseres 
Erachtens  hat  er  auch  in  der  „Einleitung" 
alles  gesagt,  was  in  die  Einleitung  gehört, 
nämlich  was  den  Leser  über  die  Aufgabe, 
die  er  sich  gestellt,  orientieren  soll.  Wir 
haben  den  Eindruck,  als  ob  wir  das,  was  auf 
Seite  25—59  gesagt  wird,  gar  nicht  brauchten, 
um  den  Abschnitt  über  Destouches  nicht  nur 
zu  verstehen,  sondern  ihn  auch  ganz  nach 
den  Intentionen  des  Verfassers  aufzufassen. 
Er  wird  es  uns  also  nicht  verübeln  können, 
wenn  wir,  schon  gespannt  auf  die  in  Aussicht 
stehende  eingehende  Darstellung,  den  speziellen 
Teil,  in  dem  allgemeinen  Teile  vieles,  was 
wir  schon  wissen,  ohne  sonderliches  Interesse 
und  das  andere  mit  dem  Gedanken  lesen, 
dafs  wir  die  nähere  Bestätigung  abzuwarten 
haben,  ja  vielleicht  mit  dem  Zweifel,  ob  sich 
wirklich     alles     so    erweisen    werde.     Einer 


486 


Besprechnogen. 


dieser  Zweifel,  der  sich  übrigens  schon  mit 
auf  die  Einleitung  bezieht,  darf  hier  wohl 
geäuisert  werden.  Was  versteht  Wetz  unter 
dem  Gegensatze  von  komisch  und  ernst,  und 
wird  er  diesen  Gegensatz  überall,  z.  B.  auch 
beim  Romane,  durchführen  können,  ohne  in 
Widersprüche  und  Willkürlichkeiten  zu  ge- 
raten? Denn  erstens  entwickelt  sich  die 
Litteratur  nicht  in  zweiteiligen  Gegensätzen, 
und  deshalb  läist  sie  sich  auch  nicht  so  ein- 
teilen, abgesehen  davon,  dals  Wetz  die 
Grenzen  der  von  ihm  zusammengestellten 
Gruppe,  die  er  als  ernst  charakterisiert, 
keineswegs  sachlich  bestimmt  Zweitens  will 
uns  bedünken,  dals  sich  mit  den  Begriffen 
des  Humoristischen,  Satirischen,  Sentimentalen, 
Heroischen,  Phantastischen  mehr  hätte  an- 
langen lassen,  und  derartige  Begriffe,  meinen 
wir,  wäre  der  Verfasser  heranzuziehen  und 
zu  erörtern  geradezu  gezwungen  gewesen, 
wenn  er  vom  Besonderen  zum  Allgemeinen, 
von  der  Erkenntnis  des  Einzelnen  zur 
Zusammenstellung  des  Verwandten  fortge- 
schritten wäre  —  natürlich  reden  wir  von 
der  vorliegenden  Darstellung,  nicht  von  den 
Studien  des  Verfassers,  deren  Verlauf  wir 
nicht  kennen.  Wir  gehen  nicht  so  weit. 
Wetz  die  Grenzen  seiner  Aufgabe  vorschreiben 
zu  wollen.  Es  ist  ja  möglich,  dafs  er  uns 
mit  seinen  weiteren  Untersuchungen  über- 
zeugen wird,  dafs  z.  B.  Fielding  nicht  weit 
mehr  mit  Richardson  zusammengehöre  als 
mit  Destouches,  dafs  also  der  Begriff  des 
Ernsten  ein  wirklich  so  einschneidender  und 
wesentlicher  sei,  wie  er  es  will  —  aber  wir 
wollen  doch  erst  abwarten,  ob  wir  überzeugt 
werden.  Von  Erklärungen,  was  im  Einzelnen 
nach  unserer  Meinung  oder  nach  unserem 
Geschmacke  hie  und  da  hätte  gesagt  werden 
sollen  oder  richtiger  gesagt  werden  sollen, 
wollen  wir  hier  absehen.  Geschiebt  doch 
grade  damit  den  Verfassern  darstellender 
Werke  von  umfangreichem  Thema  oft  das 
bitterste  Unrecht  Dagegen  können  wir  einige 
Bemerkungen  über  die  Darstellung  nicht 
unterdrücken,  weil  sie  dem  Verfasser,  wenn 
er  will,  zum  Nutzen  gereichen  dürften.   Stellen 


wie  die  Seite  57,  „Ein  französischer  KritOcer, 
wir  entsinnen  uns  nicht  genau,  welcher?** 
sollten  doch  in  einem  gelehrten  Buche  nicht 
vorkommen.  Wenigstens  hat  eine  ähnliche 
Stelle  einem  groisen  Gelehrten,  wir  entsinnen 
uns  sehr  genau,  dais  er  Karl  T  >achmann  hieis, 
einen  hochkomischen  Eindruck  gemacht  Dafs 
die  Celiante  des  „Verheirateten  Philosophen," 
S.  189,  zweimal  Celimene  heilst,  erweckt  die 
peinliche  Vermutung,  dais  dergleichen  mehr 
passiert  sein  könnte.  Wortbildungen  wie 
«emstbürgerllch**  (S.  34)  und  »blolsmensch- 
lich**  (S.  35)  möchten  vermieden  werden. 
»Das  Stolsweise^  ist  ein  ebenso  wenig 
schönes  Subjektiv,  wie  „teilweise*'  als  Adjektiv 
eine  glänzende  Rolle  spielt  (S.  16  und  aa). 
.,Schon  bald**  (S.  21)  ist  mindestens  unge^ 
wohnlich,  „VorßiUe  naheliegender  Art"  (S.  28) 
desgleichen.  Wir  können  nicht  alles,  was 
uns  von  dem  stilistischen  Gesichtspunkte 
aus  aufgefallen  ist,  anführen,  namentlich  nicht 
ganze  Sätze,  die  das  Gemeinte  unklar  und 
wenig  geschickt  ausdrücken,  aber  auch  solche 
fehlen  keineswegs.  Doch  sei  anerkannt,  da& 
sich  diese  nach  unserer  Meinung  fehlerhaften 
Stellen  als  Ausnahmen  von  dem  meist  klaren 
und  schlichten  Stile  abheben.  Der  Referent 
dankt  es  dem  Verfasser  ausdrücklich  und 
aufrichtig,  dais  er  sich  nicht  eines  schwülstigen, 
nervösen,  gesuchten  und  „brillanten**  Stils 
beflissen  hat,  („berühmte  Muster'*  wären 
genug  zu  haben  gewesen)  und  kann  damit 
schlielsen,  dais  er  das  Werk  den  Fachgenossen 
warm  empfiehlt,  dem  Verfasser  Mulse  und  Kraft 
zur  Weiterftthrung  und  Vollendung  wünscht 
und  die  Erwartung  ausspricht,  in  nicht  zu 
langer  Zeit  viel  des  Belehrenden  und  Anregen- 
den in  den  folgenden  Lieferungen  zu  erhalten. 
Breslau.  Felix  Bobertag. 

Lentzner,  Dr.  Karl:  Ober  das  Sonett 
und  seine  Gestaltung  in  der  eng- 
lischen Dichtung  bis  Milton.  Halle, 
Niemeyer.  1886.    IV,  81  S.  8*.  M.  3. 

Unzureichend  im  Wissen,  dilettantisch 
in  der  Methode,  unreif  im  Urteil  und  unbe- 
holfen  in   Darstellung   und  Stil,    bildet    die 


Besprechungen. 


487 


angeführte  Schrift  einen  traurigen  Beleg  för  die 
immer  mehr  überhand  nehmende  fobrikmäfsige 
BOchermacherei  auf  dem  Gebiete  der 
Litteraturgeschichte. 

Ein  hartes  Urteil.     Hier  die  Begründung. 

Nach  einer  ebenso  kurzen  als  oberfläch- 
lichen Erörterung  über  die  Entstehung  des 
italienischen  Sonettes  und  die  verschiedenen, 
bei  Petrarca  vorkommenden  Reimanordnungen 
giebt  der  Verfasser  i)  Regeln  för  die  Form, 
a)  Regeln  für  den  Inhalt  des  englischen 
Sonettes.  Dieselben,  bestimmt  einer  histo- 
rischen Betrachtung  der  frühesten  englischen 
Sonettdichtung,  welche  um  1557  mit  dem 
Erscheinen  der  ersten  englischen  Sonette, 
und  nicht,  wie  Verfasser  p.  34  meint,  mit 
1503  dem  Geburtsjahr  Wyatts,  des  ersten 
englischen  Sonettdichters  beginnt,  als  Ein- 
leitung zu  dienen,  sind,  wie  sowohl  aus  deren 
Fassung  selbst,  als  aus  den  Bemerkungen 
und  Citaten  erhellt,  wesentlich  auf  Grund  der 
neueren  englischen  Poetik  aufgestellt  und 
zumeist  aus  der  Sonetttechnik  der  modernen 
und  modernsten  englischen  Dichter  abgeleitet. 
Fürwahr  ein  wenig  tauglicher  Maisstab  zur 
Beurteilung  der  Dichtungen  längst  ent- 
schwundener Zeit.  Dabei  fliefst  dem  Verfasser 
überdem  manches  Unrichtige  und  noch  mehr 
Unnützes  aus  der  Feder.  So  wäre  es  beispiels- 
weise von  Interesse  zu  erfahren,  wie  Herr 
Lentzner  seine  Behauptung,  dafs  Binnenreime 
beim  italienischen  Sonett  die  Regel  bilden, 
beweisen  will,  während  anderseits  ästhetische 
Lehrsätze  wie:  «Das  Ganze  soll  den  Eindruck 
von  etwas  Fertigem,  von  etwas  Vollständigem 
hinterlassen**  (p.  1 2)  ^Ferner  kann  im  Sonett 
ein  schwacher  oder  nur  zum  Ausfüllen  dienen- 
der Vers  nicht  geduldet  werden,  wenngleich 
n  langem  Gedichten  solche  Verse  nicht  nur 
zulässig I  etc.**.  „Es  ist  eigentlich  überflüssig 
hinzuzufügen,  dafs  ein  unklarer  Vers  im  Sonett 
nicht  vorkommen  sollte**,  höchstens  das 
Interesse  angehender  Dichterlinge  und  Sonet- 
tisten  erwecken  können.  Mit  eben  solchen 
Gemeinplätzen  aus  der  Ästhetik  ist  auch  die 
längere  Erläuterung  geziert,  die  der  Verfasser 
seinen  Gesetzestafeln  nachfolgen  läfst  (p.   15 


bis  33).  Wir  begnügen  uns  zwei  derselben 
herauszuheben,  zur  Charakterisierung  des 
Buches  und  zur  Ergötzung  des  Lesers:  »Der 
erste  Hauptpunkt,  der  bei  Beurteilung  eines 
Sonettes  ins  Auge  gefaist  werden  mufs,  ist 
ohne  Zweifel  die  Thatsache,  dafs  es  sich  um 
ein  Gedicht  handelt,  und  da£s  das  Sonett, 
wie  grols  auch  seine  Mängel  sein  mögen, 
jedenfalls  diejenigen  Eigenschaften  besitzen 
mufs,  ohne  welche  kein  Gedicht  schön  ge- 
nannt werden  darf*  (p.  15).  Femer:  „Ohne 
anerkannte  Regeln  für  die  Sonettkomposition 
entbehrt  der  Leser  die  Genugthuung  (!),  welche 
jede  strikte  Beobachtung  einer  vorge- 
schriebenen Form  gewährt.  Der  Autor  hat 
in  einem  solchen  Falle  seine  eigene  Sponta- 
neität gewahrt,  hat  aber  das  Vorrecht  ver- 
wirkt, ein  verfeinertes  Ohr  entzücken  zu 
dürfen**  (p.  30).  Und  all  diese  tiefgründige 
Weisheit,  welche  uns  dazu  helfen  soll,  das 
englische  Sonett  des  16.  und  17.  Jahrhunderts 
verstehen  zu  lernen,  schöpft  Herr  Lentzner 
aus  der  schöngeistelnden  Betrachtung  neuerer 
oder  zeitgenössischer  englischer  Sonettdichter 
wie  Wordsworth,  Matthew  Arnold,  Theodor 
Watts,  Elizabeth  Barrett  Browning,  Dante 
Gabriel  Rosetti  u.  a.  m.  sowie  aus  der  ästhe- 
tischen  Belehrung,  welche  ihm  die  deutschen 
Poetiken  von  Rudolf  von  Gottschall  und 
Dr.  C.  Beyer  boten.  Weiterer  Beweise  für 
die  Wertlosigkeit  der  Schrift  in  methodischer, 
wissenschaftlicher  Beziehung  bedarf  es  für 
den  Fachmann  nun  wohl  nicht  mehr. 

