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( •
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Zeitschrift
, V* für
vergleichende LitteraturgescMchte
Herausgegeben von
Dr. MAX KOCH,
a. o. Professor an der Universität Breslau.
Neue Folge. — Achter Band«
^,
WEIMAR 1895.
VERLAG VON EMIL FELBER.
-5<)%I3-
INHALT.
Abhandlungen. sdte
Humor und Humore. Von Robert Boyle x
Deutschlands und Spaniens Utterarische Beziehungen. (Spanien und die spanische
Litteratur im Lichte der deutschen Kritik und Poesie. 10. und IV. Teil.)
Von Artur Farinelli 318
Die byzantinischen Quellen von Gryphius* ,,Leo Armenius^^ Von August Heisen-
berg 439
Die Dramen von Herodes und Mariamne. L II. Von Marcus Landau . . 175, 279
Schillers ^(Alpenjäger" und Kalidasas ,,Sakuntala". Von ErnstMflller. . . . 371
Nochmals Penthesilea. Von Hubert Roetteken 34
Die ossianischen Heldenlieder. I. II. III. Von Ludwig Chr. Stern . . 51, 71, 143
Dante in der deutschen Litteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. I. II. (Dante in
d. deutschen Litt« bis zum Erscheinen der ersten vollständigen Übersetzung
der Divina Comedia. I. Teil.) Von Emil Sulger-Gebing .... 221, 453
Dichterisch und poetisch. Von Veit Valentin 213
Uhlands „Harald" und Zaleskis ,,Lubor". Von AlbertZipper 449
Neue Mitteilungen.
Des Petrus Tritonius „Versus memoriales". Von Paul Bahlmann zi6
Die erste Verdeutschung des 1 2. Lukianischen Totengesprächs durch Johann Reuchlin
(1495). Von Theodor Distel 408
Lessings Anmerkungen zu den Fabeln des Aesop. Von Richard Förster . . 87
Gotter und die Karschin. Von Rudolf Schlösser 418
TschuYaschisches zur vergleichenden Volkspoesie. Von Heinrich v. Wlislocki 120
Das Manuskript von Kraszewskis Dante -Obersetzung. Von Albert Zipper . . 423
Vermisohtee.
Zur Entstehungazeit zweier Faustmonologe. Von Max Koch 125
Eine Quelle zu Shaksperes Love^s Labour*s lost. Von MaxKoch 124
Johannes Bockenrod, ein vergessener lateinischer Dichter des 16. Jahrhunderts.
Von F. Wilhelm E. Roth 480
Zum Eulenspiegel. Von A. Ludwig Stiefel 483
Über die Quelle der Turandot-Dichtung Heinz des Kellners. Von A. Ludwig Stiefel 257
Zum 31. Fastnachtspie] des Hans Sachs. Von A. Ludwig Stiefel 483
Zwei Schwanke des Hans Sachs und ihre Quellen. Von A. Ludwig Stiefel 254
Bespreohungen. sette
Reinhold Bechstein (f): Die Quellen von Rudolfs Yon Ems ^ Wilhelm von
Orlens". Eine kritische Studie von Victor Zeidler a6a
Felix Bobertag^: Grimmeishausens „Dietwald und Amelinde^* von Edward Stil-
gebauer 484
— — Moscherosch* Insonmis Cura Parentum herausgegeben von L. Pariser . . . 485
Wilhelm Creizenach: Ein russisches Werk über die Anfänge der humanistischen
Litteratur - 132
Robert W. Felkin: Lieder und Geschichten der Suaheli. Anthologie aus der
Suahelilitteratur, gesammelt und übersetzt von C. G. Büttner (f) • . . • 139
Wolfgang Golther: More celtic fairy tales, selected by Josef Jacobs .... 438
Hugo Holstein: Esther im deutschen und neulateinischen Drama des Reformations-
zeitalters. Eine litterarhistorische Untersuchung von Rudolf Schwartz . . 437
Otto L. Jiriczek: Letteratura Norvegiana del Dott. Santi Consoli 43
Max Koch: Zur Geschichte, des Dramas und Theaters. II 487
— — Studien zur Litteratur der Gegenwart von Adolf Stern 433
Marcus Landau: Die schöne Magelone. Herausgegeben von Joh. Bolte. (Bib-
liothek älterer deutscher Obersetzungen. I. Bd.) 366
— — German Classics edited with english notes by C. A. Buchheim 135
Karl Landmann: Aberglaube, Sage und Märchen bei Grimmeishausen. Unter-
suchungen von Karl Amersbach 268
Albert Leitzmann: August Gottlieb MeÜsner, eine Darstellung seines Lebens
und seiner Schriften von Rudolf Fürst 137
Adam Gottfried Uhlich; Holländische Komödianten in Hamburg. Von Fer-
dinand Heitmüller 435
Ludwig Pariser: Andreas Gryphius et la trag^die Allemande an XVII. si^cle
par Louis G. WysockI . 485
Jacques Parmentier: Henri de Kleist, sa vie et ses ouvres par Raymond Bonafous 143
— — Le poeme de Gudrun ; ses origines, sa formation et son histoire par Albert
F^camp 369
Kurze Anzeigen 143, 438, 503
I
I
Humor und Humore.
Von
Robert Boyle.
ES ist in der letzten Zeit sehr viel geschehen um das innere Wesen
der antiken und der modernen Kunst und Litteratur in das richtige
Licht zu stellen. Im allgemeinen ist man darin einig, dafs, wie Vischer
schon anführte, das Wesen der antiken Kunst typisch, das der
modernen Kunst individualisierend ist, wenn auch in ersterer manche
Ansätze zur Naturbelebung und Umwandlung durch das Prinzip der
Individualisierung zu konstatieren sind. Mit anderen Worten in der
alten Kunst blieb die äufsere Natur eine tote Masse, trotz zahlloser
Personifikationen, hinter welcher eine Gottheit steckte, die sie in Be-
wegung setzte und leitete. Um uns ausschliefslicli der Poesie zu-
zuwenden: eine Naturerscheinung verlor auch in der Personifikation
nicht die ihr eigene typische Gestalt, um in der Empfindungswelt des
Dichters umgewandelt und als ein neues, selbständiges Wesen mit
ausgeprägter Individualität wieder hervorzutreten. Hense hat einige
treffende Beispiele: Ein Hügel konnte als Nachbar der Sterne auf-
gefafst werden, aber kaum als ein himmelküssender, wie bei Shake-
speare (Hamlet) „New-lighted on a heaven-kissinghill". Der Wind und
das Meer konnten einen Bund eingehen um die griechische Flotte zu
zerstören, aber dem Dichter wäre es schwerlich eingefallen, dem Wind
und den Wellen durch den Zusatz „alte Zänker" (old wranglers) eine
volle Individualität zu verleihen. Die Personifikation in der alten
Poesie erhob vorübergehend einen Naturgegenstand in die Welt des
Belebten, ohne ihm jedoch ein selbständiges Dasein zu verleihen.
In der modernen Poesie entwickelt sich neben dieser typischen
Personifikation ein andere Art, die individualisierende genannt. Wir
können die individualisierende Richtung in der modernen Kunst als
Ztacbr. f. Tgl Litt.^Geflch. N. P. VIII. i
2 Robert Boyle.
die herrschende deshalb wohl bezeichnen, weil jeder grofse moderne
.Dichter, von Shakespeare an, vornehmlich ein individualisierender
Dichter ist. Dem individualisierenden Dichter lebt die ganze Natur.
Sie kann mit ihm in Verkehr treten, und zwar nicht nur so, dafs er
ihr seine eigenen Stimmungen, Empfindungen und Gedanken supponiert,
sondern sie tritt ihm in allen ihren äufseren Gestalten selbständig gegen-
über, teilt ihm ihr Inneres mit und empfangt von ihm die mannig--
fachsten Aufserungen seines Seelenlebens. In der deutschen Litteratur
sind Goethe, Lenau, Heine, in der englischen Shakespeare, Wordsworth,
Shelley, Keats die Dichter, bei denen die innige Wechselwirkung
zwischen Aufsen- und Innenwelt auf der Basis der alldurchdringenden
und umfassenden Sympathie am vollständigsten zum Ausdruck kommt.
Diese Sympathie also, die den Dichter in den Stand setzt, seine Ge-
danken mit der äufseren Natur — mit der Weltseele — auszutauschen,
bildet die bewegende Kraft des individualisierenden Prinzips in der
Poesie. Wie tauchte diese Sympathie in der Weltlitteratur auf? Das
schöne Werk Bieses über das Naturgefiihl zeigt, wie dieses Gefühl
sich allmählich entwickelte, und weist auf die krankhafte Sehnsucht
nach einem einfacheren und besseren Leben in verschiedenen Perioden
der Weltgeschichte hin, wo die verfeinerte Kultur zu einer Entartung
gefuhrt hatte, die jedenfalls einen bedeutenden Faktor in der Aus-
bildung eines Gefühls des Einsseins mit der Natur bildete. Aber
diese krankhafte Sehnsucht allein hätte niemals ausgereicht eine so
innige Sympathie zwischen Aufsen- und Innenwelt zu stände zu bringen,
wie wir sie in der modernen Poesie beobachten. Sie mufste zuerst mit
einem kräftigeren Element eine Verbindung eingehen, und zwar mit
dem komischen. Wie bei dem Engländer Richardson im vorigen Jahr-
hundert die Sentimentalität als eine litterarische Erscheinung auftauchte,
um sich bei Sterne mit der Komik zu dem litterarischen Begriff Humor
zu verbinden, so erleichterte in den früheren Jahrhunderten jede Periode
der Sehnsucht, des Unbefriedigtseins mit dem Bestehenden, das Auf-
treten des Komischen als gleichberechtigtes Element in der Poesie.
Es ist hauptsächlich der Einwirkung des Komischen zuzuschreiben,
namentlich nachdem es sich bei Shakespeare zum Humor entwickelt
hatte, dafs die moderne Poesie die allgemeine, allumfassende Liebe,
Sympathie und das Verständnis für alle Naturerscheinungen so herrlich
ausgebildet hat.
Um einen Ausdruck Vischers zu gebrauchen, kann man die antike
Weltanschauung als eine ungebrochene bezeichnen, indem das Schöne,
Humor und Humore. 8
das Erhabene, das Komische getrennt und unabhängig von einander
dastehen. Das Plastische bleibt, das passendste Ausdrucksmittel für
diese Weltanschauung, der die Tiefe des Gemüts fehlt, die nur infolge
eines inneren Ringens des Individuums mit sich selbst sich auftun
kann. Dieser innere Kampf aber steht einem Jeden bevor, der sich
die echte Humanität erringen will, denn dieser Kampf heifst die Bil-
dung. Sehr treffend sagt Vischer I, 211: «Der Mensch mufs erst
werden, was er ist; nur durch Bildung langt er bei seiner wahren
Natur an". Und weiter: „Humanität ist erst die späte Frucht der Bil-
dung, die zur Natur zurückkehren darf, weil sie sie nicht mehr zu
furchten hat". Jeder Mensch, der zu seiner vollen Entwickelung ge-
langt ist, mufs diesen inneren Kampf durchgekämpft haben. Freilich
erst spät, denn „die jugendliche Fülle des sinnlichen Wohlseins läfst
das Bewufstsein der allgemeinen sittlichen Unreinheit und des allge-
meinen Übels nicht als Quelle des inneren Kampfes einbrechen, oder
wenigstens nicht über den ersten Ansatz hinauskommen". Der naive
Humor (oder die Laune), der dieser Stufe menschlicher Entwickelung
eigen ist, zeigt nur oberflächliche Teilnahme an den Gegensätzen des
Lebens und kann auch nur eine oberflächliche Befreiung gewähren.
„Der naive Humor oder die Laune ist der Humor ohne Tiefe des
Kampfes". (Vischer I, 460). Die tiefere Teilnahme an den Gegen-
sätzen des Lebens bringt den inneren Kampf hervor, dessen Ausdruck
der gebrochene Humor ist, der dann schliefslich durch die Versöh-
nung der in dem Individuum erlebten Gegensätze zum freien Humor*)
wird. Vischers drei Stufen des Humors entsprechen also genau den
drei Stufen der menschlichen Entwickelung. In der ungebrochenen
(oder naiven) Weltanschauung der Jugend tritt er dem Tragischen
zuerst selbständig und unabhängig als naiver Humor oder I^aune
gegenüber. Aber schon in dieser naiven oder ungebrochenen Periode
bereitet er durch den tiefen Anteil, den er den Dichter an seinen
Schöpfungen zu nehmen zwingt, den inneren Kampf vor. Denn gerade
durch diesen Anteil müssen notwendigerweise die tragische und die
humoristische Anschauungsweise auf einander prallen. Auf diesen An-
prall erfolgt die Versöhnung, die den Humor seinen Kreislauf voll-
enden lässt.
*) Vischer sagt (I, 460): Es bleibt immer ein glücklicher Zufall, der das Wort so
befestigt hat (i. e. Humor als Flüssigkeit); deuu was einst von der humorvoll-patholo-
gischen Erklärung des Charakters im Ernst gemeint war, erinnert jetzt bildlich an die
geistige Flüssigkeit des Komischen, worin alles Feste sich auflöst.
1*
Robert Boyie.
Diese allgemeinen Betrachtungen (die auf Vischer fiiüsen), finden
ihre Bestätigung in der Art und Weise, wie das Komische allmählich
in die Weltlitteratur eindrang und sich zu den drei Arten des Humors
entwickelte.
a) Das Komische füllte die Pausen der tragischen Handlung aus.
b) Es drang in die Handlung ein, wie bei dem Dramatiker John Lyly
in der Form einer Nebenhandlung, die die Haupthandlung parodierte
(nach spanischem Vorbilde), c) Es mischte sich in die Haupthandlung
Oberall ein, wo die Spannung nicht zu grofs war; aber die Träger
des komischen Elements bleiben in einem Abhängigkeitsverhältnis von
den Trägem des ernsten oder tragischen Elements, d) Es &nd endlich
eine Versöhnung statt zwischen den tragischen und komischen Ele-
menten, indem der Dichter es nicht scheute, dem Helden humoristische
und tragische Züge zu verleihen.
Für diese beiden letzten Stufen der Entwickelung des Humors
bietet Shakespeare das klarste Bild, weshalb dieser Dichter in der
folgenden Skizze der Entwickelung des Humors aus den Humoren
einen so hervorragenden Platz einninunt.
Die Litteratur des Mittelalters war lange, und namentlich in den
beiden Jahrhunderten ihrer Bifite, dem 12. und 13., fast noch mehr
als die der Alten eine Litteratur für wenige. Ihre hervorragendsten
Dichter gehörten der Klasse des Adels an und ihre Kunst war eine
höfische; in einer glänzenden Umgebung, in einer verfeinerten Luft
lebte und atmete sie. Die Stoffe, welche sie behandelte, nahm sie aus
Legenden oder legendenhaften Sagenkreisen, die sich um historische
Personen, wie Karl den Grofsen oder Alexander gebildet hatten. Noch
mehr aber liebte sie sich mit den Taten Siegfiieds, Arthurs und Diet-
richs von Bern zu befassen, die der Fantasie einen weitern Spielraum
gestatteten. Solchem Boden fehlten die Elemente, welche dem Humor
hätten förderlich sein können. Man mag die höfische Dichtung dieser
Zeit durchsuchen so viel man will, man wird in ihren Epen mit Ausnahme
Wolframs auf kein grünes erfiischendes Plätzchen stofsen, wo man sich
von den weitschweifigen Berichten über Turniere, Kämpfe mit Riesen
und Drachen und von all' diesem Beiwerk mittelalteriger Romantik
humorvoll erholen könnte. Erst in den beiden letzten Jahrhunderten
des Mittelalters, dem 14. und 15. wurde der Geist der Litteratur ein
anderer. Die Städte, besonders in England und Deutschland, befi-eiten
sich immer mehr von dem Drucke, welchen die Raubritter bis dahin
Humor und Humore.
auf sie ausgeübt hatten, die Bürger fingen an, sich auch an litterari-
schen Dingen zu beteiligen, und an der Stelle der Minnesänger, die
ehedem von Hof zu Hof gewandert waren, traten die Meistersänger.
Damit war eine Veränderung in der Wahl der Dichtungsstoffe ver-
bunden; man nahm dieselben mehr aus der Gegenwart, nicht nur aus
sagenhafter Vergangenheit, und ebenso wurde die Behandlung eine
andere. In England bezeichnet diesen Übergang vor allem Chaucer,
welcher der neuen Sprache, die in den Städten, als den Vermittlerinnen
zwischen dem angelsächsischen Landvolke und den normannischen
Baronen sich gebildet hatte, zuerst das Recht einer litterarischen
Sprache erwarb. Bei Chaucer finden wir die naive Anschauungsweise
der Alten auf das Schönste mit einem ihm eigentümlichen Humor ge-
mischt« Er ist mit einem jener warmen Frühlingstage zu vergleichen,
die uns einen Vorschmack des kommenden Sommers geben, und die
wir um so mehr geniefsen, je rauhere Tage ihnen oft noch folgen.
Er bildet unter seinen Zeitgenossen auch darin eine Ausnahme von
der Regel, dafs sein Hmnor so durchaus harmlos ist: kein Tröpfchen
Galle darin. Denn zu seiner Zeit, wie untert seinen Nachfolgern,
kleidete sich das humoristische Element meist in eine rauhere Form.
Wir können die Zunahme desselben an demjenigen Zweige der Litteratur
am besten beobachten, der vorzugsweise in den Städten zu bedeut-
samer Wichtigkeit gelangte: dem Drama. Die Mysterien und Morali-
täten gingen in England nach und nach ganz in die Hände der Laien
über, namentlich in die der Innungen und Zünfte. Wie die Kunst
dieser Zeit überhaupt, so trugen auch diese Spiele einen durchaus
realistischen Charakter. Gesellschaftliche Mifsbräuche und moralische
Fehler wurden ungeniert in die biblische Geschichte hineingetragen
und biblische Personen damit behängt. Das ganze Zeitalter nahm eine
satirische Richtung*), wie sich klar aus der allgemeinen Beliebtheit
erkennen läfst, deren sich Werke wie Sebastian Brants NarrenschifF,
Mumers Narrenbeschwörung, Hans Sachs' Narrenspiele (Narrenschnei-
den) u. s. w. zu erfreuen hatten. Mit dem Teufel zusammen wurde
der Narr eine stehende Person in diesen Spielen, aber selbst die
biblischen Personen wurden in freiester Weise und komisch behandelt.
Noah erhält von seiner Frau, die an das Kommen der Sintflut nicht
glauben will, eine tüchtige Ohrfeige. Josef**) wird als ein alter
*) Siehe Geigers Vierteljahrsschrift f&r die Kultur und Litteratur der Renaissance
Bd. I S. 163.
**) Meyer, Geistliches Schauspiel und kirchliche Kunst. Gei^^ers VierteljahrsschrifU
Robert Boyle.
grämlicher Gesell dargestellt, der nicht ganz frei von einer kleinen
Schwäche für die Flasche ist. In den englischen Spielen jener Zeit,
welche auf uns gekommen sind, ist der Teufel gewöhnlich als Narr
oder Clown dargestellt, der von dem Laster, dem Vice, mit seinem
Latten-Dolch, (wie Shakespeare sagt), durchgeprügelt wird. So grober
Art war die Komik, mit der unsere Vorväter ihren Sinn für Humor
befriedigten. Sie tritt so offen nur im Drama zu Tage. Epische Ge-
dichte oder Prosabearbeitungen derselben Stoffe enthalten diese komi-
schen Zutaten nicht. Im Drama aber finden sie ihren Platz in den
Episoden, welche die Pausen der Haupdiandlung ausfüllen. Diese
Zwischenspiele wurden dann als Nebenhandlung in das Drama des
i6. und 17. Jahrhunderts aufgenommen und treten da (übrigens wie
im spanischen Drama) als komische Parodie der Haupthandlung auf,
wie dies bei den rohen realistischen Vorgängern der Fall gewesen
war. Bis zu einer späten Periode des 16. Jahrhunderts begnügten
sich die Zuschauer mit den rohen Späfsen, welche ihnen der Hans-
wurst in der Gestalt des Teufels oder des Vice vormachte. Aber
als die Sitten sich verfeinerten, fingen auch die Theaterschreiber an,
die kleineren Abweichungen von dem allgemeinen gesellschaftlichen
Mafsstab zum Gegenstande ihrer Späfse zu machen. Die Wurzel, aus
welcher diese wie jene Belustigung entsprang, das Vergnügen, über
die Unvollkommenheiten anderer zu spotten, blieb dieselbe, sie hatte
nur an Umfang gewonnen. Nicht blofs körperliche Mängel und aus-
gesprochene Albernheiten, sondern jede geringe Abweichung von der
hergebrachten Sitte in Kleidung, Benehmen und Sprache wurde lächer-
lich gemacht*).
Solche Abweichungen wurden gegen das Ende des 16. Jahrhunderts
mit dem Namen „Humore" bezeichnet. Eigentlich ist dieser Ausdruck
nur auf gewisse Verhältnisse anzuwenden, welche einen ausschliefslichen
Einflufs auf die ganze geistige Verfassung des Individuums ausüben,
aber er wurde in weiterem Sinne auch für jede Besonderheit gebraucht,
die als eine Abweichung von der allgemeinen Regel gelten könnte.
Um den vollen Sinn des Ausdrucks „Humor" zu begreifen, müssen
*) Trotz aller politischen Freiheit giebt es kein Land auf der Welt, wo die Ge-
sellschaft eine solche Macht ausQbt, allen ihren Mitgliedern dieselbe Form aufzuzwingen
und sie in Allem, was Äufserlichkeiten anbetrififl, einander gänzlich gleich zu machen, als
England. Aus dem Drama ersehen wir, dafs diese Tyrannei der Gesellschaft im 16. und
17. Jahrhundert ebenso mächtig war wie heutzutage, wo es gegen ein solches Urteil wie
nthat IS not gentlemanly**, nthat is not English**, keine Appellation giebt.
Humor und Hamore.
wir uns klar machen, was die Wissenschaft jener Zeit unter „Humor^
verstand. Burton in seiner Anatomie der Melancholie sagt:
„Die Geister werden vom Blute im Herzen erzeugt und darauf
durch die Arterien den anderen Gliedmafsen mitgeteilt."
„Pituita (oder Phlegma) ist eine kalte und zähe Flüssigkeit (humor),
die in der Leber aus dem Chylus erzeugt wird. Sie dient dazu, die
Gliedmafsen des Körpers zu nähren und anzufeuchten, die (ähnlich der
Zunge) in Bewegung gesetzt werden, damit sie nicht austrocknen."
y, Cholera ist heifs, trocken und bitter; sie wird aus den heifseren
Teilen des Chylus erzeugt und zur Galle gesammelt. Sie unterstutzt
die natürliche Wärme und Sinnentätigkeit."
„Melancholie ist kalt, trocken, dick, schwarz und sauer; sie wird
mehr von den facalen Teilen der Nahrung erzeugt und von der Milz
fortgestofsen; sie dient den beiden andern heifsen Humoren (Blut und
Cholera) als Zaum."
„Die Geister entstehen im Blut; sie sind Werkzeuge der Sinne,
Medien zwischen Seele und Körper. Melanchthon ist der Ansicht, dafs
der Erzeugungsort dieser Geister das Herz sei. — Es giebt drei Arten
Geister: natürliche, vitale und animalische. Die natürlichen werden in
der Leber erzeugt und durch die Venen verteilt; die vitalen werden
aus den natürlichen im Herzen erzeugt und durch die Arterien verteilt;
die animalischen, welche aus den vitalen gebildet werden, steigen in
das Gehirn. Sie werden durch die Nerven verteilt und geben Sinn
und Bewegung."
„Narren haben ein feuchtes Gehirn."
Ein grofser Teil der englischen dramatischen Litteratur aus der
goldenen Elisabetanischen Aera wird uns erst verständlich, wenn wir
uns in betreff des Humors auf den Standpunkt jener Zeit stellen. Aus
Burtons Worten ist ersichtlich, dafs diese Theorie von den Humoren
nicht allein in den medizinischen Systemen jener Zeit, sondern auch
in den gesellschaftlichen Beziehungen eine grofse Rolle mufs gespielt
haben. Je nachdem der Chylus oder das Blut die innewohnenden
Geister in gröfserer oder geringerer Menge ausschied, mufste der eine
oder der andere Humor das Übergewicht im Körper erlangen. An-
genommen die vitalen gaben mehr Feuchtigkeit her, als für gewöhn-
lich den animalischen zukam, so stiegen sie mit diesen in das Gehirn,
durchfeuchteten es und störten seine Funktionen. Bis zu einem ge-
wissen Grad stand das Individuum dann blofs unter dem Einflufs eines
gewissen Humors, — darüber hinaus verfiel es in Narrheit« In diesem
K
8 Robert Boyle.
Lichte wurden alle Sonderbarkeiten eines Charakters angesehen und
damit eine jede hervorstechende Eigentümlichkeit eines Individuums
erklärt.
Der erste Dramatiker, in dessen Stücken die Humore eine wichtige
Rolle spielen, ist John Lyly, dessen Campaspe am i. Januar 1584
vor der Königin aufgeführt wurde. Lylys Stücke haben alle eine
Haupt- und eine Nebenhandlung. In der Haupthandlung bedient er
sich einer erhabenen Sprache, die mit allerlei affektierten Gleichnissen
vollgestopft ist, in der Nebenhandlung einer weniger stelzenhafteo,
mit der er sogar oft die Sprache der Hauptpersonen lächerlich zu
machen scheint. Aber nicht blofs die Sprache der Haupthandlung,
sondern diese selbst wird in der Nebenhandlung ins Burleske gezogen.
Das beste Beispiel davon haben wir in Endimion, dessen ideales
Schmachten nach der göttlich vollkommenen Cynthia in der Leiden-
schaft des tölpelhaften Sir Tophas für die häfsliche alte Hexe Dipsas
verspottet wird. Die Rhapsodien des Helden für seine Göttin werden
von Sir Tophas folgendermafsen parodiert: „O was für feines, dünnes
Haar Dipsas hat! Was für eine schöne niedrige Stirn! Was für kleine
hohle Augen! Was für dicke, runde Lippen! Wie harmlos sie so
ohne Zähne aussieht! Und die kurzen fetten Fingerchen mit den
grofsen Nägeln daran, wie bei der Rohrdommel! Wie reizend ihr die
Backen, pitzengleich, auf die Brust herabhängen und die Brustwarzen
bis auf den Gürtel wie kleine Säckchen! Was für eine kleine Gestalt
sie hat, und dabei doch, was für einen grofsen Fufs!" — Die Absicht
die Haupthandlung zu parodieren, wird dadurch noch mehr bestätigt,
dafs Sir Tophas nach diesem Ergüsse über die Reize seiner geliebten
Dipsas in Schlummer sinkt, ganz wie Endimion, der vierzig Jahre
lang schläft und während dieser Zeit alles vergifst, nur nicht „die
göttliche Cynthia, der Zeit, Glück, Tod und Schicksal unterworfen
sind". Namentlich die Gleichnisse, welche Lyly anbringt und bei
denen im ernsten Teile des Stückes die Glieder mit einander überein-
stimmen, wie z. B. in Endimion III. 4, wo Geron sagt: „Liebe ist ein
Chamäleon, das nur Luft in den Mund zieht und nur die Lungen im
Körper nährt", — sind in der Nebenhandlung lächerlich ungeschickt
z. B. Endimion III. 3, wo Sir Tophas sagt: „Wie eine Schüssel am
Feuer schmilzt, so wächst mein Witz durch Liebe!"
Manchmal wird ein Wort in die Nebenhandlung hinübergenommen,
um eine komische Wirkung dadurch zu erzielen. So sagt Cynthia
(Endimion V. i) „Ich will, mein guter Endimion, nicht so stattlich
Humor und Humore.
sein und dir wohlzutun verweigern". In der darauf folgenden Scene
antwortet Sir Tophas, als man ihn fragt, wie er sich fühle: „Stattlich,
in jedem Gelenk, was das gemeine Volk steif nennt".
Sowohl der Humor der Liebe, als der der Freundschaft (über-
triebene sentimentale Freundschaft zwischen jungen Leuten war damals
Mode), werden in Endimion in Handlung gesetzt, und der letztere
(der der Freundschaft) trägt über den ersteren den Sieg davon.
Das Publikum mag an der Gesellschaft des Sir Tophas nicht
weniger Vergnügen empfunden haben als die boshaften Pagen: „O,
dafs wir doch den braven Sir Tophas hier unter uns hätten, den
lustigen Herrn!" In der zweiten Scene des zweiten Aktes bereden
die Pagen zwei Kammermädchen vom Hofe, dafs sie sich verliebt in
Sir Tophas stellen und ergötzen sich dann an dem Benehmen des
nicht eben überklugen Herrn.
Uns mag es scheinen, als ob dem Humor Lylys der rechte Nerv
fehle, und wieder, als ob er zu scharf sei, aber in jenen Tagen, wo
das Publikum nur an den grofsen Unterschied zwischen gesunden
Leuten und Narren gewöhnt war, mufs die Darstellung eines solchen
Originals wie Sir Tophas auf der Bühne ganz ergötzlich gewirkt haben.
Nachdem Lyly die Humore der Liebe und Freundschaft, wie die
Übertreibungen in Sitte und Sprache auf die Bühne gebracht hatte,
ermangelten seine Nachfolger nicht, einen so dankbaren Boden weiter
zu bearbeiten. Ein treffendes Beispiel liefert „Liebes Leid und Lust"
für den Einflufs den Lyly sogar auf Shakespeare ausgeübt hat. Ein
Vergleich zwischen Armado und Sir Tophas, zwischen Motte und
Epiton wird dies bei alle denen über jeden Zweifel erheben, die sich
ohne vorgefafste Meinung davon wollen überzeugen lassen, was
Shakespeare Lyly verdankt. Lyly scheint wie seine Pagen, an den
Seltsamkeiten seiner Schöpfungen selbst das gröfste Vergnügen ge-
funden zu haben; ganz so Shakespeare in „Liebes Lust und Leid",
bis fort zu den Schlufsscenen, wo die Humore bestraft werden. Er
greift von seinen Personen nur einen Zug auf und behandelt diesen
bald komisch, bald macht er ihn lächerlich. Er amüsiert sich mit
dem Könige von Navarra und seinen Hofleuten, mit der Prinzessin
und ihren Damen. Er lacht über die Zierereien, den Bombast und die
Steifheit des Holofemes, Sir Nathanaels und Armados. Ihm sind sie
Verkörperungen der Torheiten und Albernheiten, die er in der Welt
um sich her beobachtet hat. Er war, wie hinreichend bekannt, mit
10 Robert Boyle.
einer teflweis vernachlässigten Erziehung in die Hauptstadt gekommen«
Hier fand er die Bühne im Besitze einer Clique studierter Leute, von
denen, wie es scheint, aufser Lyly nur noch Marlowe einen Einflufs
auf ihn ausgeübt hat. Diese Leute meinten ein Monopol (ur die
Theaterdichtung zu haben. Es kam ihnen gar nicht in den Sinn, dafs
Jemand, der nicht, wie sie, eine Universitätsbildung genossen hatte,
sich könnte einfallen lassen, mit ihnen zu konkurrieren. Bezeichnend
ist, dafs Shakespeare als Stoff für sein erstes Lustspiel den Humor
der Gelehrsamkeit wählte und dafs er darin zeigt, wie wenig die
Gelehrsamkeit geeignet ist zu dem vorzubereiten, was das Leben
von uns verlangt. Nicht schlagender hätte er die Prätensionen dieser
studierter Leute dartun können, die sich bis jetzt nur mit Studien
befafst hatten, die mit dem wirklichen Leben gar nichts zu tun haben.
Für ihre Aufgabe, das Leben auf der Bühne darzustellen, waren sie
so ungeschickt wie der König und seine Hofleute zum Wettkampf
mit der Prinzessin und ihren Damen. „ Liebeslust und Leid" mufs
während, oder doch gleich nach der Martin Mar-Prälaten Kontroverse
geschrieben worden sein. Drei der besten Bühnendichter jener Zeit
Lyly, Nashe, Greene nahmen an dieser Kontroverse die sich bald
zu einem heftigen persönlichen Angriff auf Gabriel Harvey zuspitzte,
der von dem Angegriffenen heftig zurückgewiesen wurde, hervor-
ragenden Anteil. Dies Turnier der witzigsten Geister seiner Zeit, ge-
kämpft um solchen Preis, mufste sich der vollen Beachtung Shakespeares
aufdrängen. Aber soweit wir erkennen können, ist in seinem Stücke
nichts Persönliches enthalten. Wie Landmann gezeigt hat, darf selbst
die hochtrabende Sprache Armados, wie man lange Zeit fälschlich
meinte, nicht als ein Angriff auf Lylys Euphuismus betrachtet
werden. Alle Modetorheiten der Sprachweise jener Zeit, werden
uns von den verschiedenen Personen vorgeführt. Es war nicht not-
wendig den Euphuismus besonders hervorzuheben, da er durch Philip
Sidneys Einflufs bereits einer anderen Ziererei Platz gemacht hatte,
die dann in den Schriften Gongoras und seiner Nachfolger, Calderon
mit einbegriffen, ihren Höhepunkt erreichte. Die Satire ist also ganz
allgemein gehalten und trifft sowohl die Übertreibungen der modischen
Sprechweisen, wie den Latinismus der Gelehrten. Aber hauptsächlich
ist es die blinde Verehrung der Bücher, gegen welche der junge Dichter
die schärfsten Pfeile seines Witzes richtet So läfst er Biron (Akt I
Sc. i) sagen:
Humor und Humore. 11
„Eitel ist jede Lust, am meisten die
Mit Mühen kaufend nichts erwirbt als Müh;
So auch mühvoll den Geist dem Buch zuwenden,
Suchend der Wahrheit göttlich Angesicht,
Indefs die Strahlen schon das Auge blenden:
Licht, das Licht sucht, betrügt das Licht um Licht.
Und statt zu finden, wo's im Dunkeln funkelt.
Erlischt dein Licht und Nacht hält dich umdunkelt.
Studiert vielmehr, was euer Aug' entzücke.
Indem Ihr's auf ein schönres Auge wendet.
Das blendend, uns zugleich mit Trost erquicke
Und, raubt es Licht, uns neue Sehkraft spendet.
Die Wissenschaft ist gleich dem Strahl der Sonnen,
Kein frecher Blick darf ihren Glanz ergründen!
Was hat solch^ armer Grübler sich gewonnen
Als Satzung, die im fremden Buch zu finden?**
Unter diesen Umständen ist es schwer zu glauben, dafs dieser
Protest gegen die Unfehlbarkeit der Bücher nicht eine besondere Be-
ziehung haben sollte. Aus einem Drama jener Zeit „die Rückkehr
vom Parnafs", welches im Interesse der „Studierten" geschrieben ist,
wissen wir, dafs Shakespeare von seinen Mitschauspielem als der
Führer der Opposition gegen Jene angesehen wurde, die sich das
Monopol der dramatischen Schriftstellerei anmafsen wollten. Die
Komödie war also nicht blofs gegen die allgemeinen Torheiten der Zeit,
sondern speziell gegen den Humor des Gelehrtentums gerichtet, dessen
Repräsentanten sich die gröfste Mühe gaben, Shakespeare auf das
Feld zu verweisen, welches ihm ihrer Meinung nach allein zustand:
der Schauspielerei. Dafs trotzdem in dem Stücke keine Spur von
Bitterkeit zu finden ist, beweist, wie Shakespeare diese Feindseligkeit
gegen ihn schon früh von einem humoristischen Standpunkte aus an-
sah. Aber anderseits zeigt diese Komödie keinen Fortschritt über
Lyly hinaus; obgleich die Charaktere unendlich viel lebensvoller und
energischer gezeichnet sind, sind sie doch nur der Belustigung wegen
da. Dies ist bis zum Schlufs der Fall, und man hat auf andere,
davon unabhängige Gründe hin vermutet, dafs die Scene, in welcher
am Ende des Stücks die Humore durch Verhängung eines Probejahrs
bestraft werden, dem übrigen zu einer späteren Zeit hinzugefügt
worden sei.
12 Robert Boyle.
An der obenangefuhrten Stelle hat Biron in der Tat den weiteren
Verlauf der Handlung bereits in den Zeilen vorgezeichnet:
„Studiert vielmehr, was euer Aug' entzücke
Indem ihr's auf ein schönres Auge wendet".
Der Humor der Gelehrsamkeit wird dem mächtigeren Einflufs der
Liebe weichen! Aber die Sprache des ganzen Stücks zeigt, dafs diese
Liebe von derselben konventionellen Art ist, wie neun Zehntel aller
Liebespoesie der Humanisten und der Renaissance, ange&ngen von
Petrarca, dem grofsen Kunstdestillateur gemachter Liebesseufzer. Diese
Liebe ist, in der Sprache der Zeit von der wir reden, ein Humor,
und trägt genau dasselbe abgenutzte Kleid Sidneyscher Gleichnisse
und Sidneyscher Frostigkeit, womit dieser Dichter seine Stella anbetet.
Dafs Shakespeare, als er auf sein Werk zurückschaute, nachdem ihm
die wahre Einsicht in den Unterschied zwischen wirklicher Natur und
den auf diese gepfropften Humor gekommen war, die Scene hinzu-
fugte, worin das Probejahr festgesetzt wird, um die Wahrheit der
Liebe zu prüfen, welche die Hofleute zu fühlen glauben, scheint die
allematürlichste Erklärung dieser Scene, die gar nicht in den Ton des
übrigen Stückes pafst.
Das andere der früheren Dramen Shakespeares, in welchem die
Humore bei mangelhafter Charakterzeichnung zu dem alleinigen Zweck
der Belustigung auftreten, ist der „Sommernachtstraum". Nicht nur
sind die Athener Handwerker Verkörperungen verschiedener Humore,
sondern auch die Feenwelt ist es.
Wir sehen Oberon und Titania unfähig anders zu handeln, als
unter der Gewalt eines Anstofses, der ihrem ganzen Tun und Lassen
die Richtung giebt; was ganz der Erklärung entspricht, die Ben Jonson
vom Humor giebt. Auch ist die Liebe der beiden Liebespaare ganz
von der obenerwähnten Art, eine rein konventionelle, wie in Liebes
Leid* und Lust. Wir übersehen dies leicht bei den aufserordentlichen
poetischen Schönheiten dieses Dramas, aber wo es wahres Gefühl zu
schildern giebt, zeigt sich der Dichter noch unfähig in seinen Bildern
und Gleichnissen zwischen dem Wahren und dem Konventionellen eine
richtige Wahl zu treffen. Akt I Sc. i sagt Lysander zu Hermia nach
den Worten, die ihren Hoffnungen ein Ende machen sollen:
„Nun, liebes Herz, warum so blafs die Wange?
Wie sind die Rosen dort so schnell verwelkt?"
und sie erwidert:
Humor und Humore. 13
„Vielleicht weil Regen fehlt, womit wohl gar
Sie mein umwölktes Auge netzen könnte"
ein Concetto durchaus Petrarcas oder eines seiner schlechtesten Nach-
ahmer würdig. Und diese Stelle steht nicht allein. In derselben Scene
sagt Helena:
„Umstürmt von seiner Schwüre Hagelschauem
Befand ich mich, eh' Hermia er geseh'n,
Doch sollt' das bei der neuen Glut nicht dauern
Und Schloss' um Schlosse sah ich rasch zergehn".
Solche Concetti in einer solchen Situation anzuwenden, wäre
einem Dichter unmöglich gewesen, der, wie er später in Romeo und
Julia, die Sprache wahrer Leidenschaft von der affektierten zu imter-
scheiden gelernt hatte. Die Liebe im „Sommernachtstraum" ist ein
Humor.
Der schlechte Ton, der sich in die Dramen von etwa 1590 — 1594
eindringt, beeinflufste auch Shakespeare. Wir können auf die näheren
Umstände nicht eingehen, die eine allgemeine Unruhe und Unzufrieden-
heit in England um diese Zeit hervorriefen. Aber es ist nötig, die-
selben im allgemeinen anzudeuten. Die engherzige Politik der Regierung,
die keinen Krieg gegen den gemeinsamen Feind Spanien fuhren wollte,
drängte die Unternehmungslust auf Seeraub, Sklavenhandel u. s. w.,
die ihre natürlichen Früchte in einer Verrohung des Geschmacks ein-
trugen, die sich überall breit machte. Die Einmischung der Dramatiker
in den Streit zwischen den Puritanern und der bischöflichen Partei gab
den Dramen dieser Zeit ein grobes Gepräge, welches ein grelles Licht
auf die Orgie fallen läfst, die die Bühne in diesen Jahren feierte; Die
verschiedenen Schauspielertruppen Londons wetteiferten mit einander
dem rohen Geschmack des Publikums Nahrung zu bieten. Das Monopol,
welches Shakespeares Truppe und AUeyns die alleinige Berechtigung
erteilte, in London Schauspiele aufzuführen, machte allmälig diesem
Zustande ein Ende. Aber diese traurige Zeit hat unverkennbare Spuren
einer Verschlechterung des Tones bei den Dramatikern hinterlassen.
Selbst Shakespeare macht keine Ausnahme von der allgemeinen Regel.
Diejenigen seiner Dramen, welche in diese Jahre fallen, zeigen be-
sonders in der Behandlung der Frauencharaktere ein Sinken, das nicht
nur seinen späteren, sondern selbst seinen früheren Werken gegenüber
bemerkbar ist. Ich weise in dieser Hinsicht besonders auf die „Komödie
der Irrungen" und auf „Richard HI." hin. Aber aller Wahrscheinlichkeit
nach gehören in diese Periode auch: „Ende gut. Alles gut" in seiner
14 Robert Boyle.
ersten Gestalt (Love*s Labour*s Won = Belohnte Liebesmühe), „Die
Widerspenstige** (welche der Schreiber dieses in der Gestalt, wie sie
1594 gedruckt ist, Shakespeare zuschreibt), ^Die lustigen Weiber von
Windsor" in ihrer frühesten Gestalt, und ein Akt von Eduard III-
der alle Zeichen von Shakspeares Hand trägt. Denselben sinnlichen
Zug, der durch alle diese Dramen geht, zeigt auch Venus und Adonis.
Den ausgearbeiteten weiblichen Charakteren aller der obengenannten
Dramen ist eine gewisse Rohheit der Idee, ein greller Realismus eigen,
denen man in den andern Werken unseres Dichters sonst nirgends
begegnet. Die sinnliche Liebe zwischen Margareta und SufFolk in
Heinrich VI., das Fluchen der Frauen in Richard III., das Werben
um Anna und Elisabet ebendaselbst, die zanksüchtige Adriana in
der Komödie der Irrungen, der das Schmähen ein Genufs ist, die
Zähmung desselben Charakters unter dem Namen der Katharina in
der „Widerspenstigen", stehen in Widerspruch zu Allem, was wir
sonst bei unserem Dichter finden.
Alle diese Stücke wurden zu einer Zeit geschrieben, wo die
Humore das Publikum noch nicht so lebhaft interessierten, als später.
Aber die Bemühungen der Regierung den abenteuerlichen Geist der
Nation zu unterdrücken, trugen nach und nach ihre Früchte. Je mehr
die Lust nach auswärtigen Abenteuern abnahm, oder je schwieriger
es wurde dieselbe zu befriedigen, um desto begieriger warfen sich
die Geister auf allerlei Abenteuerlichkeiten daheim. Die erste
dieser Art, welche uns auffallt ist eine übertriebene, sentimentale
Freundschaft zwischen Männern, von der wir bereits Spuren in Lylys
Endimion fanden, die aber erst in Shakespeares Sonetten und in
seinen beiden Veronesern klar zu Tage tritt. Dafs dieöe Komödie
mit dem gerade zu jener Zeit herrschenden Humor der Freundschaft
in nächster Verbindung steht, geht aus der ganzen Komposition her-
vor. Der Episode von Proteus und Julia, welche der Dichter aus
der „Story of Felismena" nahm, dichtete er Valentins Freundschaft
für Proteus hinzu. Wenn man die Geschichte, welche der Dichter in
den Sonetten uns von sich selbst erzählt, mit diesem Drama vergleicht,
und die Häufigkeit solcher zärtlichen Beziehungen zwischen Männern,
wie sie damals bestanden, in Betracht zieht, so wird die Vermutung
nicht zu kühn erscheinen, dafs der Dichter der beiden Veroneser
selbst unter dem Einflufs des Humors stand, den er schilderte; ja
noch mehr, dafs er absichtlich seiner Quelle den Kampf zwischen
Freundschaft und Liebe unterschob, weil ihn dieser Kampf, wie er
in den Sonetten geschildert wird, persönlich in Mitleidenschaft ge-
Humor und Humore. 15
gezogen hatte. Dieser Kampf endet in dem Stücke, wie in den So-
netten damit, dafs die Freundschaft über die Liebe siegt, was in dem
Drama einen sehr kahlen und unbefriedigenden Schlufs herbeiführt,
wenn auch das Opfer nicht gebracht wird. Denselben Kampf von
dem der Dichter gefühlt haben mag, dafs er ihn in diesem Drama
auf eine wenig befriedigende Weise zu Ende gefuhrt habe, nahm er
dann im Kaufmann von Venedig von neuem auf, wo indessen das
Opfer, welches Bassanio zu bringen sich bereit erklärt, einen würdigen
und genügenden Zweck hat, da das Leben des Freundes dadurch
gerettet werden soll. Doch in keinem der Dramen jener Zeit ist der
so oft berührte Humor der Freundschaft so gründlich behandelt
worden, als in den beiden Veronesern. In den Sonetten sehen wir
einen neuen Humor aufdämmern, den der Melancholie, welcher am
vollständigsten in den 'beiden historischen Dramen König Johann und
Richard ü. zur Darstellung kommt, aber von dem sich Spuren auch
im Kaufmann von Venedig und in Romeo und Julia finden.
Der ganze Charakter Richard's II. ist, um in der Sprache jener
Zeit zu reden, ein Humor. Die Lust, mit welcher er sich seinem
Grame hingiebt, ist dafür ein Beweis. Von jedem Impuls läfst er
sich hin und her treiben, ganz wie Jonson den Humor definiert. Con-
stanze in König Johann ist von derselben Art. König Philip wirft
ihr vor Akt III. Sc. 4:
„Ihr liebt den Gram so sehr als eurer Kind".
Ein Beweis, wenn es dessen bedürfte, dafs der Dichter nun die wahre
Natur des Humors erkannt hatte. Gleich im Anfang des IV. Aktes
finden wir eine dahingehende Bemerkung derselben Art, welche uns
die vorherrschende Modetorheit des melancholischen Humors zu jenen
Zeiten bestätigt:
„Doch weifs ich noch, als ich in Frankreich war.
Gab's junge Herren, so traurig wie die Nacht,
Zum Spafse blofs."
Aber diese beiden Dramen sind späteren Datums als Romeo
und Julia und wenigstens ist König Johann nicht vor 1596 gedichtet,
dem Jahre, wo des Dichters einziger Sohn starb, ein Umstand, der
nicht ohne Einflufs auf den reichen Ergufs des Grames gewesen sein
wird, den wir in diesem Drama finden. In Romeo und Julia ist eine
zur Melancholie neigende Liebe geschildert, die sich aber von der
übermäfsigen Hingabe an den Gram in den beiden obenerwähnten
historischen Dramen dadurch unterscheidet, das sich diese Melancholie
auf nichts gründet, sondern nur in der Einbildung besteht. Die kon-
16 Robert Boyle.
ventionelle Liebespoesie jener Zeit verlangte es, dafs jeder junge
Mann seine Herrin hatte, der er den Tribut seiner künstlichen Seufzer
zu Füfsen legte. In den Werken^ die auf uns gekommen sind, finden
wir viele Beispiele, wie der Verehrer einer hartherzigen Geliebten
in dem Gedanken seines unseligen Geschickes wahrhaft schwelgt.
Solch ein Liebender ist Romeo in Akt I Sc. i, wo wir zum ersten-
male seine Bekanntschaft machen. Vergleiche als Beweis dafür von
V. 125 an, seine Liebe zur Einsamkeit, das Verschweigen seiner
unglücklichen Liebe gegen Jedermann, sein Zurückziehen in sein
Kämmerlein, das er tagüber verfinstert, seine Tränen und Seufeer
und alle die Mittel und Wege, durch welche die Opfer dieses Humors
sich und andere von der Wirklichkeit ihrer Gefühle überzeugen
möchten. Vergleiche auch die weithergeholten Büder und Gleichnisse
deren sich Romeo bedient, die zierlichen Ausdrücke, die gesuchten
Antithesen, mit denen er dem Benvolio (von V. 177 an) seine Liebe
schildert, wie: schwermütiger Leichtsinn, ernste Tändelei, bleierne
Schwingen, lichter Rauch, kaltes Feuer und kranke Gesundheit. Kein
Wunder, dafs er die Liebe für „einen Rauch, den Seufzerdämpf er-
zeugen", erklärt. In Sc. 4 V. 96 — 108 giebt Mercutio als scharfer
Beobachter, seine Ansicht über die Unwahrheit der Leidenschaft ab,
welche Romeo sich einredet, und Akt U Sc. i (nachdem Romeo Julia
gesehen hat), fahrt er in dem Tone wohlgemeinten Spottes fort:
„Romeo!
Was? Grillen! Toller! Leidenschaft! Verliebter!
Erscheine du, gestaltet wie ein Seufzer!
Sprich' nur ein Reimchen, so genügt mir's schon,
Ein „Ach** nur jammVe, paare „Lieb'" und „Triebe"".
Nichts konnte die Gewalt, mit der sich Romeo in Gefühle künstlich
hineingearbeitet hatte, drastischer bezeichnen, als dieser Spott Mercutios.
Aber Romeos eigene Sprache nach seiner Begegnung mit Julia (Garten-
Scene IL 2.) zeigt sofort, wie verschieden die wirkliche Leidenschaft,
die er jetzt fühlt, von der ist, welche er bis dahin zu fühlen glaubte.
Noch immer ist Übertreibung und Unnatur genug in seinen Reden,
z. B. wenn er sagt:
„Ein Paar der schönsten Stern' am ganzen Himmel.
Wird ausgesandt und bittet Juliens Augen
. In ihren Kreisen unterdefs zu funkeln".
Aber es ist eine Übertreibung und Uberkraft, wie sie dem Ausdrucke
Humor und Humore. 17
eines heftigen Gefühls eigen sind. Noch vieles darin ist nicht abge-
klärt, doch ist nichts Gemachtes, Erkünsteltes, Geistreich seinsollendes
darin. Durch diese veränderte Sprache Romeos und durch Mercutios
Spott zeigt uns der Dichter, dafs er die wahre Natur des Humors
erkannt hat. Diese seine neue Auffassung desselben weicht von der
seiner Zeit gänzlich ab und stellt sie in eine Reihe mit der von Dickens,
welcher uns von den unsterblichen Gamaschen seines Pickwicks aus
durch die oberflächlichen Details, welche der flüchtige Beobachter
allein bemerkt, wie durch eine umhüllende Kruste hindurch in
die innerste Natur seines Helden schauen läfst. Shakespeare be-
trachtete die Humore im Lichte der Masern oder des Keuchhustens,
als Kinderkrankheiten und notwendige Phasen in der Entwicke-
lung des Menschen, die durchgemacht werden müssen. Wie diese
wichtige physische Krisen im Wachstum des Kindes sind, so sind
die Humore psychische Krisen, die dem jungen Menschen nicht erspart
bleiben können. Die Erkenntnis der wahren Natur unter der Maske,
hinter der wir Alle, bewufst oder unbewufst, uns verstecken, „die wir
nicht unsere Herzen in der Hand tragen, damit die Krähen daran
picken** ist das wichtigste Element der humoristischen Auffassung eines
Charakters. Dickens bleibt im ganzen der humoristischen Auffassung
seiner Figuren bis ans Ende seiner Laufbahn treu, aber Shakespeare
verwirft sie vom Anfang der Hamlet-Periode an*). In seinen beiden
letzten Perioden treten die Humore bei ihm nur soweit hervor, als die
Repräsentanten derselben Narren und Rüpel sind. Während der
zweiten Periode dagegen zeigen alle seine Stücke eine entschieden
humoristische Auffassung. Im Kaufmann von Venedig finden wir in der
Eröffnungsscene Spuren von Melancholie bei Antonio, die auf Romeo,
John und Richard II. weisen. Diese Melancholie verbindet sich mit
dem Humor der Freundschaft durch eine gewisse Eifersucht, die wir
an Antonio wahrnehmen. Bassanios Herz, welches ihm bis jetzt
allein gehörte, hat sich einer unbekannten Nebenbuhlerin zugewendet,
und die Ahnung von dem Verlust dieser Freundschaft stimmt ihn
traurig. Dafs Bassanio humoristisch angelegt werden mufste, war für
die Folge nötig, um begreiflich zu machen, weshalb er bald den
eigennützigen Regungen folgen zu wollen vorgiebt, die ihn zu Belmont
ziehen, bald in entzückte Ausrufungen über Portias goldene Locken
*) Mit Ausnahme von Hamlet selbst, der, wie Vischer zeiget, als Humorist aufge-
falst wird.
ZtMhr. t Tgl. Utt.-GeMh. N. P. VIII. 2
18 Robert Boyle.
ausbricht. Er kennt die Bitterkeit der Gefühle, welche Antonios Geist
belagern, und sucht sie zu verscheuchen, ohne jedoch verhindern zu
können, dafs er die eigenen verborgenen Gefühle dadurch verrate.
Aber die vollendetste humoristische Figur, welche Shakespeare uns
geschaffen hat, die, welche am meisten mit dem Begriflf Humor, wie
wir ihn jetzt fassen, übereinstimmt, ist Falstaff. Das vollständige Sich-
einsfuhlen des Dichters mit seiner Schöpfung hat ihn befähigt die
Schranken von Jahrhunderten zu überspringen und sich jenen um-
fassenden Geist allgemein-menschlicher Sympathie anzueignen, der der
neueren Zeit eigen ist. Er zeigt uns von der Gemeinheit, der Selbst-
sucht und der Feigheit, die hier mit der glänzenden Rüstung des
Witzes und Humors ausgestattet sind, nur so viel, als für die humo-
ristische Idee notwendig ist. In dieser Hinsicht ist der FalstaflF des
Heinrich IV. das Produkt eines reiferen Gemüts, als der verliebte
Ritter der munteren Weibern von Windsor. Jener ist nicht, wie er
selbst sagt, „blofs selbst witzig" sondern auch „Veranlassung der Witze
anderer**; er ist echt humoristisch durch seine Teilnahme für den
Prinzen und die übrige Umgebung. Er hat den Heinz in sein Herz
geschlossen und liebt ihn, soweit eine solche Natur lieben kann. Er
benutzt aber seine glänzende Begabung dazu, seine Umgebung daran
zu verhindern einen Blick in sein Innerstes zu werfen. Aber anderer-
seits: „Falstaff mufs mitten in seinen Schlechtigkeiten in jedem Zuge die
Laune zeigen, sich in jedem Augenblick durch ein Hineinsehen in sich
zu absolvieren" (Vischer I, S. 347). Das Interesse, welches der Prinz
für ihn bekundet, ist dasselbe welches wir einem psychologischen
Rätsel entgegenbringen und dieses einzige Band der Sympathie zer-
reifst, sobald das Leben seine ernsten Forderungen stellt. Somit ist
das Zerreifsen dieses Bandes symbolisch für die Verwerfung der
humoristischen Charakterdarstellung, seitens des Dichters, wie wir sie
schon von Hamlet an beobachten. Aber ehe dieser Umschwung in
der Darstellungsweise des Dichters sich vollzog, lieferte er uns in
Was ihr wollt, Viel Lärmen um Nichts, und Wie es euch gefällt, eine
Reihe der abgerundetsten humoristischen Typen, die überhaupt in der
Litteratur existieren. Auf dieselben einzugehen ist hier unmöglich.
Wir haben den Dichter bis auf den Punkt begleitet, wo er den
Schwerpunkt seiner dramatischen Wirkung auf das Auskämpfen gegen-
sätzlicher Leidenschaften in einer und derselben Seele verlegt. Wäh-
rend seiner i. und 2. Periode, wo er seine Wirkungen durch Reibung
der widerstrebenden Naturen an einander zu erreichen suchte, war die
s
Humor und Humore. 19
humoristische CharakteraufTassung seiner Darstellungsweise vollständig
angemessen. Als er mit den ernstern und dunklern Problemen des
Lebens rang, entsprach sie nicht mehr der neuen Stufe der Entwicke-
lung seiner Kunst, und wurde verworfen. Sehen wir jetzt, wie der
andere grofse Humorist, Ben Jonson, im Vergleich zu ihm steht. Es
ist, als ob man aus dem lichten Sonnenschein in ein dunkles Gewölbe
träte, wenn man Shakespeares reifere humoristische Schöpfungen mit
den engbegrenzten Jonsons vergleicht, wie bedeutend letztere auch
sein mögen. In Übereinstimmung mit der ihm angeborenen Lehrhaftig-
keit fühlt sich Jonson, als der humoristische Dichter des Zeitalters
(wie er allgemein genannt wurde), verbunden, uns zu zeigen was
Humor ist. Dies tut er in der Person des Asper (er selbst) in
„Jedermann aufser seinem Humor^:
Das Wesen des Humors erklärt sich so:
Er hat die Flüssigkeit von Luft und Wasser,
Denn so wie diesen beiden eignet ihm
Die Feuchtigkeit, dazu die Flüssigkeit
Dies zu beweisen fallt nicht eben schwer 1
Giefs' Wasser aus und sieh* es näfst und fliefst,
Desgleichen auch die Luft; stofs* in ein Hom,
So strömet sie heraus und hinterläfst
Etwas darin wie Tau, woraus wir schliefsen,
Dafs alles das, was nafs und flüssig ist
Und in sich selber keinen Halt besitzt,
Humor ist, — also in dem Menschenkörper:
Melancholia, Phlegma, Blut und Galle,
Weil stets im Flufs sie sind, bald hier bald dort
Und die wir dieserhalb Humore nennen.
Doch als Metapher wenden wir den Namen
Nun auch in einem weiteren Sinne an.
Wenn Jemand eine Eigenschaft besitzt.
Und zwar in solchem Grade, dafs sie all*
Sein Streben wie sein Denken und sein Wollen
Nach einem Punkt hinzieht und flüssig macht.
So sagen wir von ihm n*s ist sein Humor!*'
In diesem Sinne also verstand Jonson das Wort. Wie bereits er-
wähnt, wurde es aber in der gewöhnlichen Sprache der Zeit nicht
blois so verstanden, sondern jede Übertreibung in der Kleidung, jede
80 Robert Boyle.
affektierte Sprechweise, jede Auffälligkeit im Betragen wurde damit
bezeichnet. Jonsons Definition stimmt, wie wir sehen, mit der Burtons
überein, dafs ein Humor, aus dem im abnormalen Zustande befindlichen
Organe aufsteige, der alle geistigen Kräfte, alle Gefühle und Leiden-
schaften nach einer einzigen Richtung dränge und so den Menschen
einseitig und unfähig mache, ihm Widerstand zu leisten, wie das Wort,
„der keinen Halt besitzt", es ausdrückt. Das betreffende Individuum
hat alle Gewalt über sich verloren, seine ganze geistige Entwicklung
ist gestört. In seiner ersten Komödie, „Jedermann in seinem Humor",
hat Jonson erklärt den wahren Zweck der Komödie im Auge behalten
zu wollen:
„Die über Menschentorheit herzlich lacht
Nichts mit Verbrechen sich zu schaffen macht".
Aber er verquickte diesen künstlerischen Zweck mit einem didak-
tischen und verfiel in einen Ton des Moralisierens von der Bühne
herab, der ihm in Verbindung mit seiner Selbstverherrlichung und
seiner Streidust viele Feinde zuzog. Seine 2. Komödie „Jeder-
mann aufser seinem Humor" schrieb er, um dadurch darzutun, dafs
jeder Humor durch sein eignes Ubermafs zu heilen sei. Aber die
Zänkereien zwischen ihm und der Gruppe von Dichtern, an deren
Spitze Marston und Dekker standen, hatten die Wirkung, dafs sie ihn
veranlafsten, seine Farben immer dicker aufzutragen. Die häfslichsten
Laster menschlicher Natur malte er ohne mildernde Züge. Sein „Vol-
pone" (1607) zeigt, dafs er bald vergessen hatte über menschliche
Torheiten zu lachen, dagegen sich wohl mit Verbrechen zu schaffen
machte. Sein „Alchemist" und sein „Gefoppter Teufel" (The Devil
is an Ass) sind Gemälde hoffnungsloser Verderbtheit und Torheit.
Bei solcher Auffassung des Humors, verbünden mit der, sich selbst
auferlegten Pflicht von der Bühne herab Moral zu predigen, war es
nicht zu erwarten, dafs Jonson, der gleich anfangs einen falschen Weg
eingeschlagen hatte, sich von der Idee der Humore bis zu der des
Humors erheben würde. Die Macht, welche dies in Shakespeares
Fall zu Wege gebracht hatte, und die das allein bewirken konnte,
eine innerliche Sympathie mit seinen eigenen Schöpfungen, stand ihm
nicht zu Gebote. Er setzte seine ganze Kraft in das Ausmalen der
von ihm entworfenen Gemälde menschlicher Schwächen und Schlechtig-
keiten, mit der redlichen Absicht, die Menschen durch den Anblick
ihrer eigenen Sünden mit Abscheu zu erfüllen, und er selbst fühlt
gegen seine Schöpfungen, die dazu dienen sollen, die Laster seiner
Humor und Humore. 81
Zeit zu Strafen, etwas von diesem Abscheu. Was Jonson auf diese
Weise nicht gelang, gelang eben so wenig seinen Zeitgenossen. Die-
jenigen von ihnen, die seinen Fufstapfen folgen wollten, und denen
seine streng moralische Absicht fehlte, schufen Sittengemälde, aber
schilderten nicht Humore. Die Saite, welche Shakespeare angeschlagen
hatte, verstummte für lange Zeit.
Die in der englischen Litteratur häufig vorkommenden Ausdrücke,
„Metaphysical school", „Classical school", weisen auf die stetig zu-
nehmende Herrschaft der neuen Richtung in der Naturwissenschaft und
Philosophie, die schliefslich das Gefühlsleben als unberechtigten Bestand-
teil aus der Poesie ausschied, z. B. die deistische Philosophie. Die
kalte Verstandespoesie Drydens, und noch mehr Popes, war das un-
vermeidliche Resultat einer einseitigen philosophischen Richtung. Bei
den Elisabetanern war die Philosophie noch von der Religion unzer-
trennlich, aber ihre Nachfolger arbeiteten immer eifriger an der
Trennung der wissenschaftlichen Forschung und des religiösen Glaubens.
Die neue Schule in der Naturwissenschaft verlangte vor allem genaue
Sinnenbeobachtung. Die Weltordnung, lehrte sie, existire ohne
Wunder und Willkür. Darauf gründete Locke (1632 — 1704) sein
philosophisches System, indem er die angeborenen Ideen verneint und
alle Erkenntnis unmittelbar oder mittelbar aus den Sinneneindrücken
entstehen läfst. Shaftesbury (1671— 1713) schreitet weiter in Lockes
Fufstapfen und stellt den Kultus des Schönen als eigentliche Lebens-
aufgabe auf Von ihm rührt das Goethesche Wort in Wilhelm Meister
her, jeder Mensch habe die Aufgabe, der Künstler seines eigenen
Lebens zu werden. Zur Tugend und höchsten Glückseligkeit kommt
nach ihm, wer sich zum schönen harmonischen Menschen ausbildet.
Die neue Philosophie nahm an, es gäbe eine Natur- oder Urreligion,
die, im Laufe der Zeit verdunkelt, von Christus wiederbelebt wäre.
Von Neuem durch die wiedereinbrechende Finsternis getrübt, werde
sie nun von der Philosophie wiederhergestellt. So entstand der
Deismus.
Dieses System führte mit Notwendigkeit zu einer trockenen Mo-
ralphilosophie. Von Lord Chesterfield zu den feinsten Lebensmaximen
zugespitzt, wurde dieselbe von französischen Gedanken-Kolporteurs
über die Welt verbreitet. Die grofse Schwäche dieser Philosophie
war, dafs sie das Wesen aller Erkenntnis zu einseitig auf den Ver-
stand setzte. Die Forderungen der fühlenden Seele blieben unbefriedigt.
So sammelte sich allmählich eine Menge KrankheitsstofF in der Litte-
M Robert Boyle.
ratur, die sich um 1740 herum plötzlich Bahn brach in solchen Werken
wie Richardsons Pamela, Youngs Nachtgedanken (1742 — 1744) und
den schwermütigen Liedern, die Macpherson, zwanzig Jahre später,
Ossian andichtete. In Frankreich bemächtigte sich Rousseau dieses
neuen Genres. In Deutschland drohte es, bei der Vorliebe dieses
Volkes sich dem Seelenleben zuzuwenden, alles mit seinen trüben
Fluten zu verdecken. Auch der junge Goethe mufste die Krankheit
durchmachen, die ihre Spuren im Werther hinterlassen hat. Dieses
neue Genre, das sentimentale, knüpft sich in der englischen Litteratur
an zwei Namen, Richardson und Sterne. Richardson ist der eigent-
liche Schöpfer des englischen Romans, der die Nachfolge des Elisa-
betanischen Dramas antrat, und sich wie dieses die Aufgabe stellte
den Ideen und Stimmungen, die die menschliche Gesellschaft bewegten,
den Spiegel vorzuhalten. Addison und Steele hatten einzelne humo-
ristische Typen aus der Gesellschaft geschildert, aber Richardsons
Pamela ist der erste gelungene Versuch die einzelnen Figuren um
einen Centralpunkt zu gruppieren. Trotz eines tiefen Einblicks in
die Geheimnisse des Menschenherzens bleibt Richardson durch seinen
Mangel an Humor auffallend trocken. Diesen Umstand benutzte Fiel-
ding um den weinerlichen Ton des neuen Werkes in Joseph Andrews
(1742) auszulachen. Aber nicht einmal sein homerisches Gelächter
konnte den Ausdruck einer krankhaften Stimmung aufhalten, die sich
so lange angesammelt hatte. Immerhin bildet Fieldings Tom Jones
mit seinem erfrischenden, kräftigen, wenn auch etwas derben Humor,
eine grüne Insel inmitten der trüben, gelben Fluten des Stromes der
sentimentalen Litteratur. Sterne in seinem Tristram Shandy und der
Empfindsamen Reise (1759 — 1768) bildet in England den Gipfel-
und Wendepunkt der sentimentalen Richtung. Goldsmith und die
späteren Vertreter des Romans, zeigen uns, dafs mit Sterne die Krank-
heit eine günstige Wendung genommen hatte.
Sterne verbindet die Sentimentalität Richardsons mit einem ihm
eigenen Humor, der nicht frei von Effekthascherei ist. Man hat bei
ihm, wie bei Heine, die unbehagliche Empfindung, als ob er ein
frivoles Spiel mit den Gefühlen, die er erregt, treibe. Er weckt nur
allzu oft unser Interesse, fordert unsere Teilnahme für eine ver-
schleierte Gestalt, und, wenn er den Schleier zurückschlägt, sehen
wir eine häfsliche, höhnische, grinsende Fratze. Aber trotz unseres
Unwillens über seine tollen Sprünge und seine Effekthascherei, fesselt
er uns durch seine tiefe Weltkenntnis, seine schöne Darstellungsgabe,
Humor und Humore. 28
und, in seinen ungetrübten Augenblicken, durch seine Herrschaft über
die Gefühle. Durch die Verbindung des Humors mit dem Sentimen-
talen hatte Sterne in dieser Weise eine neue litterarische Art — den
humoristischen Roman — geschaffen. Dieser befreite die englische
Litteratur von dem Krankheitsstoff, der sich angesammelt hatte. In
Deutschland aber war die Herrschaft des Weltschmerzes eine weit
ausgedehntere und tiefergreifende, als die des Sentimentalen in
England. Daher übte auch die Verbindung des Weltschmerzes mit
dem Humor, wie wir sie bei Jean Paul finden, einen viel nachhaltigeren
Einflufs auf die deutsche Litteratur, als Sterne auf die englische, aus.
Die weltschmerzliche Stimmung bemächtigte sich des heuen engli-
schen Genres mit grofser Begierde, und unter Hippel und Jean Paul
wurde sie weiter ausgebildet und vertieft.
Da es dem Schreiber dieser Zeilen unmöglich ist die Entwickelung
des Humors in der deutschen Litteratur auch nur skizzenhaft darzu-
stellen, möge es ihm erlaubt sein, mit seinem unmafsgeblichen Urteil
über Jean Paul, der ja die letzte und reifste Phase in der Entwicke-
lung des Humors darstellt, zu schliefsen.
Jean Paul ist, soweit einem Nicht-Deutschen ein Urteil möglich,
weit wahrer und tiefer wie Sterne. Er übertrifft ihn an Geisteskraft,
an Ernst der Überzeugung und an Hoheit des sittlichen Strebens.
Sternes ganzes Wesen ist von dem giftigen Hauch einer ungesunden
Zeit durchdrungen. Jean Paul ist ein echter Dichter mit einer blühen-
den Fantasie, verbunden mit einem warmen Gemüt. Aber er hat
nicht die Welt- und Menschenkenntnis, die Sterne besitzt, und kommt
ihm an Darstellungstalent nicht gleich. Auch scheint sein Humor nicht
so kernig zu sein wie der Sternes, ja man findet oft sogar etwas
weiches, weibisches darin. Wenn dieses einerseits ein Nachteil ist, hat er,
meiner Ansicht nach, auch andererseits viel dazu beigetragen, den
Humor seiner Nachfolger humaner zu gestalten, indem er ihn mit der
allgemeinen Menschenliebe beseelte, die unseren englischen Humoristen
des i8. Jahrhunderts unbekannt war.
Für die vorliegende Arbeit habe ich einen ungedruckten Vortrag
über „Humor und Humoristen" von J. A. Gelbcke, sowie Lewes'
„Spanish Drama** und einen Aufsatz von Ebert benutzt.
St. Petersburg.
•••-
Nochmals Penthesilea*).
Von
Hubert Roetteken.
Die Vierteljahrschrift für Litteraturgeschichte brachte im Schlufsheft
ihres sechsten Bandes einen Aufsatz von Niejahr, in dessen drittem
Teile der Verfasser nachzuweisen sucht, dafs Kleist in einer älteren
Ausarbeitung seiner Penthesilea der gewöhnlichen Version der Sage
mit dem Tode der Amazone durch die Hand des Achilles gefolgt
sei; erst später habe der Dichter sich an die andere Version gehalten.
Diese andere Version beherrsche die Scenen 14 bis zum Schlufs, wo-
gegen die früheren Scenen vielleicht sämtlich dem älteren Entwürfe
angehören. Freilich seien Scene 9 — 13 umgearbeitet, um den An-
schlufs des folgenden zu ermöglichen, aber nicht alle Widersprüche
mit der zweiten Hälfte des Stückes, nicht alle Spuren der ursprüng-
lichen Absicht seien herausgebracht. Ausschlaggebend für die Frage
seien der achte und neunte Auftritt.
Im achten Auftritt erfahren wir durch Botenbericht einer Obersten,
dafs Penthesilea vom Speere des Achill getroffen das Bewufstsein
verloren hat, ferner dafs Achilles von Liebe zu ihr ergriffen ist und
sie ins Leben zurückgelockt hat; dann aber ist sie ihm entrissen und
in die hinteren Reihen des Heeres geführt, wo sie sich erholt, während
er unbewaffnet ihr zu folgen sucht. Im neunten Auftritt kommt
Penthesilea selbst auf die Bühne, matt, energielos, und bald „Irrgeschwätz
von bleichen Lippen sendend"; schliefslich fallt sie wieder in Ohnmacht.
Achilles tritt auf und schützt sie vor der Rache der vorüberstürmenden
Griechen. Niejahr meint nun, Penthesilea sei offenbar in dem Kampfe
mit Achilles tötlich getroffen, so dafs also der ganze Hergang im
*) Vgl. Bd. VII S. 3 8 f.
Nochmals Penthesilea. 85
wesentlichen mit der bekannten Sagenversion übereinstimmte und eben
nur noch der Tod der Amazone fehlte.
Es kommt also darauf an, ob die Verwundung Penthesileas, von
der wir im Auftritt 8 hören, wirklich als tötlich zu betrachten ist
Niejahr stellt die allgemeine Reflexion an, die Aufnahme jener in Poesie
und Bild so mannigfach verherrlichten Scene habe nur Sinn gehabt,
wenn sie auch die in der Sage ihr angewiesene Stellung behauptete.
Ich mufs gestehen, dafs dieses für mich nicht die geringste Über-
zeugungskraft hat. Wenn etwa Kleist aus irgend welchen Gründen
eine Liebe des Achilles zur Penthesilea willkommen war, so bot die
Scene das bequemste Mittel, sie entstehen zu lassen; und auf dieses
gegebene Mittel zu verzichten nur aus dem Grunde, weÜ das Publikum
einen anderen Ausgang der Scene erwartete, dazu war Kleist wohl
schwerlich der Mann. Er hat ja doch schliefslich sein Stück so ge-
endet, wie es jetzt vorliegt, und wie es den gewöhnlichen Anschauungen
über den Ausgang der Penthesileaepisode widerspricht!
Niejahr meint, auch der Wortlaut der betreffenden Stelle in dem
Bericht der Obersten (1122 — 1142) spreche für eine tötliche Verwun-
dung. In der Tat sagt die Oberste, Penthesilea sei im Kampfe ge-
fallen*). Aber als Kleist im Phöbus eine Reihe von Fragmenten des
Dramas mitteilte, führte er die neunte Scene mit den Worten ein:
Penthesilea kann ihres Gegners nicht mächtig werden. Sie ist im
Kampfe mit dem Achill gefallen, man hat sie aus seinen Händen
gerettet u. s. w. Man kann unmöglich annehmen, dafs Kleist hier
beim Niederschreiben dieser offenbar speziell für die fragmentarische
Veröffentlichung verfafsten Notiz so sehr in den Bann seines früheren
Planes oder des Wortlautes von Vers 1 1 1 7 zurückgefallen sein sollte,
um etwas zu schreiben, was mit gleichzeitig im selben Heft veröffent-
lichten Scenen im Widerspruch stände, und da das Heft auch Scenen
aus dem zweiten TeÜ bringt, so kann „gefallen" hier nur soviel
heifsen, als „niedergeworfen, besiegt" — jedenfalls ohne tötliche Ver-
wundung. Diese allgemeinere Bedeutung ist dann natürlich auch für
Vers II 17 möglich. — Ferner kommt in Betracht Vers 1127: sie sinkt,
die Todumschattete, vom Pferde. Aber todumschattet kann in ge-
hobener und namentlich in Kleists oft superlativischer Sprache wohl
jeder heifsen, der das Bewufstsein verliert, wofür mir freilich ein Beleg
*) Vers II 17, also aufserhalb der von Niejahr hervorgehobenen Stelle. Doch ist
es wohl nicht überflüssig, auch diesen Ausdruck zu berücksichtigen.
96 Hubert Roetteken.
nicht zur Hand ist« Immerhin fuhrt es wenigstens in dieselbe Sfäre,
wenn der durch Penthesileas Blick erschütterte Achilles „ein Todes-
schatten^ genannt wird. — Dafs Achilles bei dieser Gelegenheit aus-
ruft: was für ein Blick der Sterbenden traf mich! kann auch nichts be-
weisen, da Achilles in dem Augenblick und noch dazu in seiner Er*
regimg gar nicht imstande ist festzustellen, wie es mit Penthesilea
steht. Er sieht sie hinsinken und das Bewufstsein verlieren, da mag
er glauben, sie sterbe. — Der Ausdruck endlich „mit zerrissener Brust"
ist viel zu allgemein, als dafs man daraus Schlüsse auf eine tötliche
Verwundung ziehen könnte.
Ich finde also in dem Botenbericht der Obersten nichts, wodurch
Niejahrs Ansicht bewiesen würde ; dagegen spricht mit voller Bestimmt-
heit gegen diese Ansicht der Vers 1125; Die Lanzen, schwächer als
die Brüste, splittern. Es ist wohl klar, dafs die Lanzen nur dann
„schwächer als die Brüste" genannt werden können, wenn sie die
Brüste nicht durchbohren, sondern vom Brustpanzer gehemmt werden.
Dabei mag der Panzer bersten und die durchdringende Lanzenspitze
vielleicht die Brust oberflächlich ritzen oder es mögen auch durch den
berstenden Panzer selbst Abschürfungen erfolgen: ein tieferes Ein-
dringen der Lanzenspitze, wie es zu tötlicher oder auch nur schwerer
Verwundung nötig wäre, ist jedenfalls durch den Wortlaut des Verses
ausgeschlossen. Am meisten leidet Penthesilea dann durch den starken
Stols, der sie trifft und durch den wohl eine Quetschung des Busens
bewirkt wird; dazu kommt noch der Sturz vom Pferde, und beides
reicht vollkommen aus, um Penthesileas kurze Ohnmacht zu erklären.
Mit dieser Auffassung, welche durch Vers 1125 nötig gemacht
wird und welcher die vorhin erörterten Ausdrücke keine Schwierig-
keiten in den Weg stellen, stimmen die übrigen Angaben der achten
Scene aufs beste überein. Penthesilea wird den hinteren Reihen zu-
geführt „röchelnd, mit zerrissener Brust, das Haar verstört vom Scheitel
niederflatternd" — aber mit keinem Worte erwähnt die Oberste, dafs
die Königin auch von Blut überströmt gewesen sei. Ebenso ist nicht
davon die Rede, dafs Penthesilea verbunden worden sei, es heifst
nur, dafs sie sich erholt habe — offenbar von den ersten Folgen
des Stofses und Sturzes.
Aus der neunten Scene hebt Verfasser besonders die Verse
1296 — 1337 hervor. Prothoe drängt die Königin zur Flucht und
erwidert auf deren Frage nach dem wohin, Penthesilea möge nach
Pharsos gehen, wo sie das jetzt zerstreute Amazonenheer wieder
Nochmals Penthesflea. 97
gesammelt finden werde: dorthin habe sie, Prothoe, es gewiesen.
Penthesilea könne dann dort ruhen und am folgenden Tage den Kampf
erneuern. Niejahr meint nun, hier werde von Pharsos als einem für
den Verlauf des Krieges besonders wichtigen Ort gesprochen, und
doch komme eine Beziehung auf ihn in dem ganzen Stück sonst nicht
vor. Femer findet er einen Widerspruch zwischen der Angabe der
Prothoe, sie habe das ganze Heer nach Pharsos gewiesen, und dem
Inhalt der folgenden Auftritte, wo die Amazonen, und nicht nur ein
kleineres Gefolge, wieder in der Nähe der Penthesilea gedacht werden
müfsten. Hieraus schliefst er, dafs die Stelle ursprünglich für einen
anderen Zusammenhang bestimmt gewesen sei; S. 545 weist er sie
ausdrücklich dem früheren Entwurf zu, dem die Wiederbefreiung der
Königin durch die Amazonen fremd gewesen sei.
Die Verse sind ja nun aber völlig unvereinbar mit der Annahme
einer vorhergegangenen schweren oder gar tötlichen Verwundung der
Penthesilea. Nur eine Nacht, meint Prothoe, soll Penthesilea ruhen
und ihrer „Wunden" pflegen, am folgenden Morgen wird sie wieder
kampffähig sein. Die Verse machen durchaus den Eindruck, dafs sie
Prothoes wirkliche Meinung enthalten und nicht etwa blofs gesprochen
werden, um Penthesilea zu trösten und ihr Mut zuzusprechen; und sie
wären auch sehr wenig geeignet dazu. Kein halbwegs verständiger
Mensch wird so etwas zu einem durch einen Lanzenstofs schwer Ver-
wundeten sagen, denn dieser wird doch seine eigene Wunde soweit
beurteilen können, um zu wissen, dafs er am folgenden Tage und
wahrscheinlich für viele Tage kampfunfähig sein wird, und er wird
solche Worte, wie Prothoe sie spricht, als törichtes Gerede abweisen.
Ich betrachte also als sicher, dafs nach Prothoes wohl mafsgebender
Ansicht Penthesileas Wunden leicht sind und die ganzen störenden
Folgen ihres Unfalles durch die Ruhe einer Nacht sich beseitigen
lassen. Niejahrs erstem Entwurf können daher die Verse nicht an-
gehört haben.
Was die Schwierigkeit mit Pharsos anlangt, so mufs hier zunächst
die Fassung von M. verglichen werden, wo Prothoes Angabe, sie
habe das Heer nach Pharsos gewiesen, fehlt. Prothoe sucht, über-
einstimmend mit der späteren Fassung, Penthesilea zur Flucht zu be-
wegen und nennt als Ziel der Flucht Thermidora, wo Penthesilea
ruhen und des Heers zerstreute Splitter sammeln könne. Offenbar
läfst Kleist den Ort nennen, weil die Aufforderung, an einen bestimmten
Ort zu gehen und dort bestimmte Tätigkeiten vorzunehmen, eindring-
88 Hubert Roetteken.
lieber ist als die allgemeine Ermahnung, zu fliehen, und als er den
Namen niederschrieb mag er flüchtig an einen Ort gedacht haben, der
zum Sammeln des Heeres besonders günstig gelegen und den Amazonen
etwa von einem früheren Nachtquartier oder auch nur vom Durchzug
her bekannt sei. Als natürlicher Sammelpunkt erscheint Thermidora
dann auch in M. 42 b (Zolling S. 354), wo die von Diomedes be-
drohten Amazonen fliehen und eine Heerfuhrerin die Losung ausgebt:
Zu Thermidora sammeln wir uns wieder. Erst bei der Druckfassung
hat dann Kleist die Aufforderung der Heerfuhrerin gestrichen und die
Weisung des Prothoe erdichtet — aus welchen Gründen will ich nicht
versuchen zu erraten.
Niejahrs Bedenken, dafs Pharsos von Prothoe als ein für den
Verlauf des Krieges besonders wichtiger Ort genannt werde, während
sonst niemals im Stück von ihm die Rede sei, erledigt sich danach
wohl von selbst: Kleist hat ihn sicher nicht als irgendwie wichtig be-
trachtet. Auch der von Niejahr gerügte Widerspruch zwischen Pro-
thoes Aufserung und der Anwesenheit der Amazonen in den folgenden
Scenen ist in M. sicher nicht vorhanden, denn hier wird erst in
der zwölften Scene den dort anwesenden Amazonen die Weisung ge-
geben, sich in Thermidora zu sammeln*).
Aufserdem aber irrt Niejahr, wenn er meint, es seien in den auf
Scene IX folgenden Auftritten „die Amazonen und nicht blofs ein
kleineres Gefolge" wieder in der Nähe der Penthesilea zu denken.
Ein kleineres Gefolge ist es freilich nicht, aber das ganze Heer der
Amazonen ist es auch nicht, wie aus der einleitenden Regiebemerkung
zur zehnten Scene deutlich hervorgeht: Kleist spricht da ausdrücklich
von einer auftretenden Schar von Amazonen, während er, wo er das
ganze Heer meint, auch den entsprechenden Ausdruck braucht: ver-
gleiche die einleitenden Bemerkungen zur vierten Scene (das Heer der
Griechen), zur fünften Scene (das Amazonenheer), zur zwölften Scene
(Ulysses mit dem Heere), zur siebzehnten und achtzehnten Scene. Die
Amazonenschar des zehnten Auftritts wird nun auch schon an früheren
Stellen vorausgesetzt. Eine nicht unbeträchtliche Schar mufs es doch
sein, die den Achilles so lange aufhält, dafs die neunte Scene möglich
wird, und auch schon in dem Botenbericht der Obersten giebt
wenigstens M. ausdrücklich an, Achilles folge der Königin „der
*) Auch die Weisung der Prothoe ist abrjg:e]is mit dem folgenden vereinbar, was
hier auf sich beruhen möge.
Nochmals Penthesilea. 29
Jungfraun dichte Schar durchstrebend". Wenn nun in demselben
Botenbericht die Oberste sagt, das ganze Heer sei zerstreut, wenn
später Prothoe gleichfalls von dem zerstreuten Heere spricht (des
Heers zerstreute Splitter, M.) so kann das, wie die Sache liegt,
nichts anderes heifsen als dafs beim oder bald nach dem Sturz der
Penthesilea ein Teil der Amazonen die Flucht ergriflfen hat, eben jene
Schar aber Stand hält, vielleicht auch nicht in bester Ordnung, aber
doch kämpfend und nur Schritt nach Schritt zurückweichend. Auch
wenn das Heer sich in solchem Zustande befindet, kann man sagen,
es sei zerstreut'*'), und irgend welche Schwierigkeiten sind dann nicht
vorhanden.
Wie sich nun Kleist das Wiedersammeln dieses Heeres gedacht
hat, hat er uns nicht deutlich gesagt und es ist überhaupt nicht aus-
zumachen, wie weit er sich das ausgemalt hat. Vorstellen kann man
es sich jedenfalls recht wohl, und zwar müfste man etwa folgendes
annehmen: Die Amazonen, die zuerst flohen, sind nicht bis nach
Thermidora-Pharsos geeilt, sondern haben sich auf einem entfernteren
Teil des Schlachtfeldes gesammelt. Die Oberpriesterin, Asteria und
andere Führerinnen mögen hier gewirkt haben; begünstigt mufste das
Unternehmen dadurch werden, dafs nicht nur Achilles, sondern auch
Diomedes und Ulysses sich wie es scheint nur um Penthesilea selbst
kümmerten. So hat vielleicht die in der zwölften Scene auseinander-
stiebende Amazonenschar schon wieder gesammelte Heeresmassen ge-
troffen, die sie aufnehmen konnten. Meroe übernimmt dann wohl die
Führung und, in der achtzehnten Scene kann das „Heer" der Ama-
zonen wieder auftreten. So ist die Wiederbefreiung der Penthesilea
mit den Versen 1296 ff. vollkommen vereinbar. — Zum Kampfe mögen
die letzten Reserven herangezogen imd auch die Wachen der Ge-
fangenen soweit vermindert sein, dafs diese zu entfliehen vermochten
und die Oberpriesterin der Penthesilea 2327 mit Recht vorwerfen
kann, um ihretwillen seien die Gefangenen eingebüfst. So würde sich
auch Niejahrs Bedenken erledigen, dafs die Gefangenen erst bei dem
Siege der Amazonen entkommen sind und nicht schon bei ihrer
Niederlage.
*) Kleist lälst den Ausdruck sogar noch 3409 brauchen, wo also das «Heer** der
Amazonen wieder aufgetreten ist und Penthesilea befreit hat: Wir sind zerstreut, ge-
schwächt. — So würde aus dem blofsen Ausdruck „zerstreut** noch nicht einmal folgen,
dafs ein gröiserer Teil des Heeres geflohen wäre; aber dais dieses anzunehmen ist, geht
daraus hervor, dafs eben im zehnten Auftritt nur eine Schar von Amazonen auftritt.
80 Hubert Roetteken.
Die vorstehenden Ausfuhrungen waren veranlafst durch Niejahrs
Bemerkungen über einige Verse der neunten Scene und wir müssen
bei dieser Scene noch etwas länger verweilen. Sie bringt keinen
dramatischen Fortschritt sondern ist reine Situationsscene, nur dazu
da, Penthesileas Zustand nach der Besiegung zu schildern, und zwar
fast ausschliefslich ihren Gemütszustand: von ihrem körperlichen Zu-
stand erfahren wir direkt sehr wenig und nichts irgend bestimmtes.
Die Regiebemerkung im Phöbus nennt sie bleich, zum Versinken
matt; in der Druckfassung wird sie von zwei Amazonen gefuhrt und
spricht mit schwacher Stimme. Aber so kraftlos ist sie doch nicht,
dafs sie nicht die Rosenkränze zerhauen könnte, und wenn sie nachher
behauptet, nicht stehen zu können, (soll das Gebein mir brechen?) so
beruht dieses Gefühl körperlicher Schwäche schwerlich allein öder auch
nur überwiegend auf wirklich körperlicher Ermüdung, sondern ist zum
g^ofsen Teil durch ihren geistigen Zustand bedingt. Ebenso ist es
bei den Schmerzen von 1291 zum mindesten ungewifs, ob sie, soweit
sie vom Körper ausgehen, ausreichen würden, um Penthesileas Tränen
fliefsen zu machen, und ob nicht diese Tränen zum gröfsten Teil auf
die Rechnung seelischer Schmerzen kommen. Sonst spricht Penthe-
silea noch von ihrer zerschmetterten Brust und Prothoe deutet Bluts-
tropfen an 1 313. In den späteren Scenen, um auch das gleich zu er-
wähnen, spricht Prothoe von Penthesileas zerissener Brust und ihren
verwundeten Gliedern; alles das giebt zur Beurteilung der Frage nach
der Art ihrer Verwundung keine Anhaltspunkte. — In psychischer
Hinsicht sehen wir Penthesilea zuerst beherrscht von einer Erreg^ung,
in der ein heftiger Schmerz sich durch Zomausbrüche und wilde
Klagen Luft zu machen sucht: unterbrochen durch einen kurzen Ver-
such, sich gewaltsam zu fassen, hören wir sie leidenschaftliche Befehle
zur Vernichtung des Achilles ausstoßen, über dessen Feindseligkeit
klagen, die Voreiligkeit, mit der das Rosenfest gerüstet wurde, ver-
fluchen, und dem ganzen Frühling, der ganzen Welt den Untergang
wünschen. Mit dem jammernden Ausruf „O Aphrodite" bricht sie
zusammen, matt bis in den Tod, bereit zu sterben, bereit diesen Leib,
der den Geliebten nicht reizte, zum Frafs den Hunden und Vögeln
hingeben zu lassen. Indem sie sich so gegen ihren eigenen Leib
wendet, dann gegen den Schmuck der ihr nichts genützt hat, gegen
die Dienerinnen, die ihr beim schmücken mit ihrer Schönheit ge-
schmeichelt haben, erhitzt sie sich noch einmal zu leidenschaftlichen
Worten und Verwünschungen, um dann in jenen Zustand der Mattig-
Nochmals Penthesflea. 81
keit zurückzufallen : sie klagt nicht mehr, aber es ist ihr auch alles gleich-
gültig, keine Vorstellung hat mehr den Wert eines Motivs für sie.
Sie fragt wohl, was sie tun müfste, wenn sie noch fliehen wollte, aber
als die Antwort erfolgt, ist sie doch nicht fähig, einen Entschlufs zu
fassen, und während Prothoe noch weiter spricht bleibt ihr Blick an
der Sonne hängen, auf die er zufallig gelenkt wurde, und sie meint
in ihr den unerreichbaren Geliebten wiederzuerkennen. Im folgenden
giebt die Regiebemerkung an, dafs Penthesilea sich sammle, und sie
fragt dann nach dem Wege; aber es handelt sich nicht um ein wirk-
liches Aufraffen und volle Klarheit, sondern sie folgt nur endlich
mechanisch der im vorhergehenden mehrfach wiederholten AuflForderung
der Prothoe mitzukommen. Die Verwechselung der Sonne mit dem
Geliebten bleibt dabei bestehen, und bald umdunkelt sich Penthesileas
Bewufstsein immer mehr: sie möchte den Ida auf den Ossa stellen,
sie will sich in den Flufs stürzen, wo sie das Spiegelbild der Sonne
sieht, und endlich sinkt sie bewufstlos in Prothoes Arm.
Es fragt sich nun, wie Kleist sich diesen Zustand verursacht
dachte. Offenbar spielt die Verwundung kaum eine Rolle dabei.
Prothoe lä&t es zwar 1482 unentschieden, ob die Ohnmacht durch
den Schmerz der verwundeten Glieder oder den der verletzten Seele
herbeigeführt wurde, aber es ist doch in der neunten Scene von den
Verletzungen zu wenig die Rede, als dafs man einen besonderen Ein-
flufs von ihnen annehmen sollte. Überdies läfst sich die Ohnmacht
von den vorhergehenden Zuständen der Willenlosigkeit und des „Irr-
geschwätzes** nicht trennen, und dafs Kleist diese durch leichte Ver-
wundungen sich herbeigeführt gedacht hätte, ist doch sehr unwahr-
scheinlich. Für Penthesileas geistigen Zustand macht Prothoe zuerst
den Sturz verantwortlich, 11 95, aber nachher weifs sie Penthesileas
Unfähigkeit, sich zur Flucht aufzuraffen, anders zu erklären:
Des Lebens höchstes Gut erstrebte sie,
Sie streift*, ergriff es schon: die Hand versagt ihr,
Nach einem andern noch sich auszustrecken.
Und damit stimmt Penthesileas eigene Aufserung:
Wenn es mir möglich war! Wenn ichs vermöchte I
Das Aufserste, was Menschenkräfte leisten,
Hab' ich getan. Unmögliches versucht, • . .
Mein Alles hab* ich an den Wurf gesetzt;
Der Würfel, der entscheidet liegt, er liegt;
Begreifen mufs ichs und dafs ich verlor.
82 Hubert Roetteken.
Das ist offenbar die Hauptsache: die verzweiflungsvolle Gewifs-
heit, dafs sie das höchste Ziel nicht erreichen kann, dafs ihr Leben
keinen Inhalt mehr hat, die bringt Penthesilea von Sinnen, und dem
Sturze kann Kleist höchstens die Wirkung zugeschrieben haben, dais
er Penthesileas physische und geistige Kraft überhaupt schwächt und
somit die verheerende Wirkung ihrer seelischen Schmerzen erleichtert
Gehen wir nun zur Betrachtung der vierzehnten und fünfzehnten
Scene über. Der Anstofs, den Niejahr daran nimmt, dafs Penthesilea
plötzlich wie von Lebenskraft und Lebensmut überschäume und von
ihrer Verwundung im folgenden nicht mehr die Rede sei*), ist wohl
durch die bisherigen Ausfuhrungen beseitigt: Penthesilea war eben
nicht schwer verwundet und wenn an ihrer Mattigkeit hauptsächlich
ihr seelischer Schmerz Schuld war, so versteht es sich von selbst,
dafs dieser Zustand, soweit er seelisch bedingt war, einfach aufhören
mufste, sobald der Schmerz sich in Freude verwandelte; und etwaige
noch vorhandene körperliche Beschwerden konnten durch die Freude
übertäubt werden.
Einen zweiten Widerspruch zwischen unseren Scenen und dem
vorhergehenden findet Niejahr darin, dafs Penthesilea ihre Besiegung
durch Achilles in der vierzehnten Scene für einen Traum hält, während
sie doch in der neunten Scene bei völligem Bewufstsein über den
Hergang aufgeklärt erscheint. Darauf ist zu erwidern, dafs Kleist
zwischen diesen beiden Tatsachen keinen Widerspruch gefunden
sondern ihr Nebeneinanderbestehen für möglich gehalten hat. Als
er die vierzehnte Scene schrieb, hat er ausdrücklich auf die neunte
Bezug genommen, wie sich deutlich aus Vers 1718 bis 1720 ergiebt:
(Penthesilea erblickt Rosen auf dem Boden)
Sieh! Kelche finden, und wie duftende.
Auf diesem Platz sichl — Ach mein böser Traum!
War denn der Diana Oberpriesterin hier?
■
Die Worte können sich nur auf Vers 12 12 flf. beziehen, wo Pen-
thesilea an derselben Stelle von der Oberpriesterin sich sagen lassen
mufste, dafs sie ja selbst das Rosenfest angeordnet habe, und wo sie
die Rosenkränze zerhauen hat. Kleist hat also angenommen, dafs
Penthesilea von der ganzen neunten Scene nur ganz dunkle Erinne-
*) Niejahr meint, 2821 werde die Wuode noch einmal erwähnt, der Vers sei
aber offenbar erst später mg^esetzt. Mir scheint, dafs es sich da nicht um die alte,
sondern eine irgendwie neu zugezogene Wunde handelt.
Nodunals Penthedlea. S8
ningen habe, Erinnerungen, die sie bei ihrem Auftauchen bereit ist,
gleichfalls für Bestandteile ihres Traumes zu halten*). Ein solcher
Hergang wäre vielleicht auch nicht unmöglich: Penthesileas geistiger
Zustand in der neunten Scene ist wohl geeignet, das Entstehen deut-
licher Erinnerungsbilder zu erschweren und dazu kommt, dafs man
nach dem Erwachen aus einer Ohnmacht überhaupt mangelhaft orientiert
ist. Doch ob wirklich mögUch oder nicht: Kleist jedenfalls hat einen
solchen Verlauf für möglich gehalten und es ist durch nichts zu ent-
scheiden, ob er von der Voraussetzung dieser Möglichkeit bereits bei
der Aufstellung seines ersten Planes ausging, oder ob sie ihm erst
später, bei dem Zusammenfugen ursprünglich nicht zusammengehöriger
Scenen nahegelegt wurde.
Ferner nimmt Niejahr daran Anstofs, dafs Achilles 1774 die ihn
bekränzende PenthesQea fragt, wer sie sei, während er doch schon
früher Gelegenheit hatte, ihren Namen zu erfahren, überhaupt ganz
genau wissen müfste wen er vor sich hat. — Penthesilea ist den
Griechen von vorneherein unbegreiflich gewesen. Sie kennen die
Sitte des Amazonenstaates nicht und sie vermögen sich keinen ver-
nünftigen Grund zu denken, der Penthesilea veranlassen könnte, gegen
Griechen und Trojaner gleichmäfsig zu kämpfen. Aber mag der kluge
Odysseus diese Unbegreifiichkeit ausfuhrlich erörtern, Achilles selbst
hat sich schwerlich darüber den Kopf zerbrochen; wenigstens hören wir in
der vierten Scene nichts darüber aus seinem Munde. Er ist ein Mann,
der sich nur um das kümmert, was ihn selbst ganz direkt berührt,
und so hält er sich auch in diesem Falle an das, was ihn persönlich
angeht: an Penthesileas spezielle Feindschaft gegen ihn. Denn das
nimmt sowohl Diomedes (161) als auch Achilles selbst (595) an, dafs
Penthesilea gerade ihn in der Schlacht sucht und zwar mit der Ab-
sicht ihn zu töten. So also hat Achilles Penthesilea bisher gekannt:
als eine wilde Kriegerin, die ihm nach dem Leben trachtet und die
auch er häuptlings durch die Strafsen schleifen möchte. Aber diese
Penthesilea ist seit der achten Scene verschwunden und an ihrer Stelle
steht ein herrliches Weib, das er liebt und das ihn liebt. Schon die
veränderte Stellung, die sie in seinem Gefühlsleben jetzt einnimmt,
*) Allerdings passen diese Bestandteile nicht zu der Gestalt des Traumes, wie sie
ihn 1556 ff. erzählt; aber man könnte ja annehmen, dafs Penthesilea 1718 ihre Erinne-
rung stillschweigend korrigiert, oder auch dafs sie in ihrer Freude keine Zeit und Lust
hat, über ihren Traum weiter nachsugrfibeln.
ZtMhr. t TgL LiU..GeKb. N. P. Till. 3
M Hnbcrt Roelteken.
mufs sie ihm in neuem, ungewohntem Lichte erscheinen lassen und
ebenso fremdartig mufs ihn ihr verändertes Benehmen berühren, die
weichen Laute der Zärtlichkeit, die Liebkosungen, die an die Stelle
der Geschosse getreten sind« Dazu kommt, dais jetzt, wo ihm ein
persönliches Gefühl für PenthesÜea erwacht ist, doch auch ihm die
Frage nahe tritt, warum sie so plötzlich unbeleidigt in den Streit vor
Trqja falle, femer wie denn dieses herrliche Weib dazu komme, die
Waffen zu fuhren, und zwar, was freilicli nicht ausdrücklich gesagt
ist, speziell gegen die, die es doch liebt Endlich wirkt das neue und
seltsame der Situatioxi: die Bekränzung mit Rosen, die Hymne. Kurz-
um, wenn schon 986 ein griechischer Ge&ngener sagt: war je ein
Traum so bunt, als was hier wahr ist? so begreift man noch vielmehr,
dafs Achilles hier allmählich in die Stimmung kommt, die sich nach-
her während Penthesileas Erzählung in einem zerstreuten Lächeln und
den Worten verrät: ich dachte eben, ob Du mir aus dem Monde
niederstiegst. Diese Stimmung klingt schon 1809 ^^' Penthesilea ist
ihm ein Rätsel, wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt, um-
woben von geheimnisvollem, traumhaftem Duft Das was er wei(s,
nämlich dafs er einer gewissen Königin Penthesilea gegenübersteht,
giebt ihm natürlich keine Lösung des Rätsels und so fragt er denn,
nicht nach ihrem Namen, sondern nach ihrem Wesen. Die ersten
drei Verse seiner Rede sagen das deutlich:
O Du, die eine Glanzerscheinung mir,
'Als hätte sich das Ätherreich eröffnet,
Herabstiegst, Unbegreifliche, wer bist Du?
Und wenn Achilles fortfahrt:
Wie nenn' ich Dich, wenn meine eigne Seele
Sich, die entzückte, fragt, wem sie gehört?
so fasse ich auch dieses nicht als eine Erkundigung nach dem blofsen
Namen auf: Achilles will Penthesilea nennen mit dem Worte, das ihm
die Lösung des Rätsels giebt, das ihm das ganze Bild der Königin,
wie es in seiner Fantasie und Stimmung jetzt lebt, erklärt, sym-
bolisiert*). Penthesilea nennt ihm nach einigen anderen Bemerkungen
*) Es entsprechen sich deutlich die Verse 1808 und 181 2:
Penthesilea: Ich bins — Du Jungfer Kriegsgott, dem Du angehörst I
x8o8 Wenn man im Volk Dich frag^ so nennst Du mich.
Achilles . . .
i8ia: Wie nenn ich Dich, wenn meine eigne Seele
Sich, die entzückte fragt, wem sie gehört?
Nochmals Penthesilea. d5
schliefsiich auch ihren Namen und Achilles spricht diesen nach in
einer Weise, da(s es auf den ersten Blick allerdings so aussieht, als
hörte er ihn nun zum erstenmal. Aber auch hier wird eine andere
Auffassung durch die ganze Stimmung des Achilles nahegelegt: auch
der Name erscheint ihm neu. Es sind dieselben Laute, die er früher
gehört hat, aber sie waren fiiiher verbunden mit Vorstellungen von
Kampf und Blut: jetzt hat das Wort andere Obertöne erhalten und
so klingt es dem Achilles lieblich und lockend. Mit inniger Betonung
spricht er es der Geliebten nach und versenkt sich in den Wohllaut
dieser Silben.
Noch nach einer anderen Richtung hin hat Niejahr die flinfzehnte
Scene erörtert. Er meint, die Ruhe, ja Harmlosigkeit, mit der wir
den Achilles der weit ausholenden Erzählung vom Frauenstaate lauschen
sehen, habe innerhalb der gegebenen Situation etwas Undramatisches,
wenn nicht Unwahrscheinliches; man müsse demnach annehmen, dafs
die in Rede stehende Erzählung für sich, ohne unmittelbare Rücksicht
auf die umgebende Situation ausgearbeitet und dann als letztes ein-
heitliches Glied in die Kette des schon abgeschlossenen Ganzen ein-
gefugt wurde. Ich kann nun zunächst eine Unwahrscheinlichkeit in
dem Verhalten des Achilles durchaus nicht finden. Dieser Achilles,
dem über Penthesilea der ganze Hellenenstreit vor Troja so voll-
kommen gleichgültig geworden ist, wie er es 2518 ff. mit den dras-
tischsten Worten sagt und wie es sich auch schon vorher (612) zeigt,
der wird, wenn er nun seine Penthesilea hat, sich auch um den ganzen
Amazonenkampf nicht weiter kümmern, sondern sich mit der Geliebten
beschäftigen. Nur eine vor Augen liegende Gefahr, dafs Penthesilea
ihm wieder entrissen werden könnte, würde ihn veranlassen, sie seinen
Begleitern zu übergeben und sich weiter am Kampfe zu beteiligen,
aber eine solche liegt ja nicht vor: das Heer der Amazonen scheint
völlig auseinandergeworfen und die geschlagenen werden von Odysseus
und Diomedes verfolgt — was will Achilles mehr? Er mag sich da
auf dem Schlachtfelde ebenso sicher fühlen, als wenn er im Griechen-
lager wäre. Und die Reflexion, dafs ja möglicherweise die Amazonen
sich doch noch wieder sammeln könnten und dafs es mithin klüger
wäre, sich vorläufig an der Verfolgung der fliehenden zu beteiligen.
Bei der eben gegebenen Auffassung kann man dieses so erklären, dafs zwar zur
Antwort auf die Frage des Volkes der Name Penthesilea genügt, nicht aber zur Antwort
auf die Frage der eigenen Seele. Doch will ich hierauf kein Gewicht legen, da auch
eine andere Deutung mögUch wäre.
8'
86 Hubert Roetteken.
diese Reflexion könnte einem sehr vorsichtigen und alles erwägenden
Manne ja wohl kommen, aber sicher nicht einem Achilles, wie Kleist
den Charakter gezeichnet hat.
Dafs die lange Erzählung etwas undramatisches hat, gebe ich zu;
aber läfst sich daraus, würde sich selbst aus einer leichten psycho-
logischen UnWahrscheinlichkeit die Folgerung ziehen lassen, die Niejahr
daraus zieht? Ich konnte mich bisher darauf beschränken, nachzu-
weisen, dafs Niejahr mit Unrecht Widerspräche annimmt, sei es nun,
dafs seine Interpretation sich als unrichtig herausstellte, oder dafs sich
ergab, dafs das, was er als einen Widerspruch betrachtet, in den
Augen des Dichters keiner war; ich mufs nun aber auch dem Obersatz
widersprechen, der seiner ganzen Beweisführung zu Grunde liegt,
nämlich der Annahme, dafs der Dichter nur bei unterbrochenem, stück-
weisem arbeiten, oder bei nachträglichen Änderungen oder Einschfiben
oder bei Ablösung eines Planes durch einen anderen Unebenheiten
und Widersprüche (wirkliche, die auch für ihn solche wären, wenn er
sie bemerkte) in seine Dichtung hineinbringen könne. Dieser Obersatz
ist, so allgemein ausgesprochen, gründlich falsch. Zwei Fragen sind
hier gesondert zu behandeln; einmal: giebt es Veranlassungen, welche
dem Dichter auch bei ununterbrochener Arbeit plötzlich Annahmen
nahe legen können, die mit früher gemachten nicht übereinstimmen,
oder ihn locken können, eine einzelne Scene weiter auszufuhren, als
der Komposition zuträglich ist?*) Und zweitens: ist es möglich, dafs
diese Veranlassungen und Lockungen nicht durch die Gefahr des
Widerspruches u. s. w. paralysiert werden, sondern sich in Taten um-
setzen? Legt man sich diese Fragen einzeln vor, so sieht man leicht
ein, dafs man sie beide bejahen mufs.
Was die erste anlangt, so ist zunächst bekannt, dafs der Dichter,
auch wenn er sich einen genauen Plan gemacht hat, doch durch die
Detailarbeit öfters dahin belehrt wird, dafs es an irgend einer Stelle
so, wie er ursprünglich wollte, nicht geht, und dafs er es also da
anders machen mufs, wodurch Unebenheiten entstehen können. Man
kann dabei noch allenfalls von einer Änderung des Planes sprechen,
wenn man sich nur gegenwärtig hält, dafs die Änderung während
ununterbrochener Arbeit erfolgt. — Ferner: es kann sich bei der
Ausarbeitung plötzUch ein poetisches Motiv ergeben, an das der Dichter
*) Ich greife diese beiden Punkte heraus, weil sie gerade für Niejabrs Aufsatz in
Betracht kommen; sonst könnte man auch noch anderes erwähnen.
Nochmals PenthesUea. 37
vorher nicht gedacht hat, das sich nun aber als äufserst dankbar er-
weist und den Dichter lockt, — obgleich es vielleicht mit irgendwo
vorher gegebenen Notizen nicht übereinstimmt und vielleicht auch für
den Zusammenhang nicht ganz pafst; oder es kann sich auch um ein
wohl von vorne herein gesehenes Motiv handeln, das sich aber bei
der Arbeit als viel dankbarer erweist, als der Dichter angenommen
hatte. So kann eine hübsche Dialogpointe plötzlich aufblitzen, die mit
früherem nicht recht vertraglich ist, es kann aber auch Penthesileas
Erzählung vom Amazonenstaat einen Reiz gewinnen, der zu breiter
Ausgestaltung lockt. — Weiter; Ein bestimmter Verlauf einer Sache,
eine bestimmte Beschaffenheit eines Gegenstandes kann sich dem
Dichter in einem gegebenen Moment als normal, natürlich, selbstver-
ständlich aufdrängen, während er vielleicht vorher eine widersprechende
Bemerkung gemacht hat. Den Widerspruch im Don Quixote, wo
Sancho Pansa in einem Kapitel seines Esels beraubt wird, in einem
späteren ihn wieder erhält, in einem zwischen beiden gelegenen aber
auf ihm reitet, hat Heinzel*) gewifs mit Recht erklärt aus der Gewohn-
heit der Fantasie, Sancho Pansa und seinen Esel zusammenzudenken.
Hier ist also diese Vorstellungskombination selbstverständlich geworden
durch die Gewohnheit; ebensogut aber kann von der gegenwärtigen
Situation aus der Schein der Selbstverständlichkeit, des natürlichen
und normalen entstehen. Die Stimmung einer bestimmten Scene
kann dem Dichter die Dinge in einem eigenen Lichte zeigen, das
ihm nun so vertraut vorkommt, als hätte er sie immer so ge-
sehen, was vielleicht in Wirklichkeit gar nicht der Fall ist. Wenn
er also etwa eine heftige Streitscene zwischen zwei Männern schil-
dert und sich dabei in den tiefen Gegensatz zwischen den Cha-
rakteren versenkt, so kann es ihm vorkommen, als müfsten diese
Männer schon immer Todfeinde gewesen sein und sich demgemäfs
behandelt haben, und eine darauf bezügliche Bemerkung kann ihm
in die Feder fliefsen wollen, obgleich er vielleicht vorher ein gemüt-
liches Gespräch zwischen beiden erwähnt oder selbst geschildert hat **)•
*) Anzeiger für deutsches Altertum X. S. 236.
**) Wenn in dem obenangegebenen Beispiel einer der Streitenden selbst behauptet,
er habe den andern inmier gehalst, während sich aus seinem vorhergehenden Benehmen
die Unrichtigkeit dieser Angabe ersehen lälst, so kann das eine vom Dichter gewollte
Erinnerungsteuschung der betreffenden Person sein. Für solche Erinneningsteuschungen
der Personen finden sich bei Kleist interessante Beispiele. Am klarsten ist die Geschichte
von der Katze und der Ananas in der Familie Schroffenstein. In den meisten Personen
38 Hubert Roettekea.
Und SO giebt es noch manche Motive, die zu Widersprüchen
dieses Dramas lebt ein furchtbares Mifstrauea, Yon dem aus sie jeden Zufall so umdeuten,
unbewufst natürlich, dafs er ihnen als Ausfluis und Beweis einer bösen Absicht der
Gegenpartei erscheint. Da hat nun einmal die friedliebende Prau Eustache in bester
Absicht dem kranken Sylvester ein Fläschchen mit Ananas geschickt; Sylvesters Frau
aber, die mifstrauische Gertrude, weÜs nach zwei Jahren davon folgendes su erzählen:
1157 Ich bat dich, unter falschem Vorwand, nicht
Von dem Geschenke zu geniefsen, setzte
Dir selbst ein Fläschchen vor aus eignem Vorrat
Mit eingemachtem Pfirsich — aber du
Bestandst darauf, verschmähtest meinen Pfirsich,
Nahmst von der Ananas, und plötzlich folgte
Ein heftiges Erbrechen —
So hat Gertrude den Vorgang im Gedächtnis; in Wirklichkeit hat aber, wie Sylvester
angiebt und Agnes bestätigt, die Katze die Ananas gegessen, ohne dais sie Schaden
davon gehabt hätte, während Sylvester nun auf den Pfirsich angewiesen war und von
diesem Erbrechen bekommen hat. Bei Gertrude ist die Erinnerung an diese Dinge
verfälscht in die Vorstellung eines Herganges, wie er von ihrem Miistrauen aus betrachtet,
ganz natürlich, ganz normal gewesen wäre: Ein Fläschchen ist von den Feinden ge-
kommen, Sylvester hat darauf etwas gegessen und ist unwohl geworden, also ist das
feindliche Fläschchen daran Schuld. Und das glaubt sie natürlich im vollsten Ernst. —
Ein schönes Beispiel bietet auch Toni in der «Verlobung in St Domingo**, wie sie, nach-
dem sie Gustavs Liebe genossen hat, plötzlich erklärt, die Unmenschlichkeiten, an denen
sie bisher gezwungen habe Teil nehmen müssen, hätten längst ihr innerstes Gefühl em-
pört — während von solcher Empörung in der ganzen Art, wie sie Gustav zuert entgegen-
tritt, nichts zu spüren ist. Vielleicht findet sich einmal Jemand, der aus diesem „Wider^
Spruch** einen ^ersten Plan*" der Novelle konstruiert! — Hübsch ist in unserem Drama
1760 ff., wo Penthesilea zu Achilles sagt:
Zwar gern mit diesem Arm hier traf ich Dich,
Doch als Du niedersankst, beneidete
Hier diese Brust den Staub, der Dich empfing.
Penthesilea glaubt, was man ihr gesagt hat, nämlich dafs Achilles gleichzeitig mit ihr
niedergesunken sei, aber jedenfalls müfste sie wissen, dafe sie sofort bewufstlos wurde,
den Fall nicht selbst gesehen und den Staub nicht beneidet hat. Was sie schildert ist
der normale Verlauf ihres Sieges über Achilles, so wie sie ihn sich wohl oft ausgemalt
hat, und dieser tritt ihr ohne weiteres an die Stelle ihres Erinnerungsbildes. — Etwas
anders liegt der Fall nach dem Tode des Achilles. Hier ist das Erinnerungsbild völlig
geschwunden und an die leere Stelle tritt ihr der normale Verlauf eines siegreichen
Kampfes gegen Achilles mit den gewohnten Motiven, wobei sie denn freilich vor der
Unbegreiflichkeit steht, dafs die Sache ein solches Ende genommen hat
Diese Fälle möchte ich als vom Dichter beabsichtigte Erlnnerungsteuschungen der
Personen auffassen. Ebenso können auch andersartige £ilsche Auffassungen der Personer
vorkommen, die vom Dichter beabsichtigt sind und nicht als seine Auffassungen betrachtet
werden dürfen. So erwähnt Scherer, es könne etwa eine Botschaft überbracht werden,
die zu den Annahmen nicht völlig stimme, weil der Dichter sich sage, dafs ein beteiligten
Nochmala Penthesilea. 39
treiben können; Heinzel*) erwähnt noch Einmischung der An-
schauungen des Dichters in die Reden seiner Personen und Be-
nutzung mehrerer Quellen, es können aber auch zufallige Assoziatio-
nen in Betracht kommen, bequemes passen irgend eines Gedankens
Zuschauer von der tragisch erregten Fantasie zu Übertreibungen hingerissen werde.
Scherer scheint solche und ähnliche Dinge für aulserordenttich selten zu halten, was
sehr merkwürdig wäre, da sie im Leben unendlich oft vorkommen. Mir scheint, wir
müssen im Kunstwerk überall mit der Möglichkeit irgendwie falscher Annahmen, Auf-
fassungen u. s. w. der Personen rechnen. So haben z. B., wie ich glaube, im Prinzen von Hom-
burg HohenzoUem und der Prinz eine falsche Ansicht über den Grund, aus dem der
Kurfürst zur Vollstreckung des Urteils entschlossen scheint. Ich habe dieses schon in
meinen Bemerkungen in der Zeltschrift für deutseben Unterricht FV. S. 446 ausgeführt,
und Niejahr hätte sich in seinem Aufsatz über den Prinzen von Homburg mit dieser
Möglichkeit auseinandersetzen müssen. Ich will übrigens bemerken, dafs ich manches in
den eben citierten „ Bemerkungen** heute anders anfassen würde.
Nicht immer kann man entscheiden, ob eine bestimmte mit anderen Angaben nicht
vereinbare Äufserung einer Person aus deren besonderer Auffassung erklärt werden muls,
oder nicht; z. B. von dem Widerspruch zwischen Penthesilea 19 18 und 37 einerseits und
2050 andrerseits ist es nicht klar, ob er von Penthesilea oder vom Dichter begangen
wird. 1918 nennt Penthesilea den Kaukasus fruchtumblQht, 1927 spricht sie von den
reichen Feldern der Amazonen — dagegen 2050 sagt sie, die schneebedeckten Berge
geben der Nahrung nicht zu viel. Diese Verschiedenheit könnte aus der Verschiedenheit
der Themata, über die Penthesilea spricht, erklärt werden: 2050, bei einem einfachen
Bericht, könnte sie die faktisch zutreffenden Ausdrücke brauchen, dagegen an der früheren
Stelle, wo sie erzählt, dafs der Feind ins Land gefallen sei, übertreibende Worte an-
wenden — Felder, die der Feind beraubt, sind ja für den der sie besitzt, stets „reich**.
Es könnte aber auch sein, dafs Kleist, indem er sich ganz in die Erzählung vertiefte,
sich völlig mit Penthesilea identifizierte, ganz unwillkürlich, als ob er vom eigenen Vater-
lande spräche, durch die eben erörterten Gründe an der ersten Stelle zu den volleren
Ausdrücken geführt wurde; möglich auch, dafs ihm Vers 2048 die Erwähnung der Mög-
lichkeit, der Gott könne die Einwilligung zum Kriegszug versagen, in die Feder gelaufen
war und sich ihm von hier aus der Kaukasus plötzlich darstellte als ein weniger frucht-
bares Gebirge, eine Vorstellung, bei der das gelegentliche Versagen der Einwilligung
motiviert erschien — es kann aber auch eine ganz zufällige gar nicht mehr nachzukon-
sUiiirende Association einmal diese, einmal jene Vorstellung ihm erweckt haben. —
Penthesilea bietet noch manche Unebenheiten, die erörtert werden könnten, doch will
ich damit abbrechen. Widersprüche aus einer Reihe von Kunstdichtungen, auch aus
Kleist, haben Jellinek und Kraus in der Zeitschr. für die öst. Gymn. 1893 S- ^73 ^*
zusammengestellt, wobei sie freilich auf die psychologische Erklärung der Widersprüche
wenig eingegangen sind. Dickens fehlt in ihrer Sammlung: er ist aber recht lehrreich,
weU bei ihm die Dinge öfters je nach der augenblicklichen Stimmung ein ganz ver-
schiedenes Aussehen haben, wodurch in einzelnen Fällen recht starke Widersprüche ent-
stehen. Julian Schmidt hat das in einem mir augenblicklich nicht zugänglichen Aufsatz
über den Dichter g^t auseinandergesetzt. Einer der ärgsten Widersprüche, der den
ganzen Verlauf der Handlung bestimmt, findet sich in Thackerays nNewcomea**.
*) a. a. O. XV. S. 176.
40 Hubert Roetteken.
oder einer Annahme in den augenblicklichen Zusammenhang, selbst
das passen irgend eines Ausdrucks in den Vers und noch manches
andere.
Was die zweite Frage (vgl. S. 36!) anlangt, so macht Heinzel zu-
nächst darauf aufmerksam, dafs des Dichters Vorstellungen über manche
Einzelheiten von Hause aus nicht klar gewesen zu sein brauchen. Es ver-
steht sich ja von selbst, dafs auch der sorgfaltigste Plan nicht alles und
jedes bis ins einzelne hinein festsetzen kann, sonst wäre er ja selbst
die Ausfuhrung. Ja, mehr als die Ausfuhrung, denn er müfste ein
detailliertes Bild der ganzen Welt enthalten, in der die Dichtung spielen
soll — ein Bild, in dem jede Einzelheit auf ihre Vereinbarkeit mit allen
anderen geprüft wäre. — Dieser Gesichtspunkt kommt namentlich in
Betracht, wo die Widersprüche versteckter liegen, also nicht direkt
zwischen dem Wortlaut mehrerer Angaben stattfinden, sondern sich
erst unserer Reflexion ergeben, wenn wir aus den einzelnen Angaben
Folgerungen ziehen u. s. w. So weit der ganz direkte Wordaut einer
Angabe reicht, legt sie die Ansicht des Dichters über den bestimmten
Punkt zunächst einmal fest, und wenn später eine widersprechende
kommt, so wird ihre Entstehung zwar dadurch erleichtert, dafs der
Dichter über die betreffende Sache sich nicht vorher ein sorgfaltig
durchgedachtes System zurechtgemacht hat, immerhin mufs aber doch
erklärt werden, wie sie nach der vorhergegangenen widersprechenden
Angabe gemacht werden konnte. Heinzel macht darauf aufmerksam,
dafs der Dichter das früher Geschriebene vergessen kann, und das
wird natürlich um so leichter geschehen, je flüchtiger hingeworfen die
frühere Bemerkung ist, je isolierter sie steht. Ich möchte aber hier
doch zwei verschiedene Fälle unterscheiden. Einmal kann es sich um
ein wirkliches einfaches Vergessen handeln, d. h. die Erinnerung an
die betreffende Angabe ist dem Gedächtnis spontan entfallen, wobei
es übrigens nicht ausgeschlossen ist, dafs sie später zurückkehrt: so
ist es in dem Fall des Don Quixote, bei dem noch das zu bemerken
ist, dafs der Dichter; als er später im Einverständnis mit der ersten
Angabe den Sancho ohne Esel vorführte, offenbar wieder die da-
zwischen gegebene abweichende Angabe vergessen hatte. Zweitens
aber, und dieser Fall scheint mir sehr wichtig, weil er viel leichter
als das einfache Vergessen auch dann eintreten kann, wenn es sich
um wichtigere Dinge handelt, wenn die erste Angabe vor nur kurzer
Zeit gemacht wurde, oder wenn sie in einem Plane ausdrücklich vor-
gesehen war: die gegenwärtige Situation nimmt das Bewufstsein des
Nochmals Penthesilea. 41
Dichters so ausschliefslich in Anspruch, dafs keine anderen Vor-
stellungen sich darin geltend machen können. Dieser Fall wird leicht
eintreten, wenn ein poetisches Motiv plötzlich dem Dichter seine ganze
Schönheit enthüllt oder auch wenn er von der Stimmung einer Scene aus
die Dinge in anderem Lichte sieht; wie früher: in beiden Fällen kann seine
Aufmerksamkeit so sehr von jene Schönheit oder Stimmung gefesselt
sein, dafs Erinnerungen an früher gemachte Angaben nicht zur Geltung
kommen. Oder sie kommen ihm auch vielleicht flüchtig zum Bewufstsein,
aber die Stimmung drängt, die Worte wollen aus der Feder, und da
stellt vielleicht ein nicht recht klar gedachter vermittelnder Gedanke
sich ein, sodafs der Dichter das Gefühl hat, die beiden Angaben
könnten wohl neben einander bestehen, während der kühl analysierende
Kritiker ihre Unvereinbarkeit erkennt.
Mir scheint, bei solchen Zerleg^ngsarbeiten wird häufig ein Fehler
begangen: der Kritiker betrachtet die psychischen Vorgänge, die
sich bei ihm in seiner ganz ruhigen auf Kritik gerichteten momen-
tanen Geistesverfassung abspielen, zu sehr als Norm, er mifst an
ihnen die Aufserungen des Dichters, und verlangt, dem Dichter
hätten im Moment heifsen Schaffens dieselben Associationen kommen,
dieselben Widersprüche auffallen müssen, wie ihm selbst, der
das Buch in gröfster Ruhe um und um blättert und besonders
auf diese Dinge achtet. Das ist natürlich so falsch wie möglich, es
kommt vielmehr darauf an, wie das alles sich bei der Individualität
des Dichters gestalten mufste. Und Individualität bedeutet in diesem
Falle nicht nur die bleibenden Grundzüge, sondern auch die momentane
Stimmung, Richtung der Aufmerksamkeit u. s. w. Spricht man das
so theoretisch aus, so erscheint es als selbstverständlich, aber in Praxi
scheint mir gegen diese Regel oft gefehlt zu werden. Und selbst,
noch schlimmer, von den Personen verlangt man bisweilen eine kühle
Besonnenheit und Umsicht, wie man sie eben selber hat, wenn man
die betreffende Situation gedruckt vor sich sieht.
Völlig gerecht werden kann m'an der Individualität des Dichters
und der Personen nur mit einer gründlichen psychologischen Durch-
bildung. Dafs eine solche, dafs eine intensive Beschäftigung mit der
Psychologie für uns ganz unerläfslich sei, ist ja schon mehrfach aus-
gesprochen, wird aber noch nicht in dem Grade anerkannt, wie es
nötig wäre. Die Sache liegt nicht so, wie Schröer*) meint, dafs
*) Englische Studien XVI, 384.
4S Hubert Roetteken.
psychologische Kenntnisse für den Litterarhistoriker nWichtig*^, eben
nur wichtig seien; sondern sie sind schlechterdings unentbehrlich,
sind das Handwerkzeug, das wir keinen Augenblick bei Seite legen
können. In Wirklichkeit arbeitet jeder Litterarhistoriker, auch wenn
er nichts davon wissen will, doch überall mit psychologischen Vor-
aussetzungen, sobald er über ein rein äufserliches Aufzählen der Er-
eignisse hinausgeht; jedes Urteil über die Wirkung eines Ereignisses
auf einen Menschen oder über die Entstehung einer Dichtung u. s. w.
ruht auf bestimmten Annahmen über die Natur der bei solchen Ge-
legenheiten sich vollziehenden psychischen Prozesse, nur dafs diese
Annahmen meist nicht ausdrücklich ausgesprochen und geprüft werden.
Aber darum sind sie nicht weniger vorhanden, und vor allem, darum
sind sie nicht besser.
Nun hat ja allerdings Schröer gesagt, was man far die Litteratur-
wissenschaft an Psychologie brauche, lerne sich bald, vielleicht noch
bälder als das, was man für die Sprachwissenschaft an Sprach-
physiologie brauche. Mir scheinen indessen die litteraturpsychologi-
schen Probleme ganz aufserordentlich viel komplizierter als die sprach-
physiologischen, und jedenfalls, meine eigene Erfahrung widerspricht
Schröers Meinung. Ich habe mich ziemlich viel mit psychologischen
Studien abgegeben, habe aber durchaus nicht das Gefühl, es darin
herrlich weit gebracht zu haben und genug davon zu wissen. Doch dieses
mag an mir liegen und ein anderer kann vielleicht mit der Zeit und
Mühe, die ich auf diese Dinge verwendet habe, sich eine wirklich
ausreichende psychologische Bildung aneignen. Jedenfalls aber, eine
ziemlich grofse Menge von Zeit und Mühe wird er verwenden müssen:
mit dem Durcharbeiten irgend eines Handbuches ist es nicht getan,
sondern man mufs die Speziallitteratur zur Hand nehmen, ja noch
mehr, man mufs sich mit der wissenschaftlichen psychologischen
Analyse soweit vertraut machen, dafs man selbst auf diesem Gebiet
arbeiten kann. Die Handbücher, besonders die neueren, geben fast
nur die Grundbegriffe und auch die Spezialarbeiten drehen sich mehr
um diese, als um die Analyse der komplizierten Erscheinungen, die
uns überall begegnen. Vor allem aber, die psychologische Litteratur
kann ja gar nicht alle die verschiedenen Bilder erörtern, die uns be-
gegnen. Die Biographien der Menschen sind selbst Quellen psycho-
logischer Forschung und wir müssen soweit vertraut sein mit der
psychologischen Betrachtungsweise, dafs wir aus diesen Quellen
schöpfen können, das wir auch uns bis dahin unbekannte Kompli-
Nochmals Penthesilea. 43
kadoQen von Erscheinungen richtig aufzulösen lernen. Auf dem
Wege des Autodidaktentums sich das nötige anzueignen, ist jedenfalls
ziemlich mühsam. Uns, denen während der Studienzeit niemand gesagt
hat, dais wir Psychologie brauchen könnten, bleibt freilich nur dieser
Weg übrig, aber ich meine, unseren Schalem sollten wir die Sache
erleichtem und sie anregen, sich zu rechter Zeit, auf der Universität,
recht gründlich mit diesen Dingen zu beschäftigen und nicht nur ein
Kolleg zu hören, sondern auch psychologische Übungen mitzumachen,
wo solche gehalten werden, und sich in die Litteratur einzuarbeiten.
Die psychiatrische Klinik, die Wetz vorgeschlagen hat, würde ich
nicht gerade für nötig halten: wo aber etwa ein etwas populäreres
Kolleg über Psychiatrie gelesen wird, da wird der künftige Litterar-
historiker es gewifs mit dem gröfsten Nutzen hören. Kenntnisnahme
psychiatrischer Litteratur mufs sich anschliefsen.
Der Wert psychiatrischer Studien ist zunächst ein pädagogischer.
Im Gegensatze zu den Handbüchern der Psychologie gehen psychia-
trische Arbeiten viel mehr ein auf den einzelnen konkreten FaU, be-
handeln den Zusammenhang der verschiedenen Einzelheiten in dem-
selben Krankheitsbilde oder analysieren direkt die einzelnen Krankheits-
geschichten, wie z. B. äufserst lehrreich Robert Sommer in seiner jüngst
erschienenen Diagnostik der Geisteskrankheiten. Solche einzelnen Fälle
haben ja auch wir stets vor uns und wir können für unsere Analysen
bei den Psychiatern Methode lernen — natürlich nicht bei allen.
Einen zweiten wichtigen Punkt hebt Ziehen*) mit folgenden Worten
hervor: Wie eine Karrikatur einen einzelnen Charakterzug klarer her-
vortreten läfst, so zeigt die Geisteskrankheit uns bald diesen, bald
jenen Zug des psychischen Lebens in besonders instruktiver Schärfe,
gewissermafsen aus dem Wirrsal der übrigen psychischen Erscheinungen
herausgelöst.
Von direkten Kenntnissen ist uns am wertvollsten die Kenntnis
der Zustände, die nicht allzuweit von der Grenze des Normalen ab-
liegen*). Die eigentlichen schweren Psychosen zu diagnostizieren
*) Leitfaden der physiologischen Psychologiei Vorwort.
*) Noch wichtiger wäre es ftr uns, wenn es eine gute zusammenfassende Arbeit
gäbe Aber die Grenzzustände des Normalen. Es mfliste z. B. behandelt sein, wie sich
die Menschen psychisch unter dem Einfluis eines starken Affekts benehmen, wie es da-
nach, z. B. nach einem heftigen Zomesausbruch, mit der Erinnerungsfähigkeit aussieht,
0. 8. w.; femer, mit welchen Modifikadonen sich die psychischen Vorgänge bei einem
stark nervösen Menschen abspielen, der aber doch noch nicht als anormal zu bezeichnen
ist, u. s. w. Ober solche Dinge findet man, soweit mir bekannt, nur zerstreut eine oder
die andere Angabe.
44 Hubert Roetteken.
haben wir kaum Veranlassung: an welcher speziellen Geisteskrankheit
Hölderlin gelitten hat, ist ziemlich gleichgültig, denn als er daran litt,
war es mit seiner Poesie auch so ziemlich vorbei, und soweit sind
wir noch nicht, dafs wir aus seiner Geisteskrankheit über seine psy-
chische Konstitution in normalen Zeiten Dinge schliefsen konnten, die
wir nicht auch sonst schon wüfsten. Noch gleichgültiger scheint es
mir, ob Shakespeare im Lear oder Ibsen in den Gespenstern eine
bestimmte Krankheitsform wiedergegeben und ob sie sie genau richtig
wiedergegeben haben, hier genügt es wohl zu wissen, dafs der Dichter
mit Bewufstsein anormales Seelenleben schildern wollte und im übrigen
handelt es sich darum, ob er es glaubhaft und ästhetisch wirksam
geschildert hat —
Indessen, kehren wir nach dieser Abschweifung zu unserem Thema
zurück und beleuchten wir die Frage noch von einer anderen Seite:
was gewinnt man denn, wenn man bei Widersprüchen immer gleich
verschiedene Pläne annimmt?
Dafs der Dichter in den verschiedenen Plänen verschiedene An-
gaben macht, ist allerdings leicht begreiflich, aber er fügt nun doch
schliefslich die Stücke, die aus verschiedenen Plänen stammen, zu
einem Ganzen zusammen und so steht man auch hier vor der Frage:
wie ist es möglich, dafs er widersprechendes, nicht zusammenpassen-
des stehen läfst? Es kann sein, dafs der Dichter die Unmöglichkeit
einsieht, volle Übereinstimmung herzustellen, nun aber doch das
frühere nicht verwerfen will, sich vielleicht auch durch fragmentarische
Veröffentlichung gebunden fühlt, und so das spätere notdürftig an
das frühere anleimt, indem er sich damit tröstet, dafs es allenfalls so
gehe und dafs das Publikum es nicht so genau nehmen werde; viel-
leicht hat er sich in das schwer änderbare schliefslich auch in dem
Sinne hineingelesen, dafs es ihm passend erscheint, ein Fall, der
indessen nur dann eine gröfsere Wahrscheinlichkeit besitzt, wenn das
alte schon vor längerer Zeit geschrieben ist, so dafs der Dichter
nicht mehr genau in der Erinnerung hat, was er mit jedem Worte
hat sagen wollen. — Eine poetisch geglückte Scene, die nicht gerade
im Widerspruch steht zu dem neuen, wohl aber dafür überflüssig ist,
wird immer die gröfste Chance haben, dennoch aufgenommen zu
werden. Kleine Widersprüche werden leicht übersehen werden, denn
darauf wird der Dichter seine Aufmerksamkeit wohl nicht gerade
richten und aufdrängen werden sie sich ihm auch nicht leicht, schon des-
halb nicht, weil das was wir geschrieben haben uns beim wiederlesen
Nochmals Penthesilea. 45
sofort einen vertrauten Eindruck macht und daher leicht richtig scheint
— wenn wir es eben nicht ausdrücklich kontrollieren. Schliefslich,
wenn der Dichter bei der Zusammenfugung anfangt einzelnes umzu-
arbeiten oder überhaupt wenn er spätere Änderungen vornimmt, so
wird es ihm leichter als bei ununterbrochener Arbeit passieren können,
da& er Dinge sagt, die mit anderen Stellen der Dichtung nicht über-
einstimmen. Das alles gebe ich zu; erstens aber wird es wohl nur
selten möglich sein, nachzuweisen, dafs die Unebenheiten wirklich
aus der Verschmelzung verschiedener Pläne oder aus späteren Über-
arbeitungen stammen müssen und nicht durch die anderen von mir
erörterten Gründe und Möglichkeiten erklärt werden können, und
zweitens steht dem allen nun folgendes gegenüber: wenn der Dichter
für sein Werk Scenen aus einem anderen Plane verwendet, so hat er,
wenigstens wenn jene Scenen vor verhältnismäfsig kurzer Zeit ge-
schrieben wurden, ein gedächtnismäfsiges Wissen darüber, da& sie
aus einem anderen Plane stammten, ursprünglich eine andere Bedeu-
tung hatten, und dieses Wissen müfste seine Aufmerksamkeit steigern,
müiste ihn veranlassen, die Scenen eigens darauf durchzusehen, ob
nichts in ihnen vorkommt, was der späteren Auffassung widerspricht;
man mufs ferner annehmen, dafs er unter diesen Umständen wenigstens
Widersprüche die die Hauptsache treffen auch sehen und dann auch
korrigieren wird, zum mindesten so, dafs nicht mehr der direkte Wort-
laut widerspricht, wenn auch vielleicht die ganze Stimmung der Scene
sich nicht ändern läfst und der Dichter sich hier, statt die Scene
völlig neu zu schreiben, mit dem oben angegebenen Gedanken
tröstet. Ich habe oben darauf Wert gelegt, dafs Kleist in der vier-
zehnten Scene auf die neunte Bezug nimmt, so die Vereinbarkeit der
beiden Scenen ausdrücklich behauptet und übrigens auch angiebt,
wie er sich diese Vereinbarkeit denkt; in ganz schweren Fällen aber
bedürfen wir einer solchen Erklärung des Dichters gar nicht. Hätte
Kleist ursprünglich die achte Scene von dem Gedanken aus geschrieben,
dafe darin eine tötliche Verwundung der Penthesilea berichtet werden
sollte, so ist es doch anzunehmen, dafs er bei Änderung seines Planes
aus der Scene alles getilgt hätte, was an die tötliche Verwundung
erinnerte und dafs er dabei eher zu streng als zu lax vorgegangen
wäre, eben weil ihm ja die ursprüngliche Beziehung der Worte be-
kannt war; keinesfalls kann man glauben, dafs er leicht zu ändernde
Worte wie „totmnschattef* stehen gelassen hätte, wenn ihm diese
Worte nicht völlig passend zur Schilderung einer blofsen Ohnmacht
46 Hubert Roetteken.
erschienen wären — d. h., wenn er sie nicht auch von vorne herein
zur Schilderung einer solchen hätte brauchen können.
Sieht ein Dichter, der in einem Zuge geschrieben hat, sein Werk
nach der Vollendung durch, so hat er nicht sehr viel Aussicht, etwa
vorhandene Unebenheiten zu sehen. Abgesehen von der oben er-
wähnten Macht des einmal geschriebenen, abgesehen davon, dals die
Schärfiing der Aufmerksamkeit durch das Bewufstsein, nach verschie-
denen Plänen gearbeitet zu haben, fehlt, wird das Erkennen der
Fehler dadurch erschwert, dals im Dichter, während er die Stelle
liest, auch die Motive wieder wirksam werden, die ihn ursprünglich
zu dem Fehler hintrieben und ihn ermöglichten. Auch bei der Durch-
sicht wird der Dichter leicht wieder von der Schönheit oder dem
Stimmungsgehalt einer Scene so gepackt werden, dafs er die Fehler
übersehen kann.
Überall kommt es an auf die Eigenart des Falles und auf die
Individualität des Dichters. Dafs Widersprüche bei Dingen, für die
der Dichter sich nicht speziell interessiert, leichter vorkommen und
stehen bleiben können, als bei solchen, die im Mittelpunkte des Kunst-
jwerkes stehen, ist selbstverständlich, und ebenso selbstverständlich
ist es, dafs die Dichter in dieser Beziehung verschieden sind, dafs
einer mehr Übersicht hat, ab der andere. Was haben wir nun hier
von Kleist zu erwarten? Dafs er hochgradig zerstreut war, ist be-
kannt, und zur weiteren Illustration können uns seine Menschen
dienen, die ja so oft nichts als das eine nur denken und gegen alles
andere blind sind. Sollten sich Spuren dieser Zerstreutheit nicht auch
einmal in der Konpiposition seiner Werke finden? Ich wenigstens
würde, auch wenn das Verhalten des AchiUes während Penthesileas
Erzählung psychologisch nicht ganz wahrscheinlich wäre, mich damit
begnügen diese Tatsache festzustellen und zu untersuchen, was wohl
Kleist an dieser Scene so sehr gefallen hat, aber ich würde nicht
das geringste weiter daraus zu schliefsen wagen. Die Tatsache
selbst kann man freilich auch so ausdrücken, da£s man sagt, der
Dichter habe die betreffende Stelle ohne genügende Rücksicht auf
die Umgebung geschrieben; nur mufs man sich immer gegenwärtig
halten, dafs dieser Mangel an Rücksicht eben nicht nur möglich ist,
wenn die Stelle für sich geschrieben und dann in das schon abge-
schlossene Ganze eingefugt ist. — Um noch einen Einzelfall zu er-
wähnen: auch wenn Achilles sich in der fünfzehnten Scene ganz aus-
drücklich nach dem Namen der Amazone erkundigte, würde ich immer
Nochmals PenthesUea. 47
noch an die Möglichkeit denken, dafs Kleist, ganz erfüllt davon, wie
fremd und seltsam dem Achilles Penthesilea und ihr ganzes Tun er-
scheint, nun das Gefühl gehabt hätte, als müfste ihm wohl auch der
Name unbekannt sein, was ja an sich bei der plötzlich in den Dar-
danerstreit hereinschneienden Königin keine ganz unwahrscheinliche
Voraussetzung gewesen wäre; dafs ferner in der durch die Scene so
stark beschäftigten Seele des Dichters Erinnerungen an die früheren
nicht wohl mit jener Voraussetzung vereinbaren Angaben sich nicht
hätten geltend machen können. So ganz unglaubhaft wäre ein solcher
Hergang doch wohl nicht. —
Niejahr meint, nach dem ursprünglichen Entwurf sollte Penthesilea
in dem Konflikt zwischen Neigung und Pflicht zu Grunde gehen; mir
will scheinen, als ob der Konflikt, den er da konstruiert, gar zu abstrakt
wäre um einen Kleist zu reizen. Auf der einen Seite stände das Gesetz
des Frauenstaates, das Kleist nach seinen ganzen Anschauungen über
das Verhältnis zwischen Mann und Weib höchst töricht und ver-
werflich erscheinen mufste, und auf der anderen Seite eine Person,
welche sich von diesem Gesetze nicht nach einer Richtung hin ent-
fernt, die dem Dichter sympathisch wäre, sondern welche ebenso wie *
die anderen Amazonen sich den Geliebten im Kampfe fangen' und ihn
mit sich fuhren will, und die nur darin vom Gesetz abweicht, dafs sie
einen bestimmten Gegner sich sucht. Auf einer dem Dichter durch-
aus unsympathischen Grundlage würde der Konflikt sich also um
eine im Verhältnis zur Bedeutung jener Grundlage durchaus neben-
sächliche Bestimmung drehen, und dafs Kleist ein soldier Konflikt zur
Ausgestaltung gereizt hätte, ist mir sehr unwahrscheinlich. Wie die
Sache jetzt liegt, wendet sich Penthesilea nach jener Seite, die dem
Dichter sympathisch ist: wie sie 2298 ihre Befreiung verflucht und
deutlich genug zu erkennen giebt, dafs sie auch als Gefangene dem
Geliebten zu folgen schliefslich zufrieden gewesen wäre, da steht sie
auf dem Standpunkt, wie Kleists andere liebende Frauen. Und ich
finde auch das folgende nicht so tadelnswert Penthesüeas Schuld,
wenn man das böse Wort einmal gebrauchen will, liegt nicht darin,
dafs sie vom Gesetz der Frauen abgewichen ist, sondern darin, dafs
sie ihm jemals gehorcht hat, oder wenn man will, darin, dafs sie
noch in der siebenzehnten Scene sich nicht genug von ihm los-
gerissen hat um dem Achilles einfach zu folgen. An diese Schuld
knüpft die Herausforderung des Achilles an, diese Schuld, die ja
auch die Übung im Waffenhandwerk bedingte, ermöglicht die Ka-
48 Hubert Roettekeü.
tastrophe, für sie büfst Penthesilea noch nachdem sie, eben zu spät,
sich innerlich von den verhängnisvollen Anschauungen gelöst hat
Da scheint mir doch ein guter und erschütternder Zusammenhang
vorhanden zu sein. Welch eine Tragik liegt darin, dafs Penthe^ea,
.die eben noch dem Achilles nicht folgen wollte, also an den Sitten
des Frauenstaates festhielt, nun durch eine Herausforderung, die jene
Sitten ganz berücksichtigt, von ihnen aus betrachtet gar nichts auf-
falliges enthält, aufs tiefste getroffen und zum Untergange fort-
gerissen wird!
Niejahr hat auch die Auftritte vor der achten Scene berück-
sichtigt und nachzuweisen gesucht, dafs Scene 2 — 4 erst später ein-
gefugt seien. Seine Gründe haben mich nicht überzeugt, da die Sache
indessen von keiner Wichtigkeit ist, verzichte ich darauf, hier noch-
mals ins Einzelne zu gehen.
Besser gelungen als der dritte Abschnitt von Niejahrs Arbeit
scheinen mir die beiden ersten; doch kann ich auch hier nicht allem
zustimmen und wenigstens auf zwei Punkte will ich noch kurz ein-
gehen. Daraus, dafs Kleist vier Hundenamen aus der Aktäonsage
nahm, schliefst Niejahr, er habe überhaupt die Meute daher genommen;
ebensogut ist es aber möglich, dafs er von vorne herein das Ama-
zonenheer mit Hunden ausstattete, wie er ihm ja sonst allen mög-
lichen orientalischen Kriegspomp beigab, im Phöbus sogar Rhino-
ceros und Schakaln. Beteiligte er nun die Hunde an der Katastrophe,
so konnte ihm von hier aus die Aktäonsage einfallen und er konnte
einige Namen daher nehmen, da ihm die selbsterfundenen nicht reichten.
Über eine dritte Möglichkeit vergl. die letzte Anmerkung. — Ebenso
unsicher ist die Sache bei dem Einflufs des Botenberichtes über
Pentheus Tod aus den „Bakchen^. Niejahr giebt zu, das Motiv sei
vielleicht einer schon in Kleist schlummernden Idee blitzartig entgegen-
gekommen, er meint aber doch, Kleist hätte nur durch Zufall darauf
stoisen können und es habe ihm dann die ganze Katastrophe geliefert:
in dem Stoffe der Penthesilea sei, selbst den ganzen übrigen Verlauf
der Handlung vorausgesetzt, dieser Akt eines grausigen Wutanfalls
noch keineswegs gegeben. Dem gegenüber glaube ich nun aller-
dings durch meinen Aufsatz im vorigen Bande dieser Zeitschrift nach-
gewiesen zu haben, dafs wir nach der Herausforderung des Achilles
durchaus irgend eine extreme Tat der Rache zu erwarten haben, eine
Tat ungefähr äquivalent der Bärenepisode in der Herrmannsschlacht;
Nochmals Penthesüea. 49
der Unterschied zwischen beiden erklärt sich zur Genüge aus dem
heftigen Charakter der Penthesilea, sowie daraus, dafs sie vermöge
ihrer kriegerischen Erziehung und Übung und vermöge der ganzen
Veranlassung und Gelegenheit selbst eingreifen kann*). Als der
Dichter die Herausforderung des Achilles feststellte, wird ihm gleich-
zeitig auch deren notwendige Folge, eine eigenhändige Rache in
extremer Form, vorgeschwebt haben. Dafs Fenthesilea den Achilles
nun gerade beifst**), das lag ja allerdings nicht in der Natur der
Sache, aber gerade in diesem Punkt war ja auch die Pentheusscene
nicht vorbildlich. Hat Kleist ohne ihren Einflufs die übrige Hand-
lung festgestellt, dann hat die Scene ihm nichts weiter gegeben als
einige nebensächliche Einzelheiten und etwa die Färbung, den Ton
des ganzen Berichts.
Eine andere Frage wäre es, ob vielleicht die Scene dem Dichter
in sehr frühem Stadium seiner Arbeit vor die Augen kam und ihm
einen gewaltigen Eindruck machte, dann mit hineingeriet in das ganze
Wogen von Vorstellungen und Stimmungen, aus dem sich schliefslich
das poetische Kunstwerk heraus kristallisiert, hier leise hinlockte
*) Die Ähnlichkeit der Penthesilea mit der Thusnelda ist auch Niejahr nicht ent-
g^angen, a. a. O. VI S. 429. Aber er nimmt an, auch bei Thusnelda habe Kleist eine
so krasse Ausführung der Rache ursprünglich nicht beabsichtigt. «Offenbar**, sagt
Niejahr und beruft sich dabei auf die dritte Scene des dritten Aktes. Ich habe in dieser
Scene nichts gefunden, was für Ntejahrs Ansicht geltend gemacht werden könnte.
**) Wie Kleist auf das Motiv des beifsens gekommen ist, läfst sich mit Sicherheit
nicht feststellen. Psychologischer Zusammenhang des Motivs mit der Vorstellung der
Meute ist wahrscheinlich, aber welches ist das frühere? Dafs der Mensch im heftigsten
Zorne seine natürlichen Waffen anwendet, Fäuste, Zähne, Nägel, ist psychologisch leicht
begreiflich und konnte für Kleist bestimmend sein: Fäuste und Nägel waren aus ästhe-
tischen Gründen nicht wohl verwendbar und so wären die Zähne übriggeblieben.
Möglich, dafs dann von der Vorstellung der beifsenden Penthesilea aus dem Dichter der
Gedanke an eine Meute und weiter an die Aktäonsage kam. Es kann aber auch um-
gekehrt gewesen sein. Wenn Kleist die Hunde ursprünglich dem Heere folgen liefs und
sie dann auch an der Katastrophe beteiligte, so sah er in seiner Fantasie Penthesilea
mit zornigen Mienen inmitten der zähnefletschenden Hunde auf den Achilles losstürzen.
Leicht konnte da von dem physiognomischen Eindruck der Hundegesichter sich etwas
übertragen auf das Gesicht der Penthesilea, sodafs nun auch diese dem Dichter erschien
mit gehobener Oberlippe, zum Bisse fertig. Und da konnte ihm eben einfsiUen, sie auch
wirklich beifsen zu lassen. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten wüfste ich keine
Entscheidung zu treffen, und ich will übrigens auch nicht einmal behaupten, dafs es die
einzigen Möglichkeiten sind.
Ztachr. f. Tgl. Litt-G«acb. N, F. Vül. 4
60 Hubert Roetteken.
nach einer ähnlichen Katastrophe und so einen gewissen Einflufs auf
die Gestaltung des ganzen Stoffes ausübte. Das wäre möglich; aber
selbst wenn wir sicher wüfsten, dafs für Kleist in den ersten Stadien
seiner Arbeit die Scene eindrucksvoll gewesen wäre, so hätten wir
ja doch kein Mittel auch nur mit dem geringsten Anspruch auf Wahr-
scheinlichkeit abzuschätzen, wie grofs der Einflufs dieser Einzelheit
war. Nur dafs er sehr bedeutend schwerlich gewesen ist, möchte ich
auf alle Fälle annehmen.
Würzburg.
-•••-
Die ossianischen Heldenlieder.
Von
Ludwig: Chr. Stern.
I.
ES sind nun 130 Jahre, seit der Name „Ossian" zu uns herüberdrang.
Alles Verdienst, die Welt mit den Dichtungen des Sohnes Fingais
bekannt gemacht zu haben, gehört James Macpherson, einem jungen
Theologen aus den schottischen Hochlanden, der 1760 in Edinburg
unter dem Schutze des berühmten Kunstrichters Hugh Blair zwei Lieder,
dann aber 15 und in zweiter Auflage 16 „Fragmente", wie das all-
gemeine Urteil lautete, kostbare Perlen lyrisch-epischer Poesie, aus
dem „Galischen" oder „Ersischen" ins Englische übersetzt, herausgab.
Mehr davon, sei es aus Handschriften oder aus dem Munde der cel-
tischen Bewohner des schottischen Gebirgs und der westlichen Inseln,
zu sammeln und aus der wenig bekannten Sprache zu übertragen^
schien vielen geboten. Und der ehrenvollen Bitte genügte der talent-
volle Jüngling vollauf, indem er schon 1762 mit einem regelrechten
Epos „Fingal" und 1763 mit einem ganz ähnlichen Werke „Temora"
überraschte — beide sowie eine Anzahl beigegebener kleiner Gedichte
eingestandenermafsen Werke Ossians, des Sohnes Fingais, eines Königs
von Morven im alten Schottland, der im 3. Jahrhundert blühte, und
aus der gälischen Sprache getreu übersetzt. Dem letztgenannten Buche
war selbst eine Probe des Urtextes, das 7. Buch von „Temora", bei-
gefugt — zur Befriedigung neugieriger Zweifler.
Es ist hinlänglich bekannt, welches Aufsehen die „Gedichte Ossians" in
ganz Europa erregten. Von dem Vorhandensein einer so alten, so edlen
und so gefühlvollen Poesie in jenem versteckten Winkel des Erdteils hatte
niemand eine Ahnung gehabt. Die Wehmut, the joy of grief, die durch
diese Gedichte geht, stimmte so recht zu der empfindsamen Geistes-
4*
52 Ludwig Chr. Stern.
Strömung, die um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die Oberhand
gewann. Die Eigentümlichkeit der poetischen Prosa in ihrer knappen,
der englischen Sprache so gemäfsen, bilderreichen Redeweise be-
zauberte viele. Weithin erfafste die Harfe des celtischen Homer die
Geister und hielt sie lange in „süfsem Glück*' gefangen.
«
„Aber warum so traurig, Fingais Sohn?
warum wölkt sich deine Seele ein?
Die Führer andrer Zeiten sind geschieden;
sie gingen hinweg mit ihrem Ruhm.
Die Söhne künftger Jahre werden scheiden;
ein ander Geschlecht kommt auf.
Das Volk ist gleich den Wogen des Meeres,
dem Laube des waldigen Morvens gleich;
Das schwindet im rauschenden Windeshauch
und andre Blätter erheben ihr grünes Haupt.
War deine Schönheit dauernd, o Ryno?
bestand des streitgebomen Oscars Kraft?
Fingal selbst ging hinweg,
und die Halle der Väter vergafs auch seinen Tritt.
Und solltest du rückbleiben, alter Barde,
wenn die Helden sanken hin? —
Aber es bleibt mein Ruhm!
Er wächst wie die Eich* auf Morven:
sie hebt ihr breites Haupt dem Sturm
und jauchzt im Laufe des Winds"*),
Es fehlte aber nicht an Kritikern, die eine unbedingte Anerkennung
der ossianischen Poesie verweigerten. Die Gedichte gefallen sich all-
zusehr in düsterer Schwermut; ein grauer, trauriger Himmel ist über
eine zwar gewaltige, aber ode Landschaft ausgebreitet. Es ist all-
zuviel Einförmigkeit in den Ansichten der Natur, die der „Nebeldichter "
entrollt, so dafs man sie nicht übel mit den wechselnden Bildern in
einem Kaleidoskop oder mit künstlichen Mosaikmustern verglichen hat.
Während die Gedichte „Ossians" das Unmögliche und das Gering-
fugige, an der sich die Einbildungskraft der Volkspoesie behagt, zu
beseitigen suchen, fuhren sie eine Empfindsamkeit und eine Grofs-
artigkeit ein, die der Sage der Heldenzeit noch weniger zukommt.
Die Erfindung ist durchweg arm, die Ausführung vage. Die Dich-
tungen haben etwas jugendlich Unreifes, der Mangel an Abwechselung
und an bestimmten Einzelheiten verrät die Unwissenheit des Ver-
fassers. Kühn wie sie sind, halten die Bilder in der Sprache mitunter
*) Vergl. Herders Werke i6, 327; Übersetzung aus „Berrathon".
Die ossianischen Heldenlieder. I. 68
eine Prüfung keineswegs aus; zahlreich sind die Seltsamkeiten des
Wortgebrauchs; der Ausdruck gerät von stets Erhabenen oft ins
Lächerliche*). Dazu wimmelt es von Anklängen an Homer, Milton,
die hebräischen Propheten und andere Dichter, worauf naiv genug
Macpherson selbst aufmerksam machte, was aber nachdrücklicher und
vollständiger die scharfen Streitschriften des belesenen Malcolm Laing
(1762 — 18 19) dargetan haben. Das ganze Puerile der ossianischen
Poesie hatte schon 1770 Voltaire gekennzeichnet, indem er spottete,
Virgil zu dichten sei schwer, Ossian leicht**).
Aber noch in andrer Hinsicht wurden die ossianischen Gedichte
beanstandet. Sie sind nämlich auf die verkehrte Theorie gegründet,
nach der die celtischen Bergschotten Abkömmlinge der alten Caledonier
wären, die die Römer unter Caracalla 208 n. Chr. bekämpft haben
sollen. Diese irrige Ansicht hatte 1 739 David Malcolm verfochten und
damit dem Heimatsgefuhl seiner Landsleute nicht wenig geschmeichelt.
Er ist „der hochberühmte Autor Mac-Comb", auf den sich AI. Macdonald
in seinem schönen Gedichte auf die gälische Sprache beruft. Nach
Macpherson war Fingal König eines alten Fabelreiches Morven in
der Grafschaft Argyle in Schottland, das in sonstigen Überlieferungen,
namentlich in denen Irlands, des Mutterlandes der schottischen Galen
und des Hauptsitzes der celtischen Rasse bis auf den heutigen Tag,
gänzlich unbekannt ist. Von dem Volke der Gelten, das einst aus
der indogermanischen Urheimat nach dem fernen Westen zog und
von allen am weitesten vordrang, haben, aufser den Galliern im alten
Frankreich, zwei Stämme die Jahrhunderte überdauert — die Kymrier
in Wales, Cornwallis und der Bretagne, zu denen auch wohl das
untergegangene Volk der Picten gehörte, (nach einer Eigentümlichkeit
ihres Dialekts von Professor Rhys die P-Celten genannt), und die
Goidelen (Galen) oder Scoten (die C-Celten), die Irland und die west-
lichen Inseln einnahmen. Schon Beda überliefert in seiner Kirchen-
geschichte, dafs ein irischer Stamm in Ulster, die Dalreudini oder
Däil-Riada, um 500 n. Chr. nach Argyle nördlich von Firth of Clyde
ausgewandert ist und so die gälische oder scotische Nation nach
Caledonien verpflanzt hat. Sie haben dem Lande nicht nur den Namen
*) Es beiist 2. B. ^thou dweller of battle** oder „dweller of my thoughts" (Temora
P- '43)» dann auch „a white-bosomed dweller betwecn my anns** (p. 120). 1785 wurde
der Stil „Ossians** im Edinburgh Magazine grausam parodiert.
••) Oeuvres compl^tes, edition Garnier frkrea 17, 236, Auch W. Shaw, Inquiry
'7^') P* 5^> verspottet das Mechanische in der ossianischen DichtungsweisQ.
64 Ludwig Chr. Stern.
(Scotenland), sondern auch 60 Könige, von Fergus dem Sohne Eres
bis zu Alexander III. 1286, gegeben. Aber in Irland gelangte die
Bildung der Scoten zur eigentlichen Entfaltung und diese hat seit
alter Zeit nach den Ländern gälischer Zunge hingewirkt, d. h. nach
der Insel Man und nach West-Schotdand (Alba) mit den Hebriden
(Innse Gall, „die Inseln der Fremden*', nämlich der Norweger). Die
gälische Sprache der Bergschotten und der Inselbewohner (heute ge-
wöhnlich „Gälisch" schlechthin genannt) ist, ebenso wie das Manx,
nur eine Mundart der irischen und hiefs daher englisch erse*). Obwohl
sich diese Dialekte in der Neuzeit weiter getrennt haben, so ist ihre
Litteratur in der frühern doch nur eine, und was an Sagen der alten
Zeit erhalten ist, hat meist in dem Mutterlande seinen Ursprung ge-
habt. Fingal ist in dieser gemeinsamen Sage ein wohlbekannter Held,
aber er heifst Finn oder Fionn und ist Befehlshaber des Krieger-
stammes der Fiannen oder Fenier unter dem Oberkönige Irlands
Cormac in der Mitte des 3. Jahrhunderts. Oschin, Oscar, Goll gehören
nach der irischen Sage freilich zu diesen Kriegern; aber Cuchulinn,
dem Finn bei Macpherson Hülfe leistet, lebte um Christi Geburt zur
Zeit des Königs Conchobar von Ulster. Derdri, die Frau des
letztern, wird bei „Ossian", der sie Darthula nennt, eine Zeitgenossin
Fingais und von dem eifersüchtigen Cairbre, d. i. Cormacs Nachfolger,
getötet — und so ist der Geschichtsverdrehung kein Ende**). Ebenso
schlecht ist es mit der Geographie in den Gedichten „Ossians"
bestellt: Macpherson giebt nur klingende Namen ohne alle Bedeutung,
wie er denn überhaupt den Schauplatz der Handlung fast immer nach
Schottland verlegt. Dergleichen kann in neuem Dichtungen, die den
Zusammenhang mit der Überlieferung verloren haben, vorkommen,
aber nicht in so alten Denkmälern, wie sie die „Gedichte Ossians**
angeblich waren.
Solchen Einwürfen zum Trotz wollte Macpherson die „Gedichte
Ossians" in gälischer Sprache gesammelt haben (ob und wie weit aus
Handschriften wurde nie klar); er wollte sie übersetzt, ja wörtlich
übersetzt haben und bemerkte immer wieder, wie erstaunlich ausdrucks-
voll sein Original an dieser oder jener Stelle sei (z. B. Temora p. 92 =
*) So schon bei Will. Dunbar um 1500: erische 3, 41, ersehe i, 53 und erschry 2, 69
(= Irishry). Da auch die irische Sprache ^gälisch** heifst, so gebrauche ich nalbanogällsch'*
gelegentlich für den schottischen Dialekt.
**) Vergl. D^Arbois de Jubainville, La litterature ancienne de Tlrlande et TOssian
de Macpherson, In der Blblioth^ue de PEcole des Chartes XLI. x88o, p. 475—87.
Die ossianischen Heldenlieder. I. 55
galisch 5, 307 ff.) oder dafs irgend eine Stelle in Musik gesetzt sei, die
wenige ohne Tränen anhören könnten (z. B. Cath-Loda i, 108 ff.). In
seinen einleitenden und erläuternden Beigaben hob er das hohe Alter
und die Vortrefflichkeit seiner „Gedichte Ossians" gegen die läppischen
Volkslieder, die in Irland unter seinem Namen gingen, fortwährend
hervor und verhöhnte den gelehrten Roderick OTlaherty und
Dr. Geoffirey Keating, den Livius der Irländer, — er, der in der
Bibliothek zu Oxford nicht fähig war, auch nur eine Zeile eines wenige
Jahrhunderte alten gälischen Manuskripts zu verstehen. Unerhört war
diese Kühnheit, womit er allein das ganze Alt-Irland herausforderte.
Nun war nicht zu verwundern, dafs der bescheidene Zweifel, der
zuerst hier und dort gegen die Echtheit der „Gedichte Ossians" laut
geworden war, bald zur schroffen Verneinung und die gleichmütige
Zurückhaltung, die viele beobachtet hatten, in der Folge zur heftigen
Anklage wurde. David Hume forderte schon 1763 eine genaue
Untersuchung, Ein Irländer (vielleicht der Abbe Connery) legte 1 764
im Journal des S9avants alle Bedenken gegen die Echtheit dar. Der
gelehrte Charles O'Conor von Belanagare unterzog die Gedichte 1766
einer herben Kritik und Samuel Johnson, der Lexikograph, sprach
ihnen 1775 jede Authenticität ab: nach ihm habe Macpherson nur
Namen, Erzählungen und einzelne Stellen aus gälischen Liedern gehabt
und damit seine eigenen Poesien verquickt, um sie dann als die
Gedichte „Ossians" auszugeben. Der offen des Betrugs bezichtigte
Dichter, nach dem Zeugnisse eines Menschenkenners wie Hume, ein
seltsamer imd heteroklilischer Sterblicher, als welchen er keinen per-
versem und unliebenswürdigern Menschen kennen gelernt habe,
steigerte durch sein Benehmen die Erbitterung der Gegner und tat
nichts, um die Aufklärung zu gewähren, die man so dringend verlangte.
Es hatten sich seine Landsleute der Frage bemächtigt, in der sie
ihre eigene Ehre beteiUgt wähnten, und wetteiferten die Echtheit der
„Gedichte Ossians" (was doch vor andern ihrem Urheber zugekommen
wäre) zu erweisen*). Sie bezeugten, dafs Fingal und die Fiannen seit
*) Von den Verteidigern „Ossians** seien hier genannt: H. Blair 1763, M. Cesa-
rotti 1763, J. Wodrow 1771, J. G. SuUer 1771, Whitaker 1773, Th. Warton 1774,
H. Home Lord Kaimes 1775, W. Shaw 1778, D. Macnicol 1779, M. Dorat 1780, J. Smith
1780, J. Clark 1782, J. L. Buchanan 1793. 94, L. W. Flügge 1796, AI, Campbell
1797, C. H. Schundenius 1799, J. Macdonald 1802. 1806, J. Gurlitt 1803, Mrs. Grant-
Laggan 1803, Arch. Macdonald 1805, P. Graham 1807, Sir John Sinclair 1807, J. Grant
1814, £. Maclachlan 181 8« H. und J. Maccallum 1816, AI. Macdonald 1820, H. Campbell
66 Ludwig Chr. Stern.
Jahrhunderten in Schottland wohlbekannt seien und dafs heroische
Gedichte wie die macphersonschen unter ihnen seit unvordenklicher
Zeit vom Vater auf den Sohn überliefert fortlebten. Aber die pein-
lich beschworenen Aussagen kamen über Allgemeinheiten nicht hin-
aus; statt klare und, wie der Fall lag, philologische Beweise zu lie-
fern, erschöpfte man sich in nutzlosem Hin- und Herreden. Keiner ver-
mochte ein einzelnes Volkslied nachzuweisen, das sich mit einem der
von Macpherson „wörtlich übersetzten" wörtlich deckte. Nicht selten
wurden verlorene Handschriften angeführt, bald in Folio und bald in
Quarto, die man vor einer Reihe von Jahren in der Hand dieses oder jenes
gesehen habe und die (soweit man sich erinnere) die ossianischen Ge-
dichte enthalten hätten; wenn man aber solchen Spuren nachging, so
ergab sich, dafs diese unschätzbaren Manuskripte unlängst in den
Ofen gewandert oder zu Kleidermafsen verschnitten worden waren.
Mehr als einige allgemeine Beziehungen der „Gedichte Ossians" zu
den handschriftlich oder mündlich überlieferten Heldengedichten konnte
auch ein ziemlich unparteiischer, aber im Urteile schwacher Bericht
nicht feststellen, den Henry Mackenzie auf Grund ihres reichen Mate-
rials der Highland Society of Scotland in Edinburg in dem „Report
of the committee appointed to inquire into the nature and authenticity
of the poems of Ossian" 1805 erstattete, noch vermochte er die Geg-
ner zum Schweigen zu bringen**).
Heute begreift sichs schwer, wie man über eine Frage wie die
ossianische so endlos hin und herstreiten konnte. Es ist doch klar,
1822, J. Logan 1831, J. Reid 1832, P. Macgregor 1841, Giemen 1854, Oswald 1857,
Tb. Maclauchlan 1857, P. Macnaughton 186 1, D. Campbell 1862, J. F. Campbell 1862,
W. F. Skene 1862, E. Waag 1863, Th. Pattison 1866, Archib. Macneil 1868, A. Ebrard
1868. 70, Arch. Clerk 1870, P. H. Waddell 1875. 78, J. St. Blackie 1876, C. S. Jerram
1876, D. Mackinnon 1877, Shairp 1880, Ch. Stewart 1884, AI. Macbain 1884. Die
zahlreichen Übersetzer ^Ossians"^, die eo ipso von der Echtheit überzeugt zu sein scheinen,
habe ich hier nicht aufgeführt.
**) Der Zweifel an der Echtheit der „Gedichte Ossians** tritt schon im Journal des
S^avants 1762, nov. p. 724 flf. entgegen; es folgten der Kritiker von 1764 und F. Warner,
Ch. O'Conor 1766. 75, S. Johnson 1775, Sir James Foulis, W. Shaw 1781 — 84, M. Laing
1800. 1805, Th OTlanagan 1808, Fink 181 1, Ch O'Conor d. J. 1814, Edw. Davies
1825, W. H. Drummond 1831, Edw. O'Reilly 1831, Talvj (Therese Ad. L. v. Jacob)
1840, O. Connellan 1860, E O'Curry i86a, die „Times" 1869, W. M. Hennessy 1871,
J. F. Campbell 1872, St. H. O'Grady 1880, AI. Macbain 1886. 87, H. Maclean 1887,
Prof Mackinnon 1890, Alfr. Nutt 1890, H. D'Arbois de Jubainville 1892. Hier wie oben
sind nur die wichtigsten Namen gegeben, denn eine vollständige Ossianische Bibliographie
würde ein Buch bilden.
Die osslanischen Heldenlieder. I. 67
dafs sie nicht aus allgemeinen litterarischen Erwägungen entschieden
werden konnte, dafs vielmehr die Kenntnis der irisch-gälischen Sprache
und Poesie die notwendige Grundlage eines kompetenten Urteils sein
mufste. Hier kam es mehr auf die Form als auf die Sache an. Es
war doch unumgänglich nötig die gälischen Originale der macpher-
sonschen Gedichte zu prüfen. Aus dem gälischen 7. Buche von
„Temora", das dem Englischen wörtlich entspricht^ üefs sich der apo-
kryphe Charakter der Dichtungen, so sehr auch die Sprache dieses
Stückes die Sprachkundigen stutzig machen mufste, nicht überzeugend
nachweisen. Denn gedruckte albano-gälische Litteratur gab es in der
Mitte des vorigen Jahrhunderts wenig*), und wer hätte denn, ohne
Kenntnis wenigstens der allgemeinen Geschichte der gälischen Sprache,
die selbst aus dem Werke des hochverdienten Ed. Lluyd nicht zu
gewinnen war, ohne Grammatik, ohne Wörterbuch der gälischen
Sprache Schottlands, behaupten können, dafs eine Sprachform wie
diese in früheren Jahrhunderten nicht möglich gewesen wäre?**) Frei-
lich mufsten das Geheimnis und die Unklarheit, womit Macpherson
die gälischen „Originale" von Anfang an umgab, das Vertrauen selbst
der Unbefangensten und Wohlwollendsten erschüttern***). Er hat
diese viel begehrten Sprachdenkmäler (die er einmal 6 Wochen lang
bei einem Buchhändler wollte ausgestellt haben, allerdings ohne dafs
sie jemand der Besichtigung gewürdigt hätte) dem Publikum unter
Vorwänden verweigert. So ganz einwandsfrei müssen sie nicht ge-
*) Die von der Synode von Argyle übersetzten ersten 50 Psalmen, Glasgow 1659,
sind das erste schottisch-gälische Buch, doch hat es* noch vielfach irische Färbung.
**) AI. Stewart, der Grammatiker des Albanogälischen (1801), hält tatsächlich seinen
modernen Dialect für ursprünglicher als das uralte Irische. S. Elements of Gaelic
Grammar ^ p. 88.
***) Schon über die „Fragmente** heilst es im Gentleman*s Magazine XXX. 1760,
p. 409: ^As the original Erse is intended to be printed, wtth some fiiture edition of
them, it will irrefragably prove their authenticity, which might otherwise be reasonably
doubted*. Und im Januar 1761 schreibt Macpherson an Maclagan, dais ihm dn gälisches
Ef>os über Fingal in die Hände gefallen sei: „I have some thoughts of Publishing the
original, if it will not clog the work too much**. (Report, app. p. 155). Vor der ersten
Ausgabe des Fingal 1763 bemerkt er: „There is a design on foot to print the Originals,
as soon as the translator shall have time to transcribe them for the press; and if this
publication shall not take place, copies will then be deposited in one of the public
libraries, to prevent so ancient a monument of genius from being lost**. 1763 brachte
als gälisches Specimen das 7. Buch „Temoras"' zugleich mit der Erklärung, dais weitere
Proben unnötig seien, da die Originale lange genug ausgelegen hätten. Ursprünglich
hatte Jdacpherson beabsichtigt das Gälische mit griechischen Buchstaben zu drucken.
58 Ludwig Chr. Stern.
wesen sein, denn noch 1784 erklärte er einer Gesellschaft, die sich
patriotischerweise zur Deckung der Druckkosten erbot, er beab-
sichtige sie noch erst zu ordnen. Darüber starb er 1796. Mit den
Mitteln zur Drucklegung hinterliefs er ein Manuskript, über dessen Be-
schaffenheit nichts bekannt ist, da es die ernannten Herausgeber von
Th. Rofs durchkorrigieren und umschreiben liefsen und nicht etwa in
einer öffentlichen Bibliothek niederlegten, sondern alsbald vernichteten.
Rob. Macfarlane machte eine lateinische Übersetzung dazu. Über
diesen Arbeiten vergingen Jahre. Endlich 1807 kamen die gälischen
Gedichte „Ossians^ an die Öffentlichkeit, 44 Jahre nach den englischen.
Diese Prachtausgabe der Originale enthält etwa zwei Drittel des
Englischen; die 11 Gedichte von den 22 englischen, für die auch jetzt
noch kein Urtext geboten wurde, dürfte man wohl unbedenklich als
hors concours für die Echtheit betrachten. Aber auch die gälischen
„Originale" mit den mancherlei Widersprüchen, die sie in sich tragen,
werden keineswegs zu einer Ehrenrettung des englischen „Über-
setzers** ; sie bestätigen lediglich das Urteil seiner berufensten Kritiker.
Der Zweifel wird zur Gewifsheit.
Für die Geschichte der Entstehung der gälischen „Originale" sind
zunächst einige Bruchstücke daraus, die man früher in die Öffentlich-
keit geworfen hatte, von grofser Wichtigkeit.
Das erste gälische Bruchstück, von dem wir wissen, ist ein Stück
aus Fingal (3, 302— -403. 497 — 514 der späteren Ausgabe), das man
dem Rev. Mac Iver von Lochaish (f 1790) verdankt. Es wurde
erst 1814 von J. Grant, Origfin and descent of the Gael p. 423 ff., ver-
öffentlicht und ist von dem „Original" von 1807 gänzlich verschieden.
Die Episode ist ein unvollkommener Entwurf der entsprechenden
Stelle in Macphersons Fingal von 1762, mufs aber schon aus den
Jahren 1760 oder 1761 stammen, da der in diesem Fragmente vor-
kommende Garbh von Macpherson 1762 Swaran genannt wurde;
neben Fionn kommt auch die Form Fionnghael d. i. Fingal vor. Mac
Iver war vermutlich ein Freimd und Helfer Macphersons.
Das zweite gälische Originalfragment ging um 1 762 von Lauchlan
Macpherson von Strathmashie (f 1767) aus, einem mittelmäfsigen gäli-
schen Dichter. Diese Probe, den Kampf Golls und Swarans im
Fingal 4, 259 — 76 enthaltend, teilte ein unbesonnener Freund 1799
an die Highland Society mit (Report p. 32). Nicht eine Zeile dieses
Textes, dessen Echtheit schon Edw. O'Reilly (Essay p. 245) ange-
zweifelt hat (Suaran und die Haide von Gormal sind macphersonisch),
Die ossianischen Heldenlieder. I. 59
Stimmt mit dem gälischen „Ossian" von 1807 überein. Es ist wahr-
scheinlich, dafs Macpherson-Strathmashie der Verfasser auch des andern
jfälischen Stückes ist, das nach seiner Mitteilung an A. Gallie im
Report p. 143 veröflFentlicht worden ist: A mhacain cheann | Nan cursan
srann | Ard-leumnach righ nan sleagh | u. s. w.*). Dies Gedicht ist
von Macpherson im Fingal (p. 56 ed. 1762 == 4, 299 — 310) als „Schlacht-
gesang Ullins" ziemlich wörtlich übersetzt: „Son of the chief of generous
steeds! high-bounding king of spearsi" u. s. w. Worte wie ,,Lamh
threun 's gach cas" scheinen in „Strong arm in every perilous toil" in
der Tat wörtlich übertragen zu sein und sind schwerlich umgekehrt
aus dem Englischen genommen. Eine abweichende Rezension giebt,
angeblich nach mündlicher Überlieferung, Don. Campbell, Treatise on
the language, poetry, and music of the Highland clans, Edinburgh 1862,
p. 122; sie ist aber nicht authentischer als die im gälischen „Ossian^
von 1807 gebotene Übersetzung aus dem Englischen, die zwar gleich-
falls einige Reminiscenzen an das wirkliche Original im Report hat,
aber sonst durchweg davon verschieden ist. Alte Poesie ist dieses
Lied keinesfalls; denn das Versmafs und selbst einzelne Ausdrücke
sind der Totenklage auf Rob Roy Macgregor entlehnt: „Sar mharcach
nach fann | Air cursain nan srann, | Srein mhaiseach na'n ceann b'e
t'aidhear e". (Stewart, Collection p. 301 ; Menzies, Comhchruinneacha
p. 256). Einer unverbürgten Überlieferung zufolge wäre Macpherson-
Strathmashie auch der Übersetzer des gälischen 7. Buches von Temora
von 1763. Bemerkt sei nur, dafs er sich einst mit seinem Zeugnisse
zu Gunsten der Echtheit des macphersonischen „Ossian" vorgedrängt
und ihn „erstaunlich wörtlich" übersetzt gefunden hatte.
Der dritte Versuch den gälischen „Ossian" unter das Volk zu
bringen war der „Traum Malvinas", eine nicht sonderliche Übersetzung
des Eingangs von „Croma" nach der editio princeps, 1778 von W. Shaw,
der damals an die Echtheit glaubte, in seiner Analysis of the Galic
language p. 157 veröffentlicht, später mehrfach verbessert und ver-
ändert, namentlich auch im „Ossian" von 1807^ wo sogar Toscar, ein
Unname, den man früher vermieden hatte, statt Oscar eintritt.
Den vierten Versuch bilden Fingais Worte an Oscar (Fingal 3,
426 fr.), die 1786 Gillies veröffentlichte (Cb. 157 a, auch im Report,
app. p. 225). Von diesem Texte weicht der von 1807 Wort für
*) Vgl. Armstrong, Dictionary p. LXVII; Logan in Mackenzies BeauUes of gaelic
poetry p. LH; L. Macbean, Songs of the Gael No. 16.
60 Ludwig Chr. Stern.
Wort ab, ebenso ein „Rat an Oscar" (Cb. i6i), den vermutlich
D. Kennedy gedichtet hat. Es ist aber auch eine ältere Über-
setzung des Stückes nebst der darauf folgenden Geschichte der Fainea-
soUis in Macphersons hinterlassenen Papieren aufgefunden und, was
die spätem Herausgeber des gälischen „Ossian" (E. Maclachlan,
Th. Maclauchlan und Arch. Clerk) gar nicht bemerkt haben, in der
Society's edition von 1807 im Nachtrage 3, 486 abgedruckt worden.
Gillies' und Kennedys Texte, beide Texte in der Ausgabe — alle
sind verschieden.
Der fünfte Versuch ist der kleine Hymnus an die Sonne in
„Carricthura**, mit unvollkommener Assonierung zuerst 1801 bei Irvine
nachweisbar, 1804 zuerst von AI. und D. Stewart in ihrer Collection
of the Highland bards p. 592 gedruckt und in den verschiedenen
Texten, auch dem von 1807, nicht sehr verschieden. Aber dafs die
Sonne, die im Gälischen wie im Deutschen weiblichen Geschlechts
ist, hier als „son of the sky" angeredet wird, bildet allein schon ein
ernstes Hindernis diesen gälischen Text für das Ursprüngliche zu
halten. Hymnen an die Sonne, den Mond und die Sterne giebt es
in der gälischen Litteratur aufserhalb Macphersons überhaupt nicht.
Der sechste Versuch ist der längere Hymnus an die Sonne im
„Carthon" 334 ff., der auch nicht vor den Stewarts 1804 gedruckt ist
und im „Ossian" von 1807 fehlt, obwohl doch Macpherson selbst
schon 1771 in seinem Werke Introduction to the history of Great
Britain p. 160 zu einer törichten Etymologie des Wortes grüzH
(Sonne) das , Original" des Hymnus citiert hat — ganz abweichend
von der spätem Übersetzung von 1804.
Der letzte Versuch das Original „Ossians" zu verbreiten vor der
endlichen Veröffentlichung der Ausgabe von 1807 ist das Gedicht
„Conlath und Cuthona", das Irvine um 1801 hatte und das die Stewarts
1804 etwas verbessert abdruckten. Es ist ein Text in sehr unbeholfener
Sprache, dem revidierten englischen von 1773 entsprechend; in der
gälischen Ausgabe von 1807 ist Rossens bessernde Hand zu erkennen.
Jemand, der im Celtic Magazine 2, 336 flF. dies Poem in gereimte
Verse bringt, meint das Gälische sei älter als das Englische oder
Macpherson der eingefleischteste Betrüger und der unverschämteste
und geflissentlichste Lügenfabrikant, der je eine Feder in die Hand
genommen habe.
Auch von dem gröfsten Teile der macphersonschen „Darthula"
haben die Stewarts 1804 eine abgerundete Übersetzung in Versen ver-
Die ossianischen Heldenlieder. I. 61
offentlicht; aber dies Gedicht gehört nicht zu denen, wovon 1807 ^^
Originale brachte*). Hier hat sich ein Sprachkundiger das Vergnügen
gemacht das Stück ins Gälische zu übertragen, wie noch 1876 Donald
Macpherson eine schöne gälische Übersetzung der „Lieder von Selma"
herausgab (im Gaidheal 5, 81 flf.), die in den Originalen von 1807
gleichfalls fehlen.
Diese Ausgabe, im Namen der Highland Society in gutem Glauben
von Sir John Sinclair geleitet, ist erst die eigentliche Vollendung des
1760 Begonnenen und so beharrlich fortgesetzten Unternehmens. Nun
weifs ja jeder Sachkundige, dafs es derartige Epen und sentimentalen
Gedichte in alt-, mittel- und neugälischer Sprache sonst nicht giebt.
Dagegen finden sich kleinere Lieder über die ossianischen Sagen, teils
in Handschriften und teils im Munde des Volkes, nicht nur in Irland,
sondern auch in Schottland und auf den westlichen Inseln. Macpherson
kannte sie sehr wohl und hat einzelne Stellen wörtlich daraus über-
setzt. Es ist nicht hübsch von ihm, dafs er diese seine Quellen ver-
leugnet, und höchst unbedacht, dafs er dieselben Balladen bei den
L-landem als trivial und von seinem „Ossian^ gänzlich verschieden
verspottet. Indem gälischen „Ossian" von 1807 stimmt nun, wie zuerst
John Francis Campbell 1872 gezeigt hat (wenn ich eine einzige Zeile
ausnehme), nicht ein Vers zu dem ursprünglichen Balladentexte, selbst
wenn er wörtlich aus dem Gälischen ins Englische übersetzt war.
Wenn in der Ballade über Oscars Tod Fingal über der Leiche seines
Enkelsohnes ausruft:
Gu la Bkratk chan eirick Osgar!
nNimmermehr wird Oscar aufstehnl** —
SO hat ja auch Macpherson in seinem „Temora":
♦) In dem Gedichte der Brüder Stewart, collection p. 562 ff., das AI. Carmichael
in den Transactions Gael. vSoc. Jnverness 15, 206—15 wieder abgedruckt und Übersetzt
hat, ist die Ballade von Derdri mit Macphersons Darthula in eins zusammengearbeitet,
mehr als die Hälfte ist unmittelbar aus diesem Übertragen. Es entspricht nämlich
Strophe 3 c — 6 Macphersons ^Nathos is on the deep" bis „who is it but Darthula, the
first of Erin*s maids?" (p. 156 f. ed. 1762); femer ist Str. 11-20 gleich Macphersons
„But the winds deceive thee, o Darthula I** bis «The winds have deceived tby sails**
(p* '^Sl ^^\ endlich entspricht Str. 29—65, die lange Geschichte von einem fabelhaften
Vater Darthulas namens Colla, Macphersons ^These are not the rocks of Nathos" bis
zu den Worten „His soul may come to Usnoth, and sadden his soul in the hall**
(p. 158—164). Dafs das Gälische nicht etwa das Original ist, folgt schon daraus, dafs
es vor dem Buche der Stewarts gänzlich unbekannt war und sonst nirgends nachweis-
bar ist.
6S Ludwig Chr. Stern.
But nevermore shalJ Oscar risel
Aber im gälischen „Ossian^ von 1807 heifst es an der Steile (Temora
i| 297)-
Chan eirich Oscar dann a ekaoidhl —
was den Sinn, aber nicht die Ausdrucksweise der Ballade wiedergiebt.
Ebenso in zahllosen andern Fällen und es wäre wahrlich Zeitvergeudung,
wollte man sie alle zusammensuchen. So unähnlich ist dieser gäUsche
„Ossian*' der Volkspoesie, dafs alle Anstrengungen, die man zu seiner
Verbreitung unter den Bergschotten gemacht hat (1818 wurde eine
starke Auflage gratis verteilt, 1857 erschien eine wohlfeile Taschen-
ausgabe), nicht den geringsten Erfolg gehabt haben. Daher ist er in
den Hochlanden und auf den Inseln gänzlich unbekannt, während der
gemeine Mann in jenen Gegenden an dem geliebten „alten Zeug' der
ossianischen Balladen mit rührender Zähigkeit festhält. Die nähere
Prüfung des Textes des gälischen „Ossian" läfst nicht den geringsten
Zweifel bestehen, dafs er aus dem englischen Originale übersetzt ist.
Das Gälische von 1807^ war wie die frühem Versuche lediglich dazu
bestimmt die Welt über die Tatsache zu täuschen, dafs die „Gedichte
Ossians" Macphersons eigenes Werk sind. Mit dieser Fälschung der
„Originale" war der ungeheuere Betrug vollendet; eine Beschönigung
der gemeinen Tat, eine Entschuldigung der verlogenen Geschwätzigkeit,
womit sie verübt wurde, sind nun nicht mehr zulässig.
Man kennt natürlich nicht den genauen Hergang bei der An-
fertigung des gälischen „Ossian"; aber man hat das Zeugnis des
Kapitäns AI. Morison, dafs Macpherson Gehülfen bei dieser Arbeit
hatte, und einige davon haben wir bereits kennen gelernt. Er selbst
besafs zwar einige Übung in der Umgangssprache, aber sonst eine
sehr mangelhafte Kenntnis des Gälischen. Über die Mafsen langweilig
mufs für ihn die Aufgabe gewesen, seine voluminösen Jugendgedichte
in eine Sprache zu übersetzen, die er nicht beherrschte ; er gebrauchte
Jahrzehnte dazu. An dem gälischen „Ossian" setzt nichts so sehr in
Verwunderung als die WörtUchkeit der Übersetzung und ihre Form-
losigkeit. Aber ihr Charakter ist ungleich, wie sie denn auch zu ver-
schiedenen Zeiten entstanden ist — meist wohl sehr lange nach der
Veröffentlichung der englischen Originale. So hat denn Macpherson
ganz vergessen, dafs er die Stelle Temora 8, 383 — 85 bereits 1763
aus dem „Originale" in einer Note (Temora p. 150) mitgeteilt hatte,
aber gänzlich verschieden von dem Texte von 1807. In demselben
Temora (p. 12 ed. princ.) macht er eine sprachliche Anmerkung zu
Die osdaniscken Heldenlieder. I. 63
eiaem Worte (hundreds), das sich schliefslich im Gälischen von 1807
(Temora i, 240) g^r nicht vorfindet. Ebenso verhält es sich mit dem
„restless wanderet" (Carthon p. 130), der nach einer Note im Original
durch scuia ausgedrückt sein soll, was aber im Gälischen von 1807
(Carthon iii) gar nicht vorkommt Es ist denn auch nachweislich
meist nach der revidierten englischen Ausgabe von 1773 übersetzt
worden, z. B. Carricthura, Conlath, Temora (vergl. i, 46. 155. 173.
198. 461) u. s. w. Auch die Sprache ist in den Teirten nicht gleich-
mafsig; namentlich unterscheidet sich das 7. Buch von „Temora^, das
schon 1763 entstanden ist, obschon kein Meisterstück, merklich von
allen übrigen Teilen der Übersetzung.