Auf  Seite  34  beginnt  endlich  die  Erörterung 
über  das  Sonett  in  der  englischen  Dichtung 
von  1503  (!)  bis  1674,  welcher  Seite  49 — 52 
ein  Verzeichnis  der  englischen  Sonettdichter 
bis  Milton  nebst  Angabe  der  Geburts-  und 
Todesjahre  folgt  Der  einzige  Wert  dieser 
Abschnitte  beruht  auf  der  Anfuhrung  vieler 
in  englischen  Zeitschriften  und  Publikationen 
gedruckter  Abhandlungen  über  die  alten 
englischen  Sonettisten.  Dasselbe  ist  der  Fall 
bei  dem  21  Seiten  füllenden  Verzeichnis  der 
Anfangs verse  der  bedeutenderen  englischen 
Sonette  von  1503  f!)  bis  1674.  Eine  solche 
Liste  kann  nur  durch  Vollständigkeit  einigen 


488 


Besprechungen. 


Wert  erhalten,  während  sie  in  der  Art,  da 
Herr  Lentzner  die  Auswahl  blofs  nach  seinem 
Geschmacke  getroffen,  durchaus  wert-  und 
nutzlos  ist,  es  war  denn,  Jemand  wollte  es 
als  Nutzen  betrachten,  dafs  ein  solches  Buch 
um  einen  Druckbogen  reicher  wird.  Seite 
74—77  wird  der  Versuch  gemacht,  aus  den 
verschiedenen  vorhergehenden  Tabellen  ein 
Ergebnis  für  die  Litteraturgeschichte  zu  ge- 
winnen. Seite  78—81  folgen  wieder  chrono- 
logische Zusammenstellungen  und  Reimtabellen, 
diesmal  Ober  das  Sonett  Miltons  im  Besondem. 

Was  aufser  der  beständigen,  unwissen- 
schaftlichen Vermengung  ästhetischer  und 
historischer  Gesichtspunkte  an  Lentzners 
Schrift  besonders  unangenehm  auffällt,  ist  die 
Oberflächlichkeit,  mit  der  das  Verhältnis  der 
frühesten  englischen  Sonettdichtung  zu  den 
romanischen  Vorbildern  behandelt  wird.  So 
hätte  z.  B.  das  häufige  Vorkommen  von  Frauen- 
namen als  Titel  von  Sonettsammlungcn 
(GrifTms  „Fidessa*,  Daniels  „Delia"  u.  s.  w.) 
auf  den  Elnftufs  französischer  Renaissance* 
dichtungen  hinweisen  können*);  för  die 
„Sundey  Sonnets  of  Christian  Passions**  von 
Henry  Lock  wären  die  verwandten  Er- 
scheinungen in  der  Sonettdichtung  der 
Franzosen  (Anne  de  Marquets)  und  Deutschen 
(A.  Gryphius)  anzuziehen  gewesen,  ebenso  fiir 
Withers  „Rhomboid  Quatuorzain**  die  Ver- 
suche der  Nürnberger. 

Doch  genug;  das  Wesen  der  Lentznerschen 
Arbeit  ist  sattsam  gekennzeichnet  und  des 
Weiteren  zu  beweisen,  dafs  ein  gedrucktes 
Kollectaneenheft  noch  kein  Buch  ist,  ist  an 
dieser  Stelle  wohl  nicht  nötig. 

Im  Anschluss  an  die  Besprechung  des 
Lentznerschen  Machwerkes  sei  auch  in  Kürze 
noch  der  folgenden  Arbeit  gedacht: 

Sharp,  William:  Sonnets  of  this 
Century  edited  and  arranged   with   a 


*)  Ebenso  wäre  es  angemessen  ge- 
wesen, bei  Spencer  auf  dessen  ^  Ruinen  von 
Rom**  besonders  hinzuweisen  und  deren  Be- 
ziehung zu  Du  Bellays  «antiquites  de  Rome'* 
zu  erörtern 


critical    introduction    on    the  sonnet 
London     1886.       Walter    Scott       LXXXI, 

Dieser  fein  ausgestatteten,  für  den  Putz- 
tisch berechneten  Sammlung  modemer  eng- 
lischer Sonette  ist  eine  Einleitung  voraus- 
geschickt, der  man  in  den  Fachkreisen  das 
Beiwort  „ critical**  wohl  kaum  zugestehen  wird. 
Alte  Irrtümer  werden  darin  wieder  aufgewärmt, 
neue  Ergebnisse  nicht  gewonnen.  Die  Be- 
trachtung ist  mehr  eine  ästhetisierende,  als 
eine  historische  und  zum  Schluss  bringt  auch 
Sharp  einen  Dekalog  für  Sonettisten  „the  tcn 
Commandements  of  the  Sonnet**,  der  in 
manchen  Punkten  für  das  unmittelbare  Vor- 
bild der  Lentznerschen  Regeln  gelten  könnte, 
wenn  nicht  der  Königsberger  Lector  aus- 
drücklich versicherte,  dass  seine  Arbeit  bereits 
eingereicht  war,  als  das  Büchlein  des  Eng- 
länders erschien.  Auch  in  Sharps  Einleitung 
offenbart  sich  der  mit  Redensarten  und 
wissenschaftlichem  Kleinkram  grofsthuende 
Dilettantismus,  aber  in  einer  englischen  Luxus- 
Ausgabe  neuerer  und  neuester  Sonettdichter 
ist  er  eher  zu  entschuldigen  und  leichter  zu 
ertragen,  als  in  einer  deutschen  Habilitations- 
schrift. Wer  im  übrigen  die  Entwickelung 
des  modernen  englischen  Sonettes  ohne  grofse 
Mühe  kennen  lernen  will,  dem  kann  das 
Büchlein  nur  empfohlen  werden. 

München.  Heinrich  WeltL 

Fischer,  Heinrioh:  Lessings  Laokoon 
und  die  Gesetze  der  bildenden  Kunst. 
Berlin,  Weidmannsche  Buchhandlung.  1887. 
VIII,  200  Seiten.     8».     M.  3,60. 

Die  Gesetze  der  bildenden  Kunst,  welche 
Lessing  im  Laokoon  und  in  den  handschrift- 
lich überlieferten  Entwürfen  zur  Fortsetzung 
desselben  oder  zu  einzelnen  Partien  seines 
Werkes  aufgestellt  hat,  sind  in  neuerer  Zeit 
häufiger  Gegenstand  erneuter,  mehr  oder 
weniger  polemischer  Behandlung  geworden, 
als  seine  fast  zu  kanonischem  Ansehen  ge- 
langten Gesetze  für  die  Dichtkunst.  Seine 
Definition  des  Schönen  in  der  Kunst;  seine 
anscheinend  deutlich  ausgesprochene  Gering- 


Besprechungen. 


489 


Schätzung  der  Historienmalerei,  der  Land- 
schaft, des  Genres;  seine  Verwerfung  des 
transitorischen  Moments  und  noch  so  manches 
andere  ist  mehr  als  einmal  nicht  blols  von 
Gegnern,  sondern  selbst  von  bewundernden 
Anhängern  Lessings  bekämpft  oder  wenigstens 
eingeschränkt  worden ;  auch  der  neueste  Bio- 
graph Lessings,  Erich  Schmidt,  spricht  von 
^beiläufigen  Unklarheiten  und  Widersprüchen 
in  der  Definition,**  von  „scharf  gespannter 
Einseitigkeit**  gerade  mit  Rucksicht  auf  die 
hier  bezeichneten  Fragen,  wenn  er  auch 
andererseits  hervorhebt,  dafs  zu  gewissen 
Zeiten  nur  eine  schroffe  Einseitigkeit  freie 
Bahn  brechen  könne.  Die  vorliegende  Schrift 
eines  Grdfswalder  Gymnasiallehrers,  als  deren 
Vorläufer  vor  drei  Jahren  ein  speziell  gegen 
das  zweite  Heft  meiner  Laokoonstudien  (Ober 
den  fruchtbarsten  Moment)  gerichtetes  Gym- 
nasial-Programm  erschienen  ist,  stellt  sich 
nun  die  Aufgabe,  die  gegen  Lessing  erhobenen 
Einwände  als  ungerechtfertigt  zu  erweisen,  in- 
dem der  Verfasser  sich  bemüht,  darzulegen, 
dafs  man  vielfach  einzelne  Gedanken,  welche 
Lessing  gelegentlich  hingeworfen,  später  aber 
selbst  wieder  fallen  gelassen  hätte,  fälschlich 
zu  festen  Gliedern  seiner  ästhetischen  Theorie 
stempelt;  dafs  man  femer  Lessingsche  Sätze 
geradezu  miisverstanden,  nicht  in  ihrer  richtigen 
Tragweite  erfafst  habe,  und  endlich,  dafs  in 
den  meisten  Fällen  auch  die  Betrachtung  der 
modernen  Kunst  den  Beweis  dafür  liefere, 
dais  Lessings  Forderungen  durchaus  berech- 
tigt seien  und  ebensogut,  wie  sie  Lessing  im 
wesentlichen  a  priori  aufgestellt  habe,  aus  den 
Werken  der  bildenden  Kunst  abstrahiert  wer- 
den könnten.  Der  Charakter  der  Fischerschen 
Schrift  ist  daher  ein  doppelter:  sie  ist  teils 
apologetischer,  teils  polemischer  Natur.  Den 
Verehrer  Lessings  kann  die  Wärme,  mit 
welcher  der  Verfasser  für  die  Richtigkeit  der 
Lessingschen  Sätze  eintritt,  nur  wohlthuend 
berühren;  und  sollte  es  selbst  manchem  Leser 
vorkommen,  als  habe  der  Verfasser  in  seinem 
Eifer  da  oder  dort  des  Guten  etwas  zu  viel 
gethan  und  im  Bestreben,  die  Autorität  der 
Lessingschen  Theorie  zu  stützen,  manches  aus 


dem  Buch  herausgelesen,  was  andere  beim  besten 
Willen  darin  nicht  finden  können,  so  wird 
man  dies  doch  dem  Apologeten  gern  zu  g^te 
halten.  Die  Polemik,  welche  einen  nicht 
unbeträchtlichen  Raum  der  Schrift  ausmacht, 
ist  vornehmlich  gegen  Justi  und  gegen  mich 
gerichtet  Was  meine  Wenigkeit  anlangt,  so 
kann  ich  mich  über  Ton  und  Inhalt  der  gegen 
mich  gerichteten  Bemerkungen  nur  freuen; 
ich  bin  nicht  oft  von  gegnerischen  Kritikern 
auf  so  liebenswürdige  Art  behandelt  worden, 
Justi  dagegen  bekennt  der  Verfasser  selbst, 
nicht  n allzusanft**  behandelt  zu  haben,  und  in 
der  That,  wenn  sich  Fischer  bei  seiner  Kritik 
der  Justischen  Ansichten  nach  der  bekannten 
Lessingschen  «Tonleiter**  gerichtet  hat,  so 
müfste  man  glauben,  dafs  er  Herrn  Justi  als 
„Stümper,  Prahler  und  Kabalenmacher** 
betrachtet  hat,  so  „abschreckend  und  positiv,** 
so  „höhnisch**  und  „so  bitter  als  möglich** 
ist  sein  Ton,  wenn  er  auf  ihn  zu  sprechen 
kommt.  Ich  gestehe,  dafs  ich  dies  bedauere; 
denn  selbst,  wenn  man  dem  Verfasser  ein- 
räumen wollte  (und  in  vielen  Fällen  muis 
man  es  wirklich),  dafs  Justis  Vorwürfe  gegen 
Lessing  leichtfertig  und  vom  Zaune  gebrochen 
sind,  so  sind  doch  andererseits  die  Verdienste 
des  Biographen  Winckelmanns  so  unbestritten, 
dafs  die  Polemik  gegen  ihn  auf  einen  andern 
Ton  hätte  gestimmt  werden  sollen,  wenn  ich 
auch  zugebe,  dafs  der  im  gegebenen  Fall 
passende  in  der  Lessingschen  Tonleiter  nicht 
vertreten  ist. 