Die Veröffentlichung eines so umfangreichen Textes in einer
Sprache, deren Litteratur noch wenig bekannt war, mufs an sich ge-
wiis als ein fordersames Unternehmen gelten ; aber leider ist er keine
Quelle guter Sprache, und es ist bedauerlich, dafs die albanogfälischen
Lexikographen einen grofsen Teil ihrer Belege diesem fehlerhaften
und ungälischen „Ossian^ entnommen haben. The „Ossianic or pure
Gaelic*' nennt ein Gramatiker diesen von aller gälischen Sprache seltsam
abweichenden Jargon, den ein Bergschotte nicht versteht; in Deutsch*
land wurde ihm als „Mittelgälisch" sogar eine gelehrte Beschreibung
zu Teil und noch 1876 brach Prof Blackie eine Lanze dafür. Und
doch bildet die Sprache dieses gälischen „Ossian" allein einen aus-
reichenden Grund ihn für eine Fälschung zu erklären. Der Text ist
unendlich arm an idiomatischen Wendungen, an denen die gälische
Sprache so reich ist, und strotzt von Anglizismen, die ein Bergschotte
nur begehen kann, wenn er seine Sprache halb vergessen hat. Die
Verschiedenheit der beiden Sprachen verträgt eine so wörtliche Über-
setzung nicht wie die hier zugemutete. Was soll man sich z. B. denken
unter garm astar nan speur „die blaue Reise der Himmel** (Carric-
thura i), für thy blue course in heaven? Nur zu oft ist das Englische
Wort für Wort übersetzt. Daher klagt denn der letzte Zurück-
übersetzer dieses gälischen „Ossian", Arch. Clark (der zweite war
Chr. W. Ahlwardt), in seiner armseligen Prachtausgabe unablässig
über die Dunkelheit des Ausdrucks. Donald Campbell, Treatise
p. 71 ff., hat fast einen ganzen Gesang durchkorrigiert um ihm ein
Ansehen zu geben und Hector Maclean ging mit der ossianischen
Verhunzung seiner Muttersprache scharf ins Gericht. Vor einigen
Jahren hat AI. Macbain, im Celtic Magazine 12, 249 ff., den Gegenstand
mit philologischem Verständnis erörtert.
64 Ludwig Chr. Stern.
Die alleryulgärstea und verderbtesten Formen der gälischen Um-
gangssprache finden sich in diesem ^Ossian"". Da liest man na bardan
(Temora i{ 456. 649) statt na bäird, measg nam ntna (Fingal i, 211)
statt nam ban, nan eacha srann (Temora 3, 120), cu als Genitivus Sing.
(6, 296), nicht nur chunna ntü (i, 96), sondern sogar chunnatn (Fingal
3, 428, Carricthura 69) und chualam (Carricthura 168, Croma 7) u.
4ergl. m. Der seltsame Mangel an den nötigsten Partikeln, wie dem
Artikel, den Pronomina u. a., macht den Stil überaus holperig. EHe
Präpositionen werden falsch gebraucht, wie wenn do gesagt wird,
wo es go (englisch td) heifsen mufs; das^^ des Adverbs fehlt häufiger
als dafs es sich findet. An lann o Luno „das Schwert von Luno"^
(Temora 6, 2) läfst voraussetzen, dafs Luno eine Örtlichkeit ist*); cur
cheud (Carthon^^ 76) ist englisch at first, aber nicht gälisch; atr uair
(Cathloda i, 161 etc.), das „manchmal"* heifsen soll, ist ebenso wie
air am (Temora 8, 20) falsch für air uairibh (Temora 3, 297) u. s. w.
Der Genitiv der Beschreibung, wie in Diarmaid an äigh „Dermid des
Kampfes^, Donnachadh nan öran „der Lieder-Duncan", Glascho nan
sraidean „das strafsenreiche Glasgow", Osgar nan geur lann „Oscar
von den scharfen Klingen", eine der Schönheiten des gälischen Stiles,
wird im „Ossian" so mifsbraucht, dafs er unerträglich und nicht selten
ganz unverständlich wird. So in ciochan nam beus (Golnadona 10)
oder broilleach nam beus (ib. 145) „die Brust der (guten) Sitten"
statt „der keusche Busen". Ohne Aufhören wird gegen alle Syntax
verstofsen. Inversionen sind so häufig, als ob die Sprache über die
Stellung der Wörter im Satze gar keine Regeln anerkennte; zwischen
Verb und Nominativ stellt sich ein Adverbiale oder sogar ein Accu-
sativ; der Genitiv wird von seinem Regens fortwährend durch Zwischen-
sätze getrennt! Das Adjectiv steht nach, wo es vor, und steht vor
seinem Substantive, wo es ihm folgen sollte, z. B. fuil shär (Golnadona
149) für sär-fhuil (ib. 6), ög Oscar (Temora i, 327), borb Starn (Fingal
3, 117), gorm-shüileach ög (Temora 8, 75), nam bän-bhroilleach öigh
(7, 322), nan gorm-chruaidh laoch (Carricthura 34), nan cruadalach
ghniomh (Carthon 43) — und dergleichen hundert und tausendmal.
Auch aus einer lexikalischen Betrachtung gewinnen wir keinen
bessern Begriff von diesem ossianischen Gälisch. Wie seltsam, dafs
*) Für das richtige mac an Luinn MLonssohn** d. i. Fiogals Schwert (Temora 6, 254.
Carricthura 398) steht einmal lann Luinne (8, 306) und einmal findet sich der Unsinn:
e *tarruing garbh Luno nan lann (3, 8).
Die ossianischen Heldenlieder. I. 65
das Wörtchen agus „und", das ein normaler Text neben ts fast Zeile
für Zeile bietet, hier (aufser in Temora 7, 164. 233. 283. 400) nur
einige wenige Male vorkommt (Carricthura 4 im Hymnus, Carthon 60,
Fingal 5, 44) und dafs ata fiir das abgekürzte ta, tha überhaupt nur
Temora 7, 28 erscheint! Substantiva werden als Adjectiva oder als
Verba und Adjectiva als Substantiva gebraucht. So manche Wörter
kehren bis zum Uberdrufs wieder, z. B, die Substantiva feum, cruach,
cam, cedj cmaidh^ die Adjectiva dar, faon, die Verba tadh, taont,
aom — und wie das letztgenannte in Bedeutungen, die sie durchaus
nicht haben imd die nur aus dem Englischen erklärlich werden. Wer
erriete, was der Gallimatias mhosgail osna nam beus o 'ürla (Croma 151)
bedeuten sollte, wenn nicht das englische Original „his sigh arose"
es vermuten liefse und ein sonst vorkommendes osna o urlar mo chleibh
das Mifsverständnis weiter aufklärte? Seltsam ist auch das Wort trian
„em Drittel", das so viel wie „etwas, einiges" bedeuten soll*), und
der Lieblingsausdruck gu ml in der Bedeutung „gänzlich" **), o aots
(Carricthura 32) statt des sonst so gern gebrauchten o shean (of old)***)
u. a« m. Wie reich an englischen Lehnwörtern der gälische „Ossian"
ist, hat Hennessy in der Academy 1871, p. 390b hervorgehoben; sie
beweisen allein schon, wie modern die Sprache ist.
Die gälische Übersetzung ist, wie bemerkt, nicht gleichmäfsig und
nicht einheitlich in sich selbst. Um nur ein Beispiel anzuführen, wird
jenes macphersonsche „the joy of grief", so oft es vorkommt (Fingal
ii 568. 5, 440. Temora 7, 404. Carricthura 35. Croma 50), fast jedes-
mal anders übersetzt. Ohne Form und ohne Sorgfalt ist das Ganze.
Sollten diese als Verse gezählten Zeilen des gälischen „Ossian", die
hier und dort Endreime aufweisen, eine poetische Form haben, so
wäre sie höchst kläglich neben der Vollendung und dem Wohl-
laut, die den gälischen Gedichten, selbst noch des 18. Jahrhunderts,
sonst eigen sind. Keine feste Silbenzahl, keine Allitteration, keine
*) Conlath 91, Comala 230, Calthon 119. 373, Temora 1, 354. 7x8. 3, 399. 3, 74,
101. 350. 460. 48a 4, 137. 438. 5, 158. 389. 334. 348. 6, 115. 138. 155. 310. 8, 53. 76.
384. 413. 489. 494 — aber nicht im Temora 7I
*•) Cathloda 3, 83, Carricthura 136, Calthon 306, Fingal 3, 154; Temora 8, 303.
303. 414. 533. Anders gebraucht AI. Macdonald den Ausdruck: Ailleagan glan ür.
A dhallas ruisg gu*n cül (ed. 1874, p. 9).
•^ Fingal 1, 517. 577. 6, 59. 3, 314. Temora 3, 376. 437. 5, 79. Cathloda 1, 353.
363. 3, 51. 190. Der anglisierende Ausdruck kommt jedoch auch sonst vor, 2. B. bei
W. Rofe: 's labhair an t-ursgeul o shean.
Ztadi. t TgL Litt-GMch. N. P. THI. 5
€6 Ludwig: Chr. Stern.
Assonanz, keine Reime !•) Der allgemeine Charakter aber dieser mehr als
loooo „Verse" ist eherntönende, sinnleere Phrase. Einige Stücke,
wie Fingal und Oinamorul, haben anscheinend gründlichere Durchsicht
erfahren. Überhaupt kommen wohl hier und dort schöne Stellen und
unter hunderten von schlechten Versen wohl auch tadellose vor —
aber apparent rari nantes in gurgite vasto.
Die sorglose Leichtfertigkeit, womit der gälische „Ossian" sklavisch
aus dem Englischen übersetzt ist, tritt endlich für jeden Laien noch
handgreiflicher in den Eigennamen zu Tage. Diese erscheinen durch-
weg in einer Form, die der englischen, nach der Aussprache ge-
modelten entspricht, die aber mit der richtigen gesehen Form in den
Balladen und wo sie sonst vorkommen nicht zusammentrifft. Gleich
der Name Fingal, d. i. Fionn gaidheal „Finn der Gäle*, unter dem
der Held seit alter Zeit bei den Niederschotten bekannt gewesen ist,
mit dem er aber bei den gälisch Redenden erklärlicherweise äufserst
selten bezeichnet wird, ist 1807 zu Ftonnghal und später sogar zu
Fionngheal geworden, während Macpherson 1763 (Temora p. 229)
noch richtiger Fionnghael geschrieben hatte**). Die ursprüngliche
Form Fionn {mittelirisch Finn) kommt im gälischen „Ossian" sehr
selten vor (Comala 134. 137, Fingal 3, 335). Goll, der stärkste Recke
unter den Fiannen, wird im Englischen zu Gaul und demnach im
„Ossian" von 1807 ^^ GalL Held Faolan, nach der Aussprache im
englischen „Ossian" Fillan geschrieben, wird im Gälischen zu FiUean;
nur Temora 7, 20 steht richtig Faolan. lollan wird zu UUin, Dearg
(Dargo) zu Deargo (Galthon 1 74), dann Uisneach (the sons of Usnoth)
zu dann Usnoth (Temora i, 567); Hidallan im Englischen, was zu
*) Der hochverdiente H. Ebel hat sich täuschen lassen, indem er in der zweiten
Ausgabe der Grammatica celtica von Caspar Zeu& p. 956 f. den Versbau des gälischen
nOssian* ernstlich erörtert.
**) Die Form Fionn ghäel (auch Stewart, collection p. 555) ist insofern inkorrekt,
als die Apposition (gael oder gaidheal) keine Aspiration haben darf. Die richtige Er-
klärung des Namens Fingal, der zuerst im „Bruce" von John Barbour vorkommt, geben
beiläufig Drummond, Essay p. 142, und Ch. Stewart, Killin collection of Gaelic Songs
p. 83; Hill, Ancient Erse poems p. 6, schrieb Fion na Ga£l. Schon 1689 war in Dublin
eine Travestie erschienen The Irish Hudibras or the Fingalian Prince, in der Ossian
als Barde der dänischen Riesen in Irland auftritt. (Ulster Journal VI. 1858, p. 315).
Dieses Fingalian kommt von Fionn-ghall „weifser Fremdling" d. i. Norweger, das ge-
legentlich mit dem Namen des Fiannenfuhrers verwechselt worden ist; z. B. a shiiochd
riogh Fionnaghaidhill, R. Macdonald, collection* p. 1 14, statt Fionna-ghall; vei^l. Mackenzie,
Beauties of gaelic poetry p. 38. 77. 214.
Die ossianischen Heldenlieder. I. 67
Hideaüan im Gälischen wird, soll wohl Sithallan (Cb. 58 a) sein, was
Fingal i, 439 Sithaluinn geschrieben wird — der zahlreichen will-
kürlich, namentlich mit Rücksicht auf den Wohllaut gebildeten Personen-
namen (wie z. B. Malvina) hier gar nicht zu gedenken.
Ist es denn möglich, so fragen wir, dafs in diesem gälischen
„Ossian" nicht ein einziges Mal der allbekannte Name der Truppen
Finns^Jiann oder fetnn, „Fianiien" vorkommt?*) Möglich war das, weil
Macpherson nicht genug von der gälischen Sprache und Poesie ge-
kannt, in seinen Gedichten überhaupt den Boden der alten Sage ver-
lassen und seine Helden in das Reich der eignen Einbildung versetzt
hat. Seine meisten Ortsnamen sind fantastisch und kommen sonst
nirgends vor, die wirklichen erscheinen sonst unter anderer Form,
Es wurde schon bemerkt, dafs „Morven" (d. i. Mör-bheann „grofser
Berg") ein Phantasiegebilde ist; die Apologisten Macphersons pflegen
es für Moraim (Cb. i86b) zu nehmen, d. i. Morvern am Sund von
Mull in Argyle, als ob das so selbstverständlich wäre. Den Königs-
palast ^Selma" oder Seallamath (d. h. Belvedere) hat Macpherson
selbst erfunden; nach den Gelehrten wäre es aber die Stätte des
alten Berigonium bei Ardmucknish, nördlich von Loch Etive. Der
alte irische Königssitz Temair oder Teamhair (eig. Wall oder Bal-
kon) in der Provinz Meath, den O'Flaherty, Ogygia p. 186, Temoria
nennt und den eine alte Überlieferung im Dinnshenchas als Teae
mumm deutet**), hat wunderliche Entstellung erfahren. Nach der
gewöhnlichen Aussprache des casus obliquus Teanthrach, Teanihra
wird der Name Taura, Tewra oder Tura, in Irland aber Tara ge-
schrieben. Macpherson gebraucht Temora und Tura neben einander
(z. B. Temora p. 165 = i, 100. 104), ohne natürlich zu ahnen, dafs
das eine und das andere Formen desselben Wortes sind. Der
gälische „Ossian" von 1807 erkühnt sich TYghmara zu schreiben,
offenbar in der Meinung, dafs das so viel 'wie „grofses Haus" be-
deuten könne, während Macpherson 1 763 den Namen ebenso unmög-
lich als Ti*-mor-ri' „Haus des grofsen Königs" verdolmetscht hatte
(Temora p. 179)***). Dafe er aus Olnecmacht, dem alten Namen der
*) Fiann, Genitiv fdnne, heifst „die Truppe", der Plural fianna „die Truppen*
oder „die Soldaten* ; gewöhnlich werden Finns Truppen darunter verstanden und in
neuerer Zeit be2eichnen sich gern die Gelten Irlands so (the Fenians).
**) Vergl. Wh. Stokes in Folk-lore 3, 470. Revue celtique 15, 277.
♦**) John Smith, Seandäna p. 43, hat diesen kostbaren Vers:
An Seallama, *n Taura no *n Tigh-m6r-ri*
chan^eil slige, no oran, no clarsach. ^^
68 Ludwig Chr. Stern.
Provinz Connacht, Alnecma (Temora 2, 287) und aus Sorcha, d. L
das Lichdand, das Land der Seligen, ein Land „Sora^ in Skandinavien
macht, ist nicht zu verwundern. Doch genug von dem gälischen
„Ossian"! Wäre er von je fleifsiger gelesen, so würde er gewifs
nicht so oft gepriesen worden sein.
Die Absicht des Betrugs bestand bei Macpherson von Anfang an,
seit der Zeit wo ihn einflufsreiche Gönner Vertrauens würdigten. Die
zwei Proben im Gentleman*s Magazine XXX. 287 f.*) und die Frag-
ments von 1760, in denen „Oscian" schon die Hauptrolle spielt**),
sind womöglich noch ruchloser als die Poems. Nur zweien von den
„Fragmenten" (No. 6 und 14) liegen Balladen zu Grunde, d. h. wenige
Zeilen aus solchen, alles Übrige ist sentimentale Phantasie. Wie sagt
er doch in der Vorrede der „Fragmente**? „The translation is ex-
tremely literal. Even the arrangement of the words in the original
has been imitated." Wie in der Vorrede zu seiner Introduction 1771?
„An enemy to fiction himself, he imposes none upon the world**.
Und in diesem selben Werke hat er p. 168 gälische Verse gefälscht
und p. 1 80 flf. eine nirgends existierende Erzählung über das celtische
Paradies „übersetzt". Er ist überall derselbe; sein ganzes litterarisches
Leben füllt der Betrug aus. Macpherson ward zum Lügner, weil ihm
der Schein, als habe er etwas Uraltes, Bewundrungfswürdiges, allen
Entgangenes aufgefunden und zu Ehren gebracht, mehr galt als die
Wahrheit, dafs er weiter nichts hatte als die wohlbekannten Volks-
lieder, deren er sich schämte und die den Freunden seiner Muse
freilich als „armselige Schatten" erschienen. Zwar hat sich Th. de
la Villemarque in seinem Barzaz-Breiz, dessen Unechtheit heute aufser
Zweifel steht, mit den Volksliedern der Bretonen gleichfalls unver-
antwortliche Freiheiten genommen, aber der Betrug Macphersons ist
in seinen Einzelheiten häfslicher. Er hat wohl ein weniges von der
Art der gälischen Poesie in sich aufgenommen, aber es so mit un-
gesunder Sentimentalität und biblischer Salbung vermengt, dafs es
kaum noch bemerkbar wird. So bleibt denn nur die Anregung übrig,
«In Selma [der macphersonschen Erfindung], in Taura [oder Tura, eigentlich Teamair]
oder in Tigh-mor-righ [oder Temoria, eigentlich Teamair] ist nicht Muschelschale oder
Lied oder Harfe".
*) Das eine Lied „Autumn is dark on the mountains*" ist später in Carricthura,
das andere «The wind and raln are over** in die Songs of Selma aufgenommen.
**) Von den „Fragmenten** sind 4 später in Carricthura, 5 in Pingal, 2 in die
Songs of Selma aufgenommen, 5 endlich sonst unbenutzt geblieben.
Die ossianischen Heldenlieder. I. 69
die er zum Studium der gälischen Sprache gegeben hat; dies Ver-
dienst kann ihm nicht geschmälert werden.
Man kann heute, sagte J. Hardiman schon 1831, auf diese unge-
heuerliche Fälschung, die allerdings einem durch litterarischen Betrug
berüchtigten Zeitalter angehört, nicht zurückblicken, ohne sich über
die vollendete Kühnheit des Fälschers, die Betörung seiner gelehrten
Verteidiger und die nationale Leichtgläubigkeit und Unwissenheit
eines ganzen Volkes zu erstaunen. In Schottland hat es freilich
länger gedauert, ehe die Wahrheit obsiegte. Dafs sie in Deutschland
schon überall durchgedrungen wäre, wird niemand behaupten wollen,
der sich auf diesem Gebiete der Litteraturgeschichte umgesehen hat.
Wir vertrauen deshalb, dafs die obige Darlegung nicht überflüssig
erscheinen wird*).
Wir können vom Pseudoossian nicht Abschied nehmen ohne
einiger Geistesverwandten zu gedenken, die das Beispiel des heillosen
Mannes zu ähnlicher Tat verleitet hat.
Der erste dieser Ossianiden ist ein gewisser John Clark, der
1778 ein Bändchen Gedichte in englischer Prosa als die Werke
caledonischer Barden herausgab — fade Nachahmungen, die Mac-
pherson im weinerlich Sentimentalen noch überbieten und nur den
Urteilslosen täuschen können. Von den • zwei ersten Teilen des
„Mordubh", des ersten dieser epischen Gedichte, lieferte Gillies 1786
die gälische Übersetzung, von der der Anfang in D. Macleods Orain,
181 1, p. 257 flf. wieder abgedruckt ist; vollständig erschienen die
*) Beispielshalber Qberrascht es mich, dais Sidney Lees Dictionary of National
Biography, vol. XXXV. 1893 s. v. Macpherson, schlecht unterrichteten Gewährsmännern
folgend, schreibt: „It is therefore clear that the general Charge of forgery, in the form
in which it was made by Johnson, was unjustifiable**. Johnsons Meinung ist durchaus
die richtige. Doch wir haben viele Gelehrte in ihrem Urteil schwankend gesehen, so
unsem eignen Jacob Grlnmi (Kleinere Schriften 2, 79). Auch Celtlsten haben sich nicht
immer mit der hier nötigen Entschiedenheit ausgesprochen; so H. Ebel im Litterarischen
Centralblatt 1870 p. 835; H. Gaidoz in der Revue celtique i, 483; E. Windisch, Über
Keltische Sprachen in Ersch und Grubers Encyklopädie (1884) p. 160. Manchen Ge-
lehrten ist's wie W. Shaw im vorigen Jahrhundert ergangen , der aus einem Gläubigen
zu einem Ungläubigen wurde. So namentlich auch Thom. Maclauchlan (Gaelic Soc.
lovemess 7, 304. 9, 127); man vergleiche femer J. F. Campbell, Tales of the West-
Highlands vol. IV. 1863 mit seinem Leabhar na feinne 1873; weiter Gael. Soc. Invemess
1^ 95 (• (18^4) ™i^ ^^y 301 (1886) und Celtic Magazine 13, 145 flf. (1887); endlich An
Gaidheal 6, 6$ (1877) mit Chambers Encyclopaedia (1891).
70 Ludwig Chr. Stern.
763 reimlosen Verse erst 1821*). Während diese Übersetzung dem
englischen Original wörtlich entspricht, sind die wirklichen Über-
setzungen Clarks aus dem Gälischen, wie AI. Macdonalds „Sommer^
und „der Wunsch des alten Barden", ein zuerst von R. Macdonald
1778 veröflFentllchtes und vielleicht von ihm, der die Spur des Vaters
verloren hatte, verfafstes Gedicht**), ungeniefsbare Paraphrasen.
Der zweite der Ossianiden ist, wie man mit Bedauern sagen mufs,
ein durch seine Bemühungen um die Befestigung der albanogälischen
Schriftsprache nicht unverdienter Mann, John Smith von Campelton
(f 1807), der 1780 in englischem und 1787 in gälischem Gewände
14 ossianische Gedichte in teils gereimten, teils reimlosen Versen,
„for the most part taken down from oral recitation", veröffentlichte.
Auch diese Seandana, allerdings in verständlicher Sprache geschrieben,
übermacphersonieren Macpherson, und die Dreistigkeit, womit hier
die Fälschung bei einem Geistlichen auftritt, mufs sehr befremden.
Es hat auch Smith nicht gefallen, obwohl es ihm noch ein Jahr vor
seinem Tode von P. Graham nahegelegt wurde, oflFen einzugestehen,
dafs er die „alten Lieder", die ihm übrigens weder Ruhm noch Geld
einbrachten, selbst verfafst habe.
Der dritte Fälscher ist der Baron Edmund de Harold, ein in
kurpfalzischen Diensten stehender Irländer, der 1775 Macphersons
Gedichte verdeutschte und 1787 eine Sammlung von 17 Fälschungen
auf eigene Faust veröffentlichte. Er war sich der Verwerflichkeit
•) Nicht der geringste Zweifel kann über diese Fälschung bestehen. Die Stelle
Mordubh 316 lautet im Gälischen der Ausgabe ganz anders als sie nach einer An-
merkung in Clarks ^ Übersetzung"* p. 54 lauten sollte. Mordubh 102: *s cuim am bi
Mordal air dheireadh? ist macphersonisch: „and why should Ogar be the last?** (Fingal
4, 61). Mordubh iii: Corbhui bu bheag diu hat sein Vorbild in Macphersons „Conan
of small renown** (Fingal 6, 399), und dieses beruht wieder auf Ausdrücken wie fa
claon ghniomh, Ch. Brookes Relics ' p. 404, oder bu chaoil gniomh, Cb. t^ a, in den
Balladen. De6greine bedeutet auch im Mordubh 467 nSonnenstrahl** wie bei Mac-
pherson; auch „das enge Haus** kommt 471 vor.
"**) Obwohl die Albanogälen das Gedicht rühmen, so verleugnet es doch den
macphersonschen Geist nicht, namentlich in diesen Ausdrücken: ged sheinneadh täisg
Str. 13, Gormheall 15, a chaoidh nach pill o*n leabaidh chaoil %\ (vergl. damit leabaidh
de 'n gcre bhidh cumhang, Hardiman i, 94), fosglaibhs* thalla Oisein *s Dhaoil 36
(vergl. Temora 2, 550), teach nam bärd air Ardbheinn und mo shlige 37. Sligc
creachainn oder creachag „die Muschelschale**, aus der die ossianischen Helden trinken,
war früher allerdings das Trinkgeföfs in den schottischen Hochlanden (vergl. Smith,
Seandana p. 27; AI. Macdonald, Poems p. 51) und noch bei den allerneuesten Dichtem
(wie Mary Macpherson und John Macfadyan) spielt sie eine Rolle.
Die ossianischen Heldenlieder. II. 71
seiner Tat wohl bewufst, wie aus einem Briefe vom 5. Dezember 1775
an Herder in dessen Nachlafs zu ersehen ist, in dem er die Unechtheit
der macphersonschen Gedichte höchst klar entwickelt „No one ad-
mires him more than I do", schreibt er, „but I admire truth more
than him". Das hatte ihn aber nicht gehindert, unter dem 20. August
desselben Jahres ein eigenes macphersonsches Gedicht an Herder zu
senden mit der Versicherung: „Fve translated the song from the
Celtic into English*)".
Der vierte Fälscher nach „Ossian" ist der Rev. Maccallum von
Arisaig, der 1821 nicht nur den vollständigen „Mordubh**, sondern
auch ein Gedicht „Goliath'' von einem alten Dichter „Fonar" gälisch
herausgab; beide sind in J. Mackenzies Beauties of gaelic poetry
1840 wieder abgedruckt. „Goliath" ist ein macphersonsches Mach-
werk von 504 reimlosen Versen und von dem Herausgeber selbst
verfertigt, nach dem Geständnis in der zweiten Auflage von 1842,
wo er sich herbeiliefs „die Täuschung zu beseitigen".
So sehr hatte das macphersonsche Übel in der Heimat des
Dichters um sich gegriffen, dafs sich einige nicht enthielten auch die
gesunde Volkspoesie mit sentimentalen Beigaben zu versetzen. Es
ist daher geboten, die gälischen Balladentexte nach 1 763 mit kritischem
Auge zu mustern und von ungehörigen Zusätzen zu säubern. Selbst
in Irland mufste man Schlimmes erfahren. Hier wurde alles dage-
wesene durch Theophilus OTlanagan übertroffen, der in der Einöde
des Berges Callan in der Grafschaft Cläre einen Stein mit verwitterter
Ogam-Inschrift auffand. Diese erwies sich als die Grabschrift Conans,
eines Helden der in den ossianischen Volksliedern eine ergötzliche
Rolle spielt, und der glückliche Finder brachte einige angeblich einer
alten Handschrift entnommene, in Wahrheit aber von ihm selbst oder
von J. Lloyd oder von M. Comyn verfafste Verse vor, die Conans
Todesart und sein Grab bezeichnen und auch der Inschrift gedenken.
Die gelehrte Abhandlung OPlanagans steht in den Akten der König-
lichen Irischen Akademie vom Jahre 1787**).
IL
Während sich die Dichtungen Macphersons eines Beifalls ohne
Gleichen zu erfreuen hatten, wurden die Volkslieder, auf die er sie
*) Rud. Haym, Herder nach seinem Leben und seinen Werken II, 606 — 609.
**) Eine Ehrenrettung O'Planagans hat Sam. Ferguson versucht; s. Proceedings of
the Royal Irish Academy II. 1 (1879), pp. 160. 265. 315.
79 Ludwig Chr. Stern.
gegründet, kaum beachtet, obschon sie doch in der Frage, ob die
„Gedichte Ossians" echt oder unecht sind, ein hauptsächliches Beweis-
mittel bilden. Diese ossianischen Balladen sind ohne Ausnahme neu-
irische oder neugälische Poesieen, aber sie sind aus den uralten
Sagen Irlands hervorgegangen. Um zu einem Verständnis ihrer Ent-
wickelung zu gelangen, mufs man auf die ältere, die mittelirische
Litteratur zurückgehen, die in ihrem Ungeheuern Umfange einen
seltenen Reichtum an Sagen und Dichtungen besitzt.
Die Sagenwelt, in der die gälischen Stämme leben, umfafst drei
Cyklen: die Geschichte der noch als Erdgeister oder Elfen fort-
dauernden Tuatha De Danann oder den mythologischen Cyklus (dieser
kommt in der gegenwärtigen Untersuchung nicht in Betracht); die
Heldentaten Cuchulinns unter dem Könige Conchobar von Ulster, der
in der Zeit um Christi Geburt gelebt haben soll; und endlich die
Taten und Abenteuer des Soldatenkönigs Finn Mac Cumaill und seiner
Truppen unter dem Oberkönige Cormac im dritten Jahrhundert.
Uralt vsind diese Sagen, doch darf nicht unerwähnt bleiben, dafs man
nicht nur in Frage gestellt hat, ob Cuchidinn fortissimus heros Scotorum
wirklich gelebt hat, sondern dafs Prof. Zimmer auch die Sagengestalt
Finns für die irische Ausbildung eines norwegischen Häupdings, des
Caittil Find (d. h. des weifsen, hvidi, Cathal) im 9. Jahrhundert,
von dem die irischen Annalen erzählen, erklärt hat. Auch die Namen
Ossin und Oscar sind nach demselben Gelehrten aus dem Altnordischen
zu deuten: Asvin und Asgeirr*).
Die Sagen von Cuchulinn fallen in die Zeit um Christi Geburt,
als, nach der Aufstellung der irischen Geschichtskundigen (seanachaidh),
Eochaidh Feidlech Oberkönig Irlands war, derselbe der das Reich in
gesonderte Provinzen geteilt haben soll. Unter den Königen seiner
Zeit ragt Conchobar Mac Nessa hervor, der über Ulster herrschte und
in seinem Palaste Craeb ruad „dem Roten Zweige" in seiner Residenz
Emain eine glänzende Schar von Rittern (curaidh) um sich versammelt
*) Vergl. Zeitschrift für deutsches Altertum 35, 141. 254; Götting^. Gel. Anzeigten 1891,
p. 186; Academy 1891. I, 284; Revue celtique 12, 295 ff.; auch Skene^ Celtic Scot-
land I, 312. Dofs Goll Mac Moma und Finn Mac Cumaill Anführer fremder Söldner in
Irland und dals die Fiannen Wikinger gewesen seien, suchte 1858 H. F. Höre zu er-
weisen. S. Ulster Journal of Archaeology 6, 294 ff. Nicht unmöglich, dafs «fiann**,
dessen nomen unitatis „f^innidh"* lautet, ein Lehnwort ist (nach Zimmer wäre es altnordisch
„fiandr** Feind) und dafs die damit bezeichneten Krieger einem fremden Stamme ange-
hörten. Adhuc sub judice lis est.
Die ossianischen Heldenlieder. EI. 73
hatte, unter ihnen Conall Cernach, Laegaire Buadach, Fergus Mac
Roig und vor allem Cuchulaind oder Cuchullin den Sohn Subaltams. -
Unter den vielen mittelirischen Erzählungen über diese Helden, die in
den alten Codices, wie dem Lebor na huidre „dem Buche der dunkel-
grauen Kuh(haut)" (ii. Jahrh.), dem Buche von Leinster (12. Jahrb.),
dem Buche von Ballymote (1390), dem Gelben Buche von Lecan
(1391), dem Buche des Mac Firbis von Lecan (1416), dem Buche von
Lismore (15. Jahrh.) u. a. spätem aufbewahrt werden, ist die be-
rühmteste die in den beiden ältesten Handschriften enthaltene Tain
bö Chuailgne „der Raub der Rinder von Cooley"*). In dieser irischen
„Uias"^ in Prosa mit eingelegten Gedichten wird ein Krieg der Helden
von Ulster gegen die Männer von Connacht geschildert, über die
Ailill mit Medb, einer Tochter des Oberkönigs Eochaidh, herrschte;
Cuchulinn ist der Achilleus dieser Dichtung. Die Iren haben die
Täin bis in neuere Zeiten gelesen, aber in einem wesentlich ver-
änderten Texte: die alten Gedichte sind daraus entfernt, die veralteten
Wörter sind gröfstenteils durch üblichere ersetzt, die altertümlichen
Formen in die neuen umgewandelt. Und was endlich im Munde des
Volks aus dem alten Werke geworden ist, zeigt die Torachd na taine
„die Verfolgung des Viehraubs", die AI. Carmichael auf der Insel
Uist aufgenommen und 1873 veröflFentlicht hat**). Aus den sehr
zahlreichen Erzählungen dieses Sagenkreises hat sich noch manches
andere erhalten, namentlich sind mehrere Balladen darauf gegründet.
Während die Erzählungen von den Rittern des „Roten Zweiges"
dem Norden Irlands, d. h. Ulster und Connacht, angehören, ist die
Sage von Finn und denFiannen ursprünglich im Süden, in Leinster
und Munster, zu Hause. Diese ist in den alten Handschriften spär-
licher bedacht, aber sie ist bis in die Neuzeit fortgebildet. Im 3. Jahr-
hundert unserer Zeitrechnung, heifst es, bestand unter dem Ober-
könige Cormac Langbart (Ulf hada), dem Sohne Arts und Enkel Conus
von den hundert Schlachten (cetcathach), und unter seinem Nachfolger
Cairbre Lifechair die Kriegerkaste der Fiannen, eine Miliz oder
*) Analysiert sind beide Rezensionen von H. Zimmer in der Zeitschrift für ver-
g:leichende Sprachforschim^ 28, 442 — 75.
•*) Gael. Soc. Invemess 2, 25 ff., übersetzt im Celtic Magfazlne 13, 321 ff. 351 ff.;
eine andre Version von der Insel Eigg steht im Celt Mag. 13, 514 — 16. Auch Mac-
pherson erwähnt die Erzählung Tora na-tana „a dispute about possession*, angeblich
eine Expedition CuchuUins gegen die Firbolg oder Belgae of Britain behandelnd (Fingal
p. 144 ed. 1763).
74 Ludwig Chr. Stern.
Stehende Truppe, in Irland. Sie war in 3 oder gewöhnlicher in
7 Regimenter (catha) mit Befehlshabern über 9, 50 und icx) Mann
eingeteilt; nach andern hatte sie 150 Offiziere mit je 3 mal 9 Mann.
Strengen Anforderungen mufste genügen, wer in die Truppe auf-
genommen zu werden wünschte. Indem er sich von seinen Ange-
hörigen gewissermafsen lossagte, kam das Recht ihn zu sühnen (eric)
nur seinen Kameraden zu. Er mufste Dichtergabe besitzen und mit
den zwölf Büchern der Poesie nach den Regeln der Oberbarden
(oUam) vertraut sein. Nur mit einem armlangen Haselstocke und
einem Schilde versehen in einer Erdhöhle stehend, mufste er sich von
neun Kriegern aus einer Entfernung von neun Ackerreihen (imaire)
gleichzeitig mit Speeren bewerfen lassen, und wenn er diese Prüfung
nicht unverletzt bestand, ward er zurückgewiesen. Mit aufgestecktem
Haupthaar mufste er, nur mit eines Baumes Breite Vorsprung vor
einer Kriegerschar, die ihn verfolgte, durch einen Wald laufen; er
durfte sich weder einholen oder sein Haar fallen lassen, noch durfte
die Waflfe in seiner Hand zittern oder ein dürrer Ast unter seinen
Füfsen brechen. Auch mufste er einen Zweig überspringen, der ihm
bis an die Stirn reichte, und sich unter einem andern bücken, der
nicht höher als sein Knie war. Dazu mufste er ohne zu zittern einen
Speer mit steifem Arme halten und im Laufe mit dem Nagel einen
Dorn aus seinem Fufse ziehen können. Er wurde aufserdem zur
Tapferkeit gegen Feinde, zum ritterlichen Sinn gegen Frauen und zur
Mildtätigkeit gegen Arme verpflichtet. Endlich mufste er dem Ober-
könige huldigen und dem Oberbefehlshaber Treue geloben. In
Friedenszeiten hatten die Fiannen die öflfentliche Sicherheit zu schützen,
das Recht des Herrschers zu wahren und die Häfen gegen Fremde
zu bewachen. Sie empfingen keinen Sold; nur im Winter (von samh-
ain oder Allerheiligen, d. i. dem i. November) wurden sie in Quartiere
gelegt. Im Sommer aber (von beltine oder dem Osterfeuer, d. i.
dem I. Mai), wo sie sich durch Jagd und Fischfang erhielten, lebten
sie unter fi-eiem Himmel, schliefen auf einem dreifachen Lager von
Zweigen, Moos und Binsen imd bereiteten Abends ihre Mahlzeit, indem
sie das Fleisch am Feuer rösteten oder zwischen heifsen Steinen
schmorten. Die Spuren ihrer Feuer (fualachta na bhfiann) findet der
Bauer noch heutiges Tages in tiefen Erdschichten. So berichten die
irischen Geschichtsschreiber über die Fiannen*).
*) Vergl. Wh. Stokes, The book of Lismore p. XL; O'Grady, Silva gadelica
p. 92. 258; G. Keating, The history of Ireland traaslated by J. O'Mahony p. 345—50;
O^Curry, Manners and Customs of the andent Irish 2, 379 ff.
Die ossianischen Heldenlieder. TL, 75
Ni cbanamaois-ne an iUann go, Lug nicht sprachen die Plannen,
br^ag leö nior samhlaidh riamh; Noch war Trug bei ihnen Qblich;
le firinne is le neart ar l^h Stark von Händen und wahrhaftig,
do thigmis slan o gach gliadh. Kamen heil wir aus den Kämpfen*).
Der Generalissimus dieser ausgezeichneten Truppe, rigfheinnid
„Kriegerkönig" genannt**), war unter dem Oberkönige Cormac Finn
oder Find (neuirisch Fionn geschrieben). Er war der Sohn Cumalls
(Cumhall, Cuwal) des Sohnes Trenmors, der unter Conn von den
hundert Schlachten dieselbe Würde innegehabt hatte und in der
Schlacht von Cnucha durch GoU Mac Morna getötet wurde, und der
Mume Munchaem, einer Tochter des Druiden Taig (Tadg), von der
er seine Burg Alwin (Almu, Almhain, heute Allen) in der Grafschaft
Kildare in Leinster erbte***). Schon die älteste Überlieferung, in
Cormacs Glossar s. v. orcc treith, kennt Finn Mac Cumaill als den
grofsen Jäger, dessen Macht sich über ganz Irland erstreckte. Damit
hängt es auch zusammen, wenn er das Ehrenamt eines amhusgüla
am, eines Oberjägermeisters des Oberkönigs, versieht (Silva gad.
p. 90). Aber die Sage hat ihn als einen Kriegerkönig mit allen
Vollkommenheiten ausgestattet: er war nicht nur Feldherr des Heeres
und Haupt seines Stammes, sondern auch Weiser, Dichter und Prophet,
wie es in einem alten Poem heifst:
Ba rf, ba fÜd, ba fiU,
ba triath co m^t mör-ffaine,
ar fisid *s ar ndrdi 's ar fäid,
ba bind lind cach ni dordid.
Die vortrefflichsten Helden in seinem Heere waren Cailte der
Sohn Ronans, seiner Tante Eithne einer Tochter Tadgs Sohn, Dermid
der Sohn O'Duibhnes, Mac Lugach seiner Schwester Sohn, seine
Söhne Fergus, Oisin und dessen Sohn Oscar. Sie gehören mit Finn
dem Stamme Baisgne an. Mit diesem verbündet war der Stamm
*) Joum. Kilkenny Archaeol. Soc. I. 1849 — 51, p. 333; Transactions of the Ossianic
Society 4, 52. 84.
**) GewJssermalsen der siebente König in Irland (neben dem Oberkönige und den
Konigen der 5 Fünfteile), Silva gadelica p. 258.
^*) Nach einem Gedichte in dem Giefsener irischen Manaksripte Daniel DriscoUs
Bl. 52 b: „Fiarfraios Padraig Mhacha**, das auch im Duanaire Fhinn vorkommt, stanunte
Finn von dem Ulsterhäuptlinge Deaghaidh, der von den Clanna Rughraidhe vertrieben
war und sich in Sfld-Munster niedergelassen hatte; sein Enkel war der berühmte Curi
Mac Daire und dessen Bruder Baisgne, der Ahnherr Finns. Auf denselben Deaghaidh
flihrt auch ein anderer Stammbaum in einer Erzählung derselben Handschrift (Bl. 19 a)
zurück (vergl. Silva gad. p. a8o).
76 Ludwig Chr. Stern.
Moma unter seinem Haupte GoU, dem stärksten Helden unter den
Plannen, der ehemals die Fiannen von Connacht gefuhrt hatte; sein
Bruder war Garadh Schwarzknie (glundubh) und sein Stammesgenosse
Conan, der unter den Fiannen die Rolle des Thersites hat, wie vor
ihm Brichni imter Konig Conchobar. Nicht wenige Erzählungen
handeln von den Fiannen und ihren Abenteuern; aber die meisten
sind in neuirischer Sprache abgefafst*).
Die Macht der Fiannen und der Druck, den sie durch die Wahr-
nehmung ihrer Jagd- und andern Vorrechte ausübten, soll den Be-
wohnern Irlands so unerträglich geworden sein, dafs Cormacs Nach-
folger Cairbre sie des Landes verweisen wollte. Nach einer Erzäh-
lung wäre der allgemeine Unwille zum Ausbruche gekommen, als sie
gegen Cairbres Tochter das Herrenrecht geltend machen wollten,
(Oss. I, 134 flf.). Der Oberkönig zog gegen sie zu Felde und ver-
nichtete sie vollständig bei Gabor oder Gaura, 283 nach Chr. Geb.,
oder nach andern in zwei Schlachten, bei Gaura und bei Ollarba
(Silva gad. p. 118). Von den wenigen die übrig blieben, sollen
Oisin und Cailte alle andern überlebt haben, nach der Sage bis zur
Zeit des heiligen Patrick, des Apostels der Irländer, der im J. 431
ins Land kam. Es giebt einen mittelirischen Traktat, den Agallamh
na senorach „das Gespräch mit den Alten", der auf dieser Sage be-
ruht, indem jene beiden Greise den Heiligen auf seinen Wanderungen
durch Irland begleiten und ihn von der Heldenzeit unterhalten, wäh-
rend Patricks Schreiber Brocän ihre Erzählungen aufzeichnet**).
Es finden sich in der mittelirischen Litteratur auch einzelne Ge-
dichte, die den Helden der Fiannen beigelegt werden. Freilich sind
*) Die älteste Erzählung betritt die Jugendtaten Finns (ed. O'Donovan, Oss. 4, a88fil ;
ed. Dav. Comyn, Dublin 188 1, ed. K. Meyer^ Rev. celt. 5, 197 ff.); zwei kleine £nah>
langen edierte aus dem alten Stowe -Ms. 992 K. Meyer, Rev. celt. 14, 341 ff. Die von
demselben Gelehrten herausgegebene Schlacht von Ventry (Oxford 1885) trägt schon
neuirischen Charakter. Andere neuirische Erzählungen aus dem ossianischen Sagenkreise
sind bekannt gemacht von N. O'Kearney, St. H. 0*Srady, J. 0*Daly (Selfinstruction 1871,
p. 41 = Silva p. 289), P. W. Joyce, J. F. Campbell (Cb. 88), W. A. Craigie (Scottish
Review 24, 270) u. a.
**) Der Agallamh ist aus dem Buche von Lismore ediert und übersetzt von St.
H. 0*Grady, Silva gadellca p. 94 — 233. Vorher waren drei Gedichte daraus veröffent-
licht von O'Conor, Scriptores I., Epistola p. 123 (= Silva p. 149, in neuerer Rezension
von O'Kearney, Oss. 1, 33); von 0*Curry, Materials p. 594 (= Silva p. 11 1); von
J. O'Daly, Oss. 4, 280 (= Silva p. 105). Zwei Stücke daraus hatte H. Zimmer über-
setzt in der Zeitschrift für deutsches Altertum 33, 268 ff.
D]e ossianischen Heldenlieder. II. 77
sie nicht aus ihrer Zeit (so ake Denkmäler irischer Sprache giebt es
überhaupt nicht), aber einige reichen immerhin bis an die altirische
Sprachgrenze. Vor allen ist Finn Mac Cumaill selbst als Dichter be-
rühmt; aufser einem Fragmente im Lebor na huidre iib 20 und den
Gedichten im Buche von Leinster (192a 34. 62. 193a 34. 204a 32.
297 b 61. 298 b 34) gehören ihm das Frühlingslied Cettemain com
(Revue celtique 5, 201) und das Sommerlied Tantc-som slan soer
in der oxforder Handschrift Rawlinson B. 502^ Bl. 59 b (Göttinger Gel.
Anzeigen 1887 P- ^85); dazu zwei Gedichte im Buche von Lecan
(O'Curry, Manuscript materials p. 303), endlich im Agallamh ein Lehr-
gedicht an Mac Lugach, eine Prophezeiung u. a. (Silva gad. p. 107.
230)- Andere Gedichte werden CaUte Mac Ronaln zugeschrieben,
aufser denen im Agallamh namentlich eins im Buche von Leinster
208 a 24, worin der Langlebige den Schwund seiner Kraft und seiner
Schnelligkeit beklagt.
Als den einsam überlebenden- Helden lernen wir auch Oisin
den Sohn Finns aus einem alten Gedichte kennen, das Kuno Meyer
aus einer Handschrift des 14. Jahrh., Ms. Stowe 992, ans Licht ge-
zogen hat (Revue celtique 6, 186). Der Dichter klagt darin im Tone
so mancher spätem Lieder, die seinen Namen tragen:
Meine Hände sind verdorrt, Lang mein Tag, das Leben trübl
Meine Taten sind erstickt. Einstmals war ich frohgesinnt.
Flut drang vor und kam ans Land Stattlich war der Unsem Schar,
Und ertränkte meine Kraft. Hatte Frauen, die voll Huld (?).
Dank bring Ich dem Schöpfer dar, Zag nicht geh ich aus der Welt,
Der Gewinn und Freude gab. Meine Laufbahn ist zu End.
Merkwürdig ist ein andres Gedicht Oisins (im Buche von Leinster
154 a 44), da es sich auf die erwähnte Schlacht von Gaura bezieht,
in der sich sein Sohn Oscar und der König Cairbre gegenseitig
töteten*).
Schrift auf Stein und Stein auf Grab, Söhne, kQhn gewaltig, sie,
Wo die Mannen schritten einst, Fanden ihren Tod im Streit;
Brins Prinx auf weifsem Rofs Kurz vor ihrem Waffengang
Ward mit schlankem Speer verletzt. Mehr als lebend waren tot.
Cairbre tat den bdsen Wurf, Ich war selber in dem Kampf,
Hoch zu Rosse, gut im Kampf; SQdlich dort von Gabors Grün
Kurz eh* beide sie erlahmt. Schlug ich zweimal fünfzig Mann,
Schlug er Oscars Rechte ab. Es erschlug sie meine Hand. . . .
*) Vergl.£. Whidisch, Irische Texte p. 157 ffi; O'Grady, Silva gad., transl. p. 475, 52 1;
D'Arbois de Jubainville, L*^pop^e celtique en Irlande i, 391.
78 Ludwig Chr. Stern.
Oscar tat den grolsen Wurf, Schrift ist auf dem Steine hier,
Wütend kühn, dem Löwen gleich, Um den mancher Arme fiel;
Tötete Cairbre, Enkel Conus, Lebte Finn, an Taten reich,
Dem sich Kriegstat unterwarf*). Lang gedächte man der Schrift.
Der Urtext ist mit AUitteration und Assonanz versehen; das erste
Wort ist wie gewöhnlich auch das letzte des Gedichtes. Ein ebenso
altertümliches Lied Ossins (LL. 208 a 7 = E. Windisch, Texte p. 162)
behandelt eine Jagd auf ein Wildschwein. Jünger scheint ein von
Wh. Stokes aus dem Buche von Leinster 206 b ediertes Gedicht zu
sein, als dessen Verfasser sich Ossin mit dem Beinamen „Der blinde
Guaire" nennt; es behandelt ein Abenteuer Finns mit Gespenstern**).
Weniger altertümlich sind auch manche andere mittelirischen Gedichte
über einzelne Taten und Erlebnisse der Fiannen, wie das Gedicht
Dam thrir tancatar ille (LL. 207 b 5), das einen Kriegszug der Fiannen
gegen norwegische Seeräuber beschreibt. Ein anderes Tipra Sen-
gamma fo shnas (LL. 197 a = BB. 377a 50) über ein Abenteuer
Oisins wird dessen Bruder Fergus Finnbel („Blondbart" oder, wie
O'Grady will, „Wahrmund"), der geradezu als fili-Fhinn „der Dichter
Finns" bezeichnet wird. Dies Gedicht gehört dem mehrfach erhaltenen
topographischen Werke Dindshenchas „Heimatkunde" an, wie auch
einige andere, die Namen von Örtlichkeiten auf fiannische Helden
zurückfuhren und die Veranlassung ihrer Benennung erzählen, nament-
lich Ath-liag (LL. 163b = BB. 394b), Cnamross (LL. 195a = BB. 367b),
Snäm-dä-en (LL. 203 a 2; vergl. Revue celtique 13, 3 f.)»
Die hier erwähnten ossianischen Gedichte sind die ältesten, die
es giebt; sie gehören dem 11. und 12. Jahrhundert an, einige wenige
mögen noch älter sein. Als der eigentliche Dichter der Fiannen gilt
in der alten Sage der redegewandte und sangeskundige Fergus, ob-
wohl auch andern Helden hin und wieder Gedichte beigelegt werden.
Aber die spätere Sage, wie sie in neuirischer und neugälischer Sprache
zum Ausdruck gelangt ist, hat sich Oschins als des letzten der
Fiannen bemächtigt und ihn zum Dichter erkoren, der die Taten
seines jagdfrohen und kriegerischen Stammes in Liedern gefeiert
habe'*'**). Nicht dafs er in Wirklichkeit eine der ihm zugeschriebenen
*) D. h. die, welche Kriegstaten vollbrachten, unterwarfen sich ihm.
**) Eine Erzählung in Prosa fiber denselben Gegenstand ist in der Revue celtique
»3» 5 ft ediert.
***) Der Name des Dichters lautet in der ältesten Zeit Ossin oder Oisin (LL. 154 a.
197 b. 203 b. ao8a. BB. 377 a). Die letztere im Irischen gewöhnliche Form trägt im
Süden auf der zweiten Silbe den Ton, so dals man selbst Isheen umschrieben findet.
Die ossianischen Heldenlieder. IL 79
Balladen verfasst hätte, sondern er ist eine poetische Figur geworden.
Nach der neuern Sage, die Mich. Comyn in einem bekannten irischen
Gedichte behandelt, hat Oschin auch seinen Freund Cailte überlebt und
eine Fahrt ins „Land der Jugend** gemacht und so nach seiner Rück-
kehr, steinalt und traurig, die Zeit des heiligen Patrick erlebt*).
Daher sind viele der neuen Balladen, die seit dem Ende des 15. Jahr-
hunderts im Munde des Volks und schrifdich überliefert sind, an
diesen Glaubensboten gerichtet oder bestehen in Zwiegesprächen
zwischen ihm und Oschin. Der alte Krieger soll selbst schliefslich die
neue Lehre angenommen und sich zum Christentum bekehrt haben**).
Das ist die ossianische Sage der gälischen Heldenlieder. Ihre
Heimat ist Irland, aber sie hat sich nicht nur nach West-Schottland
und den Hebriden, sondern auch nach der Insel Man ausgebreitet***).
Wir wollen es hier in der Hauptsache nur mit den schottisch-
gälischen Heldenliedern zu tun haben, die in Inhalt, Form und Sprache
freilich beständig an die irischen Vorbilder erinnern, namentlich manche
sprachliche Eigentümlichkeit aufweisen, die dem heutigen Albano-
gälischen fremd geworden ist. Sie verhalten sich zu den irischen Bal-
laden etwa wie die portugiesischen Romanzen zu den spanischen, die
gleichfalls oft desselben Ursprungs sindf). Des Wunderbaren und
Die Bedeutung des Namens, wenn er eine hat, ist „der kleine Hirsch**. Im Norden
Irlands werden solche Bildungen mit Betonung des Stammvokals gesprochen, also Oschin.
Die Galen Schottlands sind aber noch weiter gegangen und haben dem Namen ihre
Dinimutivendung an (statt in) gegeben: Oisean d. i. Oschan, was Macpherson mit seiner
Schreibung Oscian, Ossian ausdrückt.
*) Nach einem irischen Gedichte in der Gielsener Handschrift D. Driscolls (Bl. 54b)
erreichten die berühmtesten Plannen alle sehr hohe Jahre, die denen der jüdischen
Patriarchen wenig nachgeben. Da heifst es:
Dobhi saoghal Oisin mic Fhinn Oisin, Finns Sohn, war im Leben
tri cead bliaghun go haoibhinn, Glücklich dreimal hundert Jahre,
seachd mbliaghna deag fa dho, Dazu zweimal siebzehn Jahre,
mi seachdmhuin agus aon lo. Einen Mond und Tag und Woche.
**) Der Zuname des heiligen Patrick des Sohnes des Calpumius Mete Calpuim oder
Mac Chalfruinn (Hardiman 3, 386) wurde zunächst zu Mac Alprainn (Saltair 2364,
S9va g^d. p. 95) oder Mac Arpluin (Oss. i, 96) oder Mac Arphluin (4, 3a), dann bei
den Schotten zu dem heimatlicher klingenden Mac Alpin.
***) Auch im Manx gab es Lieder von Osshin mac Owm, wie Vallancey, Vindi-
cation of the andent history of Ireland, Dublin 1789, p. 551, und O'Conor (Dean's book
p. LXXXIV) berichten — leider ohne Probe.
f ) Man vergleiche z. B. die spanische Romanze „Oh Valencia, oh Valencia, de mal
fiiego seas quemadal" (Wolf und Hofmann i, 176) mit der portugiesischen „Ai Valen9a,
gaai Valenpa, de fogo sejas queimadal" (Harding z, 8).
80 Ludwig Chr. Stern.
Unmöglichen haben diese der Neuzeit angehörenden Gedichte nicht
weniger als die mittelirischen Erzählungen, aber sie haben nicht die
gleiche Korrektheit in den Umständen der Schilderung und der Hand-
lung, sowie in den historischen und geographischen Namen. Da die
Helden Gestalten der irischen, in einer alten und grofsen Litteratur
erhaltenen Sage sind und der Schauplatz der Begebenheit regelmäfsig
in Irland liegt, so befindet sich besonders die schottische Überlieferung
in fortwährender Gefahr des MiTsverständnisses und der Entstellung.
So begegnet es ihr, dafs sie Conchobar und Conall, Emain und Tara
verwechselt und für Almhain, d. i. Allen in der Grafschaft Kildare, das
ähnlich klingende und bekanntere Albain d. i. Schottland einsetzt. So
verlieren die Balladen die Stellung ganz aus den Augen, die Finn
Mac Cumaill unter dem Oberkönige Irlands einnahm und nennen ihn
schlechthin einen König Innisfails oder Irlands; ja, einige Male ver-
gessen sie ganz, dafs Finn in Irland und nicht in Schottland lebte, läist
doch sogar ein echter Dichter wie Duncan Mac Intyre (poems p. 204)
den Dudelsack in Finns, Golls und Garahs Halle ertönen. Die Bal-
laden aus dem älteren Sagenkreise werden schliefslich gleichfalls dem
Dichter Oschin beigelegt; Namen aus dem Kreise Cuchulinns geraten
in den ossianschen, und solche aus diesem in jenen; doch vermischen
die Balladen im allgemeinen nicht auch die Handlungen der beiden
Epochen, wie es in den Gedichten Macphersons geschehen ist. Die
Ursprünglichkeit und der Verfall der Sage bilden neben der gröfsern
oder geringern Reinheit der Sprache die sichersten Merkmale für das
Alter dieser Dichtungen.
Ihre Enstehung reicht, wie bemerkt, in das 1 5. Jahrhundert zurück.
Die ältesten sind in dem sogenannten Dean's book erhalten, einer
Sammlung von neuirischen oder gälischen Gedichten, die der Dechant
von Lismore, einer zur Grafschaft Argyle gehörigen Insel, James Mac-
gregor und sein Bruder Duncan um 151 2 machten. Ossianische Lieder
(worunter wir also die aus dem Sagenkreise nicht nur Finns, sondern
auch Cuchulinns verstehen) sind 29 darunter. Mehrere werden aus-
drücklich schottischen Dichtem jener Zeit beigelegt, so „Conlaoch" dem
Gillie Callum Mac an OUav, „Fröch" dem Keich O'Cloan, „Dermids
Tod" und „die Schlacht von Gaura" dem Allan Mac Rorie; die Ver-
fasser anderer Gedichte kennt man nicht: dazu gehören „Maihre", „die
grofse Jagd", „die schönste Musik", „die treulosen Frauen", „das Lob
Golls", „das Lob Finns", „Oschins Klage" und „Oschins Gebet" in
einer altem Form. Das wichtige Buch wurde 1862 von Thomas Mac-
Die ossianischen Heldenlieder. IL 81
lauchlan (1816 — 86) und 1892 aufs neue aus dem Nachlasse des vor-
treflflichen Alex. Cameron (1827 — 88) herausgegeben. Die Arbeit war
schwierig, denn der Dechant hat seine Sprache, die schon einige alba-
nogäüsche Abweichungen von der irischen zeigt, nicht etymologisch,
sondern nach der von der Schrift ziemlich weit entfernten Aussprache,
noch dazu recht regellos, phonetisch geschrieben. Den kursiven Text
der Handschrift richtig zu lesen und ihn in die heutige Orthographie
richtig zu umschreiben ist noch nicht durchweg gelungen, obschon
der zweite Herausgeber die Aufgabe aufs erfreulichste gefordert hat.
Eme über alle Zweifel erhabene Reproduktion des ehrwürdigen Codex
bleibt noch ein Desideratum.
Als die Zweitälteste Sammlung ossianischer Gedichte darf eine
im Franziskanerkloster zu Dublin aufbewahrte hier nicht übergangen
werden, obschon sie eine rein irische ist: Duanaire Fhinn d. h. das
„Liederbuch Finns" aus dem Jahre 1627, auf das Prof. Zimmer auf-
merksam gemacht hat*). Die ersten 56 von den 69 Liedern, die es
enthalt, gehören zu den ältesten Poesieen der Art; von den Gedichten
ist etwa ein Dutzend in Drucken nachweisbar, darunter „Derg" und
„Ergan**, „Oschins Klage", ^Oschins Gebet**, Oscars Schlachtgesang
(Oss. I, 156), „GoUs Totenklage" (Cameron i, 365) u.a. Diese Hand-
schrift ist gewifs das Beste aus der Fülle der fiannischen Gedichte und
Erzählungen in irischer Sprache, deren Text Prof O'Curry auf 3000
Druckseiten in quarto berechnet. Gedruckt ist von dem in zahlreichen
jungem irischen Handschriften erhaltenen Liederschatze wenig. Einiges
edierten 1786 J. Walker, 1789 Charl. Brooke (f 1793), 1790 S. O'Hal-
loran, 1792 Ch. Wilson, 1808 Theoph. 0*Flanagan, 1831 J. Hardiman,
und dann, in den Verhandlungen der ossianischen Gesellschaft zu
Dublin, 1854 sechs Gedichte N. O'Kearney, 1857 ^^^^ St. H. 0*Grady,
1859 sechs und 1861 ebensoviel J. O'Daly. Nicht eben glücklich sind
die 16 Gedichte ausgewählt, die J. H. Simpson, Poems of Ossin, bard
of Erin, London 1857, in Prosa übersetzte. Drummond traf zwar in
seinen Ancient Irish minstrelsy 1852 eine bessere Auswahl, aber seine
Paraphrasen in Versen geben keinen richtigem BegriflF von der Urschrift
als vor ihm die Nachahmungen Mifs Brookes.
Die Galen Schottlands sind nicht so reich an ossianischen Dichtungen
und besitzen aufser dem Buche des Dechanten keine alte Handschrift
*) Göttinger Gelehrte Anzeigen 1887, p. 173 ff.
Ztschr. t vgl Ut-Geach. N. P. VIII. g
89 Ludwig Chr. Stern.
davon'*'); aber sie haben sich im vorigen Jahrhundert um die Auf-
Zeichnung des Überlieferten mit löblichem Eifer bemüht. Das Wichtigste,
was darin geleistet ist, überblickt man ziemlich vollständig in dem Leabhar
na feinne „dem Fiannenbuche** [Cb.] von J. F. Campbell von Islay
(1821 — 85), der schon 1864 im 3. Bande seiner Tales of the West
Highlands 6 ossianische Balladen veröffentlicht und erkannt hatte, wie
notwendig zur Herstellung korrekter Lesarten die Hinzuziehung mehrerer
Exemplare ist. Lange blieb dieses wertvolle Werk so gut wie un-
beachtet und erfuhr erst 1892 aus Alexander Camerons Nachlafs
ansehnliche Ergänzungen. Zu den 54000 Zeilen gälischer Poesie in
Campbells Leabhar na feinne und zu den 16000 Versen, die Camerons
Reliquiae celticae enthalten mögen, kommen noch manche kleinere
Publikationen zur ossianischen Balladendichtung in Schottland, so dais
das gedruckte Material, das dem Forscher zur Prüfung und Sichtung
vorliegt und von dem ich nun einen kurzen Bericht gebe, keineswegs
gering ist.
Die erste albanogälische Sammlung ossianischer Gedichte machte
um 1 740 nach mündlichem Vortrage der Rev. Alex. Pope in Caithness.
Es sind zehn Lieder in phonetischer Schreibung und im Text mitunter
durchaus nicht vorzüglich, wie denn z. B. einmal Cuchulinn, ^^er Sohn
Semos" (mac Seimh Sualtach oder mac Sheimhe, Cb. 222) zu einem
Zeitgenossen Finns gemacht wird. Drei von diesen Liedern hat später
der Rev. Sage von KJldonan in korrektere Form imischrieben
(Cam. I, 393 ff.). Wertvoller ist die Sammlung Jeromy Stones, eines
Schulmeisters in Dunkeid (f 1756), des ersten, der eine gälische
Ballade („Fröch") englisch nachgedichtet hat, „from the Irish", wie
er sagt (Scots Magazine XVIII. 1756, p. 15 ff.) Seine zehn Lieder
sind in der Form ziemlich korrekt, einige Jahre vor Fingal und Te-
mora aufgezeichnet und schon aus diesem Grunde beachtenswert; sie
wurden 1889 von Prof. Mackinnon abgedruckt (Gael. Soc. Invemess
14, 314 ff.); einige davon waren 1762 von dem Rev. Macdiarmaid in
seine handschrifthche Sammlung aufgenommen.
Es ist wahrscheinlich, dafs Macpherson durch Stones Nachbildung
auf die gälischen Volkspoesieen aufmerksam geworden ist; nach dem
Erscheinen der „Gedichte Ossians" ward eine allgemeine Teilnahme
*) Die Edinburger Manuskripte 36. 38. 48. 54. 6a und 65, aus denen Cameron
einiges in den Reliquiae celticae veröffentlicht, sind eher irisch als albanogällsch. Die
Handschrift von Fernaig (c. 1693) bietet nur ein ossianisches Lied (Rel. celt. 3, 89;
cf- 2, 333 und Cb. 106).
Die ossiaoischen Heldenlieder. 11. 8B
dafür rege. Den ersten gedruckten Beitrag zur Kenntnis der ossia-
nischen Ballade lieferte jedoch erst 1782—83 der Engländer Thom.
Ford Hill im Gentleman's Magazine Vol. LII. und LIII., dann in be-
sonderer Ausgabe 1784 (wieder abgedruckt im Gaidheal 6, iipflF.
und besonders, Edinburg 1878). Seine Texte von 6 Balladen sind
zwar recht fehlerhaft geschrieben, auch ist die beigefügte Übersetzung
oft unrichtig; aber die Ehrenhaftigkeit des Sammlers und sein un-
eigennütziger Drang in der Streitfrage zur Wahrheit zu gelangen ver-
dienen das schönste Lob. Nach ihm gab der irische Bischof von
Qonfert M. Young 1787 in den Abhandlungen der Dublin er Akademie
mit einigen Bruchstücken Mac Arthurs 7 Lieder heraus. Seine Texte
sind zwar fehlerhaft wie alle übrigen in den Hochlanden aufgezeichneten,
doch nicht ohne Wert, und seine Übersetzung (als „Neuaufgefundene
Gedichte Ossians^ schon 1792 ins Deutsche übertragen) im allge-
meinen nicht schlecht.
Von allen Sammlungen ossianischer Balladen, die man im vorigen
Jahrhundert in Schotdand gemacht hat, liefert die des Rev. Donald
Macnicol (f 1802) das beste Bild von der schottischen Überlieferung
dieser Poesie. Es sind 30 Lieder, aufser den Hillschen Balladen im
Gentleman's Magazine Abschriften von Texten, die in den Hochlanden
von Hand zu Hand gegeben wurden, darunter auch die von Stone
gesammelten mit geringen Abweichungen. Seltsamerweise war Macnicol
ein Verteidiger des Macphersonschen „Ossian^, daher unter seine
Texte einige gälische Übersetzungen dieses englischen Originals ge-
mischt sind. Einen geglättetem und in der Schreibung korrektem
Text bieten Archibald Fletchers Balladen aus dem Jahre 1801,
21 Stück die zum Teil auf denen Macnicols beruhen. Mit Fletchers
Namen sind sie nur zufallig verbunden; denn es wird nur gesagt
(Report, appendix p. 270), dafs dieser schriftunkundige Rhapsode alle
diese Lieder vor etwa 50 Jahren gelernt habe und sie zu recitieren
pflege. Macnicol kommt als Sammler am nächsten der Rev. James
Madagan von Blair-Athole, ein hervorragender Kenner der gälischen
Poesie und selbst ein Dichter, dem auch Macpherson einige Balladen
verdankte und in dessen umfangreichem Nachlasse sich gute Texte
von 25 ossianischen Heldenliedern gefunden haben. Nur 15 Gedichte,
aber diese in sprachlich verbesserter Form, bietet der Lexikograph
Peter Macfarlane, dem Macnicols und Maclagans Texte vorlagen.
Einige Sammlungen ossianischer Gedichte, die im Norden Schott-
lands, in Sutherland und Caithness, entstanden sind, zeichnen sich
6*
84 Ludwig Chr. Stern.
durch die Ursprünglichkeit der unmittelbaren mündlichen Überlieferung
aus. Es sind aufser der schon erwähnten des Rev. Pope die 8 Bal-
laden des Rev. Sage von Kildonan (1802); 10 Balladen von Sir
George Mackenzie, freilich nicht im besten Zustande überliefert; 9 Ge-
dichte von John Macdonald von Ferintosh (f 1849), von denen nach
Campbells erster Ausgabe AI. Cameron (Gael. Soc. Invern. 13, 270 ff.)
einen berichtigten Abdruck lieferte; endlich einige Lieder, die James
Cumming 1856 von Janet Sutherland in Caithness aufnahm. Das
korrekt geschriebene Manuskript kam in Th. Maclauchlans Besitz und
ist von Campbell ediert worden. Die nicht sehr reichhaltige Samm-
lung, die Macdonald von Staffa auf der Insel Mull 1801 — 3 machte,
hat gleichfalls manches Eigentümliche.
Bei weitem der beste Kenner der ossianischen Poesie in Schott-
land war im vorigen Jahrhundert Duncan Kennedy, ein Schulmeister
in Kilmelford, dem das Gälische Muttersprache war. Er machte zwei
handschriftliche Sammlungen von Balladen zwischen 1774 und 1783.
Die erste Reihe von 29 Liedern würde eine nicht üble Edition dieser
Gedichte sein, wenn Kennedy den Stoff, den er mündlich und auch
wohl schrifdich empfangen hatte, nicht mehr als billig überarbeitet
und die Lücken durch eigene Poesie ausgefüllt hätte. In der Folge
sich gänzlich in den macphersonschen Geschmack verirrend, hat der
begabte Mann eine zweite Sammlung von 30 Liedern zusammen-
geschrieben, worin er die früher aufgezeichneten Balladen durchgehends
veränderte, schwierige Wörter durch verständlichere ersetzte und nicht
wenig, meist Macphersonsches, hinzudichtete; einige Gedichte sind,
bis auf die Sage, auf die sie gegründet sind, ganz und gar sein
Eigentum. So hat Kennedy das Verdienst, das man seinem Fleifse
und seiner sprachlichen Korrektheit gern zuerkennen möchte, selbst
beträchtlich geschmälert. Campbell dankt man den vollständigen Ab-
druck dieser beiden Sammlungen, aus denen schon Donald Smith in
dem mehrerwähnten Report, in seinem ossianischen Cento aus ver-
schiedenen Sammlungen, einiges mitgeteilt hatte, ohne kritisches
Verständnis und ohne Unterscheidung.
Die Texte von 20 ossianischen Balladen in der von dem Buch-
händler J. Gillies in Perth 1786 veranstalteten Sammlung gälischer
Gedichte sind verhältnismäfsig sorgfältig ediert, doch haben auch sie
eine Überarbeitung erfahren und hier und dort eine Zutat nach mac-
phersonschem Geschmack. Dieses Werk, das schon Young vor sich
hatte, wurde in den Hochlanden einst viel gelesen und ist daher auf
Die ossianjschen Heldenlieder. II. 85
die Sammlungen, die man nach jener Zeit gemacht hat, meist von
Einflufs gewesen; so namentlich auf die des Rev. Alex. Irvine um
1801; dessen 40 Lieder schon den Verfall des Textes erkennen lassen
und von macphersonschen Zutaten nicht frei sind. Noch mehr gilt
dies von den 17 Liedern, die aus dem Nachlasse Alex. Campbells in
Portree (auf der Insel Skye) von AI. Cameron veröffentlicht worden
sind; es sind sogar lange macphersonsche Poeme darunter. Recht
brauchbar sind die Texte von 12 Gedichten, die P. Turner gesammelt
hat (Reliquiae celticae 2, 360 ff.). Was die Gedichtsammlung der
beiden Stewart 1804 Ossianisches mitgeteilt hat, ist ebenso wie „die
ossianischen Gedichte" der Brüder Maccallum 1816, die von Thom.
Rofs unterstützt wurden, durch macphersonsches Beiwerk mit Fleifs
übel entstellt. Die neuern Balladentexte, wie die von J. F. Campbell
aus eignen Sammlungen mitgeteilten und die allerneuesten von
John Gregorson Campbell in Tiree (f 1891) im 4. Bande der Waifs
and Strays of Celtic Tradition 1891 veröffentlichten, beweisen,
dafs die Tradition der ossianischen Poesieen in Schottland im Ab-
sterben begriffen ist*).
Es ist gar nicht zweifelhaft, dafs von ossianischen Balladen vormals
viel mehr in Schottland und auf den Inseln zu finden war. Der
geringen Kunst, die sie besafsen, entkleidet, sind manche in die
Volksmärchen (ursgeul, mittelirisch airscel) übergegangen, deren Zahl
sehr grofs ist und denen ein längeres Leben beschieden zu sein
scheint**).
Man kann die allgemeine Bemerkung nicht unterdrücken, dafs
die in Schottland gesammelten Balladen in der Form meist sehr
mangelhaft sind; in dieser Beziehung sind ihnen die irischen Texte
weit überlegen. In der ziemlich schwierigen Orthographie des
Gälischen sind die schottischen Schreiber fast ohne Ausnahme wenig
bewandert. Daher wimmeln denn die Drucke, die ich aufgezählt
habe, von Druck-, Schreib-, Lese- und Hörfehlern jeder Art und die
sprachliche Reinigung dieser korrupten Texte ist die erste Bedingung
*) Obwohl das wichtigfste Material, das die schottische Überlieferung zur
ossianischen Poesie liefert, nunmehr tatsächlich vorliegt, so sind doch einzelne ^-amm-
lungen immer noch unediert Ich nenne die Namen Malcolm Macdonald, Macdonald von
Brakisch, General Mackay, Sir John Sinclair und Stewart von Craignish.
**) Bekannt sind die Sammlungen von J. F. Campbell 1860 — 62, Lord Archibald
Campbell 1889, D. Mac Innes 1890 und J. Mac Dougall 1891. Viele sonstige gälische
Märchen sind in die Zeitschriften zerstreut.
86 Ludwig Chr. Stern.
ZU ihrem Verständnis. In dieser philologischen Arbeit ist Alexander
Cameron mit der sorgfaltigen Edition einiger Balladen rühmlich vor-
angegangen. Ihm folgte Hektor Maclean in seinen Ultonian Hero-
ballads, Glasgow 1892, mit 6 Balladen des älteren Sagenkreises. An
einer kritischen Ausgabe der ossianischen Balladen, sollte die gälische
Sprache noch einige Menschenalter dauern, wäre viel gelegen. Die
zahllose Menge der Varianten, die Verderbtheit der Texte und die
Unsicherheit der Sprachformen machen die Aufgabe freilich zu einer
schwierigen*).
*) In dem im nächsten Hefte folgenden Abschnitte werde ich Proben aus einer
Rezension der wichtigsten ossianischen Heldenlieder albanogälischen Dialekts geben,
die ich auf Grund der gedruckten Texte hergestellt habe.
(Fortsetzung folgt.)
Berlin.
-•••-
NEUE MITTEILUNGEN.
.•••.
Lessings Anmerkungen zu den Fabeln des Aesop.
Von
Richard Förster.
Als Reiske mit seiner Frau im August des Jahres 1771 bei Lessing
in Wolfenbüttel zum Besuch war, kam die Rede auch auf den
Augsburger Codex unedierter Fabeln des Aesop, auf welchen Heusinger
in der Vorrede seiner Ausgabe der Fabeln die Aufmerksamkeit ge-
lenkt hatte. Da Reiske Beziehungen zu Augsburg hatte, seine Frau
aber ein Vergnügen darin fand Lessing einen Gefallen zu erweisen,
so versprach Reiske sich die Handschrift kommen und — er selbst
war damals schon recht augenleidend — durch seine Frau abschreiben
zu lassen. Und so sah sich Lessing nach Beseitigung einiger Hemmnisse,
über welche ein Brief Reiskes an ihn aus dem Mai 1772 (Redlich,
Briefe an Lessing No. 326) berichtet, noch in demselben Jahre 1772
im Besitz der Abschrift und stattete den Dank für die Liebenswürdigkeit
der Frau Reiske mit dem bekannten Komplimente in der Abhandlung
über „Romulus und Rimicius" (Zur Geschichte und Litteratur. Aus
den Schätzen der herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Erster
Beitrag, Braunschweig 1773) ab: „Endlich bin ich so glücklich ge-
wesen, eine Abschrift von besagtem Augsburgischen Codex zu er-
halten, aus der ich sehe, dafs er alle meine Erwartung übertrifft.
Diese Abschrift ist von der Hand der Madame Reiske, die sich damit
um die griechische Literatur unendlich verdienter wird gemacht haben
als eine Madame Dacier mit allen französischen Uebersetzungen, wenn
man künftig einmal den Aesop einzig so lesen wird, wie man ihn ohne
ihr Zuthun vielleicht noch lange nicht, vielleicht auch wohl nie gelesen
hätte**. (Hempel XI, 2, 939).
Nun sind zwar bisher keine Proben der Beschäftigung Lessings
mit dieser Fabelsammlung der Augsburger Handschrift zu Tage ge-
88 Richard Förster.
treten, aber dafs er Aufzeichnungen zu ihr hinterlassen hatte, wufste
man aus der Bemerkung seines Bruders Karl (Gotthold Ephraim Lessings
Vermischte Schriften. Zweyter Theil. Berlin 1784 S. 226): „Aufeer
diesem was hier vom Aesop vorkömmt, hat mein Bruder einen Heft
von drey Bogen in Oktav: Erklärungen über den Aesop, nach-
gelassen, die mit denen, welche er dem griechischen Manuscripte bey-
gefugt, dessen er in seinem ersten Beytrage zur Geschichte und Litteratur
aus den Schätzen der herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel No. 2
S. 72. gedenket, schon einen ziemlichen Commentar ausmachen; sie
sind aber nur in deutscher Sprache geschrieben." Und das von dem-
selben herausgegebene „Leben Lessings nebst seinem noch übrigen
litterarischen Nachlasse, dritter Theil, Berlin 1795**, enthielt die An-
kündigung der Herausgabe der Sammlung der Aesopfabeln mit Lessings
Anmerkungen. Denn Fülleborn, welchem Karl Lessing die Heraus-
gabe dieses Teiles des Nachlasses übertragen hatte, schreibt im Vor-
worte S. XIX: „Das philologische Publicum hat noch einen wichtigen
Beytrag zur alten Literatur aus Lessings Nachlasse zu hoffen, eine
Handschrift der Aesopischen Fabeln, von der Madame Reiske abge-
schrieben, und von Lessing mit einigen Anmerkungen begleitet, welche
ein gelehrter Philolog überarbeiten wird". Aber der wesentliche Teil
dieses Versprechens ist bis heut unerfüllt geblieben. Zwar gab Johann
Gottlob Schneider, welcher mit Karl Lessing kurz vor dessen Tode
in Breslau bekannt geworden war und von ihm die Abschrift der
Frau Reiske mit den Anmerkungen Lessings zum Geschenk erhalten
hatte*), den griechischen Text heraus: MTBOI AllälUllOl. Fabulae
Aesopiae e codice Augustano nunc primum editae, Vratislaviae 1812,
aber ohne die Anmerkungen. Nur selten nahm er kurz auf ein Urteil
oder eine Textverbesserung Lessings Bezug. Am unbegreiflichsten ist,
dafs auch er, obwohl er sowohl Reiskes als seiner Frau Handschrift
kannte, Reiske für den Schreiber hielt und diesem Textverbesserungen
zuschrieb, welche seine Frau gemacht hatte. Seitdem ist, so viel ich
weifs, von der ganzen Arbeit keine Rede gewesen.
Um so gröfser war meine Freude, als es mir jüngst glückte, die
Anmerkungen mit der Abschrift wiederzufinden und zwar in einer
Handschrift der Breslauer Universitätsbibliothek — IV Qu. 104 b ~,
welche auf dem Einbände die Aufschrift trägt: Schneideri CoUectanea
ad Aesopi fabulas.
Es ist ein aus 80 Blättern bestehender Quartband. Sowohl auf der
Innenseite des Deckels als auf dem ersten Blatte stehen Eintragungen
von Karl Lessings Hand über Ausgaben der äsopischen Fabeln von
lirnesti, Leipzig 1781 an bis zum Leipziger Drucke der Ausgabe del
Furia's von 18 10, dazwischen auch die Bemerkung:
*) Dadurch erweist sich die Angabe des Rezensenten des dritten Teiles von
Lessings Leben in der Allgemeinen Literatur-Zeitung März 1796 N. 98 Sp. 780, dafs
Frau Reiske die Abschrift dem Hofrat Eschenburg geschenkt habe, als ebenso irrig wie
die Behauptung, dafs Reiske selbst die Abschrift gemacht habe.
Lessing^s Anmerkungen zu den Fabeln des Aesop. 89
Siehe des D. Reiske Brief vom 13 Febr. 1773 fast zu
Ende an meinen Bruder.
Auf Blatt 2 steht von Lessings Hand:
Ein älterer u. besserer
Aesop
als der gewöhnliche des Planudes
aus
einer Augsburgischen Handschrift
gezogen*)
von Mad. Reiske.
Mit Blatt 3 beginnt die Abschrift der Frau Reiske, deren Über-
schrift lautet: Aesopi fabulae e codice Augustano p. 80. N. 3.*)
fißi^oi Tou ahwTTou: xaxä <:o^eu)v. Sie schliefst auf fol. 78 v mit den
Worten od dolax; ^pij igtv fueaitat (= p. 1 15, 20 der Ausgabe Schneiders).
Blatt 79 und 80 sind leer.
Lessing selbst ist an eine Paginierung der Abschrift gegangen,
indem er mit roter Tinte die Blattzahlen in die rechte obere Ecke
setzte (im folgenden Abdruck durch kleinere unterstrichene Schrift
hervorgehoben), kam aber nicht über Blatt 28 hinaus. Die An-
merkungen hören noch eher, bei Fabel 138, welche auf Blatt 25 ^ steht,
auf. Mit roter Tinte (im Druck wie vorstehend angedeutet) schrieb
er auch im Anfange vor einzelne Fabeln die Zahlen, welche sie in
der planudeischen Sammlung haben und mit drei Sternen bezeichnete
er die bisher unbekannten Fabeln. Mit roter Tinte machte er endlich
auch einige Textverbesserungen (im Druck durch gesperrte Schrift
hervorgehoben) am Rande der Abschrift. Aber die eigentlichen An-
merkungen schrieb er mit schwarzer Tinte auf besondre Blätter,
mit denen er die Abschrift durchschiefsen liefs.
Diese Anmerkungen bezeichnen regelmäfsig die Nummern, unter
denen sich die betreffenden Fabeln in den Sammlungen des sogenannten
Planudes und Nevelets befinden, und erörtern sodann in erster Linie
die Vorzüge ^), seltner die Mängel, welche die Fassungen der Fabeln
in der Augsburger Sammlung vor denen der andern Sammlungen
haben*), oder besprechen das Alter und die Quellen, sowie die Nach-
') Das gezogen ist von späterer (wol nicht Karl Lessings, sondern des in Aus-
sicht genommenen Editors) Hand in genommen geändert.
^ p. 80 N. 3 ist die Augsburger Signatur des Codex, des jetzigen Monacensis
gr. 564 (fol. 295 sq.), welche von den paginae des Index manuscriptorum Bibliothecae
Aag^ustanae von Reiser (Augsburg 1675) hergenommen ist.
') Hervorzuheben ist die Bemerkung zu Fabel 19, dafs sich der Vorzug der
Augsburger Sammlung vor der „gemeinen** in „dergleichen eigenthümlichen und Kern-
Worten", wie TxAfta äufeere.
*) Lessings Urteil Ober den Vorzug der Augsburger Sammlung vor den übrigen
wird allem Anschein nach auch in Zukunft in Geltung bleiben.
90 Richard Förster.
ahmungen der Fabeln*), die Anordnung der Sammlungen*), oder wägen
die Lesarten ab und geben, teilweis sehr schöne, Textv^erbesserungen.
Bisweilen (zu Fabel 67, 74, 88) nehmen sie auch auf die Randbe-
merkungen von Frau Reiske, welche eine Auslassung im Texte der
Handschrift konstatieren oder eine Änderung vorschlagen, bestätigend
oder bestreitend Rücksicht.
Bei weitem der gröfste Teil der Anmerkungen ist offenbar un-
mittelbar nach Empfang der Abschrift, kurz vorher ehe er sein Urteil
über den Wert der Sammlung in den »Beiträgen* drucken liefs, also
noch im Jahre 1772 niedergeschrieben. So erklärt sich, dafs Lessing
zu Fabel 118 (vgl. zu Fabel 3) zwar auch den ßbq Aladumi} dtiert,
aber nur in der sogenannten planudeischen Rezension, nicht in der
Fassung, welche er im Februar des Jahres 1773 durch eine Abschrift
der Frau Reiske kennen lernte. Doch fehlt es nicht an nachträglichen
Zusätzen, welche erst fortgesetzte Lektüre oder die inzwischen er-
langte Kenntnis der Lesarten einer zweiten Handschrift brachte.
Letztere bezeichnet er durch C. W., und sowohl die Reihenfolge der
Fabeln als auch die Lesarten, welche er anmerkt, lassen keinen
Zweifel, dafs dies der Codex der Wiener Hof bibliothek phil, graec.
CLXXVin (fol. 311 sq.) gewesen ist'), wenn ich auch nicht zu sagen
vermag, ob Lessing diesen Codex im Jahre 1775 selbst in Wien einsah
oder durch einen Andern Mitteilungen über ihn empfing.
Bisweilen tritt eine inhaltliche Berührung zwischen diesen An-
merkungen und jenen hervor, welche sich in dem von Lessing ange-
legten grofsen ,Kollektaneum* finden und aus diesem von Eschenburg
hervorgezogen worden sind. Ich halte die Zusammenstellung der
folgenden für lehrreich*):
Es lautet die Anmerkung
in unsrer Handschrift im ,Kollektaneum*
(£schenburg I, 452; Hempel XI, 3, 1007).
Fabel 9 = Fabel IV.
Die vierte unter den Planudeischen. Der Im Griechischen wird diese Fabel auf
Umstand, dafs hier der Fuchs in den Brunnen zweierlei Art *) erzählt. Das eine MaP) näm-
fällt, anstatt dafs er mit dem Bock*) zu- lieh springt der Fuchs nicht mit in den
gleich herabsteigt, wie in dem gemeinen Brunnen hinab, sondern kommt nur dazu,
Texte, ist sehr wichtig. Denn nur dadurch als der Bock sich vergebens herauszu-
wird der Fuchs nicht selbst des Tadels kommen bemüht. Und so ist die Fabel
') In dieser Hinsicht ist besonders die Bemerkung zu Fabel 109 und 135, dals die
Fabeln Lokroans aus dem Griechischen übersetzt seien, bemerkenswert. Über „Pilpay*
vgl. die Anmerkung zu Fabel 35.
') Hervorzuheben ist der aus einem falschen Epimythion zu Fabel 110 gezogene
Schlufs, dafs Planudes eine Sammlung wie die Augsburger vor sich gehabt habe.
•) Hierüber, wie über manche andere mehr für die Textkritik der Fabeln wichtige
Einzelheiten handle ich ausführlicher In einem Aufsatze des 50. Bandes des Rheinischen
Museums für Philologie S. 66 ff.
*) Übereinstimmung ist auch zwischen unserer Anmerkung zu Fabel 27 und der in
den Breslauer Papieren „Über den Phaeder" (Hempel XI, 2, 1018 zu Phaedr. I, 7, 2).
») Die Handschrift hat: Fuchs.
«) [Ed. Nevel. 4 und 284.]
») [Nevel. 284.]
Lessing^s Anmerkungen zu den Fabeln des Aesop.
91
wfirdig, mit dem er den Bock verlacht.
Oder konte er es im voraus schon ganz
gewils wilsen, daüs sich der' leichtgläubige
Bock so wfirde hintergehen lassen.
Zu Fabel 90
Die 91 ste unter den Pianudeischen. Ich
bin noch nicht recht gewifs, worauf es bey
dieser Fabel eigentlich ankörnt. Etwa
darauf, dais Merkur dem Tiresiasi) beide-
mal Erscheinungen nante, woraus für den
gegenwärtigen Fall nichts zu schlieisen;
und das zweytemal gar eine Krähe xopütyrj
anzeigte, von welcher ein jeder wuüste, dafs
sie ditovurfii^ oöx fyet, wie auch in der 98ten
Pianudeischen Fabel ausdrücklich gesagt
wird? Schlois er also daraus, dafs der
Man, dessen Augen er sich itzt bediente,
ihn nur zum besten habe, u, wohl selbst
der Dieb seyn möge.
Zu Fabel 108
a) Daför stehet in dem gemeinen Texte
ohne allen Verstand dta tou 5)[XotA, Die be-
wuiste Verbesserung dieser Stelle.
einfacher und besser. Der Umstand zwar,
dads der Fuchs über die Homer des Bocks
herausspringt, ist sinnreich; allein er macht
den Fuchs einer gleichen Unvorsichtig-
keit schuldig. Denn wulste es auch der
Fuchs schon ganz gewifs, dals der Bock
so dumm sein und sich dazu bequemen
würde?
Fabel XCI (Eschenburg I, 471; Hempel
a. a. O. loxo).
Ich möchte wohl wissen, wie die Aus-
leger diese Fabel mit der 98sten und 99Sten
verglichen, wo von der xopwvr^ ausdrück-
lich gesagt wird: ouovujfiov oux e^SL Wer
diese Schwierigkeit nicht aufzulösen weiüs,
versteht die ganze Fabel nicht.
Sie mufs aber so aufgelöst werden, dafs
Tiresias den Mercur eben daran er-
kannte, dafs er ihm schon zum zweiten
Mal einen unrechten Vogel nannte, aus
dem nichts zu schlieisen war.
Fabel CIV (Eschenburg I, 472; Hempel
a. a. O. loii).
Anstatt dta xou d)[Xou, muis man lesen :
dta TOU d^^oü, d. i. durch die Lippen.
Und nunmehr erst kömmt in die ganze
Fabel ein Verstand. 6 d^^o^ aber heilst
eigentlich: littus, ripa; im figürlichen Ver-
stände aber bedeutetes auch die Lippen,
so wie auch to x^do^ labium und ripa be-
deutet ').
Man sieht, dafs unsre Anmerkungen später sind als die der Kollek-
taneen, was zu dem Ergebnis der Ermittlungen über die Zeit der
letzteren durchaus stimmt'). Mit der „bewufeten Verbesserung" zu
Fabel 108 hat er offenbar die der KoUektaneen Stä zoo o^&ou im Sinne*).
Als er den Eintrag der KoUektaneen zu Fabel IV machte, kannte er
noch nicht die Fassung der Augsburger Sammlung, sondern nur die
dieser ähnliche bei Nevelet 284. Als er unsre Anmerkung zu Fabel 90
schrieb, war er in der Lösung der Schwierigkeit weniger sicher').
Der Hauptreiz der Anmerkungen liegt meiner Ansicht nach darin,
dafe sie uns Lessing unmittelbar bei der Arbeit zeigen und noch nicht
eine für die Veröffentlichung bestimmte Form erhalten haben. Sie
sind, wie die vielfach flüchtige Schrift zeigt, rasch niedergeschrieben.
Es fehlt daher nicht an Versehen. Ich habe diese im Text ver-
bessert, die Lesart der Handschrift jedoch angemerkt. Im übrigen
*) pie Hdr. hat: Thiresias.]
*) [Vgl. KoUektaneen I, 332 f.]
») Vgl. Eschenburg I S. XIV.
4) Auf das Richtige ^ tou dp^ou ist er nicht gekommen.
') Vgl. meinen Aufsatz im Rheinischen Museum Bd. 50 S. 75.
92 Richard Förster.
habe ich möglichst genauen Anschlufs an die Handschrift erstrebt.
Meine eignen, sich nur auf das Notwendigste erstreckenden Anmer-
kungen habe ich, ebenso wie die von der jetzigen Bibliotheksver-
waltung auf den Blättern der Anmerkungen gesetzten Seitenzahlen in
eckige Klammern gesetzt. Den Worten des griechischen Textes, auf
welche sich Lessings Anmerkungen beziehen, habe ich Seiten- und
Zeilenzahl der Ausgabe Schneiders beigefügt. Das von Lessing Unter-
strichene ist kursiv gedruckt
Breslau.
Ein älterer und besserer
Aesop
als der gewöhnliche des Planudes
aus
einer Augsburgischen Handschrift
gezogen ")
von Mad. Reiske.
1*. (i.) C. W. n [fol. B.]
]^ Aus dieser Fabel, welche ebenfalls die erste unter den sogenanten
Pianudeischen ist, hat Phädrus (I. 28)') auf alle Weise eine schlechtere
gemacht: eine schlechtere in Ansehung der Erdichtung; eine schlech-
tere in Ansehung der Lehre. In dem Griechischen ist die Erdichtung
wunderbar u. wahrscheinlich. In der Lateinischen fallt das Wunder-
bare ganz weg: es wäre denn, dafs man den Fuchs bewundem wollte,
welcher das Herz hat, von einem Altar einen Brand zu stehlen; denn
ganz etwas anderes ist doch noch imer, wenn ein Adler ein Stück
Eingeweide von dem rauchenden Altare höhlt, als woran ihn auch wohl
schwerlich die Opfernden, des Omens wegen, würden verhindert haben.
Und nun die Moral! Dort wird Selbstrache gelehrt und angepriesen;
und hier sieht man die Vorsicht selbst, auf ihre eigene Weise, den
Uebelthäter*) bestrafen. +
f Es soll aber diese Fabel nicht von dem Aesopus, sondern älter
als Aesopus, u. eine Erfindung des Archilochus *) seyn, ob sie schon
Aristophanes lOpvtmv v. 652)*) ojq h Älawnou kayotQ anführet. Dieses
sagt der Scholiast des Aristophanes, u. Apostolius in der Vorrede
zu seinen Sprichwörtern').
*) [Von späterer Hand (vgl. S. 89 A. 1) verbessert in ggnommsn.']
') [d. h. die erste unter den iälschlich sogenannten Pianudeischen der editio Ac-
cursiana.]
8 ist aus 9 korrigirt.]
Hdr.: übeiihäier\
^Bergk Poet. lyr. graec. ed quart. Archil. fr. 86 und 89.]
'5 ist aus 3 korrigirt.]
•)
^) [Paroemiogr. graec. t. II. p. 336 ed. Leutsch.]
Lessings Anmerkung^en zu den Fabeln des Aesop. 93
W [Zu S. I Z. II iTTi T^c <ip^^Q] Dafs iTre bey dem nehmlichen
Verbo einmal den Dativum u. einmal den Genitivum in der nehmlichen
Beziehung regiret, ist verdächtig. Hier also möchte der gewöhnliche
Text doch wohl der bessere sein, welcher*) dafür iTft zw r^g äfxovrjQ
inopip lieset.