Doch  auf  Persönliches  haben  wir  hier 
nicht  einzugehen,  und  wenn  die  polemische 
Seite  die  wesentlichste  in  Fischers  Schrift 
wäre,  so  wäre  eine  ausführliche  Besprechung 
derselben  vermutlich  den  wenigsten  Lesern 
willkommen.  Allein  das  ist  keineswegs  der 
Fall.  Die  Ansichten,  welche  Fischer  aufstellt, 
sind  vielfach  so  originell,  so  frappierend 
und  inmier  so  tief  durchdacht,  dafs  sie  zur 
Besprechung  förmlich  herausfordern.  Dabei  hat 
der  Verfasser,  was  ich  als  eine  ganz  besonders 
verdienstliche  Seite  seiner  Arbeit  betrachte, 
bei  allen  von  ihm  behandelten  Fragen  die 
moderne   Kunst   bis   auf   die  jüngste  Gegen- 


490 


Besprechung^en. 


wart  hinab  zu  Beispielen  und  Betegfen  heran- 
gesog^en  und  damit  nicht  nur  denjenigen  Weg 
betrete»,  welcher  heutzutage  bei  Lösung  ästhe- 
tischer Prägen  zweifellos  der  einzig  richtige 
ist,  sondern  auch  für  solche  Leser,  welche 
die  praktisch  angewandte  Ästhetik  den  theore- 
tischen Grflbeleien  vorziehen,  seine  Schrift  an- 
ziehender und  schmackhafter  gemacht.  —  Es 
wäre  mir  nun  das  liebste,  wenn  ich  den  reichen 
Inhalt  des  Buches  hier  Kapitel  für  Kapitel  durch- 
nehmen und  meine  Bemerkungen  daran  an- 
knüpfen könnte;  allein  dadurch  würde  diese 
Besprechung  doch  zu  einem  ungebührlichen 
Umfange  anschwellen.  Ich  mufs  mich  daher 
damit  begnügen,  hier  nur  auf  einige  Haupt- 
punkte näher  einzugehen  und  im  übrigen  die 
Leser  dieser  Zeitschrift  auf  Fischers  Buch 
selbst  zu  verweisen. 

Der  gröfsteTeil  der  Schrift  (S.  13-X19) 
ist  der  Betrachtung  des  Lessingschen  Schön- 
heitsbegriffcs  und  dem  Nachweis,  dafs  der- 
selbe im  wesentlichen  durchaus  berechtigt  ist 
und  durch  die  Kunst  bis  auf  den  heutigen 
Tag  seine  Bestätigung  findet,  gewidmet.  Mit 
Recht  wird  den  Vorwürfen,  welche  Justi 
Lessing  wegen  seiner  Unsicherheit  in  der 
Definition  der  Schönheit  gemacht  hat,  ent- 
gegengehalten, dafs  Justi  hierbei  Lessingsche 
Äulserungen,  welche  aus  sehr  verschiedenen 
Zeiten,  aus  ganz  verschiedenen  Schriften 
stammen,  ja  die  zum  Teil  aus  dem  Zusammen- 
hang gerissen  und  dadurch  Mifsverständnissen 
ausgesetzt  sind,  zu  seiner  Konstruktion  des 
Lessingschen  Schönheitsbegriffes  benutzt  hat. 
Wenn  Lessing  die  Schönheit  als  Bndzweck 
der  bildenden  Künste  angebe,  so  komme  es 
ihm  dabei  nur  auf  die  körperliche  Schönheit, 
welche  vornehmlich  auf  der  Form  beruht, 
an;  geistige  oder  sittliche  Schönheit  dagegen 
bezeichne  er  als  Vollkommenheit  (Seite  16). 
Lessing  fordert  nun,  dals  die  Kunst  nicht 
blofs  durch  die  Vollkommenheit  der  Nach- 
ahmung, sondern  auch  durch  die  Vollkommen- 
heit des  dargestellten  Gegenstandes  wirke. 
Gerade  dieser  Satz  wird  von  den  neueren 
Kunsttheoretikem  besonders  lebhaft  bekämpft, 
da  unsere  Zeit  andere  Anforderungen  stelle, 


da  unsere  Empfindungen  und  Bedürfnisse  sich 
gegen  früher  verändert  hätten.  Dies  wird 
aber  von  Fischer  nicht  zugegeben.  Allerdings 
habe  sich  unsere  Zeit  in  mancher  Beziehung 
verändert;  wir  vertrügen  stärkere  Effekte, 
schärfere  Gegensätze;  aber  im  allgemeinen 
wollten  doch  auch  alle  heutigen  Künstler, 
bildende  wie  dichtende  oder  Musiker,  auch 
durch  die  Vollkommenheit  des  Gegenstandes, 
nicht  blos  der  Nachahmung,  wirken.  Möge 
es  auch  viele  geben,  die  sich  hiervon  ab- 
wenden, die  Mehrzahl  der  Kunstgemeinde  stehe 
doch  zu  der  Lessingschen  Forderung  (S.  20  ff.). 

—  Ohne  gegen  die  Richtigkeit  der  Lessing- 
schen Forderung  irgendwie  Einsprache  er- 
heben zu  wollen,  finde  ich  doch,  dafs  der 
Verfasser  hier  unserer  modernen  Kunst  etwas 
zu  optimistisch  gegenübersteht  Wenn  wir 
unter  „Kunstgemeinde**  das  für  die  Kunst 
sich  interessierende  Publikum  verstehen,  so 
mu(s  man  ihm  ja  Recht  geben;  gerade  das 
Publikum  hat  sich  nach  dieser  Richtung  hin 
vielfach  einen  gesünderen  Sinn  bewahrt,  als 
die  Kunstrichter  und  Kritiker,  ja  als  die 
Künstler  selbst.  Aber  wer  kann  die  Augen 
dagegen  verschliefsen ,  dafs  in  der  Poesie 
wie  in  der  Kunst  gegenwärtig  die  realistische 
Richtung,  welche  das  Häfsliche  gerade  um 
seiner  Häfslichkeit  willen,  oder  sagen  wir, 
weil  es  der  Wirklichkeit  am  meisten  entspricht, 
zum  Gegenstande  sich  wählt,  dafs  diese 
Richtung  wenn  auch  nicht  gerade  dominiert, 
so  doch  eine  sehr  hervorragende  Rolle  spielt? 

—  Man  braucht  für  die  Dichtkunst  nicht 
gerade  Zola  zu  nennen;  der  Name  Ibsen 
genügt  auch.  Fischer  führt  Beispiele  neuerer 
Maler  an,  welche  gegenwärtig  besonders  Sen- 
sation gemacht  hätten  und  alle  im  Dienste 
der  Schönheit  stünden :  Makart,  Boecklin,  Pi- 
loty,  Siemiradzky,  Gebhardt  u.  a.  Ich  will 
es  von  allen  zugeben,  auch  von  Gebhardt, 
dessen  Sujets  keinen  Vorwurf  verdienen,  aber 
von  Boecklin  doch  nur  mit  sehr  wesentlichen 
Ausnahmen.  Gerade  unter  den  neuesten 
Arbeiten  dieses  Meisters  sind  verschiedene 
Werke,  bei  denen  der  unbefangene  Beschauer 
(der  das  freilich  in  Gegenwart  unserer  Kunst- 


Besprediungfen. 


491 


kritiker  nicht  laut  sagen  darf)  zwar  die  Voll- 
kommenheit  der  technischen  Ausfthrung,  aber 
niemals  die  Vollkommenheit  der  dargestellten 
Gegenstände  bewundem  wird.  Oder  soll  man 
diese  ausgesucht  hAfslichen  Meerwesen,  diese 
Tritonen  mit  plumpen,  in  Verwesungsfarben 
schillernden  RobbenftUsen,  diese  Froschkönige, 
vor  denen  schwangere  Frauen  aus  Entsetzen 
Fehlgeburten  thun  könnten,  diese  Fischweibern 
gleichenden  Najaden  mit  den  roten  Schnaps- 
gesichtem  u.  s.  w.  als  vollkommen  in  ihrer 
Art  betrachten?  oder  glauben,  dais  der  Künst- 
ler beabsichtigt  hat,  mit  ihnen  etwas  Schönes 
darzustellen?  ^  —  Nein,  Lessings  Satz  gilt 
durchaus  fftr  die  antike  Kunst,  er  gilt  auch 
ftkr  die  weitaus  überwiegende  Mehrzahl  der 
modernen  Künstler,  aber  er  erleidet  doch  in 
der  neueren  Kunst  eine  sehr  bedeutende  Ein- 
schränkung: selbstverständlich  nicht  hinsicht- 
lich seiner  Richtigkeit,  sondern  in  Rücksicht 
auf  seine  praktische  Durchführung.  Auch 
zahlreiche  der  niederländischen  Genremaler 
haben  das  Häfsliche  und  Unvollkommene 
mit  bewufster  Absichtlichkeit  zu  ihrem  Gegen- 
stande gemacht  Diese  trunkenen  Bauern, 
diese  rohen  Wirtshaus-Prügeleien  —  kann 
man  da  noch  von  Vollkommenheit  des  Gegen- 
standes sprechen?  Ja,  wenn  man  den  Begriff 
des  Wortes  so  weit  ausdehnt,  dann  ist  freilich 
jedes  Ding  in  seiner  Art  vollkommen,  selbst 
die  Pferdeäpfel  auf  dem  Prey ersehen  ^ Spatzen- 
frühstück;** aber  man  wird  mich  nicht  über- 
reden, dais  Lessing  bei  seiner  Theorie  eine 
solche  Erweiterung  des  Begriffes  im  Sinne 
gehabt  hat. 

Am  meisten  haben  noch  zu  allen  Zeiten 
die  plastischen  Künstler  das  Gesetz  der  Schön- 
heit festgehalten ;  Fischer  meint  (S.  34),  man 
mCisse,  um  auch  nur  Ausnahmen  davon  zu 
finden,  schon  zu  den  ersten  Anfängen  zurück- 
gehen, zu  den  Metopen  von  Selinunt,  den 
Extemsteinen  oder  den  Holzschnitzereien  des 
Mittelalters:  aber  nicht  einmal  diese  dürfen 
als  Ausnahmen  galten.  Denn  wenn  uns  auch 
die  Metopen  von  Selinunt  oder  die  traurigen 
nackten  Figuren  mittelalterlicher  Skulpturen 
häfslich  erscheinen,  so  erschienen  sie  so  doch 


weder    dem    damaligen  Publikum   noch   den 
Künstlern;  die  Künstler  wollten  in  der  Regel 
so  schön  als  möglich  bilden  (die  Meduse  der 
selinuntischen  Metope    ist   selbstverständlich 
eine  Ausnahme,  well  hier  der  abschreckende 
Typus  gegeben    war),    sie    konnten    es    nur 
nicht  besser.     Höchstens  bei  Christusfiguren 
lag  es  wirklich  manchmal  in  der  Absicht  des 
Künstlers,    den  Leib  des   Heilandes  so   ab- 
gemagert, vom  Leiden  verzehrt  als   möglich 
zu  zeigen :  aus  religiösen  Gründen,  damit  der 
Beschauer  um  so  mehr  zur  Andacht  gestimmt 
würde,    wenn    er    sah,    wie    entsetzlich    sein 
Herr  und  Heiland  für  die  sündige  Menschheit 
gelitten  hatte;  —  also  aus  Gründen,  die  mit 
künstlerischen  Gesichtspunkten  nichts  zu  thun 
haben  und   das  betreffende  Kunstwerk  nach 
Lessings  eigenem  Willen    in  die  Reihe  der 
bei  aesthetischen   Fragen  aufser  Betracht  zu 
stellenden  rücken.  —  Anders  in  der  Malerei. 
Wenn   der  Verfasser  meint,  dafs   der  Maler 
durchweg  nicht  blos  auf  Schönheit  der  Farbe, 
sondern  auch  und  vornehmlich  auf  Schönheit 
der  Linien  der  Komposition  ausgehe  (S.  35  ff.), 
so  muis  man  sagen :  das  sollte  wohl  so  sein, 
aber  es  ist  keineswegs  allgemein  so.     Zwar 
möchte  ich  Michel  Angelo  und  Adolf  Menzel, 
auf  die  Fischer  als  auf  scheinbare  Ausnahmen 
hinweist,  keineswegs  dazu  rechnen;  aber  ich 
rekurriere  wieder,  um  bei  dem  augenblicklich 
modernsten  und  gefeiertsten  Künstler  stehen 
zu  bleiben,   auf  Boecklin.     Er,  der  in  seinen 
Farben   Unübertreffliche,    hat    er    auch    bei 
seinen  steifhalsigen  Schwänen  in  den  „Gefilden 
der  Seligen**  wirklich  die  Schönheit  der  Linien 
beabsichtigt?    Der  Verfasser  selbst  weist  an 
anderer  Stelle  (S.  165)   darauf  hin,   dafs  die 
Schwäne  durch  diese  Halsstellung  als  schwim- 
mend bezeichnet  werden* sollen;  ich  lasse  es 
gelten:    aber   der    Künstler    hat    dann    doch 
jedenfalls  die  Schönheit  der  Linien  der  Natur- 
wahrheit aufgeopfert.     Und  wenn  man  sagt, 
das  sei  nur  ein  einzelner  Zug  in  einem  grolsen 
Gemälde  und  es  komme  auf  die  Komposition 
des    Ganzen    an,    so    verweise    ich    auf  das 
neuerlich  in  der  nBtustrierten  Zeitung**   ver- 
öffentlichte Bild  Boecklins  „Lenzeserwachen** 


492 


Besprechungen. 


(in  der  Züricher  Gemälde-Gallerie) ;  wenn  man 
die  dort  unter  den  kahlen  Baumstämmen  steif 
aufgestellten  vier  Figuren   als  eine  nach  den 
Gesetzen  der  Schönheit  komponierte  Gruppe 
betrachtet,  —  dann  strecke  ich  allerdings  die 
Waffen  und   erkläre  mich  für  besiegt,    ver- 
spreche   aber    auch,    künftighin    keine   2^ile 
mehr  über  moderne  Kunst  schreiben  zu  wollen. 
Dem,    was    Fischer    über   die    Kunst    im 
Dienste  des  Stoffes  und  über  die  Verwerflich- 
keit der  Tendenzmalerei,  weiterhin   über  die 
Beschränkung    des    Kunstgebietes    durch  die 
Rücksicht  auf  die  Wirkung  und  im  Zusammen- 
hang   damit    über    die     Ausschliefsung    des 
Empörenden  aus  den  Gegenständen  der  Kunst 
sagt,    kann    man    nur    aus    vollstem    Herzen 
beistimmen.    Etwas  skeptischer  stehe  ich  dem 
Versuche  des  Ver&issers  gegenüber,  Lessings 
Urteil  über  Historien-,  Landschaft-   und   Por- 
traitmalerei  zu  retten,  indem  bei  der  Historien* 
und  Portraitroalerei  der  Standpunkt  Lessings 
bisher  nur  nicht  richtig  aufgefafst  worden  sei, 
in  der  Landschaftsmalerei    dagegen    Lessing 
seine  anfängliche  Ansicht  später  zu  Gunsten 
der    Landschaft    verändert    und     die    ange- 
fochtenen Sätze  daher  fallen  gelassen  habe. 
Der  bekannte  Satz  Lessings,  welcher  auf  die 
Historienmalerei  geht,    besagt,    man  sei    au 
dieselbe  verfallen,    „um  körperliche    Schön- 
heiten von    mehr    als    einer   Art    zusammen- 
bringen zu  können.    Der  Ausdruck,  die  Vor- 
stellung der  Historie,  war  nicht  die  letzte  Ab- 
sicht des  Malers.    Die  Historie  war  blos  ein 
Mittel,    seine    letzte    Absicht,    mannichfaltige 
Schönheit,  zu  erreichen.**  Jetzt  freilich,  meint 
Lessing,  sei  es   anders;   man  male  Historie, 
um  Historie  zu  malen.   —   Allgemein  ist  an- 
erkannt worden,   dafs  Lessing  mit  Recht  da- 
gegen   protestiert,    die    Kunst   zur   Dienerin 
anderer  Künste  und  Wissenschaften  zu  machen ; 
es  ist  nicht  blos  ein  Protest  gegen  Programm- 
Malerei  und  gemalte  Geschichts- Philosophie, 
sondern   auch    gegen  solche  Historienbilder, 
welche    nichts    sind    und    nichts  weiter    sein 
wollen,  als  gemalte  Geschichte,  auf  die  Lein- 
wand  übertragene  photographische  Moment- 
aufnahmen.    Aber  trotz  dieser  Anerkennung 


hat  man  Lessings  Standpunkt  der  Historien- 
malerei gegenüber   zu  beschränkt  gefunden, 
auch  Erich  Schmidt  meint,  das  Einseitige  und 
Gefahrliche  des  Standpunktes   liege   auf  der 
Hand.    Nun  meint  Fischer,  jene  angeführten 
Worte  Lessings  sollten  nichts  weiter  besagen, 
als  in   anderem,  modernerem  Deutsch  etwa: 
„die    Historienmalerei    giebt    dem    Künstler 
Gelegenheit,  mannichfaltige  Schönheiten   auf 
ein    imd    demselben    Gemälde    zusammenzu- 
bringen.**   Das  muis  ich  denn  doch  bestreiten; 
was  Lessing  sagt,  ist  nicht  blos  eine  «histo- 
risierende    Art,    allgemeine    Gedanken    vor- 
zutragen,**    sondern    er    sagt    ausdrücklich, 
mannichfaltige    Schönheit    zu    erreichen,    sei 
die  letzte,  d.  b.  die  hauptsächlichste  Ab- 
sicht   des    Künstlers,    und    das    besagt    bei 
weitem  mehr,  als  wenn  wir  blos  von  Gele- 
genheit, mannichfaltige  Schönheiten  zusam- 
menzubringen, sprechen.      Geben  wir  durch- 
aus zu,  dais  für  den  Künstler  der  historische 
Vorgang  nicht  in  erster  Linie  steht,  denn  ein 
echter  Künstler  wählt  sich  keinen  historischen 
Vorgang,  mag  er  sonst  an  sich  noch  so  inter- 
essant und    merkwürdig   sein,    welcher    sich 
nicht  zu    einem  künstlerischen   Schönen  ge- 
stalten läist,  der  nicht  im  strengen  Sinn  des 
Wortes  malerisch  ist  (Gemälde,  wie  Menzels 
Krönungsbild  oder   v.  Werners   Kongrefsbild 
fallen,  als  auf  Bestellung  ausgeführt  und  nicht 
vom  Künstler  frei  gewählt,   aufser  Betracht). 
Aber  wenn  wir  das  auch  zugeben,  so  brauchen 
wir  deswegen  doch  nicht  das  andere  ebenfalls 
zuzugeben,   dais  die  mannichfaltige  Schön- 
heit der  Hauptzweck  des  Künstlers  ist  und 
der  Ausdruck  darüber  in   den  Hinterg^nd 
tritt    Fischer  giebt  das  auch  selbst  zu ;  wenn 
er  (S.  70)  sagt,  dais  ftir  den  echten  Künstler 
der   Wert    des    Stoffes    in    seiner    Fähigkeit 
bestehe,  im  Bilde  dargestellt  zu  werden,  dafs 
er  also   den  Stoff  betrachte   und  behandele 
als  das  notwendige  Substrat  des  Ausdrucks, 
nicht  des  Ausdrucks  als  Mittel  zur  Darstellung 
des  Stoffes,  —  wer  würde  ihm  da  nicht  aus 
vollster  Überzeugung  Recht  geben?    —   Wir 
vermissen  nur  den  Nachweis,  dafs  dies  auch 
Leasings  Meinung  war.     Fischer  handelt  im 


Besprechungfen. 


493 


13.  Kapitel  allerdings  über  Vertiefung  des 
Gegenstandes  durch  den  Ausdruck;  aber  hier 
sagt  er  im  Grunde  doch  nur,  daüs  Lessing 
nicht,  wa$  ja  auch  ganz  töricht  gewesen 
wäre,  der  Kunst  die  Beschränkung  auf 
Formenscbönheit  zugemutet  und  ihr  Ausdruck 
und  Handlung  verweigert  hätte.  Aber  es 
bleibt  doch  dabei,  dais  Lessing  für  die  Histo- 
rienmalerei die  mannichfaltige  Schönheit  der 
Form  als  Hauptzweck,  die  Mannichfaltig- 
keit  des  Ausdrucks  als  Nebenzweck  hin- 
stellt, und  eben  das  ist  meiner  Ansicht  nach 
der  wunde  Punkt  seiner  Definition.  Wohin 
es  f&hrt,  mannichfaltige  Schönheit  zum  Haupt- 
zweck eines  Historienbildes  zu  machen,  lehrt 
Makarts  Catharina  Comaro,  wo  der  Ausdruck 
gar  keine  oder  doch  nur  eine  sehr  unter- 
geordnete Rolle  spielt  und  der  Beschauer 
sich  bald  gelangweilt  abwendet. 

Hinsichtlich  des  Portraits  ist  Fischer  eben- 
falls der  Ansicht,  dais  man  Lessing^  Aussprüche 
hierüber  anders  zu  verstehen  habe,  als  es 
bisher  allgemem  geschehen  ist  (S.  1 18).  Wenn 
Lessing  an  der  bekannten  Stelle  über  das  Ge- 
setz der  Hellanodiken  (betreflb  der  olympischen 
Siegerstatuen)  sagt,  der  Grund  jenes  Gesetzes 
sei  gewesen,  dafs  unter  den  Kunstwerken 
der  mittelmäfsigen  Portraits  nicht  zu  viel 
werden  sollten,  so  heüse  ^der  mittelmäisigen 
Portraits"  so  viel  als  „der  Portraits  mittel- 
mäßiger Menschen."  Vortrefflich;  auch  ich 
habe  nie  geglaubt,  dais  in  jenem  Satz  das 
^mittelmäisig"  ein  Epitheton  perpetuum  zu 
^Portraits"  sei,  sonst  würde  das  darauffolgende 
„denn"  gar  keinen  Sinn  haben.  Aber  was 
versteht  Fischer  unter  „mittelmäisigen  Men- 
schen?" Nach  der  bei  ihm  folgenden  Aus- 
einandersetzung, nach  seinen  Beispielen  von 
Perikles  und  Hyperbolos,  vom  groisen  Kur- 
fürsten und  seinem  Kutscher,  meint  er  damit 
und  meinte  nach  seiner  Ansicht  auch  Lessing 
damit  die  moralische,  geistige  Bedeutung  eines 
Menschen;  Menschen,  „welche  sich  selbst  zum 
Ideal  eines  Menschen  gemacht  haben."  Neh- 
men wir  aber  dies  aiti,  so  fragen  wir  selbst- 
verständlich weiter:  was  hat  dies  mit  der 
Schönheit  als  höchstem  Prinzip  der  Kunst  zu 
Ztochr.  f.  vgl.  Litt.-Gnch.  I. 