(b) [Zu S. 2 Z. 5 xav zij]^ t(ov ijdtxrjiiivwv ixf>6a(oai xAXaaa/ dt' daäii^stav^
Der gewöhnliche Text hat x^u rijv ix twv ijdücfjpivwyf ipoywm rtfimpiav^ wo
das kx von ipuyoioi sehr unschicklich getrent ist.
2. [fol. la]
n* Unter den Neveletschen Fabeln die 207 te und bey dem
Aphthonius die i9te. La Fontaine (II 16)^) und Desbillons (I 3)*)
die sie neuerer Zeit nacherzählt, sind dem trockenen Aphthonius mehr
gefolgt, als dafs sie von dem naiven Schlufse, welchen sie hier hat,
hätten Gebrauch machen wollen.
[Zu S. 2 Z. 9 d.Tz6 TtvoQ liilrtjX^Q Tcirpag] (a) Der gewöhnliche Text
hat ganz unrecht dafür inh Denn xazaiträq im devolans in, flog herab
auf widerspricht sich ja wohl zusammen. Auch zeigt die Nachahmung
der Dohle*), dafs unser dni das richtige'*) ist; als die*) das Herab-
schiessen fiExä TtokXoü ßoH^oo für alles hielt, was zu der Sache gehöre.
[Zu S. 2 Z. 12 ifJtJrapivTwv* S'adT(py). *Dieses ifmapivrwv läfst
sich verth eidigen. Sollte es aber wohl nicht vielleicht besser ifuzla-
xivTwv 3' äoToo heissen. So wie es in der i84ten Fabel®) beym Ne-
velet in einem ähnlichen Falle gebraucht wird?
[Zu S. 2 Z. 13 fiaXiotQ am Rande der Abschrift fol. 1] 1. /idXXotQ,
[Zu S. 2 Z. 21 ^Ji] (b) Besser wohl 6q^), wie der gewöhnliche
Text hat.
[Zu afuUa ebenda am Rande der Abschrift fol. 1] i/ünXX^.
[Zu S. 2 Z. 22.] (c) Hingegen ist dieses ifTt aufifopatQ izpoarzqxat
yiXcinay gewinnt über das Unglück noch hinzu besser als das iv zalq
aofüfopcuQ xTqizai des gemeinen Textes.
3. (2.) C. W. 2.
I11-* Die 2te unter den Flanudeischen. Ein Jupiter, welcher sich
vergifst, sollte kaum eine des Aesopus würdige Erfindung zu seyn
scheinen, wenn wir nicht gewifs wüfsten, dafs sie schon in den ältesten
Zeiten unter seinem Namen bekant gewesen; indem Aristophanes
ausdrücklich darauf anspielt. {ElpijVfj v. 126)*®). In dem Leben des
1) [Hdr.: welche]
') [Fables mises en vers par J. de La Fontaine, livre II fab. 16: Le Corbeau vou-
lant imiter Paigle.]
>) [Franc. Josepbi Desbillons soc. Jesu Fabulae Aesopiae Hb. I fab. III: Aquila,
Corvus et Pastor.]
*) [Der Dohle steht über dem durchstrichenen : des Ra6en\
»j [Hdr.: richtiger]
•) [Hdr.: der]
"") [Diese Anmerkung ist nachträglich hinzugefügt.]
B) [S. 339 Z. I rwv xepärüfv aubtfj^ ifxTdaxivrwv toi^ xXddot^,]
*) [Lessing hat den Fehler aus der Neveletiana herübergenommen. J
94 Richard Förster.
Aesopus wird gesagt, dass er sie den Delphiern erzählt habe, als sie
ihn mit Gewalt aus einem kleinen Tempel des Apollo gerissen, in
welchen er seine Zuflucht genomen hatte').
[Zu S. 3 Z. 7 olxiniv.] (a) Oder vielmehr Jx^nyv, wie der gemeine
Text hat. OlxitTjv köiite recht seyn, wenn der Hase zu dem Käfer in
irgend eine Höhle seine Zuflucht genomen hätte, dafs ihn dieser für
seinen Hausgenossen ausgeben köhen, welches aber hier nicht gesagt
wird, wohl aber in dem gemeinen Texte: rcphq xokrjv Kav^dpou xarifufty
so dafs dort gerade obdrnvy so wie hier Ixinjy besser seyn würde.
[Zu S. 3 Z. 20 iXa&ev dnoppiiftoQi] (b) Hier scheinet td dtä rod dezou
und vielleicht ein noch Mehreres zu fehlen, wie Jupiter dem Adler
nicht anders helffen köiien, als dafs er die Zeit seines Brütens verlege,
weil der Käfer sich nicht versöhnen ^) lassen wollen. Denn der Sprung
sogleich auf das folgende ist zu unverständlich.
4. (3.) C. w. a
1V-* Die 3te unter den Pianudeischen. Sie scheinet aus der Fabel
des Hesiodus (A/>. v. 200)^ entstanden zu seyn, deren allzugemeine
Moral man in diese bestirntere umgeändert.
5. (4.) C. W.
V'* Die 294 te unter den neuem*) Neveletschen, fast mit allen
den nehmlichen Worten.
[Zu S. 4 Z. 16 üv 3vW /iSvov eo^e.] (a) Muss Jjv heissen.
[Zu S. 4 Z. 20 fJUJOjpuKQ id(b) {^Xeuz.l ^ Wie dieses ^d hier her-
ein gekomen, verstehe ich nicht.
6. [fol. 2 a]
VI.* Die i53te unter den Neveletschen; aber hier bey weitem
schöner u. besser erzählt. Der Hirt ist dort ein gar zu grosser Narr,
dafs er seine Ziegen gänzlich verhungern läfst. Auch die Lehre,
die hier aus der Antwort der wüden Ziegen selbst flieist, ist triflBtiger.
7.
VII.* Unter den Neveletschen die i55Ste, mit denselben Worten.
Nur dafs der Anfang dort sehr verwirrt also lautet: AUoopoQ dxooaoQ
iv um duXai^j ojq inauXae Kpvetq uotroum u. s. w. ^'EnoüXat üpvetQ hat
keinen Verstand. Vermuthlich ist also dolaia das Glossema von
enaüktg, oder dieses von jenem gewesen, und es hat geheissen, wie
hier ATXoopoQ dxouaoQ ojg iv rtui doXaujf. oder h rtvt inauXet SpvetQ voaooat.
Diese Fabel findet sich auch unter den Arabischen Fabeln des
*) [Pabulae var. auct. ed. Ncvel. Francofurti 1660 p. 78, 14 sq. = Fabulae Ro-
manenses graece conscriptae ed. Eberhard I p. 301, 12 — 303, x6. Vg^l. Vita Aesopi
ed. Westermann p. 54, 30 — p. 56, 6.]
•) [Hdr.: versohnen\
•) [Werke und Tage 201 — aia.]
^) [Nevelet bat die Zahl der bisdahin bekannten Fabeln verdoppelt.]
Lessings Anmerkung^en zu deo Fabeln des Aesop. %
Locman (Edit. Leidae 1615 p. 42)*), wo aber die Katze, oder wie es
mit Beybehaltung des Arabischen Wortes dort heifst, der Furo*),
welches ein Iltis seyn zu sollen scheinet, sich nicht in einen Arzt,
sondern in einen Pfau verkleidet, induta pelle pavonis').
8. _/_♦ [fol. 2 b]
Vlll'* Diese Fabel ist unserer Handschrift ganz eigen, und ich
glaube nicht, dafs man sie sonst irgends wird gelesen haben. Frey-
lich aber gehört sie mehr unter die Schnaken und Possen des
Aesopus, als dafs sie eine eigentliche moralische Fabel seyn sollte.
Doch ^) nun finde ich, dafs Hudson diese Fabel aus einem Ms.
GaU. herausgegeben; u. ist sie bey ihm die 3i2te. In*) dem Haupt-
mahschen Abdrucke p. 248®). Allein der Hudsonsche Text kan
doch wenigstens aus unserm sehr verbessert werden. Z. E. fiir
röv Sk 3ta ßooXoiJLevov lieset Hudson ganz ohne Verstand twv Sk
Sogar Aristoteles hat sie schon Meteorolog. XI. '') als wirklich vom
Aesop angeführt.
9. 12. C. W. 4.
IX-* Die vierte unter den Pianudeischen. Der Umstand, dafs
hier der Fuchs in den Bniiien fallt, anstatt dafs er mit dem Bock^)
zugleich herabsteigt, wie in dem gemeinen Texte, ist sehr wichtig.
Denn nur dadurch wird der Fuchs nicht selbst des Tadels würdig,
mit dem er den Bock verlacht. Oder kohte er es im voraus schon
ganz gewifs wifsen, dafs sich der leichtgläubige Bock so würde hinter-
gehen lassen*).
10. (13. C. W.) 5. [fol. 3a]
X'* IMe 5te unter den Pianudeischen. Erst i^ezapa^f^rj, hernach
ifoß^ÖTj: dieses ist befser als in dem gemeinen Texte.
11. m
XL* Die i30te unter den Pianudeischen'®).
[Zu S. 8 Z. 4 adiT^Tix^g i/z7recf)0Q(^~\ (^ Für adXijTtxfjQ i(xTtetpoQ hat
') [Locmani sapientis fabulae et selecta quaedam Arabum adagia cum interpretatione
ladna et notis Thomae Erpenii, Leidae 161 5.]
') [iUr FUro übergesetzt über ein durchstrichenes : die Furones, Letzterer
Plural steht in der lateinischen Uebersetzung Locmans.]
*) [Brpeoius: indutaque pelle pavonis venerunt (furones) eas (gallinas) visitatum.]
'*) [Diese Anmerkung ist nachträglich hinzugefügt.]
•) [Hdr. Ifk]
*) \_Mu^wy AlatoTteuav auvayaty:^. Pabularum Aesopicarum collectio. Exemplar
Oxoniense (Hudsonianum) de anno 1718 emendavit lo. Gottfr. Hauptmann, Lipsiae 1741.]
"*) [Lqssing hat das Citat der Hauptmannschen Ausgabe entnommen. Gemeint ist
Meteorol. 11., 3 p. 356*» u sq. ed. Berol.]
8) [Hdr.: J^ks]
') [Vgl. Leasings Kollektaneen zur Literatur, herausg. von Eschenburg. Bd. I
S. 453 und oben S. 90.]
>•) [Hdr.: Planuedische»]^
96 Richard Förster.
der gemeine Text höchst abgeschmackt*), und zum Nachtheil der
ganzen Fabel, äiis'jrcx^g aTretpoQ, Denn das war dieser Fischer doch
gar nicht, wie man aus dem Ende sieht. Sondern er war nur aufser
seiner Kunst auch ein Liebhaber der Flöte. AiOjp äXtsög o/jloü xai adlfiv
i7rt(:dfLSvoQ wie es Aphthonius*) ausdrückt.
12. [fol. 3b]
^[^ Die i62te unter den Neveletschen bis auf einige Kleinig-
keiten mit den nehmlichen Worten.
13. (7.) C. W. 13.
XIll^ Die ißte der Pianudeischen; geht auch nur in Kleinig-
keiten von dem gemeinen Texte ab.
14. A
^1^-* Auch diese Fabel erscheinet hier zuerst.
15. [fol. 4 a]
XV* Die i59te unter den Neveletschen.
[Zu S. 10 Z. 6 dvaSsvdpädoi^^'] (a) dvadevdpoQ, vitis arbustiva*). Dieses
Wort, welches der gemeine Text nicht hat, bezeichnet doch gewifser-
massen einen zur Sache noth wendigen Umstand, weil an ihren blossen
Stöcken die Trauben nicht so hoch zu hängen pflegen, dass sie ein
Fuchs nicht sollte erspringen köiien.
16. (5.) C. W. 6.
XVt* Die 6te unter den Pianudeischen. Sie ist vielleicht das
ältere Vorbild von der Fabel, der Wolf und das Lam, wenigstens
auf alle weise die schönere Fabel. Denn was brauchte der Wolf /Met'
sdX/tyoü ahlag das Lam zu fressen? Weit nöthiger hat das die Katze
gegen den Hahn, da sie beide häufsliche Thiere sind, und zusamen
in Frieden leben mufsten.
[Zu S. 10 Z. 24 df^opfiäg] äfop/iij Ausflucht, von Sppn]'
17. (14.) C. W. r
XVII»* Die 7te unter den Pianudeischen; meist mit den nehmlichen
Worten.
18. [fol. 4b]
XVIIL* Die i24te unter den Pianudeischen, mit geringer Ver-
schiedenheit; z. E. dafs der kleine Fisch dort eine IpapiQ heifst, welches
Wort beynahe unser Sckmerlt seyn könnte; u. hier eine MatvtQ heilst.
19. (15.) C. W
XIX^*) Die achte unter den Pianudeischen*).
[Zu S. 12 Z. 7] id)i/ia^ zh xdrm tou TmdoQ. Hesychius*). An der-
^) [Hdr. abgesckmaki]
Fabel 33 p. 347 ed. Nevel.]
'Aus Scapula, Lezicon Graecolatinum s. v. dMpou,']
Vgl. Kollektaneen I, 453 ff.]
Hdr.: Plaudeischen]
•) [Lex. s. V.]
Lessings Anmerkungen zu den Fabeln des Aesop. 97
gleichen eigenthümlichen u. Kernworten fehlt es dem gemeinen Texte
last iiner, welcher hier schlechtweg roug iiSdaQ hat
20. (ii.) C. W.
XX.* Die 9te unter den Pianudeischen*). In'^) dieser Fabel kan
ich den Punkt, worauf es eigentlich ankörnt noch nicht finden. In dem
gemeinen Texte heifst der Schlufs, wq ix naXatwv i-cwv ei yeyonvaatdvoq^),
21. (8.) C. W. Lfol-5^]
XXL* Die i7te unter den Planudischen.
22.
XXIL**) Die i27te unter den Planudischen, wo nicht besser doch
gedrungner hier erzählt.
23. (6.) C. W.
XXIII.* EHe zehnte unter den Planudischen').
[Zu S. 14 Z. 3 6tT«daW(9f>(a).] (a) Sollte es nicht vielmehr heissen
nbdaatp als äxt^daaml Denn ein wildes konte der Man doch nicht
sogleich unter den Hähnen gehn lassen.
rtbaaaib hat auch wirklich der C. W.*).
24.
XXIV.* Die i6ite unter den Neveletschen. [fol. 5 b]
[Zu S. 14 Z. 18 ?v TW« 8poo(^ xo£>laj/£ait(a).] (a) In dem gemeinen
Texte heifst es km xivoq dpub^ xodwfiara^ offenbar schlechter.
[Zu S. 15 Z. 4 &flüwer(b).] Diese Lehre, welche auch der gemeine
Text mit den nehmlichen Worten hat, ist offenbar die falsche; nijcht
die, um deren willen diese Fabel mit diesen Umständen ersonen
worden. Der sogenaiite '') Gabrias ®) hat dafür eine ganz andere, die
mir passender zu seyn scheint; nur Schade, dafs ich sie nicht so recht
verstehe, nehmlich: Tä dUdpta ndH^rj C^/^/ag ?öag ^tpaTzeiovrar. oder wie
das noch dunklere") Lateinische des Nevelet heifst Perniciosae ad-
fectiones aequas poenas demerentur.
25. (10.) C. W
XXV.* Die 86 te unter den Pianudeischen, fast mit den nehmlichen
Worten. Diese Fabel, aber mit wunderbaren orientalischen Erweite-
rungen, findet sich auch beym Pilpay ^®).
») [Hdr.: Plaudeischen\
«) IHdr.: Im\
*) [Vgl. Kollektaneen I, 455 ff.]
*) (Hdr.: XX*]
>) [Hdr. : Plaudischen, Vgl. Kollektaneen I, 458 f.]
^ Diese Zeile ist nachträglich hhizugefQgt]
^) [übergesetzt Qber ein durchstrichenes : y^j^A^]
^ [In der Neveletschen Ausgabe, Francofurti 1660 p. 382. Vgl. Babrii iab. 86
reo. Eberhard.]
•) [Hdr.: dunkelet^
'*) [Les fables de Pilpay, philosophe Indien, Paris 1702 p. 117 sq.: Fable De TAnge
Dominateur de la mer, et de deux Oiseaux appelez Titavi. Vgl. „Zur Geschichte der
Aesopischen Fabel** Hempel XI, 2, 1023.]
ZtMhr. £ Tgl. Litt^GeKb. N. F. VIII. 7
98 Richard Förster.
26. (9.) C. W. [fol. 6a]
XXVI* Die 87te unter den Pianudeischen. Diese Fabel ist zwar
gewifs nicht vom Aesop ; aber doch zuverlässig aus den ältesten Zeiten,
in welchen zu Athen die Redner die sich zu Demagogen aufwarffen
alles vermochten. Auf sie spielt Aristophanes entweder an, oder sie
ist aus seinen Worten genomenf
f Die Worte des Aristophanes^) führet Hudson*) an; aber ohne
zu sagen, wo sie stehen:
Onep yap ol toq iyj^ikstQ {^rjp€t}fjLevot^ idTcovi^aQ^
Ozav fisv i] Xlfivrj xaraarg, Xafißdvoümv oiidip,
Eäv de äv(o rt xai xdno zov ßopßopov xoxwaiv
Atpooat — —
[Zu S. 15 S. 26 xdX^py^) Xiäou eruTüTe rh Zdwpi^J] W d. i. Nachdem
er den Flufs von einer Seite zur andern mit seinem Netze überspant
hatte, band er einen Stein an einen Strick u. schlug damit das Wasser.
So klingt es hier sehr verständlich. Anstatt dafs der gemeine Text
dafür lieset: xai tö peupa TtepdaßwVy kxaripcDi^ev xakwdtip npoodijaoLZ Xt^ov
u. Nevelet*) übersetzt: et fluxu comprehenso, utrimque funi alligato
lapide. Das kxavepwdev gehört zu psüpuy welches er von einer Seite
zur andern überspahte, u. nicht zu xdi^,
27. (16.) C. W.
XXVIL* Die iite unter den Pianudeischen. Fast eben dieselben
Worte. Nur dafs dort anstatt der Werkstädte eines Bildners, ^ldc:otj^
die Wohnung eines Schauspielers steht, uTcoxpirdb^')] u. dafs was hier
rpajiodmv Tzpoömnov heifst, dort xo^aXrj poppoXoxtou genannt wird.
Im'') Griechischen klingt die Antwort des Fuchses weit natürlicher,
als im Lateinischen: quanta species, cerebrum non habet ^). Denn da
iirx£f>aXov, das Gehirn, eigentlich weiter nichts heifst, als das, was in
dem Kopfe ist: so sagt er auch eigentlich weiter nichts als: Was für
ein Kopf, und nichts darin.
28. tt
XXyilL* Die i8te unter den Pianudeischen. Wie unendlich besser
ist diese Fabel hier, als dort. Man kan sicher behaupten, dafs sie
hier allein in ihrer wahren Gestalt erscheint. Dort sind die Götter viel
zu grausam gegen den armen kranken Man, der ihnen in der Krank-
heit mehr verspricht als er halten kaä. Sich an ihm zu rächen,
ßouXS/jLevoi adrhy äuuuaaÖac^ schicken sie ihm den Traum. Hier aber
wollen sie ihn blos mit gleicher Münze bezahlen, ßouXS/aepoi duToy
») [Ritter 864 flf. Vgl. Wolken 559.]
*) [In den Annotationes quaedam et yariae lectiones seiner unter dem Namen Mariani
Oxford 17x8 veröffentlichten Ausgabe £u Fabel 87.]
•) [Hdr.: TteTtovi^ai]
*) Dieses Komma tilgte Lessing mit roter Tinte und setzte es hinter >l/i9ov.]
») [p. 159 fab. 87.]
«) [Vgl. Kollektaneen I, 459.]
^ [Vgl. dazu: Ueber den Phaeder, Hempel XI, 2, 10 18.]
8) [Phaedr. fab. I, 7, 2.]
Lessings Anmerkungen zu den Fabeln des Aesop. 99
duTißofJxoX^oai. Dieses Wort hat Scapula*) wenigstens nicht; es ist aber
von ßoDxoXiio^ welches soviel als demulceo, delinio heifst. Dort wird
er wirklich unglücklich u. die Seeräuber verkauffen ihn. Hier löset
er sich von den Seeräubern, und findet die Tausende, die ihm ge-
träumt haben; nur dafs es Spa^fiai waren.
29.
XXIX.* Die 12 te unter den Pianudeischen. [fol. 6^]
[Zu S. 17 Z. 8 ipiraCSfievogW-l (a) Welcher ein Haus suchte, eines
Hauses bedurfte, de domo laborans. Dieses ist weit schicklicher als
das im tiuoq dtx&v datag. Und eben, weil der Kohlbrener eines Hauses
bedurfte, wollte er sich bey dem Walker einmiethen. Er wollte nicht
den Walker, sondern der Walker sollte ihn aufnehmen. Wenn beides
hier auch schon auf eines hinauskomt, so ist es doch wohl der Ein-
träglichkeit der einen u. der andern Handthierung gemässer, dafs der
Walker ein eignes Haus hat, als der Kohlbrener.
30. 18. C. W.
XXX.* Die 25ote unter den Neveletschen; fast mit eben denselben
Worten, bis auf die Lehre.
[Zu S. 17 Z. 24 trjuifsauapjxouovW.] (a) Nevelet las: mjvtvaoT7]x6TQ}v^\
und Hudson lies dafür drucken auvvevaoa'pjxSnüv. Welches von den
dreyen ist das rechte?
31.
XXXI.* Die i65te unter den Neveletschen; simpel u. schön erzählt.
[Zu S. 18 Z. 8 dterihi ex noze nphq aMju 7rap£}iyeTo{^).] (a) Hier ist
alles gut und verständlich. Die ältere schämt sich, dafs ihr Liebhaber
der Jüngeren gleicher seyn soll, dtdou/iivrj veanipip adrTJQ irXrjatdUittv^
nehmlich zhv ävdpa^ illum propius ad juniorem accedere, und darum
suchte sie ihn ihr selbst näher zu bringen, dceriXet et ttote TtpoQ dmiju
Trapefivero nehmlich dvijp, und rifs ihm deswegen die schwarzen Haare
aus. Hieraus aber ist in dem gemeinen Texte geworden: xai ij pkv
^oßeßjjxüta^ didoo/jivTj vecozipav nkrjota^ew dietiXet, xai etnoTe nphq dozhy
TcapeytvBTo u. s. w. Sie schämte sich dafs die jüngere beständig bey
ihm war. Darüber hätte sie sich nicht schämen sondern ärgern
müssen. Sie schämte sich, dafs | [fol. 7»] er jener näher kam, ähnlicher
war, als ihr. Wenn ich ja in unserm Texte etwas ändern dürfte, so
wäre es, dafs ich anstatt dtdnupivrj veanipcp adrTJq TükrjaidCecv lieber lesen
möchte veairipcp dordv rckrjaidZecv.
Z2.
XXXII.*^) Die lößte unter den Neveletschen, bis auf einige Kleinig-
keiten völlig einerley. Vor*) i/«c steht dort dpdxmv.
*) [Scapula, Lexicon Graecolatinum s. v. xdlov!]
^ [Nur aus Versehen statt cüvytvüLuayTixdrwv, wie seine Uebersetzung ex connau-
fragis unus zeigt.] '
•) [Hdr.: XCT*]
*) [Vor statt für, wie 2u Fabel 130.]
100 Richard Förster.
33.
^^^*'^* Unter den Pianudeischen die i4te.
[Zu S. 19 Z. 2 ;r£vTÄ?y^c{a).] (a) Was TrivzaßXoQ hier solle, u. wie
ein Ttivra^XoQ zugleich kn dvav^pia (ßuecdiC^^/ievoQ sein köne, kan ich nicht
begreiffen. Auch fehlt in dem gemeinen Texte dieses ganze Ein-
schiebsel, u. es heifst*) blos dvr^p ng äirodr^fjyjaaQ, —
[Zu S. 19 Z. 13 i] 3C ipyiov Tcsipai^),] (b) d. i. Thaten, von welchen
man sogleich auf der Stelle eine Probe, Tcelpa^ ablegen kan. Tcecpa
ist so viel als dTrodei^eQ. Daher glaube ich auch, dafs in dem gemeinen
Texte, wo dafür stehet iäv fjoj 7rp6^etpoQ ^ to5 TtpdjumroQ anödet^ die
Negation pij besser wegbleiben kan.
34. 19. C. W.
XXXIV* Die i5te unter den Pianudeischen.
36. [fol.7b]
XXXV.* Die i26te unter den Pianudeischen, um wenig oder nichts
verschieden.
36. 20. C. W.
XXXVL* Die i6te unter den Pianudeischen.
[Zu S. 20 Z. 24 ejret fiBzä j^eipaQj Jj äm^oov Jj (i(f>ü]^ov(^J\ (a) ^ wpoj^ov
ist offenbar das Glossema von ärrpouv und muls ganz weg.
C. W. hat auch blos ä^u^ov^).
37.
XXXVIL* Die i64te unter den Neveletschen.
[Zu S. 21 Z. 8 TnjpoQiß,),^ (a) Dieses Wort, welches der gemeine
Text nicht hat, ist viel werth u. in ihm allein beruhet die ganze
Kraft der Fabel. Nevelet fand dafür in s. Manuscripte dvijp iipoaiHi- \
ai^eiQ [foL 8a], em Man gewohnt war. Mehr aber, weil die Wort-
fügung dieses Wort nicht dulden wollte, als weil er empfunden
hätte, dafs sonst noch etwas der Fabel abginge: wollte er dafür ge-
lesen wissen: dw^p itpitj^s, «c oder dv^p nozi nc'). Und so würden
nun freylich die Worte ziemlich zusainenhängen: aber was wäre es
denn auch besondres, dafs der Man das konte. Was er nicht fühlen
kohte, das*) sagten ihm ja die Augen. Also hatte ich schon, ehe ich
noch von der Lesart unsers Manuscripts wufste, geschlossen, dafs
der Man ein Blinder müfse gewesen seyn, wenn*) die Sache etwas
besondres seyn sollen, und sonach geschlossen, dafs man für dvi^p
TTpogef^cffdetQ lesen müsse dvijp nwpÖQ rtg. Dafs aber unser Ms. für Toopög,
SpÖQ lieset, kömt auf eines hinaus, denn eigentlich heifst zwar nrjpbQ
ofs verstümelt überhaupt mutüus, captus parte aliqua corporis
Hdr.: kei/s]
Diese Zeile ist nachträglich hinzugefügt.]
Kotae in fabulas Aesopi in der Ausgabe Francofurti 1660 p. 635.]
Hdr: da/s]
Hdr.: wen\
Lessings Anmerkungen zu den Fabeln des Aesop. 101
h xazd Tt fiipoQ zoo atcüfiarog ßeßXofjifiivoQ^), Doch heifst es auch insbesondre
oculis captus. Wie denn auch Hesychius TnjpSv durch t(>v navTanam
(xTj bptmna erklärt.
[Zu S. 21 Z. 12 wvög(b).] (b) Ob man aber für dieses xövoc nicht
lieber lesen mufste Xuxou^\ Denn ein junger Wolf war es doch. Und
wenn der Blinde geglaubt hätte dafs es auch ein Hund sein könte, so
hätte er ja so schlechtweg nicht sagen köhen, dafs es doch gewifs
ein Thier wäre, welches man nicht sicher unter die Schafe bringen
köne.
38. ♦_»
XXXVIIL* Auch dieses ist eine unbekante und noch nirgends ge-
druckte FabeL
39.
XXXIX.* Die 290 te unter den Neveletschen, aber anders erzählt.
40. (21) C. W. [fol. 8 b]
XL.* Die löpte unter den Neveletschen, fast mit den nehmlichen
Worten.
41. (17.) C. W.
XLL* Die i6ote beym Nevelet.
[Zu S. 23 Z. 9 Iva kaßofiivrj (»).] (a) Dieses iva kaßofiivrj^ hat der
gemeine Text, zum Nachtheil des Verstandes, in dvaXaßofdvrj zusamen-
gezogen.
[Zu S. 23 Z. II itpbQ ncuZo) am Rande fol. ?] 1. npoanaHiw una
voce.
42.
XLIL* Die 22 te unter den Pianudeischen, und dort fast besser
erzählt, als hier.
43. 22. C. W.
XLIU.* Diese nehmliche Fabel körnt zweymal unter den Planu-
deischen vor: Nummer 19 und 147. Am meisten aber stimt unser
Text mit der letzten Erzälilung überein.
44. 23. C. W. [fol. 9 a]
XLIV* Die 170 unter den Neveletschen; fast mit den nehmlichen
Worten.
[Zu S. 24 Z. 15 edij^etmi] itr^ßeta Einfalt.
45.
XLV.^ Die I7ite unter den Neveletschen, wo mehr als eines aus
unserm^ Texte verbefsert werden kan. Denn wenn es dort ä$oveg
•) [Die griechischen Worte stehen über den lateinischen. Vgl. Schol. 2, II. ß^ 599
und Scapula, Lexicon Graecolatinum s. v.]
*) [Halm fab. Aesopi 57 hat Lessings Verbesserung mit Recht in den Text auf-
genommen.j
') Hdr.: UMSe»\
102 Richard Förster.
rpiCouTeg im Nominative, anstatt der zwey Genitivorum heifst, so weifs
man nicht, wer den andern anredet, ob die Achsen die Ochsen oder
die Ochsen die Achsen. Und wenn dort der Pluralis d$oveQ steht, so
kan das folgende au nicht Statt haben — doch ich sehe nun, dafs
auch Nevelet *) beide Fehler schon eingesehen, u. so verbessert hat, wie
unser Ms. es bestätiget.
46.
XLVI.* Diese Fabel, welche schon') Plutarchf nach seiner Weise
erzählt, hat Hudson aus zwey Manuscripten in Frankreich nach ver-
schiedenen Lesarten edirt. S. Hauptmans Ausgabe S. 243. Unser
Text gehet den Worten nach von beyden Hudsonschen ab u. ist
des Schlusses wegen, wie die Soiie allmälich ihre Kräfte äussert, bis
sich der Wanderer auszieht u. badet, schöner.
f In seinen Ehestandslehren'), (/«//«« Tcapajye^fxaTa^)^ wo er sag^
dafs eben so von den Weibern nichts mit Sturm, wohl aber alles mit
Gelindigkeit und Güte zu erhalten stehe.
47. [fol. 9 a]
^^Z?-.* DiG 266 te unter den Neveletschen.
[Zu S. 26 Z. 14 dniyi^TjTai (a).] (a) Oder doch wohl mit dem g-e-
meinen Texte besser a^^ezat^ weil es besser auf die Fabel passt.
Hingegen scheint mir unser dno-avetv difj dem änatT7j(^7j dort vorzuziehn.
48. 24. C. W.
XLVIIL* Die 77 te unter den Pianudeischen. Dort heifst der
Vogel BoözahQ. Da aber Heusinger '^) in seinem Indice sagt: vox
suspecta, nee alibi lecta: so dürfte es wohl schwer auszumachen seyn,
ob ßoozahQ oder ßwzaXtq richtiger ist. Es scheint eine Wachtel bedeuten
zu sollen, und nicht eine Amsel, merula, wie es Camerarius über-
setzt hat.
C. W. lieset: BozdXyjv dm reuoq i^upidoQ xpefxofiivyjv eJdeu vuxrpcg^).
49.
XLIX* Die i3ite unter den Pianudeischen.
50. [fol. 10a]
L.* Die i72te unter den Neveletschen, fast durchaus mit den
nehmlichen Worten.
Zu S. 28 Z. 8 xard Trdura xdv rijv ipuatv dlXd^oxn.^ rbu ynov zp67Co\f od
fieraUdaffourn (a).] (a) Dieses kehrt der gemeine Text um, u. sagt:
xav zbv rpoTTov dlXd^ioatVy rijxf <p6<Tiv od peraßakkoomv. Ich weis noch
nicht, welches besser ist.
')
"Notae in fabulas Aesopi p. 633.]
') [Hdr.: son]
Hdr.: Estehandslekren\
[Coniug. Praecept. 12 p. 139 D = Fab. Aes. fab. 82 b ed. Halm.]
*) [Fabulae Aesopicae gfraecae quae Maxiino Planudi tribuuntur ed. Heusinger,
Isenaci et Lipsiae 1741, wiederholt 1756, im Index s. v. BooTaXtx:?^
*) [Diese Zeile ist nachträglich hinzugefügt.]
Lessings Aomerkungen zu den Fabeln des Aesop. 103
51.
LI* Die i42te unter den Pianudeischen.
[Zu S. 28 Z. 15 noLpaxoipavTOQ (a).] (^ Vielleicht besser TzpoKiiipavToc^y
indem, sie heraus guckte. Doch^) in der 28ten Pianudeischen Fabel
(in dieser Sammlung der Boten) wird TtapaxuilfaQ von einer Maus, die
aus ihrem Loche guckt, vollkomen eben so gebraucht.
52.
m.* Die 24te') unter den Pianudeischen.
53. [fol. 10b]
mi-* Unter den Neveletschen die i74te.
[Zu S. 29 Z. 36 e&xaTaYd}vi<:oQ (a).J (a) Dieses Wort, leicht zu über-
winden, ist weit besser, als das ioxata<pp6viro(; leicht zu verachten,
welches der gemeine Text dafür hat. Unser rdatjz ist auch wenigstens
eben so gut, als das dortige Aac«<nc» denn auch das simplex wird für
factio gebraucht.
54. _
LIV* Die 78 te unter den Pianudeischen, vollkomen mit den
nehmlichen Worten; aufser dafs Nevelet für ö5;rrc£') drucken lassen
(üTvza und Heusinger ^ttt«.
55. 28. C. W.
I^^* Die 79 te der Pianudeischen.
[Zu S. 30 Z. 9 npo(^ dXexTpüoywviaQ.'] (a) Dieses npo^ welches vor
dem Hahnengeschrey heissen würde, kah nicht recht seyn. Denn als-
dah hätte ja der Hahn nicht Schuld gehabt. Besser also mit dem
gemeinen Texte gelesen, npög: welcher auch für dhxrpuoycjvtaQ, dXe-
xTpoovonf f^dg, so wie unten für dXexrpüovcDv ^cjvijUy dX, &pav hat.
56. 29. C. W.
LVL* Die 80 te Fabel unter den Pianudeischen. [fol. 11»]
[Zu S. 30 Z. 23 xatvoTopiitsavxt(^^ im\ f xaivoTopijaauTeQ würde auf
die Ankläger der Hexe gehen. Es muls aber oflfenbar auf die Hexe
selbst gehen u. also heissen xatvoTopTjaau*). Und zwar mufs das Koma
darnach wegfallen; denn das xaivowjjrjaav gehöret zu im rä de?a, und
sie wird als res divinas inovantem angeklagt, welches bey den Alten
ein grofses Verbrechen war
[Zu S. 31 Z. 3 ToüT{p T(p XSytp — 5 d7reXi'jc^£Tat^.'\ (a) Dieses intfiö-
btov ist schlechter, als das in dem gemeinen Texte. Denn das heifst
den Fall der Fabel auf den Fall der Fabel anwenden. Dort hingegen
wird richtiger in dem einzelnen Falle einer viel versprechenden Hexe
*) [Die Worte doch — gebraucht sind nachträglich hinzugefügt.]
^ Vielmehr die aste.]
^ So hat die Abschrift der Frau Reiske.]
^) [Verschrieben hier und in der folgenden Zeile für xao^rofATjüaaav^ was Schneider
in den Text gesetzt hat.]
104 Richard Förster.
die Eitelkeit aller derer gezeigt, die grosse Dinge versprechen u. kleine
nicht leisten könen
iTTwSij. incantamentum
ßcoTTopiCo} victum paro. Scapula') fuhrt blos ßtonopc^ixog aus dem
Eusebius^ an
nXduoQ fraudulentus.
57.
LVIL* Die 2ite unter den Pianudeischen. Es körnt aber unser
Text weniger mit diesem, als mit einem andern Texte überein, den
Hudson zugleich aus einem Oxfordschen Manuscript hat abdrucken
lassen').
58.
LVIIL* Die 24te unter den Pianudeischen.
[Zu S. 32 Z. 3 nkeiimiW] (a) Dieses kah nicht recht seyn, [fol. IIb]
da kmäofiio) den Genitivum erfordert. Es mufs also wohl geheissen
haben 3ti ol vwv ävbp(07:w\fy 8tä TreptTzorepav nXetSvcov imf^upouvreQ. Oder
vielmehr — denn was ist nXeove^ia TreptTrArepa? Kan TrepiTrozepa nicht
das Glossema von TtAeiova seyn, oder dieses von jenem? — diä ttäeou-
B^iav TtepiTTOTspwv enSopoüvzeQ,
59. 25. C. W. /
LIX.* Die Site unter den Pianudeischen.
60. 26. C. W»
LX.* Diese nehmliche Fabel körnt zweymal unter den Planudei-
schen vor, Nummer 20. und 146 mit welcher letztern unser Text fast
wörtlich übereinkömt.
[Zu S. 32 Z. 16 TTJQ 0800 Wi\ (a) r^Q odou läfst der gemeine
Text nach xotto)^ weg. Es ist aber so besser. Denn er warf nicht
sowohl die Last wegen der Last, als wegen der Beschwerlichkeit des
Weges ab.
[Zu S. 32 Z. 20 (b).] (b) Dieses itavecv Sk 00 i^eXco ist höchst über-
flüssig; und der gemeine Text ist darin viel besser, dafs er es nicht hat.
61. 27. C. W.
LXl.» Die 82 te unter den Pianudeischen.
[Zu S. 33 Z. I äu ^äp 6 xatpdg fiszaXkd^ zijv fumv, xal eIq äXkaQ
Xpotaq poj^f^rjpaQ i$avaXa}{^7], od r^v y^)^ dkXä zijv zo^Tjy pip^ (*)] (a) Hier
scheint mir der gemeine Text besser zu seyn. Denn die Natur der
Zeit, und die Farben der Zeit, ist ein wenig Unsin.
e^vaXiopai. penitus resolvor, evanesco*),
62.
LXII.* Die i73te unter den Neveletschen.
^) [Lexicon Graecolatinum s. v. 7it$/>o?.]
Euseb. praep. ev. I, 5, 7.]
Pag. 17 fab. 21.]
*) [Aus Scapula, Lexicon Graecolatinum s. t. Xuw.']
Lessings Anmerkungen zu den Fabeln des Aesop. 105
63.
LXIII.*«) Die i8ite unter den Neveletschen. [fol. 12»]
[Zu S. 33 Z. 21 /i^(a)] (a) Dieses /iij ist sehr wichtig. Sie hörten
nicht zu, und eben darum straft sie Demades mit dieser Fabel. Es
ist^ unbegreiflich, wie der gemeine Text dieses //^ gar nicht haben,
auch kein Ausleger darauf verfallen könen, dafs es hier schlechter-
dings nothwendig sey.
64.
LXIV.* Die 25te unter den Pianudeischen.
[Zu S. 34 Z. 14 y;r^(a) tiov] (a) TrdvTwv^ welches der gemeine Text
hat, ist hier nothwendig einzurücken.
[Zu S. 34 Z. 16 de?,eaCo/ii]^{^] (b) Dieses SeXeaCofiiuTj illecta {dehap^
esca) gefallt mir hier nicht recht.
65.
LXV* Die 253 te unter den Neveletschen ; fast durchaus dieselben
Worte.
66. (30.) C. W.
LXVI.* Die 26 te unter den Pianudeischen. [fol. 12 b]
[Zu S. 35 Z. 12 xai dij rou npioTouip) TrepKTTratröiuzoQ] (a) Dieses mufs
auf den Koch oder Fleischer gehen, bey welchem die Jünglinge um
Fleisch handelten; dessen Erwähnung in dem Vorhergehenden also
fehlt. Oder soll für TrpwTou blos (layeipoo stehen?
C. W.') lieset auch wirklich fiayetpoo
neptoTtdü) h. 1. avoco
67. (31.) C. W.
I^VIL* Die 83 te unter den Pianudeischen.
sie sie
[Zu S. 36 Z. 2 dtwxopevog, eXeye. xäxetvoQ S fxij eopwvy e<p7j. äX}^
dmXioAaQ elneu (a) wozu Frau Reiske am Rande (fol. 13) bemerkt hat:
„hier mufs entweder etwas falsch geschrieben seyn, oder etwas fehlen.
Doch ist im Mst. keine Lücke.**] (a) Hier ist der Text allerdings ver-
stümelt, und nach iie'jre fehlt dnoXwkafieVj das übrige aber deucht mich
ist am besten so zu heilen, wenn l<p7j ausgestrichen, u. gelesen wird
xdxeivoQ 6 fjLTj e'jpcovj dXX dirohoXaQy elnev. alter vero, imo periisti, dixit.
68. (32.) C. W.
L5VIIL* Die 27te unter den Pianudeischen.
[Zu S. 36 Z. 15 xazadoerat ro axdipoQ npiorov xiv8uvvjov'^ — [fol. 13a]
Oder nicht vielmehr xaradiea&at^i und xfv^wveye«?*)
[Zu S. 36 Z. 17 odxixi *] ^ Dieses tu ist besser, als It« in dem
gemeinen Texte.
Hdr.: LX*]
ist fehlt in der Hdr.]
'Diese Zeile Ist nachträglich hinzugefügt.]
Das et ist aus 7^ verbessert oder umgekehrt.]
106 Richard Förster.
69. (33) C W.
LXIX.» Die 84 te unter den Pianudeischen.
70.
LXX* Die i43te der Pianudeischen. Die Eiche ist dort ein
Oelbaum.
[Zu S. 37 Z. II «ö^iocW] (*) Das kari') nicht seyn; die Eiche u. das
Rohr könen nicht irtpi Iö^6oq gestritten haben, d. i. wer von ihnen
beyden der stärkere sey. Sondern sie müssen Trept Iffj^ooq xat ^ou^iag^
welches letztere Wort der gemeine Text sehr wohl beyfugt, gestritten
haben. '//mjj[ta nehmUch hier für Sanftmuth und Nachgeben genomen.
Ob nehmlich das eine, oder das andere besser sey.
71.
5^??:* ') Die 22ote unter den Neveletschen. Dafs unser Text einige
Tautologien mehr hat, die Unentschlossenheit des Finders auszudrücken^
als der gemeine Text, will ich ihm eben für keine Schönheit anrechnen
lassen. Übrigens •) bestätiget er einige der Verbesserungen des Nevdet
vollkomen.
[Zu S. 38 Z. 7 fO];(d)/7]u; dfitfi-^Tougi^) ohizag deupo xn/juaov [fol. 13b]
Xaßeiv] (a) Warum hier die ohizai^ äptfi-qroi inimitabües heissen sollen,
ist schwer abzusehn. Ohnzweifel* ist also die Lesart des gemeinen
Textes äTteyu touq ohiraq, ich will gehen und; u. das übrige lese ich
dann ohirag deupo xo/jlI<jwi^^)^ meine Hausgenossen herbeyholen, Xaßetv
dipeiXovTaq zfj nokoitki/j^el doppa^^iav, welche mir durch ihre Menge beystehn
sollen; wenn man anders aoppa^^iav Xapßavttv sagt.
72. 29. C. W.
LXXIL^ Die i8ote unter den Neveletschen.
[Zu S. 38 Z. 15 xwßioQ (a)] (a) Der Fisch, welcher hier xiüßibQ
heifst, heifst in dem gemeinen Texte, beym Nevelet xdpoq u. beim
Hudson axdpoQ,
[Zu S. 38 Z. 19 Xdßiorai steht am Rande fol. 1^:] 1. Xdßwvrai.
78.
jLXXni* Die 85 te unter den Pianudeischen.
[Zu S. 38 Z. 33 psXiaaoöpyhv steht am Rande fol. 1^:] 1 oopytlov.
[Zu S. 38 Z. 23 pezeXi^wv ixeivouf^ dnovzoQJl (a) Wer? Sollte es
also wohl nicht heissen A7c peXiaaoüpYeUv ziq pezeX&wv pBXiaaoupxoi) dTrovzoq}
Oder simpler u. besser lug fiEXiaaoipyoüj was man nun darunter
verstehen will: So wie in der goten Fabel des Planudes (in dieser
Sammlung die 89 te) elq d^aXpazonoiou in statuarii domum. Und alsdann
ist ixiivoü hinlänglich.
«) [Hdr.: kan]
*) [Hdr.: LXX]
3) [Hdr.: UMgens]
^) [So schon mit Recht Nevelet in den Notae p. 639.]
Lessings Anmerkungen zu den Fabeln des Aesop. 107
74.
I^XXIY.* Die 88 te der Pianudeischen.
[Zu S. 39 Z. i8 sq. de^^fh äk ^taadfievoQ aÖTov^ olo/ievoQ ävÖpcDTüov
sie
shat (a) e^aaxe xdi (piXov aurbv xai oovijdTj feuiffi^aty wozu Frau Reiske
am Rande [fol. 14] bemerkt hat: „hier fehlt ohne Zweifel etwas; im
Manuscripte ist aber keine Lücke."] W Allerdings fehlt hier eine
ganze Stelle, welche der gemeine Text so ausdrückt: dTreXäcov duecj^e
dcoxofu^cDv ixrJ rr^v /epffoy. ^Üq 8k xaxa xhv Ustpaiä iyiveTOj rb tüjv Adrjvauov
iTüiusuov^ iTTüv&äueTo zoo mi^f^xoo, ic rb yivoQ ec^v 'AörjväioQ. Tau de etmvroQ,
xai XofiTTpwv iuTau&a Tszuj^ivat ptviwv, inavr^pezo, ii xai zhv üetpatä im(:azau
^TizoXaßwv de 6 mÖi^xoqy Trepc dvi^pwTioü dozbv Aeyetv, lipyjy xai pdXa ipiXov
elvat aozip xat u. s. w.
75.
LXXY * Die i84te unter den Neveletschen; fast durchaus die
nehmlichen Worte.
[Zu S. 40 Z. 1 1 xazä nokb adzou npoelj^e. (a) pe)[pi fiku obv u. s. w.]
(a) Hier fehlt also sehr wohl das unnütze Einschiebsel, welches der
gemeine Text beym Nevelet hat, u. welches schon Hudson ausgelassen.
76.
LXXVI.* Die 63 te unter den Pianudeischen.
[Zu S. 41 Z. 5 xazrjiK^dpjaavW] (a) xazeu(:o/iw hat hier seine
eigentliche Bedeutung: d. i. sie sehen nnd treffen ihn. Aus der
figürlichen [fol. 14 ^J Bedeutung, errathen, ist daher ohne Zweifel
die Lesart des gemeinen Textes entstanden: zoozoo ^o^aadpevot, dozrjq
xarezo^euaav, d. i. sie merkten das (nehmlich dafs der Hirsch nur ein
Auge habe) und erschossen es. Ob die in dem Schiffe das merkten,
oder nicht
77.
LXXVII.* Die 64 te unter den Pianudeischen.
78.
LXXYIII.* Die 65 te unter den Pianudeischen.
[Zu S. 42 Z. I q[>afe'iaa\ Dieses (^patpelaa will mir hier nicht ge-
fallen. Sollte es nicht etwa heissen XaSooaa.
79.»)
LXXIX.* Die 272 te unter den Neveletschen.
sie
[Zu xadä i$ dnpoadox7jzoü\ xa9ä s. xa&dnep veluti ac. [fol. 15a]
80.
LXXX.* Die 28 te unter den Pianudeischen.
[Zu S. 42 Z. 14 xazä zwv önwv l^yv«y(a).l (a) Sie begaben sich in
ihre Locher; als dafs sie in dem gemeinen Texte zu einander sagen:
') [In Schneiders Ausgabe p. 42 nicht mit abgedruckt.]
108 Richard Förster.
ItTjxiTt xaviü xaTiX9o)fi£v: wir wollen nicht mehr herunter körnen. Denn
warum konte denn die Katze zu ihnen nicht heraufkomen? Es streitet
dieses auch sogar dort mit dem folgenden, da es von der Katze wie
hier heifst, dafs sie für nöthig befunden, die Mäuse dt imvoioQ 4T0f>tC^/ji£WfQ
ixxaUaaai^at herauszulocken^).
81.
LXXXI.* Die 88 te unter den Pianudeischen.
[Zu S. 42 S. 25 ix^oSiuTi steht am Rande (fol. IÖ)] 1. ?>evrr>c
82.
LXXXII* Die 29 te unter den Pianudeischen.
[Zu S. 43 Z. 15 Xaj^elvi^).] (a) Oder vielmehr ^«/eTv, [fol. 15^]
von lay/dvco adipiscor.
[Zu S. 43 Z. 19 Toia6r7j\f vjpj\f(}^) ^x^ov.'] (b) Der gemeine Text hat
dafiir fxwpiau; und das dürfte auch wohl das bessere seyn.
83.
LXXXIIL* Die 66 te unter den Pianudeischen.
[Zu S. 44 Z. 6 dvaTTrepcji^elg] dvaTüTepow, ich mache Flügel, Muth.
84. ♦%
LXXXIV\* Diese Fabel kömt sonst nirgends vor.
[Zu S. 44 Z. 21 poTraXotg] /fOTraioVj clava.
86.
LXXXV.* Die 201 te unter den Neveletschen.
[Zu S. 45 Z. 17 w^eXoUawW,^ (a) Der gemeine Text hat [fol. 16»]
eine ganz andere Moral, die zu dieser Fabel gar nicht pafst. Diese
hingegen pafst vollkomen: gegen Freunde nehmlich, von denen man
nichts hat, als was man mit dem Maule bey ihnen davon bringen kah.
86.
LXXXVL* Die i79te unter den Neveletschen; aber mit einer
andern Wendung, durch welche die überflüssige Ziege, und der hier
nicht zu vermuthende Fuchs aus dem Spiele bleibt.
87.
LXXXVII* Die 203 te unter den Neveletschen.
[Zu S. 46 Z. 5 fiopaivü}.] Der gemeine Text hat für unser fiopaivo}^
popffivwyi, und die Lexica') haben po^ptviov aus dem Aristophanes.
88.
LXXXVIIIL* Die i36te unter den Pianudeischen. Was in dem ge-
meinen Texte ein Huhn ist, ist hier eine Gans. Und der Umstand,
welcher unserer Handschrift eigen ist, dafs Merkur einem seiner eifrigen
Verehrer [fol. 16 b] eine solche Gans geschenkt, ist nicht ohne.
*) [Hdr.: kerrausguiocken.^
') [So Scapula, Lexicon Graecolatinum s. v. fiupro^^
Lesslogs Anmerkungen zu den Fabeln des Aesop. 109
[Zu S. 46 Z. 17 e&uaev a^Jr^vCa).] (a) Das mufs doch noth wendig
äüzbv heissen. Denn hier ist es ja pjv^ nicht SpviQ. Und jenes ist, so
viel ich weis, nur ein Masculinum, und auch in dem vorhergehenden
bereits als ein Masculinum gebraucht*).
Was nun gar die Worte 0 pjy oudku dfie/Jjaaq hier heissen sollen,
verstehe ich nicht. Auch nicht was es helffen würde, wenn man
iiekXijffaQ dafür läse*). Eher könte ich noch jene erklären: Obschon die
Gans nichts vernachlässigte, d. i. täglich ihr goldenes Ey legte.
89.
LXXXIX.* Die 90 te unter den Pianudeischen').
[Zu S. 47 Z. 9 Ttzpi noX6S\ — oder TroiXou.
[Zu S. 47 Z. 12 npoai^xev steht am Rande fol. 17] | rjv.
90.
XC* Die 91 te unter den Pianudeischen*). Ich bin noch nicht
recht gewifs, worauf es bey dieser Fabel eigentlich ankörnt. Etwa
darauf, dafs Merkur dem Tiresias*) beidem^ Erscheinungen nante,
woraus für den gegenwärtigen Fall nichts zu schliefsen ; und das zweyte-
mal gar eine Krähe xopwvrj anzeigte, von welcher ein jeder wufste*),
dafs sie olmvioixhv oox h/etj wie auch in der 98ten Pianudeischen Fabel
ausdrücklich gesagt wird? Schlofs er also daraus, dafs der Man, dessen
Augen er sich itzt bediente, ihn nur zum besten habe, u. wohl selbst
der Dieb seyn möge.
91.
XCI.» Die iSSte unter den Neveletschen. [fol. 17 a]
Zu S. 48 Z. 21 Iv^abeurrjö] — die gemeine Lesart ist htzdarjQ.
Zu S. 48 Z. 26 dXXä xcu j<Jov^] * In dem gemeinen Texte wirft
sie den Fröschen blos vor, dafs sie ihr nicht geholflfen: hier aber, dafs
sie ihr nicht allein nicht geholffen, sondern auch noch dazu gesungen.
Ich zweifle aber ob'') dieser®) letzte Umstand viel taugt, und echt ist.
92.
XCIL* Die 2 löte unter den Neveletschen.
[Zu S. 49 Z. n rj fdruTj TipoadTjaaiW] (a) vfj <pdrvrj irpnadrj' [fol. 17^]
öatf an die Krippe binden, ist wohl zu gelind. Der gemeine Text hat,
äva^ayetv TrpoQ rou TTukojya xat tout<jj fJr^ffat. Welches Nevelet übersetzt
in pistrinum abduci. Aber Tzukwu heifs doch nur atrium*).
«) [Hdr. : geiracki.]
•) [Frau Reiske hatte am Rande ihrer Abschrift (fol. H) die — durchaus richtige — Ver-
mutung notirt: 1. fi£Xkriüa<;!\ *
*) [Vgl. Laokoon Cap. VH Anm. 5. Kollektaneen I, 469.]
) \yz^' Kollektaneen I, 471 und dazu meinen Aufsatz im Rhein. Mus. Bd. 50 S. 75.]
») [Hdr.: Tkiresias]
^ [Hdr.: wüste]
») [Hdr.: oder]
») [Hdr.: diese]
*} [Scapula, Lexicon Graecolatinum s. v. mXr^.]
r
110 Richard Förster.
[Zu S. 49 Z. 13 7ref6xa(nv\] * Die Moral in dem gemeinen Texte
ist ganz falsch. Diese ist besser aber doch auch nicht die ganz adäquate.
98.
XCIII.* Die 92 te unter den Pianudeischen, wo die in unserm Texte
verstümelte Stelle allerdings richtiger und besser lautet.
94.
XCIV.* Die iSjte unter den Neveletschen *).
Unser Anfang ist weit schöner als der gemeine Text. Sie bat
alle Werkzeuge um ein ipavov, und bekam von jedem etwas. Nur als
sie zur Feile kam —
ipavov heifst überhaupt eine Beystetier, und es brauchte eben
nichts zu essen zu seyn.
[Zu S. 50 Z. 6 inoh steht am Rande fol. 18] | p,
95.
XCV."^ Die 269te unter den Neveletschen mit den nehmlichen
Worten.
96.
XCVI.* Die 93 te unter den Pianudeischen. [fol. 18»]
[Zu S. 51 Z. 12 ä.Trrj'j^^oi}\ - ATrej^^dyjj,
97.
XCVIL* Die i86te unter den Neveletschen; eben dieselben Worte.
98.
XCVIII* Die 94 te unter den Pianudeischen.
[Zu S. 52 Z. 2 "EptfOQ üOTtprjaaol Es ist wohl das ungewöhnlichere,
dafs ipKpoQ in dem gemeinen Texte ein Femininum ist.
[Zu S. 52 Z. 5 ddS^ioqW] (^) Der gemeine Text hat dafür dayc^Äc;
ich weifs nicht ob besser.
[Zu S. 52 Z. 9 paxeXXdpiovi^^ (b) befser, als fxdyetpou^ wie er sich
dort nent.
99.
XCIX/* Die 151 te unter den Neveletschen. [fol. 18^]
[Zu S. 52 Z. 24 h Xo-jfOQ SrjXol — ol xacpol*.^ * Die Moral des ge-
meinen Textes TrpÖQ ävdpa äla^poxepd^ xai w itsTov ntpuppo)^oij\fza ist ganz
unrecht, wenigstens viel zu weitläufüg: ob aber auch unsre die völlig
adäquate ist?
100.
C* Die i93te unter den Neveletschen.
[Zu S. 53 Z. 7 xipaq ^ivra^ ^ xipaai pyj dtwa mufs dieses ja wohl
offenbar heissen. So wie auch das folgende wu ruTcrety nicht so gut
I) [Hdr.: Neoeüischen.]
Lessings Anmerkung^en zu den Fabeln des Aesop. 11 1
ist als *) das gemeine ttoü WTcret^ ob es sich gleichwohl noch entschuldigen
liefs, Ufn des^) Siossens wahrzunehmen,
[Zu S. 53 Z. lo f>avepoüvreQ et n Ixa^oQ xarä vo5v ^X^^'~^ — Dieses
ist offenbar allein die wahre Lesart, wofür der gemeine Text ganz
ohne Verstand lieset ipavtpmv Sk et n ixa(:ov wu /elav s^e^ quorum re-
cessus habent et latibula. Die vorgeschlagenen Verbesserungen des
Nevelet*) taugen auch alle nichts. Am allerseltsamsten *) aber ist es,
dafs Hudson*) aus /elav /peiav gemacht.
101.
CI* Die 191 te unter den Neveletschen.
102.
CII* Die i85te unter den Neveletschen. [fol. 19»]
[Zu S. 54 Z. 1 1 (Je?f steht am Rande fol. 19] | ou.
[Zu S. 54 Z. II 8i^e)^ dpo^avTtQ (mr/iaeov Troc^aouat,^ * Dieses ist
ohnstreitig'') wohl die rechte Lesart. Er sollte ihnen zeigen, wo sie
sich eine Höhle ausgraben köiiten; und nicht, wie der gemeine Text
hat 69eu nXiov dvrjamatUy wo es ihnen am meisten helffen köhte. Denn
wie pafste denn hierauf der endliche Bescheid der Erde? Wohl aber
pafst er auf eine Höhle. Sie mögen so viel Erde ausgraben als sie
wollen, so sollen sie mir sie doch mit Seufzen und Klagen wieder-
geben müssen. Was thut man auch anders, wenn man eine Höhle
gräbt, als dafs man hier der Erde etwas nimt, was man ihr doch
anderwerts wiedergeben mufs. Und so pafst nun auch die Moral.
103.
CIIL* Die ipote®) unter den Neveletschen.
104.
Ory* Die i97te unter den Neveletschen.
[Zu S. 55 Z. 5 Stizpißs*,'] ^ Dieser ganze schöne Anfang, auf welches
es doch in der Fabel sehr mit ankörnt, fehlt in dem gemeinen Texte.
Wie denn dort überhaupt von dieser ganzen schönen Fabel kaum der
Schatten geblieben ist.
Die Moral des gemeinen Textes ist nun vollends ganz unsinig,
obgleich auch unsre nur einen Theil der Fabel erschöpft.
105.
CV^ Die io5te unter den Pianudeischen. [fol. 19l>]
•)
"Hdr.: as]
lldr.: tUn]
Üebersetzung Nevelets p. 345.]
In den Notae p. 636.]
Hdr.: allerseltsam\
In der Ozforder Ausgabe Hudsons steht zwar x^^^ ^^^ ^^ ^ XP^*"^ ^^'
lan^e, zeigt seine Uebersetzung palamque fieret quod cuique opus sit]
') [Hdr.: onksirnHg\
•) [Hdr.: tp6\
112 Richard Förster.
106.
CVI/^ Die iSpte unter den Neveletschen.
[Zu S. 56 Z. 15 ee ri/v t6][7jv fJtzraXkdJzaoa fiereßdkXtTO, (a) xcä rijv ffo/.]
(a) Dafür hatte Nevelet drucken lassen et rrjy (l^opj)^ [israiJid^aöa xai XTjy
Yha^p6TifjTa fiereßäUsro, Dafs für .^^/^y schicklicher hier zu lesen sey
Tupjv, hat er in seinen Noten ^) gesagt, u. Hudson hat To^yjv in den
Text genoräen. Ob aber aus dem gemeinen Texte ttju '^^ua^porjjza in
unsern') Text aufzunehmen? Nothwendig ist es nicht: und j'Xta^poTTjQ
tenacitas') dürfte schwerlich für die füchsische Eigenschaft das rechte
Wort seyn. Wie wenn man*), um das ipfJ/rjv des gemeinen Textes
auch zu retten, lesen wollte ie ttjv to^tjv fiBTakXdSaaa xai zijv ^opjif} oder
ipiawl **)
[Zu S. 56 Z. 21 Jiji'fvCb).] (b) Dieses oipv^ heifst in dem gemeinen*)
Texte weit besser raftv.
107.
Cyil* Diese Fabel ist noch nirgends gedruckt. [foL 20 »]
108.
CVIll* Die io4te unter den Pianudeischen.
sie
[Zu S. 57 Z. 13 dta rac ^X^^^-^ ^^ Dafür stehet in dem gemeinen
Texte ohne allen Verstand 8ia xoo o)^Ioü, Die bewufste Verbesserung
dieser Stelle').
109. V
CIX.* Auch diese Fabel ist griechisch noch nie gedruckt. Gleich-
wohl findet sie sich unter den Arabischen Fabeln des Ivokman, (Edit.
Leidae 161 5. p. 20)®) und dieses ist ein Beweis, dafs auch die andern
Lokmanschen Fabeln, die unter den itzt bekaiiten Griechischen
Fabeln nicht befindlich, denoch aus dem Griechischen köhen ge-
nomen seyn®).
110.
CX.* Die i94te unter den Neveletschen.
[Zu S. 58 Z. 16 "0 XAroq — vhv Tp^Ttoi^*) ♦ Anstatt dieser [fol. 20 b]
gehörigen Moral hat der gemeine Text eine ganz andere; und was
sehr merkwürdig ist, die Moral der gerade vorher gehenden Fabel.
Woraus also erhellet, dafs Planudes seine Sainlung wenn nicht aus
diesem, doch einem andern ebenso geordneten Ms müsse gezogen haben.
i) [p. 626]
') [H
Hdr.: unser]
s) [Hdr.: tenaciius]
«) [man fehlt in der Hdr.]
') [oder ^puütv? ist nachträglich hinzugefügt.]
•) [Hdr.: gemein\
^) [dta TOü ^t9o</ Kollektaneen I, 472 vgl. S. 233 ff. Schneider hat die letztere An-
merkung Lessings mlsverstanden, dafür aber das richtige ikä roo äp^oo gefunden.]
B) [Homo et Idolum.]
•) [Vgl. zu Fabel 7 und 135.)
Lessings AnmerkungeD zu den Fabeln des Aesop. 113
111.
CXI.* «)
[Zu S. 58 Z. 22 ißa6fiaffEv(}d] (a) Dafür möchte das gemeine
hoAavtCev doch wohl besser seyn.
Zu S. 58 Z. 23 7ca/>^ dv — äj-etW.] (b) Dieses Ttap' 8v — äyet fehlt
dem gemeinen Texte zum grofsen Nachtheil des Verstandes.
Zu S. 59 Z. 4 iTcAveegiC').] (c) d. i. wenn du damals gearbeitet hättest.
Dieses ist weit besser als das gemeine STü^vetQ wenn du mich gelobt
hättest.
112.
CXII.*^ Die 30 te unter den Pianudeischen.
113.
CXIU* Die 3ite unter den Pianudeischen. [fol. 21»]
[Zu S. 59 Z. 23 ixxoficCofiiv^ nu) rwv olxelwv*.] * Dieses sollte ja
wohl vielmehr heissen ixxofjuCo/iivotJ nv^ twv obceicov^) als einer von
seinen Anverwandten oder Bekamen zu Grabe getragen wurde. In
dem gemeinen Texte hat eben der Arzt, welcher den späten Rath
giebt, den Verstorbnen auch in der Cur gehabt. Aber das ist ganz
unschicklich.
[Zu S. 60 Z. 4 ](pi] wbg f^üofjQ,] - SoUte es nicht vielmehr heissen
114.
^^V'* Die 32 te unter den Pianudeischen.
115.
CXy/* Die 95 te unter den Pianudeischen.
116.
CXVI.*
[Zu S. 61 Z. 14 inof9a^iCour£g\] ^ Besser als das [fol, 21^]
f9o]fouvTe^ Denn das Camel beneidete dem Stiere die Hörner eben
nicht; es wollte sie nur auch haben.
117.
CXVIl.* Die 33 te unter den Pianudeischen.
[Zu S. 61 Z. 18 iu icßüTj yeu6fievou(9).'] (a) Dieses ist gar nicht wahr,
u. dürfte also leicht aus dem iv XifivatQ dtaaw/ievov y wie der gemeine
Text lieset, entstanden seyn.
118.
^?7?J-! Diese nehmliche Fabel, aber mit andern Worten, kömt
nicht unter den Fabeln vor; aber wohl in dem Leben des Aesopus,
wo dieser seinen Herren den Xanthus mit der Auflösung der Frage
>) [s= Nevel. fab. 248.]
•) [Diese Verbesserung, ebensowie die folg^ende wH^ ^üoc^^ hat Schneider, ohne
Lessing zu nennen, in den Text aufgenommen.]
Ztachr. f. TgL Litt.-GeK:b. N. P. VIU. 8
114 Richard Förster.
vertritt, die dort ein Gärtner thut, anstatt dafs sie hier an den Gärtner
gethan wird. (Pag, 27. Edit Nevel. *))
119.
Cxix.* Die 67 te unter den Pianudeischen.
[Zu S. 62 Z. 19 dXX EycoYe ä$ta* . , . niTrovf^a^).^ * hier kah wohl
nichts fehlen. Aber was die folgenden (tou und tre sollen, verstehe
ich nicht. Der Verstand ist gut u. richtig, wenn man sie gerade
wegstreicht.
120.
CXX* Die 96 te unter den Pianudeischen. [fol. 22»]
[Zu S. 63 Z. 2 aiiooaoQ (a).] (a) Dieses Beywort verdiente dieser
Virtuose gleichwohl nicht, eben so wenig als das dfuijQy welches ihm
der gemeine Text giebt. Denn sein Fehler war doch nur der, dafe
er in einem engen Zimer blos zu singen gewohnt war, wo durch den
Widerhall der Wände die Stime vermehrt wird, so dafs er sich
fff63pa hjipcavoQ valde canonis, stark genug von Stime zu seyn glaubte,
um sich auf einem offenen Theater hören zu lassen. In der Appli-
cation der Fabel wird auch gar nicht angenomen, dafs die Rhetores,
die sich nur in den Schulen geübt, in ihrer Kunst und den Musen
ganz fremd sind: genug, dafs es ganz etwas anders ist in der Schule
etwas vorstellen, u. zu Verwaltung der öffentlichen Geschäfte tauglich
seyn. Wie also wenn das d<por^Q eigentlich geheissen ufwvog, u. dieses
äf(üm<: blos dem eufxovoQ entgegengesetzt wäre.
[Zu S. 63 Z. 8 iva^oXeig steht am Rande fol. 22:] l. iv (Tj(oXacQ.
121.
C^XI* Die 97 te unter den Pianudeischen.
[Zu S. 63 Z. 19 if ere/>ö>i/.^] * Dieses i$ kripwv ist ein sehr un-
nöthiger Zusatz.
122.
CXXII.» Die 205 te unter den Neveletschen.
[Zu S. 64 Z. I dfiftyyovTegi^,] W Sie wufsten nicht was sie daraus
nehmen') sollten*). Besser als das gemeine dp^oouvTeg.
123. [fol. 22 b]
CXXIII* Die 208 te unter den Neveletschen, fast mit den nehmli-
chen Worten, bis auf den Schlufs.
124.
???I^i! Die 98 te unter den Pianudeischen.
») [= Fabul. Rom. ed. Eberhard p. 248, 8 sq. Vgl. Vita Aesopi ed. Westenn.
p. 21, 24 sq.]
*) [Dieses 7re7n>t/t9a hat Schneider fälschlich weggelassen und Fragezeichen hinter
ä^ta gesetzt.]
8) [Hdr.: neAn (?)]
*) [Hdr.: so/Ae.\
Lessings Anmerkungen zu den Fabeln des Aesop. 115
[Zu S. 65 Z. 5 eiQ Ttg] - ecQ uq: ist nicht eins genug?
125.
CXXV.* Die 204te unter den Neveletschen.
[Zu S. 65 Z. 13 7teiteipof}_ steht am Rande fol. 23:] q
uAüvl^oQ^)^ grossus, ficus imatura.
126. [fol. 23^1
CXXVI*. Die 99te unter den Planudeischen. In dem gemeinen
Texte opfert die Krähe der Minerva, welches nicht übel ist; anstatt
dafs hier gar nicht gesagt wird, wem sie opfert. Auch scheinet*) mir
hier das datfiwv eine späte Mönchsänderung zu seyn.
127.
CXXVIL* Die loote unter den Planudeischen.
[Zu S. 66 Z. 7 dno&vijxetv steht am Rande fol. 23.-] | a
[Zu S. 66 Z. 1 1 mi\ — Das xcu ist überflüssig.]
128.
CXXVIIL* Die loite unter den Planudeischen.
129. [fol. 23 bl
CXXIX* Die 206 te unter den Neveletschen. Wenn diese Fabel
von dem Aesop ist, so war die Fabel des Menenius Agrippa wohl
aus ihr genomen.
130.
CXXX* Die io2te unter den Planudeischen. Mit den nehmlichen
Worten, bis auf Kleinigkeiten.
[Zu S. 67 Z. 19 xai aoycTjpiaq c:tprjaaQ,\ — Vor*) xai awrrjptaQ hat
der gemeine Text besser r^g Cß'TC-
131.
CXXXI.* Die 2i5te des Nevelet.
132.
CXXXII.* Die 2i3te der Neveletschen. Der An&ng des gemeinen
Textes ist aus diesem zu verbessern, da des Nevelet*) Verbesserung,
die Hudson in den Text genommen, nur so so ist.
133.
CXXXIII.» Die 35 te unter den Planudeischen. [fol. 24»]
134.
CXXXIV.* Die 2iite unter den Neveletschen.
135. •*_♦
CXXXV.* Auch diese Fabel ist noch nicht griechisch gedruckt.
')
^
»)
*)
Aus Scapula, Lexlcon Graccolatlnum s. v.]
'Hdr.: semet]
Statt für. Vgl. zu Fabel 32.]
Votae p. 638.]
8*
116 Paul Bahlmann.
Sie körnt aber ebenfalls unter Lokmans Fabeln vor, u. ist ein
zwey ter *) Beweifs, dafs allem Ansehn nach diese Arabischen *) Fabeln
alle aus dem Griechischen übersetzt sind. (p. 40.)')
136. [fol. 24bl
CXXXVI.* Die 2i7te unter den Neveletschen, wo aber die Moral
ganz anders ist, und ohne Zweifel besser seyn würde*) wenn sie nicht
verstümelt wäre. Nehmlich "Ün rotjQ ioxakselQ'^) xae ddo^ouq xai fia;(o(zivoi}g
TupävuofjQ iUy/6t h koyoQ. Sic inglorios et infames homines et pugnantes
tyrahos indicat fabula. In den Noten ^j sagt Nevelet: Verbotenus inter-
pretati sumus corruptum hoc irt/iu^iov. Allein iuxahetQ durch in-
glorios übersetzen, heifst doch wohl nicht wörtlich übersetzen. Hudson
änderte dieses also in dx?.e£7Q. Da'') ist aber auch seine Kunst hier
alle, und die Lehre bleibt wie sie war*). Mit einem einzigen Buch-
staben denke ich, ist ihr zu helfFen; man lese nehmlich nur für zupdvifouQ^
TopdvvoiQ^). Also gegen unberühmte schlechte Leute, die mit mächtigen
Tyranen hadern wollen, die nicht einmal wissen, dafs sie existiren.
137.
CXXXVII.* Die 57te unter den Flanudeischen.
138.
cxxxvm*
«>«
Des Petrus Tritonius Versus memoriales.
Von
Paul Bahlmann.
Dem aus Brixen im Etschlande (Athesia) gebürtigen Petrus Tritonius*)
war, nachdem er in Padua humanistische Studien gemacht und den
Grad eines Magisters der freien Künste erworben, in seiner Vaterstadt
*) [Vgl. zu Fabel 109.]
«) [Hdr.; Araiische]
*) [Dieses p, 40 bezieht sich auf die Ausgabe: Locmani fabulae cum Interpret.
Erpenü, Leidae 161 5, wo p. 40 die Fabel mit der Ueberschrift Canis et Lepus steht.]
*) [In der Hdr. fehlt wurde\
*) [Hier und im folgenden verschrieben statt zuxXBEit;^ was Nevelet fälschlich statt
dotl^uz bietet]
')
')
«)
')
p. 628]
Hdr.: Das\
Die Hdr. hat, allerdings etwas unleserlich: wakr?^
Auch Vermutung Heusingers und als solche von Ernesti in seiner Ausgabe
(Leipzig 1781 p. 160) in den Text gesetzt.]
*) Über ihn s. A. W. Ambros, Gesch. der Musik. Breslau 1868 III, 376 und 378;
J. v. Aschbach, Gesch. der Wiener Universität. Wien 1877 II, 80, 249—452 und 437.
Des Petnis Tritonius Versus memoriales. 117
die Leitung einer lateinischen Schule übertragen worden. Da er aber
nicht nur für einen in den klassischen Schriftstellern belesenen Ge-
lehrten, sondern auch für einen ausgezeichneten Musiker galt, berief
ihn Conrad Celtes nach Wien, wo er Mitglied der gelehrten Donau-
Gesellschaft wurde und den Unterricht im Gesang und in der Instru-
mentalmusik im Dichterkollegium leitete. Hier vollendete er auch sein
bekanntes, 1507 von Erhard Oglin in Augsburg zweimal gedrucktes
Werk „Melopoiae sive Harmoniae tetracenticae super XXII genera
carminum heroicorum, elegiacorum, lyricorum et ecclesiasticorum hym-
norum . . . secundum naturam et tempora syllabarum et pedum com-
positae et regulatae", den ältesten Notentypendruck Deutschlands. Als
nach Celtes Tode (f 1508) das Collegium Poetarum einging, kehrte
Tritonius in sein Vaterland zurück und übernahm die lateinische Schule
in Bozen. Wann und wie er sein Leben beschlossen, vermag ich nicht
anzugeben; ganz zufallig aber fand ich in einem Sammelbande der
Königlichen Hof- und Staats-Bibliothek zu München ein bisher unbe-
achtet gebliebenes Produkt seiner späteren litterarischen Tätigkeit,
nämlich „Versus quidam, quibus tenera pueronun memoria potissimum
exercenda est. [Am Ende:] Josephus Pyribullius Suocii imprimebat
mense Junio MDXXI. 8 Bll.. 8»."
Der erste Teil dieser Schrift enthält folgende Gedichte:
Petri Tritonii Athesini
decatostichon, quo Spiritus sancti gratia invocatur.
Spiritus alme, veni, septeno numine reple
Corda, quibus mentem fidam tribuisti, ut amoris
Igne tui flagrent! Linguis qui consociasti
Gentes diversis, facis has coalescere sancte.
Emitte almum pneuma tuum ad mentes recreandas,
Ut per idem terrae facies hUaris renovetur!
Omnipotens aeterne deus, qui corde fideli
Credentes digito illustrante tuo docuisti,
Quaesumus, ut nobis tribuas in spiritu eodem
Solati ac laeti sapiamus recta et honesta.
Eiusdem decalogi praecepta in singulis decem hexametris.
Aetemum venerare deum, solum hunc et adora.
Nee frustra assumas eins nomen benedictum.
Sabbatha non violes, opus omne in eis requiescat.
Assiduo cultu observes et amore parentes.
Nee manibus laedas nee lingua hominem neque mente.
. Coniugium sanctum inviolatum semper habeto.
Non fraudes quemquam, furtum fugias quoque pravum.
Testis mendosus, reprobus malus esse caveto.
Coniugis alterius species non sollicitet te.
Nee bona cuiusvis animus sibimet tuus optet.
118 Paul Bahlmann.
Eiusdem carmeii) dominicain orationem complectens.
Summe pater noster, coelorum qui regis arcem,
Nomen grande tuum in nobis bene sanctificetur,
Adveniatque tuum regnum, fiatque voluntas
Sancta tua, ut coelo sie omnigena quoque terra.
Tuque hodie panem nobis da quotidianum;
Debita te precibus pulsamus nostra remittas,
Sicut cuncta remittimus bis, qui nos male laedunt.
Ut non tentemur, petimus, mala cuncta repelle.
Eiusdem tetrastichon, angelicam salutationem
comprehendens.
Semper ave, Maria alma, dei solamine plena,
Nam dominus tecum! Benedicta inter mulieres,
Estque tui fructus benedictus ventris Jesus.
Hunc ores, animos nostros sapientia adumbret.
Eiusdem ogdostichon, altam salutationem Mariae continens.
Salve Regina et mater clementiae et omnis
Vitae dulcedo, nostra et spes unica salve!
Ad te clamamus, quos trusit in exilium Eva.
Te suspiria nostra gemunt valle hac lacrymarum,
Ergo vocata ad nos converte oculos miserantes
Atque tui fructum benedictum ventris, Jesum,
Mox ostende tuis post exilium hoc gemebundum,
O pia, o Clemens, o dulcis virgo Maria!
Dieselben sind von dem Verfasser ,,Amando Tritonio Brixinensi,
filio suo omnium amantissimo^, mit den Worten zugeeignet: Quamquam
te, fili Amande, superis bene faventibus in prosa oratione pro virili
instituere non negligemus, decalogi tamen legem, preces dominicas
ac reliqua bis haud dissimilia tibi in carmine tradere malumus multas
ob causas, tibi imperceptibiles modo, ideo hie non enumeratas. Tui
itaque erit ofiBcii, amatissime Amande, te una cum Vito fraterculo
tuo his ad cunas exercere. Vale deumque time ac parentes reverere!
Hallae Oeni, calendis Januarü. Anno a Christo nato MDXIII.
Der zweite Teil enthält aus des Tritonius Feder nur die nach-
stehende Widmung:
Petrus Tritonius Athesinus
Vito Laeto Tritonio Serentino, filio suo,
paterno ex affectu salutem dicit.
Posteaquam Amandus, frater tuus, naturae, quae ingeniis plerumque
infesta est praecocibus, nonum nondum attingens annum et ipse debitum
persolvit, ego te, vivacissime Vite ac laetissime mi Laete, cum iam
in traditis a me vobis crepundiis luseris abunde nee iam ampUus
pueriliter ludas, sed serio rem tractes, volui nunc aliena quaepiam
superaddere: nempe Erasmi Roterodami, eius viri, quem me semper
Des Petrus Tritonius Versus memoriales. 119
audis dicere Magnum, eius, inquam, institutum christianum. Catonis
item (ut vocant) disticha ob memoriae teneritatem paucula quidem,
quae moribus eiusce aetatulae tuae eximie conducere visa sunt, non
quo reliqua te contemnere iubeam, verum solidiori memoriae adepto
habitu ipsa sing^a, si me diligis, una cum Erasmi scholiis ad unguem
velim ediscas. Haec interim, quo commodius tu una cum tuis ingenuis
contribulibus tractare queas, in enchiridii formam hanc redegi ac pro
instantis felicis anni strena vobis offero. Vale, fili carissime, cum
dictis tuis condiscipulis, literisque et bonis moribus ac inprimis pietate
proficite. Ex ludo nostro literario Suocii, calendis Januarii MDXX.
Dann folgen „Christiani hominis institutum Erasmi Roterodami"*)
und „Catonis disticha quaedam", und zwar sind von letzteren ab-
gedruckt**):
Lib. I: Dist 1—3, 10, 14, 15, 17, 21, 30, 34, 36, 38.
„ n: Dist. I, 4, 7, II, 15, 16, 21, 24, 25, 30.
„ m: Dist. 2, 5, 7, 13, 17, 19, 22.
„ IV: Dist. 6, 7, 13, 15, 19—21, 23, 26, 27, 29, 34, 48.
Den Schlufs bildet ein Distichon des noch nicht zehnjährigen Vitus
Laetus Tritonius an seinen Vater:
O genitor care atque indulgentissime, amoris
In me fortia erunt haec monumenta tui.
Ahnliche versus memoriales, welche wie die genannten zugleich
den Zweck verfolgten, die religiöse Ausbildung der Jugend zu fördern,
sollen damals mehrfach gedruckt sein; leider aber hat dieser Zweig
der neulateinischen Dichtung einen Bearbeiter noch nicht gefunden.
Münster i. W.
*) Erasmus sagt in der vom i. Axxg. 151 4 datierten Widmung der Disticha Catonis
«Addimns . . . hominis Christiani institutum, quod nos carmine dilucido magis quam
elaborato sumus interpretati, conscriptum antea sermone Britannico a Joanne Coleto
[-f- 15 19], quo yiro non aliud habet mea quidem sententia florentissimum Anglorum
Imperium vel magis pium, vel qui Christum verius sapiat**.
In der Bibliotheca Erasmiana. S^r. I. Gand 1 893 pag. 1 1 3 f. sind 46 Ausgaben des
^Institutum hom. Christ.** verzeichnet; denselben seien aufser des Tritonius Ausgabe noch
3 Drucke aus den Beständen der Kgl. Paul. Bibliothek zu Münster hinzugefügt: Coloniae,
Eucharius, 1528; Daventriae, Alb. Pafraet, 1548; Coloniae, Quentel, s. a.
^*) s. Catonis Philosophi liber, post Jos. Scaligerum vulgo dictus „Dionysü Catonis
disticha de moribus ad filium**. Recensuit Ferd. Hauthal. Berolini 1869.
-•••-
120 Hetorich von WHslocki,
Tschuvaschisches zur vergleichenden Volkspoesie.
Von
Heinrich von Wlislocki.
In der ungarischen Zeitschrift „Nyelvtudomänyi Közlemenyek" (=
Sprachwissenschaftliche Mitteilungen 24. Bd. 1887; S, 11 ff.) teilt
der ungarische Sibirienreisende Bernh. Munkacsi drei Proben aus der
Volkspoesie der Tschuvaschen mit, die von vergleichendem Standpunkt
ein Interesse für uns haben. In deutscher Übertragung lautet das
erste Stück (Originaltext a. a. O. S. 11) also:
Vetter Fuchs.
Lebte einmal ein alter Mann und eine alte Frau. In der Nähe
einer Felsenschlucht hatten diese eine Scheuer, und in der Scheuer
einen grofsen Korb voll Weizen. Zu derselben Zeit schlössen ein
Fuchs und ein Kranich Freundschaft. Sie gruben sich für den Winter
eine Höhle, und wohnten darin beide. Nachdem sie lange mit ein-
ander gelebt, sprach der Fuchs zum Kranich: „Such' und bring' mir
etwas Esbares, denn ich will was essen!" Der Kranich wufste, dafs
der Alte und sein Weib in der Scheune Weizen haben und er begann
den Weizen zu verschleppen. Schön langsam hatte er die Hälfte des
Weizens verschleppt. Während er mit dem Weizen davonflog, schlug
er stets dieselbe Richtung ein und liefs dabei stets etwas vom Weizen
auf die Erde fallen. Der Alte und sein Weib bemerkten, dafe jemand
ihren Weizen verschleppe, und stellten sich auf die Lauer. Der Alte
bemerkte nun, dafs der Kranich den Weizen stehle und ging ihm auf der
Spur der auf der Erde befindlichen Weizenkörnern nach. So gelangte er
zur Höhle. Er begann nun zu graben; und als er also grabend die
Tiere mit der Schaufel schon beinahe erreicht hatte, sprach erschreckt
der Kranich also zum Fuchse: „Vetter Fuchs, was beginnen wir nun? er
hat uns ja beinahe schon erreicht!" Der Fuchs versetzte: „Wir stellen uns
beide tot!" Als sie der Alte erreicht hatte, ergriff er den Kranich; der
Kranich stellte sich tot. Der Alte drehte ihn hin und her, besah ihn sich
von allen Seiten und schleuderte ihn dann weg. Als er ihn fortgeschleu-
dert hatte, erhob sich der Kranich und flog schreiend davon. Der
Alte begann ihn zu jagen; inzwischen kroch der Fuchs aus der Höhle
heraus und lief davon. Der Alte ergriff nun sein Grabscheit und
ging heim.
Der Fuchs lief nicht weit, am Rande der Strafse legte er sich
nieder. Zur selben Zeit fuhr ein alter Mann auf einem mit Fischen
Tschuvaschisches zur verg^leichenden Volkspoesie. 121
bdadenen Wagen die Strafse einher. Der Alte erblickte den Fuchs
und dachte bei sich: „Der kommt mir eben recht; ich werde mir
daheim aus seinem Felle eine Mütze machen!" Er warf den Fuchs
auf den mit Fischen beladenen Wagen. Der Fuchs bifs ein Loch in
den Wagenkorb und schlich sich dann vom Fuhrwerk herab. Durch
das Loch fielen die Fische bis auf den letzten aus dem Wagen auf
die Strafse. Als der Alte zu Hause angelangte, hatte seine Frau
eben ein grofses Feuer angemacht. Der Alte spannte nicht einmal
sein Rofs aus, sondern trat eilig in die Stube und sprach: „Ich habe
einen Fuchs gebracht, aus dem ich mir eine neue Mütze machen
werde!" Er nahm nun seine Mütze vom Haupte und warf sie ins
Feuer. Dann ging er hinaus und spannte sein Rofs aus; dann deckte
er seinen Wagen auf und blickte hinein; da war aber weder ein
Fuchs, noch ein Fisch zu sehen. Der Alte eilte nun in die Stube,
um seine Mütze dem Feuer zu entreifsen, aber nicht einmal die Asche
derselben war zu finden. Der Alte schlug sich an die Stiefelröhren,
setzte sich nieder und begann zu weinen; mit dem nicht genug, auch
seine Frau schalt ihn aus.
Der Fuchs klaubte die Fische alle auf, trug sie in eine Schlucht,
wo er sie vergnügt afs. Da kam ein Wolf heran. „Vetter Fuchs,
was ifst du? gib mir auch einen, damit ich ihn koste?" sagte der
Wolf. Der Fuchs gab ihm einen Fisch. „Ei, der ist wohlschmeckend!
gib mir noch einen!" sagte der Wolf. „Ich habe wenige; geh' und
fenge dir!" versetzte der Fuchs. „Wo und wie hast du sie gefangen,
erkläre es mir!" sprach der Wolf. Der Fuchs sagte ihm : „Da drüben
ist ein Loch; steck' deinen Schwanz hinein und sitze ruhig; je mehr
es dich am Schwänze zerrt, desto tiefer stecke ihn hinein!" Der Wolf
ging von dannen und setzte sich ans Loch; bald fühlte er ein Zerren
und steckte noch tiefer seinen Schwanz ins Loch hinein. Während
er so safs, fror ihm der Schwanz fest ins Eis hinein. Der Wolf
konnte sich nicht von der Stelle rühren. Da kam eine Frau mit einer
Axt und einem Krug zum Loche, um Wasser zu schöpfen. Der
Wolf konnte sich nicht losreifsen. Indessen afs der Fuchs vergnügt
seine Fische und lachte. Die Frau erschlug mit der Axt den Wolf
und schleppte ihn nach Hause. Also betrog der Fuchs die beiden
Alten und den Wolf. ....
Dies Märchen beweist aufs Neue, dafs „Reineke Fuchs" über die
ganze Welt verbreitet ist. Das zweite und dritte Stück (Originaltext
a. a. O. S. 17 und 19) gehört zu den sog. „Kettenliedern", wie solche
bei zahlreichen Völkern bekannt sind (vergl. J. V. Zingerle, Das
deutsche Kinderspiel im Mittelalter, 2. Aufl. Innsbruck 1873 S. 61 ff.).
Das zweite Stück lautet deutsch also:
Orea, qua, spricht die Ente!
Wohin gehst du Ente?
Nach Choramal geh' ich.
Was machst du in Choramal?
128 Heinrich von Wlislocki.
Habe dort mein Nestchen.
Was hast du im Nestchen?
Hab' im Nest ein Eichen.
Was hast du im Eichen?
Hab' im Ei ein Röfslein.
Ich ergrifFs, besah es, —
Eine Blässe hatt' es, —
Und ich ritt ins Dörflein;
Bellten laut die Hunde;
Kamen hin die Maide,
Die rotwangigen Maide;
Und ich küfst' die schönste.
„Sag' es keinem Menschen!**
Ging ins weifse Häuschen,
In dem Haus ein Tischchen,
Auf dem Tisch ein Näpfchen,
In dem Napf ein Fischchen.
Um den Fisch zu fangen.
Braucht man auch ein Netz;
Um ein Netz zu machen.
Braucht man einen Schmied;
Um den Schmied zu speisen,
Braucht man Kuchen, Mehl;
Um den Kuchen zu backen,
Braucht man eine Maid;
Um die Maid zu lehren.
Braucht man Gottes Gnad';
Um die Maid zu ermuntern.
Braucht man eine Gert';
Um die Gert' zu flechten.
Braucht man Silberhacken;
Um die Hacken zu schmieden.
Braucht man recht viel Silber;
Um das Silber zu bringen.
Braucht man starke Rosse;
Um die Rosse zu futtern.
Braucht man Heu und Hafer!
Das dritte Stück lautet;
Braust der Hochwald, braust der Hochwald!
Warum braust er immerfort?
„Mufs alljährlich Aeste treiben!" sagt er.
Braust das Röhricht, braust das Röhricht!
Warum braust es immerfort?
„Mufs alljährlich Knoten treiben!** sagt es.
Tschuvaschisches zur vergleichenden Volkspoesie. 128
Braust die Volkschaft, braust die Volkschaft!
Wanim braust sie immerfort?
„Mufs alljährlich mich vermehren!^ sagt sie.
Schwarzes Rofs gab mir mein Vater.
Als ich dachte: ich besteigt besteig' es, —
Ward's ein grofser Eichenstrunk.
Weifse Kuh gab mir mein Vater.
Als ich dachte: ja, ich melk', ich melk' sie —
Ward sie grofser Birkenstrunk.
Rotes Lamm gab mir mein Vater.
Als ich dachte: ja, ich scheer', ich scheer' es, —
Ward's ein morscher Tannenstrunk.
Einen Gürtel gab der Vater.
Als ich dachte: ja, ich gürte, gürt' mich, —
Ward er rasch ein Lindenblatt.
Schönes Sammtkleid gab der Vater.
Als ich dacht': ich zieh' es, ja ich zieh's an, —
Ward es rasch ein Ahornblatt.
Ofen-Pest.
-.»*-
VERMISCHTES.
-•••-
Eine Quelle zu Shaksperes Love's Labour's lost.
Von
Max Koch.
In Steinhausens Zeitschrift für Kulturgeschichte hat Jak. Caro vor
kurzem höchst interessante Vermutungen über die Vorbilder, die
Shakspere für seine Komödie „Love's Labour's lost" vor Augen
standen, aufgestellt (N. F. I, 387 f.). Er meint, man habe gerade für
dieses Stück keine litterarische Quelle finden können, „eben weil seine
Quelle die Wirklichkeit, die angeschaute Erfahrung, die zeitgenössische
Geschichte ist". In der Werbung des Königs Ferdinand von
Navarra spiegle sich die erfolglose Werbung des Prinzen Franz von
Anjou um die Königin Elisabet wieder. Ich will dieser ansprechenden Hy-
pothese keineswegs entgegentreten, sondern nur für die von Shakspere
beliebte Einkleidung auf eine litterarische QueUe, die freilich auch
wieder auf ein geschichtliches Ereignis zurückgeht, aufmerksam machen.
Sie ist so naheliegend, dafs ihre bisherige fast völlige Nichtachtung*)
Wunder nehmen mufs.
Die französische Prinzessin kommt bekanntlich, um das von ihrem
Vater verpfändete Aquitanien einzulösen. Nun erzählt Lord Bacon in
seiner Geschichte der Regierung König Heinrichs VII.: „It was a
kind of preparative to a peace. Instantly in the neck of this, as the
king (Henry VII.) had laid it, came news that Ferdinande and
Isabella, sovereigns of Spain, had concluded a peace with king Charles,
and that Charles had restored unto them the counties of Russignon
*) Von der deutschen Shaksperelitteratur erlaubte ich dies selbst behaupten zu
können. Dafs auch in England noch nicht auf diesen Zusammenhang hingewiesen
wurde, hat mir Robert Boyle, der mich durch seine Zustimmung erfreute, versichert.
Nun belehrt mich aber soeben nachträglich noch Caro, dafs bereits Gervinus in der
3. Aufl. seines Shaksperes (die mir allein zugängliche 2. enthält keinen Vermerk) auf das
Zusammentreffen hingewiesen habe, das er selbst durch Hunter kennen gelernt habe.
Eine Quelle zu Shaksperes Love's Labour^s lost. 125
and Perpignian, which formerly were mortgaged by John, king of
Arragon, Ferdinando*s father, unto France for three hundred thousand
crowns, which debt was also upon this peace by Charles clearly
released"; vgl. Shakspere II, i, V. i2^{.
Selbstverständlich kann Shakspere für dieses, seiner ersten Pe-
riode angehörige Lustspiel nicht aus dem Geschichtswerke geschöpft
haben, das Bacon erst auf Verlangen König Jakobs I. geschrieben
hat. Für die Gläubigen des Baconschwindels ist mein Hinweis also
kaum verwertbar. Es würde aber die Aufgabe sein, festzustellen, ob
die Shakspere zugänglichen Geschichtsquellen bereits diese Notiz
Bacons enthalten, denn ein Zusammenhang zwischen dieser geschicht-
lichen Nachricht und der Auslösung des verpfändeten Aquitanien im
Lustspiele scheint mir in der Tat vorhanden zu sein. Mir selbst ist
Holinshed leider nicht zugänglich.
Breslau.
Zur Entstehungszeit zweier Faustmonologe.
Von
Max Koch.