thun?  Der  vortrefflichste  Mensch,  der 
bedeutendste  Staatsmann,  Gelehrte  etc.  kann 
physisch  der  reine  Pavian,  das  gemeinste, 
verworfenste  Subjekt  dagegen  ein  ApoU 
sein.  Auch  mit  dem  Gesetz  der  Hellanodi- 
ken kämen  wir  bei  solcher  Auffassung  etwas 
ins  Gedränge.  Hinsichtlich  gymnastischer 
Fertigkeit,  palästrischer  Tüchtigkeit  waren 
die  dreimaligen  Sieger  nichts  weniger  als 
„mittelmäisige  Menschen,"  vielmehr  Ideale  in 
ihrem  Fach;  aber,  was  ihr  Äuiseres  anlangt, 
so  sind  die  Schilderungen,  welche  uns  die 
alten  Schriftsteller  von  diesen  Klopffechtern 
von  Beruf  machen,  keineswegs  sehr  anziehend, 
und  die  Ausgrabungen  von  Olympia  haben 
in  dem  ungemein  charakteristischen  Bronze- 
kopfe eines  Olympioniken  dafilr  eine  auiser- 
ordentlich  drastische  Illustration  geliefert. 
Hätten  die  Hellanodiken  nach  der  Lessing- 
schen  Ansicht  ihr  Gesetz  im  Interesse  der 
Schönheit  erlassen,  so  würde  es  gerade  in 
dieser  Passung  sehr  wenig  wirksam  gewesen 
sein:  die  Künstler  suchten  sich  ihre  Ideal- 
figuren sicherlich  lieber  unter  den  übrigen 
Kämpfern,  als  unter  diesen  gemästeten,  von 
übermälsigen  Muskeln  geschwollenen  Apo- 
plektikem  mit  den  zerschlagenen  Ohren.  — 
Anders  stellt  sich  die  Sache,  wenn  wir  „mittel- 
mäisige  Portraits"  im  Sinne  von  körperlicher 
Mittelmäfsigkeit  fassen.  Hätten  alle  olym- 
pischen Sieger  ohne  Ausnahme  ikonische 
Statuen  erhalten,  so  würden  darunter,  eben 
weil  bei  jedem  Portrait  trotz  der  Idealisierung 
doch  die  Ähnlichkeit  herrschen  mufs,  unge- 
mein viele  gewesen  sein,  bei  denen  die  Schön- 
heit durchaus  zurücktrat,  weil  sie  mit  der 
Forderung  der  Ähnlichkeit  total  unvereinbar 
war.  Beschränkt  man  die  Erlaubnis  der 
Portraitbildung  auf  die  dreimaligen  Sieger, 
so  wurde  zwar  die  Möglichkeit  unschöner 
Kunstwerke  nicht  aufgehoben,  aber  doch 
immerhin  bedeutend  eingeschränkt,  die  Zahl 
der  mittelmäßigen  Kunstwerke  wurde  gerin- 
ger. Wenn  Fischer  mit  seiner  Umschreibung 
der  Lessingschen  Worte  diesen  Sinn  ver- 
bindet, so  will  ich  sie  gern  unterschreiben 
und  auch  zugeben,  dafs  ich  selbst  Lessings 

83 


494 


Ausdrncksweise  mit  Unroeht  als  efaen  Tadel 
oder  eine  GeriDgsc:hätsuag  des  Portnlts 
geSa£^  habe.  Aber  noch  ia  dnem  anderen 
Punkte  muis  ich  mich  g^eg^en  Fiadier  wenden. 
Ich  habe  behauptet,  der  Grund,  welcher  die 
Hellanodiken  bei  jenem  Gesetae  leitete,  sei 
die  Rikdraicht  darauf  ifowesen,  daÜB  es  lür 
die  Sieger  ein  gjGlserer  fiiargeis  sefai  muiste, 
in  authentischer  Portraitbiklung  auf  dem  Fest- 
plats  aufgestellt  su  werden,  als  in  irgendwelcher 
allgemeiaen,  typischen  Vorstellung.  Fischer 
meint  dagegen,  die  Hellanodiken  könnten 
uamöglidi  geglaubt  haben,  dais  an  Stelle 
eines  Diadumenos  und  Dorjphoros,  an  Stelle 
der  Diskoswerfer  und  Fechter  und  Ringer 
ebensoviele  Portraits  bdiebiger  Sieger  dem 
HeUigtume  zur  gleichen  oder  gar  gröiseren 
Zierde,  der  Festrersammlung  zur  gleichen 
Freude  gereidhen  wOrden.  Aber  Fischer 
scheint  su  flberaehen,  dals  ja  auch  bei  den 
Portraitstatuen  die  Sieger  nicht  ohne  jegUche 
Handhiag  in  aieifer  Stellung,  sondeni  eben- 
falls als  Diadumenoi  oder  Donrphoroi,  als 
Diskoswerfer,  Faustk&mpfer,  Lftufier,  Ringer 
etc.  (freilich  nicht  als  Fechter)  dargestellt 
wurden;  ^bls  ferner  die  Bewohner  einer 
Stadt,  welche  «ach  Ol3rmpla  mr  Festfsier 
kamen,  sicherUcb  trotz  allen  den  HsUe- 
nen  innewohnenden  Sehönhcltsgefilhla  eine 
gröfsere  Freude,  einen  höheren  Stolz  empftm- 
den,  wenn  sie  Ton  dieser  oder  jener  Statue 
sagen  konnten:  „das  ist  unser  Landsaunn 
so  und  so,**  als  wenn  die  betreffende  Figur 
nur  durch  Ihre  ftafeere  Stellung  und  Attribute 
uad  durch  die  Inschrift  an  den  Sieg  ihrer 
llitbüiiger  erinnert,  aber  sonst  dnmi  helicU- 
gen  Idealtypus  vongestelit  hfttte. 

Endlich  die  Landschaft.  Hier  ist 
Fischer  der  Aadcht  (S.  i  is),  daisLesslng  jene 
▼o«  ihm  ursprttaigUcih  aufgestellte  Theorie, 
wonach  der  Landsehgft  ein  Ideal  abgehe  and 
somit  der  Laadschaftamalerd  ein  adndercr 
Rang  zukomme,  spftter  aufgeg^en  habe.  Bei 
Ausarbeitung  des  ersten  Teils  des  Laokoon 
habe  er  die  Entdeckung  geaMclit,  dafs  der 
LandachaAsmaler  nicht  blois  mit  dem  Auge 
und   der  Hand   arbeite^   sondern   an  seinem 


Werk  auch  das  Genie  sefaien  Anteilhabe.  Daram 
nahm  er  jene  im  Entwurf  noch  ansgesprocbene 
Theorie  in  die  Disposition  des  «weiten  Teiles 
idcht  mehr  au^  seinen  Teräaderten  Stand- 
punkt aber  charakterisieren  die  Worte  im 
elften  Absdinitt  des  Laokoon:  «Der  Maler, 
der  nach  der  Beschreibung  eines  Thomsons 
eine  schöne  Landschaft  darstellt,  hat  mehr 
gethan,  als  der  sie  gerade  von  der  Natur 
kopiert.  Dieser  siebet  sein  Urbild  vor  sich, 
jener  mnis  erst  seine  Einbildungskraft  so  aa- 
strengen,  bis  er  es  vor  sich  zu  sehen  glaubet 
Dieser  machet  aus  lebhaften  sinnlichen  Ein- 
drilcken  etwas  Schönes;  jener  aus  schwanken 
und  schwachen  Voratellungen  wilHcörlicher 
Zeichen.  **  —  Ja,  sollen  diese  Sfttze  wkklkh 
beweisen,  dals  Lessing  sein  Urteil  Aber  die 
Landschaftaamlerei  geändert,  dais  er  ttr  ein 
Ideal  zugestanden  hat?  Wo  sieht  das?  — 
Es  wäre  der  Fall,  wenn  Lcnslng  auf  die  eine 
Seite  seiner  Antithese  den  Maler  «leHle,  wel- 
cher blois  Ton  der  Natur  kapiert,  also  Vedaten 
giebt,  auf  die  andere  den,  welcher  diese  Ve- 
dute zwar  zur  Grundlage  seiner  Landschaft 
macht,  aber  sie  idealisiert,  iadem  er  hier  etwas 
wegnimmt,  doit  etwas  Unxulhut,  den  Vorder- 
grand  verlndeft,  die  Beleuchtung  so  ka«i- 
poniert,  wie  sie  ihm  för  die  dargestellte  Saotte 
am  passendsten  scheint  u.  s.  f.,  kars,  der  eben 
das  tfaui,  was  maa  yoa  einem  Landschaftar 
Im  besten  Siaae  des  Wortes  ▼erlangt  Al»cr 
f.eBsing  spricht  von  einem  Maler,  der  eine 
Landaohaft  nach  der  Bescbroibuag  eines 
The  PH  im  kosspoaieit,  und  das  ist  ganz  etwas 
anderes.  Er  stellt  ihn  aach  höher,  als  den, 
der  blofii  nach  der  Natur  kopiert;  aber  dafe 
er  damit  zugegebea  hat,  dafe  die  Landaehaft 
eines  Ideals  ftbig  ssi,  kann  ich  darans  nickt 


Ein  weltBrer  Abschnitt  dta  Flach« 
BudMS  beschäftigt  sieh  mit  dem  «<iaz|gnn 
Augenblick.''  Was  hier  Aber  ^Cörper  mak 
ihren  sicbtbaren  Eigenschaften  als  Gegenstand 
der  Malcftti**  gesagt  wird,  ferner  Aber  «ein- 
ziehe uad  kollektive  Handlungen,'*  über  die 
«Erweiterung  des  Moments*'  u.  s.  w^  ist  aehr 
beachtenswert.      Aber    in    einigen    PuaiBtan 


BQ8precliimg[€ii. 


495 


k«qp  ich  nicht   uaUn,   abermals   m  wider- 
spreobcB.     Über  die  «Brwdteruog  des  Mo- 
ments** äidsert  sich  Lesdns^  sowohl  in  seinem 
Urentwurf  als  im  Laokooo  s^ttist  (Abs€hn.i8). 
Fischer  ist  hier  wiederum  der  Ansicht  (S.  133), 
Lessing    habe    das    im    Urentwurf   Gesagte 
später  als  falsch   ^ kannt   «ad   daher  .  seine 
Aasdmcksweise  im  Laokoon  geändert.    Ich 
kaan  beim  besten  Willen  nicht  finden,  dais 
die    Worte    des    Urentwarfr    einen    anderen 
Sinn  haben,  als  die  im  Laokoon  selbst.    Hier 
wie  dort  spricht  er  von  Verwendung  (d.  h. 
Abwendung)  oder  von  Entfcinung  gewisser 
Personen,  hier  wie  dort  von  Erweiterung  des 
Moments.      Wenn    Fischer  erweist,    das    sei 
falsch,   es  finde  bei  solcher  Anordnung  gar 
keine  Erweiterung  des  Moments  statt,  so  geht 
dies  ebenso  gegen  den  Wortlaut  des  Entwurfs, 
wie  gegen  den  des  Laokoon.    Ich  gebe  su, 
dafs  es  streng  genommen  keitte  Erweiterung 
des    Moments    ist^     wenn    einige    Personen, 
die  die  Hanpthandlung  nicht  sehen  können, 
Siellungen  haben,  die  einem  früheren  Mo- 
ment entsprechen;  aber  es  ist  eine  Erweiterung 
des  Moments  und  Fischer  sagt  es  ja  selbst 
(S.  134),  wenn  einige  Personen  eine  spätere 
Bewegung  oder  SteUung  haben.  Nun,  Lessing 
spricht  an  beiden  Stellen  sowohl  von  fiüheren 
als  von  späteren  Bewegungen  und  es  könnte 
höchstens   die  Frage   entstehen,    ob  die   im 
Laokoon  etwas  kürzer  ge&iste,  im  Entwurf 
mehr  ausgeführte  Andeutung,  in  welcher  Weise 
der  Maler  dabei  verfahren  könne,  auf  beides 
oder  nur  auf  das  eine,  nämlich  auf  die  fiiUie- 
ren  Stellungen  geht  Selbst  wenn  letsteres  der 
Fall  wäre,  würde  Fischer  damit  noch  nicht  im 
Rechte  sein:  es  wäre  dann  eben  nur  ein  Bei- 
spiel   gegeben,    nichts    weiter.      Aber    die 
Sache  scheint  mir  nicht  einmal  so  ausgemacht. 
Ich  habe  zwar  selbst  in  meinem  Kommentar 
S.  6sa  gemeint,  in  den  Worten:  »dais  er  (der 
Maler)    diejenigen   Figuren,    die    s.   B.   eine 
spätere  Bewegung  machen,  als  der  Augen- 
blick der  Haupthandlung  erfordert,  von  der 
Haupthandlung  wegwendet  oder  sie  so  stellt, 
dafe  sie  die  jetsige  Haupthandlung  nicht  sehen 
kann**  (lies  „können'*)  sei  «spätere**  eine  Art 


Privilegium  für  „eine  Bewegung,   welche  für 
die  dargestellte  Haupthandlung  su  spät  ist,** 
also  streng  genommen  eine  frühere  und  Fischer 
schreibt  auch  geradezu  „soll  hetfsen  frühere."* 
Allein   bei   erneuter   Erwägung   glaube   ich, 
dafs    das    „spätere**    doch    ganz    richtig   ist. 
Der  Urentwurf  ist,  wie  auch  das  „kann**  anstatt 
»können**  zeigt,  stilistisch  nicht  gefeilt;   aber 
Lessing  wollte  offenbar  sagen:  „dafs  er  z.  B. 
diejenigen   Figuren,    welche    eine    spätere 
Bewegung  machen,  als  der  Augenblick  der 
Haupthandlung  es  erfordert,  von  der  Haupt- 
handlung wegwendet,  oder  dafs  er  einzelne 
Figuren  (nämlich  solche,   die  eine  frühere 
Bewegung   machen)   so   stellt,    dafs   sie   die 
jetzige  Haupthandlung  nicht  sehen  können.** 
Ich  muis  mich  mit  dem  bisher  Gesagten 
begnügen.     Fischer  kommt  im  weiteren  auf 
die    Wahl     des     einzigen    Augenblicks    zu 
sprechen  und  wendet  sich  speziell  im  35.  Ka- 
pitel gegen  die  in  meinen  Laokoon -Studien 
ausgesprochenen  Ansichten,  mit  denen  sich 
schon  sein  angeführtes  Programm  beschäftigte. 
Punkt  für  Punkt  auf  seine  Polemik  einzugehen, 
würde  zu  weitläufig  und  für  den   Leser  zu 
uninteressant  sein,  ich  kann  also  hier  nur  so 
viel  bemerken,  dais  mich  Fischer  in  manchen 
Punkten  überzeugt  hat,  dafs  namentlich  ver- 
schiedene der  Beispiele,  die  ich  anführte,  nicht 
in  den  Kreis  der  bei  Behandlung  dieser  Frage 
in  Betracht  konunenden  Denkmäler   hinein- 
gehören.   Ich  habe  den  Begriff  der  „äufser- 
sten  Staffel   des  Affektes**   relativ  gefaist, 
daher  auch  von  Handlungen  gesprochen,  die 
nicht  bis  zum  absolut  Äufsersten  des  Affektes 
sich  steigern;  Lessing  aber,  darin  hat  Fischer 
ganz    Recht,   spricht   nur    von  Handlungen, 
die  bis  zum  absolut  Äufsersten  des  Affek- 
tes sich  steigern;    damit   ist  der  Kreis  der 
hier  in  Frage  kommenden  Kunstwerke  bedeu- 
tend verengert,  dafür  aber  auch  die  Richtig- 
keit   der   Lessingschen    Forderung    leichter 
zu    erweisen.   —    Der   letzte   Abschnitt    des 
Buches  handelt  von  den  allegorischen  Dar- 
stellungen;   ieh  fireue  mich,   darin  mit   dem 
Verfasser    mich    in   voller    Einstimmung    zu 
finden. 

33* 


496 


Besprechungen. 


Möchte  das  frisch  und  anregend  geschrie- 
bene Buch  recht  viele  Leser  finden,  nament- 
lich auch  in  der  Künstlerwelt   —    doch  das 
letztere  dürfte  wohl  frommer  Wunsch  bleiben. 
Zürich.  Hugo  Blümner. 

Henkel,  Hermann:  Das  Goet besehe 
Gleichnis.  Halle  a.  S.  1886.  Verlag  der 
Buchhandlung  des  Waisenhauses.    147  S.  8*. 

Als  eines  der  wichtigsten  Ausdrucksmittel 
der  Dichtkunst,  oft  freilich  auch  nur  als  ein 
leerer  Schmuck  der  Poesie  hat  von  Alters 
her  das  Gleichnis  gegolten.  Verschiedene 
Zeiten  und  Völker  haben  es  verschieden 
behandelt,  anders  Homer  als  Euripides,  anders 
Shakespeare  als  Ossian,  anders  Klopstock 
als  irgend  einer  seiner  grösseren  Nachfolger 
in  unserer  Literatur.  Keiner  von  ihnen  liebte 
es  so  sehr,  sich  in  Bildern  und  Gleichnissen 
auszudrücken,  wie  Goethe.  Er  selbst  war 
sich  dieser  Gewohnheit  wohl  bewusst.  Er 
suchte  sie  als  eine  Stammeseigentümlichkeit 
des  Oberdeutschen,  besonders  desjenigen, 
der  an  grösseren  Flüssen,  am  Rhein  und 
Main,  wohne,  zu  erklären,  gin];^  kunstphilo- 
sophisch forschend  aber  auch  dem  Wesen 
und  Zweck  der  gleichnisartigen  Rede  nach 
und  stand  bei  voller  Erkenntnis  der  durch 
sie  bewirkten  Vorteile  nicht  an,  dieselbe  als 
ein  unentbehrliches  Bedürfnis  seiner  Aus- 
drucksweise in  Anspruch  zu  nehmen.  Sein 
Denken  und  Dichten  umspannte  den  ganzen 
Bereich  der  Welt  und  des  Lebens;  aus  dem 
gesamten  Umkreis  sinnlich  vorstellbarer 
Wesen  entlehnte  seine  Phantasie  ihre  Bilder. 
Wie  unendlich  reich  und  mannigfaltig  diese 
Ausbeute  war,  veranschaulicht  der  zweite 
Teil  der  Henkeischen  Schrift,  der  in  einer 
Auswahl  der  prägnantesten  Goetheschen 
Gleichnisse  den  Grundstock  und  Hauptstanmi, 
doch  keineswegs  ein  vollständiges  Reper- 
torium  derselben  bringt.  Mit  grossem  Fleisse 
hat  Henkel  zu  dem  Zwecke  nicht  nur  sämt- 
liche Schriften,  sondern  ganz  richtig  auch  die 
Briefe  Goethes  exzferpiert  und  selbst  gelegent- 
liche mündliche  Äufserungen  des  Dichters, 
die  uns  durch  andere  überliefert  worden  sind, 
beigezogen.      Eine    selbständigere    Geistes- 


arbeit erforderte  der  erste  Teil  des  Buches. 
Es  handelte  sich  darum,  das  eigentümliche 
Wesen,  den  Charakter  und  den  Zweck  des 
Goetheschen  Gleichnisses  genau  zu  bezeichnen. 
Henkel  that  das,  indem  er  zunächst  Goethes 
eigene  Äusserungen  über  die  Natur  der  bild- 
lichen Redeweise  zusammenstellt  und  darauf 
das  Wesen  der  Gleichnisse  Homers  und 
Shakespeares  untersucht,  um  aus  dem,  worin 
sich  Goethe  an  diese  beiden  für  seine  Dar- 
stellungsweise so  bedeutenden  Dichter  an- 
schlofs  oder  von  ihnen  unterschied,  die 
Eigenart  seiner  Gleichnisse  kennen  zu  lernen. 
Goethe  hat  Vergleiche  (namentlich  in  seinen 
Jugendwerken),  welche  ganz  und  gar 
Shak espearisch  geartet  sind;  er  braucht  in 
der  Zeit  der  klassischen  Reife  Bilder  korrekten 
Homerischen  Stils.  Auch  an  die  Einflüsse, 
welche  die  biblische  Lektüre  auf  Goethes 
Gleichnisse  gehabt  hat,  erinnert  Henkel.  Er 
hätte  noch  zahlreicher  anderer  Schriftsteller 
und  Werke  in  deutscher  und  ausländischer 
Literatur  gedenken  können,  die  abwechselnd 
mehr  oder  minder  bestimmend  auf  Goethes 
Gebrauch  der  bildlichen  Rede  eingewirkt 
haben.  Um  sein  Thema  erschöpfend  zu 
behandeln  —  Henkel  lehnt  dies  allerdings 
im  Vorwort  bescheiden  ab  —  hätte  er  die 
Schriften  der  Dichter,  die  Goethe  besonders 
in  jungen  Jahren  las  und  aus  denen  er  an- 
erkanntermafsen  unmittelbaren  künstlerischen 
Gewinn  zog,  auf  ihre  Behandlung  des  Gleich- 
nisses hin  prüfen  sollen.  Virgil,  Tasso, 
Klopstock,  Bodmer,  Wieland,  die  Literatur 
der  Volkslieder,  Ossian,  die  englischen 
Romane,  die  französischen  Dramen  mussten 
unter  anderen  in  den  Bereich  der  Forschung 
gezogen  werden;  die  geschichtliche  Ent- 
wicklung der  Goetheschen  Dichtung  und  die 
Veränderungen  in  seinem  Gebrauch  des 
Gleichnisses,  die  sich  daraus  ergaben,  mussten 
stärker,  als  dies  jetzt  geschehen  ist,  betont 
werden.  Hier,  nach  der  literargeschicht- 
lichen  Seite  hin,  sind  die  Mängel  der  Henkei- 
schen Schrift  zu  suchen;  vom  ästhetischen 
Standpunkt  aus  betrachtet,  ist  sie  unein- 
geschränkten Lobes  würdig.  Richtig  und 
schön   bezeichnet  der  Verfasser  den  eigen- 


Besprechimgeo. 


497 


artigen,  individuellen  Charakter  des  Goethe- 
schen  Gleichnis.  Es  ist  weder  ein  Kind  der 
Not  noch  ein  Erzeugnis  des  Luxus.  Viel- 
mehr greift  der  Dichter  nach  Bildern  ^aus 
innerer  Nötigung,  aus  dem  Bedürfnis  einer 
harmonischen  Natur,  die  Einzelerscheinung 
im  Zusammenhang  des  Weltganzen  zu  schauen 
und  zur  Anschauung  zu  bringen.**  Goethes 
Gleichnis,  meist  in  ruhig -epischer  Weise  aus- 
gemalt, vorwiegend  der  veranschaulichenden 
Darstellung  des  Obersinnlichen,  des  geistigen 
und  seelischen  Lebens  gewidmet,  dient  doch 
nicht  blofs  dieser  sinnlichen  Veranschau- 
lichung, sondern  ihm  ist  zugleich  ein  sym- 
bolischer Charakter  aufgeprägt:  es  erscheint 
„in  tieferem  Sinne  als  Vermittler  der  sitt- 
lichen und  natürlichen,  der  geistigen  und 
Erscheinungswelt.*  * 

Bayreuth.  Franz  Muncker. 

Louvier,  August  Ferdbiand:  Sphinx 
locuta  est.  Goethes  Faust  und  die 
Resultate  einer  rationellen  Methode 
dier  Forschung.  Berlin  1887,  George 
und  Fiedler  i.Bd.,  VI,  443  S.  3.  Bd.,  488  S. 
Nachträge  60  S.  8  *   M.  1 2,50. 