Eine Anfrage über die Entstehungszeit des Monologs in „Wald und
Höhle", die Ferdinand Cohn an mich richtete, giebt mir die äufsere
Veranlassung zum Aussprechen einer seit langem gehegten und wieder-
holt neu geprüften Überzeugung. Auch Richard Meyer hat in seiner
preisgekrönten Goethebiographie die Angabe von Düntzer und Schröer
vertreten, der zu Folge die Scene gleichzeitig mit der Hexenküche
(im Frühjahre) 1788 im Garten der Villa Borghese entstanden sei.
Schon V. Loeper hatte (S, IX.) eigens hervorgehoben, dafs nur die Ent-
stehung der Hexenküche allein für Rom erweislich sei. Der Monolog
dagegen trage nach Form und Inhalt ein Gepräge, das ihn dem ersten
Jahre in der Heimat, der Zeit der Ausarbeitung des Tasso zuweise.
Bayard Taylor fand hinwiederum den ersten Anstofs zu dieser
Scene im sechsten Buche von „Dichtung und Wahrheit" (Hempel XXI,
10) verzeichnet. Zum Vergleiche regt das dort von Goethe ent-
worfene Bild in der Tat an; als Entstehungszeit für den Monolog
können diese Jugendjahre selbstverständlich nicht in Betracht kommen.
126 Max Koch.
Fast ebenso unmöglich erscheint mir aber die Entstehung dieser echt
nordischen Waldscene in Italien. Zwar bat Goethe auch einmal Rufe
und Hexen als Merkmale des Nordens bezeichnet; wie er jedoch
trotzdem an klassischer Stätte zur Hexenküche angeregt wurde, hat
er selbst erzählt. Wir befinden uns dabei in einem geschlossenen
Räume, dessen abenteuerliche Ausstattung mitsamt der alten Vettel
und ihren Haustieren wir uns ebenso gut in einer italienischen wie in
einer niederländischen oder thüringischen Hütte denken können. Der
Spott gegen die Trinitätslehre und das Lx)tto zeigen noch dazu von
unmittelbar römischen Eindrücken. Der Monolog fuhrt uns ganz
anders in eine durchaus nordische Waldlandschaft. Ich weifs recht
gut, wie leicht das Gefühl hier irreführt. Felix Mendelssohn be-
hauptete, bei Neapel das Lokal gefunden zu haben, das Goethes
Gedicht „Der Wanderer** schildert, und doch stand das Gedicht schon
im Göttinger Musenalmanach für 1774 gedruckt. Jene lächerliche
Mode vollends, welche sich mit den Taschenspieler- Kunststückchen
brüstet, aus dem Vorkommen der gleichen Bilder und Worte Ein-
flüsse und Entstehungszeit beweisen zu wollen, kann niemand schärfer
als ich selbst verurteilen. Trotz aller der zur Vorsicht mahnenden
Bedenken glaube ich den Monolog, wenigstens teilweise, den Jahren
1783/84 zuweisen zu müssen, weil keine andere Zeit uns die Stim-
mung der ersten Monologhälfte, V. 3217 — 39, so völlig als Goethes
eigenste Stimmung und Gemütslage erkennen läfst.
Wald und Sturm, die stürzende Riesenfichte fuhren uns, ähnlich
der Schilderung in der „Walpurgisnacht" V. 3441 f., die ausgeprägte
nordische Landschaft vor. Ich erinnere daran, wie Viktor Hehn in
seinem Buche über Italien den Gegensatz italienischer und schweize-
rischer Gebirgslandschaft ausgeführt hat Wenn so manche Deutsche
gerade in Italien mit sehnsüchtiger Liebe an die heimatlichen Wälder
zurückdenken, so wird doch niemand solche Empfindung dem Dichter
zuschreiben wollen, der sich glücklich pries, den Nebeln und der
Haft des nordischen Thüringerwaldes entflohen zu sein. Wenn er in
Italien und seinem dortigen Naturgenusse an ihn zurückdachte, so ge-
schah es in einer Stimmung, aus der heraus unmöglich jene grofs-
artige Waldscenerie, an der wir den Erd- und Waldgeruch noch
empfinden, geschaffen werden konnte. Ihre Entstehung in Italien
halte ich für unmöglich, und in die unzufriedene, zerrissene Zeit un-
mittelbar nach der Rückkehr möchte ich ihre Entstehung erst recht
nicht versetzen. Die nordische Natur schien dem aus dem formen-
und farbenreichen Süden Zurückgekehrten wohl kaum zu solch dichte-
rischen Erfassen anmutend in den Tagen, da er Tassos Schmerzen
im Renaissancegarten zu Belriguardo dichtete. Versetzen wir uns
dagegen in die Jahre 1783/84, da Goethe von allen Höhen dieser
Felsen, die er im Thüringer Walde bestieg, sich „zurück nach der
Wohnung meiner Besten gesehnt" hatte (Briefe Nr. 1859). So wie
Faust in „Wald und Höhle" fühlte er sich selbst alleins mit der
Natur, als er im Herbste 1784 auf der geognostischen Harzreise sich
Zur Entstehungszeit zweier Faustmonologe. 127
einsamer Betrachtung in den Wäldern überliefs, „oben auf den Sand-
brinken beim Eingang einer Höhle die linke Seite anstehender Granit,
die rechte schwarzgraulich Gestein". Damals genofs er in vollen
Zügen das „überirdische Vergnügen in Nacht und Tau auf den Ge-
birgen liegen, der Erde Mark mit Ahnungsdrang durchwühlen". In
die tiefste Brust der Natur tat er, wie in den Busen eines Freundes
einen Blick, als er am i8. Januar 1784 die Abhandlung über den
Granit, den „ältesten, unerschütterlichsten Sohn der Natur" diktierte.
„Man wird mir gerne zugeben, dafs alle natürlichen Dinge in einem
gewissen Zusammenhange stehen („meine Brüder im stillen Busch, in
Luft und Wasser"), dafe der forschende Geist sich nicht gerne von
etwas Erreichbarem ausschliefsen läfst („nicht kalt staunenden Be-
such . . . vergönnest mir"). Ja man gönne mir, der ich durch die Ab-
wechselungen der menschlichen Gesinnungen, durch die schnellen
Bewegungen derselben in mir selbst und in andern manches gelitten
habe und leide, die erhabene Ruhe („Kraft zu fühlen und geniefsen",
„lindern der Betrachtung strenge Lust"), die jene einsame stumme Nähe
der grofsen, leise sprechenden Natur gewährt, und wer davon eine
Ahnung hat („Ja würdest du es ahnen können"), folge mir."
Wenn Meyer die wahrscheinliche aber auch nicht positiv erweis-
liche Behauptung Erich Schmidts wiederholt, dafs zwischen 1776 und
1786 nichts am Faust geschrieben worden sei, so nimmt doch gerade
Schmidt („Goethes Faust" 3. Aufl. S. LI) an der Uneinheitlichkeit
unserer Scene Anstofs. Seit der Entdeckung der Göchhausenschen
Abschrift wissen wir, dafs ein sonst an ganz anderer Stelle stehender
Gefuhlsausbruch Fausts, V. 3342 — 3369, mit diesem im Urfaust fehlen-
den Monologe, mit dem er von Hause aus also nichts zu tun hatte,
verbunden worden ist. Aber auch der erste Teil des Monologes ist
mit dem zweiten nicht verzahnt. Im Gegenteil spricht sich in ihm
eine vollständige Befriedigung aus, zu der eher unerwartet die ein-
schränkende Antithese mit V. 3240 hinzutritt. Ähnlich wie der Ter-
zinenmonolog im 11. Teile ist auch der Blankversmonolog im L Teile
— beide heben sich durch eine in der ganzen Dichtung sonst nicht
wiederkehrende Form von dem sie umschliefsenden Rahmen ab —
selbständig entstanden.
Nehmen wir die erste Hälfte des Höhlenmonologes allein, so
können wir darin einen unmittelbaren lyrischen Gefuhlsausdruck des
Dichters finden, der in der Abhandlung „über den Granit" über sein
Naturerfassen psychologischen Aufschlufs gab. Nehmen wir den
zweiten Teil hinzu, so hat Goethe Gestalt und Lage seines Lieblings-
helden gewählt, um wie so oft im Spiegel der Dichtung eignes befrie-
digendes Streben und eigene Herzensunruhe auszusprechen.
Ach so drückt mein Schicksal mich
Dafs ich nach dem unmöglichen strebe.
Lieber Engel, für den ich nicht lebe.
Zwischen den Gebirgen leb ich für dich.
128 Max Koch.
So hatte er einige Jahre früher an Frau v. Stein geschrieben.
Jetzt wieder zwischen den Gebirgen in fortgeschrittener Naturerkenntnis
lebend quält ihn doch wie früher und später das schwankende V^er-
hältnis zur Freundin, ein wildes Feuer nach jenem schönen Bilde.
Die eigene Lage und Stimmung wird mit der nötigen Veränderung
auf Faust übertragen, wie schon so manche wechselnde Stimmung
und Lage in diese weitgedehnte und dehnbare Dichtungsmasse Auf^
nähme gefunden hatte und noch finden sollte. Die Frage nach dem
„erhabnen Geist" (Erdgeist oder Gott) würde bei dieser Darlegung
der Entstehungsgeschichte wohl im Sinne W. von Biedermanns, des
trefflichen, an Verdienst und Ehren reichen Goethe- und Fauster-
klärers entschieden werden müssen. Der bibelfeste Dichter konnte
auch für sich selbst die Erscheinung des Herrn im Feuer (II. Mos. 3, 2)
als Gleichnis anwenden, wie er sie noch den Pfarrer in seinem Epos
gebrauchen läfst. Gerade die fromme Stimmung, welche die erste
Monologhälfte durchdringt, hatte Goethe weder in Italien noch nach
seiner Rückkehr erfüllt. Sie war in den Jahren 1 783/84 in ihm lebendig.
Nicht nur die Briefe an Frau v. Stein, auch andere Briefe aus jener
Zeit zeigen die nah verwandte Grundstimmung. Mit dem Spinoza-
studium eben jener Zeit erscheint der Monolog untrennbar verbunden.
Fafst man ihn als ein persönlich Ijrrisches Bekenntnis, das nur
die Einkleidung der Faustdichtung entnimmt, so wird auch das von
der Form hergenommene Bedenken — Blankverse vor der römischen
Fassung der Iphigenie — hinfallig. Goethe hat vor der Iphigenie
kein ganzes Drama in Blankversen geschrieben, wohl aber schon in
Leipzig den fünften Aufzug seines „Nebukadnezar". Wieland hatte 1777
in seinem „Geron" ein Muster in der epischen Behandlung des Blank-
verses gegeben, das Goethe so gut die Benutzung dieser Form wie
die Oberonstanzen ihre Nachahmung in den „Geheimnissen" nahe
bringen konnte, wenn es einer solchen Anregung überhaupt bedurfte.
Gerade aus der gesonderten Entstehung dieses Monologs, der stilles
Einspinnen neuer Gedankenfaden („stilles Fortspinnen der Gedanken-
faden" gesteht Schmidt für jene Zeit zu), nicht ernstes Aufnehmen
der Fragmente bedeutet, wird die Ergreifung des Blankverses erklärlich.
Eine Stütze für meine ganze Hypothese, der gemäfs ein vor der
italienischen Reise aus individuellster Stimmung entflossener Monolog
für die Ausgabe des Fragmentes in die Faustdichtung eingereiht wurde
(später wurde der ursprünglich fremde Bestandteil an eine dem Dichter
passender erscheinende Stelle verlegt), eine Stütze für die immerhin
gewagte Annahme finde ich in der Geschichte des Terzinenmonologs.
Freilich hat v. Loeper aus sprachlichen Bedenken daran festge-
halten, dafs der Terzinenmonolog erst um 1826 geschrieben worden
sei, und auch Meyer erklärt seine gleichzeitige Entstehung mit den
Terzinen auf Schillers Schädel für wahrscheinlich. Ich habe im Gegen-
teil geglaubt, dafs das sprachliche Bedenken jetzt, da wir Goethes
Helena von 1800 kennen, kaum mehr in Betracht komme. Ich schliefse
mich völlig der von Hermann Henkel in Schnorrs Archiv (VIII, 164)
Zur Entstehungszeit zweier Faustmonologe. 129
verfochtenen Ansicht an, dafs diese Terzinen 1798 entstanden seien.
Goethes Geständnis, dafs er ohne die frischen Eindrücke jener wun-
dervollen Natur, wie sie ihm auf seiner dritten Schweizerreise Aug*
und Seele füllten, den Inhalt- der Terzinen gar nicht hätte denken
können (v. Biedermanns Gesprächsammlung VI, 134), erscheint fast
wie eine Berichtigung von Eckermanns Worten („aus der Erinnerung
jener Natureindrücke des Vierwaldstätter Sees entstanden"). Bringt
msfi die Briefe an und von Schiller (21. und 23. Februar 1798) damit
in Zusammenhang, so wird die Ausmünzung des auf der Reise ein-
gesammelten Goldes für jene Zeit höchst wahrscheinlich. Schlegel
hatte im „Prometheus" nicht mehr unvollkommene Terzinen mit Hin-
weglassung des übergreifenden Mittelreimes wie in seiner Danteüber-
tragung, sondern streng gebaute geschrieben. Goethe hatte einstens
nach Wielands Vorgange sich mit Verbesserung der Stanzenform be-
fafst, wie er etwas später Sonette und auch im Drama vierfufsige
Trochäen nach dem Vorbilde seiner Jüngern romantischen Bewunderer
baute. So mochte es ihn reizen, auch die von Schlegel eingeführte
Form zu benutzen und dabei ihre von ihm selbst und Schiller gerügte
Ruhelosigkeit und Einförmigkeit zu überwinden. Vergleicht man Schle-
gels „Prometheus" und den Faustmonolog, so tritt schon äufserlich
in den Absätzen dies Bestreben Goethes hervor. Schlegel wechselt
zwischen männlichen und weiblichen Reimen, Goethe verwendet im
Monolog wie „bei Betrachtung von Schillers Schädel" nur weibliche.
Dafs dieser Terzinenarbeit im Tagebuch 1 798 nicht gedacht ist, schliefst
die Ansetzung der Arbeit für jene Zeit nicht aus. Ich habe schon
einmal nachgewiesen (Hochstiftsberichte X, 477), dafs ein Schweigen
der Tagebücher uns noch nicht berechtigt, in jedem Falle daraus
negative Schlüsse zu ziehen. Der jetzt zugängliche Text in den Tage-
büchern (II, 148), wie er im September 1797 ^" Schaff hausen nieder-
geschrieben wurde, weicht von Eckermanns Bearbeitung der dritten
Schweizerreise an dieser Stelle nur ganz unbedeutend ab. Der innige
Zusammenhang der Schilderung im Tagebuch mit jener in den Terzinen
erscheint mir aber beweiskräftig dafür, dafs kein Jahrzehnte langer
Zwischenraum beide trennen könne. Die Grundidee dagegen, dafs ein
höchster Augenblick rasch vorüber gehe, wir gar nicht imstande
seien ein ersehntes Höchstes zu ertragen, wie dies Faust auch bei der
Erscheinung des beschwornen Erdgeistes erfahren hat, kehrt bei Goethe
in den verschiedensten Zeiten wieder. Aufser an den von Schröer an-
geführten Stellen noch in einem Briefe vom 25. Januar 1788, in der
Beschreibung des römischen Karnevals („Bemerken wir, dafs die leb-
haftesten und höchsten Vergnügen wie die vorbei fliegenden Pferde
nur einen Augenblick uns erscheinen, uns rühren und kaum eine Spur
in der Seele zurücklassen"), in den Divanversen „Aber stieg der Feuer-
kreis vollendet", im Maskenzug von 181 8 („Im lichten Abglanz ehren-
voll zu wandeln")*).
*) wie Schröer beim Regenbogen V. 4722 auf Schillers ^Huldigung der KQnste*
Ztachr. t Tgl. Litt-Getch. N. P. Till. 9
180 Max Koch.
Unbemerkt ist, so viel ich weifs, bis jetzt geblieben, dafs das
Gleichnis selbst einem von Dante gebrauchten entspricht. Schlegel hatte
diesen, den 17. Gesang der Büfsungswelt, nicht übersetzt. Die ersten elf
Verse „Denk Leser, wenn dich Nebel je umstrickte Auf Alpenhöhen**
malen ein ähnliches Bild aus wie Faust V. 4686 f. ; zum Flammenüber-
mafs V. 4708 vgl. Dante V. 52:
Wie von der Sonne die den Blick beschwert,
Durch zu viel Licht ihr eignes Bild bedeckend,
Ward von dem Glänze meine Kraft verzehrt.
Da Streckfufs' Übersetzung des Fegefeuers 1825 erschienen ist, könnten
die Anhänger der späteren Entstehungszeit des Monologes daraus eine
Stütze fiir ihre Ansicht gestalten; aber ebenso gut mag das Erscheinen
der Schlegelschen Bruchstücke 1794/97 Goethe bewogen haben, den
ihn seit längerer Zeit bereits im Original bekannten italienischen
Dichter bei der sorgfaltigen Vorbereitung zu seiner geplanten neuen
italienischen Reise vorzunehmen, wenn man überhaupt an eine Ent-
lehnung statt an dn ZusammentreflFen glauben will.
Ein Monolog Fausts nach den ironischen Anträgen der Geister
war bereits in dem Schema vorgesehen, das die Weimarer Ausgabe
als „Skizze der Urgestalt" bezeichnet. Dafs aber der Terzinenmonolog
von Anfang an als eine Rede Fausts zur Welt gekommen ist, halte ich
keineswegs für zweifellos. So wie er jetzt dasteht, könnte er ganz gut
Goethes Gedichten eingereiht sein, ohne dafs irgend jemand eine Be-
ziehung auf Faust herausfinden würde. Nicht ein Vers, nicht eine
Wendung macht ihn zum besonderen Eigentum Fausts. Gerade dieser
Mangel an individuellen Beziehungen, an jedem Hinweise auf Fausts
Erlebnisse (man wird „diese Nacht" nicht etwa auf die Erlebnisse in
Gretchens Kerker, seit denen längere Zeit vergangen ist, deuten wollen)
hat ja die Verwunderung und den Unwillen mancher Kritiker hervor-
gerufen. Wie anders ist Fausts Monolog im Anfang des vierten Auf-
zugs sorgfältig mit dem vorausgehenden verbunden. Hier dagegen
könnte eine peinlich genaue Kritik eher einen Widerspruch heraus-
finden zwischen der geforderten Scenerie, „anmutige Gegend" und
Fausts Schilderung einer keineswegs gefallig anmutigen, sondern erhaben
gewaltigen Gebirgslandschaft (Riesengipfel, Abgrund, Wassersturze).
Zwischen dem Geistergesang und der Kaiserpfalz fuhrt das spätere
Schema an: „Faust, Mephistopheles, Notiz von des Kaisers Wunsche,
Streit". Obwohl Goethe die Ausfüllung dieser Lücke so nötig fand,
dafs noch später Eckermann mit eigenen Versen den Rifs zu ver-
decken suchte, wollte sich ihm die Stimmung nicht finden. Unter
diesen Umständen würde sich die Benützung der ursprünglich selb-
ständig gedichteten Terzinen als glückliches Auskunftsmittel wenigstens
verwiesen hat, so bringt V. 4697 die Verse im ,TelI« 1444 f. „Bei diesem Licht das
uns zuerst begrüfst" in Erinnerung. Schiller hatte den Naturvorgang übrigens schon in
einer weggelassenen Strophe der „Künstler" („Wie mit Glanz sich die Gewölke malen^)
zum Gleichnis benutzt. V. 4693 erinnert an die 3. Strophe von Goethes eigener „Zu-
eignung*.
Zur £ntstehiingszeit zweier Faustmonolog^e. 131
für den Monolog dargeboten haben. War eine Verzahnung mit der
Fausthandlung auch in der geschlossenen Terzinenform nicht mehr an-
zubringen, so entsprach das Ganze doch dem Gange der Faustdich-
tung. Wenn der Gebrauch von Trimetern und Alexandrinern in den
folgenden Akten seine Begründung in sich trägt, so ist ein innerer
Grund, weshalb sich Faust hier der italienischen Form bedient, wohl
unerfindlich. Goethe hatte eben ohne den Gedanken solch späterer
Einfügung in ein gröfseres Ganzes 1798 die frischen Eindrücke der
Schweizerreise in der durch Schlegel ihm nahe gebrachten Form
poetisch festhalten wollen. Dafs eine derartige Einreihung einer ur-
sprünglich selbständigen Schöpfung in einen weit gespannten Dich-
tungsrahmen bei Goethe kein vereinzelter Vorgang wäre, ist nicht
nur durch das (ungefähr gleichzeitige) Verfahren bei den „Wanderjahren"
zu belegen. So wurde einstmals der Monolog Prometheus dem gleich-
namigen Drama angehängt, Proserpina „freventlich" dem Triumph der
Empfindsamkeit eingeschaltet.
Ich weifs selbst recht gut, dafs ich mit dem allen keine zwingenden
Beweise erbracht, sondern nur das Danaidenfafs der Hypothesen be-
reichert habe. Aber meine Annahme einer Entstehung des Wald- und
Hohlenmonologes für 1 783/84, des Terzinenmonologs für 1 798 scheint
mir immerhin die besser begründete, und die künstlerische Einheit der
Faustdichtung, wie Veit Valentin sie in so schöner und verdienst-
voller Weise dargelegt hat, wird auch durch die Annahme einer
selbständig getrennten Entstehung der Monologe nicht angeg^fFen.
Breslau.
-•••-
I
9*
BESPRECHUNGEN.
-•••-
Ein russisches. Werk Ober die Anfänge der humanistischen Litteraiur,
In den letzten Jahren sind von russischen Gelehrten mehrere wert-
volle Beiträge zur Geschichte der Frühzeit des Humanismus veröffentlicht
worden. Der Aufsatz Uspenskijs über die theologische und philo-
sophische Bewegung in Byzanz im 14. Jahrhundert*) verbreitet ein
neues Licht über die litterarische Bedeutung Barlaams, durch welchen
bekanntlich Petrarca zuerst mit der griechischen Kultur in Verbindung
gebracht wurde. Von Wesselofskijs Boccaccio soll hier nicht ausfuhr-
licher geredet werden, da dies nach Form und Inhalt gleich ausge-
zeichnete Werk gewifs früher oder später durch eine Übersetzung all-
gemein zugänglich gemacht werden wird. Dagegen wird den deutschen
Lesern von Interesse sein, näheres über das Werk Korelins zu erfahren,
welches eine umfassende Darstellung der gesamten Geschichte der
Frühzeit des italienischen Humanismus enthält**).
Korelin eröffnet sein Werk mit einer ausführlichen, vielleicht zu
ausfuhrlichen Übersicht über die Leistungen der bisherigen Forscher
auf diesem Gebiete (S. i — 175). Sodann behandelt er in Kapitel I
(S. 175 — 417) Petrarca, in Kapitel II (S. 417 — 577) Boccaccio, um endlich
im dritten und wertvollsten Kapitel (S. 577—1004) zu den Zeitgenossen,
Schülern und frühesten Nachfolgern der ersten Humanisten überzugehen.
Hier betrachtet er die Verbreitung des Humanismus über die einzelnen
Städte und Landschaften Italiens, indem er neben den grofsen Centren
auch kleinere und abgelegenere Orte berücksichtigt, in denen die
neuen Bildungselemente sich mit der überlieferten mittelalterlichen
Kultur in der mannigfaltigsten Weise vermischen. Eröffnet wird diese
Übersicht mit einer Betrachtung der für Petrarcas Bestrebungen empfang-
lichen Persönlichkeiten in Avignon. In diesem ganzen Abschnitt sind
die seit der letzten Auflage des Voigtschen Werkes erschienenen
Quellenpublikationen sorgfaltig, wenn auch nicht durchaus vollständig
verwertet, besondern Wert erhält jedoch die Darstellung des Verfassers
durch die Heranziehung neuen handschriftlichen Materials aus den
Bibliotheken zu Rom, Florenz, Mailand und Paris. Dies neue Material
ist namentlich dem zweiten Abschnitt zu Gute gekommen, wo neben
andern bei der Curie angestellten Humanisten auch Leonardo Bruni
besprochen wird. Wir finden hier umfangreiche Auszüge — zum Teil
*) ^Srl* Journal des russischen Ministeriums für Volksauf klärung, Januar 1892.
**) Michael Korelin, der ältere italienische Humanismus. Eine kritische Untersuchung
VIII. u. 1087 SS.; 72 SS. Anhang und Indices. Moskau 1892 (a. u. d. T.: Wissenschaft-^
liehe Denkschriften der Moskauer Kaiserlichen Universität, Stück XIV u. XV). j
Besprechungen. 183
im lateinischen Originaltext — aus dessen ungedruckten Schriften ,de
institutione adolescentium* und ,nobilitatis contentio*, einem Gesprächs-
spiel, das interessante Berührungspunkte mit anderen Werken der
damaligen Litteratur, z. B. mit Albertis Philodoxeos darbietet. Ebenso
sind Auszüge mitgeteilt aus dem, ,Isagogicon' aus der Schrift ,de mi-
litia*, und aus den homerischen Reden; der bei Vogt II 193 erwähnte
Abdruck dieser Reden ist, wie es scheint, dem Verfasser unbekannt
geblieben. Unter den Florentinern, die an Petrarcas Bestrebungen
Teil nahmen, wird natürlich auch Simonides-Nelli besprochen, wobei
der Verfasser sehr entschieden gegen das geringschätzige Urteil
Körtings polemisiert. Doch sind die inzwischen von Cochin heraus-
gegebenen Briefe Nellis an Petrarca nur geeignet, das Urteil Körtings
zu bestätigen; es zeigt sich hier recht deutlich, wie die Freundschaft,
um mit Voigt zu reden, für Petrarca nur ein Apparat war, dessen er
zum Aufbau seines philosophischen Trones bedurfte. Ein wertvolle
Ergänzung erhält jedoch die Darstellung Voigts durch die Mit-
teilungen des Verfassers über Salutati. Er bespricht dessen unedierte
Prosaabhandlung ,de fato et fortunaS die von Voigt mit dem Gedicht
Salutatos an Alegretti verwechselt wurde und — mit Beifügung aus-
fuhrlicher Proben, — die Schrift ,de seculo et religione*, die dem
Comaldulenser Hieronymus de Ucano gewidmet und durchaus in
mönchischem Geiste gehalten ist. So wird die Parabel von den aus-
gestreuten Saatkörnern, von denen einige dreifsigfache, einige sechzig-
fache, einige hundertfaltige Frucht tragen, mit mittelalterlich-ascetischer
Nutzanwendung auf die Laien, die Weltgeistlichen und die Kloster-
geistlichen bezogen. Im Tractatus de Tyranno hat Salutato die Frage
vom Tyrannenmord, wie sich aus den Mitteilungen des Verfassers
ergiebt, in bejahendem Sinne entschieden, die Tat des Brutus und
Cassius läfst Salutato jedoch unter Berufung auf das Urteil Dantes
nicht als einen berechtigten Tyrannenmord gelten.
Vor allem aber bringt der Verfasser neue Nachrichten über
Giovanni Convertino von Ravenna, den Schüler Petrarcas, dessen
Gestalt lange Zeit hindurch in Dunkel gehüllt war und den die meisten
bisherigen Geschichtsschreiber der Renaissance mit seinem Zeit-
genossen und Landsmann Giovanni Malpaghini verwechselten. Erst in
neuester Zeit wurde durch die Untersuchungen Sabbadinis und Klettes
etwas mehr Klarheit über seine Persönlichkeit verbreitet. Auf-
fallend ist es indes, dafs dem Verfasser die wichtigen Mitteilun-
gen über Convertinos Leben unbekannt geblieben sind, die Racki
in Bd. 74 der Abhandlungen der südslavischen Akademie (1885)
auf Grund einer in Agram befindlichen Briefsammlung*) gegeben
hat, Korelin hätte daraus seine Darstellung in mehreren wichtigen
Punkten ergänzen können, namentlich auch in Bezug auf Giovannis
Aufenthalt in Ragusa, wohin er nach einem von Raöki veröffentlichten
Aktenstück i. J. 1384 als städtischer Notarius berufen wurde. Aus
Giovannis Geschichte von Ragusa bringt K. zwei Stücke in extenso
*) Eine Besprechung der in dieser Abhandlung abgedruckten Stellen aus Con-
vertinos Briefen gab Lehnerdt im Programm des Kneiphöfischen Stadtgymnasiums zu
Königsberg 1893.
Id4 Besprechungen.
zum Abdruck, eines über die Stadtverfassung, eines über Francesco
Carrara. Noch interessanter sind die Mitteilungen aus anderen un-
gedruckten Werken Giovannis. So aus der ,Dragmatologia de eligibüi
vitae genereS einem Dialog zwischen einem Venetianer und einem
Paduaner, hauptsächlich politischen Inhalts, in welchem der Vorzug
der Monarchie vor der Republik dargetan werden soll. Ferner aus dem
Liber memorandarum rerum, einer Nachahmung des gleichnamigen
Petrarcaschen Werkes, es ist vor allem dadurch wichtig, dafs der Ver-
fasser als Beispiele fiir die verschiedenen Tugenden und Laster Be-
gebenheiten aus der nächsten Vergangenheit erzählt. Für deutsche Leser
ist vor allem eine Geschichte von Interesse, die Convertino — vermut-
lich auf Grund einer Erzählung Petrarcas — von dem Bischof Johann
Ocko von Olmütz, einem der Gönner des Humanismus in der Um-
gebung Kaiser Karls IV. berichtet. Ich lasse die Stelle wörtlich
folgen: Is, cum vocem latinum [lies: latinam] penitus ignoraret, accepta
commediarum Dantis praedicatione, quantus videlicet in volumine tum
poeticae, tum historiarum, tum denique omnis eloquii ac divinarum
humanarumque thesaurus scientiarum conderetur, naturam vicit, im-
peravit ingenio, os linguamque cohercuit, ut sermone quamquam
thusco liber existat, voces nihilominus italas proferre, intelligere,
sensum explicare, memorare contenta studii ardore condisceret — prodi-
giosus labor hominis inauditaque prorsus industria, qui extra lectionem
Dantis, omnis penitus expers idiomatis latii versus tamen auctoris in-
violata latini vulgaris integritate exprimeret significatumque verborum ore
germanico inofFensa veritate historiarum audientibus aperiret, praebuit
rarum stupendumque miraculum, cum alia [lies: alias] latine verbum
nuUum exprimere nosset, in poetae carminibus latinum germane facile
interpretari didicisse. Wir hätten also hier das erste Zeugnis für das
Studium Dantes diesseits der Alpen. In seiner Geschichte des Padua-
nischen Herrschergeschlechts der Carrara weifs Convertino allerlei
fabelhafte Geschichten vom Ursprung dieses Geschlechts zu erzählen,
dessen Stammvater Landolfo die Kaiserstochter Elisabet entfuhrt
haben soll. Merkwürdig sind in dieser Schrift die patriotischen
Klagen Convertinos über die Zerrissenheit seines Vaterlandes, dem
er wenigstens den Grad von Einheit wünscht, dessen sich Deutsch-
land erfreue. Im Gespräch zwischen der Spinne und dem Podagra
behandelt Convertino einen weit verbreiteten Fabelstoff; auch erzählt
er hier, dafs er ursprünglich die Absicht hatte, Mediziner zu werden
und dann erst den Beruf eines Poeten und Paedagogulus ergriff.
Über alle diese Schriften berichtet Korelin nach der Pariser Hand-
schrift 6494, nur fiir die Geschichte des Hauses Carrara ist der Am-
brosianus 93 zu Grunde gelegt.
Wie man sieht, ist das Buch reich an neuen Mitteilungen und
neuen Beobachtungen. Man könnte indes daran aussetzen, dafs der
Verfasser die mit dem Humanismus verwandten Bestrebungen in der
Zeit unmittelbar vor Petrarca zu wenig berücksichtigt. Bei der An-
ordnung des Stoffes treten infolge der einseitigen Hervorkehning
des lokalen Prinzips allerdings manche Tatsachen in eine neue Be-
Besprechungen. 135
leuchtung, andere kommen aber nicht gebührend zur Geltung. In
der umsichtigen und gleichmäfsigen Verwertung aller mafsgebenden
Gesichtspunkte steht Voigt unerreicht da, dem der Verfasser in seiner
litterarischen Übersicht nicht vollkommen gerecht wird.
Krakau. Wilhelm Creizenach.
-•••
Gerntan Classics edited wüh engltsh notes by C. A. BUCHHEIM,
Phtl. Doc, K C, P. vol. XI Halnts Griseldis. Oxford, atihe
Clarendon Press 18^4. LV, 1^4 ^' ^^' <^-
„Wer den Dichter will verstehen
Mufs in Dichters Lande gehen"
ist ein sehr guter, beherzigenswerter Rat, läfst sich aber nicht immer
und nicht leicht befolgen. Dem Einen fehlt es an Zeit, dem Andern
an Geld, um in das Land des Dichters zu gehen, und wer beides hat,
dem fehlt mitunter die Kenntnis von dessen Sprache. Und dafs diese
Kenntnis allein nicht genügt, das sagen ja die Verse unseres grofsen
Dichters. Jedenfalls wird sich der, welcher seinem Volke die Kenntnis
eines fremden grofsen Dichters durch Übersetzungen vermittelt, einiges
Verdienst erwerben — jederzeit um sein Volk, mitunter auch um den
Dichter. Aber nicht ganz mit Unrecht sagen die Italiener: traduttore
— txaditore. Das Beste und Individuellste des Dichters geht oft auf
diesem Wege verloren, und das Gehen in Dichters Land ersetzt das
Übersetzen schon gar nicht.
Bessere und gründlichere Kenntnis des Dichters in der Fremde ver-
mittelt Derjenige, der seine Werke in der Originalsprache dem fremden
Volke zugänglich macht, der sie mit einem Apparate ausrüstet, der es
dem Fremden ermöglicht auch bei nur geringer Kenntnis der Original-
sprache ein Werk der Dichtkunst zu geniefsen und gründlich zu ver-
stehen. Ein solcher rüstiger, alle Anerkennung verdienender Ver-
mittler des geistigen Verkehrs zweier hochcivilisierter stammverwandter
Völker ist Professor C. A. Buchheim, ein in London lebender Deutscher,
dessen Ausgaben deutscher Klassiker mit Einleitungen, sprachlichen
und sachlichen Erklärungen in englischer Sprache den Engländern
die genufsreiche Lektüre der Meisterwerke unserer Dichter im Original
erleichtern. So hat er Werke von Lessing, Goethe, Schiller und Heine
herausgegeben und in seinen Einleitungen auch das Gebiet der ver-
gleichenden Litteraturgeschichte betreten, a
Besonders ist dies bei der jetzt erschienenen Griseldis von
Friedrich Halm (Freiherr von Münch-Bellinghausen) geschehen, deren
seit Jahrhunderten umlaufende zahlreiche Versionen eine vergleichende
Untersuchung gewissermafsen aufdrängen.
Aufser einer recht guten kurzen Biographie des Dichters*) schickt
'^) Die Jahreszahl 1855 auf Seite XV ist ein Druckfehler; es soll 1835 heifsen.
136 Besprechungen.
Buchheim seiner Ausgabe eine Abhandlung uhhr die Legende von
Griseldis und ihre litterarische Bearbeitung sowie eine kritische Analyse
des Dramas voran und läfst auf ^4 Seiten sprachliche Erläuterungen
folgen.
Für den litterargeschichtlichen Teil hat er, wie er angiebt, die
Arbeiten von Köhler, Westenholz und dem Schreiber dieser Zeilen
benützt, aber auch manches aus eigener Forschung hinzugegeben.
Doch scheint ihm leider die in diesen Blättern (Neue Folge II. 11 1 — 114)
enthaltene gründliche Recension der Westenholzschen Schrift durch
Freiherrn von Biedermann entgangen zu sein. Auch wäre zu unter-
suchen gewesen, ob Halm nicht aufser der bekannten Griseldis-Novelle
Boccaccios auch die von Bernabö da Genova (Decam. II. 9) benutzt
hat. Wie der Genuese ergeht sich Percival (Akt I. 3) in ungemessenem
Lob seines Weibes und läfst sich dann zur gefährlichen, sündigen
Wette fortreifsen, im Vertrauen auf die grenzenlose Geduld und
Demut der Gattin, gerade wie Bernabö im Vertrauen auf ihre uner-
schütterliche Treue die Wette eingeht. Auch die Leiden der ver-
stofsenen Frau erinnern ein wenig an die der Griseldis.
Und da von der Treue und Liebe verstofsener Frauen die Rede
ist, mag hier auch eine Erzählung aus dem „Midrasch" (mittelalter-
licher, viele Legenden enthaltender hebräischer Kommentar zum Hohen-
liede) erwähnt werden: Ein Mann verstofst seine Frau, gestattet ihr
aber das Kostbarste aus seinem Hause mitzunehmen. Nachdem er
eingeschlafen läfst sie ihn durch ihre Dienerinnen in das Haus ihres
Vaters tragen. Als er erwacht und „wo bin ich?" fragt, antwortet
die Frau: „Im Hause meines Vaters; du hast mir ja gestattet das Kost-
barste aus deinem Hause mitzunehmen und ich habe in der Welt
nichts Kostbareres als dich". Die beiden gingen hierauf zum Rabbi
Simon ben Jochai, der für sie zu Gott betete. Sie versöhnten sich
und ihre bis dahin unfruchtbare Ehe ward mit Kindern gesegnet. Fast
wörtlich finden wir diese an die Weiber von Weinsberg erinnernde
Anekdote in der russischen Erzählung von „Semiletka" (W. R. S. Ral-
ston Russian folk-tales, London 1873 S. 31) und in der damit ver-
wandten ungarischen „Az aranyeke" (Ethnologische Mitteilungen aus
Ungarn, Budapest 1 889 I. Heft 3 S. 365). In der ungarischen und
russischen Erzählung schläft der Mann nicht von selbst ein, sondern
wird von der Frau trunken gemacht, ebenso wie in dem deutschen
Märchen ähnlichen Inhalts („Die kluge Bauerntochter", bei Grimm K.
und H. M. No. 94 und IIL 1 70). In diesen drei Versionen ist es, wie
in der Griseldis, eine Bauerntochter, die von einem sehr vornehmen
Manne (König in der deutschen und ungarischen, Wojewode in der
russischen) geheiratet wird.
In der biographischen Skizze Halms erwähnt Buchheim auch der
oft citierten, wie er sagt, beinahe zum Volkslied gewordenen Definition
der Liebe im „Sohn der Wildnis".
„Zwei Seelen und ein Gedanke,
Zwei Herzen und ein Schlag".
Besprechungen. 187
„Wer hätte über diese Verse nicht schon gelächelt?" fragt der
bekannte Kritiker Ludwig Speidel, giebt aber zu, dafs sie auf der
Bühne doch noch immer ihre frische Wirkung tun. Ich will über den
poetischen Wert dieser Verse und den Eindruck, den sie machen, nicht
streiten, kann aber in der Zeitschrift für vergleichende Litteraturge-
schichte die Bemerkung nicht unterlassen, dafs der darin ausgedrückte
Gedanke viel älter als Halm ist. In Guarinis Pastor fido (I. 5) heifst es:
„ . . . ed in due petti
Stringer un core, en due voleri un alma"
und in Tassos Aminta (Intermedio II):
„Per cui regge due corpi un core, un' alma**.
Und lange vorher hatte schon Aristoteles die Freundschaft defi-
niert als Mta ipüXTj 860 awfiaatu kvotxooaa, (Bei Diogenes Laertius V.
cap. I § 11).
Halm hat nur statt der zwei Körper zwei Seelen gesetzt, aus den
zwei Busen mit einem Herzen, zwei Herzen mit einem Schlag gemacht.
Ich habe mit dieser Abschweifung den der Besprechung eines
Werkchens von geringem Umfange gebührenden Raum schon über-
schritten und nehme daher von dem kleinen elegant ausgestatteten
Büchlein Abschied, mit dem Wunsche Herr Buchheim möge sein ver-
dienstvolles Unternehmen eifrig fortfuhren, den Engländern zur Freude,
den deutschen Dichtern zur Ehre.
Wien. Marcus Landau.
-••»-
FÜRST, RUDOLF: Atigusi Gotüieb Meißner, eine Darstellung seines
Lebens und seiner Schriften mit Qtiellenuntersuchungen. Stutt-
gart, Goschen, 18^4. XV, j^ö S. <J*.
Die litterargeschichtliche Betrachtung mufs, wenn sie methodisch
richtig handeln will, ihr Augenmerk wie auf die grofsen unvergäng-
lichen Sterne am litterarischen Himmel, so auch auf die Grofsen dritter
und vierter Ordnung richten, deren Wirkung und Schätzung, weil sie
mehr in die Breite ging, uns litterarische Strömungen und die Ge-
schichte des litterarischen Geschmackes weit besser zu veranschaulichen
imstande sind. ^ Zu hüten hat sich der Forscher auf diesen Gebieten
vor allem vor Überschätzung seines Gegenstandes und vor zu ausge-
dehnter Mitteilung all der kleinen und kleinlichen Untersuchungen, die
er zur Gewinnung seiner Ergebnisse hatte anstellen müssen. Zwei
Wege sind bei solchen Arbeiten möglich: entweder der bedeutendste
Ertrag einer solchen eingehenden Beschäftigung mit einem derartigen
Schriftsteller wird in Form eines kurzen anregenden Essays vorgelegt,
wofür wir vorzügliche Muster haben, oder der Autor erscheint mit
138 Besprechungen.
dem ganzen schweren Rüstzeug seiner Einzeluntersuchungen und ver-
langt von uns nicht, aafs wir den Ertrag seiner Bemühungen in an-
genehmer Form als dauernden Besitz in uns aufnehmen, sondern dafs
wir ihn auf seinem viel verschlungenen Wege begleiten, gesetzt auch
derselbe führe durch recht öde Strecken, wo nichts uns für die auf-
gewandte Mühe entschädigt. Ich möchte prinzipiell jene erste essay-
istische Behandlungsart solcher Dinge als die empfehlenswertere und
unter allen Umständen vorzuziehende bezeichnen; der Verfasser der
vorliegenden Erstlingsschrift, ein junger Litterarhistoriker aus Sauers
Schule, hat die zweite vorgezogen. Seine Arbeit ist, von diesem
prinzipiellen Bedenken abgesehen, eindringlich, fleifsig und in jeder
Rücksicht tüchtig.
August Gottlieb Meifsners vielgelesene Schriften haben vor einem
höheren Urteil auch schon seiner Zeit die Probe nicht bestehen können:
die Xeniendichter fielen über ihn her, Tieck ironisierte ihn als Mühl-
knecht im Zerbino; ein so feiner Stilist wie Georg Forster nannte ihn
in einer Reihe mit den „Schmierern" Campe, Salzmann, Becker (Brief-
wechsel I, 849). Wenn man eins der kleinen Bändchen zur Hand
nimmt, die so viele joHs riens enthalten, kann man das wohl ver-
stehen. Um so mehr müssen wir Fürst dankbar sein, dafs er uns
eine genaue Darstellung seines I^ebens und seiner Schriften gegeben
hat, zu der er das gesamte Material durchgearbeitet hat. Auf die
Geschichte des Lebens, das nach beendigter Universitätszeit in drei
Etappen (Dresden, Prag, Fulda) verläuft, folgt eine ansprechende
persönliche und litterarische Charakteristik; dann werden die Schriften
Meifsners (Romane und Biographien, kleine Prosaerzählungen, Dra-
matisches, Fabeln, Gedichte) einzeln und mit Sorgfalt besprochen;
den Schlufs bÜdet ein Abschnitt über Meifsners Sprache und An-
merkungen, welche Nachweise und Exkurse enthalten. Meifsner er-
scheint im ganzen als ein Schriftsteller, „der mit Musäus und Müller
aus Itzehoe in die Nicolaischen Kreise gehört, auf den aber eine Reihe
von Einflüssen, wie die der Stürmer und Orig^nalgenies, der Göttinger
und Wielands hervorragend eingewirkt haben" (S. 98). Alle seine
Produktionen sind nach Quellen gearbeitet, mit deren Feststellung
sich Fürst besonders eingehend beschäftigt; sehr treffend sagt er
einmal: „in der Vermittlung der Quellen liegt der Hauptwert der
Meifsnerschen Poesie" (S. 282). Besonders möchte ich hier hinweisen
auf die Quellenuntersuchungen, die Meifsners Verhältnis zu den Er-
zählern Amaud und St. Florian sowie zu Destouches und Moliere
klarlegen. Fürst zeigt fiir solche vergleichend-litterarhistorische Auf-
gaben besonderes Geschick und man darf hoffen, dafs er diesem Ge-
biete von Problemen auch weiterhin einen Teil seiner Kraft widmen
möchte. Zu Ausstellungen bieten seine diesbezüglichen Kapitel nirgends
Veranlassung. Störend sind manche sehr auffällige Provinzialismen
in der Sprache des Verfassers.
Ein paar Einzelbemerkungen seien mir noch gestattet. Seite 34.
Über Meifsners Beziehungen zu den Dresdner Bibliothekaren Canzler
und Dasdorf berichtet ausfuhrlich Georg Forster in einem Briefe an
Besprechungen. 139
seinen Schwiegervater Heyne vom i8. Juli 1784 (Archiv für neuere
Sprachen 91, 158). Ist der in Forsters Briefen an Soemmerring S. 37
erwähnte Meifsner unser Dichter? — Seite 48. 50. 73. Über die
Prager Universität und die damaligen Professoren, besonders Ungar,
Royko, Seibt, ist zu vergleichen Forsters Briefwechsel i, 406. 411. —
Seite 214 konnte bei Gelegenheit von Meifsners Sophonisbe auf Gustav
Freytags schöne Besprechung dieses Stoffes verwiesen werden (Ge-
sammelte Aufsätze 2, 285) und auf Zeitschrift, N. F. I, 471. —
Seite 311. Bei Wendungen wie „in Strom" liegt nicht Auslassung
des Artikels vor, sondern dialektische Zusammenziehung (in aus in'n).
— Seite 318. 319. Nicht fehlerhaft, wie Fürst falschlich meint, ist der
schwache Plursd „Kieseln" und „schweigen" im Sinne von „zum Schweigen
bringen": jener kommt dialektisch vor; dieses fand ich bei Forster,
Schlegel und andern. — Der Sekretär des Königs Gustaf von Schweden
war der Dichter Adlerbeeth (Seite 1 7 und 348 steht falschlich Adlerbert) ;
eine bekannte Schrift Hamanns wird Seite 309 als „Kreuzzüge der
Philosophie" citiert.
Weimar. Albert Leitzmann.
C G. BÜTITNER (f): Lieder und Geschichten der Suaheli Übersetzt
und eingeleitet XVI, 202 S. 4 M, — Anthologie aus der Sua-
heHlitteratur (Gedichte und Geschichten der Suaheli), Gesammelt
und iibersetzt. 188 und 202 S, <J*. 18 M. Berlin, Verlag von
Emil Felber^ 18^4.
Dafs die gewöhnlichen Vorstellungen oftmals den Tatsachen gar
wenig entsprechen, zeigt sich ganz besonders bei afrikanischen Dingen.
Für die Einbildung ist Afrika ein Land in dem Milch und Honig fliefst,
das auch ohne Säen eine reiche Ernte bietet. Dazu kommt dann der
Glaube, dafs Neger wenig besser sind als dem Untergang bestimmtes
Vieh, eine von der Wahrheit weit abirrende Meinung. Zu diesen Vor-
stellungen gehört auch die, dafs die Eingebornen Ostafrikas keine
eigene Litteratur besitzen. Wie wenig dieser Glaube zutrifft, zeigen
die beiden vorliegenden Bände.
Immer wieder und wieder geschieht es, dafs ein Reisender, der
sich einige Monate in Afrika herumgetrieben hat, nach seiner Heim-
kehr ein Buch schreibt, indem er sich für ganz befähigt hält ein ver-
allgemeinerndes Urteil zu fallen über Gewohnheiten und Sitten, Glauben
und Religionslosigkeit von Völkern, von deren Sprache er nichts ver-
steht, auf die er wie auf eine untergeordnete, kaum menschliche Herde
herabgesehen hat. Dem gegenüber gewährt es eine wahre Erquickung,
auf Arbeiten wie die des (inzwischen leider verstorbenen) Dr. Büttner
zu stofsen, die wohl für die grofse Mehrzahl der erstaunten Leser
140 Besprechungen.
als neue Tatsache den Beweis erbringen, dafs die Afrikaner Gemüt
und religiöse Anschauungen besitzen, dafs sie in theosophischen Be-
strebungen gar nicht so weit hinter andern orientalischen Stämmen
zurückbleiben. Es ist nachgerade eine selbstverständliche Wahrheit
zu behaupten, dafs wir die Afrikaner nicht civilisieren können, ehe
wir nicht einen Einblick in ihre geistige Eigenart gewonnen haben.
Bücher wie die beiden vorliegenden sind ein grofses wertvolles Hilfs-
mittel für die Reisenden und Forscher*), die Missionäre, ja auch selbst
für die Politiker. Ihnen allen empfehlen wir diese Bände nicht blofs
als interessante Unterhaltung, sondern zum sorgsamen Studium, denn
aus ihnen können sie mehr lernen, als aus den meisten Reiseberichten,
von denen einer nach dem andern jetzt den Büchermarkt füllt.
Büttner, der als Lehrer für afrikanische Sprachen am orientalischen
Seminar in Berlin wirkte, zeigte in seinem Bestreben, unverfälschte Bei-
spiele der Suahelilitteratur zu gewinnen, vorzügliche Begabung; er
war berechtigt, denen Vorwürfe zu machen, welche alles nur durch
europäische Brillen sahen. Gewifs haben arabische Einflüsse viele
einheimisch-afrikanische Vorstellungen bis zu einem gewissen Grade
beeinflufst und gefärbt; aber Büttner hat auch die unberührten Ansichten,
Gefühle, Gedanken der Eingebomen selbst zur Geltung gebracht. Welche
Tiefe des Gedankens und Stärke der religiösen Empfindung durch-
flutet „das Lied von der Barmherzigkeit". Der vollkommenste Glaube,
Resignation und feste Zuversicht auf ein künftiges Leben kommen da
zum Ausdruck. Höchst merkwürdig sind die Paragraphen 112, 141,
175/6, 242. Die Vorstellung von Schutzengeln tritt in §. 230 plötzlich
hervor. Die Stellung des Weibes ist treffend gekennzeichnet mit:
Unterwerfung und Hingebung (§. 117— 120), und der gleiche Grund-
ton ist in den „Sitten der Sansibarleute" erkennbar. Liest man das
an schönen Einzelheiten überreiche „Lied von der Himmelfahrt Mu-
hammeds", so möchte man sich fast erstaunt fragen, ob Dante damit
bekannt gewesen sei. §. 5, 42, 83 — 89 bringen uns biblische Ge-
schichten lebhaft in Erinnerung. Die ruhige Zuversicht in „der An-
fang des Wiedersehens am Tage nach der Auferstehung" (§. 75) ist
eigener Beachtung wert, und die uralte Frage, „wo wird man sich
zusammen finden, sage wo ist es?" zeigt, dafs in Ostafrika Fragen
den Mensch bewegen, an deren Lösung auch das Gehirn der euro-
päischen Geistesriesen sich vergeblich abquälte.
Wer kann ohne Teilnahme oder ohne reiche Belehrung über
afrikanischen Charakter die Geschichte Amurs bin Nasur und seiner
Reise nach Berlin lesen? Wie vereinen sich da Scharfsinn und ungetrübte
Beobachtung. Referent vermag dies zu beurteilen und zu schätzen,
da er die Wagandas, die nach London gekommen waren, nicht nur
*) Wir dürfen wohl daran erinnern, dafs der geehrte Verfasser dieses Referats,
Dr. Felkin, als einer der ersten Europäer mehrere Jahre am Hofe des Königs von Uganda
weilte; vgl. Wilson und Felkin ^Uganda und der ägyptische Sudan*, Stuttgart 1883.
In der Zeitschrift für vergleichende Litteraturgeschichte I, 303 und N. F. I, 443 hat
Dr Felkin aus seinen an Ort und Stelle aufgezeichneten Sammlungen „Fabeln, Sagen
und Märchen aus dem Innern Afrikas** mitgeteilt. (Anm, d. Gbers.)
Besprechungen. 141
gesehen hat, sondern auch Beobachtungen anstellte über die Art und
Weise, in der sie sich über alle ungewohnten Dinge freuten und doch
bei all ihrer Verwunderung eine ernsthafte Haltung wahrten, so dafs,
wer sie nicht kannte, glauben mufste, dafs nichts auf sie Eindruck
mache. Büttner hat ganz Recht, wenn er Amurs bin Nasur Geschichte
als besonders wertvolles Vorbild für Reisende empfiehlt, aus dem sie
lernen können, wie man Europa den Eingebomen verständlich und
eindringlich schildern könne. Jeder, der sich einmal abgemüht hat,
einer Zuhörerschaft von Eingebornen Europa zu schildern, wird die
ungeheure Schwierigkeit gefühlt haben, die richtigen Ausdrücke zu
finden, Ausdrücke zu vermeiden, welche dem Sinn und dem Sprach-
geist der Eingebomen ferne liegen.
Von den kürzeren Geschichten bringt „Woher die Schätze in der
Erde stammen" biblische Erzählungen ins Gedächtnis; das gleiche gilt
von „Alibeg Kaschkaschi", „Geschichten von Abunawas", „Fräulein
Matlai Shems" und „Wert der Frauen", obgleich ihr Stil vielleicht
noch mehr als chaldäisch zu bezeichnen wäre. Einige von den Gebeten
in Büttners Sammlung erinnern an babylonische Hymnen auf Ichtar.
„Eine Frau mit hundert Kindern" und „der Fuchs und das Wiesel"
sind in anderer Gewandung uns allen vertraut; mit einiger Veränderung
kommen sie auch in Mittelafrika und am weifsen Nil vor (vgl. Zeit-
schrift I, 312). Am meisten das Gepräge ursprünglicher Eigenart
tragen wohl die Geschichten, die vom Ursprung der Dinge handeln,
wie die „Geschichte vom Chewa-Fisch", „der Ursprung der Bananen",
„Geschichte vom Delfin" und „Ursache von Ebbe und Flut". Diese
letzte naturgeschichtliche Studie ist vorzüglich; sie zeigt so recht, wie
das Volk Naturgeheimnisse zu erfassen bestrebt ist, auch wie es,
wenn die Lösung nicht gelingen will, sich zum höchsten Wesen
zurückwendet und, wie auch andere pflegen, ausruft, „Gott weifs es
am allerbesten". Dafs die Eingebornen Witz besitzen, wird deutlich
genug; mitunter verstehen sie auch sarkastisch zu sein. Sie lieben
Rätsel und ihre Poesie ist reich und ausgezeichnet an Rhythmus
und Reim.
Dr. Büttners Übersetzung ist vortrefflich und verdient höchste
Anerkennung, denn Suaheli in lesbarem deutsch wieder zu geben, ist
nichts weniger als eine leichte Aufgabe. Der Nutzen dieser beiden
Bände ist ein aufsergewöhnlich grofser, und die Schuld würde nur
an den Lesern liegen, wenn die Schlufsworte der Vorrede nicht in
Erfüllung gingen: „Möge dieses Buch recht vielen einen tiefen Ein-
blick in das Herz unserer Schwarzen gewähren und unsere Hoffnung
immer mehr befestigen, dafs die Arbeit, die wir an ihnen tun, sie zu
christianisieren und zu civilisieren , nicht ungeeigneten Boden finden
wird".
Edinburg. Robert W. Felkin.
-•••-
Kurze Anzeigen.
Ce n^est pas la premi^re fois qu^un professear dont Tenseignement n*a pour objet
ni 1a langue ni la litt^rature allemande, prend le sujet de sa these en Allemagfne et le
traite en maitre. Cest „Henri de Kleist, sa yie et ses oeuvres", (Paris, Hachette,
1894, XI 424 p. gr. 8*.), qui a valu ä M. Raymond Bonafous, professeur de
rh^torique au lyc^e de Marseille, le grade de docteur avec une mention honorable«
L*ouvrage se compose de deux parties. Dans 173 pages la vie si accidentee de Kleist
est racontee dans tous les d^tails qui ont eu de Tinfluence sur ses Oeuvres. Le poete
vint plusieurs fois en France, d'abord en iSox pour visiter Paris, ensuite en 1807, pour
6tre enferm^ comme prisonnier de guerre au fort de Joux. II a du bien comprendre la
lang^ue fran9aise; sa traduction, une traduction libre et originale, de TAmphitryon de
Moliere, semble le prouver. Les deux tiers environ du volume sont consacres ä Tanalyse
et ä Texamen des oeuvres de Kleist. M. Bonafous est au courant de presque tous les
travaux qui ont paru sur son auteur (cf. Zeitschrift I, 273; N. F. I, 301 ; VII, 28; VIII,
2 4 f.); il les a lus avec attention, mais il a luaussises Berits dans le texte; il nous donne
des jugements personnels. Tr^ instruit dans les litt^ratures anciennes et modernes, U
fait des rapprochements du plus haut interet entre Kleist d*un cote, les Grecs, les
Romains, les Italiens, les Anglais et les Fran^ais de Pautre. Son livre contribuera ä
attirer de plus en plus Pattention en France sur un po^te qui avait ^te injustement
dedaign6, et peut-^tre aussi ä arr^ter un engouement momentan^ que pourrait suivre un
nouvel oubli. Les choses ^tant remises au point, la justice rendue aura des effets
durables. En fait de documents M. Bonafous ne prctend pas avoir fait des decouvertes.
A nous Fran9ais son livre n*en apprend pas moins beaucoup de choses. Aux Alle-
msmds il en apprendra sflrement une, et celle-lä leur fera un nouveau plaisir: c^est
qu'en France il a paru une oeuvre de plus, savante, bien pens^ et bien ^crite, sur
Phistoire de leur littdrature.
Poitiers. Jacques Parmentier.
Von der seit langem angekündigten „Bibliothek älterer deutscher Über-
setzungen** ist nun (Weimar, Verlag von £mil Felber 1894) der erste Band erschienen;
die schöne Magelone, aus dem Französischen übersetzt von Veit Warbeck 1527. Nach
der (bisher unbekannten Gothaer) Originalhandschrift herausgegeben von Joh. Bolte.
Über den französischen Mageloneroman und seine Verbreitung hat M. Landau bereits
V, 420 f. eingehend gehandelt ; auf Boltes reichhaltig interessante Einleitung sei hier nur
vorläufig hingewiesen. Als sorgfältigen Herausgeber und trefiflichen Erläuterer älterer
Übersetzungen hat sich Bolte hier auf deutsch-französischem Gebiete bewährt, wie auf
deutsch-englischem in seinem Neudrucke von L. Tiecks Verdeutschung des „Mucedorus*
(Berlin, Verlag von W. Gronau 1893. XXXIX, 67). — Für die im vorigen Bande Vn,
349 von Steinhausen behandelten französischen Litteratur- und Kultureinflüsse in Deutsch-
land haben wir im 51. Hefte der ^Deutschen Litteraturdenkmale des 18. und
19. Jahrhunderts** (Stuttgart. G. J. Göschensche Verlagsbuchhandlung 1894) den Neu-
druck eines besonders wichtigen, bisher schwer zugänglichen Dokumentes erhalten:
„Christian Thomasius von Nachahmung der Franzosen**. Mit diesem Hefte begannt
eine neue billigere Serie der von SeuflFert x88i gegründeten „Deutschen Litteratur-
denkmale des 18. Jahrhunderts", nachdem das Schluisheft der alten Reihe, No. 49/50
noch den erwünschten Neudruck der Göttinger Musenalmanache, von K. Redlich
musterhaft besorgt, eröffnet hat.
In der Besprechung von M, Osboms „Teufellitteratur des 16. Jahrhunderts* VII,
483 hat A. Tille unter den Nachfolgern Luthers auf diesem Gebiete an erster Stelle
Andreas Musculus genannt. Seine wichtige und für viele vorbildliche Mahnschrift
„Vom Hosenteufel (isss)"* hat M. Osborn nun mit einer kulturgeschichtlich höchst
interessanten Einleitung als Heft 125 der „Neudrucke deutscher Litteraturwerke
des 16. und 17. Jahrhunderts* (Halle a. S., Max Niemeyer 1894) herausgegeben. In
gleichem Verlage sind zwei für Kultur- und Sprachgeschichte wichtige Arbeiten, die
sich gegenseitig ergänzen, zum Halleschen Universitätsjubiliäum erschienen: Der von
Konr. Burdach besorgte Neudruck von Augustins „Idiotikon der Burschensprache* von
1795 und der MS^<lcntenlieder** von 1781 unter dem Titel „Studentensprache und
Studentenlied in Halle vor hundert Jahren** und eine Skizze der geschichtlichen Ent-
wickelung der Halleschen Studentensprache und ihrer Bildungsgesetze von John Meier,
als „Hallische Studentensprache**.
*—
Die ossianischen Heldenlieder.
Von
Ludwig Chr. Stern.
m*).
Die ossianische Poesie war unter den gälischen Stämmen zu allen
Zeiten wahrhaft volkstümlich; schon auf den alten Volksfesten, wie
dem Jahrmarkte zu Carman, bildeten nach einem mittelirischen Ge-
dichte im Dindshenchas „die Heldentaten Finns, ein Stoff ohne Be-
schränkung'^ neben andern Erzählungen die Unterhaltung der Menge**).
So sehr beschäftigten die Sagenhelden die Einbildung des Volks, dafs
man in allen Ländern gälischer Zunge topographischen Namen, die
ihnen entlehnt sind, begegnet. Wenn man kühne Bildungen der Land-
schaft einen „Finnssitz" oder ein „Bett Dermids und Grainnes" nannte,
so hatte man die Vorstellung von gewaltigen Riesen, die vormals da
gehaust hätten. Schon im Agallamh erscheinen Oisin und Cailte dem
heiligen Patrick und seinen Zeitgenossen als Riesen (Silva gad. p. 95 f.);
als einen Riesen bezeichnen den Finn Mac Cuwal auch Will. Dunbar
und Hector Boethius (Scotorum histOria, Paris 1574, Bl. 128 b); ebenso
Will. Buchanan, der 1723 die ihn verherrlichenden „divers rüde rhymes"
erwähnt***). Besonders die berufsmäfsigen Barden waren in frühem
Zeiten die Fortpflanzer der Heldensagen, und so sehr blühte ihre
Kunst im 16. Jahrh., dafs sie dem Bischof der Inseln J. Carswell als
ein Übel erschienen; er klagt in der Vorrede seines Gebetbuches,
Edinburg 1567, des ersten Druckes in gälischer oder vielmehr irischer
*) Vgl S. 51 f.
**) Fianruth Find, fath cen dochta, O^Curry, Mannera 3, 54a, Cf. Saltair 735. 6687.
FiUrc 132.
***) In der albanogälischen Sprache werden unter fiantan (einer von dem Dativus
Plur. fiantaibh von fiann abgeleiteten Form) „Riesen** verstanden, so von M. Martin,
The westem Islands of Scotland, London 1703, p. 153, der fienty schreibt (d. i.
fianf^j/lhj R. Macdonald, CoUection ' p. 131).
Ztschr. t TfL Ltt.-Gc«cb. N. F. Till. jq
144 Ludwig Chr. Stern.
Sprache in Schottland, folgendermafsen: ^Grofs ist die Blindheit und
die Finsternis der Sunde und der Unwissenheit und des Verstandes
bei Lehrern und Schriftstellern und Pflegern der gälischen Sprache,
dafs sie lieber und gewöhnlicher die eitlen, schädlichen, lügenhaften
weltlichen Märchen über die Tuatha-De-Danann, die Söhne Miledhs,
die Ritter (d. h. des Königs Conchobar), Finn Mac Cumhaill mit seinen
Fiannen und viele andere, die ich hier nicht aufzähle und bespreche,
pflegen, erhalten und fördern, um sich den schnöden Lohn der Welt
zu verdienen, als dafs sie die treuen Worte Gottes und die voll-
kommenen Wege der Wahrheit beschrieben, lehrten und pflegten.
Denn die Welt liebt die Lüge mehr als die Wahrheit, wodurch be-
wiesen wird, was ich sage, dafs weltliche Männer die Lüge zu er-
kaufen bereit sind, aber die Wahrheit nicht umsonst hören woUen".
EKe ossianische Sage haftete tief im Gedächtnisse und die Über-
lieferung der Balladen ist bis in unser Jahrhundert fortgesetzt worden,
wo immer Galen zur Erholung und zum Zeitvertreib, zur Geselligkeit
oder zur Leichenfeier zusammenkamen; oftmals wurde in die Wette
recitiert. So war es in Irland und ebenso in Schottland und auf den
Inseln. Eugene O'Curry, der ausgezeichnete irische Altertumsforscher,
erzählt aus seiner frühesten Jugend, wie ein gewisser O'Brien, ein
Schulmeister mit weitvernehmbarer Stimme, oftmals mit einigen Freunden
auf den unteren Shannon hinausgefahren sei und sie dort beim Whiskey
durch das Absingen ossianischer Lieder unterhalten habe. J. F. Camp-
bell schildert die Zuhörerschaft, die ein gälischer Rhapsode an einem
Herbstabende 1860 auf der Insel Barra, einer der äufsem Hebriden,
um sich versammelt hatte. „Eine Frau'*, sagt er, „war in einem
Winkel der Hütte mit Weben beschäftigt, eine andere kämmte Wolle
und ein Mädchen spann geschickt mit einer aus einem rohen gabel-
förmigen Birkenzweige hergestellten Kunkel und mit einer Spindel«
die wenig mehr als ein Kienspan war. Am Feuer safs ein freund-
liches schwarzhaariges Mädchen, dessen klare dunkle Augen durch
den Torfiauch glänzten. Altere Männer und junge Bursche, kurz
vorher von ihren Fischerausfahrten zurückgekehrt, safsen auf Bänken
an den Wänden und hörten rauchend zu. Ein gewisser AI. Macdonald
hatte auf einem niedrigen Stuhle in der Mitte Platz genommen und
deklamierte seine Lieder, die man mit angemessenen Bemerkungen
und Ausrufen des Beifalls oder der Teilnahme begleitete. ,Oh! Oh!
— Ach! wie traurig!' riefen die Frauen aus, als die tragische Märe
von Dermid dem Sohne Oduhnes vorgetragen wurde."
Die ossianischen Heldenlieder. IH.
146
Die äufsere Form dieser Balladen, von deren Melodieen Sir John
Sinclair und E. Bunting Proben gegeben haben, ist einfach. Die
Strophe besteht, wie in der älteren irischen Poesie Oberhaupt, aus
vier sinneinheitlichen Versen von 7 oder mitunter 8 Silben, die ur-
sprunglich und in der mittelirischen Litteratur bestandig nur gezählt,
nicht auch gemessen oder gewogen werden. Die alte Poesie hat
auch Allitteration, die neuere nur noch Assonanz, eine unvollkommene
Art des Reims, die in der Gleichheit des Vokals besteht. Die Asso-
nanz oder der gleiche Vokal tritt mitunter am Ende des ersten und
zweiten, sowie am Ende des dritten und vierten Verses ein. So z. B.
im Dean's book:
Mor an oochd mo chumha fein,
a Thailginn atha dorn* reir,
ri smuaintiiin a* chatha chroaldh
thugamar is Cairbre crann-ruaidh.
Grois ist heute Nacht mein Leid,
Talgin, der mir wohlgeneigt I
Denk ich an die rauhe Schlacht
Gegen Cairbre den Rotschai^*).
Aber in den meisten Gedichten, wo der zweite Vers mit dem
vierten assoniert, kehrt der Endvokal des ersten und dritten auch
innerhalb des zweiten, beziehungsweise vierten, wieder. Z. B.
Ard a shleagh mar chrann sinil,
binne na teud cinil a ghutb;
sn^mhaiche do b*fhearr na Fraoch
cha do shin a thaobh ri srath.
Hoch sein Speer wie Schiffes Mast,
Harfengleich klang die Stimme.
Wenn sich Pröch im Strom gestreckt,
Gabs keinen heisren Schwlnmier. <
Diese Form der Assonanz ist bei den neuern gälischen Dichtern
die gewöhnliche; sie vernachlässigen nie den Binnen- oder Mittelreim**).
Die Volkslieder jedoch haben durch die Überlieferung vielfach ge-
litten, namentlich die albanogälischen, so dafs viele Strophen nur
dürftig oder gar nicht assonieren.
Ein kürzerer Vers wird in den Volksballaden selten angewandt;
so in einem Liede des Dichters Fergus:
Innis dhui'nn, a Fhearghuis,
fhilidh fdnne ElreannI
cionnas tharladh dhuinn
an cath Ghabhra nam beumann.
Der Fiannen Erins
Sänger, Fergus I sag,
Wie es uns ergangen
Bei Gaura in der Schlacht.
*) D. h. der den roten Speerscbaft hat. Talgin ist ein Beiname des heiligen Patrick.
*^ Ähnliche Caesurreime hat die mittelhochdeutsche Poesie, vergl. Germania la,
139 fil, mehr noch die mittellateinische. Die irischen Metra, deren eines (Rannaigecht
mhdr) der zweiten Versform der gälischen Volkslieder zu Grunde liegt, haben sich aus
den gereimten Hexametern entwickelt, namentlich aus den Caudatis, Leoninis, Citocadis.
Vergl. W. Meyer, Sitzungsberichte der Münchener Akademie 3, 70 ff. (1875) und
1882, I, p. 41 ff.
. 10*
146 Ludwig Chr. Stern.
Noch kürzere Verse, von 4 Silben, hat das Lob Golls:*)
Ard aignedh Ghaill, Hochherzig Goll,
fear cogaidh Phino, Pinns Widerpart,
laoch leobhar lonn, Kräftig und kühn,
'fhoghail nach tlom. Im Kriege nicht zag.
Obwohl die ossianischen Heldenlieder, wovon sich in Schottland
etwa ein halbes Hundert nachweisen läfst, in manchen Schriften be-
sprochen und in verschiedenen Fassungen ediert sind, so sind sie im
allgemeinen doch nur den mit der gälischen Litteratur Vertrauten
bekannt geworden; denn nur ein Teil davon ist ins Englische über-
setzt. Einige Angaben über ihren Inhalt, einige Proben dieser Poesie
dürften daher selbst dem Freunde der allgemeinen Litteratur willkommen
und gleichsam als Belege hier notwendig sein. Kampf denn und Krieg
sind der Gegenstand der allermeisten ossianischen Balladen, gefahr-
volle Züge und Abenteuer, Anfechtung durch Zauberer und Hexen
und nicht zum mindesten das Waidwerk. Wenige Gedichte gewähren
einen Einblick in das häusliche Leben der Helden, denen die Sage
ja überhaupt ein unstätes Wanderleben zuschreibt. Dagegen erzählen
die Balladen den Tod der hervorragendesten Kämpen, den Untergang
des ganzen Stammes und das freudlose Alter Oschins, der alle über-
lebt und die Dahingeschiedenen besingt**).
Ehe wir die eigentlich ossianischen Balladen betrachten, müssen
wir einiger aus dem Sagenkreise des Königs Conchobar von Ulster
gedenken, da Macpherson auch diese für seinen „Ossian" benutzt hat,
unbekümmert um den Anachronismus, den er damit beging. Die
Ballade von „Fröch dem Drachentöter", deren gälischer Text im
wesentlichen der des Dean's book geblieben ist und von der J. Stone
1756 eine langatmige Paraphrase in zehnzeiligen Strophen veröflFent-
lichte, beruht auf einer alten Erzählung im Buche von Leinster, p. 250a,
die jedoch nicht den von dem Balladendichter beliebten tragischen
Ausgang hat. Von den sonstigen schon im Dean's book aufge-
zeichneten ultonischen Balladen, „Cuchulinns Vogelfang", .„Die Kopfe"
*) Dies Lied scheint Macpherson in Fingal IV (p. 56 ed. 1762) im Sinne gelegen
zu haben, wo er von seinem Schlachtgesang Ullins sagt: „It runs down like a torrent,
and consists almost entirely of epithets**.
**) Aus deih Sagenkreise des Königs Arthur findet sich eine Ballade, die an den
Traum Maxen Wledigs im Mabinogi erinnert; sie liegt in 7 Recensionen vor: in Sinclairs
Clarsach na coille, Glasgow 1881, p. 263 — 65, in Campbeils Leabhar na feinne p. 208,
in Gaelic Soc. Invemess 9, 67 jQf.; und in AI. Camerons Reliquiae celticae i, 368.
Die ossianischen Heldenlieder. III. 147
und „Conlaech", darf die letzte hier nicht übergangen werden, da sie
in jeder Beziehung wichtig ist. Sie beruht auf der alten Erzählung
„Aiged Enfir Aifi** im Gelben Buche von Lecan und auf dem Toch-
marc Emere (übersetzt von K. Meyer im Archaeological Review i , 302).
Darnach lernt der berühmte Cuchulinn die Waffenkunst von einer
Heroine Sgathach auf der Insel Skye; Mutter und Tochter verlieben
sich in den Helden, der dann an einem Kriegszuge der erstern gegen
die Fürstin Aife teilnimmt. Nachdem Cuchullin diese besiegt hat, er-
hört sie seine Bitten und gebiert nach seiner Heimkehr nach Erin den
Conla. Diesem soll der Vater selbst bestimmt haben, dafs er sich
niemand zu erkennen gebe, niemand ausweiche und keinen Kampf
ausschlage. Nach der Ballade ist es aber die Mutter, die dem aus-
ziehenden Conlaech*) die Verschweigung seines Namens und seiner
Herkunft auferlegt hat. In Erin übertrifft er durch Kraft und Tüchtig-
keit alle Helden und besiegt die Besten. Selbst sein Vater Cuchulinn,
der ihn nicht erkennt, vermag ihm in den gewöhnlichen Waffengängen
nichts anzuhaben, aber er überwindet ihn endlich mit dem gai-bolga
(Balggeer), dessen Kenntnis er von ihm voraus hatte, und ist tief
bekümmert, als er aus dem Munde des Sterbenden vernimmt und an
einem einst Aife geschenkten Ringe, den er vorweist, erkennt, dafs
er seinen eigenen Sohn erschlagen hat. Ich halte es nicht für erweis-
bar, dafs unser uraltes Hildebrandslied, wie H. D'Arbois de Jubainville
annimmt**), eine Umdichtung der celtischen Sage sei; eher möchten
sich in der Jüngern Form des germanischen Gedichtes Anklänge an
diese wieder finden, obschon sie nicht den tragischen Ausgang der
irischen hat. Da sagt der Alte zum Sohne: „Nun sage du mir, viel
Junger, den Streich lehrte dich ein Weib". Auch das „incident** des
Ringes ist durchaus irisch und kommt z. B. in der Schlacht von
Magh-Rath ed. O'Donovan p. 72 vor; in der jungem deutschen
Ballade giebt sich Hildebrand seiner Frau durch einen Ring zu er-
kennen, den er in den Becher fallen läfst. Macpherson hat nun in
seinem „Carthon" ganz allgemeine Beziehungen zu der gälischen
Ballade; unter andern Entstellungen gestattet er sich die, dafs bei ihm
der Vater seinen Namen verhehlt, seine Personen beruhen auf freier
*) Aus dem altern Conla ist die Form Conlaech, Conlaoch hervorgegangen, nicht
Conmaol, wie im Journal des S^vants 1764 p. 851 steht.
**) L'^op^e celtique en Ir lande i, p. XXXIII fif. (1893).
148 Ludwig: Cbr. Seen.
Erfindung*), und in einer Anmerkung zum Death of Cuchullin
beschreibt er Conloch als einen guten Schützen, „for his dexterity
in handling the javelin"". Er stellt eben alles auf den Kopf.
Wie wenig Macpherson von einem gälischen Texte verstand, be-
weist noch deutlicher die von ihm benutzte Ballade „Garw und
Cuchulinn**, deren Schwierigkeit er allerdings in dnem Briefe an
Madagan 1761 zugesteht (Report, .app. p. 154). Dieses vermutlidi
dem 17. Jahrhundert angehörige albanogälische Gedicht beschreibt,
wie Garw der Sohn Starns mit starker Flotte in Erin landet um sich
das Land zu unterwerfen. Obwohl vom Könige Conchar (der Text
hat irrtümlich ConaU mit der falschen, freilich schon im Dean*s bock
begej^nenden Filiation Mac Eidirsgeoil) in Tara (es soUte in Emain
heifsen) mit Gastfreundschaft aufgenommen, besteht er auf seinem
feindlichen Plane und hat, von einem Verräter namens Brichni (dem
berühmten Thersites der Sage von Ulster) unterstützt, schon fünfzig
Königssöhne als Geiseln ausgewählt, als ihm Cuchullin entgegentritt
und ihn nach langwierigem Kampfe tötet.
,Birich, a righ**) na Teamhra! «Aufl erheb dich, König TarasI
Chi mi *n loingeas dolabhradh, Zahllos viele Schiffe seh ichl
lomlän nan cuan clannach Auf dem wogenreichen Meere
do longaibh nan allmharach.* — Wimmelts von den Schiffen der Frem-
den!« —
,*S breugach thu, dhorsair gu buadh***), ^l^i^S^cn sprichst du, guter Pförtner,
*s breugach thu M diu *s g^ch aon uair! Heute lügenhaft wie immer I
's e th*ann loingeas mor nam Magh Denn vom Magh-Land ists die Flotte,
*s e teachd chugainn d*ar cobhair/ Welche uns cur Hfllfe herankommt.*
Diese Worte, die später für den Anfang des „Fingal" benutzt sind,
giebt Macpherson in den Fragments' No. 14 so wieder: »Rise, Cuchulaid,
*) Cuchulinn wird bei Macpherson cu Clessammor (was sich in den apokryphen
Gedichten Kennedys und Smiths wiederfindet), vermutlich nach dem Cü nan cleas (Cucbulimi
der Fechtkfinste) in der Ballade. Während Conlaechs oder Carthons Mutter bei ihm Moina
heilst, wird im Pingal (p. 18 ed. 1763) die in the Isle of Mist (d. i. Eilean a* che6 oder
Skye) zurückgelassene Mutter Conlaechs ganz willkfirlich Brag^la genannt.
**) var. a chu, daher Macphersons Cuchulaid, wie er für sein späteres Cuchullin
schreibt; der Name lautet richtig Cuchulaind oder Cuchulainn.
***) Die Texte geben gu muadh, was ftr irisch go mbuadh steht. In H. Macleans
Texte in den Ultonian Hero-ballads sind einzelne Stellen nicht befriedigend, z. B. Str. 3
gun ealla statt gun fheall, Str. 5 gun fhail statt gun fhoill «ohne Verrat**, Str. 7 sonn
catha na claoin Teamhrach heifst: «der Schlachtheld des schrägen Tara* (vergl. Teagasc
flatha Str. 15}, Str. 12 dronnadh cheud statt pronn cheud „ein Mahl ftlr Hundert*, gun
uirich statt gun fhuireach, Esraidh statt Basruaidh u. a. m.
Die ossianischeii Heldenlieder, m.
14^
rise! I see the ships of GarvQ, Many are the foe, Cuchulaid; many
the sons of Lochlyn. — Moran! thou ever tremblest; thy fears increase
the foe. They are the ships of the Desert of hills arrived to assist
Cuchulaid^. Garw der Sohn Stams, den Macpherson später Swaran
nannte, ist übrigens eine durchaus fabelhafte Persönlichkeit, entstanden
aus der Sage von den ältesten Kolonisten Irlands. Schon im Buche
von Leinster p. 127a heifst es: co tancatar clanna Stairn assin Greü
uathfmur aegairb, dafs die Söhne Stams aus dem schrecklichen rauhen
Graecia gekommen seien*); und es ist sehr merkwürdig, dafs die
Ballade fast die nämlichen Worte bewahrt hat:
Ma*s e *n Garbh mac Stairn a th*ann
o*n Ghreig uamharraidh ro-ghairg,
bheir e Ids ar geill thair moir
a dh'aindeoin fhear nam fiann.
»Wenn es Garw der Sohn des Stam ist.
Von den schrecklich wilden Gräken,
Bringt er Qbers Meer die Geiseln
Den Fiannenmannen zum Trotze**.
Noch eine andere Stelle erinnert an so alte Texte:
Pearghus mac Rossa mac Raigh,
*n laoch a b'airde dh' fhearaibh Pail,
cha b*airde Fearghus astigh
na *n Garbh mac Stairn *na shuidhe.
Fergus, Roihs und Rossas Spröfsling
(Von den Männern Fails der längste),
Er selbst safs bei Tisch nicht höher,
Als nun Starns Sohn, Garw, kam zu sitzen.
Fergus war nämlich ein kolossaler Mann und starker Esser, wie der
von Prof. Windisch (Texte IL i, 210) aus LL. io6b edierte Text
lehrt. Macpherson kennt ihn: „Fergus, first in our joy at the feasti
son of Rossa! arm of death!" (Fingal i, 181). Auch Cet mac Matach,
ein anderer Ritter der Craeb ruaid, d. h. des Palastes vom Roten
Zweige**), kommt in der Ballade vor; daneben aber auch Namen wie
CaÜte und Cormac, die dem Sagenkreise Finns angehören. Mac-
pherson hatte die Ballade im Fingal i, 70 ff. vor Augen, wo er fiir
nuic nthic Chairbre dn chraotbh ruaidh „der Enkel Cairbres vom
Roten Zweige" schreibt: Cairbar, from thy red tree of Cromlal —
für Aodh nuic Gharadh d gtUuin ghil „Adh der Sohn Garahs von
weifsem Kniee": Bend thy knee, o Eth; für Camlte ro-gheal mac
Ronain, Fear-dian taobk-gheal „Cailte Ronans Sohn der glänzende und
*) Ähnlich im Buche von Fenagh p. 50: co ticc dann in miled Sdaim asin Greg
uallach ngairb.
*♦) S. Windisch, Irische Texte p. 100 iBf.
160 Ludwig Chr. Stern.
Ferdian von weifser Seite" (oder glänzendem Leibe): Caolt, Stretch
thy side as thou movest along the wistling heath of Mora.
Ein gälisches Gedicht über den Streitwagen Cuchulinns mit den
beiden Pferden, von dem J. Grant, die Brüder Maccallum, der Report
app. p. 204 fF. und J. Macdonald (Gael. Soc. Invern. 13, 288) Rezen-
sionen liefern, beruht auf den entsprechenden Stellen in mittelirisdien
Erzählungen*). Macphersons Beschreibung im Fingal i, 345 ist weit
davon verschieden; ebenso Cuchulinns Kampf mit Ferdia (im Fingal
2, 377) von der gälischen Erzählung in Prosa, die ihm vorlag.
Die Ballade von Derdri, der Gemahlin oder, wie andere wollen,
der Verlobten des Königs Conchobar (Conchar), die von ihrem Ge-
liebten Naischi und seinen Brüdern, den drei Söhnen Usnechs, entfuhrt
wurde, dann aber nach deren Ermordung sich über dem Grabe der
Brüder den Tod gab, beruht auf zwei mittelirischen Erzählungen, „der
Verbannung der Söhne Usnechs" und „dem Tode der Söhne Usnechs".
Auch ein neugälisches Märchen, auf das schon in einem Gedichte aus
dem Anfange des 18. Jahrhunderts Bezug genommen wird (Sinclair,
The gaelic bards 2, 100), ist daraus hervorgegangen. Es wurde 1867
auf der Insel Barra aufgenommen und darnach später veröffentlicht
(Transact. Gael. Soc. Invern. i, 45ff. 13, 241 ff.) — übrigens nicht
ohne Zutun von Buchgelehrsamkeit**). In dieser Überlieferung heifst
die Heldin Dearduil, woraus Macpherson seine Darthula gebildet hat.
Die Ballade weicht in den Einzelheiten von den verschiedenen Er-
zählungen nicht unbedeutend ab; bei Macpherson ist alles eigene Er-
*) S. Wiodischs Texte p. 310 (== LU. 133 a); O'Curry, Maoners 3, 4*8 {= LL. 83 a);
E. 0*RellIy, Essay p. 320 (aus dem Brisleach Mhuighe Mhuirtheimhne). — In dem Namen
eines der Pferde im Fingal i, 345 Sulin-Sifadda haben mehrere der Verteidiger Mac-
phersons, wie Mac Naughton, Jerram und Nicolson (^Proverbs p. 141), den Beweis ge-
sehen, dals er, als er so schrieb, schon das Gälische von 1807: *s bu luath *shiubbal,
Sithfada b*e *ainm ^rasch war sein Gang, Sithfada war sein Name** vor sich gehabt habe,
da der Name SuUn-Sifadda eben aus dem eigentlichen Namen Sithfada (Langschritt) und
dem davorstehenden Worte shiubhal (spr. hjül) «sein Gang** irrtfimlich zusammengesetzt
sei. Wenig wahrscheinlich ! Macphersons Sulin-Sifadda scheint vielmehr aus saoi-oileanda
sioth-f hada (wohlaufgezogen, weitspringend) nach der Lesart im Report, app. p. 304, ent-
standen zu sein. Der richtige Name des einen Pferdes lautet auch Liath-mhaiseach (im
Irischen Liath-macha), während das andere, von Macpherson Dusronnal (d. i. Dubh-
sröngheal) genannt, im Gälischen Dubh-sronmhor oder Dubh-seimhinn (im Dean*s book
No. 49 Dow-seywlin) und im Irischen Dubh-fhaelind heifst
**) Das zeigt das Wort lingeantach (Inv. 13, 351), das aus der fehlerhaften Lesart
Alba cona lingantaibh (Rep. app. p. 398) statt co n-a hingantaib (Irische Texte II. 3, 137)
gebildet ist.
Die ossianischen Heldenlieder, in. 151
fiadung, sogar den Selbstmord Derdris hat er beseitigt. Die Ballade
erzählt ihn so:
Shin i *n sin a taobh r*a thaobh Und sie warf sich Ober Naischi,
agus chuir i beul r*a bheul Ihren Mund auf seinen heftend,
is ghabh i *n sgian gheur *na cridhe Stiefis ins Herz das scharfe Messer
's dh* fhuair i *m b^ gun aithreachas. Und fand so den Tod ohne Reue.
Die Ballade ist in dem Buche Hector Macleans, die Erzählungen in
Prosa in dem von D*Arbois de Jubainville übersetzt worden.
Die hier besprochenen Balladen aus dem Sagenkreise Ulsters sind
nicht eigentlich ossianische; aber wohl schon lange vor Macpherson
hatte man in Schottland vergessen, dafs sie von einer Zeit handeln,
die fast 300 Jahre vor der des Finn Mac Cuwal liegt. Auch die
gälischen Balladen, welche Oschins Namen tragen, leiden an starken
Anachronismen. So haben manche, die ich zuerst betrachte, als ihren
historischen Hintergrund die Invasion der Lochlanner oder Norweger,
die nationale Kalamität, die Irland im 9. bis 11. Jahrhundert heim-
suchte. Eine der bekanntesten Balladen bezieht sich auf Magnus Ber-
faeta den Sohn Olafs des Sohnes Aralts, den König von Norwegen,
der 1098 die westlichen Inseln mit Krieg überzog*), dann in Ulster
landete, Dublin angriff und plünderte und nach Connacht zog, bis er
auf einem Beutezuge (ar crech) 1 103 ums Leben kam, worauf seine
Flotte heimkehrte. Die in Irland und Schottland überlieferte Ballade,
die vielleicht dem 17. Jahrhundert angehört, ist als ein Gedicht Oschins
an den heiligen Patrick gerichtet und wird durch die folgenden Strophen
eingeleitet:
A chleirich a chanas na sailm, Pfafife, o du Psalmensänger!
air leam fein gar borb do chiall; Roh ist dein Verstand, so scheint mir.
nach eisd thu tamull ri sgeul Willst du meine MSr nicht hören
air an fheinn nach fhac thu riamh? — Von den Kriegern, die du nicht gesehn
hast? —
Air mo chubhais-sa, mhic Phinn, Meiner Treul Sohn Finns, wie lieb auch
ge binn leat teachd air an fheinn, Dir der Sang von den Fiannen,
fuaim nan salm air feadh mo bheoil Psalmenklang aus meinem Munde,
gur e sud is ceol domh fein. — Der erscheint mir selbst musikalisch. —
Na bi tu comhadadh do shalm Was! vergleichst du deine Psalmen
ri fiannachd Eirinn nan arm nochdl Erins Heer von blanken Waffen I
a chleirich, gur lan olc leam Pfaffe, kaum kann ich mich halten
nach sgarainn do cheann ri d^chorp. — > Dir den Kopf vom Rumpfe zu hauen! —
*) Die Skalden besingen den Kriegszug, s. Vigfiisson and Powell, Corpus poe«
ticom boreale 3, 244. Vergl. auch Zeitschrift Hlr deutsches Altertum 35, 33.
163 Ludwig Chr. Stern.
Sin fui d^chomraich-sa, fhir mhoir, O verzeih, mein Herr! voll Wohllaut
laoidh do bheoil gur binn leam fein ; Ist auch deines Mundes Lied mir.
togbliar leatsa sealan ann, Stimme es nur an ein Weilchen!
bu bhinn leam teachd alr an fheinn. — Lieb sind mir Fiannengeschichten. —
Nam biodh tu, a chleirich chaidh, Wärst du, frommer Pfiff, gewesen
air an traigh tha siar fa dheas An der Küste nach Südwesten,
ag Eas Laighean*) nan sruth seimh, Bd Es-Laihens sanften Fluten,
air an fheinn bu mhor do mheas. Würdest du die Fiannen bewundem.
Der Dichter erzählt, wie König Magnus von Lochlan mit starker
Flotte landet und durch den Sänger Fergus, der ihm entgegengeht,
als Zeichen der Unterwerfung nichts Geringeres als die Gattin des
Königs Finn (Fingal) und seinen Lieblingshund Bran fordert**). Finn
erwidert:
Chaoidh cha tug^nnse mo bhean Keinem Manne unter der Sonne
do dh' aon neach ata fo 'n ghrdn, Werde ich mein Weib je geben,
*s cha mh6 bheir ml Bran gu brath, Noch will ich von Bran mich trennen,
£^s an teid am bäs *na bheul. Bis dafs einst der Tod ihm ins Maul fährt
Nachdem die Heerführer der Fiannen siegesgewifs die Bekämpfung
der einzelnen Fürsten der Lochlanner unter sich verteilt haben***),
sagt Finn:
,Beiribh beannachd *s beiribh buaidh!* ,Segen sei und Sieg sei euer!^
thuirt mac Cumhaill nan gruaidh deargi Sagte Finn von roten Wangen.
,Maghnus mac Mheatha nan sluagh ,Wie ergrimmt er ist, mit Magnus,
coisgear leam, ge mor a fhearg.* Mehas Sohne, nehme ichs selbst auf/
Am andern Morgen rücken die Lochlanner vor und die Fiannen
ziehen ihnen entgegen.
*) Statt Näs Laighean, einem Orte in der Grafschaft Kildare (Oss. 4, 48). Aus den
fehlerhaften Varianten Eas Laoghaire, Laoire ist ^hovR* und Macphersons Battle of
Lora entstanden, wie er ein anderes Gedicht nennt.
**) Macpherson hat als Forderung Swarans an Cuchullin: »Cive thy spouse and
dog** (Fingal 3, 183). — Tatsächlich übersandte Magnus dem irischen König Murker-
tach seine Schuhe mit dem Geheifs, da& der König sie vor den Gesandten auf seine
Schultern lege. Nach den einen tat er es, nach den andern nicht.
***) Von Macpherson im Fingal 4» 382 — 97 ziemlich getreu wiedergegeben. Die
letzte Strophe flbersetzt er: ,Blest and victorlous be my chiefe, said Fingal of the
mildest look. Swaran, king of roaring waves, thou art the choice of FingaK Verg^l.
Battle of Magh Leana ed. 0*Curry p. 114 f. — Der von Macpherson genannte Connal
fehlt in den unver^schten Texten; eine ihn betrefifende Strophe ist aber in die Gllliessche
Edition der Ballade aufgenommen.
Die ossiaiilschen Heldenlieder, in.
158
Thog sinn Dealbh ghrdne ri crann*),
bcatach Fhinn bu ghzrg an treas,
*s i Icimlan do cblochaibh *n or,
againne bu mbor a meas.
Nun ward auf|^ehifst »die Sonne**,
Finns des schlachtenrauhen Banner,
Voll von goldgefafsten Steinen,
Hoch von uns in Ehren gehalten.
Die Fiannen halten was sie versprochen, die Lochlanner werden
m die Flucht geschlagen.
Thachair mac Cumhaill nan cuach
agus Maghnus nan mag aigh
ri cheir an tuiteam an tsluaigh,
's a chleirich, bu chruaidh an dail.
Gu*m bu sud an tuirlin teann
mar dheann a bheireadh da ord,
cath fiiileachdach an 6k righ,
gu*m bu ghuineach brigh an colg.
Air briseadh do*n sgiathaibh dearg
's air eirigh d*am feirg is fraoch,
thilg lad an ainn sios gu lar
's chaidh iad an spaim an d4 laoch.
Nuair a thoiseach stri nan triath
's ann leinne bu chian an clos;
bha clachan agus talamh trom
a mosgladh fo bhonn an cos.
Leagadh righ Lochlainn an aigh
am fiadhnuis chaich air an fhraoch
's airsan, ge nach b'onair righ,
cbuireadh ceangal nan tri chaol.
Da traf Cuwals Sohn der Becher
Magnus von den Ruhmeskämpfen
Mann an Mann in dem Getümmel —
PfajQfel grausig war die Begegnung.
Dieser harte Kampf erdröhnte
Wie das Krachen zweier Hämmer;**)
Blutig war der Streit der Könige,
Gräislich ihres Eifers Gebahren.