Eine  fast  unerschöpfliche  Fundgrube  fQr 
Feuilletonisten,  die  ohne  Aufwand  eigenen 
Witzes  ihren  Lesern  ein  vergnügtes  Viertel- 
stflndchen  bereiten  wollen.  Es  reizt  mich 
nicht,  die  gar  zu  billigen  Späfse  über  dieses 
eben  nicht  ernst  zu  nehmende  Werk  von 
^3  Bogen  in  grofsem  Oktav,  zu  vermehren. 
Im  Grunde  ist  es  ja  etwas  recht  betrübendes, 
einsehen  zu  müssen,  dafs  die  tollsten  geistigen 
Verirrungen  in  keinem  Volke  der  Erde  häufiger 
anzutreffen  sind,  als  in  dem  mit  Bildung 
überfütterten  deutschen.  Es  ist  wahrhaft 
schmerzlich  zu  erfahren,  dals  der  Verfasser 
dieses  wüsten  Hexensabbaths  von  hyper- 
schlauer Deutelei  ein  zwanzig  Jahre  lang  als 
Direktor  im  höheren  Schulwesen  thätig 
gewesener   Mann   sei,   der   volle  f&nf  Jahre 


seines  Lebens  —  als  wenn  der  Wert  des 
Lebens  im  leeren  Gedankenspiel  bestände !  — 
solchen  Öden  Witzen  aufopfern  mochte.  Hier 
ist  ein  in  der  That  hochgebildeter  Mensch, 
der  der  Welt  ein  wahres  Paradigma  von  echt 
deutschem  Gelehrten-Blödsinn  darbietet,  ohne 
ein  Fünklein  von  Humor,  mit  dem  bitteren 
Ernste,  der  den  deutschen  Dunkler  in  solchen 
Dingen  auszeichnet. 

Es  läge  ja  nahe,  die  Tendenz  der  Ver- 
höhnung, wie  sie  in  köstlicher  Weise  Friedrich 
Theodor  Vischer  in  seinem  „Faust^%  der 
Tragödie  drittem  Teil  (Tübingen  1886), 
befolgte,  anch  unserm  Kommentator  zuzu- 
,  trauen,  aber  es  ist  in  der  That  reiner  sein 
selbst  unbewufster  Unsinn. 

Um  es  kurz  zu  sagen,  es  handelt  sich  um 
eine  Verflüchtigung  der  gesamten  Faust- 
dichtung, auch  des  ersten  Teiles,  in  blofse 
Abstraktionen  und  Allegorien,  Auflösung  tief- 
innerst  erlebter  Poesie  in  Lettern,  in  ganz 
nichtswürdige  und  verruchte  Vokabeln, 
Vokabeln  mit  denen  zum  g^ten  Teile  freilich 
—  leider  Gottes  I  —  die  deutsche  Jugend  von 
ihren  grolsen  Philosophen  sich  lange  genug 
hat  verführen  lassen.  Wie  drollig  ist  doch 
z.  B.,  wie  das  lebenstrotzende  Gretchen  von 
dem  Deutobold  untergekriegt  und  als  die 
„Naivität"  erkannt  wird,  die  ihrer  Mutter, 
„dem  Unbewufstsein*S  die  „drei  Tropfen* 
„I — c  •  h"  eingiebt  und  sie  dadurch  tötet 
Der  „Verstand'^  (Faust)  aber  reicht  diese 
drei  Tropfen  (die  Apperceplion !)  dar!*)  Bd.  I, 
S.  47,  heifst  es:  „Die  Gestalt  (Gretchens)  ist 
so  wundert)ar  naturgetreu  gezeichnet,  dafs 
sie  an  und  für  sich  als  ein  konkretes  Wesen, 
als  ein  Bürgermädchen  aufgefafst  werden 
könnte,  und  glebt  es  sicher  noch  heute 
[sie]     eine    grolse    Zahl     dieser    einfachen, 


*)  Neuerdings  hat  V.  Hehn  «Gedanken 
über  Goethe"  (Berlin  1887)  eine  Studie  über 
Goethes  „Gleichnisse"  veröffentlicht;  vgl.  auch 
Goethe -Jahrbnch  VIH,  193.     [Anm.  d.  Red.] 


*)  Welche  Albernheit  selbst  in  den 
drei  Tropfen,  als  ob  das  Wort  drei  hier 
anders  zu  fassen  wäre,  als  bei  dem  Italiener 
wenn  er  einen  kleinen  Spaziergang  mit  due 
passi,  zwei  Schritte,  bezeichnet!  Ganz  abge* 
sehen  davon,  dals  das  Ich  nicht  aus  dreien, 
sondern  zweien  Buchstaben  (Tropfen)  be- 
steht, denn  „ch*^  ist  ein  einfacher  Laut 


4M 


liebenswürdigen  £racheinungea  in  dar 
deutschen  Mädchenwelt.  Auch  nkhl  mit  der 
leisesten  Aadeutung  im  Weike  wird  Yer- 
raten  [um  so  bewvndemswerter  die  Schlai»- 
hett  Louvieral]  dafe  eine  Allegorie  uad 
nichts  weiter  unser  herriicIiBteB  Interesse 
uad  lütleid  ge&ngen  hfth;  keinerlei  PUloso- 
phie,  kein  dunkler  Ausspruch  verrät  d«a 
Bestreben  des  Dichters,  stets  etwas  su  ouüeni 
was  den  Hintergrund  verdecken  uad  sugleich 
chirchscheinen  lassen  soll.  —  Und  dennoch 
ist  der  positive  Beweis  [NB!]  tan  Stande, 
auch  von  dieser  Figur  sii  seigen,  da&  sie 
Allegorie  ist  und  da6  eben  die  Naivität 
sich  hinter  des  Bilde  verbirgt'*  — 

Was  aber  der  „positive  Beweis"  sei,  sagt  ans 
Herr  Louvier  sdber,  S.  27,  nämlich  der  „Ble- 
ph  a  n  t ,  der  Alles  niederstamplf  Ich  kann  das 
lediglich  bestätigen ;  es  herrscht  in  der  That  aaf 
jeder  Seite  dieses  aeuscbolastischen  Höllen- 
breugbels  eine  zermahaende  Gewalt  des  Bil- 
dungs- Blödsinns,  vor  dem  uns  grauen  nrafti 
wie  Greiehen  vor  Heinrich  Faust.*) 

Ein  näheres  Eingehen  In  dieses  «Buch 
Mormon**,  dem  wir  äbrigens  seiner  vollendeten 
Tollheit  wegen  begeisterte  Anliänger  in 
sichere  Aussicht  stellen  (vielleicht  erleben 
wir  sogar  noch  die  Ausbreitung  dieses 
neuesten  Volapfik  der  Faustsprache  und 
eine  damit  zusammenhängende  neue  Religion), 
nrikssen  wir  uns  versagen,  nicht  blofs  aus 
Rücksicht   auf  die   vorgedruckte  Warnung, 


*)  Auch  das  hat  Louvier  Kopfzerbrechen 
gemacht,  warum  Faust  nicht  Johann,  wie 
der  historische  wirklich  hieis,  sondern 
Heinrich  genannt  wird.  Es  ist  ja  eine 
Aufgabe  för  die  «Goethe  -  Philologie*^; 
[vgl.  Goethe -Jahrbuch  VIII,  331.  Anm.d.Red.]. 
Louvier  findet,  Heinrich  sei  der  an  Hainen, 
Wäldern  reiche,  da  aber  Wald  in  der  von 
Louvier  entdeckten  Faustsprache  so  viel 
als  Philosophie,  so  wird  Faust,  sobald 
er  philosophiert,  Heinrich  genannt  O  Fer- 
dinand August! 


dali  aogar  der  KacMmck  einzelner 
RätseUtaugea  strafrechtlich  veribigt  werden 
soll.  Wir  dOrffceo  also  woU  gar  nicht  ver- 
raten, dal«  die  «Blondine**  «der  junge 
Werther**  ist?  Das  wtMe  ans  indes  nicht 
sdirecken,  da  es  blois  eine  alberne  Drohuag 
gegen  die  Kritik  i^. 

Ich  will  viefaMhrsogar  dies  sagen :  es  finden 
sich  in  all  dem  Wust  Dhige,  die.der  Goethe- 
forscher  beachten  darf.  Dahin  rechne  ich 
Bd.  H,  S.  t66y  den  Nachweis  der  OkA  Iniquity 
bei  Ben  Jonson.  Ob  Louvier  gerade  «zum 
ersten  Mal**  die  Stelle  erklärt,  ist  mir 
zweifelhaft  An  altengliache  Moralities  zu 
denken,  lag  nahe  geavg  und  Döntzer  wuiate 
das  z.  B.  auch.  [Vgl.  Goethe -Jahrbuch  V,  9S0 
Anm.  d.  Red.] 

Möglich  wohl,  das  Goethe  mit  den  Pyg- 
mäen, welche  als  Schätzen  gegen  die 
Kraniche  aufgeregt  werden,  wie  Louvier 
glaubt  bewiesen  zu  haben,  wirklich  das 
Resensentenvolk  der  Allgemeinen  Jenaer 
Litteraturzeitung,  herausgegeben  von  Schätz, 
hat  bezeichnen  wollen.  So  mag  noch  hie 
und  da  im  Wust  ein  brauchbares  Körnlein 
sich  auffinden  lassen. 

Wir  wissen  Alle,  dais  der  senile  Goethe 
durch  all  das  krause  Zeug,  was  er  in  den 
zweiten  und  nachträglich  sogar  in  den  ersten 
Teil  seiner  herrlichen  Dichtung  hinein  geheim- 
nifst,  den  Deutobolden  einen  Vorwand  ge- 
schaffen hat,  aber  das  hat  er  nicht  verdient, 
dais  ihm  sein  eigner  törichter,  poesiefeindlicher 
Krtaukram  von  polemisch-invektivem  Xenien- 
Abfall  seine  lebensvollen  Menschen  aufifressen 
sollte,  die  uns  su  allen  Zeiten  diesseits  des 
«Letternphantasmus**  stehen  werden. 

Nach  allem  wfifste  ich  Aber  unsem  Sphinx 
loquadssima  nichts  paislicheres  zu  sagen  als 
was  Faust  von  der  Hexe: 
Was  sagt  sie  uns  f&r  Unsinn  vor? 
Es  wird  mir  gleich  den  Kopf  zerbrechen. 
Mich  dünkt,  ich  hör*  ehi  ganzes  Chor 
Von  hunderttausend  Narren  sprechen. 

Moabit  Xanthippua. 


-•o#- 


Druck  von  A.  Hsack,  Beilin  MW.,  Dorothcswtr.  55. 


Selbstverlag  von  Joseph  Kürschner  in  Stuttgart 


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Wagner-Jahrbüch 


von 


Joseph  Kürschner. 


Inhalt. 


Vorwort.  Dr.  Heinr.  Bulthaupt:  Zu  Wagners 
Gedächtnis.  —  Prof.  Dr.  Max  Koch:  Ziele 
und  Zwecke. 

Biographisches.  K.  Fr.  Glasenapp:  Annalen 
zur  Familiengeschichte  R.  Wagners.  (Mit 
Orientierungsplan  der  Stadt  Leipzig  und  einer 
Abbildung  des  Geburtshauses  Wagners. 

Srinnerungen  und  Begeg^nungen.  A.  Löhn- 
Siegel:  K.  Wagner  auf  der  Nikolaischule  zu 
Leipzig.  Dr.  Joh.  Nordmann:  Eine  Begeg- 
nung mit  R.  Wagner  in  Dresden  (1847). 
Rieh.  Pohl :  Liszt's  Besuch  in  Triebschen  (1867). 
Aug.  Lesimple :  Persönliches  über  R,  Wagner 
(1873/77).  Mart.  Plüddemann :  Eine  Geburts- 
tagsfeier bei  R.  Wagner  in  Neapel  (1880). 