Als die roten Schilde brachen,
Zorn und Wut in ihnen aufstieg,
Warfen sie die Waffen von sich.
Diese beiden Helden, und rangen.
Als der Streit der Fürsten anhub,
Wards uns lange still zu stehen.
Aufgewirbelt wurden Steine,
Schweres Erdreich unter den Füfsen.
Da ward Lochlans Ruhmeskönig
Auf die Haide hingeworfen
Und ihm — für den König schimpflich —
Seine schmalen Dreie***) gebunden.
*) Dies ist die einzigste Zeile, die im gälischen ,Ossian* von 1807 (Fingal 4, 360)
mit der Ballade überein lautet; nur wird bei Macpherson und Oberhaupt in neuem
gälischen Texten Fingais berühmtes Banner deo-ghrenu genannt (Fingal i, 647. i, 339;
Ob. 7b; Mac Intyre p. 104) und irrtümlich als sun-beam erklärt, in welcher Bedeutung
dann moderne Dichter das Wort gebrauchen (Smith, Seandäna p. 41; Munroe, An
tailleagan p. 41). Den richtigen Namen hat das Dean's book: dalwe zreynith „das Bild
der Sonne**. Bei den Iren heifst das Banner auch geal-grelne (Brooke, Rellcs ' p. 275)
oder gal grehie (Relics * p. 408; O'Flanagan, Deirdri p. 77 — daher so auch in Moores
Irish melodies) oder gath greine (O'Flanagan p. 337) oder gile greine (Walsh, Irish
populär songs p. 58; auch Cb. 197 a. 107 a).
**) Macpherson hat diesen Zweikampf im Fingal p. 63 ed. 1762 = Fingal 5,
42 «-62 nachgedichtet: „There was clang of armsl there every blow, like the hundred
hammers of the fumacel Terrible is the battle of the kings, and horrid the look of
their eyes . . . They fling their weapons down. Fach rushes to his hero's grasp . . .
Bat wben the pride of their strength arose, they shook the hill with their heels*", etc.
***) d. i. Hand-, Fuis- und Halsgelenk; mitunter werden f&nf Schmale gezählt.
154
Ludwig Chr. Stern.
Sin nuair labhair Conan maol
mac Morna^ bha riaroh ri hole:
,Cumar rium Maghnus nan lann,
gu*n sg;arainn a cheann ri chorp!*
fChan 'eil agam cairdeas na caomh
riutsa, Chonain mhaoil gun fhalt;
o tharladh mi *n grasalbh Fhinn,
*s annsa leam na bhi fo d*smachd.^
,0 tharladh thu *m ghrasaibh fein,
chan iomair mi beud air flath,
fuasglaidh mi thusa o m' fheinn,
a lamh threun a chuir mor chath.
/S gheibh thu do roghainn arls.
nuair a theid thu do d*thir fein,
cairdeas is comunn do ghnath
no do lamh a chur fo *n fheinn.*
,Cha chuir mi fa d* fheinn mo lamh,
'n cian a mhaireas cail am chorp,
cha toir mi buill* ad aghaidh, Fhinn,
*s aithreach leam na rinn mi ort.*
Mornas Sohn, der kahle Conan,
Sprach, ilur stets auf Böses sinnend:
, Lasset mir den Schwerter-Magnus,
Ihm den Kopf vom Rumpfe zu trennen !* —
,Zwischen uns ist keine Freundschaft,
Kahler Conan ohne Haare!
Wohl mir, dafs ich Finn zur Gnade,
Nicht in deine Macht bin gefallen!* —
,Da du meiner Gnad anheimfielst,
Ob ich nicht am Fürsten Frevel,
Geb dich frei von den Fiannen,
Tapferhand und Kämpfer der Schlachten!
, Wähle jetzo von zwei Dingen:
In dein Land zurückgekommen,
Freundschaft uns und Bund zu halten
Oder den Fiannen zu trotzen.* —
,Nie, so lange ich am Leben,
Werd ich den Fiannen trotzen
Oder dich, o Finn, bekämpfen!
Was ich gegen dich tat, gereut mich.* —
Den von der Volkssage an diese Ballade angeknüpften Treubruch
des Königs Magnus (Campbell, Tales 3, 364 fF.) hat Kennedy seinem
Texte in eigenen Versen angehängt. Es giebt aber eine besondere
Ballade von einem Zuge, den Finn, auf eine trügerische Einladung des
Königs Magnus seine Tochter zu freien, nach Lochlan unternahm. Nur
ihre Tapferkeit rettete hier die Fiannen von dem Untergange, der
ihnen bereitet werden sollte.*) Für Macphersons Erzählung von der
fabelhaften Agandecca (im Fingal 3, 14 ff.) ist keine andere Unterlage
nachweisbar. Die Ballade, die einer Meerfahrt nur in einer Strophe
einer späten Recension (Campbells P) gedenkt, ist unvollkommen über-
liefert und bezieht sich ursprünglich ohne Zweifel nur auf einen Zug
nach Leinster (Laighean leathan), nicht aber nach Lochlan.
Die sehr bekannte Ballade von Ergan, einem andern Könige von
Lochlan, der nach Irland kam um die Entfuhrung seiner Gemahlin
durch einen der Fiannen zu rächen, Teanndachd mhor na feinne „die
grofse Bedrängnis der Fiannen"* betitelt, stammt spätestens aus dem
Anfange des 17. Jahrhunderts**). Sie hat Macpherson den Stoff zu
*) Schon das Buch von Howth (16. Jahrh.) kennt die Ballade; s. Hanmer's
Chronicle p. 31, ed. 1809.
**) Das Argument der irischen Ballade hat W. Haliday in seiner Grammar of the
gaelic lang^age 1808, p. 133, veröffentlicht.
1
Die ossiaoischeiL Heldenlieder. III.
1&5
seiner „Schlacht von Lora" geliefert, aber es ist nicht nötig, die ober-
flächliche Art, in der er sie benutzt hat, im einzelnen nachzuweisen,
da Frau Talvj auf Grund der Youngschen Übersetzung ihrer Zeit ein
anschauliches Bild davon gegeben hat. Nur ein Beispiel sei gestattet.
Unter den Geschenken, die die irische Königstochter dem Könige von
Lochlan als Sfihne anbietet, nennt Macpherson: „An hundred girdles
shall also be thine, to bind high-bosomed women; the friends of the
births of heroes, and the eure of the sons of the toil" — in der
spätem Ausgabe veränderte er warnen in maids, gewifs keine Ver-
besserung. Nicht den geringsten Anhalt bieten die Worte der Bal-
lade für die gelehrt kommentierten „sanctified girdles" Macphersons.
Gheabhadh tu sud Is ceud crios,
cha tejd slios mu*n teid lad eug,
chaisgeadh iad leathtrom is sgios,
leug liomhach nam bucal bän.
Das sei dein und hundert Gürte],
Tod verhütend, wo sie binden,
Schwere auch und Müde hindernd,
Weifs von Schnallen*), kostbares
Kleinod.
Mit einem Kriege gegen die Lochlanner ist auch die Sage von
der Mulertach**) in einer andern, von AI. Cameron im Scottish Celtic
Review 1885 behandelten, Ballade verknüpft. Vom Reiche Lochlan
kommt an die Küste Erins ein weibliches Ungetüm, das die Fiannen
zum Kampfe herausfordert. Finn besiegt imd tötet das Scheusal. Um
die Mulertach, seine Muhme, zu rächen, kommt der König von Loch-
lan mit starker Flotte nach Erin. Da er die reichen Geschenke, die
Finn ihm bieten läfst, ausschlägt, so ziehen ihm die Fiannen mit ihren
Bannern entgegen***). In der Schlacht bei Benn-Edir (d. i. dem Hügel
von Howth) werden seine Streitkräfte gänzlich vernichtet und er selbst
durch Oscar, Finns Sohn, getötet. Die Ballade ist nicht sehr alt und
^ bucal, bucail ist das englische buckle, z. B. Sinclair, The gaelic bards i, 153.
2, 149; auch im Irischen: bucladha brög „Schuhschnallen**, Hardiman i, 338; buclaidhe,
Merriman Vs. 371; buclaoi, Vs. 391.
**) Muileartach oder Muireartach (nur in wenigen Texten masc. gen.) scheint so
Tiel wie Schreckgespenst zu bedeuten; vergl. Campbell, The Fians p. 69; Mackenzie,
Beauties p. a86b; W. Ro&, Poems p. 33 ed. 1877. Von einem Ungeheuern Meerwdbe,
das an die Kflste Schottlands gekommen sei, berichten irische Annalen um 900; vergl.
Stokes, Book of Lismore p. XLU. Von kriegerischen Jungfrauen und Hexen wird auch
sonst erzählt; vergl. Todd, Wars of theGaedhil with the Call p. 40; Silva gadelica p. 309.
***) Die Aufzählung der Banner der fiannischen Häuptlinge gehört nach der Reim-
steUnng in diese Ballade, nicht in Magnus oder Ergan.
156
Ludwig Chr. Stern.
den Iren, wie es scheint, nicht bekannt. Auch Macpherson hat sie
nicht gekannt oder doch als zu barbarisch bei Seite gelassen.
Häufiger werden in den ossianischen Balladen die Kämpfe gegen
einzelne gewaltige Helden geschildert, die an der irischen Küste er-
scheinen; meist aus Lochlan, denn die Welt des Dichters ist klein.
Dahin gehören „Derg", „Conn", „der wilde Maihre** und „Illan, der
Prinz von Hispanien" u. a. Von diesen ist die Ballade von Derg, dem
Sohne Drewils, der aus Lochlan nach Irland kommt und, nach Be-
siegung von zweihundert Kriegern des Königs Cormac und ebenso-
vielen des zu Hülfe eilenden Finn, von Goll getötet wird, ein altbe-
kanntes irisches Gedicht, vermutlich aus dem i6. Jahrhundert*). Die
dem Sänger Fergus zugeschriebene Ballade hat eine gewisse Korrekt-
heit in der Schilderung der Handlung und ihrer Umstände und
wird daher im albanogälischen Sprichwort als das Muster der Gat-
tung bezeichnet (Nicolson, Proverbs p. 189, 414). Viel bekannter in
Schotdand ist eine schon von Young edierte Ballade von Conn, dem
Sohne Dergs, die als eine Nachahmung der irischen von Derg er-
scheint und vielleicht am Ende des 17. Jahrhunderts eben unter den
Galen Schottlands entstanden ist. Sie wird Oschin zugeschrieben und
ist an Patrick gerichtet. Conn, heifst es, ein noch gewaltigerer Held
als sein Vater, kommt nach Irland um an den Fiannen seinen Vater
zu rächen. Der Sänger Fergus geht ihm entgegen um seine Absichten
zu erkunden. Der Held erwidert:
,Iiiiiseam-sa sin duit gu beachd,
Phearghuis, agus buin e leat,
eirig iD*athar b*aill leam uaibhse,
o*r mathalbh 's oV mor uaislibh.
»Ceann Phinn is a dhä mhic mhoir,
Ghuill, ChriomhthaJim agus Gharadh,
*s cinn chlann Morna gvi haile
fhaotainn an eirig aon duine.
,No Eirinn o thuinn gu tuinn
a gheillachdainn do in*aon chuing,
no coig ceud d*or fine *maireach
gu comhrag mear diobbalach.*
,Ich will dirs in Wahrheit sagen,
Hör es, Pergus, und bewahr es!
Meinen Vater will ich rächen
An den Besten euerer Edlen.
,Pinn und seine beiden Söhne,
Goll und Crihwin mitsamt Garah,
Aller Kinder Momas Köpfe
Will ich für den Einen als Sühne.
,£rins Land von Wog zu Woge
Soll sich meinem Joche fügen
Oder Kampf bis zur Vernichtung
Will mit fünfmalhundert ich morgen/
Fergfus überbringet die ernste Nachricht, und es heifst:
*) La guerre ou la descente de Dearg, fils de DiriC| roi de Lochli^, im Journal
des S9avants 1 764, p. 847 f. erwähnt Das Gedicht ist von den Maccallums ediert und
übersetzt, aber durchweg gefälscht.
Die ossianischen Heldenlieder, m.
167
*S e thuirt coi^ ceod d*ar fine:
,Caisgidh sinn a luath mhirel*
Cha robb sud doibb mar a radb
ri dol anns an iomarbbaigb.
Ri laicslnn doibb confbadb Cbuinn
mar onfbadb mara le tuinn
agus ^Etlacbd an fblr mboir
an coinneamb athar a dbioladb;
*S e tbuirt Conan maol mac Mom:
^Leigear mi tbuige cbeud oirl
*s gu*m buininn an ceann amacb
do Chonn dimeasach uaibbreacb/
»Marbhai^ ort, a Chonain mbaoill
nach sguir thu do dMonan chaoidh?
cha bhuineadh tu *n ceann do Chonn (*
*S e thuirt Osgar nam mor ghlonn.
Ach ghluais Conan le mhichefll
db* aindeoin na feinne gu lelr
an comhdhaÜ Chuinn bhuadbaicb bhrais
mar char-toathal m* a aimhleas.
Nuair chonnairc Conn bu chaoia dealbh
Conan a dol an sealbh arm,
thug e sitheadh air an daoi,
*s e teicheadh dhachaidh gu falbh uaith.
*S iomadb cnap is bailc is meall
bha *g atadh suas air dhrocb ceann
air maol Chonan gu reamhar,
*s a choig caoil 'san aon cheangal.
*S iomadh sgread is iolach chruaidh
bh* ag Conan am fiadhnuis an tsluaigh,
hu luaithe na fiiaim tuinn* a teachd,
*s an fbiann uile 'ga etsdeachd.
yBeannachd air an laimh rinn sinl^
*s e labhalr Fionn a* chruth ghil,
,gu ma turus dhuit gun eirigb,
a Chonain dhona mhichefllidbM
Unser riefen da f&nfhundert:
,Werden seine Tollheit zähmen I*
Aber als es in den Kampf ging,
Glichen sie nicht solchem Gerede.
Als sie Conns Gebahren sahen
Wie des Wogenmeeres Wüten
Und den Groll des groisen Bifannes,
Der gewillt den Vater zu rächen;
Da hub Conan an, der kahle:
iLaist zuerst ihn mir begegnen,
Um den Kopf ihm abzuhauen,
Diesem stolz vermessenen Conn daP
,Sei verwünscht, o kahler Conan!
Läist du niemals dein Geschwätze?
Du wirst Conn den Kopf nicht abhaun P
So sprach Oscar, mächtig von Taten.
Conan ging im Unverstände.
Den Plannen allen trotzend.
Gegen Sieges-Conn den raschen,
Was zu seinem Unheil gereichte.
Als der holdgestalte Conn sah
Conan zu den Waffen greifen,
Stürzte er sich auf den Schwächling,
Der vor ihm sich rettend zurücklief
Viele Püffe, Knüffe, Hiebe
Sausten auf den Unglücksschädel;
Fest in eine Fessel wurden
Conan die fünf Schmalen gebunden.
Laut Geschrei und gelles Kreischen
Kam da aus des Kahlkopfs Munde;
Rascher war er als die Sturmflut,
Die Plannen hörten es alle.
,Dank der Hand, die das getan hatl^
Sagte Finn der edelschöne,
,Traun, ein schlechtes Abenteuer,
Conan, unverständiger Schelm dul*
Als es nun zum Kampfe kommt, zeigt sich Conns Überlegenheit;
er richtet eine grofse Verheerung unter den Fiannen an, deren keiner
ihm gewachsen scheint In dieser Not bittet Finn den stärksten
Krieger vom Stamme Morna, GoU, den Kampf mit Conn aulBcunehmen.
*S sin chaidh GoU *na chulaidh chruaidh
ann am fiadhnuis a* mhor shluaigh,
*s gu^m bu gheal 's dearg gnuis an ihir
*na tborc garg dol *n tüs iorghaill.
Goll trat vor in harter Rüstung
Vor die Front des ganzen Heeres.
Weils und rot von Antlitc schritt er
Wie ein wilder Eber zum Kampfe.
158 Ludwig Chr. Stern.
An da churaidh bu gharbh dth Die zwei Kämpen, rauh im Grimme,
chuir iad an tulach air bhall-chrith Machten rings den HQgel beben
le *m beumannaibh bu leoir meud Mit den überwuchtgen Streichen;
*s bha *n fhiann uile *g an coimhead. Die Fiannen standen betrachtend.
Cith fola do chnamhaibh an corp, Feuer sprfiht aus blanken Wa£fen,
cith teine do *n armaibh nochd, Blut strömt aus der Leiber Wunden,
cith cailce do *n sgiathaibh *n aigh Splitter von den Glückesschilden
dol siar anns na iarmailtibh. Fliegen seitwärts hoch in die Lüfte.
Bis in die Nacht kämpften sie so, und als die Flut fiel und sich die
Wolken senkten, kamen Elfen aus den Bergen sich verwundernd und
sich ergötzend. Nach langem Kampfe faUt endlich Conn, aber Gell
hat Wunden davongetragen, die nur langsam heilen.
Gair eibhinn gu*n d' rinn an fhiann Ein Triumphgeschrei erhoben
nach d^rinneadh leo roimhe riamh Wie noch niemals die Fiannen,
ri iaicinn doibh GhuUl mhic Moma Als sie GoU Mac-Moma sahen
an uachdar air Conn treun-toireach. Über Conn dem mächtigen Recken.
Naoi raidhean do Gholl an aigh Neun der Jahreszeiten heilte
*g a leigheas mu'n robh e slan, Goll, bis wieder er gesund ward,
ag eisdeachd ceoil dh* oidhch* *s do Im Tag und Nacht dem Licde lauscheod
*s a pronnadh oir fo throm-dhaimh. Und mit Gold die Sänger beschenkend.
Macpherson hat die eben besprochenen beiden Balladen nicht
benutzt, wohl aber „Maihre" und „Alan", die in einem ähnlichen Ver-
hältnis zu einander stehen. Maighre-borb, von AI. Cameron im Scottish
Celtic Review 1882 ediert und übersetzt, ist ein altes Gedicht, das
schon im Dean's book und auch im Irischen vorkommt. Als Finn
der Sohn Cuwals mit kleinem Gefolge einstmals bei Esroy weilt,
landet mit ihrem Nachen eine edle Jungfrau, eine Tochter des Königs
des Wogenlandes, die ihn gegen einen Ritter namens Maihre-borb,
den Prinzen von Sorcha, um Schutz anfleht. Ihr Verfolger erscheint
alsbald zu Rosse und sucht sie wegzufuhren, wird aber nach hartem
Kampfe von Goll getötet und an der Stätte, als Ehre des Königs
mit einem goldenen Ringe an jedem Finger, begraben, während die
Maid ein Jahr bei den Fiannen als Finns Weib zurückbleibt. Mit
dem „Lande unter Wogen" (tir fa thuinn), was neuere Dichter für
die Niederlande gebrauchen (Hardiman 2, 231; Cb. i6oa), wird ein
vom Meere verschlungenes Märchenland bezeichnet (vergl. z. B. Silva
gad. p. 268). In derselben Welt liegt das Land des Helden, Sorcha,
eigentlich „das Lichtland", eine Bezeichnung der terra promissionis;
so schon in mittelirischen Texten, z. B. Windisch p. 219; LL. 77b 19;
Silva gad. p. 269. 300. Die Ballade von Alan ist eine albanogälische
Die ossianischen Heldenlieder. III. 169
Nachahmung des Maihre, etwa aus dem 1 7. Jahrhundert. Hier kommt
eine schöne Jungfrau zu den Fiannen über die Ebene, um vor Ulan,
dem Sohne des Königs von Hispanien, bei Finn Schutz zu suchen.
Ihr Verfolger erscheint, greift die Fiannen an und tötet mit vielen von
ihnen auch die Jungfrau, worauf er im Kampfe gegen Oscar, Oschins
Sohn, fallt. Die Erzählung wird von Oschin an Patrick den Sohn
Alpins gerichtet. Der Anfang lautet:
Oisin uasail, a mhic Fhinn, £dler Oschin, König Finns Sohn!
's tu ad shuidhe air 'n tulaich eibhinn, Wie du auf dem Hügel sitzest,
a laoich mhoir mhilidh nach meata, Seh ich Gram auf deinem Geiste,
gu*m faic mise bron air th' inntinn. Unverzagter, streitbarer Kämpe! —
Cuid do dh* aobhar mo bhroin fein, Meines Grames Grund, o Pfaffe?
a chleirich, ma*s aill leat, eisd: Wenn es dir beliebt, so höre,
chunnairc mi uair teaghlach Fhinn, Einst sah ich den Haushalt Finns hier,
bha e mear mor meadhrach eibhinn. Grofs und mächtig, froh und vergnüglich.
Diese jüngere Ballade hat Macpherson in den Fragments von 1 760
p. 26 £F. auf seine Weise „übersetzt": „Son of the noble Fingal,
Oscian, prince of men! What tears run down the cheeks of age?
what shades the migthy soul?" — „Memory, son of Alpin, memory
wounds the aged, of former times are my thoughts; my thoughts are
of the mighty Fingal". Im Fingal (3. Buch, p. 45 ed. 1762) wurden
die beiden Balladen zu der Geschichte vom „Mädchen von Craca"
(wahrscheinlich statt Greig, wie ein Text giebt — nicht creag statt
carraig „Felsen", wie J. Smith und AI. Campbell meinen) konfundiert:
nach dieser willkürlichen Dichtung tötet Fingal Borbar (Maighre-borb),
den Häuptling von Sora (Sorcha) und Verfolger der FeineasoUis, die
zu Schüfe ankommt. Den Balladen von der verfolgten Jungfrau ähn-
lich ist die irische über Tailc Mac Treoin, die zuerst von O'Flanagan
veröflfentlicht worden ist, und die Erzählung über Bebind im Agallamh
(Silva p. 211; Zeitschrift für deutsches Altertum 33, 269 ff.).
Ich übergehe einige Balladen über andere kriegerische Abenteuer
der Fiannen, wie die Taten der Neun und der Sechs, Dirings*) Tod
u. a., von denen nur Recensionen des 18. Jahrhunderts vorliegen.
Ziemlich jung sind auch mehrere Balladen über Hexen und Zauberer.
Der Zauber Rocs, eines boshaften Läufers des Königs Cormac, konnte
*) Dering heifst der Name im Deans book 26, 14; Dlorraing Oss. 2, 120;
Duibhrinn Silva p. 190; Ddire Oss. 6, 22; in den neuern schottischen Texten Diurag,
Diarag (Cb. 219; Cam. i, 398; Cb. 1x2; Invern. 13, 297).
ZUchr. f. vgl. Litt-Gesch. N. F. VUI. jj
160 Ludwig: Chr. Stern.
nur gebrochen werden, wenn man ihn im Laufe überholte; Finn selbst
erreichte ihn bei Esroy und tötete ihn (Cb. 64b). Lon, der Schmied
des Königs von Lochlan in Berwe, ist der Wieland der gälischen
Sage: eine schon von Campbell in den Tales bekannt gemachte
Ballade erzählt, wie der einfufsige Lon einstmals Finn und seine
sieben Begleiter zu seiner ablegenen Schmiede gefuhrt und dort für
alle acht höchst vortreffliche Schwerter geschmiedet habe. Finn wird
darauf durch 's Loos bestimmt ein menschliches Wesen herbeizuholen,
in dessen Blute sie gehärtet werden sollen. Er bringt die Mutter des
unheimlichen Künstlers, der nicht zögert sie mit sieben Klingen zu
durchbohren. Darnach ersticht Finn mit der für ihn hergestellten
Waflfe den Schmied selbst und härtet so sein eigenes wunderbares
Schwert, das nichts zu schlagen oder vom Fleische der Männer nichts
übrig zu lassen pflegte und als „Sohn Lons" in der Sage hochberühmt
ist*). Das dem Oschin beigelegte Gedicht ist nur in Schottland
heimisch und nicht alt.
Von den Jagdballaden, deren sich in Irland mehr als in Schott-
land erhalten haben, ist die grofse Jagd auf dem „Berge der blonden
Frauen" (in der Grafschaft Tipperary), deren ältesten Text das Buch
des Dechanten Macgregor giebt, die bekannteste. Sie erinnert an
an Bedas Beschreibung von Irland: Hibemia dives lactis ac mellis
insula . • . cervorum venatu insignis.
Do leigeamar tri mile cu Dreimal tausend Rüden lAsten
a b'thearr luth 's a bha garg; Wir, die wild und von den stärksten;
mharbh gach cu dhiübh sin da fhiadh Jeder streckte zwei der Hirsche,
seal fa *n deachaidh an iall na hard. Eh man ihm die Koppel anlegte.
loghnadh 's m6 a chunnacas riamh Doch kein gröfser Wunder sah man
no chuala fiann Innse-Pail, Oder hörten Pails Plannen;
gu d^ mharbh Bran is e *na chuilein Bran, ein HQndlein noch, erlegte
fiadh agus uibhir ri cach. Einen mehr als alle die andern.
Macpherson kannte diese Ballade; im Fingal 6, 350 „übersetzt"
er die beiden Strophen, von denen die zweite übrigens aus Kennedys
*) Vergl. Nicolson, Gaelic proverbs p. 95. 388; AI. Macdonald, Poems p. 98;
Cb. 180, und im Irischen: Oss. 3, 90; Texte IL 2, 144. Macpherson hat ganz richt%:
„That sword is by his side which gives no second wound", Temora i, 70, daneben
aber höchst wunderliche Angaben über „Luno" in Temora p. 120, ed. 1763. Es ist
übrigens wahrscheinlich, dafs Mac an Luin aus dem luin CeltchaJr, dem Speere
Celtchairs, eines Helden unter König Conchobar, entstanden ist; vergl. Hennessy, Mesca
Ulad p. Xrv ff. Im Agallamh heifst Finns Seitenschwert Craebghlasach (Silva p. 14a).
Die ossianischen Heldenlieder. IQ.
161
Text entnommen ist, so: „A thousand dogs fly oflf at once, gray
bounding through the heath. A deer feil by every dog, three by
the white-breasted Bran". An einer andern Stelle erwähnt er den-
selben hairy-footed Bran (Temora 6, 296). Dieser berühmte Liebling
Finns, dessen Sieg über einen gewaltigen „schwarzen Hund** aus Innis-
torc (d. i. Orkney) eine andere, von Macdougall übersetzte, Ballade
schildert*), wurde von einem der Fiannen in einem Streite mit einem
Riemen mit ehernen Buckeln erschlagen und von seinem Herrn unter
Tranen betrauert. Schon Hill hat das Gedicht darüber mitgeteilt.
Casa boidhe bha ag Bran,
da shlios dhubha is tan* geal,
dniim uaine mu*ii iathadh an tsealg,
dk chluais chorracha chro-dhearg.
Bu mhath e thabhunn dobhrain duinn,
is cha mheas e thoirt eisg a habhainn,
gu^m bThearr Bran a mharbhadh bhroc
na coin an talmhainn a thainig.
Unser Bran war gelb von Pfoten,
Schwarz von Seiten, weils am Bauche,
Bunt von Rücken um die Lenden**),
Spitz und blutrot waren die Ohren.
Gut, des Otters Spur zu finden;
Schlechter nicht, den Fisch zu fangen;
Und den Dachs zu stellen besser
Als die Hunde alle im Lande.
Zu den Jüngern, Schottland eigentümlichen Balladen kann man
auch die beiden Abenteuer Cailtes des Sohnes Ronans rechnen, der
als der schneUfüfsigste aller Fiannen gilt. Das erste, eine Sauhatz
beschreibend, hebt so an:
Latha dhuinne sealg nan Cluanan
do dh* Fhionn is do mhor shluagh
db* eirich romhainn air an leirg
aon mhuc dhisgeamach dhonna-dhearg.
Leig sinn ar sh lomhainn deug
ris a' mhuic agus ni*m breug,
chuir a* mhuc dith air ar conaibh.
is dh' fhag i ar sealg gun deanamh.
Als einst Pinn in Cluan birschte.
Mit ihm viele seiner Mannen,
Sah man von der H^de kommen
Eine rote hauende Saue.
Sechzehn Koppeln (ungelogen!)
Lösten wir auf dieses Wildschwein,
Doch nur Schaden brachts den Hunden
Und das Jagen blieb uns erfolglos.
Finn setzt auf die Erlegung des bösen Ebers einen Preis, „den er
niemals wieder ausbot**, eine Frau nach Wahl von den Frauen der
Fiannen. Cailte holt die bezauberte Bestie ein, tötet sie mit Hülfe
seiner guten Fee und gewinnt das Weib Finns, die kluge Alwe, oder
*) Von einem berühmten Hunde des Königs der Norweger erzählt ein Gedicht
im LL. 207 b 5: gegen den vermochte kein harter Kampf etwas, er leuchtete wie eine
Fackel in der Nacht und verwandelte in Meth oder Wein die Quelle, in der er sich
badete. Vergl. Silva p. 206.
•*) Text und Übersetzung nicht sicher; vergl. D. Mac Intosh, Proverbs, 1785,
p. 55; 0*Flanagan, Deirdri p. 315; und Caraid nan Galdheal ed. Clerk p. 347; Nicolson,
Proverba p. 347.
IX*
162
Ludwig Chr. Stern.
Statt ihrer ein grofses Lösegeld. (Vergl. Silva p. 114.) Die andere
Ballade von Cailte erzählt, wie die Fiannen, auf der Jagd von einem
Unwetter überrascht, sich weit und weiter verirren und Cailte nach
einem Wege ausschicken. In einem einsam gelegenen Hause findet
er eine Königstochter und befreit sie aus der Gewalt eines Riesen,
den er nach hartem Kampfe tötet. (Vergl. Silva p. 136,) Die
„Todtenklage um Derg", der nach der Sage von einem Eber getötet
wird, seiner Witwe in den Mund gelegt, ist ein kurzes albanogälisches
Gedicht nach der Art des irischen caoinan (keening) aus dem
18. Jahrhundert; Macpherson giebt in einer Anmerkung zu seinem
„Calthon und Colmal" (p. 223 f. ed. 1762) eine gänzlich freie Para-
phrase davon, weshalb es hier nicht unerwähnt bleiben sollte.
Das Weib spielt in der ossianischen Poesie im allgemeinen keine
bedeutende Rolle. Das Gedicht von Oschins Brautwerbung, das
Macpherson ausnahmsweise getreu verdolmetscht*) und sehr geschickt
in seinen Fingal 4, 13 — 74 verflochten hat, ist in der von Young ver-
öffentlichten Form nicht alt und aus zwei nicht zusammengehörigen
Stücken zusammengesetzt; den ursprünglichen Text bietet Sage, auch
Sir George Mackenzie hat einige ältere Strophen. Die alte Ballade
vom Mantel (Cam. i, 76. 116) giebt keinen grofsen Begriflf von der
Ehrbarkeit der Frauen der fiannischen Helden; sie ist jedoch nur
die gälische Fassung des Fablel vom Mantle mautaillie. Ein Gedicht
„Sgeul uaigneach" im Buche des Dechanten, das man „die schönste
Musik" betiteln könnte, gehört zu den besten ossianischen, doch ist
sein Verständnis noch nicht durchweg gesichert. Während Conan seine
liebste Musik im Würfelspiel hört, Oscar im blutigen Kampfe, Mac
Luhach in der Jagd, Finn im Flattern der Banner seiner Krieger (cf.
Oss. 2, 136) und Oschin im Gesänge, sagt Dermid, der „Frauen-
Dermid" genannt:
,Ceol is m6 rugas da raoghainn^
do radh Diarmaid nan dearc mall,
,a ro-ghraidh, cian ge beo dhomhsa
comhradh bhan is annsa ann^
,Soll ich die Musik mir wählen',
Sagte Dermid, sanft von Augen.
,Ist das Liebste mir im Leben,
O mein Freund 1 die Stimme der Frauen'.
Dermid der Sohn Oduhnes war nicht nur einer der tapfersten
Helden unter den Fiannen, sondern auch der schönste. Er hatte ein
*) Das Gälische von 1807, natürlich aus dem Englischen übersetzt, ist von dem
Balladentcxte gänzlich verschieden; z. B. wird Daire nan creuchd, „Durra of wounds**
zu Dura nan lot.
Die ossjanischen Heldenlieder. III. 163
Liebesmal auf der Stirn, bei dessen Anblick jede Frau in Liebe zu
dem Manne entbrannte. . So verliebte sich auch Grainne, Finns Ge-
mahlin, eine Tochter des Königs Cormac, in den Helden und verleitete
ihn mit ihr zu entfliehen. Ihre langen Irrfahrten bilden den Gegen-
stand einer irischen Erzählung und einige ältere Verse darüber hat
Kennedy zu einer Ballade ausgestaltet: Is nioch a ghoireas d chörr
„Früh am Morgen schreit der Kranich*'. Eine andere Ballade Oschins
an Patrick erzählt, wie nur die Dazwischenkunft seiner Freunde,
namentlich Oscars, Dermid vor dem Tode schützte, als er einst im
Walde von Newry in einer Eberesche, unter der Finn beim Brett-
spiel safs, entdeckt wurde. Finn sinnt fortwährend auf Rache und
hinterlistig lädt er Dermid einst nach dem Berge Gulbun zur Jagd
auf einen bösen Eber ein. Ungeachtet der Warnung Grainnes folgt
Dermid der Einladung. Er besteht den Eber, an den sich die übrigen
nicht heranwagen, und erst als Finn ihn veranlafst das tote Schwein
auf dessen Rücken schreitend gegen die Borsten zu messen, dringt
ihm ein giftiger Stachel in den Fufs und er kommt elendiglich um,
da ihm sein Widersacher einen Heiltrunk aus seinen Händen ver-
weigert. Die Ballade vom Tode des gälischen Adonis wird im
Deans book gegeben, von dem die spätem Texte, wie auch der in
Campbells Tales übersetzte, beeinflufst sind; sie ist eine echt schot-
tische*). Aber die Sage ist uralt, denn schon im Lebor na huidre
des II. Jahrhunderts findet sich eine Strophe aus einem Gedichte, in
dem Grainne ihre Leidenschaft für Dermid gesteht (Revue celtique
II, 126).
^Ein Mann ist,
Den gern ich lange schaute,
Um den die schöne Welt ich gäbe,
Ists auch Verrat, hin ganz und g^r".
Verhängnisvoll wurde für die Fiannen eine alte Fehde zwischen
den Stämmen Baischgne und Morna. Nach einem Gedicht in Dean's
book (No. 29), das sich ziemlich vollständig, obwohl etwas verändert,
bis in unser Jahrhundert erlialten hat, hatte Finns Vater Cuwal den
Stamm Morna einst schwer verfolgt, viele davon verbannt und viele
erschlagen. Sie beschlossen sich zu rächen, indem sie ihn durch eine
*) Die Herzöge von Argyle leiten ihren Stammbaum auf Diarmaid 0*Duibhne
zurück und fuhren den Eberkopf im Wappen — ceann na muice fiadhaiche a leag Diarmad
'sa choill üdlaidh (Mac Intyre p. 125). Es handelt sich jedoch um einen andern
0*Duibhne, wie Skene, Celtic Scotland 3, 459, zeigt.
164
Ludwig Chr. Stern.
Mornierin betören liefsen und den Schlafenden überfielen*). So er-
zählt Garah, ein alter Krieger vom Stamme Moma, den Hergang dem
Sohne Cuwals, der seinen Vater nicht gekannt hatte.
,Thus^ sinn *n sin ruith nach robh mall
gas an tlgh an robh Cumhall,
chuir sinn guin ghoirt gach fear
ann an corp Chumhaill d'a shleagh.
,Bbeucadh e mar g^m biodh mart ann,
*s raoiceadh e mar gu*m biodh torc ann,
*s ge nach b*onair e *mhac righ,
bhramadh Cumhall mar ghearran.
,Sin agads\ Fhinn mhlc Chumhaill,
beagan do sgeulaibh mu d*athair
gun fhuath, gun f halachd o shin,
gun eisiomail, gun urram.* —
,Ge nach d*rugadh mise ann
ri linn Chumhaill nan geur lann,
an g^iomh a rinn sibh gu taireil
diolaidh mis* orr* an aon la e.*
«Und wir kamen, traun nicht langsam,
Brachen ein in Cuwals Wohnung,
Schlugen eine scharfe Wunde
Jeder mit dem Speer in den Körper.
^Und er brüllte wie die Kuh brüllt
Und er grunxte wie ein Eber
Und, nicht schicklich für den König,
Cuhl pepedit ut caballus.
«Hier, Sohn Cuwals, hast du etwas
Von den Mähren deines Vaters,
Ohne Hais und ohne Grollen,
Ohne Schöntun, ohne Ehrfurcht.** —
«War ich gleich noch ungeboren
Zur Zeit Cuhls der scharfen Klingen,
Werd ich was ihr schmachvoll tatet
Eines Tags an euch doch noch rächen!'
Der Untergang der Fiannen scheint nach der albanogälischen Sage
mit dem Tode Dermids zu beginnen. Bald darauf erlag Carril, der
jüngste Sohn Finns, dem stärkern Goll, mit dem er bei einem Gelage
imi den Heldenanteil (curadh-mhir) in Streit geraten war. Die eigent-
liche Ballade hierüber wird von Stone und Macnicol mitgeteilt; aber
bekannter ist ein Gedicht Kennedys geworden, das im Report als
ein ossianisches veröffentlicht, aber von dem Verfasser hinterdrein
als sein Eigen in Anspruch genommen wurde; „on honor . . . entirely
my own", schreibt er an F. Graham (Essay p. 2i8). Als Probe seiner
Foesie stehe hier der Anfang;
An Tigh-Teamhra nan cruit chiuil
air dhuinne bhi steach mu*n ol,
dhuisg an iomarbbaigh na laoich,
Caireall caomh is Momad mor.
Dh' eirich gu spairneachd na suinn,
bu truime na *n tonn cuilg an cos,
sroinich an cuim chluinnteadh cian,
*s an fhiann gu cianail fo sprochd.
Taras Haus von klingenden Harfen
Hielt uns einst beim Trünke versammelt;
Da erregte der Hader die Helden,
Carril den schmucken und Momad den
grofsen.
Auf zum Ringen standen die Recken,
Schwerer von Fufswucht als die Woge;
Weithin hörte man sie ächzen,
Die Plannen waren bekümmert.
*) Nach einer Erzählung im Lebor na huidre 41b wurde Cuwal vielmehr in der
Schlacht von Cnucha von Goll getötet, der daselbst ein Auge verlor.
Die ossianischen Heldenlieder. HI.
166
Ciachan agus talamh trom
threachailteadh 1e 'm bonn ^san stri,
a cliarachd re fad an la
g^n fhiosciadhiubhb^fheaiT*8a ghniomh.
Steine, schweres Erdreich wühlten
Ihre Füfse auf im Kampfe.
Taglang währte dieser Ringkampf,
Nicht entscheidend, wer da der bessre.
Als man am zweiten Tage zu den Waffen greift, wird Carril von
Goll erschlagen ; Finn betrauert ihn und die Barden stimmen die Toten-
klage an. GoUs Tod, der verschieden überliefert wird, behandelt eine
nur fragmentarisch erhaltene, „D^s Testament GoUs" betitelte Ballade,
die Kennedy gleichfalls zu einem längern Gedichte ausgesponnen hat.
Garahs Tod bildet den Gegenstand einer Ballade, von der auch
Macpherson einige Kenntnis hatte (Temora p. 36 ed. 1763); sie beruht
auf einer Erzählung im Agallamh (Silva p. i23). Als die Fiannen
einst zur Jagd ausziehen, lassen sie den alten Garah als Wächter der
Frauen in ihrem Hause in Formaoil zurück*). Während er im
Freien auf dem Rasen schläft, knüpfen deren einige sein langes Haupt-
haar an einen Baum und beim Erwachen verliert er Haar und Haut.
In seiner Wut legt er Feuer an das Haus, so dafs alles und alle ver-
brennen; dann verbirgt er sich in einer Höhle. Die durch das weithin
sichtbare Feuer erschreckten Fiannen eilen herbei und finden die Ver-
wüstung ohne ihren Urheber zu ahnen. Finn ermittelt durch seine
geheimnisvolle Sehergabe den Brandstifter. Er gewährt dem Schul-
digen, der sofort aufgefunden wird, vorschnell die Bitte auf seinem,
des Königs, Schenkel mit seinem Schwerte, dem in seiner Wucht un-
aufhaltsamen „Lonssohn", enthauptet zu werden und wird selbst
schwer verwundet, als Oscar den Streich tut. Der »curious catalogue
of furniturec, den Macpherson aus dem Gedichte erwähnt, lautet:
Ceud laöch nach druideadh fo sheandachd,
^s ceud saor bhean do bhantrachd Fhinn,
ceud cuilean le coileir airgid
dh' f h^ sinn *san teach, 's b*f hada Ünn.
Ceud macan le*m broilleach shide,
ceud maighdean bu ghrinne meur,
*s ceud bean bu mhuim* don mhacraidh,
*fhuair urram an teach nan treun.
Hundert Helden, altersmüde,
Dazu hundert edle Frauen,
Hundert silberbändge HOndlein
Liefsen ach! zurück wir im Hause.
Hundert Knaben, seidenbrüstig,
Hundert Mägdlein, zart von Fingern,
Hundert Ammen für die Kinder,
Die geehrt im Hause der Helden.
*) Formaoil soll in Leinster liegen, s. Keating, History p. 347, und Oss. 4, 18.
Den Inhalt des Gedichts giebt schon das Buch von Howth ; s. Hanmer's Chronicle p. 62.
166 Ludwig Chr. Stern.
Ceud bratach uaine dhathach Hundert Banner, bunt von Farben,
*gabbail gaoith' ri gathaibh chrann, Die im Wind an Stangen flattern;
ceud cupan *s ceud fainne sheunta, Hundert Becher, Zauberringe,
ceud dach cheangailt' *s ceud corn cam. Steine und gewundene Homer.
Ceud seuchd *s ceud ceann-bheairtbholgach Hundert Dolche, Buckelhelme,
is ceud sgiath le *n comhdach crann. Hundert holzbedeckte Schilde,
is ceud luireach bu loinnreach Dazu hundert blanke Panzcp
fo ur-mhaillibh orbhuidh* ann. Mit den neuen goldigen Schuppen.
Die Ballade scheint den Schauplatz, das nicht näher bekannte Haus For-
maoil, nach Schottland zu verlegen, denn nur dadurch wird erklärlich, dafs
die Fiannen über eine Meerenge setzen, in der sie einen der Ihrigen
verlieren. „Jeder sprang an seinem Speere, Rehs Sohn nur ertrank
in dem Sunde". Nach der Volksetymologie soll von diesem Mac
Reatha „Caol Reidhinn" d, i. Kyle Ray benannt sein, eine Enge, die
die Insel Skye von dem schottischen Festlande trennt.
Ihren Höhepunkt erreicht die Tragik der OvSsianischen Dichtung
in der Schlacht von Gaura, die der Vernichtung der Fiannen gleichkam.
Es giebt vier Balladen über Oscars Tod in dieser denkwürdigen Schlacht.
Die erste „Is mor an nochd mo chumha fein" wird schon im Dean's
book überliefert; die andere „Aithris duinne, Fhearghuis" desgleichen;
eine dritte „Innis duinn, a Oisin" (Oss. i, 74) ist fast nur bei den Iren
nachweisbar; die vierte „Chan abair mi, thriath, ri m*cheol" ist die
eigentlich schottische, die Oscar mehr in den Mittelpunkt der Handlung
stellt. Manche Recensionen der letztgenannten haben aber einzelne
Strophen aus den andern Balladen in sie aufgenommen. Die Ballade
hat Macpherson den Stoff zum i. Buche seines Epos Temora geliefert,
das er auch schon 1762 in seinem ersten Bande (p. 172 ff.) hatte
drucken lassen ; er hat auch hier benutzt, entstellt, mifsverstanden, zu-
gesetzt wie sonst.
Während Finn auf einer Fahrt nach Rom begriffen ist, wo er
Heilung der bei Garahs Hinrichtung empfangenen Wunde sucht, wurde
die Macht der Fiannen von dem Oberkönige Cairbre, der seinem Vater
Cormac gefolgt war, rücksichtslos eingeschränkt. Sie stehen daher
unter der Führung Oscars, des Sohnes Oschins, den Truppen des
Oberkönigs feindlich gegenüber. Doch wird Oscar von dem an-
scheinend versöhnlichen Cairbre zu einem Gastmahle geladen; mit einer
Anzahl Begleiter folgt er der Einladung.
Fhuair sinn onoir, fhuair sinn miadh, Ehre ward uns und Bewirtung
mar a fhuair sinn roirohe riamh, Wie nur jemals uns geworden,
g^n easbhaidh air fion no ceol Nicht an Wein und nicht an Spiele
re tri oidhchibh is tri lo. Fehlte es drei Tage und Nächte.
Die ossianischen Heldenlieder. III.
167
An oldhche mu dheireadh do'n ol
thoirt an Cairbre le guth mor:
,Iomlaid sleagh* is aill leam uait,
Oscair nan arm faobhar-chruaidh^
,Ciod e *n iomlaid sleagh ^bhiodh ort,
a Chairbre niaidh nan longphort?
*s gur bu leat ml fein *s mo shleagh
ri am chuir catha no comhraigS
,Cha b' uilear leam eis na cain
na aon send a bhiodh ^nar tir,
cha b'uilear leam ri m'linn a bhos
gach seud a dhMarrainn gu'm faighinn*.
,Chan ^eil or na earras gu fior
a dh'iarradh oirnne an righ,
gun tair, gun tailceas duinn deth,
nach bu leats' a thighearnas.
Jomiaid cinn gun iomlaid croinn
b*cucorach sud iarraidh oimn,
's e fath mu*n iarradh tu sin,
sinn bhi gun fheinn, gun athairS
,Ged bhiodh an fhiann is d'athair
'n la a b'fbearr 'bha iad 'nam beatha,
cha b'uilear leamsa ri m'linn
gach seud a dh'iarrainn gu*m faighinnS
,Nam biodh an fhiann is m'athair
*n la b*fhearr bha iad 'nam beatha,
chan fhaigheadh thusa, a righ,
leud do throidhe an Eirinn!^
In der letzten Nacht des Festes
Sprach mit lauter Stimme Cairbre:
„Oscar, Held von harten Waflfen,
Lafe uns unsreSpeere vertauschen!" *) —
„Wie willst du den Tausch der Speere,
Roter Cairbre von den Heeren?
Oft war dein ich mit dem Speere
An dem Tag der Schlacht und des
Kampfes". —
, Nicht zu viel ists des Tributes,
Mir gezollt in unsrem Lande,
Nicht zu viel, so wahr ich lebe,
Ist ein Kleinod, das ich verlange". —
„Weder Gold noch Habe giebt es,
Wahrlich! forderts uns der König,
Ohne Schimpf und ohne Unglimpf,
Das nicht dir gehörte zu Eigen.
„Tausch der Spitzen statt des Schafttauschs
Ziemt sich nicht von uns zu fordern.
Weil wir fern von den Fiannen**)
Und dem Vater heischest du solches". —
„Wären sie auch und dein Vater
Mächtig wie sie je gewesen.
Nicht zu viel ist mir im Leben
Ein Geschmeide, das ich verlange". —
„Wären sie mit meinem Vater
Mächtig wie sie vormals waren,
Auch nicht deines Fufses Breite
Solltest du in Erin behalten!" —
Zornig trennen sich die beiden Herrscher. Oscar empfangt düstere
Weissagungen über den Ausgang des folgenden Tages: er hört das
Unheil bedeutende Krächzen des Raben und sieht eine Hexe, die
blutige Kleider auswäscht und seinen Tod vorhersagt. Es kommt bei
Gaura zur Schlacht, in der zwar Oscar Wunder der Tapferkeit ver-
richtet, den König Cairbre und seinen Sohn Art, der ihm auf dem
Felde in der Königswürde folgt, erschlägt, aber selbst von Cairbres
Lanze tötlich verwundet zusammenbricht***). Der Dichter sagt:
*) Vergl. Macpherson: „I behold the spear of Erin . . . yield it, son of Ossian,
yield it to carborne Cairbar»*. Temora i, 213 ff.
**) Macpherson umgekehrt: „Are thy words so mighty, because Fingal is near?"*
Temora i, 239.
***) Nach der Ballade setzten Cairbres Krieger den Helm des Königs auf ein Feld-
zeichen, um die Täuschung hervorzubringen als lebe er noch. Das hat Macpherson auf
168
Ludwig^ Chr. Stern.
Do fhuair mise mo mhac fein,
IS e *na luigh' air uileann chle,
is e sileadh fhola dheth
trid bhloighdibh a luirich.
Chuir mi bonn mo shleagh' ri lar
is rinn mi os a chionn tamh
ag smuaineachadh le bron an sin,
dod a dheanainn *na dhiaidh.
Dh' amhairc an t-Oscar ormsa suas,
is dar leam bu mhor a chruas,
shin e cbugam a dhät laimh
chum eirigh am chomhdhail.
Ghlac mi lamha mo mhic fein
agus shuidli mi fa na sgeith;
o'n tsuidheadh sin iona gbar
nior chuireas speis *san tsaoghal.
'S e thuirt rium mo mhac feardha,
is e an deireadh a anma:
,A bhuidhe ris na duilibh sin,
ma tha thusa slan, a athar/
Hiemach fand ich meinen Sohn auf,
Auf dem linken Arme liegend,
Während ihm das Blut entströmte
Durch die Fugen seines Panzers.
Auf des Speeres Schaft mich stützend
Stand ich still zu seinen Häupten,
Mit Betrübnis überdacht ich,
Was nach seinem Tode begannen.
Da erblickte mich mein Oscar
(O wie leidend er mich däuchte!);
Vor sich streckte er die Hände,
Wie um sich zu mir zu erheben.
Meines Solmes Hände faist ich,
Mich an seine Seite setzend;
Wie ich safe in seiner Nähe,
Dachte ich an nichts mehr auf Erden.
Mit den letzten Atemzügen
Sprach zu mir mein tapfrer Sohn da:
^Dank sei dargebracht dem Himmel,
Dafs doch du, mein Vater, gesund bist."
Von dem unglücklichen Verlaufe der Kämpfe berichtet nun der
Sänger Fergus dem eben zurückkehrenden Finn, der an ihnen nicht
teilgenommen hat.
,Innis dhuinn, a Fhearghuis,
fhilidh feinne Eireann,
cionnas mar a tharladh
'n cath Ghabhra nam beumann.* —
,Ni math, a mhic Chumhaill,
mo sgeul o chath Ghabhra,
cha mhair Osgar ionmhaiim,
thug mor chosgar calma.
,Cha mhair seachd mic Chaoilte,
gasraidh feinne Almhainn;
do thuit oig na feinne
ann an eldeadh araich.
^ Melde uns, o Fergus,
Sänger der Plannen !
Wies uns ging bei Gaura
In der Schlacht der Streiche?"
Cuwals Sohn, nicht g^t ist
Meine Mär von Gaura.
Sterben wird Lieb-Oscar,
Der so tapfer kämpfte.
Tot sind Cailtes Söhne
Und die Mannschaft Alwins,
Der Fiannen Blüte
In der Kriegesrüstung.
seine Weise benutzt: „Cairbar creeps in darkness behind a stone** etc. Temora i, 282 ff.
Nach der irischen Überlieferung ist der Hergang in der Schlacht von Gaura übrigens
anders gewesen: In proelii aestu Carbreus et Osgarus Finnii ex Ossino nepos manus
conserunt. Rex vulneribus pertusus aemulum prostravit, sed pugnae se ulterius immiscens
a Simeone Kirbi filio de Forthartorum sobole interemptus est. So OTlaherty, Ogygia
p. 341 ; ebenso Keating, History of Ireland p. 361.
Die ossianischen Heldenlieder, in.
169
,Do mharbhadh mac Lughaidh
na s^ mic *s an athair,
do thuit oig na Halmhainn,
do mharbhadh fiann Bhreatain.
,I>o thuit mac righ Lochlainn
fa leinne bhi *chonihnadh,
bu chridhe fial feardha,
bu lamh chalma *n comhnaidh.*
Jnnis domh, a fhilidh,
mac mo mhic is m*anam,
cionnas a bha Osgar
sgoltadh nan catharra?^ —
,Bu dheacair r*a innseadh,
do bu mhor an obair,
na robb marbh *s a* chath sin,
thuit le armaibh Osgair.
,Ni*n luaithe eas aibhne
no seabhag ri ealtaibh
no ruith bhuinne srutha
na Osgar *s a' chath sin.
,Do bhi se mu dheireadh
mar bhUe ri treun-ghaoith,
mar chrann os gach fiubhaidh,
*s a shuil air gach aon laoch .
,Nior iompaidh sinn Osgar,
gu ^n d^ rainig righ Eireann,
gu *n tug beum gun dichioU,
gur dhochainn e gheur lann.
,*S thuit Ids Art mac Chairbre
air an dama buille,
*s amhlaidh a bhi am fear sin,
is a mhionn righ uime.
Tot ist auch Mac-Luhach
Und sechs Söhne mit ihm,
Und mit Alwins Jugend
Auch der Britten Streitmacht.
Lochlans Prinz gefallen,
Der uns Hülfe brachte.
Männlich, edlen Herzens,
Stets von tapfem Händen. —
„Sage mir, o Sänger,
Wie war meines Sohns Sohn?
Wie mein Liebling Oscar,
Kriegerreihn durchbrechend ?**
Schwer ists zu erzählen,
Ungeheuer war es.
Wie viel Oscars Waffen
In der Schlacht erschlagen.
Rascher als ein Strom£all,
Als ein Spatzenfalke,
Als der Sturz des Giefsbachs
War im Kampfe Oscar.
Bis zuletzt noch war er
Wie ein Baum im Sturme,
Alle Überragend,
Jeden Mann im Auge*).
Nicht war er zu halten.
Bis er Erins Fürst traf;
Scharfes Schwert erprobend,
Führte wuchtgen Hieb er.
Cairbres Sohn auch schlug er,
Art, mit zweitem Streiche.
So ergings dem Manne,
Auf dem Haupt die Krone.
Finn spricht seinem Enkel zu, er habe in früheren Schlachten ebenso
arge Wunden davon getragen**) und sei von ihm geheilt worden;
der aber sieht sein Ende vor sich. Da klagt Finn:
*) Die letzten beiden Zeilen sind nach Kennedys und Turners Text gegeben, da
das Dean^s book nicht recht verständlich ist.
**) Er habe, heifst es, solche Wunden gehabt, dafs Kraniche oder Gänse oder
sogar Hirsche (Cb. 183 b) sie durchschwimmen konnten. Oss. i, 12a kann Cailte die
Hand bis zum Ellenbogen durch Oscars Wunden stecken. Ähnlich heifst es im Buche
Ton Leinster 85 a 13: »Wenn Vögel im Fluge durch menschliche Körper zu gehen
pflegten, so würden sie an dem Tage durch ihre Leiber geflogen sein**, weil sie von
Wunden durchlöchert waren. In der rhetorischen Hyperbel sind die irischen Erzähler
nicht zu übertreffen. Da heilst es von struppigen Männern, ihr Haar stehe so zu Berge,
170
Ludwig Chr. Stern.
/S truagh nach mise a thuit ann
an catb Ghabhra, gniomh nach gann,
is tusa an ear 's an iar
bhi roimh na fiannaibh, Osgair!*
Ag eisdeachd ri briathraibh Fhinn
anam as Osgar gur ling,
shin e uaithe a dhä laimh
*s dhun a rosga bha ro-mhall.
^Mo laogh fein thu, laogh mo laoigh,
leinibh mo leinibh ghil chaoimh,
mo chridhe Ueumnaich mar Ion,
gu la bhrath chan cirich Osgar/
'S ann an sin a chaoidh Fionn
air an tulaich os ar clonn,
shrutb na deoir sios o rosgaibh,
thionndaidh e ruinn a chulthaobh.
Thog sinn ar n- Osgar aluinn
air guailibh *s air sieaghaibh arda;
thug sinn is iomchair grinn,
gus an d*rainig sinn tigh Fhinn.
Donnalaich nan con ri m' thaobh,
agus buirich nan sean laoch,
^s gul a^ bhannail Vaoidh mu seach,
gu^m b'e sud a chraidh mo chridhe.
Cha chaoineadh bean a mac fein,
ni m6 chaoineadh a bhrathair e,
a mheud *s a bha sinne 'n sin,
bha sinn uile caoincadh Osgair.
„Achl dafs ich nicht selbst gefallen
In der mächtgen Schlacht von Gaura
Und dais du in Ost und Westen
Die Fiannen führtest, o Oscar!" —
Als er diese Worte horte,
Da entfloh die Seele Oscars;
Seine HSnde streckte er von sich
Und er schlols die müden Augen.
„O mein Kalb, mein liebes Kälbchen!
Meines Kindes lieb weifis Kindlein!
Wie die Amsel hüpft mein Herze —
Nie mehr wird mein Oscar aufstehn!"*) —
Da erging sich Finn in Klage
Auf dem Hügel, der dort oben,
Und aus seinen Augen flössen
Tränen, und er wandte sich von uns.
Oiscar hoben wir, den schönen,
Mit den Speeren auf die Schultern,
Trugen sorgsam unsre Bürde,
Bis zum Hause Finns wir gelangten.
Neben mir der Hunde Winseln
Und der alten Krieger Seufzen
Und der Weiber Weinen ringsum —
O wie das im Herzen mich quälte!**)
Ihren Sohn beklagt das Weib nicht.
Noch der Mann den eignen Bruder,
Denn so viele wir im Hause
Klagten allesamt wir um Oscar***).
Finn siechte nach der Schlacht von Gaura, in der seine beste
Mannschaft gefallen war, hin und starb bald. Es g^ebt keine ältere
Ballade über seinen Tod, der durch Verrat herbeigeführt sein sollf).
dafe, wenn man einen Scheffel Äpfel über ihrem Kopfe ausschüttete, diese einzeln auf-
gespiefst würden. Da wird gelacht, dafs die zitternden Sterne am Himmel ins Wanken
geraten. Da wird so wunderliebliche Musik gemacht, dafs dreifsig Mann vor Vergnügen
auf der Stelle sterben, während wieder eine andere so fürchterlich ist, dafs sie den
Menschen die Haare ausreifsen könnte.
*) Macpherson: „The heart of the aged beats over thee . . . nevermore shall
Oscar rise!" Temora i, 337. 351. Vergl. O'Flanagan, Deirdri p. ai6.
**) „The groans of aged Chiefs, the howling of my dogs, the sudden bursts of the
song of grief, have melted Oscars soul", etc. Temora i, 367 flf.
**•) „No father mourned his son slain in youth, no brother his brother of love", etc.
Temora i, 357 ff.
f) Eine schottische Legende (Cb. 195) ist von der irischen (K. Meyer, Ventry p. 75;
Silva gad. p. 89, vergl. LL. 31b 43, 131a 26) sehr verschieden.
\
Die ossianischen Heldenlieder. DI.
171
Aber im Buche des Dechanten ist uns ein Gedicht aufbehalten, das
Oschin in kindlicher Liebe dem eben gestorbenen Vater gewidmet hat,
wie die Annahme ist. Es ist voll Wohllaut und VortrefFlichkeit.
Se la g:us an d^
bho nach faca me Fionn,
chan f hac mi re m' re
s^ a b*fhaide liom.
Mac nighine Thaidg,
righ nam.fola trom,
m*oide is mo thriath,
mo chiall is mo chonn.
Fa füidh, fa flath,
fa righ air gach righ,
Fionn flath righ nam fiann,
Fa triath air gach tir.
Fa miol mor mara,
fa leomhan air leirg,
fa seabhag glan gaoith',
fa saoi air gach ceird ....
Fa he am miol mor
mac Mbuirne gach maigh,
barr loinneach nan lann,
an crann os gach fiodh.
Fa chosnaich nan gnlomh
fa Bhanbha nam ban,
gu*n tug am flath
tri cheud cath fa cheann.
Nior eur ni air neach
dhMarrar bho Fhionn,
cha robh ach righ greine
righ riamh os a chionn.
Nior fhag beist an loch
na arrachd an uaimh
an Eirinn nan naomh
nar mharbh an saor shaoidb«
Ni hinnsinn a ghniomh,
da bhidheann gu de brath,
nior innseadh bhuaim
trian a bhuaidh is *äigh.
Sechs Tage schon hab
Ich Finn nicht gesehn,
Im Leben nicht sah
Ich sechse so lang.
Der Tochter Taigs Sohn,
Ein König des Kriegs,
Mein Pfleger, mein Herr,
Mein Geist und Verstand.
Ein Dichter, ein Fürst,
Der Könige Haupt,
Der Lande der Herr,
Held Finn der Fiann.
Ein Wal in dem Meer,
Ein Löwe am Berg,
Ein Falke im Sturm,
Ein Weiser der Kunst.
Von Murne der Sohn,
Ein Riese im Feld;
Es glänzte sein Schwert,
Es ragte sein Speer*').
Gewann oft den Streit
In Banba der Fraun**);
Dreihundertmal schlug
Die Schlacht er allein.
Finn weigerte nie
Was einer begehrt.
Der König der Sonne
Nur gröfser als er.
Kein Drache im See,
Kein Untier im Loch
Im heiligen Land,
Es erschlug es der Held.
Nicht pries ich ihn ganz,
Ob ewig ich lebt',
Ein Drittel auch nicht
Der Tugend, des Ruhms.
*) Eigentl. „Die glänzende Spitze der Klingen, der Schaft (des Speers) über
jedem Walde*,
**) Banba ist ein Name fQr Irland; die häufigsten sonstigen, aufser Eri (Genitiv
Eireann, Dat. und Accus. Eirinn, im Albanogälischen in der Regel Eirinn in allen Casus),
sind Fodla, Elga, Scotia, Innisfail; auch Innis nan naomh „die Insel der Heiligen", wie
zwei Strophen weiterhin.
178
Ludwig^ Chr. Stern.
Ach is olc ataim
an deidh Phinn na feinne,
do chaidh leis an fhlath
gach math bha *na dheidh.
Is tuirseach ataim
an deidh chinn nan ceud,
is me an crann air chrith,
is mo chiabh do m* fhag^ (?).
Is me a* chno chaoch,
is me an t-each gnn sriani
ochadan mo nuarl
is me an tuath gun triath. etc.
Wie ist mir so weh
Mach Finn dem Fiannl
Denn tot ist der Fürst,
Das Gute mit ihm.
Wie bin ich voll Grams
Nach der Hunderte Haupt,
Ein wankender Baum,
Der Locken beraubt*).
So taub wie die Nuls,
Bin Pferd ohne Zaum,
Ein Volk ich allein,
O Schmerz I ohne Heim.
„Oschin nach den Fiannen" (Oisin an deidh na feinne), der ein-
sam überlebende Greis, der mit Wehmut einer tatenreichen Ver-
gangenheit gedenkt, das ist der Grundton, auf den alle ossianischen
Gedichte gestimmt sind. Oschin soll nach dem Auftreten des heiligen
Patrick in Elfin (einer Stadt in der Grafschaft Roscommon), dem
Wohnsitze des Glaubensboten, gelebt und Not gelitten haben; nach
der Sage wäre er bei dem Bau der Kirchen Frohndienste zu leisten
gezwungen gewesen. Ein Lied, in dem er den Schmerz seines freud-
losen Alters zum Ausdruck bringt, ist im Dean*s book sowohl als im
Duanaire Fhinn und sonst (O'Reilly, Essay p. 250) erhalten.
Is fada 'nochd an Ailfionn,
is fada leinn an oidhche *n raoir,
an la *n diu ge fada dhomb,
do bu leor fada an la *n d&
Lange währt die Nacht in Elfin,
Lang auch schien die Nacht uns gestern.
Und wie lange heut der Tag ist,
Lang genug auch währte er gestern.
Die Sage erzählt von häufigen Zusammenkünften Oschins mit
dem heiligen Patrick. Dann pflegte er ihn von den Taten Finns und
der Fiannen zu unterhalten oder den frommen Übungen seines Freundes
beizuwohnen und den Lehren der Heilswahrheit zu lauschen. Es kajn
zu mehr oder minder leidenschafdichen Auseinandersetzungen zwischen
dem Heiligen und dem alten Heiden, deren Abschlufs „das Gebet
Oschins^ bildet. Die so benannte albanogälische Ballade, die zuerst
von Th. Hill und zuletzt von AI. Cameron im Scottish Review 8, 350 flf.
(1886) veröffentlicht wurde, ist aus zwei altern Balladen zusammen-
gesetzt. Die eine: „Innis duinn, a Phadraig", findet sich schon im
Dean's book No. 7 und auch im Irischen (Oss. i, 92 — iio); die
*) Sehr fraglich, da man nicht weifs, wie die Worte des Originals «is me kewe
er naik" zu umschreiben sind.
Die ossianischen Heldenlieder, m.
178
andere: „A Oisin, is fada do shuan", kommt im Duanaire Fhinn und
sonst vor*). Doch ist die letztere bei den Iren in der Regel länger
und dient manchen andern Balladen zur Einleitung und Einkleidung.
Die schottische Recension beginnt**):
Innis sgeul, a Phadraig,
an onoir do leughaidh,
a bheil neamh gu haraidh
ag mathaibh feinn* Eirinn. ~
Bheiritin-sa mo dhearbhadh
dhuit-sa, Oisin nan glonn,
nach ^eil neamh ag d* athair,
ag Osgar no ag Goll. -^
*S oic an sgeula araldh
th* agad dhomhsa, chleirichl
com am binn-sa ri crabhadh,
mar *ei1 neamh ag feinn Eirinn? —
Oisin, is fada do shuan,
eirich suas is eisd na sailml
cbaill thu nis do luth ^s do rath
*8 cha chuir thu cath ri la garbh.
Eines lais mich, Patrick, wissen,
Bei der Ehre deiner Lehre I
Haben die Fiannen Erins
Selber einen eigenen Himmel? —
Dessen will ich dich versichern,
Oschln, Mann von kühnen Taten!
Keinen Himmel hat dein Vater,
Weder er, noch Goll oder Oscar. —
Böse ist das Wort wahrhaftig,
Das du für mich hast, o Pfaffe!
Wenn sie keinen Himmel haben,
Warum sollt ich gläubig denn werden ? —
Oschin, lange währt dein Schlummer;
Wache auf und lausch den Psalmen;
Kraft und Glück hast du verloren,
Kannst am rauhen Tag nicht mehr
kämpfen. —
Lange verschliefst sich Oschin, dem der Ruhm seines Vaters und
seines Stammes das Höchste ist, der Zuspräche Patricks; doch läfst
er sich endlich überzeugen und macht seinen Frieden mit dem Himmel.
Nach dem irischen Texte (Oss. 4, 60. 224; Brooke, Relics ' 414) sagt
der Heilige:
Leig thusa do bheith baoth,
a mhic an righ a b*fhearr cliul
geill do'n t6 doghnidh gach feart,
crom do cheann is feac do ghlun.
,Lais von deinem Unverstände,
Sohn des hochberühmten Königs I
Unterwirf dich Gott dem Schöpfer,
Senk das Haupt und beuge die Kniee!
♦) z. B. in der Giefsener Handschrift D. Driscolls vom Jahre 1685, Bl. 56b— 58a,
wo sie 40 Strophen lang ist. In der Edinburger Handschrift 62 (Cam. i, 164) werden
nur 17 Strophen gegeben.
•*) Auf Toungs Übersetzung beruht die von Herder in der Adrastea gegebene
(Werke 24, 38 ff.). Macpherson kannte das Gedicht; er sagt in seiner ersten Dissertation
(p. VII. ed. I y62) : ^It was with one of the Culdees that Ossian, in his extreme old age,
is Said to have disputed concerning the Christian religion*. Dieser Culdee (d. h. ceile
D^ «Dienstmann Gottes*") ist sein «lonely dweller of the rock", der famose Mac Alpin,
dessen eigentlichen Namen Macpherson nicht kennt: ^ Tradition has not handed down
the name of this son of Alpin. His father was one of FingaFs principal bards**
(Berrathon p. 258 ed. 1763).
174
Ludwig Chr. Stern,
Buail d^ uchKjs doirt do dheur,
creid do*n t^ tha os do chionn,
gidh gur b'ioghnadh a luadh,
is e do rüg buaidh air Fionn.
«Schlag die Brust, vergiels die Träne,
Glaub an jenen, der da droben!
Scheints auch wunderbar zu sagen,
Er ists, der FQrst Finn nun besiegt hat^
Oschin fafst schliefsHch alles in sein „Gebet" zusammen, das nach
der albanogälischen Recension so lautet :
Comraich an da absdol dheug
gabhaidh mi dhomh fein an nochd;
ma rinn mise peacadh trom,
biodh e *n luidh *san tom *sa chnoc!
Um den Schutz der zwölf Apostel
Flehe ich an diesem Abend.
Tat ich eine schwere SQnde,
LaOs sie ruhn im steinigen Hügel I
Der letzte Vers wird in den verschiedenen Texten der Ballade
verschieden gegeben. Die fortlaufende Aufführung und Erklärung
solcher Varianten zu den hier mitgeteilten Proben würde mehr Raum
in Anspruch genommen haben, als ihre Bedeutung oder der Zweck
dieser Abhandlung rechtfertigen könnten.
Berlin.
-•••-
Die Dramen von Herodes und Mariamne,
Von
Marcus Landau.
I.
Während bei den meisten Dramen das Aufsuchen der ersten Quellen
ihrer Fabel eine schwierige, mitunter kaum zu lösende Aufgabe
bildet, hat es der Forscher nach der Quelle der Mariamne-Dramen*)
verhältnismäfsig leicht. Er findet sie ohne langes Suchen einzig und
allein in den Werken des jüdischen Geschichtschreibers Josephus,
Sohn des Matthias, welcher im Mannesalter den Familiennamen Flavius
annahm. Im Jahre 37 n. Ch., also 41 Jahre nach dem Tode des Königs
Herodes von Judäa geboren, hat er seine Geschichtswerke erst im
Alter von mehr als dreifsig Jahren und mehr als ein Jahrhundert nach
dem Tode Mariamnes geschrieben.
Giebt ihm diese zeitliche Entfernung einigermafsen Kredit der Un-
parteilichkeit, so kann dagegen sein Bericht nicht den Wert des eines
Zeitgenossen haben; ja es ist sogar sehr unwahrscheinlich, dafs er ihn
aus dem Munde eines alten Augenzeugen oder Zeitgenossen direkt
vernommen habe.
Für die Geschichte des Herodes und seiner Familie dürfte eine
wichtige Quelle des Josephus wohl Nikolaus von Damaskus gewesen
sein, den er selbst (Streitschrift gegen Apion II. 7) zu den nichtjüdischen
Schriftstellern zählt. Sollte sich aber bei Nikolaus (von dessen Werken
nur Fragmente erhalten sind, in denen nichts von Mariamne vorkommt),
*) Ich behalte den durch' Voltaire und Hebbel populär {gewordenen Namen Mariamne
bei, obwohl die Köni^ bei Josephus Mariamme heilst. Lodovico Dolce nennt sie
Marianna, Calderon Mariene, Hans Sachs Marianna, Hallmann schon Mariamne; der
hebräische Name war wohl Mirjam.
Zt«chr. L TgrL Litt-GeMb. N. P. Vlll. |2
176 Marcus Landau.
der ein Günstling, Verteidiger und Lobredner des Herodes war, eine
solche für seinen Protektor so unrühmliche Erzählung, wie die von
Mariamne gefunden haben? Freilich hat Nikolaus auch ein Drama
„Die keusche Susanna ^ geschrieben*), und die Ähnlichkeit des Stoffe
mag ihn vielleicht bewogen haben, im Gegensatz dazu die Schicksale
der minder unschuldigen jüdischen Königin ausfuhrlich zu erzählen
oder gar zu dramatisieren. Ich sage minder unschuldig, denn Josephus
beschuldigt den Nikolaus, er habe in seiner Parteilichkeit für Herodes
um die Hinrichtung der Mariamne und ihrer Söhne zu rechtfertigen,
sie der Unkeuschheit, die Söhne eines Anschlags auf das Leben des
Vaters bezichtigt, „Ich aber", setzt er hinzu, „der ich von den has-
monäischen Königen abstamme, halte es für ungeziemend Falsches
von ihnen zu berichten, und erzähle alles mit lauterer Wahrheit und
Aufrichtigkeit" **).
Sollten wir aber gerade weil Josephus sich zur Familie der
Hasmonäer zählte, also ein Verwandter Mariamnes war, trotz seiner
Versicherung nicht annehmen dürfen, dafs er für sie gegen Herodes
parteiisch war?
Aber leider ist uns weder der Bericht des Nikolaus noch ein
anderer zeitgenössischer erhalten. Josephus bleibt für uns die älteste
Quelle, und alle die, welche die Schicksale Mariamnes dramatisierten,
haben keine andere gekannt.
n.
Der jüdische Geschichtschreiber erzählt von Mariamne zweimal:
In seiner Geschichte des jüdischen Krieges und in der etwas später
geschriebenen Jüdischen Archäologie. In ersterer berichtet er, Herodes
habe bald nachdem er König geworden (a. 40 v. Ch.) die Mariamme,
Enkelin des Hohepriesters Hyrkanos aus der Familie der Hasmonäer,
geheiratet, dann aber diesen Hyrkanos sowie den Aristobulos, Bruder
*) Nikolaus verteidigte den Herodes wiederholt bei Augustus ; sein Bruder Ptolemäus
gehörte zu den besten Freunden des Herodes. (Josephus, Jüdischer Krieg I. 24, 2; 2, 3;
Archäologie XVI. 9, 4; 10, 8; XVII. 5, 4; 9, 7; 11, 3.) Von dem Drama Susanna be-
richtet nur Eustathius in seinem Kommentar cum Geographen Dionysius. Vergl. Recherches
sur rhistoire de la vie et des ouvrages de Nicolas de Damas par Mr. Tabbö Sevin, in den
M^oires de TAcademie des inscriptions T. VI. p. 486 und in Orellis Ausgabe der Frag-
mente des Nicol. Damasc, Leipzig 1804 S. 273—91, sowie die in derselben Ausgabe
enthaltenen ^Testimonia de Nicoiao Damasceno^ und dessen Autobiographie.
**) Jüdische Archäologie XVI. 7, 1.
Die Dramen von Herodes und Mariamne. L 177
Mariammes, (um 35 v. Ch.) töten lassen. Er liebte seine Frau über
alle Mafsen, sie aber hafste ihn, warf ihm stets den Mord ihrer Ver-
wandten vor und überhäufte seine Schwester Salome und seine Mutter
stets mit Schmähungen. Während Herodes aus übergrofser Liebe
das lieblose und hochmütige Benehmen seiner Frau geduldig ertrug,
wurzelte sich bei seiner Schwester und Mutter der heftigste Hafs gegen
sie ein, und sie suchten sie zu verderben. Auf die grofse Eifersucht
des Herodes bauend beschuldigten sie die Mariamme der Unzüchtigkeit
und gaben vor, sie habe ihr Porträt dem als Lüstling bekannten jeder
Gewalttat fähigen römischen Triumvir Marcus Antonius nach Ägypten
gesendet. Herodes geriet auf diese Nachricht in die gröfste Be
stürzung, und da er (zum Antonius nach Ägypten) reisen mufste,
fürchtete er Frau und Leben zu verlieren. Er vertraute also vor seiner
Abreise (34 v. Ch.) seine Frau dem Josephus, Gatten seiner Schwester
Salome, an und gab ihm den geheimen Auftrag sie ums Leben zu
bringen, wenn Antonius ihn (den Herodes) töten würde. Josephus
verriet der Mariamme diesen geheimen Auftrag, nicht in böser Absicht,
sondern um ihr die Liebe des Königs zu beweisen, der nicht einmal
im Tode von ihr getrennt sein wollte. Der Königin dürfte aber dies
nicht als Beweis besonderer Liebe erschienen sein, denn als Herodes
nach setner glücklichen Rückkehr ihr in einem tete-a-tete die eifrigsten
Beteuerungen seiner aufserordentlichen Liebe gab, antwortete sie:
^Der Befehl an Josephus mich zu töten, war ein schöner Beweis deiner
Liebe!" Auf diesen Vorwurf geriet Herodes in unsinnige Wut und
erklärte, wenn Josephus sein Geheimnis verraten habe, so könne es
nur geschehen sein, weil Mariamme sich ihm hingegeben habe. Salome
benutzte die erregte Stimmung ihres Bruders und verstärkte seinen
Verdacht. Rasend vor Eifersucht gab er den Befehl Marianune und
Josephus zu töten. Aber kaum war der Befehl vollzogen, als ihn die
heftigste Reue erfafste und er sich vor Sehnsucht nach der Gattin
fast verzehrte. Ja er stellte sie sich noch als Lebende vor, und es
dauerte lange Zeit bis er sich in die Tatsache fand und sie als Tote
betrauerte*).
Die Söhne Mariammes, Alexander und Aristobulos, die beim Tode
ihrer Mutter (um 29 v. Ch.) noch Kinder waren, erbten ihren Hafs
*) Jos. Jüdischer Krieg I. 12, 3; 2a, 2- 5. Ähnlich erzählt Suetonius vom Kaiser
Claudius: «Occisa Messalina, paulo post, quum in triciinio decubuit, cur domina non
veniret, requlsivif* (Claudius 39). Hat vielleicht Josephus diese Anekdote in Rom gehört?
12*
178 Marcus Landau.
gegen Herodes, den sie als ihren und der hasmonäischen Familie Feind
betrachteten. Sie äufserten ziemlich unvorsichtig diese Gesinnungen,
was von ihren Feinden und ihrem Halbbruder Antipater, dem Sohne
des Herodes von seiner ersten Frau Doris, benutzt wurde um sie der
Verschwörung gegen den König anzuklagen. Nach langen Intrig^en
und mancherlei Wechselfallen, die Josephus (Jüd. Krieg I. 23, i bis 27, 6)
ausfuhrlich erzählt, wurden sie zum Tode verurteilt und (zwischen
9 und 5 V. Ch.) auf Befehl des Herodes in Sebaste erdrosselt*).
Fünf Tage vor seinem Tode (a. 4 v. Ch.) liefs Herodes auch seinen
Sohn Antipater hinrichten**).
In der „ Jüdischen Archäologie"***) erzählt Josephus diese Vor-
gänge viel ausfuhrlicher und räumt der Alexandra, Mutter Mariammes
und Aristobuls eine viel bedeutendere Rolle ein. Sie, die Tochter des
Hyrkanos, hatte nicht lange nachdem Herodes ihre Tochter geheiratet
hatte, gegen ihn zu Gunsten ihres Sohnes Aristobul zu intriguieren
begonnen und sich bemüht durch die ägyptische Königin Kleopatra
die Unterstützung des Marcus Antonius für ihre Zwecke zu erlangen.
Als nun Quintus Dellius, der Vertraute des Antonius, der schon
den Kuppler zwischen ihm und Kleopatra «gemacht hatte f), nach Judäa
kam und die aufserordentliche Schönheit Mariammes und ihres Bruders
bemerkte, riet er der Alexandra ihre Porträts dem Antonius zu schicken,
bei dem sie dadurch alles werde durchsetzen können, mit dem Hinter-
gedanken, dafs der römische Feldherr auch die Originale verlangen
werde. Alexandra befolgte den Rat und schickte die Bilder. Dellius
entwarf überdies bei seiner Rückkehr zu Antonius diesem eine so ver-
lockende mündliche Schilderung der Schönheit der beiden jüdischen
Königskinder, „die eher Spröfslinge eines Gottes als eines Menschen
zu sein scheinen", dafs dem Römer, der bekanndich kein Kostverächter
war, der Mund zu wässern begann. Da er aber schicklicherweise von
*) Die Daten dieser VoTgSaige lassen sich nicht g^anz genau bestimmen. Ich folge
in der Chronologie des Herodes der Dissertation De Herode magno Judaeorum rege von
Jacob van der Chijs, Leyden 1855.
**) Jüd. Krieg I. 33, 7, 8.
***) Archäol. XV. 2, 5 bis 3, 9.
t) Er riet ihr, wie Plutarch im Leben des Antonius, Homer citierend, sagt, wohl-
geschmückt zum Römer nach Cilicien zu gehen
„Ob vielleicht er begehrte, von Lieb* entbrannt zu umarmen
Ihren Reiz." (Dias XIV. 163).
Den Dellius als Heiratsagenten Antons erwähnt, auch Dio Cassius IL. 39.
Die Dramen von Herodes und Mariamne. 1. 179
Herodes die Zusendung der Gattin nicht verlangen konnte, begnügte
er sich ihn um den jungen Aristobul zu bitten. Herodes merkte die
Absicht, äufserte aber gegenüber dem mächtigen Römer nicht seine
Verstimmung und entschuldigte sich mit der Ausrede, die Entfernung
des Aristobul aus Judäa würde das Signal zu Unruhen und Zerrüttung
im Lande geben.
Antonius liefs sich einstweilen die Entschuldigung gefallen, und
Herodes ernannte den Aristobul, um seiner Frau und Schwiegermutter
einige Genugtuung zu gewähren, zum Hohepriester. Die Aussöhnung
war aber von beiden Seiten keine aufrichtige. Herodes liefe die
Alexandra strenge bewachen und verbot ihr den Palast zu verlassen.
Ihr Versuch sich mit dem Sohne nach Ägypten zu flüchten mifslang,
und der stets mifstrauische Herodes, der in dem sehr populären jungen
Hohepriester einen Prätendenten auf die Königskrone argwöhnte, liefs
ihn durch Meuchelmord aus dem Wege räumen. Um den Tod ihres
Sohnes zu rächen, wendete sich Alexandra wieder durch Vermitdung
Kleopatras an Antonius, und dieser berief den Herodes zu sich nach
Laodikea um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Der Judenkönig wufste
welche Gefahr ihm von dem Römer drohte und wie der Umstand,
dafs diesem die Schönheit seiner Gattin bekannt war die Lebensgefahr
noch erhöhte. Und da er die Mariamme selbst nach seinem Tode
keinem Andern gönnen wollte, gab er seinem als Statthalter zurück-
gelassenen Schwager Joseph den bekannten Befehl, den dieser in un-
geschickter Weise verriet, wie bereits oben erwähnt wurde. Als sich
hierauf das Gerücht verbreitete, Antonius habe den Herodes töten lassen,
glaubte Alexandra durch die persönliche Vorstellung ihrer Tochter
bei Antonius alles durchsetzen zu können und suchte daher Joseph
zu bewegen, mit ihnen ins römische Lager zu fliehen. Bevor sie aber
zur Ausführung dieses Planes schreiten konnten, kam von Herodes
die Meldung, dafs es ihm nicht nur gelungen sei sich vollständig zu
rechtfertigen, sondern dafs er auch die volle Gunst des Antonius ge-
wonnen habe. Als er zurückkam, verrieten ihm seine Schwester Salome
und die Mutter die Anschläge der Alexandra. Erstere, welche die
Mariamme hafste, weil sie ihr oft ihre niedrige Geburt vorwarf, fugte
noch die Verleumdung hinzu, Mariamme habe mit dem Schwager Joseph
zu vertraulich gelebt. Herodes obwohl äufserst eifersüchtig, glaubte
aber mehr der Frau, welche ihre Unschuld beteuerte, als der ver-
leumdenden Schwester, und versicherte der Mariamme, dafs er sie noch
immer so heifs wie früher liebe. Unter Tränen und Küssen schlofs
180 Ifarcos Landau.
das Ehepaar Frieden, und alles wäre glücklich abgelaufen, wenn sich
Mariamme nicht hätte fortreifsen lassen, dem zärtlichen Gatten den
zurückgelassenen Mordbefehl vorzuwerfen. Das traf den Herodes wie
ein Dolchstofs, denn er konnte sich den Verrat des Joseph nur durch
dessen sträfliches Einverständnis mit Mariamme erklären« Wütend
entrifs er sich ihren Armen, raufte sich das Haar aus und lief wie sinnlos
im Palaste herum. Dann liefs er die Alexandra einsperren, den Joseph
töten, Mariamme verschonte er aber, denn noch war seine Liebe stärker
als seine Eifersucht.
Einige Jahre später, nach dem Siege des Cäsar Octavianus über
Antonius bei Actium (a. 31 v. Ch.) hatte Herodes als treuer Anhänger
des Letztem vom Sieger alles zu furchten und begab sich daher
freiwillig zu ihm um seine Verzeihung zu erlangen. Vor der Abreise
liefs er den greisen Hyrkan, Vater der Alexandra hinrichten und seine
eigene Familie in festen Schlössern unterbringen, Mariamme und ihre
Mutter in Alexandrion, die andern Frauen in Masada. Den zur Be-
wachung Mariammes zurückgelassenen Vertrauten, dem Schatzmeister
Joseph und dem Ituräer Soemus erteilte er den bekannten geheimen
Mordbefehl, der diesmal auch für Alexandra galt. Während seiner
Abwesenheit gelang es der Mariamme dem Soemus das Geheimnis
zu entlocken, und als Herodes unversehrt und im vollen Besitz der
Gunöt Octavians zurückkehrte fand er bei der von ihm liebevoll be-
grüfsten Gattin die kälteste Aufnahme. Wieder erwachte seine Eifer-
sucht und wieder schürten Salome und ihre Mutter mit ihren Ver-
leumdungen das Feuer, Doch scheinen sie diesmal die Wächter
Mariammes nicht angeschuldigt zu haben, denn als Herodes zum zweiten
Mal (um a. 30 v. Ch.) zum Octavian reisen mufste, vertraute er dem
Soemus wieder seine Frau an. Bei seiner Rückkehr wurde er von
dieser mit der denkbar schlechtesten Laune empfangen. Er, der sie
noch immer heifs liebte und sich wie der feurigste Liebhaber benahm,
fand bei ihr nur Hohn und. Verachtung. Bat er sie um eine Liebkosung
so wies sie ihn hochmütig ab und warf ihm den Tod ihres Grofsvaters
und Bruders vor. Immer mehr nahm der Unfrieden im Hause zu,
bis endlich Salome zu dem äufsersten Mittel griff. Ein von ihr ge-
wonnener Mundschenk verklagte Mariamme bei Herodes, dafs sie ihn
bestochen habe, um ihn zu vergiften. Der König liefs dem vertrauten
Eunuchen Mariammes die Folter geben; der bekannte zwar nichts von
einem Vergiftungsversuch, sagte aber aus, dafs Soemus den Mord-
befehl der Königin verraten habcf Daraus schlois nun wieder Herodes
Die Dramen von Herodes und Mariamne. I. 181
auf ein sträfliches Einverständnis des Soemus mit Mariamme, liefs
erstem töten und letztere Vor Gericht stellen. Da er selbst den er-
bittertsten Ankläger abgab, so merkten die gefalligen Richter seine
Absicht und verurteilten sie zum Tode, glaubten aber er werde ihr
das Leben schenken oder wenigstens die Vollziehung des Urteils auf-
schieben. Das pafste aber der Salome nicht und es gelang ihr bei
Herodes die sofortige Hinrichtung Mariammes durchzusetzen. Die
Unglückliche wurde vor ihrem Tode auch von ihrer eigenen Mutter
im Stiche gelassen, die um sich selbst reinzuwaschen die Tochter als
Undankbare und Schuldige behandelte und mit den ärgsten Schmähungen
überhäufte. Mit Verachtung und stolzem Schweigen beantwortete
Mariamme diese schmählichen Anklagen der Mutter und schritt stolz
und gefafst zum Tode*).
nSo endete^, schliefet Josephus, „diese keusche und mutige aber
stolze und wenig verträgliche Frau. Alle Frauen ihrer Zeit an Schönheit
und Majestät übertreffend, glaubte sie von dem leidenschaftlich in sie
verliebten Gatten nichts zu befurchten zu haben, und dies war ihr
Unglück. So glaubte sie sich alles gegen ihn erlauben, ihn mit Vor-
würfen und Beleidigungen ungestraft überhäufen zu dürfen, und in
gleicher Weise zog sie sich den Hafs von Mutter und Schwester des
Königs zu.**
Nach ihrem Tode, erzählt Josephus weiter, nahm die Liebe des
Herodes zu ihr noch zu; von Gewissensbissen gepeinigt rief er be-
ständig ihren Namen, erging sich in eines Königs unwürdigen Klagen
oder suchte sich durch Gastmaler und Trinkgelage zu betäuben. Er
vernachlässigte die Regierungsangelegenheiten und befahl mitunter
seinen Leuten Mariamme herbeizurufen, als ob sie noch lebte.
Eine bald darauf ausgebrochene Epidemie, welche viele Menschen
hinwegraffte und vom Volke als Strafe Gottes für die ungerechte
Verurteilung Mariammes betrachtet wut-de, brachte den Herodes dem
Wahnsinn nahe. Er zog sich in die Einsamkeit zurück, verfiel in eine
schwere Krankheit und wollte die Ratschläge und Vorschriften der
Ärzte nicht befolgen. Als er endlich genas ward er noch grausamer
und blutdürstiger als früher und Hinrichtungen folgten auf Hin-
richtungen**). Auch seine Schwiegermutter Alexandra fiel bald als
Opfer ihrer Intriguen und seiner Tyrannei.
*) Jüd. Archäologie XV. 6, i bis 7, 6.
♦*) Jüd. Arch. XV. 7, 6—8,
182 Marcus Landau.
Den Tod der Söhne des Herodes erzählt Josephus in der
Archäologie ebenfalls ausfuhrlicher als in der Geschichte des Krieges ;
doch brauchen wir hier nicht weiter darauf zurückzukommen.
Die mancherlei UnWahrscheinlichkeiten und Widersprüche in den
beiden Berichten des Josephus, die zwei- ja dreifache Wiederholung
und Ausplauderung des Befehls Mariamme zu töten, das Streben in
der Archäologie die Hauptschuld der Alexandra aufzuladen, erwecken
berechtigtes Mifstrauen in seine Wahrhaftigkeit und Unparteilichkeit.
Aber wir haben hier keine historische Kritik zu üben, es genügt uns
dargelegt zu haben welch reiches tatsächliches und psychologisches
Material der jüdische Geschichtschreiber hier darbietet, gleichsam als
wollte er allen künftigen Dichtern von Mariamne-Trägödien die Mühe
des Erfindens und Motivierens erleichtem.
Ganz richtig sagte der Herausgeber von Tristan L'Hermite's
Mariane im vorigen Jahrhundert: „C'est lä (im Josephus) que Tristan,
par un bonheur qui n'est peut-etre jamais arrive qu'ä lui, a trouve
sa Tragedie toute faite et toute digeree. L'historien Ta conduit, pour
ainsi dire, pas ä pas et de scene en scene, depuis Texposition jusqu'ä
la catastrophe; et le poete, en laissant toutes les choses qui servent
ä son action dans la place oü Thistoire les a mises, a trouve non-
seulement tous ses personnages, leurs interets, leurs caracteres et leurs
mouvemens, mais, ce qu*il y a de plus merveilleux, Teconomie meme
du poeme et la distribution de toutes ses parties, selon les regles les
plus etroites d'Aristote et du bon-sens.**
Neben dem Schicksal der Mariamne war es noch eine andere, von
Josephus nicht berichtete Episode aus dem Leben des Herodes, welche
zu poetischen Bearbeitungen und Dramatisierungen Stoff lieferte. Es
ist die Erzählung im zweiten Kapitel des Matthäus-Evangeliums von
der Tötung der Kinder in Bethlehem auf Befehl des Herodes. Wir
finden sie schon in den ältesten christlichen Mysterienstücken und dann
weiter durch fast alle Jahrhunderte bis zur Neuzeit dramatisiert, teils
selbständig, teils in den Passionsdramen eingeschaltet. Für uns können
hier selbstverständlich nur jene Bearbeitungen in Betracht kommen,
welche mit den Dramen von Mariamne verbunden sind und die wir
ihres Orts erwähnen werden.
Die von Riccoboni (Hist. du Theatre italien I. 119) erwähnte
Tragödie Herodiade des Giov. Battista Martii (1594), die ich hier
nicht finden konnte, dürfte, sowie Silvio Pellicos gleichnamiges Drama
Die Dramen von Herodes und Mariamne. I. 183
(1832), die Geschichte der aus dem Neuen Testament bekannten
Tochter der Herodias, welche den Tod des Täufers verursachte (Matth.
XrV. 6, Markus VI. 22), behandeln.
m.
Als der bethlehemidsche Kindermord schon seit Jahrhunderten zum
Besitzstande des christlichen Theaters gehörte, wurde endlich auch die
historisch besser beglaubigte, dramatisch viel interessantere Mariamne-
Episode aus dem Leben des Herodes auf die Bühne gebracht. Es
geschah dies in der Spätrenaissance, nicht lange nachdem die erste
Ausgabe des griechischen Josephus (Basel 1544) erschienen war.
Der unermüdliche Vielschreiber, der Venetianer LodovicoDolce
(geb. 1508 f 1566), den Tiraboschi einen „Historiker, Redner, Gram-
matiker, Rhetor, Philosoph, Physiker, Ethiker, tragischen, komischen,
epischen, lyrischen Dichter, Herausgeber (alter Klassiker im Verlage
des Giolito), Übersetzer, Sammler und Kommentator" nennt, „der über
alles schrieb, aber sich nie über die Mittelmäfsigkeit erhob" und der
an Originalwerken und Übersetzungen über siebzig Stück publizierte,
hat auch acht Tragödien gedichtet. Davon sind vier Bearbeitungen
von Tragödien des Euripides, zwei von solchen des Seneca; für
seine Dido nahm er den Stoif aus Virgil, für die Marianna aus dem
Josephus*).