Stellung  zu  Kunst  und  Lieben.  Dr.  F'ritz 
Koegel:  Aesthetische  Hinweise  auf  da;»  Musik- 
drama bei  Batteaux,  Sulzer,  Wieland,  Schel- 
ling,  Solger,  Schleiermachcr.  A.  Ettlinger: 
Die  romantische  Schule  und  R.  Wagner. 
Frhr.  E.  v.  Wolzogen:  Der  Naturalismus  in 
der  modernen  Litteratur  und  R.  W^agner. 
Dr.  Frhr.  Heinr.  von  Stein:  Die  Darstellung 
der  Natur  in  den  Werken  R.  W^agners. 

Das  Werk  von  Bayreuth.  Karl  Heckel :  Die 
Bühnenfestspiele  in  Bayreuth.  Ein  Beitrag 
zu  ihrer  Entwickelangsgeschichte  (1876).    Dr. 


Franz.  Muncker:  Eine  unveröflfentlichte  Rede 
R.  Wagners  (1877). 

Einzelne  Werke.  Dr.  R.  W^oerner :  Eine  deutsche 
Komödie  (Die  Meistersinger).  Dr.  H.  Wcltl : 
Wagner  und  Lortzing  (Die  Meistersinger). 
Dr.  M.Wirth:  Die  König-Mark-Frage  (Tristan). 
Prof.  Joseph  Kürschner:  R.  Wagners  Pariser 
Berichterstattung  (1840/41).  Varianten  zur 
„Autobiographie". 

Das  Ausland.  Dr.  L.  Schemann:  R.  W' agner 
und  das  Ausland.  Dr.  Paul  Marsop:  Die 
Aussichten  der  Wagnerschen  Kunst  in  Frank- 
reich. 

Chronik  und  Miscellen.  Das  Vereinswesen. 
Frhr.  Paul  v.  Wolzogen:  Der  Allg.  R.  Wagner- 
Verein.  Die  Lokalverdne  und  ürtsvertreter 
des  Allg.  R.  Wagner -Vereins.  Bibliogra- 
phie 1029 — 36  mit  Nachbildungen  von 
Titeln  etc.:  1885:  Ausgaben  von  Werken 
Wagners.  Selbständige  Schriften  über  W^agner 
und  seine  Kimstrichtung,  Zeitungsaufsätze, 
Porträts,  Kuriosa  etc.  Theatralische  Auf- 
führungen: Tabellarische  Uebersicht  der 
seit  dem  Jahre  1842  (erste  Auffuhrung  des 
Rienzi)  bis  1885  aufgeführten  Werke  der  Opern- 
bühnen. (L  1842  —  45  und  1885.)  Konzert- 
Aufführungen:  im  Jahre  1885.  Briefe  Wag- 
ners in  den  Jahren  1836 — 1840.  Notizen  ver- 
schiedener Art.     Register. 

Mit  einem  Lichtdruck  nach  einem  von  Ernst  Kietz  gezeichneten  Porträt  Wagners. 

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Die  vorliegende  Gesamtausgabe  enthält  Carriere's  Schriften  zur  Philosophie  des 
Schönen  und  zur  Geschichte  der  Kunst  und  bildet  eine  abgeschlos^sene  Sammlung.  Ein 
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Dr.  Ludwig  Geiger, 

Professor  an   der  Universität  Berlin. 

Erster  Band  (1886).  —  Preis  16  Mark. 

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Abhandlungen. 

Studien  zur  Geschichte  des  französischen  Humanismus.  Von  Ludwig  Geiger.  Nebst  Nachtrag.  — 
Michelangelo  betreffend.  Von  Hermann  Grimm.  —  Die  mittelenglischen  Bearbeitungen  der  Er- 
zählung Bocaccios  von  Ghismonda  und  Guiscardo.  Von  Julius  Zupitza.  —  Der  älteste  römische 
Musenalmanach.  Von  Ludwig  Geiger.  —  Geistliches  Schauspiel  und  kirchliche  Kunst  Von  Karl 
Meyer.  —  Das  Epos  der  Renaissance.  Von  Karl  Borinski.  —  Johannes  Hadus -Hadelius.  En 
Beitrag  zur  Geschichte  des  Humanismus  an   der  Ostsee.     Von  Gustav  Bauch.   —   Isota  Nogarola. 

Von  E.  Abel. 

Neue  Mitteilungen. 

Briefe  des  Guarino  von  Verona,  mitgeteilt  von  Remigio  Sabbadini.  —  Fünf  Briefe  Reuchlins,  mit- 
geteilt von  Ludwig  Geiger.  —  Analekten  zur  Geschichten  des  Humanismus  in  Südwestdeutschland, 
mitgeteilt  von  Karl  Hartfelder.  —  Neun  Briefe  von  und  an  Jakob  Wimpfeling,  mitgeteilt  von 
Gustav  Knod.  —  Lorenzo  Vaila  Über  Thomas  von  Aquino.  Von  J.  Vahlen.  —  Einige  ungedruckte 
Briefe  und  Verse  von  Antonio  Panormita,  mitgeteilt  von  A.  Gaspary.  —  Ein  Schwank  des  15.  Jahr- 
hunderts, mitgeteilt  von  Johannes  Bolte.  —  Hutteniana,  mitgeteilt  von  Gustav  Bauch. 

Mijcellen. 

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Benedictus  de'Accoltis  Geschichte  des  ersten  Kreuzzuges.  Von  Hermann  Hagen.  —  Robert  von 
Anjon  und  die  jüdische  Litteratur.  Von  Moritz  Steinschneider.  —  Bebel  und  Etterlin.  Von 
L.  Geiger.  —  Ueber  Huttens  Charakter.  Von  Georg  Ellinger.  —  Ein  Dialog  des  Erasmus.  Von 
L.  Geiger.  —  Eine  Flugschrift  des  Jahres  1521.  Von  L.  Geiger.  —  Zur  Vita  Geilleri  des  Beatus 
Rhenanus.     Von   G.  Knod.   —   Baidassar  Castiglione.     Von  A.  von  Reumont  —  Zur  Erklärung 

einiger  Stellen  der  Mutianischen'  Briefe.     Von  C.  Krause. 

Rezensionen. 

A.  Horawitz:  Erasmiana  IL  —  Karl  Steif:  Der  erste  Buchdruck  in  Tübingen.  —  Neue  Schriften 
zur  Geschichte  des  deutschen  Humanismus.  Besprochen  von  K.  Geiger.  —  D.  Reichling:  Ortwin 
Gralius;  J.  G.  Liessem:  Hermann  von  dem  Busche.  Besprochen  von  L.  Geiger.  —  Karl  Frey: 
Die  Loggia  dei  Lanzi  in  Florenz.  Besprochen  von  S.  Löwenfeld.  —  R.  Sabbadini:  Studi  Ver- 
giliani.  Se  Guarino  Veronese  abbia  fatto  una  recensione  di  Catullo.  Besprochen  von  K  Abel. 
—  Leonis  X.  Pontificis  maximi  regesta  etc.  —  F.  X.  Wegele:  Geschichte  der  deutschen  Historio- 
graphie in  Deutschland  seit  dem  Auftreten  des  Humanismus.  —  Joseph  Bayer:  Aus  Italien.  — 
A.  Tilley:  The  literature  of  the  french  Renaissance.     Besprochen  von  L.  Geiger. 


*)  Die  nicht  unterzeichneten  Artikel  sind  vom  Herausgeber. 


Anfang  Oktober  c 


Vierteljahrs-f  '»rift 


für 


Kultur  und  Litteratur 

der 

Renaissance. 

Herausgegeben 

von 

Dr.  Ludwig  Geiger, 

Professor  an   der  Universität  Berlin. 

Zweiten  Bandes  erstes  Heft. 
« 

Inhalt. 

Abhandlungen. 

Die  Renaissance   in  Süditalien.     Von  Ludwig  Geiger.   —  Thomas   Morus  und   Machiavelli.     Von 

Georg  Ellinger.   —    Giordano   Bruno.     Von  Niccoladoni.    —   Die  angeblichen   Dialoge   Petrarkas 

über  die  wahre  Weisheit.     Von  J.  l'ebingcr.  —  Die  deutsche  Humanistenfamilie  Reiffenstein. 

Von  Eduard  Jacobs. 

Neue  Mitteilungen. 
Eine  Humanistentragödie.     Mitgeteilt  von  Ludwig  Geiger. 

Miscellen. 

Noch  einmal  über  Huttens  Charakter.     Von  Georg  Ellinger.  —  Das  Bild  der  Isola  Nogarola. 

Von  Ludwig  Geiger. 

Rezensionen. 

Neue  wSchriften  zur  Geschichte  des  deutschen  Humanismus.     Boprochen  von  Ludwig  Geiger. 

Einzelpreis  des  Heftes  4  Mark. 
Preis  pro  Band  von  4  Heften  16  Mark. 

Berlin  S\V.  29,  Gneisenaustras>e  112. 

Augast  Hettler. 


Ende  1885  erschien: 


Eine  Bibliographie. 

Nebst  einem  Verzeiehnis  der  Ausgaben  sämtlieher  Werke  Sehillers 

von 

August   Hettler. 

gr.  80.     IV,  57  S. 

Freis   3   3w£slx]s. 

Gegen  Einsendung  des  Betrages  erfolgt  die  Zusendung  franko  von  der  Verlagsbuchhandlung 
Berlin  8.  14^   Kommandantenstrafse  43. 

Waldemar  Wellnitz, 


Verlag  von  iVugust  Hettler  in  Berlin 


Grieehisehe  Reise, 


Blätter  aus  dem 


Tagebuehe  einer  Reise  in  Griechenland  und  in  der  Türkei 


von 


Karl  Krumbacher. 

1886.    8«.     XLVIII,  390  S. 

Preis  broch.  7  Mark. 

In  eleg.  Halbfranzband  9  Mark. 

Der  Verfasser  —  Privatdocent  für  mittel-  und  neugriechische  Philologie  an   der  Universität 
München    —    gibt    in    vorstehendem  Werke    eine    Beschreibung  seiner    halbjährigen  Reise   durch 
Griechenland   und   die  Türkei.     Neben   bekannteren  Reisestationen,   wie  Athen,    Smyrna,  Ephesus 
Sardes,  Pergamon,  Konstantinopel  etc.  hat  der  Verfasser  besucht  und  erfahren  wir  Neues  über  die 
Inselreihe   der  Sporaden,   nämlich   Rhodos,   Kalymnos,  Leros,  Patmos,  Samos,  Chios   und  Lesbos. 

Gründlichste  Kenntnis  der  neugriechischen  Volkssprache  befähigten  den  Verfasser,  namentlich 
über  die  genannte  Inselreihe  aus  eigener  Anschauung  zu  berichten,  wodurch  sich  das  Werk  vor- 
teilhaft vor  ähnlichen  früher  erschienenen  Reisebeschreibungen  auszeichnet 

Das  Vorwort  enthält  eine  orientierende  Darstellung  der  politischen  Verhältnisse  Griechenlands 
während  für  die  gelehrten  Leserkreise  eine  Besprechung  der  neugriechischen  Sprachfrage  mit  völlig 
neuen  Gesichtspunkten  gegeben  ist. 


Das  Werk  ist  dem  grofsen  Philhellenen 

Ludwig  dem  Ersten 

König  von  Bayern  ' 

zur  Feier  seines 

Hundertsten  Oebartstages 

am  25.  August  1886 
gewidmet. 

Zu  beziehen  durch  alle  Buchhandlungen.    Auch  gegen  Einsendung  des  Betrages  direkt  von  der 

Verlagsbuchhandlung  August  Hettler, 

Berlin  SW.  29,  Gneisenaustrafse  nz. 


I 


In  meinem  Verlage  erscheint  im  Laufe  der  nächsten  Wochen 


Heinrich  der  Löwe. 

Schauspiel  in  fünf  Akten 


von 


In  eleganter  Ansstattnng. 

Mitteilung  über  Preis  und  Umfang  erfolgt  im  nächsten  Heft. 
Berlin  SW.  29. 

August  Hettler, 

Verlagsbuchhandlung. 


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