Und auch zu diesem Drama hat er den Seneca benutzt und manche
Situationen dem unter dessen Namen gehenden Drama Octavia nach-
geahmt. Wie die Gattin Neros ihrer Amme den Traum erzählt, in
-welchem ihr der von Nero getötete Bruder Britanniens erschien (Akt I
115 sq.), so erzählt die Gattin des Herodes ihrer Amme einen ähnlichen
Traum. Wie Octavia in Nero den Mörder von Vater und Bruder
sieht und ihm den Tod wünscht (I. 240 sq.), so wünscht Marianna
dem Mörder ihres Bruders und Grofsvaters den Tod. Wie der Chor
in der Octavia den Untergang des Hauses des Augustus beklagt
*) G. Tiraboschi, Storia della letteratura italiana, Florenz 1805 — 1809, Tomo VII
608, 1016, 1282, 1564, 1581; Giambattista Corniani, I secoli della letteratura italiana I.
493; J- ^* '^^ Graesse, Lehrbuch einer allgemeinen Literärgeschichte, Das sechzehnte
Jahrhundert S. 1213. Über die epischen Dichtungen Dolces S. P. L. Ginguen6, Hist.
litt^raire d^Italie, Paris 1824, FV. 533 — 39; V. 3—9; über seine Lustspiele, ebenda VI.
290—93 und J. L. Klein, Geschichte des Dramas IV. 826—39; über die Tragödie Dido
Klein V. 399 — 408. Letzterer nennt sie (V. 351) die beste italienische Didone-Tragedia
nächst der von Metastasio.
184 Marcus Landau.
(V. 924 sq.), SO beklagt der Chor im fünften Akt der Marianna den
Untergang des hasmonäischen Hauses. Und wie die Amme Poppäas
(ohne Amme erscheint keine vornehme Frau in diesen Stücken) ihre
Befürchtungen ob ihres bösen Traumes zu zerstreuen sucht (IV. 740 sq.),
so redet auch die Mariannas ihr die Furcht vor dem bösen Traimie
aus. In der Marianna ist es aber die wahnsinnige Eifersucht des
Herodes, welche die Katastrophe herbeifuhrt, während die Eifersucht
Octavias auf Poppäa ganz wirkungslos bleibt.
Trissino mit seiner Sofonisba, Rucellai mit seiner Rosmunda hatten
einen Fortschritt angebahnt als sie Stoffe zu ihren Tragödien nicht
mehr aus der Sagen- und Mythengeschichte Griechenlands und Roms,
sondern aus der Zeit des historischen Roms und der Völkerwanderung
nahmen. In Form und Stil die antike Tragödie nachahmend schritt
Dolce auf dieser Bahn weiter, indem er seinen Stoff nicht der biblischen,
sondern der spätjüdischen Geschichte entnahm. Und mit glücklichem
Griff erfafste er daraus ein Motiv, das an und für sich interessant und
neu war. Wieviel Tragödien von Ehebruch, Gatten- und Kindermord,
von verratenen und mifshandelten Frauen das Altertum auch hinter-
lassen hatte, eine Eifersuchtstragödie, mit dem Untergang einer ganzen
Familie endend, fand sich in dieser Hinterlassenschaft nicht.
Dolce war also nicht blofs der erste, der die Gattin des Herodes
in einem regelrechten Drama auf die Bühne brachte, er hat auch zuerst
die Eifersucht zum Inhalt eines Dramas gemacht.
Einem solchen Bahnbrecher darf man nicht nach dem beurteilen,
was Gröfsere als er im Laufe von drei Jahrhunderten auf seinen Spuren
wandelnd geleistet haben ; man darf nicht vergessen, dafs die italienische
Tragödie erst zu seiner Zeit geboren wurde. Aber selbst mit manchen
der Spätem darf er sich kühn vergleichen. Fehlt ihm auch der
lyrische Schwung, die überreiche Fantasie Calderons, so ist er dafür
auch frei von den oft barocken Einfallen, von der schwülstigen Red-
seligkeit des Spaniers. Und weit überragt er einen Hans Sachs, einen
Tristan THermite, ja selbst Voltaire. Mit feinem Kunstgefuhl hat er
aus der Erzählung des Josephus das Wesentliche herausgegriffen, die
Wiederholungen und das störende Beiwerk weggelassen. Die Hand-
lung beginnt bei ihm erst nach der Rückkehr des Herodes von seiner
letzten Reise zu Octavianus Caesar (Augustus) und eilt dann unauf-
haltsam der Katastrophe zu. Freilich fehlt es auch nicht an Naivetaten
und Geschmacklosigkeiten, an rohen Gräuelscenen, im Stile der Seneca-
Tragödien, wie sie das sechzehnte Jahrhundert, besonders in Italien,
Die Dramen von Herodes und Mariamne. I. 185
auf der Bühne gern gesehen hat. Es fehlen nicht die unentbehrlichen
Requisiten des klassizistischen italienischen Dramas — der treue Ge-
heimrat, dessen Rat gewöhnlich nicht befolgt wird, die Amme, welcher
die wichtigsten Geheimnisse anvertraut werden, der vorbedeutende
böse Traum u. s. w.
Auch mit den Prologen, deren er sich zwei gönnte, hat Dolce dem
Geschmacke seiner Zeit den Tribut entrichtet.
Im ersten Prolog spricht die Tragödie Marianna selbst, ihren
Inhalt in Kürze angebend, knüpft daran ein Lob auf Venedig und
giebt den Ort der Handlung an: Im Vordergrunde ein Schlofs unweit
der Stadt, „in dem heute entsetzliche Mordtaten geschehen werden,
die einen Mezentius zum Mitleid bewegen könnten". In der Feme
ist Jerusalem zu sehen:
. . . la citta, dovel figliuol di Dio
AUor ch'egli vesti Tumana spoglia
Sparse ne' cuor de' suoi piü cari eletti
n seme de la santa alma dottrina,
Ch'a' credenti la via del del aperse.
Im zweiten Prolog verkündet der Höllenfürst Pluto seine Absicht
mit Hilfe der Eifersucht sich des Herodes zu bemächtigen und ihm,
wie er und alle Tyrannen es verdienen, die Hölle gehörig heifs zu
machen. Es ist die Zeit nahe, meint er, da Gott in Menschengestalt
erscheinen und ihm viele Tausende von Seelen entraffen wird, er
möchte daher so lange sein Geschäft noch gut geht, so viel Seelen
als möglich erobern und will mit dem Haus des Herodes beginnen.
„Eifersucht^ (Gelosia) erscheint nun in Person und übernimmt freudig
seine Aufträge, schnelle und pünktliche Ausführung zusichernd, denn
sich in fremdem Blut zu baden sei ihr Hauptvergnügen. Pluto lobt
seine nützliche Dienerin, auf die man sich verlassen könne, beschlielst
aber zu gröfserer Sicherheit höchstpersönlich in den Judenkönig hinein-
zufahren und dessen Gedanken und Handlungen zu leiten.
Damit verschwindet der Gatte Proserpinas auf Nimmerwieder-
sehen aus unsern Augen, ebenso wie Frau Gelosia. Was sie im
Verborgenen wirken, erfahren wir nur aus den Handlungen der Ge-
schöpfe von Fleisch und Blut, die im Drama auftreten.
Im ersten Akt finden wir Marianna im Kastell Alessandrio vor
ihrer Amme ihr Herz ausschüttend über die Bosheit und Hartherzigkeit
des Herodes. Sie hätte schon genug Ursache ihn wegen der Er-
mordung ihres Grofsvaters und Bruders zu hassen. Und wenn sich
186 Marcus Landau.
auch solche grausame Taten mit der Herrschsucht entschuldigen liefsen,
was für Entschuldigung hat er für den mich betreffenden unmensch-
lichen Befehl, den er vor einigen Monaten erteilte. Warum soll ich
ihn nicht hassen und mich rächen? ist doch Rache das süfseste und
angenehmste unter allen irdischen Dingen. Und überdies hat mich
diese Nacht ein Traum dazu ermuntert.
Die neugierige Amme möchte sowohl den Inhalt des Traumes
als die Ursache ihres Hasses wissen, sucht aber schon im voraus den
Herodes zu entschuldigen, der ja, die Gattin viel mehr als sich selbst
liebe. Endlich meint sie, dafs Marianna, die schon seit vielen Jahren
seine Gattin sei, etwas zu spät mit ihren Klagen komme, geschehene
Dinge seien einmal nicht zu ändern und das Beste wäre die bösen
Gedanken in Lethe zu versenken.
Marianna erzählt hierauf ihren Traum, in dem ihr Bruder Aristobul
erschienen und sie vor dem ihr, ihren beiden Söhnen und ihrer
Mutter drohenden Tode gewarnt habe. Und da die Amme nicht viel
auf Träume geben will erzählt sie auch von dem Befehl den Herodes
vor seiner Abreise gegeben habe sie zu töten, falls er durch Aug^stus
in Ägypten das Leben verlieren sollte. Deshalb habe sie ihn als er
gestern wieder eintraf trotz seiner Zärtlichkeitsbezeigungen so schlecht
aufgenommen, und wenn sie nur die Waffen zu fuhren wüfste, würde
sie seinen schlechten durch den Traum angekündigten Absichten zuvor-
kommen. Vergebens sucht die Amme sie zu beruhigen und den Herodes zu
entschuldigen. Marianna redet sich in immer gröfsern Arger hinein:
Soll ich Unglückliche, von königlichem Blute stammend noch länger
diesen ruchlosen Mörder und Usurpator ertragen? Soll ich mich von
ihm quälen und bedrohen lassen, geduldig warten bis er mich er-
mordet? Soll ich den Töchtern des Belos (den Danaiden) oder der
Judith nachahmen? Wenn ich ihn aus Mitleid nicht tödte ziehe ich
mir selbst, wie Hypermnestra den Tod zu*).
In der zweiten Scene erinnert der „Capitano** Soemo Marianna
an den Beweis seiner Treue und Anhänglichkeit, den er ihr durch
den Verrat von Herodes' geheimen Mordbefehl gegeben, erzählt ihr
von dem Argwohn den sie beim Herodes durch ihr unfreundliches
*) Mir ist von einer Ermordung der Hypermnestra der einzigen Danaide, die
ihren Gatten verschonte, nichts bekannt. Wenn aber Klein (Gesch. des Dramas V. 380)
die mythologischen Anspielungen der Judenkönig^n einen Anachronismus nennt, so scheint
er nicht gewufst zu haben, wie weit griechische Bildung zu jener Zeit unter den Juden
verbreitet war und wie besonders Herodes und seine Familie ganz gräcisiert waren.
Die Dramen von Herodes und Marianine. I. 187
Benehmen erregt habe und wie er ihn beruhigte, indem er erklärte,
Marianna sei ungehalten weil er sie in diesem kleinen Kastell einge-
schlossen halte und weil sie etwas von einem Liebchen gehört hat, das
ihm den Aufenthalt in Ägypten verschönert habe. „Dann aber sei
ihre Feindin Salome gekommen, habe sich mit Herodes eingeschlossen
und da ist, wie ich furchte, nichts Gutes für dich gebraut worden.
Sei daher vorsichtig und wenn Herodes dich über die schlechte Auf-
nahme zu Rede stellt, gieb dieselben Ursachen an wie ich; deinetwegen
nicht meinetwegen, denn ich bin schlimmstenfalls zu sterben bereit,
nicht blofs für dich, meine rechtmäfsige Königin, auch für das heilige
Gesetz imd die Ehre**.
Marianna ihrerseits furchtet auch nicht zu sterben, wenn sie nur
früher den Tod von Hyrkan und Aristobulo rächen könnte; sie dankt
dem Soemo für seine Treue und guten Willen, versichert, dafs sie
ihn nicht verraten werde, will aber nichts von Heuchelei und Ver-
stellung wissen, sondern dem Herodes erst recht ihre Verachtung be-
zeigen.
Allein gelassen bereut Soemo seine Geschwätzigkeit und sieht
sich schon als Opfer von Herodes mit Blitzeseile kommenden Zorn,
der kommt
Come dietro al balen seguita il tuono,
E col tuon scocca la saelta ardente.
Doch beschliefst er, was auch kommen möge, mutig zu ertragen.
Den Akt schliefst der Chor von Mariannas Hoffräulein (damigelle),
der als Muster von Dolces Lyrik dienen mag:
Signor, ch*ai padri nostri,
Merce di tua bontade,
Dimostrasti la via, ch*al ciel conduce:
E'n questi oscuri chiostri
Giustitia et honestade
E pace e union per te riluce:
II sol de la tua luce
Sgombri le nebbie intomo,
Che minacdan tempesta horrida e greve.
Sia qui la notte breve,
E tomi chiaro e senza nube il giomo.
Basti il passato male
A la nostra Reina,
Ricevuto ne Tavo e nel fratello.
188 Marcus Landau.
E, se prego mortale
Ti sospinge et inchina
A dar ai peccator giusto flagello,
II Re fiero e rubello
A le tue sante leggi,
Signor punisci con supplicio degno;
E torni questo Regno
A cui s'aspetta e i cari, andchi seggi.
Tu liberasti, o Dio
Senza prindpio e fine,
Prima e sola cagion d'ogni cagione,
Bench* ei fosse restio
A le tue discipline,
L'afflitto popol tuo da Faraone.
E chi sua speme pone
In tua pietä infinita
Mai la tua santa man non abondona.
Tu sei la nostra vita;
E vien da te ogni scettro, ogni Corona.
Vedi si come Herode
Che'l freno usurpa e tiene
De la terra da te tanto diletta,
De Taltrui sangue gode,
E di tormenti e pene,
Come di cibo suo, Tanima alletta.
Scenda adunque con fretta
La tua giustitia, padre,
Sovra di lui, crudel piü d'ogni fera,
E la figlia e la madre
Difendi, eterno Re, si che non pera.
Im zweiten Akt verleumdet Salome die Marianna beim Herodes«
dafs sie ihn durch den Mundschenk habe vergiften wollen, ganz so
wie es Josephus berichtet ; hinzugefugt sind nur die Vorwürfe, welche
Salome ihrem Bruder macht, dafs er sich von Marianna und Alexandra
regieren lasse. Herodes läfst den Mundschenk rufen, der nach einigem
scheinbaren Sträuben die Erzählung Salomes bestätigt Das Verlangen
des Herodes nach Zeugen oder Beweisen beantwortet er schnippisch :
„Wer derartiges plant müfste verrückt sein, wenn er es öflFentlich und
vor Zeugen tun möchte". Auf Herodes weiteres Drängen nennt er
Die Dramen von Herodes und Mariamne. I. 189
den Eunuchen Mariannas als den Aufbewahrer des Giftes, und da
Herodes mifstrauisch bemerkt, er sei vielleicht mit dem Eunuchen zum
Verderben Mariannas einverstanden, erbietet sich der Mundschenk
seine Aussage in ihrer Gegenwart zu wiederholen. Die letzten Worte
werden von der eintretenden Marianna gehört, die nun recht schneidig
zu wissen verlangt, wie man in solcher Weise von ihr reden könne.
Nun folgt eine recht lebhafte „g^ofse Scene":
Her.: Ich möchte eher Reich und Leben verlieren, als in die
traurige Notwendigkeit kommen, dich eines Verbrechens anzuklagen.
Mar.: Wenn es ein Verbrechen ist, dich stets geliebt zu haben
wie es der Gattin geziemt, dann hast du Ursache mich zu hassen.
Her.: Anstatt meine Liebe so zu erwidern wie sie verdiente,
wolltest du mich töten.
Mar.: Wer ist so frech und boshaft mich dessen anzuklagen? Du
suchst nur aus Grausamkeit und um eine Andere zu heiraten mich zu
töten. Aber ich will gern sterben.
Her.: Dies beweist, dafs du dich schuldig fühlst.
Mar.: Meine einzige Schuld ist dich geliebt zu haben, weil ich
weifs, dafs du nur meinen Körper geliebt hast. Aber Gott wird dich
strafen.
Her.: Du solltest mir dankbar sein, dafs ich dich zur Königin
gemacht habe, ich hätte dich ja auch zu meiner Konkubine machen
können. Hätte ich nur auf die Schönheit des Körpers gesehen, so
hätte ich in Judäa schönere Frauen finden können; aber ich glaubte
deine Seele wäre eben so schön wie dein Körper. Nun sehe ich,
dafs ich mich getäuscht habe, denn dein Benehmen zeigt, dafs du mir
nach dem Lebeh trachtest.
Mar. : (nachdem sie ihm die Einschliefsung im Schlosse Alexandrion
vorgeworfen) Du liebst mich nicht. Aber es fallt mir trotzdem nicht
ein dir nach dem Leben zu trachten, wer mich dessen beschuldigt,
der lügt. Aber das ganze ist nur deine Erfindung, — Grausamkeit,
Eifersucht oder die Liebe zu einer Andern treiben dich dazu ....
Hier ist meine Brust, stofse dein Schwert hinein! Lieber ist mir der
Tod als das Leben an deiner Seite — Mörder meines Grofsvaters und
meines Bruders.
Her.:^ Ich erstaune über deine Kühnheit. Wie kannst du leugnen,
dafs du mir durch diesen da (auf den Mundschenk zeigend) Gift
reichen wolltest?
Mar.: Er lügt.
190 Marcus Landau.
Her.: (zum Mundschenk) Sag' die Wahrheit^ ohne Rücksicht auf
diese Undankbare.
Mundschenk: Wozu wiederholen, was sie so gut weifs wie ich.
Mar.: Du lügst! Bist von Herodes angestiftet, der mir das Leben
rauben will, wie meinem Bruder und Grofsvater ....
Endlich gesteht der in die Enge getriebene Mundschenk, dais er
von Salome angestiftet worden sei Marianna zu verderben, worauf ihn
Herodes ins Gefängnis abführen läfst
Noch immer voll Argwohn und Zweifel nimmt der König in der
nächsten Scene den Eunuchen vor und sucht ihn mit Versprechungen
und furchtbaren Drohungen — er werde ihn so foltern lassen, dafs
er Jenen beneiden wird, der für Phalaris den ehernen Stier verfertigte
— (che arse e muggiö nel proprio tauro) — zum Geständnis zu be-
wegen. Der Eunuch beteuert und beschwört die vollkommene Un-
schuld Mariannas, läfst sich aber zu der Aussage fortreifsen, dafs Soemo
den geheimen Auftrag des Herodes an Marianna verraten habe. Daraus
schliefst dieser auf ein sträfliches Einverständnis der Beiden und folgert
weiter: „Marianna hafst mich, daher wollte sie mich vergfiften, die
erste Aussage des Mundschenk ist also wahr, trotzdem er sie später
widerrufen hat". Doch will er noch genauer untersuchen und nichts
übereilen.
Der dritte Akt beginnt mit einem Gespräch zwischen Marianna
und ihrer Mutter, die einander ihre Befürchtungen mitteilen. Marianna
erwartet gefafst den Tod, Alexandra will durch Opfer und Ciebete
das Unglück abwenden. Der Jungfernchor ermahnt Marianna sich zu
verteidigen und ihre Unschuld darzutun:
Per non gir con disnor a fiera morte.
Che quando voi non difendiate il vero,
n mondo credera che siate stata
Adultera e homicidia.
In der nächsten Scene wird die Diskussion zwischen Herodes und
Marianna in Gegenwart des Geheimrats (Consigliere) wieder auf-
genommen*). Wir wissen nicht: Hat Herodes seinen schönen Vorsatz
nichts zu übereilen aufgegeben oder im Zwischenakt die genaue Unter-
suchung geführt? — genug, er erscheint jetzt von Mariannas Schuld
überzeugt, beschimpft sie, und nur mit Mühe gelingt es dem Con-
*) Ginguen^ (Hist. litt. VI. 8i) in seiner Analyse von Dolces Marianna macht aus
diesem Consigliere und Soemo eine Person!
Die Dramen von Herodes und Mariamne. I. 191
sigliere einigen Aufschub für sie zu erwirken. Dagegen will Herodes
ohne Zögern den Soemo bestrafen.
Wie der lupus in fabula erscheint dieser sofort, (wohin Marianna
inzwischen gekommen erfahren wir nicht) wird von Herodes anfangs
durch freundliche Worte sicher gemacht, dann heftig angefahren und
mit dem Vorwurf, er habe den geheimen Befehl verraten aufser Fassung
gebracht. Er verteidigt sich ungeschickt, und als ihm Herodes vor-
wirft, er habe nach seinem Tode Marianna heiraten und König werden
wollen, weifs er nur seine Unschuld zu beteuern und, dafs er in Bezug
auf die Respektierung djcr Gattinnen anderer es mit dem keuschen
Joseph und mit Hippolytus aufnehmen könne. Als Antwort hierauf
erklärt ihm Herodes, er werde ihn nicht foltern lassen, da ja sein
Verbrechen klar erwiesen sei, dagegen werde er ihn schon heute hin-
richten lassen, und zwar aus besonderer Gnade nicht mittelst Steinigung,
Kreuzigung oder Zerreifsung durch Hunde, sondern durch einfache
Enthauptung.
Nachdem Soemo abgeführt worden, setzt der Consigliere seine
Bemühungen Marianna zu retten fort und verteidigt sie mit einem
argumentum ad hominem. „Was könnte", sagt er, „Marianna, die
nicht mehr in blühender Jugend ist, zum Ehebruch verlocken, und
gar noch mit Soemo. Etwa sein schönes Aussehen? Er ist ja ab-
gezehrt und struppig, sieht mehr einem Wilden als einem zivilisierten
Menschen ähnlich und ist beinahe* ein Greis. Es wäre lächerlich der
Königin eine solche Geschmacksverirrung zuzutrauen."
Onde e cosa ridicola a pensare
Ch'ella avesse eletto un tale amante.
„Giebt es denn nicht genug schöne junge Männer am Hofe und
vor allem, bist du nicht selbst, o König, der schönste, liebenswürdigste
und majestätischste, kaum 35 Jahre zählend"*).
Als pessimistischer Frauenkenner antwortet Herodes: „Deine
Verteidigung wäre vollkommen überzeugend, wenn die Frauen stets
vemunftgemäfs handeln möchten. Aber kein Geschöpf ist so leicht-
sinnig, folgt so blind seinen Trieben als das Weib. Und dann ver-
dient Marianna Strafe für den blofsen Verdacht. Es ist nicht genug,
daüs ich nicht beschädigt werde, ich darf nicht einmal in den Verdacht
geraten der Beschädigte zu sein".
*) Herodes war beim Tode Mariannas schon Qber die Vierzig; aber warum soll
ein Hofinann nicht ein paar Jährchen verschlucken?
Ztwhr. 1 tkI. LitL-GMch. N. P. VIII. ^g
192 Marcus Landau.
ch^a la persona mia
Non sol convien, che non si faccia offesa,
Ma torre ogni cagion, ch'altri sospetti*).
Doch läfst er sich endlich bewegen die Entscheidung aber Marianna
zu verschieben.
Der Akt schliefst mit einem schönen (glücklicherweise von Herodes
nicht gehörten) Chorgesang, in dem das Los der Untertanen eines
grausamen gottlosen Tyrannen beklagt und dessen Tod von Gott
erfleht wird.
Im Beginne des vierten Akts berichtet ein Bote ausfuhrlich über
die Hinrichtung des Soemo, was der Chor gebührend beklagt. Dann
kommt Herodes, betrachtet mit Genugtuung die ihm in einem silbernen
Gefafs überbrachten Körperteile des Hingerichteten und läfst sich die
Hinrichtung mit dem Abhauen der Hände und dem Herausreüsen
des Herzens genau beschreiben.
Das Überbringen und Betrachten von Körperteilen Hingerichteter
oder Ermordeter gehörte zum stehenden Inventar der italienischen
bluttriefenden Tragödien des sechzehnten Jahrhunderts. Dolce wollte
sich diesen starken Effekt nicht entgehen lassen, liefs aber seinen
Hoffräuleinchor sein Entsetzen über diese gräuliche Barbarei ausdrücken:
O cosa empia e inhumana,
O spettacolo horrendo e dispietato.
Herodes ruft ihm dafür ein Halts Maull zu:
Voi non ardite di formar parole
E restatevi cheto!
und äufsert sein Bedauern, dafs er den Soemo so gelinde bestraft
habe. Dann läfst er durch eine der Chordamen Marianna herbeirufen
und sagt dieser, ihr das silberne Gefäfs überreichend, er übergebe
ihr ein seltenes und kostbares Geschenk, wie es ihre seltene Treue
verdiene, es enthalte das was sie mehr als ihr Leben liebte und noch
liebe. Ihr die einzelnen Stücke vorweisend sagt er: Da sind
Die Hände die so oft zu unsrer Schmach
Um deinen Nacken zärtlich sich geschlungen,
Und dies, schamloses Weib, es ist das Herz
An das so innig sich das deine hing.
*) Meine Frau darf nicht einmal dem Verdachte ausg^eset^t sein, sagte Julius
Caesar als er seine Gattin verstiefs. (Plutarch.)
Die Dramen von Herodes und Mariamne. I. 193
In gleicher Weise läfst Dolces Zeitgenosse Giraldi in seiner Tragödie
Orbecche*) den König Sulmone seiner Tochter Haupt und Hände
ihres Gatten und die Körper ihrer ermordeten Kinder in silbernen
Gefafsen überreichen. Man darf aber solche Gräueltaten nicht als
blofse monströse Nachahmung der Seneca-Tragödien betrachten —
sie lassen sich bis zu Boccaccios Dekameron, (Tag IV. 9) und weiter
zurück, freilich nicht auf dem Theater verfolgen**).
Wie Marianna das scheufsliche Geschenk aufnimmt kann man sich
denken, und brauchen wir daher die nun folgende Zankscene nicht wieder-
zugeben. Sie schliefst damit, dafs Herodes seiner Frau mitteilt er werde
sie zum Beweis seiner Liebe hinrichten lassen, damit sie bald mit ihrem
geliebten Soemo vereinigt werde. Die Überreste desselben befiehlt er
den Hunden vorzuwerfen und läfst Marianna von der Wache abfuhren.
In der nächsten — vierten — Scene erscheinen die Amme und die
beiden Kinder Mariannas, Alessandro und Aristobulo, um sie zu ver-
teidigen und Letztere erbieten sich trotz ihrer jugendlichen Schwäche
ritterlich für ihre Unschuld zu kämpfen. Sonderbar erscheint es, wenn
die Kinder die eheliche Treue und Keuschheit ihrer Mutter beteuern
Nostra madre giammai non fece oltraggio
AI letto marital
Herodes will sie nicht als die Seinigen anerkennen und sagt ihr Be-
nehmen beweise, dafs sie die Kinder Soemos seien. Nun verlieren
diese ganz den Respekt, worauf Herodes seinen Soldaten befiehlt sie
lebend oder tot zu ergreifen. Der Chor schildert wie sie Widerstand
leisten, aber der Übermacht erliegen:
O crudeltate immensa:
Ecco le spade ignude,
Ecco come ambedue
Si difendon da molti,
Benchi inermi e garzoni.
Ma lassa, che valore
A troppa forza cede.
Ecco come son cinti d'ogn* intorno:
Et ecco, che son presi.
O lagrimoso giorno.
♦) Ihre erste AufiÜhrung fand i. J. 1541 statt (Klein V. 324).
**) Vergl. meine QueUen des Dekameron 3. Aufl. S. 112 — 115.
18*
194 Marcus Landau.
Die Kinder werden abgeführt und Herodes giebt den Befehl zuerst
seine Schwiegermutter Alexandra zu enthaupten, dann die Kinder
zu erdrosseln und zuletzt Marianna zu enthaupten.
In der letzten Scene dieses Akts bemüht sich der ConsigUere
vergeblich den Herodes zur Zurücknahme der Todesurteile zu be-
wegen. Aber die zweite Scene des fünften Akts zeigt uns schon den
Beginn seiner Reue. Er bekommt die Nachricht dafs der Bote, den
er mit der Begnadigung auf den Richtplatz gesendet, zu spät ge-
kommen ist.
Nun beginnen seine Klagen mit den Worten Ugolinos bei Dante*),
Ben sei crudele
Se non volgi la spada hör nel tuo petto,
während der Chor seine späte Reue tadelt.
Ein zweiter Bote kommt, berichtet ausführlich über die Exekution
und giebt wörtlich die Reden der Hingerichteten wieder. Marianna
hat vor dem Tode beteuert, dafs sie den Herodes stets wie es einer
keuschen Gattin zieme, innig geliebt habe und erst als sie seinen
Befehl an Soemo erfuhr, sei ihre Liebe in Hafs umgewandelt worden.
Der Chor und Herodes begleiten diese Erzählung mit den ent-
sprechenden Klagen. Letzterer nimmt sich vor, die Schwester, die
ihn so schändlich betrogen, streng zu bestrafen und möchte sich den
Tod geben, um mit Marianna vereinigt zu werden. Aber er weifs ja,
dafs sie im Himmel ist, während er in die Hölle kommen wird, und
begnügt sich die Anordnungen für ihr Leichenbegängnis zu treffen.
Getreu seiner Quelle läfst ihn Dolce zur toten Marianna, als ob sie
lebte, reden; aber da er noch bei vollem Verstände ist, sieht er selbst
das Ungereimte davon ein.
Mit der Warnung sich vor Zorn und Übereilung zu hüten schliefst
der Chor die Tragödie.
Man kann sie unbedingt zu den besten ihrer Zeit und ihres Genres
zählen, wenn wir auch von unserm modernen Standpunkte allerlei
einzuwenden haben. Der Dichter hat sich streng an die drei Einheiten
gehalten, und die Einheit der Zeit hinderte ihn das langsame Wachsen
von Herodes Eifersucht darzustellen, zwang ihn diesen fast straflos
ausgehen zu lassen, wenn man nicht seine gleich nach dem Tode
Mariannas ausbrechende Reue als genügende Strafe betrachten will.
Sonst ist der poetischen Gerechtigkeit genüge getan; keine der Haupt-
•)' Inferno XXXIO. 40.
Die Dramen von Herodes und Mariamne. I. 195
^ ^ ■ ^
personen leidet ganz unverschuldet: Marianna möchte den Herodes
töten, Soemo hat das ihm anvertraute Geheimnis verraten, was auch
der Chor für strafwürdig erklärt, und selbst die Kinder haben sich
durch das respektwidrige Benehmen gegen den Vater verschuldet.
Salome geht freilich straflos aus, aber ihre Strafe ist nur aufgeschoben.
Und dann ist ihre Verschuldung viel geringer als in der Erzählung
des Josephus; sie ist hier nur eine Nebenperson, und man kann für
ihre Degradierung dem Dichter die Anerkennung nicht versagen.
Calderon ging nur einen Schritt weiter als er sie ganz wegliefs.
Es ist daher leicht begreiflich, dafs Dolces Drama bei seiner Auf-
fuhrung in Venedig grofsen Beifall fand, selbst als es zum ersten Male
ohne Musik und ohne jeden scenischen Apparat im Hause des
Sebastiano Erizzo in Gegenwart von dreihundert Edelleuten aufgeführt
wurde. Der ungeheure Zulauf bei der zweiten Aufführung mit Musik
und schöner Ausstattung im Palaste des Herzogs von Ferrara ver-
ursachte einige Störung, aber die dritte Aufführung hatte wieder den-
selben grofsen Erfolg wie die erste*).
IV.
Unabhängig von Dolce und wahrscheinlich noch früher als dieser
dichtete Hans Sachs im Jahre 1552 seine „Tragedia mit 15 Personen
zu agiren, der Wütrich König Herodes, wie der sein drey Sön
und sein Gmahel umbbracht, unnd hat 5 Actus."
Sachs folgt ziemlich treu dem Josephus, so dafs man sein Drama
eine abgekürzte Dramatisierung der beiden Berichte des jüdischen
Geschichtschreibers nennen könnte. Nach einem vom „Ernholt" ge-
sprochenen Prolog, in welchem der Inhalt des Stücks in gröfster Kürze
angegeben und Josephus als dessen Quelle genannt wird, beginnt
dieses selbst mit dem Abschiede des Herodes vor seiner letzten Reise
zu Augustus. Er setzt die „Fürsten" Josippus und Seemus zu Regenten
während seiner Abwesenheit ein und sagt letzterm:
„Da hast ein besundern Befelch geschrieben
Und sey mit diesen Sachen stil!"**)
*) So berichtet Dolce selbst in dem an Antonio Molino gerichteten Widmungs-
brief vom 35. Mai 1565, in welchem Jahre auch die erste Auflage der Marianna erschien.
(Die zweite 1593.) Die Aufführungen haben aber wohl einige Jahre früher stattgefunden.
**) Ich folge der Orthographie von Kellers Ausgabe des Hans Sachs* im 136 Bande
der Bibliothek des litter. Vereins in Stuttgart (Bd. XI. von Sachs' Werken), schreibe
aber die Hauptwörter zur Bequemlichkeit der Leser mit grolsen Anfangsbuchstaben.
196 Marcus Landau.
Fürst Seemus bleibt aber nicht still, sondern teilt gleich nach der Ent-
fernung des Herodes dem Josippus den Befehl mit, welcher ihm da-
gegen mitteilt, dafs Herodes, als er zu Antonius reiste, ihm einen
ähnlichen Befehl, „ein solchen unschulding Todt**, hinterlassen habe.
Dann kommt die „Künigin Marianne" und beklagt sich bei den beide»
Regenten über die strenge Bewachung, der sie unterworfen sei.
Beide bey Tag und auch bei Nacht
Wirdt mit den Trabanten bewacht.
Sag! hat mein Herr befohlen das?
Josippus erklärt diese Bewachung und Beschützung mit der g^ofsen
Liebe des Herodes, worauf der Schwätzer Seemus ganz unnötig hin-
zufügt, er habe noch einen wichtigen geheimen Auftrag, den sie nicht
wissen dürfe. Neugierig gemacht, fragt die Königin, was das für ein
Auftrag sei, und Seemus läfst sich ohne vieles Zögern bewegen ihr
mitzuteilen, er habe den Befehl sie zu töten, falls Herodes vom Kaiser
getötet werden sollte.
Au£f das nit kumbst in die Handt
Der Römer, das du würst geschendt.
Zur Bekräftigung seiner Worte zeigt er ihr den schriftlichen Befehl
vor, worauf sie weinend abgeht. Josippus tadelt die Geschwätzigkeit
seines Kollegen, und dieser erwidert gleichmütig, er bereue dies,
aber es sei nun einmal geschehen.
In der nächsten Scene entwickelt Salome in einem Monolog den
Plan ihre Schwägerin zu verderben. Sie werde sie verleumden, dafs
sie dem Antonius ihr Porträt geschickt habe
In Liebe ihn mit zu verstricken,
und dafs sie mit Josippus allzu vertraulich verkehrt habe. Femer hat
sie den Mundschenken
Mit g^ofsem Gelt, Listen und Renken
bewogen, dem Herodes anzuzeigen, dafs Marianna ihn vergiften wollte.
Im zweiten Akt finden wir den zurückgekehrten Herodes von
seiner Gattin mit Zorn und Groll empfangen. Sie klagt:
„Du tregst mir weder Lieb noch Gunst.
Du thust nicht änderst nach mir fregen
Denn von der schnöden Wollust wegen*),
*) „Mai di me non amaste altro che il corpo**, sagt sie bei Dolce,
Die Dramen yon Herodes und Mariamne. I. 197
worauf er ihr die Sendung ihres Bildes an Antonius vorwirft. (Also
hat er schon hinter der Scene mit Salome gesprochen?) Marianna
antwortet mit dem Vorwurf, dafs er ihren Bruder getötet und schon
zweimal den Befehl sie zu töten gegeben habe*).
Herodes schliefst daraus, das Seemus „mehr mit ihr ghabt zu
schaffen" und läfst den Fürsten gleich zur Hinrichtung abfiihren.
Nun kommen Salome und der Mundschenk und klagen Marianna
des Vergiftungsversuchs an, worauf der wütende Herodes den Befehl
zu ihrer Enthauptung giebt. Josip^us, der einen schwachen Versuch
macht Aufschub für sie zu erlangen, bekommt von Herodes einen
Verweis und Marianna wird gebunden und abgeführt. Sie äufsert
ihre Freude den „Bluthundt" losgeworden zu sein und erklärt gern
sterben zu wollen. Ein kurzes Gespräch der beiden Trabanten Thiro
und Ewklides, ungefähr dem Chor entsprechend, schliefst die Scene.
In der nächsten sehen wir Herodes zu Tische gehen und, als sei
nichts passirt, dem Herold befehlen Marianna herbeizurufen. Mit
gebührender Reverenz antwortet der Herold:
Grofsmechtiger König, die Künigin
Die hat man heudt gefuret hin
Nach eurem Urteil sie gericht,
was dem Grofsmechtigen unglaublich vorkommt. Zuletzt mufs er
aber daran glauben und schliefst ganz wütend und reuevoll den Akt.
Der dritte Akt ist den Söhnen Mariannas, Alexander und
Aristobulos gewidmet, welche eben von Rom angekommen, den Tod
ihrer Mutter zu rächen und ihre Verleumder vor Gericht zu ziehen,
beschliefsen. Der Trabant Thiro**) erzählt ihnen die nähern Um-
stände ihres Todes und wie Herodes vor Reue schier wahnsinnig
geworden sei. Aber den Verleumdungen Salomes und des Ferores
(Bruders des Herodes) gelingt es, unterstützt von Antipater, dem
*) Das muls sie im Josephus gelesen haben, denn in der Tragödie hat ihr Seemus
nur von einem Befehl erzählt.
**) Dieser Thiro, der in andern Mariamne-Tragödlen nicht vorkommt, ist ein
Beweis wie aufiaierksam Hans Sachs seinen Josephus, von dem schon 1531 eine deutsche
Obersetzung erschienen war, gelesen hat. Dieser erzählt nämlich im Jüdischen Krieg
(I. 37, 4) dafs ein alter Soldat, namens Teron sich eifrig der Söhne Mariammes ange-
nommen und ihre Ankläger Pheroras und Salome vor Herodes als Verleumder gebrand-
markt habe. Dem braven Soldaten ist aber seine Treue und Ehrlichkeit schlecht be-
kommen. Und sollte hinter dem andern Trabanten Buclides nicht der Spartaner
Eurykles (vergl. Josephus, Jüd. Krieg I. 36, i) stecken?
198 Blarcus Landau.
ältesten Sohne des Königs, diesen (im vierten Akt) zur Verurteilung
von Alexander und Aristobul zu bewegen.
Im fünften Akt, nach der Hinrichtung der beiden Brüder, kommt
Antipater mit Ferores überein den Herodes zu vergiften, wird aber
von Salome denunziert und auf Befehl des Königs ins Gefängnis ge-
worfen. Den übrigen Inhalt dieses Akts bilden die ekelhaft geschilderte
Krankheit des Herodes, sein und Antipaters Tod, ziemlich getreu
nach Josephus. In der letzten Scene bringen die straflos ausgegangene
Salome und Josias*) der Fürst das Testament des Herodes. Der
Herold schliefst das Stück mit der hausbackenen Moral: Ein König
soll sich vor Heuchlern und Schmeichlern hüten und sein Urteil nicht
übereilen. Wer Untreue und Verrat übt entgeht nicht der gerechten
Strafe. (Aber Salome?) Eine Frau, die unvorsichtig in ihrem Umgang
mit Männern ist
Und auch mit Kleydung sich auflFmutzt,
Mit Worten ieren Ehman trutzt,
Die entzündet iren Ehman
Die EyfFersucht und den Argwan,
Das sich den für und für thut mem.
Ob sie geleich ist frumb an Ehrn,
So lest sich doch des Mans UnwQlen
Und EyfFersucht nicht leichtlich stülen.
Aufs dem volgt gar vil Ungemachs
In ehling Standt, so spricht Hans Sachs.
In einer besondem Comoedia mit 24 Personen „die Entpfengnufs
und Geburdt Johannis und Christi** (im selben Bande der Kellerschen
Ausgabe) hat Hans Sachs den bethlehemitischen Kindermord behandelt,
auf den wir hier nicht weiter einzugehen brauchen.
Ebenso dürfte das von Gottsched**) angeführte „Ein gar schön
herrlich new Trostspiel noch niemals in Druck kommen. Von der
Geburt Christi und Herodis Bluthundes .... durch M. Christophorum
Lasium, Frankfurt a. O. 1 586, auch nur den Kindermord behandeln ***).
*) £in solcher kommt im Personenverzeichiiis nicht vor; es soll wohl Josippus
heifsen.
*•) Nöthiger Vorrath I. 122; II. 257; I. 237.
***) Ein Christoph Lasius, Superintendent zu Cottbus gest. 157a in Senftenberg,
der aber nur theologische Werke schrieb, ist in Jöchers Allg. Gelehrten Lexicoa
(II. S. 2283) Leipzig 1750 aufgeführt. Nach Goedeke (Grundrifs zur Geschichte der
deutschen Dichtung 2. Aufl. II. 393) ist er auch Verfasser des Trostspiels,
Die Dramen von Herodes und Mariamne. I. 199
V.
Das siebzehnte Jahrhundert war reicher an Mariamne-Dramen
als das vorhergehende und die nächstfolgenden. Der Italiener Dolce
war ein guter Kenner des Griechischen, Hans Sachs konnte die
deutsche Übersetzung des Josephus benutzen, den Franzosen und
Spaniern scheint der jüdische Geschichtschreiber erst durch die 1611
erschienene lateinische Übersetzung näher bekannt geworden zu sein.
Der erste der sich in Frankreich des lockenden Stoffs bemächtigte,
aber in der Bearbeitung weit unter dem um ein halbes Jahrhundert
altern Italiener zurückblieb, war Alexander Hardy, der einige Jahre
vor Dolces Tod geboren wurde und 1631 starb*). Er hat mehr als
ein halbes Tausend Tragödien, Tragikomödien und Hirtendramen ge-
schrieben, von denen aber nur bei drei Dutzend in den Jahren 1623 bis
i6a8 in sechs Bänden gedruckt wurden. Von diesen haben es jedoch
nur die beiden ersten zu einer zweiten beziehungsweise dritten Auflage
gebracht, und sind Hardys Dramen daher so selten geworden, dafs sich
Professor E. Stengel durch den 1884 in Marburg besorgten Neudruck
den Dank aller Freunde des altern französischen Theaters verdiente**).
Im Gegensatz zu der in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahr-
hunderts in der französischen Litteratur herrschenden klassizistischen
Schule repräsentiert Hardy das mehr populäre nationale Element,
bildet aber auch schon den Übergang zum klassischen französischen
Theater; ja Lombard (a. a. O. S. 173) nennt ihn geradezu den einzigen
Lehrer und das erste Vorbild Corneilles. Die Zwischenstellung zeigt
sich auch in der Form seiner teils in Alexandrinern teils in zehnsilbigen
Versen geschriebenen Dramen, in denen fer sich noch frei von den
Fesseln der Einheit von Zeit und Ort bewegt, aber sich doch nicht
der schrankenlosen Fantasie der spanischen Dramatiker überläfst.
*) Nach der früher allgemein giltigen Annahme wurde er zwischen 1560 und
1563 geboren. E. Lombard in seiner "Etüde sur Alexandtje Hardy (Ztschft. für neu-
französische Sprache und Litteratur von Körting und Koschwitz I. 164) möchte ihn um
zehn Jahre jünger machen; aber seine Argumente scheinen mir nicht auszureichen um
das früher allgemein angenommene Datum zu verwerfen.
**) Diese Ausgabe enthält 33 Stücke in fünf Bänden, und Stengel spricht in der
Vorrede auch nur von Hardys fQttf bändigem Th^ätre. Es ist aber noch ein sechster
Band, enthaltend ,Les Amours de Th^g^ne et Chariclee, divis^ en VTII po^mes.
dramatiques", erschienen, so dafs man von 41 erhaltenen Stücken Hardys sprechen kann.
(Vcrgl. übrigens Stengels Vorrede S. V.) Eug^e Rigals Alexandre Hardy et le Theätre
fran9ais au commencement du XVIIe si^le, Paris 1890, war mir nicht zugänglich.
800 Marcus Landau.
Wenn er auch die Stoffe zu seinen Dramen mitunter aus den
Novellen des Cervantes nahm, so zeigt er doch sonst, namentlich in
seiner Mariamne, keine Abhängigkeit von den Spaniern und ähnelt
Lope de Vega nur im Schnell- und Vielschreiben. Dagegen scheint
das italienische Drama nicht ohne Einflufs auf ihn gewesen zu sein
und auch von der antiken Litteratur scheint er viel gekannt zu haben.
Um für seine 1610, vielleicht noch früher geschriebene Mariamne den
Josephus zu studieren hat er also wohl die lateinische Übersetzung
nicht abzuwarten gebraucht.
In seiner Jugend ein beliebter populärer Dichter sah er sich im
Alter vernachlässigt und verlassen und sein Stern war schon erblafst
bevor noch der Corneilles recht zu leuchten begann*).
In der Mariamne, welche von manchen für sein bestes Stück
gehalten wird, folgt er ziemlich treu dem Josephus, benützt einiges
aus Dolces Drama, erfindet aber nichts Neues dazu. Seine Originalität
zeigt er nur in den Reden, die glücklicherweise nicht so lang sind
wie die der Spanier, und in der bald hochtrabenden von mythologischen
Anspielungen strotzenden, bald rohen, nach unsern Begriffen un-
anständigen Sprache, die aber zu seiner Zeit noch für recht anständig
galt.
So sagt z. B. Salome dem Mundschenk
On purge beaucoup mieux les corps ja disposes,
Les remedes chez eux ag^ssent plus aisez.
Herodes droht seiner Gattin:
„Jete feray cracher
Cette langue impudente, ou tels mots retrancher" ;
und schimpft sie
„O peste abominable! O Megere d'enfer!
Und sie nennt ihn wieder einen „mastin carnacier**, einen
„Lestrigon beant au camage affame,
De la fange venu d'un peuple diffame**,
einen „hypocrite bourreau", einen „tigre plus felon que n'est la
felonie". Ehe däfs sie ihn um Gnade bitte, wird Thetis ihre gewohnte
Bitterkeit verlieren, Phöbus seine Lampe auslöschen, wo er sie sonst
*) Vergl. F. Lotheifseo, Geschichte der französischen Litteratur im XVII. Jahr-
hundert I. S. 397 — 308 und die obenerwähnte Studie Lombards S. 161 — 185.
Die Dramen von Herodes und Marianme. I. 301
anzuzünden pflegte, Zephyr nicht mehr den Frühling begleiten, sondern
im Winter über beeiste Felder blasen, die Raben das Kleid der
Schwäne anlegen u. s. w.
Sehr schön ist dagegen der erste Theil von Mariamnes Gebet
in der ersten Scene des dritten Akts, beginnend mit
Souverain Gouverneur de TEmpire du monde,
QuI de rien as construit les Cieux, la Terre et TOnde
Targe des Innocens, leur asseure rempart,
Je t'invoque reduite au supreme hazard".
Aber nach einem Dutzend solcher Verse sinkt sie wieder zu einem
solchen wie
je sers
D'egoust aux voluptez du pire des pervers
herab und schwatzt, den eben angerufenen Weltschöpfer vergessend,
von Clotho und Pluto.
Wenn die intrigante böse Salome ihren Bruder über den Tod
Mariamnes trösten will rät sie ihm.
„Passer d'oresnavant Tesponge sur sa perte",
was schon an das „Schwamm darüber" einer modernen Posse erinnert.
Von Charakterzeichnung und richtiger Motivierung ist wenig zu
merken. Mariamne ist bald eine Furie, bald eine fromme Dulderin,
bald das kokette Weib, das sich rühmt (Akt. ü. i) den Gatten um
den Finger wickeln zu können, ihn mit den schärfsten Reden zur Wut
zu reizen und ihn dann mit einigen falschen Tränen
„avec je ne s^ay quoi d' amoureuse peinture"
sanft wie ein Lamm zu machen.
In der Tat ist auch Herodes bald der grimme Tyrann, bald der
schmachtende Liebhaber mit den zwei Seelen in einer Brust, und selbst
bei dem Mundschenk, dem Helfershelfer Salomes, finden wir die
später bei Corneille so oft vorkommenden „combats du coeur".
Das Drama wird, wie bei Dolce, von dem Geist des Aristobul
eröflfnet, der aber nicht wie bei diesem der Mariamne sondern dem
Herodes erscheint; auch wird der Traum nicht erzählt, sondern wir
sehen selbst den Geist und hören seine 68 Verse lange Droh- und
Strafrede. Von den Personen Dolces finden wir die meisten, selbst-
verständlich auch die unvermeidliche Amme, wieder. Dagegen fehlen
802 Marcus Landau.
Herodes Kinder ganz und von Mariamnes Mutter wird nur gesprochen.
Neu hinzugekommen ist nur des Herodes Bruder Pherore.
Die Handlung nimmt den aus Josephus bekannten Verlauf:
Mariamne hafst den Herodes wegen des Todes ihres Vaters (!) und
Bruders, Salome und Pherore suchen ihn gegen die Gattin aufzuhetzen*)
und Erstere überredet den Mundschenk Mariamne der beabsichtigten
Vergiftung des Gatten anzuklagen. Dieser zürnt seiner Gattin schon
ganz besonders und nennt sie eine geschwollene Schlange, eine Tigerin
mit Menschenantlitz weil sie es gewagt
Dedaigner mes faveurs, mes flämes mepriser,
Le devoir d*une femme au mary refuser.
Er nennt sie eine Geifsel aus dem wütenden Acheron, eine wilde
verderbliche Löwin, weil sie, von ihm zu einem Schäferstündchen
eingeladen, um sein „verliebtes Gelüste zu stillen", sich wie eine giftige
Kröte benahm und ihn mit Beleidigungen überhäufte, so dafs er sie, seiner-
seits zornig geworden, hinauswarf und nahe daran war sie zu erwürgen.
In dem seinem Drama vorangeschickten „Argument" spricht Hardy
von diesem „refus qui se lit dans Josephe, plus honneste ä taire
qu'utile ä reveler". Aber wie man sieht hat er ihn doch nicht ver-
schwiegen. L'Hermite, der Nachahmer Hardys, hat diesen Zwischen-
fall nur sehr flüchtig angedeutet, so dafs der Zorn des Herodes in
der nächsten Scene (IL 5) ganz unverständlich ist. Der deutsche
Hallmann, von dem später die Rede sein wird, begnügt sich nicht
diesen Zwischenfall von Herodes erzählen zu lassen, sondern bringt
ihn auf die Bühne. —
Dem ob des erhaltenen Korbes aufgeregten und zornigen Herodes
kommt der Mundschenk gerade recht mit der Anklage, dafs Mariamne
ihn vergiften wollte. Diese, zur Verantwortung herbeigerufen, wird
durch Herodes Anrede
„Deloyalle assassine, ingrate et plus qu'ingrate"
nicht im geringsten eingeschüchtert. Sie ist auf alles von ihm zu
Erduldende gefafst, und anstatt sich zu verteidigen wirft sie ihm die
Ermordung ihres Vaters (sie) Hyrkan und ihres Bruders sowie den
bei seiner Abreise zu Antonius hinterlassenen Befehl sie zu töten vor.
*) In der betreffenden Scene (II, 2) werden in Stengels Ausgabe auch die Verse 39
bis 48 von Herodes gesprochen, was nicht* richtig ist: Von „Volontiers je luy ay
faussaire supposez** an spricht Salome.
Die Dramen von Herodes und Mariamne. I. 203
Herodes schliefst daraus auf ein sträfliches ehebrecherisches Verhältnis
zwischen Mariamne und Soesme und läfst diesen sowie dessen vertrauten
Eunuchen herbeiholen. Letzterer, obwohl von Herodes mit der Folter be-
droht, weifs nichts Schlechtes von Mariamne und Soesme auszusagen und
wird den Henkersknechten überantwortet, damit sie ihn „mit Eisen,
Feuer, Wasser und andern Folterqualen" zum Geständnis bringen
soUen. Mariamne, die ihn bemitleidet, wird von Herodes beschimpft,
der hierauf zum Verhör Soesmes schreitet. Auch dieser hat nichts
zu gestehen, giebt aber für den Verrat des Mordbefehls ein sonderbares
Motiv an: Auf die Nachricht, dafs die Geschäfte des Herodes bei
Antonius schlecht stünden, habe er sich damit bei Mariamne ein-
schmeicheln wollen um, wenn sie Alleinherrscherin würde, nicht im
Alter „den scheufslichen Gast Armut" in seinem Hause aufnehmen
zu müssen. Im Übrigen empfiehlt er sich der Gnade des Herodes und
beteuert Mariamnes Unschuld, obwohl Herodes ihm die angebliche
Aussage eines Zeugen, Mariamne habe
„Permis Tattouchement, permis ce que permet
Celle qui son honneur publique en vent met",
vorhält. Soesme, wird hierauf der Tortur überwiesen, und Mariamne
finden wir in der nächsten Scene (TV. i) im Kerker. Herodes in
seinem Herzenskampfe zwischen Rachsucht und Liebe, der sich selbst
wie ein Lamm zwischen zwei Wölfen vorkommt, läfst Mariamne noch-
mals vor sich bringen und konfrontiert sie mit dem Mundschenken, der
auf seiner ersten Aussage beharrt. Mariamne will sich gar nicht ver-
teidigen, ist vielmehr bereit jedes Verbrechen das man wolle, selbst
den Muttermord zu gestehen, um nur den Tod zu finden und den
verhafsten Herodes loszuwerden. Die bedingungsweise Gnade, die er
ihr anbietet, weist sie zurück und wird auf seinen Befehl abgeführt,
damit ihr binnen 24 Stunden der Prozefs gemacht werde.
Von Prozefs, Richter und Urteil erfahren wir aber nichts, und
schon in der nächsten Scene (V. i) bringt ein Bote die Nachricht
von der Hinrichtung Mariamnes uud erzählt auch wie ihre Mutter
sie auf dem Wege zum SchafFot wie eine wütende Bacchantin ange-
&llen, als Schuldige behandelt und in der gemeinsten Weise beschimpft
habe. Mariamne liefs sich durch diese Reden nicht im geringsten
erregen und schritt ruhig weiter, als ob sie nichts gehört hätte von dem
„Que suggeroit la crainte ä sa mere, de peur
D'encourir mesme sort compagne du malheur".
204 Marcus Landau.
L'Hermlte, der Nachahmer Hardys, hat dieser Rede Alexandras eine
mildere und feinere Form gegeben und sie von Mariamne nicht mit
Stillschweigen, sondern mit einigen gut gewählten Worten, beantworten
lassen.
Auf die Nachricht vom Tode Mariamnes ergeht sich der bereuende
Herodes in erbärmlichen Klagen, nennt sein Verfahren ein mehr
lästrygonisches als königliches, fordert das Volk auf den Tod seiner
Königin an den Mördern, vor allem an ihn selbst, als den schuldigsten
zu rächen, rauft sich die Haare aus und macht einen Selbstmordversuch.
Dann verbannt er Salome und Pherore und befiehlt im Palaste Mariamnen
einen Altar zu errichten, an dem ihr als Göttin täglich Weihrauch
dargebracht werden solle. Er selbst werde sein ganzea Leben der
Reue und dem Gebete an ihrem Altar widmen, bis sie ihm, wie er
fest vertraue, verziehen haben werde.
So klingt das im ganzen rohe und frostige Drama mit einem
versöhnenden rührenden Herzenstone aus.
VI.
Den Spuren Hardys folgte sein um ein Menschenalter jüngerer
LandsmannFrancoisTristan rHermite(i6oi — i655),dessenMariane
im Jahre 1636 aufgeführt und mit grofsem Beifalle aufgenommen
wurde. In demselben Jahre wie Comeilles Cid auf die Bühne ge-
kommen, konnte sie diesem noch den Bei&ll des Publikums streitig
machen ; aber mit einiger Bescheidenheit hätte THermite mit den Worten
des Täufers von seinem jüngeren Kollegen sagen können: Illum oportet
crescere me autem minui. Der „stärkere" Dichter wuchs mit den
Horaces und dem Cinna, was THermite der Mariane nachfolgen liefs
(La mort de Seneque 1645, La mort de Crispe 1653 u. s. w.)*) erreicht
nicht einmal diese. Die meisten Geschichtschreiber der französischen
Litteratur haben sich daher begnügt mehr oder weniger ausfuhriich
von der Mariane zu sprechen und von seinen andern Dramen nur die
Titel anzugeben, obwohl auch sie noch mit Erfolg aufgeführt wurden.
In seiner Jugend hielt er sich einige Jahre in England auf und
hatte also Gelegenheit Shakespearesche Stücke, ja vielleicht noch den
grofsen Meister selbst kenneu zu lernen, aber in seiner Mariane ist
nichts von solcher Kenntnis wahrzunehmen. Dagegen unterscheidet
*) Vergl. Ferd. Lotheifsen Geschichte der französischen Litteratur im XVII. Jahr-
hundert, Wien 1879, n. 120-23.
Die Dramen von Herodes und Mariamne. I. 306
sich sein, den strengen Regeln des Aristoteles folgendes Drama, von
den wie die Dolces unter dem Einflüsse der Seneca'schen stehenden
Tragödien, dadurch zu seinem Vorteile, dafs es frei von Gräuelscenen
und Schandtaten ist. Auch die unvermeidlichen „Vertrauten^ und
„Ammen" fehlen. Ein stark reduziertes Uberlebsel der Letztem ist
Marianes „Dame d'honneur et confidente"* Dina, und der übliche
„Bote" Narbal (den wir als Narbas bei Vohaire wiederfinden werden)
fuhrt wenigstens den Titel eines „Officier du Palais".
Die Sprache ist nicht blofs „nachlässig gehandhabt, oft geziert oder
trivial", wie Lotheifsen sagt, sondern mitunter ganz schwülstig marinesk,
was nicht zu verwundern ist, da ja zu jener Zeit Marino in Frankreich
als grofser Dichter hoch gefeiert wurde. Ein Jahrhundert später
nannte ein Franzose dieses „Gemisch der erhabensten und niedrigsten
unserm Ohre unerträglichen Ausdrücke" als die einzige Ursache, dafs
man die Mariane nicht mehr auf dem französischen Theater leiden
könne und veranstaltete daher eine gereinigte Ausgabe. „Diese
Arbeit", sagte er, „war nicht besonders schwierig, da es sich nur
darum handelte 150 bis höchsten 160 Verse auszuscheiden"*).
Ob das so gereinigte Stück bessern Erfolg hatte weifs ich nicht,
aber die Reinigung war keine ganz vollständige und die sprachlichen
und stilistischen sind nicht die einzigen Fehler der Mariane.
In dem PHermite nicht blofs die Gräueltaten sondern auch vieles
andere aus dem Drama Dolces und der Erzählung des Josephus weg-
liefs, hat er zugleich unser Interesse an dem Stücke verringert. Es ist
gar zu wenig Handlung darin und dieses wenige geht nach der strengen
klassischen Regel hinter der Scene vor sich.
Prolog und Chöre sind ebenfalls weggelassen. Aber so wie Dolces
Drama beginnt auch das THermites mit der Erzählung eines Traums
in dem die Leiche des auf Befehl des Herodes ersäuften Aristobul
erscheint. Nur ist es hier nicht Mariane, sondern wie bei Hardy,
Herodes, welcher den schrecklichen Traum träumte, so dafs er laut
aus dem Schlafe schrie. Und es war, wie er seinem Bruder Pherore
und seiner Schwester Salome, die auch „cette aventure" hören will.
*) Diese Ausgabe enthält io einem Bändchen in la* Scarrons Don Japhet d'Armenie,
die Mariane und Chanmftl^ (sie) Le Florentin. Druckort und Jahr ist nicht angegeben,
doch durfte sie jedenfalls älter als die dritte Bearbeitung von Voltaires Mariamne (176a)
sein. Ich glaube, dafs es die aus Feindschaft für Voltaire zwischen 1734 und 1731
entstandene Umarbeitung von J. B. Rousseau ist. (Vergl. Voltaires Leben und Werke
von Richard Mahrenholtz, Oppeln 1885, I. 72).
206 Marcus Landau.
erzählt, ein gar schrecklicher Traum: Er be&nd sich in einem düstem
abgelegenen Walde, wo er die klagende Stimme Marianes hörte, dann
erblickte er einen blutigen Teich, unter Donner und Erdbeben erschien
die Leiche des Aristobul, wie man sie aus dem Wasser gezogen und
überhäufte ihn mit Vorwürfen und Verwünschungen. Als Herodes
nach ihr schlug traf er nur die Luft und erwachte.
Wie die Amme bei Dolce sucht hier Pherore das Nichtige der
Träume zu beweisen und hält seinem Bruder eine lange psychologisch-
physiologpische Vorlesung darüber.
Übrigens hat der Traum hier eben so wenig Einflufs auf den
Fortgang der Handlung wie bei Dolce und Hardy. Herodes zeigt
zwar wenig Verständnis für die Gelehrsamkeit seines Bruders, vertraut
aber auf seine Macht, seine Tapferkeit, sein Glück und die Protektion
des Kaisers Augustus. Da alle Hasmonäer tot sind, furchtet er gar
nichts, selbst nicht die dreifsig Legionen der Araber, Parther und
Armenier. Aber, wenn er auch überall Glück habe, klagt er, so
fehle es ihm in der Liebe, die „stets seine Seele foltere". Er besitze
wohl den Körper Marianes und fühle das Klopfen ihres Herzens, aber
dieses selbst besitze er nicht*). „Blinde Götter! gebt mir etwas
weniger Lorbeer und mehr Rosen!" fleht er, sieht aber doch ein,
dafs es keine Rosen ohne Dornen gebe und tröstet sich damit,
dafs Marianes Zurückhaltung nur Keuschheit, ihr Ahnenstolz wohl-
berechtigt sei:
Mille rois glorieux sont ses dignes ancetres
Et Ton peut la nommer la fille de nos maitres.
Ja er erinnert sich sogar, dafs sie ihm in schwierigen Lagen nützlichen
Rat gegeben habe, was wohl andeute, dafs sie ihn im geheimen liebe.
Diese versöhnliche Stimmung pafst den Geschwistern des Herodes
nicht, und sie beginnen gleich gegen Mariane zu hetzen. Salome giebt
eine Schilderung der unglücklichen Ehe ihres Bruders, woran nur
Mariane die Schuld trage und Pherore klagt sie geradezu an, dais
sie gegen ihn konspiriere. „Was für Vergnügen kann es dir gewähren",
fragt Salome, „einen Felsen zu lieben, von dem beständig Tränenbäche
fliefsen und der kein Gefühl für deine Liebe hat?^ worauf Herodes in
gleichem Barockstil antwortet: „Es ist wohl ein Felsen, aber ein
*) Dagegen sagt bei Dolce Marianna dem Herodes: Mai di me non amasti altro
che il corpo.
Die Dramen von Herodes und MaHamne. t iOI
albastemer, der einen Mund hat rot wie Rubin, und den Glanz seiner
Augen muls ich zum mindesten den Diamanten gleichschätzen:
Et Teclat de ses yeux veut que mes sentimens
Les mettent pour le moins au rang des diamants.
Dann sendet er den Soesme mit einer geheimen Botschaft, deren
Inhalt wir auch nicht erfahren, an den Tränenbäche vergiefsenden
Albasterfelsen und beauftragt ihn jede Miene und jedes Wort Marianes
und den Ton ihrer Stimme beim Empfang der Botschaft genau zu
beobachten und ihm dann darüber Bericht zu erstatten*).
Im zweiten Akt hören wir Mariane über Herodes „das abscheuliche
Ungeheuer", den Mörder ihrer Angehörigen klagen, deren blutende
Körper sie wachend und träumend vor Augen habe und die ihr
vorwerfen
Qu* avec leur bourreau je dors toutes les nuits.
Vergebens mahnt sie Dina zur Vorsicht und Verstellung, vergebens
warnt sie vor den überall lauernden, von Salome besoldeten Horchern
und Spähern, Mariane spricht immer lauter und zorniger und fuhrt
als Beweis von Herodes Schlechtigkeit den (uns schon bekannten)
vor seiner Abreise nach Rhodus dem Soesme gegebenen Befehl sie
zu töten an.
Da ruft die Hofdame: Tout est perdu, Salome nous ecoutel
Die Königin macht sich aber nichts daraus und ladet Salome höhnisch
ein nur näher zu treten, damit sie besser hören könne. Es folgt nun
ein scharfes Zungengefecht zwischen den Schwägerinnen, bis die stolze
Königin sich entfernt, worauf die bisher freundlich heuchlerische Salome
in einem Monolog ihren Plan entwickelt Mariane zu verderben, indem
sie sie durch den Oberstschenkenmeister der beabsichtigten Vergiftung
des Herodes anklagen lasse.
In der nächsten Scene überredet Salome den bis dahin schwanken-
den und ängstlichen Oberschenken und lernt ihm seine Lektion ein.
Dann folgt eine Scene, in der Herodes in Folge einer Unterredung
mit Mariane ganz zornig erscheint, worin aber diese Unterredung be-
stand, erfahren wir nur sehr ungenau aus seinen Mitteilungen an
*) In ähnlicher Weise beauftragt der eifersüchtige König Philipp in Alfieris
gleichnamiger Tragödie seinen Vertrauten Gomez die Königin Isabella zu beobachten:
ogni piü picciol moto
Nel di lei volto osserva intanto e nota:
Affiggi in lei Tindagator tuo sguardo . . (Akt II. i }.
ZtMhr. t TgL Ltot.-Getch. N. P. VUL 14
%0S Marcus Landau.
Salome. Diese benutzt seinen Arger über Mariane um weiter zu
hetzen und deutet schon auf den Vergiftungsplan hin, worüber der
wie gerufen hinzukommende Oberschenk dem Herodes seine Denun-
ziation ins Ohr flüstert, ohne dafs wir was davon vernehmen. Wir
hören nur den Zornausbruch Herodes'
O noir perfidiel 6 trahison damnable!
O femme dangereuse! ö peste abominable!
und seinen Befehl die Mariane mit Güte oder Gewalt sofort herbei-
zuschaffen.
Der dritte Akt bringt das Verhör Marianes vor den zwei Richtern«
Herodes klagt sie des Vergiftungsversuchs an, der Oberschenke legt
sein eingelerntes Zeugnis ab und sie wird zum Tode verurteilt. Das
Verfahren ist, wie man sieht, hier viel summarischer als bei Dolce,
aber doch förmlicher als bei Hardy.
Mariane erklärt, dafs sie mit Freuden sterbe und bedauert nur
das Schicksal ihrer Kinder, denen Herodes gewifs eine Stiefmutter
geben werde. Darüber wird dieser ganz gerührt und wieder so zärt-
licher Liebhaber, dafs er sie begnadigt und sie nur bittet ihren bösen
Anschlag einzugestehen und in Zukunft das Vergiften bleiben zu lassen.
„Wozu brauchst du auch Gift, wenn du mich töten willst", sagt er,
„du hast nur zu zeigen, dafs du mich nicht liebst und ich werde vor
Kränkung sterben".
Mariane hätte ihm nun antworten können, dafs sie ihm dies schon
in den ersten zwei Akten gezeigt habe und er doch gesund wie der
Fisch im Wasser geblieben sei, sie begnüget sich aber ihr Mifstrauen
in seine Gnade auszudrücken trotzdem er sie vom Gerichtshof be-
stätigen lassen will:
Ne crains point pour ta grace, eile est enterinee.
Und da Mariane darauf beharrt sterben zu wollen, erhebt sich
Herodes wieder zu den schwülstigsten Beteuerungen, als ob auch er
ein albastemer Felsen mit Tränenbächen wäre:
Comment? veux-tu mourrir pour m'empecher de vivre?
Et violant encore toutes sortes de droits,
Attenter sur ton Roi pour la seconde fois?
Bien que tu sois de glace et que je sois de flamme,
Les Cieux ont attache mon esprit ä ton ame;
Le beau fil de tes jours ne peut etre accourci,
Sans que du meme tems le mien le soit aussi.
Die DrameA von äerodes «nd Marianme. 1. tOi
Auf diesen sturmischen Ergufs antwortet Mariane ruhig mit dem
Vorhalten des dem Soesme gegebenen Mordbefehls. Herodes, der
bis dahin keine Spur von Eifersucht gezeigt hat, schliefst aus diesem
Vorwurf auf ein sträfliches Verhältnis zwischen Mariane imd Soesme,
und da die Königin aus ihrer stolzen Ruhe nicht zu bringen ist, wird
er ganz wütend. Er läfst sie ins Gefängnis schaffen und den Soesme
herbeischleppen. Dieser gesteht das Geheimnis aus Leichtsinn und
Schwäche verraten zu haben, beteuert aber im Übrigen seine und
Marianes vollkommene Unschuld. Aber Herodes macht kurzen Prozefs
und befielt
Qu'on egorge ä Tinstant ce lache seducteur.
Auch Mariane möchte er gleich hinrichten lassen, furchtet aber im
voraus den Kummer imd die Gewissensbisse, die er nach ihrem Tode
empfinden werde:
Mon ame en tous endroits portera son supplice,
A toute heure un remords me viendra tourmenter,
Un vautour sans repos me viendra becqueter
und schliefst seine Rede mit der aus gequältem Herzen hervor-
brechenden Klage
„O cieuxl pourquoi faut-ü qu^elle soit infidelle!
Vous deviez la former moins perfide ou moins belle.**
Dem vielen Zureden von Salome und Pherore gelinget es aber doch
ihn zu bewegen die Hinrichtung Marianes zu befehlen. Diese sieht
gefaist dem Tode entgegen, während ihre Mutter Alexandra, von der
bis jetzt gar nicht die Rede war, in einem Monolog sich in Klagen
ergeht, aber dann beschliefst ihren Schmerz zu verheimlichen um sich
nicht selbst der Gefahr auszusetzen.
In einer wohlgedrechselten Antithese findet sich die Sorge um
das liebe Ich mit dem mütterUchen Schmerze ab. Die rührende Scene
in der die zur Hinrichtung geführte Mariane ihre Mutter wegen des
ihr verursachten Kummers um Verzeihung bittet und dem Schergen
sagt:
Souffre que je lui donne en Tallant appaiser,
Et la demiere lärme et le demier baiser
wird durch die Antwort Alexandras verdorben. Wie bei Hardy be-
gnügt sie sich nämlich nicht damit ihren Schmerz zu verheimlichen,
sondern stellt sich als ob sie die Tochter für schuldig hielte und über-
810 lizTcna Landau.
häuft sie mit Vorwürfen, was sie freilich bald darauf bereut. Mariane
begnügt sich ihr zu erwidern:
„Vous vivrez innocente et je mourrai coupable".
Laharpe*) tadelt diese Scene mit den schärfsten Worten: „On na
jamais donne a la nature un dementi plus outrageant; et c'est une
nouvelle preuve qu*avant Corneille on ne la connaissait gueres plus
dans la fable et dans les caracteres que dans la diction".
Der Tadel ist nicht unberechtigt, aber ist denn das Benehmen
Alexandras wirklich so unnatürlich? L'Hermite könnte sich ja auf
Josephus berufen, aus dem er diese Scene genommen hat (s. oben
S. i8i) und das beliebte „historisch" der Frau Mühlbach beisetzen.
In gleicher Weise müfste er aber auch das Lob ablehnen, das ihm
Ginguene**) für die „idee dramatique et hardie" giebt, den wahn-
sinnigen Herodes nach der toten Mariane rufen zu lassen und sie für
noch lebend zu halten, denn auch dies ist aus Josephus genommen.
Der letzte Akt ist ganz ohne Handlung, nur der Schilderung der
Gewissensbisse und der Wahnideen des Herodes gewidmet. Narbal
beschreibt ihm die Vorgänge bei der Hinrichtung Marianes, wobei
ganz überflüssiger Weise und ungeschickter als bei Hardy die von
uns schon gesehene Scene mit Alexandra wiedererzählt wird. Herodes
fallt in Ohnmacht, macht dann wiederholt den Versuch sich zu er-
stechen, woran er von Narbal gehindert wird, findet aber noch genug
Fassung um das Wortspiel
Mariane a des morts accru le triste nombre;
Ce qui fiit mon soleil n'est donc plus rien qu'une ombre!
zu machen und der Sonne, die sich nicht mit Mariane begraben lassen
wolle, ihre Gefühllosigkeit vorzuwerfen. Dann fordert er wieder das
Volk auf, den Tod seiner Königin zu rächen und wirft ihm seine
Feigheit vor, die es abhalte sich durch solch rühmliche Tat den Beifall
der Nachwelt zu erringen. Da das Volk von dieser im tete-ä-tete mit
dem HausofHzier Narbal vom Könige ergangenen Aufforderung zur
Revolution nichts hört und ruhig bleibt, verflucht der königliche
agent-provocateur in der gräulichsten Weise alle seine Untertanen und
ihre Nachkommen.
*) Lyc6e ou cours de Htt6rature ancienne et moderne par J. F. Laharpe,
Tome IV. 210. Paris an VI de la R^publique.
**) Histoire litt^raire d^Italie par P. L. Ginguen^, deuxi^e partie chap. 19, seconde
Edition vol. VI. 79.
Die Dramen von Herodes and Mariamne. L 811
In der nächsten Scene erscheint Herodes ganz ruhig, drückt seinen
Geschwistern gegenüber in der gemütlichsten Weise seine Verwunde-
rung darüber aus, dafs er Mariane seit gestern nicht gesehen habe
und befiehlt sie herbeizurufen. Als Salome ihm ih];e Abwesenheit als
natürliche Folge der Hinrichtung erklärt, wird Herodes wieder ganz
wütend und schimpft auf das Schicksal, die Parzen und das ganze
Universum, weil sie den Tod Marianes zugelassen*). Er will ihr einen
Tempel erbauen und darin ihr Bild zur Anbetung au&tellen; dann
glaubt er wieder sie lebe noch, und als er endlich doch von ihrem
Tode überzeuget wird, sieht er wieder im Geiste ihre Himmelfahrt und
rafft sich zu einigen wirklich schönen Versen auf:
Mais oubliant tes maux de qui je fus l>auteur,
O bei ange! pardonne ä ton persecuteur.
Si mon forfait est grand, si mon crime est horrible.
J'en con^ois un regret bien vif et bien sensible.
Merveille de beautel rare exemple d'honneuri
Qui t'elevant lä-haut y portes mon bonheur,
Chaste hötesse du Ciel, eher sujet de mes plaintes,
Ne t'imagine pas que mes douleurs soient feintes,
Pour t'aller temoigner quel est mon repentir,
Mon ame avec mes pleurs s'efforce de sortir.
Vois Fexces de Fennui dont eile est desolee.
Et comment pour te suivre eile prend sa volee.
Je me meurs.
In einigen Versen spricht dann Narbal die Moral des Stückes aus,
ungefähr in dem Sinne wie der Schlufschor bei Dolce.
So endet die „Mariane" THermites, die eigentlich diesen Titel
mit Unrecht trägt, denn nicht sie, sondern Herodes ist die Haupt-
person. Man kann sie auch kaum ein Eifersuchtsdrama nennen, denn
diese Leidenschaft spielt nur eine geringe Rolle darin. Es ist eher
die Tragödie der Übereilung. Im Tatsächlichen hat sich THermite
ziemlich treu an die Geschichte gehalten, aber sein Herodes ist doch
ganz unhistorisch. Er hat aus dem eifersüchtigen Tyrannen einen
*) Der Schauspieler Mondory, der den Herodes spielte, soll ihn mit solcher
Emphase, mit solcher Überanstrengung seiner Stimmmittel dargestellt haben, dals man
ihn ohnmächtig von der BQhne wegtragen mufste und er in der Folge nicht mehr auf-
treten konnte (Laharpe, Lyc^e IV. 305).
218 llarciu Landau.
liebegirrenden Kavalier aus der Schule Marinos und der Gesellschaft
des Hotel Rambouillet gemacht.
Im Gegensatz zu den mit fantastischem Beiwerk überladenen
spanischen Mariamnen ist die des Franzosen einfacher und wahrer,
aber auch, trotz des Schwulstes in einzelnen Scenen, prosaischer und
trockener. Seinem französischen Vorbilde gegenüber ist die Sprache
anständiger, reiner und poetischer. Inwieweit er sonst Hardy folgte
oder von ihm abwich, ist aus dem bisher Gesagten ersichtlich; zur
Ergänzung mag noch Folgendes dienen:
Die Worte des Herodes an Mariamne bei Hardy
nQue n'est-tu plus benigne, ou moins chaste ou moins belle?^
hat THermite zu
„O cieux!
Vous deviez la former moins perfide ou moins belle"
veredelt.
Die oben (S. 206) citierten Verse „Mille rois glorieux" sind eine
Erweiterung von Hardys
„Race illustre des Rois, omement de mon lit",
wo die zweite Hälfte des Verses die erste ins gemeine herabzieht.
Dagegen erheben sich die schönen Schlufsverse THermites nicht viel
über die entsprechenden Hardys.
Wien.
-•••
Dichterisch und Poetisch,
Von
Veit Valentin.
Jedermann weifs, dafs Vers und Strophe ganz genau dasfelbe bedeuten,
wenn sie rein sprachlich betrachtet werden. Nichts destoweniger
wird sich wohl kaum eine Stimme dagegen erheben, wenn die ur-
sprünglich Gleiches bedeutenden, aber verschiedenen Sprachen ent-
stammenden Ausdrücke praktisch so verwendet werden, dafs die
gleiche Urvorstellung verschieden begrenzt wird, so dafs die BegrifFs-
weite der beiden Ausdrücke sich ändert: Vers läfst man für eine Reihe
von Wörtern gelten, die zusammen ein ästhetisches Ganzes bilden,
Strophe dagegen fiir eine Reihe von Versen, die zusammen ein ästhetisches
Ganzes ausmachen. Es tritt hierbei jene Freiheit des Sprachgebrauches
ein, die zu inrnier feinerer Unterscheidung ursprünglich umfassenderer
BegriflFe verschiedenen Ausdrücken für einen gleichartigen Grundbegriff
Begrenzungen auferlegt, die ihnen ursprünglich fremd sind: trotz der
dabei herrschenden Willkür ist der Vorgang ein sehr nützlicher und
besonders für die wissenschaftliche Sprache ein sehr erspriefslicher.
Bei ihm tritt die Wohltat des Fremdwortes hervor, das hier in der
unbestreitbaren Kraft seines Daseinsrechtes sich erweist: das Fremdwort
tritt an Stelle nicht mehr zu schaffender neuer Wortstämme. Es wird
dabei zwar im Anschlufs an seine Grundbedeutung in der eignen
Sprache verwendet, aber in durchaus freier Verarbeitung dem Bedürfnis
der Sprache gemäfs, in die es eingetreten ist, erhält es eine neue
Begrenzung seiner Begriffsweite. Ein solcher Vorgang kann allmählich
ohne Absicht von selten Einzelner sich vollziehen: er kann aber auch
von Einzelnen mit vollster Absichtlichkeit gefordert werden, um durch
die so erzielte Schärfe der BegriflFsbezeichnung zugleich eine BegriflFs-
klärung herbeizufuhren.
214 Vdt Valentin.
So piöchte es für die Ausdrucksweise der ästhetischen Beurteilung
sicherlich ein Gewinn sein, wenn sich ein klarer Unterschied so nahe
liegender BegrifFsbezeichnungen wie dichterisch und poetisch feststellen
liefse. Wir wissen alle, dafs eine dichterische Stimmung und eine
poetische Stimmung im groisen und ganzen wohl kaimi als zwei ver-
schiedene Arten der Stimmung aufgefafst werden: die Bezeichnungen
gelten vielfach als zwei gleich bedeutende Ausdrücke für dieselbe
Sache. Da zudem dichterisch einen deutscheren Eindruck macht als
poetisch, so drängt sich bei der jetzt herrschenden sehr wohlberechtigten
Bestrebung unnötige Fremdwörter zu vermeiden, das deutschere Wort
leicht selbst da ein, wo das fremdere richtiger wäre. Ein solcher
doppelter Ausdruck ist ein bedenklicher Reichtum der Sprache, der
schliefslich doch dahin fiihrt hinter Verschiedenem Verschiedenes zu
vermuten, der aber wegen der Unbestimmtheit der einzelnen Ausdrücke
zu Mifsverständnissen fuhren mufs: er ist aber ein erfreulicher Reich-
tum der Sprache, wenn die Verschiedenheit des Ausdruckes zu einer
Klärung benutzt wird, die eine scharfe Begrenzung der Begriflfeweite
des einzelnen Ausdrucks herbeifuhrt und so zur Bezeichnung zweier
verwandter und doch sich nicht deckender Begriffe dienen kann. Ist
ein dichterisches Kunstwerk und ein poetisches Kunstwerk auch noch
dasselbe, so dafs es sich nur um zwei Ausdrücke für die gleiche Sache
handelte? Oder drängt sich hier nicht vielmehr die Empfindung heran,
dafs es sich um zwei verwandte, aber doch verschiedene Dinge handeln
möchte?
Es wird sich zunächst fragen, welcher der beiden Ausdrücke die
gröfsere Begriffsweite hat. Da möchte es aus der sprachlichen Ent-
stehung kaum zweifelhaft sein, dafs dies der Ausdruck poetisch ist:
in ihm ist keinerlei Beschränkung auf ein bestimmtes Kunstmittel ge-
geben, ja es ist nicht einmal angedeutet, dafs die Gegenstände der
schöpferischen Tätigkeit des Menschen eine Verarbeitung mit HQfe
von äufseren Mitteln finden müssen, so dafs es bis zu einer künstlerischen
Schöpfung kommt. Kunst setzt aber immer die Behandlung von
Darstellungsmitteln irgend welcher Art voraus: Kunst wird daher am
richtigsten auch in diesem umfassenden Sinne gebraucht, während die
früher allgemein üT^liche und auch jetzt noch vielfach gebräuchliche,
jedoch unfehlbar zur Unklarheit fuhrende Verwendung des Ausdruckes
Kunst auf solche Werke, die sich sichtbarer Darstellungsmittel bedienen,
zu enge und daher falsch ist: was jetzt noch vielfach „Kunst" genannt
wird, Malerei und Skulptur, ist Bildkunst im Gegensatz zu. Dichtkunst:
Dichterisch und Poetisch. 815
Kunst umfafst beides. Denn Kunst ist zunächst die Tätigkeit, die sich
äuiserer Darstellungsmittel bedient um Werke zu schaffen, die durch
diese Entstehungsart in den Gegensatz zu den Werken der Natur
treten, sodann aber auch die Gesamtheit der durch solche Tätigkeit
geschaffenen Werke. Poetisch ist dagegen schon die schöpferische
Tätigkeit, die im Subjekte vor sich geht und die zu künstlerischer
Tätigkeit anregen kann, aber keineswegs anregen mufs; poetisch ist
aber auch die seelische Tätigkeit, die durch künstlerische Werke an-
geregt wird und die somit in dem Aufnehmenden dieselbe oder eine
entsprechende seelische Empfindung erregt, wie sie der das künstlerische
Werk Schaffende ursprünglich selbst empfunden hat, für deren
Pesthaltung und deren Ausdruck ihm aber die äufseren Darstellungs-
mittel seines künstlerischen Werkes dienen. Wir sprechen daher von
einer poetischen Landschaft ebensowohl, wenn wir uns aus dem
Eindruck einer wirklichen Landschaft die poetische Stimmung selbst
schaffen, wie wenn wir aus einer gemalten Landschaft das nach-
empfinden, was der Schöpfer des Bildes empfunden hatte und zu
dessen Nachschaffung er mit weiser Fürsorge gerade die Elemente
wirklicher Landschaft festgehalten oder neu zusammengestellt oder
umgebildet hat, an deren Hand er uns sicher zur Erreichung und
Nachschaffung der ursprünglich in ihm lebendig gewesenen Empfindung
geleitet. Andererseits kann eine wirkliche Landschaft uns ganz un-
berührt lassen, so dafs wir zu keinerlei poetischer Empfindung angeregt
werden, und ebenso kann uns eine gemalte Landschaft, trotzdem sie
ein Kunstwerk ist und vielleicht unter mancherlei anderen Gesichts-
punkte, z. B. dem der Technik, ein sehr hohes Kunstwerk ist, durchaus
unberührt lassen: wir vermögen beidesmal nicht poetisch zu empfinden:
die schöpferische Tätigkeit unseres seelischen Empfindens wird nach
keiner über das gewöhnliche, das alltägliche Mafs hinausgehenden
Seite hin irgendwie angeregt. Ebenso kann uns ein Ereignis poetisch
stimmen, mögen wir dem wirklichen Ereignis beiwohnen und miter-
leben, wie der brave Mann, der Bauer, den Zöllner rettet, die Be-
lohnung ausschlägt und das dafiir ausgesetzte Geld dem Zöllner zu-
weist, der alles verloren hat, oder mögen wir das Ereignis aus dem
Kunstwerk in unsere Empfindung aufiiehmen, zu dem es einen Künstler
angeregt hat, so dafs er die in ihm erweckte poetische Stimmung durch
ein äufseres Darstellungsmittel, hier die Sprache, festhalten und anderen
vermitteln will. In dem Ausdruck poetisch selbst aber liegt die Art
des Darstellungsmittels keineswegs angedeutet: man kann von Bürgers
316 Veit ValentiD.
Gedicht ebenso rühmen, es sei poetisch, wie man von einer gleich-
wertigen bildnerischen Darstellung des Ereignisses dieses Urteil faUen
könnte.
Sobald wir aber den Ausdruck dichterisch gebrauchen, wird die
Sache anders: die sprachliche Entstehung des Wortes weist schon
auf die Anwendung der Sprache als des Darstellungsmittels hin«
Wird jemand dichterisch angeregt, so wird er poetisch angeregft, aber
zugleich mit der Neigung sich der Sprache als des Darstellungsmittels
zu bedienen. So ist dichterisch einerseits mehr als poetisch: es deutet
das Hinneigen zur Anwendung eines Darstellungsmittels an, enthalt
also die bestimmte Hinwendung zu künsderischer Tätigkeit, wovon
in poetisch nichts liegt; andererseits ist dichterisch weniger als poetisch:
es schränkt die Vorstellung der künstlerischen Tätigkeit, die es an-
deutet, sofort auf das ganz bestimmte einzelne sprachliche Gebiet ein.
Diese letztere Seite ist nun aber die bei weitem vorwiegende: man
wird daher dichterisch in der ästhetischen Beurteilung am richtigsten
da verwenden, wo das Darstellungsmittel der Sprache als Wesens-
bestandteil der wachgerufenen Vorstellung in Betracht kommt.
Wenn man von Goethes Iphigenie sagt, sie sei ein poetisches
Kunstwerk, so hei&t das, Goethes Iphigenie ist ein Kunstwerk, das
eine poetische Stimmung erregt: die Darstellungsmittel des Künstlers
kommen für dies Urteil in keiner Weise in Betracht. Wenn man von
Raffaels Sixtina sagt, sie sei ein poetisches Kunstwerk, so gilt von
diesem Urteil genau das Gleiche: die Sixtina erregt poetische Stim-
mung — die besonderen Darstellungsmittel sind durch dies Urteil in
keiner Weise mitangedeutet. Dies ist aber der Fall, wenn man Goethes
Iphigenie ein dichterisches Kunstwerk nennt: es ist ein Kunstwerk,
das sich als des Darstellungsmittels der Sprache bedient. Wollte man
aber die Sixtina ein dichterisches Kunstwerk nennen, so käme damit
ein zweideutiges Urteil zum Ausdruck. Dichterisch wäre hier so ge-
braucht, wie sonst richtig poetisch angewendet wird, und es bliebe
Raum für das Mifsverständnis über die Darstellungsmittel, deren sich
der Künstler bedient hat. Ein solches zweideutiges Urteil ist aber
vom Übel, und nirgends mehr als in der Ästhetik, die als Wissen-
schaft nur dann gelten kann, wenn sie mit unbarmherziger Folgestrenge
sich der schärfsten Begrenzung der Begriffsweite jeglichen Ausdrucks
befleifsigt, dessen sie sich zur Erläuterung bedient: gilt doch die
Ästhetik nur gar zu häufig noch als Tummelplatz von Empfindungs-
urteilen, die die Sprache nur als Mittel gebrauchen um verschwommene
Dichterisch und Poetisch. 817
Empfindungen, die jemand aus Kunstwerken gewonnen hat, anderen
mitzuteilen und bei ihnen einen Empfindungsdusel zu erwecken, wie
er von wissenschaftlicher ästhetischer Betrachtung nicht weit genug
entfernt gedacht werden kann. Diese geht wie jede andere wissen-
schaftliche Tätigkeit auf klare begriffliche Erkenntnis des Tatsäch-
lichen aus, um von diesem festen Boden aus zur Erkenntnis des Zu-
sammenhanges der Einzelerscheinungen und ihrer Ursachen aufzu-
steigen: dazu bedarf es einer Ausdrucks weise, bei der sich nicht nur
jeder etwas Bestimmtes, sondern auch jeder dasselbe denken kann und
denken muis. So ist es allmählich bei Vers und Strophe geworden,
so müf ste es auch bei dichterich und poetisch werden. So ist es aber
bis jetzt noch nicht, wie folgendes Beispiel dartut.
In meiner in dieser Zeitschrift (N. F. IV, 478 — 485) erschienenen
Beurteilung der Poetik Scherers habe ich zur Klänmg eines undeutlichen
Ausdrucks des Verfassers diesen Unterschied des poetischen Kunst-
werkes und des dichterischen Kunstwerkes aufgestellt: R. M. Werner
nennt in seiner Erwähnung dieser Besprechung in den „Jahresberichten
für neuere deutsche Litteraturgeschichte** (Bd. ü. 1891 S. 44) diese Unter-
scheidung ein „Spielen mit Worten": wie wenig sie ein solches ist,
wie sie vielmehr auf guten Gründen und reiflicher Überlegung be-
ruht, wird die oben gegebene Darlegfung nachgewiesen haben. R.
M. Werners Bericht über „Poetik und ihre Geschichte" zeichnet sich
durch Sachkenntnis und vorurteilsloses Eingehen auf die Absichten
des jedesmaligen Autors aus: dafs diese Freiheit der Betrachtung ihm
gerade hier einmal versagt hat, ist ein schönes Zeugnis pietätvollen
Empfindens, das ich darum nicht geringer schätze, weil es sich in
dem verfehlten Bestreben äufsert, etwas zu halten, was sich nicht
halten läfst. Scherer hat so viel Bedeutendes geleistet, dafs es seinem
Ruhme keinerlei Abtrag tut, wenn auf die Schwächen eines unfertig
hinterlassenen Werkes hingewiesen wird und hingewiesen werden
mufs, gerade weil der Verfasser in unser aller Schätzung unverrückbar
hoch steht, und weil deshalb seinen Darlegungen um der Bedeutung
der Persönlichkeit willen ein Wert beigelegft werden könnte, der ihnen
um der Bedeutung ihres Inhaltes willen nicht zugestanden werden
kann. Werner bezeichnet Scherers Poetik als ein Werk, „welches
gewifs vielfach zum Widerspruch reizt, aber ein scharf umrissene
Physiognomie zeigt". Wer leugnet das? Ist aber eine „scharf umrissene
Physiognomie" auch schon eine Gewähr dafür, dafs sie durchaus be-
deutenden Gehalt und nur Gehalt von bleibender Bedeutung hat?
818 Veit Valendn.
Wenn es von mir als ^selbstverständlich" erklärt wird, da(s dort
„neben bedeutenden Punkten, die zum Widerspruche zwingen, sich
andere finden, die als eigenartige Ergebnisse eines selbständigen
Denkens dauernd die Kraft immer erneuter Anregung zum Weiter-
denken und Weiterforschen geben" (a. O. S. 484), und wenn dies
seine Richtigkeit hat, woran nicht zu zweifeln sein möchte, so darf
auch mit diesem Weiterdenken und Weiterforschen Ernst gemacht
werden : das ist in der Besprechung geschehen, das ist, durch Werners
Urteil über sie angeregt, hier weiter fortgeführt worden, vielleicht
nicht ohne unmittelbares, gerade die dort behandelte Frage berührendes
Ergebnis. Denn wenn Werner bei meiner dort gegebenen Definition
der Poetik als der „Lehre von den dichterischen Gattungen und
Formen" bedauert, dafs ich „leider" nicht sagte, was „dichterisch"
sei, so wird dies jetzt sehr leicht zu bestimmen sein: dichterische
Gattungen und Formen sind solche Gattungen und Formen, die bei
den sich der Sprache als Darstellungsmittels bedienenden Kunstwerken
erscheinen: ob diese aus poetischer Empfindung hervorgegangen sind,
ob sie es vermögen ihrerseits wiederum eine poetische Stimmung
hervorziuiifen, bleibt dabei ganz ohne Einflufs auf die wissenschaft-
liche Feststellung der Tatsachen und ihre begriffliche Fassimg. Gerade
in der Möglichkeit einer solchen Scheidung zeigt sich der Wert der
scharfabgrenzenden Begrifiisbestimmungen von dichterisch und poetisch
und die Wichtigkeit der Fortfuhrung der Untersuchung, sollte es auch
im Widerspruch mit Aufstellungen anderer Forscher geschehen.
Werner giebt in seiner Darstellung noch eine andere in diesen
Zusammenhang gehörende Anregung, die ich um so weniger verab-
säumen will aufzunehmen als sie eine wichtige methodologische Frage
der ästhetischen Untersuchung betrifft: eine Übereinstimmung in ihr
wird ein gemeinschaftliches Weiterarbeiten um so leichter ermöglichen.
In meiner erwähnten Besprechung habe ich den Grundsatz ausge-
sprochen: „Eine ästhetische Frage läfst sich nicht auf einem einzelnen
Kunstgebiete lösen: es mufs die ganze Kunst herangezogen werden".
Ein Beispiel, wie dieser Satz zu fassen ist, giebt der dort besprochene
Fall, Wer über den Rhythmus in der Dichtung urteilen wül, muls
das Auftreten des Rhythmus in den anderen Kunstgebieten, also über-
haupt in der ganzen Kunst, beobachtet haben: nur so kann er zur
Erkenntnis des Wesens des Rhythmus überhaupt gelangen und vor
der falschen Auffassung bewahrt bleiben, als ob der Rhythmus durch
eine einzelne Verwendung auf einem einzelnen Kunstgebiet habe ent-
Dichterisch und Poetisch. S19
Stehen können, wie Scherer behauptet, wenn er sagt: „Durch den
Tanz des Chorliedes ist der Rhythmus in die Welt gekommen*^.
Durch die von mir verlangte vergleichende Betrachtung entsprechender
Erscheinungen auf allen Kunstgebieten, also auf dem Gebiete der
ganzen Kunst, kann der Rhythmus als eine Wesenserscheinung jeg-
licher Kunstübung erkannt werden, deren Grund sodann weiter zu
erforschen ist: jedenfalls kann schon aus dieser Erkenntnis der Schlufs
gewonnen werden, dafs der Tanz des Chorliedes eine Folge, eine
einzelne Erscheinung eines allgemein giltigen Grundzuges der ästhe-
tischen Auffassungsweise und somit auch der künstlerischen Schaffungs-
weise ist, nie und nimmer aber die Quelle, aus der der Rhythmus
überhaupt in die Welt gekommen ist. Eine solche einseitige Be-
trachtung eines einzelnen Kunstgebietes, als ob alle übrige Kunst nicht
auf der Welt wäre, ist erfolglos: wer über Erscheinungen in der Poetik
urteilen will, dem müssen die charakteristischen Erscheinungen auf
den anderen Gebieten der Kunstübung und ihr Entwickelungsgang
wohl vertraut sein. Die gelehrte Erforschung der Einzeltatsachen auf
dem Gebiete der Poetik wie auf jedem anderen einzelnen Kunstgebiete
kann ohne solche Kenntnis geschehen: das Eindringen in das Wesen
der Einzeltatsachen ist Aufgabe der Ästhetik, deren Forschungsgebiet
nicht ein Einzelgebiet, sondern die ganze Kunst ist. Es ist daher ein
Irrtum anzunehmen, in der Ästhetik müsse die Induktion erst getrennt
für die Einzelgebiete durchgeführt werden, und ebenso ist es ein Irrtum
anzunehmen, der Weg der Induktion werde verlassen, wenn gleich-
artige Erscheinungen auf dem Gesamtgebiete der Kunst in die Unter-
suchung aufgenommen werden: sie gerade sind der Ausgangspunkt
der Untersuchung. Alles was Kunst ist, kann nur aus einer einzigen
Quelle herfliefsen, einer ganz bestimmten Anlage im Menschen, die
nur ihm eigentümlich ist: je nach den DarsteUungsmitteln äufsert sich
diese Anlage unter anderen Verhältnissen, aber dem Wesen nach
durchaus gleichartig. So entspringen die verschiedenen Kunstgebiete
aus äufseren Veranlassungen und gestalten sich demgemäfs eigenartig:
die Trennung der Einzelgebiete ist daher für den praktischen Ge-
brauch durchaus berechtigt: sie ergiebt sich als notwendig, sobald
die historische Forschung in ihr Recht tritt: für die ästhetische Unter-
suchung hat sie, sobald es sich um Erkenntnis des Wesens der Kunst
handelt, keine Berechtigung. Dahin gehört auch die Feststellung der
Begriffsweite von Ausdrücken, die zu allgemeinerer Charakterisierung
MO Vdt Valentiii.
verwendet werden müssen, me die hier behandelten Ausdrücke
dichterisch und poetisch. Es wäre durchaus falsch gewesen, ihre Be-
deutung nur auf dem Gebiete der Dichtkunst feststellen zu wollen:
erst die vergleichende Heranziehung anderer Gebiete, hier zunächst
der Bildkimst, liefs zu einem Ergebnis gelangen, dessen Verwendung
in der Ausdrucksweise ästhetischer Beurteilung sich als praktisch und
der Sache forderlich erweisen dürfte.
Frankfiut a. M.
■*••-
Dante in der deutschen Litteratur
bis zum Erscheinen der
ersten vollständigen Obersetzinig der DIvina Commedia (1767/69).
Von
Emil Sulger-Gebing.
Vorbemerkungen.
Die Arbeiten über „Dante in Deutschland^ sind nicht gerade zahl-
reich. In erster Linie steht das zusammenfassende, grofse Werk
von Scartazzini „Dante in Germania^*), eine fleifsige und reichhaltige
Arbeit, deren Verdienst nur darunter leidet, dafs ihr Verfasser sie
selbst für viel vollkommener und vollständiger hält, als sie ist.
Der hier vorliegende Versuch behandelt nur einen Teil des Zeitraumes,
den Scartazzinis Werk umspannt, und zwar gerade jene älteren Zeiten,
für welche die Quellen am spärlichsten fliefsen; immerhin ist es ge-
lungen, manches neue Material beizubringen, wodurch sich das Bild
Dantes, insofern er für die deutsche Litteratur bedeutsam ist, nicht
unwesentlich verschiebt. Sehr verdienstvoll und absolut zuverlässig
ist sodann die kleine Schrift Reinhold Köhlers: „der V. Gesang
der Hölle in 22 Übersetzungen 1763 — 1865", (Weimar 1865) und auch
Baron Locella „zur deutschen Dantelitteratur*^ (Leipzig 1889) bringt
einiges Neue, zeichnet sich aber hauptsächlich durch knappe Zusammen-
&ssung aus. Einzelne Aufsätze, denen ich weitere Nachweise zu ver-
danken habe, werden jeweUen im besondern Falle genau angeführt.
Ich beabsichtige im Folgenden nur diejenigen deutschen Schrift-
steller zu behandeln, bei denen eine direkte oder doch durch deutsche
Vorgänger vermittelte Bekanntschaft mit Dante nachweisbar ist, oder
die selber wieder, wie die Lexikographen, für andere zu Vermittlem
geworden sind. Demgemäfs werde ich, um das gleich hier vorweg
*) d Bde. Mailand i88x u. 1883, bei Ulrico Hoepli. Dasu die wichtige Recenaion
▼OD Witte im Litt Blatt f&r germ. u. rom. PhiloL 1881. S. 444 ff.; sowie eine ausführ-
liche Besprechung in Giomale storico della lett ital, IL (1883) S. x88 ff.
299 ßmil Sulger-Gebing.
ZU nehmen, nicht eingehen auf Moscherosch, dessen Vorbild,
Quevedo, ja allerdings nach seiner eigenen Angabe durch den
italienischen Dichter beeinflufst ist, der aber selber nicht auf diese
Quelle scheint zurückgegriffen zu haben*), und ebensowenig auf den
tiefsinnigen Jakob Boehme, dessen mystische Theosophie sich
wohl in manchen Punkten mit Dante berühren mag, der aber den
südlichen Poeten höchst wahrscheinlich nicht direkt gekannt hat**).
Auch bei Bartholomäus Ringwalt ist mehrfach auf Dante hinge-
wiesen worden, besonders für seine aus der „Neuen Zeittung von
Hans Fronunan" (1582) umgearbeitete „Christliche Warnung des
treuen Eckart" (1588), die allerdings mit der Div. Com. eine gewisse
Ähnlichkeit zeiget, insofern ein Engel den Eckart im Schlafe durch
Himmel und Hölle fuhrt. Aber diese Ähnlichkeit ist eine zufällige,
und man darf, worauf schon Eugen Wolff***) und Boltef ) aufinerksam
gemacht, den bescheidenen Dorfpfarrer durch solche falsche Ver-
gleichung nicht über Gebühr herabrücken. Ebensowenig ist bei
Joh. Matthäus Meyfart trotz der verführerischen Titel seiner
Schriften (»das höllische Sodoma" 1629; „das himmlische Jerusalem^
1630) an irgend eine Verbindung mit Dante zu denken.
Dafs ich in den vorliegenden Ausführungen öfters über eine blofse
Materialsammlung nicht weit hinausgekommen bin, ist mir selber gar
wohl bewufst, ebenso bewufst auch, dafs dies Material auf ab-
schliefsende Vollständigkeit keinen Anspruch machen darf. Doch
habe ich mich überall bemüht, die verbindenden Fäden zwischen den
deutschen Verfassern und ihren ausländischen Quellen einerseits, sowie
andrerseits die Zusammenhänge der in Betracht kommenden Autoren
unter sich möglichst aufzudecken, und, wo sich im Verlaufe der
Arbeit die Gelegenheit bot, wie bei Herold und Hans Sachs im ersten,
und den hauptsächlicheren Abschnitten im zweiten Teile, auch in zu-
sammenfassender Darstellung meine Kräfte zu versuchen.
Zum Abschlufs dieser einleitenden Bemerkungen möge mir ge-
stattet sein, meinem verehrten Lehrer, Herrn Prof. Muncker, der mir
auch die erste Anregung zu dieser Arbeit gegeben, für sein stets
sich gleichbleibendes Interesse daran, sowie für seine fortwährende
*) Scartaxzini, 1. c. I. 15.
**) Scart. 1. c. I. 13. Anderer Ansicht ist Locella, 1. c. S, 5.
***) KOrschners Deutsche National-Litteratur XIX. S. 474.
t) AUff. dtsche. Biographie XXVQI. S. 641.
Dante in der deutschen Litteratur des 15. fiis 17. Jahrhunderts. 1. 283
Förderung im Einzelnen meinen warmen Dank auszusprechen. Ebenso
bin ich meinem werten Freunde Herrn Dr. Schnorr von Carolsfeld zu
greisem Danke verpflichtet für die Liberalität, mit welcher er die
Schätze der ihm untergebenen Universitätsbibliothek zu meiner Ver-
fugung stellte, und für die unermüdliche Liebenswürdigkeit, womit er
alle meine Wünsche in weitgehendstem Mafse befriedigte.
L Dante in der deuteohen Litteratur des XV. bis XVII. Jahrhunderte.
I. Alteste Erwähnungen Dantes.
Schon im XTV. Jahrhundert finden sich in unserer mittelhoch-
deutschen Litteratur Werke, die sowohl inhaltlich als formal an Dante
erinnern können. So in erster Linie das Gedicht eines Heilbronner
Mönches „von den sieben Graden" •) aus der ersten Hälfte des Jahr-
hunderts, und die Prosaschrift Rulman Merswins „von den neun
Felsen", geschrieben 1 352 **). Auf die Ähnlichkeit mit dem italiem'schen
Dichter ist mehrfach hingewiesen worden, für das erstgenannte u. a.
von Gervinus***) und nach ihm von Scartazzinif), für das zweite
von W. Schererff); aber sie erscheint nicht derart, dafs eine unmittel-
bare Bekanntschaft ihrer Verfasser mit Dante vorausgesetzt werden
müfste. Die mystischen Grundgedanken waren vielfach Allgemeingut
der Zeit, und auch die formalen Anklänge, wie etwa das Stufensystem
oder die visionäre Einkleidung, sind nicht stark genug, um einen Ein-
flufs damit beweisen zu können.
Wohl zum ersten Male wurde Dantes Name in deutschen Landen
öffentlich genannt auf dem Konzil zu Konstanz. Da übersetzte und
erläuterte Giovanni Bertoldi da Serravalle, Bischof von Fermo,
veranlafst durch zwei englische Bischöfe, Nicolaus Bubwich und Robert
Halmfff), vom i. Febr. 141 6 bis zum 16. Febr. 141 7 die Göttliche
Comödie in Vorträgen, die in einer Abschrift des verlorenen Original-
Manuskriptes noch vorhanden sind auf der Vaticana zuRom*f). Wir
*) Herausgeg. v. Th. Merzdorf, der Mönch v. Heilsbronn, Berlin 1870. S. 69 (L
*^) Herausgeg. v. C. Schmidt, Lelpdg 1859.
•*•) Gesch. d. deutsch. Dichtung • 11. 304.
t) 1. c. I. 9.
tt) Gesch. d. deutsch. Litt. • S. 341.
tft) Tiraboschi, storia della lett. ital. (Venezia 1795) V. 46a Anm.
*t) S. Wittes Artikel „Dante*" in Herzog und Plitt, Realencyclopädie L protest.
Theol. u. Kirche * UL 491, sowie seine oben (S. 189 Anm.) citierte Recension Scartazzinis.
Ztocb. f. TgL Litt-GMch. K. F. Till. ^5
SM Emil Sulger*Gebin^.
dürfen annehmen, dafs vielleicht der eine oder andere der deutschen
Zuhörer dadurch zu eigener Beschäftigung mit dem Dichter angeregt
wurde.
Bisher galt das Jahr 1493 ^ dasjenige, in welchem sich zum
ersten Male Dantes Namen in einem auf deutschen Boden entstandenen
Drucke nachweisen liefse, und ich werde auf diese Stelle, die einer
der verdientesten deutschen Danteforscher, Karl Witte, zuerst bekannt
gemacht hat, weiter imten einzugehen haben. Ich kann nicht nur den
Namen des Dichters, sondern auch einen ausfuhrlichen Abschnitt über
Dante schon im Jahre 1484 auf deutschem Boden belegen, nämlich
in dem zu Nürnberg in drei mächtigen Folianten gedruckten Geschichts-
werke des Florentiner Erzbischofs Antoninus (1389 — 1459), das als
Chronicon sive opus historiarum betitelt zu werden pflegt*). Der
hochgestellte Geistliche widmet seinem berühmten Landsmann im
IIL Band einen ganzen Paragraphen, den zweiten des Titulus XXI,
und ich gebe denselben hier in extenso wieder, da er nicht nur ak
die erste Nachricht von Dante in deutschen Landen, sondern auch
durch die Reichhaltigkeit seines Inhalts wichtig genug erscheint, be-
sonders verglichen mit den dürftigen Ansätzen späterer Autoren, die
wir bald kennen lernen werden. Es heifst da (fol. CII): Circa tempus
illud floruit Dantes de Allegheriis Florentinus poeta insignis: qui
edidit opus egregium; cui simile in vulgari non habetur eximiae
sdentiae et eloquentiae maternalis, quod tripartitum fecit secundum
tres animarum Status ex hac luce migrantium videlicet de paradiso,
purgatorio et infemo. Ad horum alterum animae de corpore exeuntes
accedunt post Christi adventum et passionem. De limbo puerorum
non tangit forte propter variam opinionem Status et conditionis animarum
illarum. Verum in hoc videtur errasse non parum quia antiquos
sapientes, phUosophos, poetas, rhetores infideles ut Democritum
Pythagoram Anaxagoram Platonem Socratem Aristotelem Homerum Vir-
gilium Ciceronem et alios describit esse in campis elisiis**), ubi etsi
non in gloria, tamen sine pena existant, cum secundum fidem catholicam
non sit dare talem statum in alia vita quo ad illos qui habentes jam
usum rationis de hac luce migrarunt. Sed aut ad celum evolant
jam purgati ab omni reatu in exitu suo, aut obnoxii post purgationem
ad paradisum ascendimt Ceteri vero ad infema descendunt ubi
*) Vergl. Hain, Repeitor. bibliogr. N. 1159 (I. i S. 129).
•♦) Inf: IV.
Dante In der deutschen Lltteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. I. ^85
nullus ordo: sed sempitemus horror inhabitat penanim immensarum:
ex quibus nuUa est redempdo vel diminutio vel alleviatio. Et in
hujusmodi loco summi crudatus sancti antiqui doctores Hieronymus
Augustinus et alü asserunt, esse illos seculi sapientes propter errorum
elationem et infidelitatem quos Dantes ponit in campis elisüs. De
quibus etiam apostolus ait ad Rom. ca. I. Qui cum cognovissent deum,
non sicut deum glorificaverunt, aut gratias egerunt sed dicentes se
esse sapientes. (Et secundum Psal. Linguam nostram mag^nificabimus:
labia nostra a nobis sunt: quis noster dominus est) stulti facti sunt
propter quod tradidit eos deus in reprobum sensum. Nee sufficienter
defendunt eum qui dicunt istud non sensisse sed ut poetam finxisse
secundum opinionem aliquorum. Quia cum liber ille sit in vulgari
compositus et a vulgaribus frequentata lectio ejus et idiotis propter
dulcedinem richimorum (rythmorum) et verborum elegantiam nee sciant
discernere inter fictionem et veritatem rei: defacili possunt credere
esse talem statum in alia vita quem improbat fides ecciesiae. Celesti-
num quoque papam renunciantem papatui arguit de pusillanimitate*):
quem ecclesia veneratur et miratur de humilitate. Ceterum composuit
et alium librum in sermone literato de monarchia intitulatum in tres
partes distinctum. In quarum prima probat monarchiam id est regimen
per unum principalem hominem esse Optimum regimen et mundo necessa-
rkim. In secunda ostendit taleoi monarchiam non perfecte fuisse
in monarchia Assyriorum nee succedentium Persarum et Medorum
aimul, nee Grecorum sub Alexandro, cum omnes isd parum vel nihi
dominati fuerunt in occidente. Sed in Romano imperio ostendit fuisse
perfectam et magis universalem, cum in Europa, Afirica et Asia
domioatum obtinuerint: Quod ex dei dispensatione gestum fiiit. In
tercia vero parte vult probare sed male, ita monarchiam esse in
imperio Romano et rege Romanorum: Quod nullam dependentiam
habeat a papa sed a solo deo, nisi solum in pertinentibus ad forum
ammarum, non in temporalibus. Et in hoc erravit, cum potestas
imperialis et regimen subaltemetur papali ut minor majori. Sicut et
luna signans imperium illuminatur a sole signante vicarium Christi
ut lumine majori. Quod colligitur dist. XCVI ca. Duo sunt: unde et
utnimque gladium papam habere frequenter disputando conduditur,
secundum id quod |dixerunt apostoli Christo: Ecce duo gladii hie.
Quod etiam per experientiam monstratum est. Nam papa Adrianus
*) In£ m. 59 £ u. XXVn. 105.
16*
n
tt6 Emil Sulger-Gebio^.
transtulit imperium de Oriente in ocddentem, Karolum magnum regem
Romanorum instituens quia ecclesiam liberavit et Italiam de manibus
Langobardorum, imperatore Grecorum nee 8e nee ecclesiam juvare
valente, sed et ad errores declinante. Deinde a Johanne papa vd
Leone translatum est a Francis in Teuthonicos in primo Ottone.
Papa quoque deponit imperatorem et privat et excommunicat prout
egit. Innocentius primus Archadium enim imperatorem excommunicavit
Gregorius VII Henricum tercium imperatorem excommunicavit et
imperio privavit. Papa etiam confirmat imperatorem. ipse coronat:
ipsi imperator fidelitatem jurat. dist. LXm. Tibi. Quomodo isd talia
attemptassent et prelati et sancti homines ista approbassent, si monarchia
imperii non subesset papae: cum par in parem non habeat potestatem.
In hoc ergo erravit Dantes. Quem errorem magis diffuse prosecutus
est Ocham*) ordinis minorum quasi ad nihilum deducens potestatem
papae et prelatorum in temporali dominio. Quamobrem multi viri
doctissimi tunc questiones disputarunt et libros ediderunt de potestate
ecclesiastica seu papae. Dantes tandem exul factus a Florentia propter
partialitates qui aliquando fuit in officio dominorum priorum, Ravennae
positus mortuus est anno etatis suae LVI.^ Die Schlufssätze des
Paragraphen geben nochmals eine Aufzählung einer doppelten Reihe
von der Kirche freundlich oder feindlich gesinnten Kaisem, welch
letztere vom Papste excommuniciert imd ihrer Würde beraubt „cum
summa confusione exterminati sunt et ad inferos descenderunt^.
Wie leicht verständlich giebt der hohe katholische Geistliche hier
vor allem Polemik gegen diejenigen Ansichten des grofsen Dichters,
welche mit der Lehre der Kirche nicht völlig übereinstimmen, und
daraus erklärt sich auch die breitere Behandlung der Monarchia, der-
jenigen Schrift, die ja Dante in den Ruf der Ketzerei gebracht hatte,
und die, auf den Index gesetzt, erst 1559 in Basel zum ersten Male
gedruckt werden konnte, worauf ich später einzugehen haben werde.
Für die deutschen Autoren scheinen die Worte des Florentiner Erz-
bischofs verloren gewesen zu sein, nur Nauclerus weist auf ihn als
Quelle for seine kurze Notiz über Dante (ca. 1500). Interessant ist
es immerhin, dafs schon bei diesem ersten Auftreten von Dantes
*) Wilhelm von Occam (ca. 1280 — ca. 1349) wurde 1328 von Papst Johann XXH.
gebannt. Seine sämtlichen Schriften werden in den späteren Catalogis haereticorum
als ketzerisch aufgeführt, insbesondere das Opus nonaginta dierum und die Werke gegen
Johann XXII. (de dogmatibus Johannis XXII; Compendium errorum Johannis XXII.
papae). Vergl. allg. dtsche Biogr. XXIV. 122 ff.
Dante in der deutschen Lttteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. I. 287
Namen auf deutschem Boden viel weniger der Dichter, als der Denker
und Gegner des Papstes betont wird; wir werden sehen, wie er auf
lange hinaus unter den Deutschen von dieser Seite bekannt und ge-
schätzt war, ohne dafs sie sich sonderlich um sein Hauptwerk, die
Div. Com. gekümmert hätten, mit Ausnahme wieder derjenigen Terzinen,
die gegen Rom und das Papsttum wirklich gerichtet waren oder doch
in diesem Sinne sich deuten liefsen.
Das nächste Vorkommen des Namens unseres Dichters in einem
Drucke deutscher Herkunft ist nun das von Witte*) nachgemesene.
Der berühmte Rechtsgelehrte Bartholus a Saxoferrato nämlich
(geb. 13 13 in Sassoferrato, seit 1339 Prof. in Pisa und später in
Perugia, gest. um 1359) gi^^^ üi seinem Tractatus de dignitatibus,
der 1493 ^^ mehreren andern zusammen in Leipzig gedruckt wurde**),
einen Kommentar zu einer Kanzone des Dichters. Da sagt er: Fuit
enim quidam nomine Dantes Allegeri de Florentia, Poeta vulgaris
laudabilis et recolendae memoriae qui circa hoc fecit unam cantilenam
in vulgari, quae indpit: „Le dolce rime d'amor che solea Trovar li
miei pensieri^ etc.***) und bespricht darauf ausfuhrlich in meist polemi-
sierender Weise (von Folio IV. 2 bis Folio VII. 2) den Inhalt des
ganzen Gedichtes.
An einer andern Stelle seiner Schriften kommt derselbe Gelehrte
auf Dantes Monarchie zu sprechen, in einer vielcitierten Bemerkung,
auf die ich öfters werde Bezug nehmen müssen, da sie bis zum Schlüsse
des XVII. Jahrhunderts immer wieder unter den Quellen für die Notizen
über Dante mit angeführt wird. Er schreibt in dem Werke „In
secundam EKgesti Novi partem Commentaria" im Abschnitte de requi-
rendis reisf): Et hoc prout tenemus illam opinionem, quam tenuit
Dantes, prout illam comperi in uno libro, quem fecit, qui vocatur
Monarchia, in quo libro disputavit tres quaestiones quarum una fuit:
an Imperium dependeat ab Ecdesia et tenuit, quod non. Sed post
*) De Bartolo a Sassoferrato, Halle 1861, wieder abgedruckt 1869 in Dante-
forschuDgen I. S. 461 ff.
**') Der sehr seltene Band zeigt auf dem letzten Blatt: Impressi sunt presentes (Witte:
praedicti) tractatuli Bartoli Uptzk per Gregorium boticher. Anno dni MCCCCXCm die
qointa mensis Oktobris. (Exemplar der Münchener Univers. Bibl.).
***) Es handelt sich um die von Dante selbst im IV. trattato des Convito kommen-
tierte Kanzone: «Le dolci rime d'amor ch^io solia Cercar ne* miei pensieri" (N. XVL bei
Fraticelli, Opera minora di Dante I. 186).
t) Gesamtausgabe in folio, Venetiis 1603, Tom. VI. 176.
m Emil Snlf er-GeUaff.
mortem suam quasi propter hoc fiiit damnatus de haeresi. Nam
Ecclesia tenet, quod Imperium ab Ecdesia dependet, pulcherrimis
rationibus, quas omitto.
Auch bei diesem zweiten Auftreten seines Namens auf deutschem
Boden wird Dante somit weniger als Dichter, denn als Denker an-
geführt, und weithin wirkungsvoll waren besonders jene Worte des
berühmten Juristen in einem seiner vielgelesenen Hauptwerke, welche
den Poeten nicht nur als Gegner des Papstes bezeichneten, sondern
auch auf ihn als Verfasser des Buches hinwiesen, das ihm bald nach
seinem Tode die Anschuldigung der Ketzerei zugezogen hatte.
Nur ein Jahr nach dem tractatus de dignitatibus tritt uns das
Buch eines deutschen Gelehrten entgegen, wdiches ein wichtiges
Zeugnis über Dante enthalt. Soviel mir bekannt, ist dasselbe noch
nirgends in diesem Zusammenhang gewürdigt worden, obgleich es als
erstes auf deutschem Boden und aus der Feder eines Deutschen die
dürftigsten Lebensnotizen und die bis auf lange hinaus vollständigste
Aufzählung der Schriften des grofsen Florentiners beibringt« Es steht
in dem 1494 zu Basel gedruckten „Liber de scriptoribus ecclesiastids"
des hochgelahrten Abtes von Sponheim Johannes Trithemius
(geb. 1462 zu Trittenheim im Elsafs, 1482 Benediktiner, schon 1483
Abt zu Sponheim, seit 1506 Abt zu St. Jakobi in Würzburg, gest 1516).
Der Titel ist insofern irreführend, als durchaus nicht nur geistliche
Autoren aufgenommen sind. Der Verfasser entschuldigt sich gleichsam
deswegen in einem Briefe an den Minoriten Albert Morderer*); da
meint er, auch die weltlichen Schriften der Philosophen, Rhetoren und
Dichter könnten nicht wenig zum Verständnis der heiligen Bücher bei-
tragen, aufserdem möchten diese Autoren vielleicht, abgesehen von
ihren weltlichen, noch geistliche Werke verfafst haben, die ihm, dem
Abte, trotz seiner Bemühungen unbekannt geblieben seien: einerecht
schwache Motivierung, die den gewählten Titel kaum gerechtfertigt
erscheinen läfst. Trithemius schrieb das Buch, da bei seiner weit-
bekannten Gelehrsamkeit von allen Seiten Fragen und Bitten um biblio-
graphische Nachweise an ihn gerichtet wurden**), und widmete es,
als es nach siebenjähriger Arbeit vollendet war, dem Bischof von
Worms, Johannes von Dalberg, einem grofsen Freund und Gönner
*) Der Brief ist abgedruckt am Schlosse des Werkes; dahinter folgen nur noch
einige Disticha Sebastian Brants sum Lobe des Baches und seines Verfoasers.
**) Silbemagl, Joh. Trithemioa * S. 59,
Dante in der deutseben Litteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. I. 8S9
•
der Wissenschaften, mit einem schon vom Mai 1492 datierten Briefe,
der an der Spitze des Werkes abgedruckt erscheint.
Ich gebe mm zwiächst den Abschnitt über Dante in extenso*):
Dantes aligenis, natione Italus; patria Florentinus: vir tam in divinis
scriptis quam in saecularibus litteris omnium suo tempore studio-
sissimus: et valde eruditus: philosophus et poeta nulli sua aetate inferior:
ingenio subtilis et clarus eloquio: disputator omnium acutissimus:
Scripsit et metro et prosa multa praecku^ Volumina quibus nomen
suum ad posteros transmisit. Puisus patria omnibus diebus suis
exulavit: in Gallia aliquamdiu: et postea apud Aragonum**) regem:
et de sua calamitate varia composuit* De cujus opusculis ista feruntur:
Comcediarum lib. i. — De monarchia mundi lib. i. — Epistolae
plures. — Et quaedam alia — Moritur tandem exul apud Ravennam:
sub Ludovico bavaro imperatore quarto: Anno domini Millesimo
CCCXXI. Indicdone quarta. Aetatis vero suae anno LVI. — Die
späteren Ausgaben lauten wörtlich gleich, nur die Kölner von 1546
bringt als neuen Zusatz am Schlufs des Schriftenverzeichnisses: Ejus-
dem disputatio de aqua et terra.
Wir sehen klar, Trithemius legt das Hauptgewicht auf Dantes
Gelehrsamkeit und stellt den Philosophen vor den Dichter. Unter
den Werken fehlen de vulgari eloquio und hauptsächlich die lyrischen
Gedichte, sowie die sie erklärenden Prosaschriften, von welchen eben
auch die Quelle des Abts von Sponheim nichts wufste. Welches ist
nun diese Quelle?***) Wie mir scheint, ganz unzweifelhaft das 2 Jahre
vorher in Venedig gedruckte Supplementum Chronicarum des Jakobus
Philippus Bergomensis oder Bergomas (mit Familiennamen Foresti,
1434 — 1520), wo sich in einem ausfuhrlichen Abschnitt über Dante
(Fol. 79, 2) alle die ihm von Trithemius beigelegften, allerdings nach
dessen Gewohnheit meist zum Superlativ gesteigerten Eigenschaften
finden, sowie auch die Daten des Schlusses und die Namen der
Fürsten, die den Verbannten aufnahmen, einfach von da übernommen
sind (vergleiche als Beispiel oben u. Anm. '^*)). Dafs der italienische
Dichter als disputator omnium acutissimus bezeichnet wird, ist bei
Trithemius der Extrakt aus einem langen Satze des Jakobus Bergomas,
*) Liber de scriptoribus ecclesiasticis, fol. 79.
**) Bei Jakobus Philippus Bergomas, der Quelle des Trithemius (s. u.) heüst es:
Hie cum ex Galliis regressus fuisset: Federico Aragonensi regi et domino Cani grandi
Scaligero veronensium priocipi adhesit.
***) SilbernaKl, l c S. 6t tt.
1
SSO Emil Sulger*Gebi]ig.
der seinerseits wieder hier wörtlich Boccaccios Genealogia deorum (XV. 6)
abschreibt. Nur die Erwähnung der Briefe unter den Schriften Dantes
giebt das Supplementum Chronicarum nicht, aber wie leicht konnte
der Benediktiner Abt bei seinem ausgebreiteten historischen Wissen
von diesen Kenntnis haben. Die obengenannten weiteren Schriften
hat er dagegen sicher nicht gekannt; y^et quaedam alia" findet sich,
abwechselnd mit „et alia multa*" und „et alia complura", formelhaft
am Ende sehr vieler Schriftenverzeichnisse seines Liber de scriptoribus
ecdesiastids wiederholt.
Von einer andern Seite her treten zwei weitere alte Zeugnisse
dem grofsen Dichter nahe. Wie sein Zeitgenosse Giotto für die
Malerei, so hatte Dante für die Poesie eine neue Sprache geschaffen,
die sich fortan als die herrschende erweisen sollte. Das anerkennt
ein deutscher Gelehrter, der selber nur lateinisch schrieb in Poesie
und Prosa, und zwar an einem Orte, wo man es zunächst nicht suchen
sollte. Der zum Teil auf italienischen Universitäten gebildete Schüler
Sebastian Brants, Jakob Locher (geb. zu Ehningen in Schwaben
1470 od. 1471, Prof. der Poesie u. Rhetorik zu Freiburg i. B., zu Ingol-
stadt, vielleicht auch zu Basel, gest. zu Ingolstadt 1528) liels 1497 zu
Basel eine lateinische Übersetzung des Narrenschiffes erscheinen, die
den Titel „Stultifera navis" trägt. Derselben geht ein „Prologus
Jacobi Lochner (sie?) phUomusi in narragoniam^ voraus, in dem er von
Plato und Socrates spricht, Lucilius, Horaz, Persius und Juvenal her-
anrieht, und dann fortfahrt '*'): „Sebastianus Brant, Jurium doctor,
poetaque haud ignobilis, ad communem mortalium salutem lingua
vemacula celebravit, imitatus Dantem florentinum atque Frandscum
Petrarcham, heroicos vates qui hetrusca sua lingua mirifica contexuere
poemata^. — Er rückt dadurch die beiden italischen Poeten gleichsam
in eine Reihe mit den damals so hoch gefeierten antiken Autoren und
nennt sie als Vorbilder für den, der in heimischer Sprache dichten
wollte. Die Kenntnis ihres Namens, vielleicht auch ihrer Werke hatten
ihm jedenfalls seine Studienjahre in Italien vermittelt; die Bezeichnung
„heroid vates^ pafst allerdings besser für Dante als für Petrarca, der
als Heldendichter nur kraft seiner trionfi, die damals allerdings wdt
über seine lyrischen Gedichte gestellt wurden, gelten kann.
Genau diesdbe Auffassimg spricht Locher an anderem Ort auch
**) Stultifera navis Blatt Vm. a, Bl. IX. i. Die Auflasren dieser lat Versioii sind
sahlrejch. Goedecke (Grundriis * I. 387) kennt deren bis 15 15 schon 24.
Dante in der deutechea Litteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. I. 881
in gebundener Form aus*). Den zu Augsburg 1507 gedruckten
Layenspiegel von Ulrich Tengler eröffnen zwei Vorreden von Sebastian
Brant, die eine in Prosa, die andere in Versen, und diesen folgt -eine
lateinische von Jakob Locher, Daran schliefst sich ein längeres Gedicht
von ihm in Distichen: Epigramna ejusdem Philomusi in Speculum
laicorum Udalrici Tengler vernacula lingua confectum, welches also
begfinnt**):
Quod potuit dantes Ethrusca dicere lingua
Cum fingit manes Tartareosque deos.
Cum causas rerum coeli scrutatur et arces:
Grandisonis rythmis magnaque facta canit ....
(es folgt eine Aufzählung, was Boccaccio, Brant und Petrarca in
ihrer Muttersprache geleistet haben, und zu alldem als gemeinsamer
Nachsatz:)
Hoc potuit Tengler germana voce disertus:
Cum speculum populo £aibricat omnigenum: etc.
Diese Verse beweisen, dafs Locher allerdings, und gewifs aus
seiner italienischen Studienzeit her, von Dante mehr als den blofsen
Namen kannte; die gewählten Worte bezeichnen kurz die drei Teile
der Commedia (manes — Purgatorio; Tartareos deos — Inferno;
causas rerum et coeli arces — Paradiso) und das Epitheton „grandi-
sonus", gesetzt zu den Rhythmen eines Dante ist so bezeichnend, dafs
es schwer wäre, ein besseres zu finden. Der musenliebende Locher
muls wohl in seiner Jugend berührt worden sein von Dantes Dichter-
gröfse, um noch in spätem Jahren ihn mit solchen Worten preisen
zu können.
2. Dante als Politiker und Gegner des Papstes.
Das wichtige politische Werk Dantes, die Monarchie, hatte Tri-
themius blofs genannt, aber schon bald nachher hören wir aus
deutschem Mund und auf deutschem Boden auch ein Urteil darüber,
allerdings noch in streng katholischem Sinne. Der aus einer adligen
Familie Schwabens stammende Johannes Nauclerus Verge oder
Vergenhaus (ca. 1430 bis ca. 1510) spricht es aus in seiner Chronica
*) Verg^. Zamckes Einleitung zu seiner Ausgabe von Brants Narrenschiff (Leipzig
1854) S. LXXV. Icli verdanke den Hinweis auf diese Stelle Herrn Prof. Muncker.
♦♦) Blatt 6, 2.
988 Emil Sulger-Gebing.
ab initio tnundi usque ad annum Christi nati MCCCCC, die zuerst
1501 in Tübingen, wo der Verfasser seit 1477 erster Rektor war,
dann ebenda 1516 erschien. Ich dtiere nach der ältesten mir zugang-
lichen Ausgabe, Cöln 1544. Da heifst es (S. 888): Circa tempus
istud floruit Dantes Florentinus poeta qui inter caetera composuit
librum de monarchia, ubi vult probare, monarchiam esse in
imperio Romano et rege Romanorum quod nullam depen-
dentiam habeat a papa sed a solo Deo nisi in spiritualibus. Et
in hoc, ut refert Antoninus in 3 parte ti. 21. c. 2 § 5 erravit Wir
wissen damit gleich auch die Quelle des Nauderus, der er in den
betonten Sätzen wörtlich folgt: es ist das Chronicon des Florentiner
Erzbischofs Antoninus, auf das ich oben (S. 192 ff.) ausfuhrlich einzu-
gehen hatte.
Wenig mehr als bibliographische Notizen giebt dagegen der
Zürcher Theologieprofessor Josias Simler (1530 — 1576) in seinem
mit den Ausgaben sich im Umfang verdoppelnden und verdreifachen-
den Folianten: ^Epitome bibliothecae Conradi Gesneri^, zuerst Zürich
1555 erschienen. Der Einleitimgssatz, sowie das Schriftenverzeichnis
erinnern stark an Trithemius (in der Ausgabe von 1546) und doch
wird man ihn kaum als Quelle voraussetzen dürfen. Simlers kurzer
Abschnitt lautet: Dantes Aligerus natione Italus, patria Florentinus
scripsit comoediarum lib. i. de monarchia mundi IIb. i. epistolas
plures. Disputationem de aqua et terra quae Mantuae olim inchoata,
Veronae decisa est. Libellus excusus Venetiis 1508. Ejusdem car-
mina de inferno, purgatorio, paradiso, Italice conscripta, excusa sunt
in Italia (I) anno Domini 1545 in 16. Ejus poemata (nesdo an haec
ipsa, an alia) excusa sunt Venetiis cum commento Alexandri Valutelli.
damit anno 132 1. — Die zweite Ausgabe von 1574 fugt gewissen-
haft eine Notiz bei über den inzwischen — 1559 — bei Oporinus in
Basel erschienenen. Druck der Monarchia, auf den ich bald kommen
werde. Trithemius nun hatte zum Jahre 1321 ganz richtig die Notiz
des Todes gesetzt, Simler aber sagt: damit anno 1321. Auch die
genaue Namensangabe der drei Teile der Commedia, die hier Simler,
wie das später so oft geschieht, als ein zweites vom liber Comoediarum
verschiedenes Buch fafst, — ein Irrtum, der bei blofser Kenntnis der
Titel leicht entstand — kennt Trithemius nicht. Die Ausgabe mit
Alessandro Velutellos Kommentar war 1544 erschienen; Simler wufste
jedoch evident nur aus zweiter Hand davon, da er sonst nicht im
Dante in der deutschen Lltteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. I. 833
Zweifel geblieben wäre, um welche Gedichte es sich handle. Mit der
Sedezausgabe von 1545 kann nur eine Textausgabe gemeint sein*^).
Als Zeugen für den Protestantismus vor dem Protestantismus, als
Mann der Wahrheit und als Gegner des Papstes hat den Sänger der
Commedia und Verfasser der Monarchia ein fanatischer Lutheraner
aufgerufen: Mathias Flaccius mit dem Beinamen Illyricus nach
seinem Heimatlande (geb. 1520 in Albona, seit 1539 in Wittenberg,
seit 1545 Prof. der semit. Sprachen daselbst, 1557 Prof. in Jena, 1575
gest. zu Frankfurt a./M. im Hospital). Es war ein ruheloser Mann,
der, ursprunglich zum Mönche bestimmt, mit leidenschaftlichem Eifer
sich den neuen Lehren hingab, dann aber, nachdem er in Jena seines
Fanatismus wegen des Amtes entsetzt worden, lange noch ein irrendes
Wanderleben führte und schliefslich im Elende verstarb. Das Werk,
das uns hier interessiert, ist sein „Catalogus testium veritatis qui ante
nostram aetatem redamarunt Papae^ vom Jahre 1556^*"^). Darin hat
Dante folgendermafsen eine Stelle gefunden: Dantes Florentinus floruit
ante annos 250. fuit vir pius et doctus, ut multi scriptores, et prae-
sertim ipsius sripta testantur. Scripsit librum quem appellavit
Monarchiam. In eo probavit, Papam non esse supra Imperatorem, nee
habere aliquod jus in Imperium, ob eamque rem a quibusdam haereseos
est damnatus. Scripsit et vulgari Italico sermone non pauca, in quibus
multa reprehendit in Papa ejusque religione. Quaeritur alicubi prolixem
intermissam esse verbi Dei praedicationem et pro ea prae-
dicari a monachis vanissimas fabulas, eorumque magis fidem
haberi: atque ita oves Christi non vero pabulo Euangelii,
sed vento pasci. Dicit alibi, Papam ex pastore factum lupum,
vastare Ecdesiam, non curare una cum suis spiritualibus verbum
Dei sed tantum suadecreta. Alicubi in Convivio amatorio aequat
conjugium coelibatui.
Die hervorgehobenen Sätze geben freie Transkriptionen folgender
Stellen aus der Commedia:
*) de Batines (Bibl. Dantesca I. 84) kennt den oben angef&brten Titel nur aus
Simler und erklärt die Ausgabe als wahrscheinlich IdeDtisch mit der sehr seltenen „In
Veneda al Segpio della Speranza 1545" in 34 picc.
^) „Basileae per Michaelem Martinum Stellam, Anno Christi MDLVI Mense Martis**
am Schluis des Bandes. Das Titelblatt hat Basileae per Joannen Oporinum. Die Stelle
aber Dante S. 868.
234 BmU Sulg;er.Gebiiis:.
Par. XXDC. 94 — 97: Per apparer ciascun s'ingegna, e face
Sue invenzioni e quelle son trascorse
Da* predicanti, el Vangelio si tace.
ibicL 103 — 107: Non ha Firenze tanti Lapi e Bind!
Quante si fatte &yole per anno
In pergamo si gridan quinci e quindi,
Si che le pecorelle che non sanno
Tornan dal pasco pasciute di vento ....
Par. IX. 132—135: Perö ch'ha fatto lupo dd pastore.
Per questo TEvangelio e i dottor magni
Son derelitti; e solo ai DecretaU
Si studia si che appare a' lor vivagni.
Die Behauptung, dafs Dante die Ehe dem Coelibat gleichsetze,
ist unrichtig. Eine derartige Stelle findet sich nicht im Convito*).
Die Lebenszeit des Dichters ist mit der Bezeichnung: er blühte vor
250 Jahren, also 1306, durchaus richtig angesetzt. Unter deti „multi
scriptores^, die seine Frömmigkeit und Gelehrsamkeit bezeugen, mag
in erster Linie an Boccaccio und den Chronisten Villani zu
denken sein.
Im selben Jahre wie dieser Catalogus testium veritatis erschien
zu Königsberg ein Catalogus haereticorum, dessen Vorrede mit dem
Pseudonym Athanasius exul Jesu Christi unterzeichnet ist. Als wahr-
scheinlicher Verfasser wird der frühere Bischof von Capo dlstria
Peter Paul Vergerii (gest. 1565) genannt**), der, lutherisch geworden,
seit 1549 als Prediger in Graubündten und im Veldin, seit 1533 in
Tübingen lebte. In diesem Buche finden wir, wie in allen Ketzer-
katalogen der Zeit, unter lettera D als erstes verdammtes Werk
nDantis Florentini Monarchia^ und in den Annotationes in Catalogum,
die durchweg den Fanatismus des Konvertiten verraten, heifst es dann
(fol. Em): Dantum Aligerum Florentinum qui pro Caesaribus de
Monarchia contra Papas gravissime scripsit, a£Srmans, Imperium minime
pendere ab Ecclesia, cujus libri meminit Bartolus etc. — es folgt die ge-
naue Angabe der Stelle und in Klammer fugt der Verfasser bei: ut
Interim omittam quam pro dignitate exceperit saepe Papatum in suis
*) Scartazzini 1. c. II. 30; u. Witte, Danteforschungen IL 321.
**) Vgl. Janotzki, Nachricht von denen in der hochgräflich« Zaluskischen Bibliothek
sich befindenden, raren polnischen Büchern. Zweiter Teil. Breslau i749) S. 73 ff. Be-
stimmt als Verfasser bezeichnet ihn die neuste Arbeit: Hubert, Vergerios publicistische
Tätigkeit (Göttingen 1893) S. 144 ff. u. Bibliographie S. 301.
Dante in der deutschen Litteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. I. 2S5
rythmis Italicis. Ein anschUefsender Satz verspottet die Schlauheit
der Papisten, welche in ihren Katalogen immer wieder solche Bücher,
selbst ungednickte wie dieses, anführten, recht, als wollten sie ver-
hindern, dafs man ihrer vergäfse, ja zu ihrer Lektüre anreizen. So sei
es dem Verfasser wenigstens ergangen mit dem vorliegenden Werke,
von dem er sonst nichts gewuist hätte.
Gesichert erscheint Vergerius als Autor der drei Jahre später
geschriebenen, aber erst 1560 gedruckten Annotationes, da hier sowohl
auf dem Titelblatt, als unter der vom 12. Sept. 1559 datierten, sehr
scharf gegen den Papst gehaltenen Vorrede sein Name steht. Der
vollständige Titel des interessanten Büchleins lautet: „Postremus Cata-
logus Haereticorum Romae conflatus, 1559. Continens alios quatuor
catalogos qui post decennium in Italia, nee non eos omnes qui in
Gallia et Flandria post renatum Euangelium fuerunt aediti. Cum
Annotationibus Vergerii 1560"*).
Hier ergeht er sich (Blatt 18 f.) viel ausfuhrlicher über Dantes
Monarchia, ohne über den Dichter selber mehr als die allerdürftigsten
Notizen zu geben. Aber sein als ketzerisch verdammtes Werk hat
er gelesen, und zwar, wie er selbst am Schlüsse seines Exkurses
erzahlt, in der italienischen Version des Marsilio Fidno, von der er
sich mit Mühe ein handschriftliches Exemplar verschafft hatte. Die
Art, wie er dessen Seltenheit betont und ausdrücklich bezeugt, dafs
es bis jetzt ungedruckt geblieben, beweist, dafs er den gleichzeitigen
Basler Druck des lateinischen Originals, auf den ich sofort kommen
werde, noch nicht kannte. Vergerius vergleicht das Werk seinem
Inhalte nach mit dem Defensor pacis des Marsilius Patavinus'*^), mit
Stellen aus dem Briefe Petrarcas an Cola Rienzi, und endlich mit
Ockam**"*"), der de paupertate Christi et Apostolorum geschrieben
habe. Er giebt in kurzen Sätzen den Inhalt der drei Hauptteile, und
fuhrt, nachdem er einen Seitenblick auf die zeitgenössischen politischen
Verhältnisse geworfen, einige der kräftigsten gegen den Papst und
die Verweltlichung der Kirche gerichteten Sätze Dantes an, für die
*) Auf dem letxten Blatt ist als Drucker Corvinus, als Oruckort Pfbrsheini
genannt.
**) Der erste Druck des Def. pads erschien zu Basel 1533. Marsilius Patavinus
(f 1338) steht im Catalogus (fol. 63) unter den Autoren, deren sämtliche Schriften yer-
dammt sind.
***) Ockam starb 1347. Bl. 53 steht unter den verbotenen Bflchem: Guglielmi
Ochan opus nonaginta dienim. Item Dialogfi et scripta omnia contra Joannem XXIL
986 Bmfl Sulger^Gebiftg.
er Worte freudigster Zustimmung hat: „quid potest de iUis verius dici}
quid magis apposite?^ Auch hier folgt ein Hinweis auf die Stelle
des Bartolus und, nachdem der Tübinger Eiferer noch auf die in
seinem Besitze befindliche italienische Übersetzung hingewiesen, schliefst
er mit dem Satze: „Satis de Dante, quae fortassis non erant oomibus
obvia, ut paud intelligere potuissent quid condemnarit Papa, cum illius
Monarchiam condemnavit^.
Diesen präludierenden Vorspielen in kürzeren oder längeren
Notizen folgft nun 1559 ein doppelter Hauptschlag gegen Rom im
Namen Dantes. In diesem Jahre nämlich erschienen zu Basel fast
gleichzeitig (die Vorrede des einen Buches ist datiert vom ersten
Herbstmonat, die andere mense Octobri) zwei Werke, die für sein
Bekanntwerden in deutschen Landen sehr bedeutsam sind: Herolds
Monarchey, die erste und bis auf Kannegiefser (1845) ^ong^ deutsche
Übersetzung der wichtigen politischen Schrift Dantes, und der über-
haupt erste Druck des lateinischen Originales, der somit auf deutschem
Sprachgebiet entstand, und zwar auf protestantischem Boden, da das
Buch noch immer auf dem Index stand.
Dieser Druck, über den ich mich kurz fassen darf, findet sich in
dem Büchlein: „Andreae Aldati jureconsulti clariss. De formula
Romani Imperii Libellus. Accesserunt non dissimilis argumenti Dantis
Plorentini De monarchia libri tres. Radulphi Camotensis De
transladone Imperij libellus. Chronica M. Jordanis Qualiter Romanum
imperium translatum sit ad Germanos. Omnia nunc primum in lucem
edita. Basileae per Joannem Oporinum^. Am Schlufs des kleinen
Bandes, der übrigens auch noch die im Titel nicht aufgeführte Schrift
des Aeneas Silvius Piccolomini „de ortu et autoritate Imperii Romani^
enthält, folgt das Datum: Basileae, ex officina Joannis Oporini. Anno
Salutis humanae MDLIX. Mense Octobri*). In diesem so inhalt-
reichen Büchlein nun treffen wir auch zwei Zeugnisse über Dante an.
Dem Drucke der Monarchia geht ein Schreiben des Joh. Oporinus
an den Bemer Patricier Hieronymus Fricker voran und darin heüst
es: Sunt autem quos adjunximus primum Dantis Aligherii, non
vetustioris illius Florentini poetae celeberrimi, sed philosophi acutissimi
atque doctissimi viri, et Angeli Politiani familiaris quondam, de
*) Weitere Drucke folgten sich in Deutschland rasch: 1566 Basel (prima editio
Schardiana); 1609 Straisburg (sec. ed. Schard.); 1610 Offienbach (ed. Gluteniana); 1618
Strafibuix (tertia ed. Schard.).
Oaote in der deutschen Litteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. L 887
Monarchia libii tres: dig^issimi certe qui ob renun et argumentonim,
quibus creberrimis sunt referti, acumen et copiam publice etiam extent,
neque diutius ob styli forte scabriciem (ejusmodi tarnen fere doctissimi
quique, ea licet eniditissima aetate, in tractanda philosophia ud solebant)
negligantur*). Höchst auffallend ist hier die Ansicht des Schreibers,
in dessen Heimatstadt ungefähr gleichzeitig die Übersetzung Herolds
mit vollständig richtigen Angaben über Dantes Werke erschien, dafs
der Verfasser des politischen Traktates ein anderer sei, als «Jener ältere
Florentiner Poet^, dem er doch schon das Beiwort des hochberühmten
(celeberrimus) giebt. Oporinus versetzt den Verfasser der Monarchie
ins fünfzehnte Jahrhundert, da er ihm als Freund des berühmten
Philologen und Dichters Angdo Poliziano (1454 — 1494) bezeichnet —
eine Verwirrung, deren Quelle ich nicht zu nennen Vermag. Die
Aufserung, dafs die Rauhheit des Stiles, der allerdings den eleganten
Latinisten des sechzehnten Jahrhunderts wenig behagt haben mag,
an der bisherigen Vernachlässigung des Werkes die Schuld trage,
soll wohl den Grund angeben, weshalb kein Humanist bisher das
Buch herausgegeben habe. — Das zweite 2^ugnis steht in dem
Schreiben des Basilius Herold an seinen Freimd Augustinus
Guntzerus, das der Chronik des Jordanes vorangeht. Da spricht der
Verfasser von denen, deren insana Ubido das Reich und die Majestät
des Kaisers, wie auch die alte Einrichtung der sieben Kurfürsten an-
griffe, und fahrt also fort**): „Venenatis vero istorum affectibus
antidotum fore praesentissimum nihil dubito et Dantis et Jordanis hos
libellos, deinde Historiae veritatis lucem eos tantam allaturos, ut ex
unico hoc et minusculo, osdtantia tot scriptorum, atque omnis
de potestate divinitus contradita et veneranda antiquitate Electorum
principum aemulantium ig^orantia, e medio toUi queat: tandemque
aperte videri, quantum ad conservandam hanc universitatem rerum,
hoc hoc (siel) Germaniae imperium conferat**. Hier wird somit der
florentinische Dichter gegen die Reichsgeg^er als Vertreter und Ver-
fechter des deutschen Kaisertums und seiner Institutionen ins Feld
gefuhrt.
Der Verfasser dieses zweiten Briefes darf sicher auch als Heraus-
geber der lateinischen Monarchia gelten***), wie er der Übersetzer des
*) Aldatl de form. Rom. Imp. S. 51.
♦•) ib. S. ai5.
***) Vagi. Wittes Auasabe der Monarchia, 2. Aufl. 1874 S. LXI, wo die dafiLr
sprechenden Stellen fosanimeagesteUt sind.
288 Emil Sulfi:er-Gebing:.
Werkes ist, von dem er die eben dtierten Worte schreibt. Es mag
gestattet sein, hier anzuführen, was ich über sein Leben und seine
Schriften aus meist älteren Quellen*) gesammelt habe, und so ein
wenn auch nicht lückenloses, doch möglichst vollständiges Bild seines
Wirkens zu geben. Johannes Herold wurde 151 1 zu Höchstädt
an der Donau geboren und nannte sich später nach seinem Heimats-
ort Hochstattensis oder mit griechischer Übersetzung Acropolita. Er
studierte zunächst Geschichte, und muls sich auch einige Zeit in Italien
aufgehalten haben, so im Jahre 1534 in Siena, wie er selber in der
Dedikation seiner Petrarca- Ausgabe von 1554 bezeugt**). Im Jahre 1539
kam er nach Basel und warf sich nun auf die Theologie, ohne jedoch
seine historischen Studien aufzugeben. Nachdem er sich allda ver-
heiratet hatte, wurde er 1541 Pfarrer in Pfeffingen, wo er im Gebiete
des Bischofs von Basel das Evangelium predigte und Vielen, wie von
einem Zeitgenossen ausdrücklich bezeugt wird, den rechten Weg zur
Seligkeit wies. Schon 1546 aber kehrte er in die Stadt zurück, ge-
rufen von den Typographen, damit er mehrere historische Werke
fertigstellte (ut aliquoties historias in ordinem redigeret). Nun schrieb
er überaus fleifsig, und machte sich um die Förderung des wissen*
schaftlichen Lebens in seiner neuen Heimat so verdient, dafis ihm die
Stadt Basel am 4. Juli 1556 das Bürgerrecht schenkte. Von da an
nannte er sich mit Vorliebe Basilius. Schon 1541 hatte er eine heft^e
Rede zu Gunsten des Erasmus von Rotterdam unter dem Titel Philo-
pseudes gegen den anonymen Dialog eines Arztes***) gerichtet, der
Aufsehen gemacht hatte. Bei Fürsten und hohen Herren stand er in
grofser Gunst und genofs der Gnade Kaiser Ferdinands des Ersten
als ein überaus fleilsiger und gelehrter Mann. Wegen dieser seiner
patentia laboris et industria ingenii zählt ihn Pantaleon zu den grofsen
*) Prosopographia Heroam atque Ulustrium virorum totius Gerroaniae, Aathore
Hdniico Pantaleon e Physico Basiliensi Tom. III. BasUeae 1566 (S. 535). — Joecher,
Gelehrten -Lexicon n. Leipzig 1750. — Fr. Aug. Eckstein, Nomendator Philologorum,
Leipzig 1871. — Gottl. Eman. v. Hall er, Bibliothek der Schweiz. Geschichte u. s. w.
Bd. n. m. IV. Bern 1785— 1788. — Graesse, Lehrbuch der allg. Litt. Gesch. m, i.
Leipzig 185a. S. 1091. 1099. — Am ausführlichsten der Artikel yon Escher in Ersch a.
Gruber, allgem. Encyklopädie, ü. Sektion, Bd. VL Leipzig 1839.
**) «Quod ante yigintl annos Senarum in urbe ... in ediscendis üs carminibus
magnopere me torsit".
***) In Desiderli Erasmi Roterod. Punus nunc primum in lucem editus Dialogos
lepidissimus Philalethis Utopiensis. BasUeae 1540. Der Ver&sser, ein mailändischer Ant
Hortensius Landi, muüste, als seine Autorschaft bekannt wurde, Basel verlassen.
Dante in der deutschen Litteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. I. 239
Männern Deutschlands. Sein Aufseres war unansehnlich: klein und
fett von Gestalt nennt ihn derselbe Schriftsteller. Er starb ums Jahr
1570. Seine Werke sind sehr zahlreich, weitaus die meisten davon
lateinisch verfafst. Obgleich ausdrücklich bezeugt ist, er habe „multa''
aus dem Lateinischen und Italienischen in die Muttersprache übertragen,
vermag ich doch aufser der Monarchey nur die von Goedeke*) und
Gervinus**) genannte Übersetzung des Diodorus Siculus: „Hey den
Welt und irer Goetter anfangcklicher Ursprung" Basel 1554 anzu-
führen***). Seine sonstigen, fast durchweg historischen Schriften be-
fassen sich, abgesehen von zahlreichen mit Einleitungen u. s. w. ver-
sehenen Ausgaben fremder Werke, gerne mit alter deutscher Ge-
schichte (de Romanorum in Rhaetia littorali stationibus, Basileae 1555;
de Germaniae veteris verae quam primam vocant, locis antiquissimis,
ib. 1557; ^cg^s antiquae Germanorum, ib. 1557), dann mit neuerer
deutscher Geschichte (Exegesis successionis sive stirpis Palatinae,
Basileae 1556; de Rodolpho Habsburgo libri VIII) und mit Kirchenge-
schichte (Vitae Episcoporum Basiliensium; Orthodoxographia, Basileae
1555; Haeresiologia, ib. 1556). Aufserdem schrieb er eine Chronologia
Pannoniae, gedruckt in Bonfinii rerum Ungaricarum Decades, 1543,
eine historia belli sacri, Basileae 1560, eih Buch de rebus anno 1556
contra Turcos gestis, ib. 1560, endlich Dialoge, Panegyriken und
Orationes. Femer werden von Escher (a. a. O.) noch angeführt
„zwei Schauspiele, die Enthauptung des Johannes und Pyramus und
Thisbe" — und „Erosophus von der ehrbaren und unehrbaren Liebe",
doch vermag ich diese, wie es scheint, deutschen Werke Herolds nicht
nachzuweisen, und der Verfasser des Artikels selber scheint sie nur
indirekt gekannt zu haben.
Dieser Mann, der auf eine so reiche schriftstellerische Tätigkeit
stolz sein konnte, verfafste nun auch die erste deutsche Übersetzung
von Dantes Monarchia unter dem Titel: „Monarchey Oder Dasz das
Keyserthumb, zu der wolfart diser Welt von nöten: Den Römern
billich zugehört, und allein Gott dem Herrn, sonst niemands hafft
*) Gnindrifs' IL 320.
**) Gesch. d. dtsch. Dichtung* H. 708.
•*♦) Allerdings nennt Bscher (s. S. 238 Anm. *)) noch aufser diesen «Übersetzungen
aus Aristoteles, Xenophon, Plutarchus, Erasmus, Ludwig Vices, Cornelius Agrippa,
Laonicus von Athen, Caspar Bruschius, Castellio, Macchiavelli u. s. w.", aber ohne irgend
welche nähere Angaben.
ZtKhr. f. Tgl. Litt-Gcsch. N. P. VIII. |g
840 Emil Sulgrer-Gebing.
seye auch dem Bapst nit*). Herren Dantis Aligherii des Florentiners,
ein zierlichs büchlein, in drey teyl ausgeteilt. Und vor zweihundert
dreifsig dreyen jaren, zur vertaedigung der Würdin des Reychs
Teutscher Nation Lateinisch beschriben: vormals nie gesehen auch
newes verdolmetscht. Durch Basilium Joannem Heroldt**. Und am
Schlüsse des Bandes steht das Datum: „Getruckt zu Basel durch
Niclaus BischofF den jüngeren im Jare MDLIX".
Das Buch ist drei Kurfürsten gewidmet, dem Pfakgraf Friedrich
bei Rhein, dem Herzog August zu Sachsen und dem Markgraf Joachim
zu Brandenburg. Herold giebt zuerst eine Einleitung**), die er mit
einer Rechtfertigung seines Unternehmens und dieser Widmung be-
ginnt, und worin er des Weiteren erklärt, er habe zuerst aus der
italienischen Version des Marsilio Ficino (1433—1499) übersetzt und
„hernach gegen dem Lateinischen, als es mir zur Hand kommen, ge-
halten und recht gemacht". Ahnlich wie schon im Titel prädsiert er
dann den Inhalt der drei Bücher in den Fragen: „Ob doch das
Römisch Kaiserthumb sein müsse, wo änderst die weit in wolfart sein
solle? — Ob das die Römer mit fugen ingehapt? — Ob es onn sonst
einiges mittel von Gott komme?" Besonders dieser dritte Teil, der
sich gegen den Papst richtet, ist nach dem Herzen Herolds; er meint
dazu: „Do erscheinet warlich Dantis verstand, freudigkeit und redlich
gemüt: dann wer der seye, der on allen scheühe des Bäpstlichen stüls
zu Rom mit beiachtzter (sie! wohl sicher Druckfehler für betachtzter)
bestätigung so frey dapffer härausz geschriben, das auch Bäpstlicher
heyligkeyt bestätigung, segen und was der stuck seind, keinen Keyser
mach, ja dz Bäpsdiche heyligkeyt sogar kein gwalt ann dem Keyser
habe: den habe ich zwar noch nit gelesen, hatts aber einer ye ge-
schriben, so will ich doch nit glauben, dass er es so heitter und klar,
mitt durch alle künsten, gegründten bewärungen dargethan**. Das
Wichtigste habe Dante alles gesagt, die Theologen würden nicht viel
mehr beibringen können, auch die Rechtsgelehrten nicht, wobei
natürlich der Hinweis auf Bartolus nicht fehlen darf, und der Aus-
spruch des berühmten Juristen über die Monarchie (s. S. 227) über-
setzt wird. Trotzdem sei Dantes Stellung zur Kirche die eines guten
*) Man vergl. dam die oben (S. 233) mitgeteilte Angabe des Placcias Illyrius über
den Inhalt der Monarchie: „Papam non esse supra Imperatorem nee habere aliquod jus
in Imperium**.
**) Diese ganze » Vorred ** ist ebenso wie die des Marsilio und des Dante in Herolds
Übersetzung unpaginiert.
Dante in der deutschen Litteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. I. 241
und getreuen, ja nach des fanatisch der neuen Lehre dienenden Herold
Meinung zu getreuen Katholiken, und er leitet sie her aus der Einfalt
seiner Zeit im Gegensatz zu dem jetzigen Grübeln: „Und wiewol
Dantes in geystlichen Sachen Bäpstlicher heyligkeyt vil, unnd so hochs
zugelassen, das etlich wol vermeinen möchten, es köndte mit heyliger
schrifit nit erwisen werden, kan mann jme dannocht nit verargen,
wann man die einfaltigkeit der selbigen zeyten, hept gegen dem
grübeln der yetzigen weit."
Wichtiger als diese Präliminarien ist für uns die nun folgende
Lebensskizze des Dichters, die uns zeigt, wie viel man in gelehrten
Kreisen Deutschlands damals etwa von Dante wissen mochte. Ich
gebe sie deshalb in ziemlich ausfuhrlichem Auszuge. 1265 geboren,
sei Dante, von Jugend auf in allen Künsten geübt, im funfunddreifsigsten
Jahre zum höchsten Amt als Prior gewählt worden: „wol, ehrlich,
auffrecht, doch streng und prachtig hielt er sich." Dann wird be-
richtet von den Parteikämpfen der „Schwarzen" und „Weifsen" von
Dantes Botschaft zu Papst Bonifacius dem VIII., von seiner Ver-
bannung und der Konfiszierung seines Gutes. Nun war der Heimat-
lose genötigt „bey dem Herren zu der Leyttern damals Herren zu
Dieterichs Bern sein narung zu suchen. Derwylen auch war er yetzt
zu Parysz, dann zu Padua auflf den hochen schulen, arbeytet, schreyb,
von der Helle, von Fegfewr, von Paradeysz*) auch sunst vil schöns
dings." Bei Kaiser Heinrichs des VII. Zug über die Alpen fafst er
neuen Mut, schliefst sich mit seinen Leidensgenossen ihm an, bleibt
aber nach dessen Tod durch Gift „im eilend". Als Papst Clemens (V.)
dann zwei Bullen erläfst, darin er alle Gewalt des Kaisertums an den
römischen Stuhl zieht, schreibt Dante „danckbar den Keyser, und
rachg^ig über den Bapst" dagegen seine Monarchia im Jahre 1333
(sie!) und lebt noch acht Jahre**). Herold erzählt weiter, neun Jahre
*) Ganz ähnlich heifst es später in der Obersetzung der Vorrede des Mars. Ficino:
„schreyb er gantz herrlich ding inn seinen reymen, die vom Paradysz, Fegfewr und Hell
sägend, dorinn dann der abgstorbnen Staat eigentlich bschriben".
**) Somit müfste er 1341 gestorben sein, also zwanzig Jahre später als es in
Wirklichkeit geschah. Überhaupt ist die Chronologie sehr verwirrt: dem Titel nach
(«vor zweihundert dreyssig dreyen Jaren**) fiele die Abfassung der Monarchia 1326, also
fünf Jahre nach Dantes Tod, der obigen Angabe im Texte nach zwölf Jahre nachher.
Nimmt man, was das wahrscheinlichste, einen Druckfehler an und setzt oben statt 1333
die Zahl 1313 ein, so fällt das Todesjahr mit acht Jahre später =1321 richtig. Eine
Differenz aber mit der aus der Titelangabe herauszurechnenden unerklärlichen Zahl
bleibt immer bestehen.
16*
d42 EmU Sulger-Gebing.
nach Dantes Tode habe der Kardinal Bertrand von Castenet als päpst-
licher Legat zu Bononien alle ihm erreichbaren Abschriften des Buches
als eines ketzerischen verbrannt „on allen widerstand, dann männigk-
lieh war erhaset." Es folgt ein heftiger Ausfall gegen die „newen
Ketzermeister**, die das Büchlein wieder auf den Index gesetzt, und
dann fahrt der Übersetzer fort und spricht über sein eigenes Werk
das folgende, durchaus zutreffende Urteil: „Vil mhüe würdt aber disz
büchlein dem läser machen, das der schreyber Dantes, die künstliche
bewärung, alle mit jren künsdichen benambsungen gepraucht, die ich
ins Teütsch do es ungwon bringen müssen. Wo nun ein läser dorüber
kumpt, der die Lateinischen Wörter verstaht, so kan er das Teutsch
auch wol mörcken, liszt es einer, der keiner anderer spräche bericht,
so darff er sich die umbfurung nit verdriessen lassen, ist gnüg das
er auff den bschlufs und hafft des Buchs vermörcke, was die endtlich
meynung Dantis seye." Doch fühlt Herold das Bedürfnis, sich gegen
den etwaigen Vorwurf, er habe Unnützes getan, schon im Voraus zu
wahren und hat darum die Vorrede des Marsilius Ficinus mit über-
setzt, „das mann sehe, wie ein söllicher inn allen künsten erüebter
Philosophus sein zeit hieran zu legen, nicht als versumpt geschetzt,
wöUicKs urtel disz büchlein hoch gnüg rhüemet: dessen sonst Anto-
ninus*), Volaterranus**), Nauclerus***) und and*mher oben anhin mei-
dung thund."
Bevor ich näher auf die Übersetzung selbst eingehe, drängt sich
die Frage auf: woher hatte Herold diese Angaben über Dantes I^ben?
Scartazzini sagt vorsichtig: „PHerold che compendia forse il Boc-
caccio"!) und Locellaff) schreibt ihm nach: „biographische Notizen,
die wahrscheinlich dem Leben Dantes von Boccaccio entnommen sind.**
Ich habe die vita des Boccaccio genau verglichen und bin zum Er-
gebnis gekommen, dafs Herold dieselbe nicht ausschliefslich benutzt
haben kann. Die einzige auffallendere Übereinstimmung zeigt der Satz :
„von jugent auff in allen künsten geübt" mit Boccaccio in § 2: „tutta
la sua puerizia con istudio diede alle liberali arti" f f f). Dagegen fehlt
*) Antonini, eplscopi Florentini (1389 — 1459) Summarium. Tom. III. Bl. CII.
(Nürnberg 1484). Vergl. S. 192 ff.
**) Raphael Volaterranus (1450—1521) Commentarii urbani Üb. XXL (Ausg. von
1603 S. 771).
***) D. Johannis Naucleri Chronica ab initio mundi usque ad annum Christi nati
MCCCCC. In der Cölner Ausgabe von 1544 S. 888. Vergl. S. 231 f.
t) 1. C. I. II.
tt) 1. c S. 4.
fff) In der Ausgabe von Francesco Macri-Leone, Firenze x888, S. ii.
Dante in der deutschen Litteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. I. 248
bei dem Deutschen jede Andeutung der Liebe zu Beatrice, sowie der
Heirat Dantes, was beides der italienische Biograph bekanntlich sehr
wortreich behandelt; von der wirklich ausgeführten Gesandtschaft des
Dichters zu Papst Bonifaz VIII. dagegen, die Herold berichtet, weifs
Boccaccio nichts. Die Städte, wo sich der Verbannte aufgehalten
haben soll, sind bei Boccaccio zahlreicher, und die von beiden ge-
nannten, stimmen nicht in der Reihenfolge überein (Her.: Verona, Paris,
Padua ; Bocc. : Verona, Padua, Verona, Paris). Auch die Darstellung
des Eingreifens Heinrichs des VII. in die italienischen wie in Dantes
Geschicke ist etwas verschieden; die Abfassung der „Monarchie" setzt
Herold nach Heinrichs Tod als Antwort auf zwei Bullen Clemens
des V., Boccaccio dagegen in die Zeit der Ankunft des Kaisers („nella
venuta di Arigo VII. imperadore"*); die Verbrennung des Buches als
eines ketzerischen bestimmt Herold genau als „neun jar nach Dantis
Tode" geschehen, Boccaccio sagt viel allgemeiner: „plü anni dopo
la morte dell' autore**). Im Übrigen ist die ganze Darstellung dieses
Auto-da-fe's, sowie des Versuches, Dantes Grab in Ravenna zu ver-
letzen, ziemlich übereinstimmend, obgleich der ausfuhrende Legat bei
Herold genauer geschildert ist:
Herold: Boccaccio:
Bertrand von Castenet, der Car- messer Beltrando, cardinale del
dinal Portuensis, ein hochtragender Poggetto e legato del papa nelle
roher freveler Frantzose Bäpst- parti di Lombardia
lieber zu Bononien Legat (1. c. S. 73.)
und Boccaccio nur von einem verbrannten Exemplare, Herold dagegen
von vielen zu berichten weifs:
und so fleysigst auch wie vil il detto cardinale, non essendo
er diser büechlein erfaren unnd chi a cio s'opponesse, avuto il
zwegen bringen kundt, liesz er soprascritto libro, quello in publi-
sye alle alsz ketzerisch öffentlich co, siccome cose eretiche conte-
in fewr verprennen. nente, dannö al fuoco. (ib.)
Aus all diesen Abweichungen scheint mir als sicher hervorzugehen,
dais Herold in seinen Angaben nicht auf Boccaccio allein fufsen kann;
die schwierigere Frage, woher er die anderslautenden Einzelheiten in
♦) 1. c. S. 72.
•*) 1. c. S. 73.
244 Emil Sulger-Gebing.
seiner Darstellung geschöpft, weifs ich nicht zu beantworten. Auf das
Eine nur mag hingewiesen werden, dafs die Gesandtschaft zu Papst
Bonifacio VIII., die allerdings auch eine blofse Folgerung aus den
Angaben Boccaccios sein könnte, sowohl in der vita di Dante von
Leonardo Bruni Aretino (gest. 1444), als auch in Dino Compagnis
(gest. 1324) „Cronica delle cose occorrenti ne* tempi suoi", ausdrück-
lich erwähnt ist (II. XXV.). Wenn auch beide Schriften zu Herolds
Zeit noch ungedruckt waren, so ist es doch nicht ausgeschlossen, dafs
er, der sich viel mit historischen Studien beschäftigt hatte und, wie
wir oben gesehen, in Italien gewesen war, wenigstens das zweite Werk
kannte. Am befremdlichsten bleibt immer die Verwirrung in den
Angaben über das Todesjahr, das er richtig schon bei Trithemius, der
ihm, dem Theologen, kaum unbekannt geblieben, und sonst an
mehreren Orten finden konnte.
Was nun Herolds Übersetzung selbst betrifft, so ist zuerst zu
bemerken, dafs die Kapiteleinteilung nur im grofsen und ganzen mit
der uns heute geläufigen übereinstimmt. So giebt sie, wie das Mar-
silius Ficinus, von dem überhaupt die Einteilung in Bücher und Kapitel
herrührt*), schon getan hatte, den ersten Paragraphen jedes Buches
als Vorrede und setzt mit § 2 als Kapitel I ein. Aufserdem verschiebt
sie hie und da die Kapitelanfänge. Folgende Tabelle macht die Ab-
weichungen deutlich:
Buch I. Vorrede = § i, § 2 (der erste Satz bis „et secundum
intentionem")
das erste Kapitel = § 2 (ohne den ersten Satz) und § 3
das dritte Kapitel = § 5 u. § 6.
Buch II. Vorrede = § i
das erste Kapitel = § 2 (ohne die letzten Sätze von „Voluntas
quidem Dei" ab)
das zweite Kapitel = § 2 Schlufs, § 3
das neunte Kapitel = § 10 bis „quod est principale propositmn in
libro praesenti"
*) Vergl. Dantis Monarchia, ed. Witte, 2. Aufl. 1874 S. LXX. Der Druck des
Originals von 1559 hat keine Kapitel, sondern nur Absätze, deren Anfange sich zwar
häufig mit Kapitelanfängen decken, die aber durchaus nicht alle in den späteren Aus-
gaben als Kapitel bezeichnet sind, sowie auch diese Kapitel beginnen, wo der erste
Druck weiterläuft. Ich benutze zur Vergleichung durchweg die Ausgabe von Fraticelli
Opere minori di D. A. Vol. II 5 a ed. Firenze 1887.
Dante in der deutschen Litteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. I. 346
das zehnte Kapitel = § 10 von „Hucusque patet propositum" bis
Schlufs.
Buch ni. Vorrede = § i bis „ab auditione mala non timebit"
das erste Kapitel = § i Schlufs u. §. 2.
Aufserdem fehlen im dritten Buch die Kapitel 6 und 10 in Herolds
Zählung. Die Anzahl der Kapitel in den einzelnen Büchern stimmt
überein mit Marsilio Ficino (Buch I: 15; IT: 11; III: 16.)*)
Der ersten Vorrede, d. h. also der Übersetzung von lib. I, cap.
I u. n (teilweise, s. o.) folgt das bekannte
Epitaphium Dantis, ab ipso autore factum.
Jura Monarchiae, Superos, Phlegethonta, Lacusque
Lustrando cecini, voluerunt fata quousque.
Sed quia pars cessit melioribus hospita castris
Authoremque suum petiit foelicior astris,
Hie claudor Danthes patriis extorris ab oris
Quem genuit parvi Florentia mater amoris**).
Herold giebt dazu folgende Übersetzung:
Lebend bschreyb ich das Keyserthumb,
Hell, Fegfewr, Pardisz umb und umb.
Durchzog ich: d'weil mirs Got verhängt.
So nun mein bester theyl vermängt,
Under die auszerwölten Gast.
Zu seiner urhab im himmel vest.
So ligt nun hiC) mein Danthis leyb,
Den neyd, desz Vatterlands vertreyb.
Den gpar Florentz von Edler ahrt,
Innglicher Lieb ein muter zart.
Die ersten fünf Verse sind schwerfallig und ungeschickt, der letzte
dagegen geradezu falsch übertragen, wenn man wenigstens nicht eine
•) Witte, 1. c. S. LXX.
**) Die Verse haben lange als solche Dantes gegolten und sind sogar, nach
Manettis Erzählung an Stelle des längeren Epitaphs von Giov. del Virg^lio, auf Dantes
Grab in Ravenna gesetzt worden, wo sie heute noch stehen. Ihr wahrer Verfasser ist
Bemardo de Canatro (wohl richtiger: da Canaccio), dessen Namen sie in einer Hand-
schrift des XrV. Jahrhunderts in der Bibliotheca Bodleiana zu Oxford tragen (vergl.
Macri-Leone 1. c. S. 34 Anm. 2. u. Carlo del Balzo, Poesie di mille autori intomo a
Dante Alighieri. Roma 1 889 ff. Bd. n. S. 72 ff.). Del Balzo weist aus einem Sonetten-
wechsel Bemardo da Canaccios mit Minghino Mezzani die Entstehung der Grabschrift
zwischen 1346 und 1347 nach.
246
Emil Sulger-Gebing.
plötzliche Wendung zum Ironischen annehmen will, was mir dem
klaren Text gegenüber kaum glaubhaft scheint.
. Man wird Herold nachrühmen müssen, dafs er sich grofser Treue
gegen sein Original befieifsigt. Doch laufen gar manche Mifs Ver-
ständnisse unter, und vor allem ist er oft so schwerfallig und breit,
dafs ein Verständnis ohne Zuhilfenahme des Grundtextes kaum möglich
ist. Schon Marsilio Ficino hatte Dantes knappes Latein in seiner
italienischen Version oft verbreitert, aber der Deutsche geht überall
noch einen Schritt weiter. Ich gebe einige Stichproben aus dem
ersten und dritten Buche:
Dante.
qui ab Aristotele felicitatem
ostensam reostendere conaretur?
qui senectutem a Cicerone defen-
sam resumeret defensandam? I. i.
velut Mathematica, Physica et
Divina. I. 3.
(Mars. Fic: come sono le cose
di Aritmetica e Geometria e natu-
rali e logiche e divine)
Cujus quidem veritas quia sine
rubore aliquorum emergere nequit,
forsitan alicujus indignationis causa
in me erit. HI. i.
Dante.
Nee mirum, cum jam audiverim
quemdam de illis dicentem et pro-
caciter asserentem, traditiones
Ecclesiae fidei esse fundamentum.
ni. 3.
Herold.
so einer die Säligkeit wölt er-
örteren, die Aristoteles vorlangst
so wol auszgestrichen. Oder so
er wölte das Alter rhüemen und
auffmutzen das Cicero verloffner
langer jaren vor uns gethon hatt.
Vorred.
Als da ist die kunst desz Erd-
messens, Gsangs, Rechnens, und
Gstimschauwens, unnd desselben
gleichen, auch natürliche künsten,
und was der vernunfft nach von
Göttlichen sachen zu reden.
(s. 3)
unnd umb dessen willen, das
man dise dritt warheyt, on schäm
etlicher nit wol erörteren mag,
unnd jrer unwürse, darab sich zA
besorgen, so darfF ich wol vil
hauen erdantzen, ja mehr etwa Un-
gunst erjagen. (S. 131.)
Herold.
noch darff man sich sollicher
Jünglingen nit verwundem, dann
ich Dantes hab selbs von jro eynem
gehört, dz er unverschämpter weisz
kainblatt für dem mund genommen,
Dante in der deutschen Litteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. I.
247
schwören dorfft, die Decret und
solliche Satzungen der kirchen
wären eyn grundtvestin Christliches
glaubens. (S. 140.)
Recht ordentlich sind im ganzen die von Dante häufig citierten
Verse übersetzt, obschon auch sie unter ähnlicher Dehnung und Ver-
wässerung öfters zu leiden haben. Ich gebe zwei Proben, deren erste
einen fast strengen Anschlufs an ihr Vorbild zeigt, während die zweite
sich in gar behaglicher Breite gehen läfst:
O felix hominum genus
Si vestros animos amor
Quo caelum regitur, regit.
(Boetius.) I. !!•
Jam redit et Virgo, redeunt
Saturnia regna.
(Virgü.) I. 12.
O wie wol menschlichs gschlecht
war dir
So ewre gmüter für und für:
Bherrschte die lieb: die immerdar
Desz Himmels kreysz beherrschet
gar. (S. 25.)
Astrea die Jungfraw die ist
Widerkommen zu diser frist
Wie zär zeit Saturni imm land
Eyn guldin Reich ist uns vorband.
(S. 27.)
Von mifs verständlich übersetzten Stellen sei noch beigefügt:
Dante. Herold.
Conclusit ora leonum. Den löuwen hab ich die meüler
III. I. verstopfft. (S. 130.)
Unverständlich mufsten auch für den Leser des XVI. Jahrhunderts
die Sätze werden, in denen Herold das lateinische principium mit
„Anfang" wiedergab, da das Fremdwort Prinzip ihm noch nicht
geläufig war. So z. B.
Verum quia omnis veritas, quae
non est principium ex veritate
alicujus principii fit manifesta.
I. 2.
und ebenso:
Nam sine praefixo principio
etiam vera dicendo laborare quid
prodest? IE. 2.
Nun seittenmal eyn jede warheyt,
die an jhr selbs keyn anfang ist,
dannocht erwiesen wirt, ausz der
warheyt etwann eynes anfangs.
(S. 2.)
Dann on eyn furgestreckten an-
fang, hilfits nit, ob man gleich
grosse mü anlegte, die warheyt
zä sagen. (S. 136.)
248 Emil Sulgrer-Gebing.
Zu diesen zwei letzten liefse sich noch eine ganze Anzahl Parallel-
stellen anfuhren, wo in gleicher Weise statt Prinzip „Anfang" steht
Dafs etwa einmal unbedeutende Mittelglieder vom Übersetzer fort-
gelassen werden, mag noch erwähnt werden; von ganzen Sätzen habe
ich nur den einen III, 4: nonnullum vero rationis Judicium habere ni"
tuntur — völlig unübersetzt gefunden.
Die wenigen Beispiele mögen immerhin genügen, mein oben aus-
gesprochenes Urteil über Herolds Übersetzung zu begründen, ein
Urteil, das viel strenger und abfalliger ausfallen müfste, wenn wir nicht
in Betracht zögen, dafs er als Erster die Aufgabe bewältigte, deren
Schwierigkeiten zweifelsohne ungewöhnlich grofs waren.
Wenigstens genannt werden mufs hier eine anonyme Schrift, die
1586 laut dem Titelblatt in München bei Johannes Schwarz, in Wirk-
lichkeit aber wahrscheinlich in Genf gedruckt ist, das „Avviso pia-
cevole dato alla bella Italia da un nobil Giovane Francese sopra la
mentita data dal Serenissimo re di Navarra a papa Sisto V". Das
Buch ist überaus selten*) und war mir daher nicht zugänglich. Laut
Scartazzini (I. 13) und Locella (S. 5) „versucht der Verfesser, mit der
Autorität Dantes, Petrarcas und Boccaccios zu beweisen, dafs der
römische Papst der Antichrist und Rom das Babylon der Apokalypse
sei". Als Verfasser glaubt man den Franzosen Fran9ois Perrot,
Seigneur de Mezieres, ansetzen zu dürfen. Es gehört also nur des
wahrscheinlich erst noch fingierten Druckortes willen in diesen Zu-
sammenhang.
Nicht ausschliefslich, wohl aber in erster Linie beschäftigt sich
mit der Monarchia ein gelehrter Jurist, der pfalzgräflich zweybrückische
Rat Johannes Wolfius (1537 — 1600) in seinem dickleibigen, un-
endliche Gelehrsamkeit zusammentragenden Werke: „Lectionum
memorabilium et reconditarum Centenarii XVI", Lauingae 1600, einer
Jahr für Jahr Alles merkwürdige und wissenswerte verzeichnenden
Chronik. Er berichtet (Bd. I, S. öiiflf.) zum Jahre 1321 in ausfuhr-
lichster Weise über Dantes Monarchia, deren Beweisfiihrung er in allen
Hauptpunkten wiedergiebt, und schliefst mit der Anerkennung des
Mutes, dessen es zu jener Zeit bedurft habe, um so gefahrliche Dinge
auszusprechen bei der grofsen Macht des Papstes. Dieser Auseinander-
setzung über die politische Schrift fiigt er zunächst in wörtUchem
*) De Batines (Bibliog^aphia dantesca I. 500) kennt in ganz Italien nur ein
einziges in der Bibliothek des Collegio Romano zu Rom befindliches Exemplar.
Dante in der deutschen Litteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. I. 249
Abdruck die Sätze des Flacdus Illyricus: „Scripsit etiam hie Dantes
vulgari Italico sennone non pauca u. s. w. bis aequat conjugium
coelibatui" (s. o. S. 201) bei und fahrt dann fort: Adjidemus aliquot
ejus dicta ulterioris fidei et perspicacitatis gratia. Als solche giebt
er einen längeren Passus aus der Monarchie III, 3 (allerdings nicht
durchweg mit dem Text der Ausgabe von 1559 ganz übereinstimmend)
und mehrere Fragmente der Commedia in lateinischer, Zeile für Zeile
getreu wiedergebender Prosa-Ubersetzung, nämlich Par. IX, 126 — 142,
XVin, 127 — 136 und XXIX, 88 — 126. Wir finden also hier zum ersten
Male auf deutschem Boden Fragmente des gewaltigen Gedichtes,
allerdings nicht in seiner Urform, sondern in lateinischer, prosaischer
Interlinearübertragung abgedruckt Ganz sicher zu bestimmen, von
wem diese herrührt, vermag ich nicht; am wahrscheinlichsten erscheint
mir, dafs sich Wolf selbst die Stellen, die ihm als die treffendsten
erschienen, in die Sprache sdner Chronik übersetzt habe. Allerdings
gab es mehrere ältere lateinische Versionen aus dem XV. Jahrhundert,
so von Paolo Veneto Eremitano (mit Familiennamen Nicoletti, gest.
1428), von dnem Karmelitaner Riccardo, von Andrea Napolitano, von
dem Rechtsgdehrten Guiniforte Bargigi aus Bergamo (um 1432),
endlich von dem Venezianer Matteo Ronto (gest. 1443)*). -^^ diese
sind mir, da sie nur handschriftlich erhalten sind und zu den Selten-
hdten italienischer Bibliotheken gehören, nicht zugänglich, doch ist
wohl für alle, zweifelsohne für die Mehrzahl eine Wiedergabe in
rhythmischer Form anzunehmen, in Hexametern ist die von Matteo
Ronto verfafst**). Was den Inhalt betrifft, so giebt Wolfius aus-
schliefslich solche Abschnitte, die sich gegen den Papst und die
katholischen Priester, d. h. gegen deren nicht der Schrift gemäises
Leben, und gegen die Verfälschung der Lehren des Evangdiums
wenden. Noch fugt er ohne nähere Angabe eine Prosastelle ähnlichen
Inhaltes bei gegen die, qui zdatores fidei Christianae se dicunt (sie
steht im II. Buch der Monarchia gegen den Schlufs des zehnten
Kapitels) und schliefst endlich mit einem Hinweis auf Purgatorio XXXII:
Idem in Cant. 32 ait, Papam esse meretricem Babyloniam. Tribuit
deinde ejus ministris, id est Episcopis bicornia capita, quibusdam
quatuor, quibusdam unum comu, qui sunt Patriarchae: ipsi vero
meretrici instar cujusdam arcis. — Dante (1. c. 148 — 150) sagt nun
♦) Negri, istoria degli scrittori fiorentini. Ferrara 173a, S. 143.
*♦) De Batines, 1. c. L 237.
250 Emil Sulger-Gebing.
allerdings nicht direkt, der Papst sei die babylonische Hure, wohl aber
ist die „puttana^ der Vision im irdischen Paradiese von allen Kommen-
tatoren als Symbol des verdorbenen Papsttums gefafst worden, und
schon der älteste aller Erklärer, Jacopo della Lana, dessen Werk
zwischen 1321 und 1328 entstanden ist, sagt: Per la puttana intende
lo sommo pastore cioe il papa, lo quäle dee reggere la Chiesa*).
Auch Bemardino Daniello, den Wolf, wie wir gleich sehen werden,
benutzt hat, fafst die Hure als Abbild des Papstes und zwar ganz
direkt als des auch sonst von Dante so schwer getadelten Bonifaz des VUL,
der durch Kauf und Bestechung die höchste Würde sich erworben
hatte. Auf falscher Auslegung ruht dagegen der folgende Satz Wolfs.
Die Stelle bei Dante heifst (Purg. XXXII, 142—147):
Trasformato cosi il dificio santo
Mise fuor teste per le parti sue,
Tre sovra il temo ed una in ciascun canto.
Le prime eran cornute come bue;
Ma le quattro un sol corno avean per fronte.
Simile mostro visto ancor non fue.
D. h. nach der Umwandlung des Wagens erschienen sieben Köpfe,
drei an der Deichsel und vier an den vier Ecken, wovon die ersteren
wie Ochsen gehörnt waren, die letzteren aber nur je ein Hörn auf
der Stirne hatten. Von vierfach gehörnten, wie Wolfius meint, steht
nichts da, und auch die Erklärung, die er giebt, erscheint imzulässig.
Die meisten älteren und neueren Erklärer, Jacopo della Lana an der
Spitze, sehen in den sieben Häuptern, gewife mit Recht, die sieben
Todsünden, andere deuten sie als die sieben Sakramente. Wolfius
dagegen folgt der ziemlich alleinstehenden Deutung des Bernardino
Daniello von Lucca (1509 — 1568). Dieser**) sieht nämlich in den sieben
Köpfen die sieben Wähler des Papstes, also die frühesten Kardinäle,
von welchen drei Bischöfe waren und als solche eine Mitra mit zwei
Hörnern („cornute come bue") trugen, die andern vier aber nur
Priester waren: diese sind als einhörnige bezeichnet, weil sie nur eine
Würde haben im Gegensatze zu den Bischöfen, die deren zwei in sich
vereinen. Es ist aber durchaus unwahrscheinlich, dafs Dante in der
ehrwürdigen Institution der Kardinäle einen Verderb der Kirche ge-
sehen haben sollte, und doch ist im Zusammenhang klar, dafs die
schauderhaften Köpfe den früher triumphierenden Wagen der Kirche
*) Scartazrinis Ausg. der Div. Com. Bd. 11 (Leipzig 1875) S. 764.
**) Dante con Tesposizione di M. Bern ardino Daniello da Lucca. Ven. 1568, S. 47a.
Dante in der deutschen Litteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. I. 851
nun in seiner Entstellung kennzeichnen sollen, in der Entstellung, die
dadurch vollendet wird, dafs die Hure mit dem Riesen ihren Platz
darauf erhält.
Aus dem Gesagften erhellt deutlich, dafs Wolfius nicht nur die
Monarchia genau kannte, sondern auch mit der Commedia und einem,
vielleicht sogar verschiedenen ihrer Kommentatoren, nicht nur ober-
flächlich bekannt war. Alles aber, was er von jener sag^ und von
dieser und jener direkt anfuhrt, zeigt auch ihn als einseitigen Ver-
ehrer des Dichters, insofern dieser als Gegner des Papstes und der
katholischen Geistlichkeit auftritt. Ihm auch nach andern Seiten hin
gerecht zu werden, dazu macht Wolfius nicht einmal einen Versuch.
Zum Schlüsse dieses Abschnittes mögen noch zwei Zeugnisse
deutscher Gelehrter, die sich lateinisch über Dante als Häretiker und
Papstgegner äufsern, angereiht werden, obschon sie beide erst, und
das eine recht spät, ins folgende Jahrhundert fallen.
Matthias Bernegger (geb. 1582 zu Hallstadt, Prof. der Ge-
schichte und der Beredsamkeit zu Strafsburg, gest. daselbst 1640)
schrieb 161 9 eine Widerlegung der Legende, laut welcher das Haus
der Maria durch ein Wunder aus dem Orient nach Loretto soll ge-
bracht worden sein, unter dem Titel „Hypobolymeae Divae Mariae
Deiparae Camera seu Idolum Lauretanum^ (Argentorati 161 9). Einer
seiner Gegenbeweise gegen das Mirakel besteht darin, dafs er ausfuhrt,
keiner der zur angeblichen Zeit desselben lebenden Autoren wisse
etwas davon, und der erste derer, die er da nennt, ist (S. 116) „Dantes
Aligerius natus Anno 1260 mortuus 1321." Und doch hätte gerade
er es wohl erwähnen können: Ac Dantes quidem plurimis carminibus
Italicis de Paradiso, de Purgatorio, de Inferno scripsit quae sane theo-
logicae non amatoriae sunt materiae, quibus opportune potuisset ali-
quid inserere de Angelis, qui, cum alioqui sint invisibiles tunc tamen
visi fuerint, Ecclesiam per tam long^ itinera terrestria maritimaque
bajulantes (S. 120). Und an einer dritten Stelle desselben Kapitels
(S. 1 23) nimmt er den Florentiner Dichter geradezu als Vorläufer des
Protestantismus in Anspruch und beweist mit der Monarchie, dafs er
unter die Ketzer gehöre: Ac initio Dantes magna ex parte agnovit
eam ipsam veritatem quam nos profitemur: et nidum Papae,
Romam una nobiscum putavit Babylonem ipsissimam esse, cujus in
Apocalypse meminit Evangelista. Nee id modo sensit, sed disser-
tissime Imperium ab Ecclesia non pendere, quin omnibus ecclesüs Im-
peratorem praeesse, etiam Romanae statuit: quod dogma Marsilius
252 Emil Sulger-Gebingr.
Patavinus, eodem tempore in eo libro cui titulus „defensor pacis"
diligentissime confirmat*). Neque hoc Dantes afifirmavit obiter^ sed
edito libro cui titulum fecit „Monarchia" cujus meminit Bartolus (folgt
die Angabe der Stelle) ubi addit, Dantem ipsum propter eum librum
fiiisse post mortem pro haeretico condemnatum. Quin edam Archiepis-
copus Mediolanensis in catalogo haereticorum ejusdem libri meminit
et prohibet ne quis eum legat. — Mit diesem Mailänder Erzbischof
kann nur Job. Angelus Arcimbold (gest. 1555) gemeint sein, dem ein
1554 erschienener, anonymer Ketzerkatalog zugeschrieben wurde.
Das falsche Geburtsjahr, 1260 statt 1265, das auch bei dem gleich
zu besprechenden, von Bemegger abhängigen Olearius wiederkehrt,
geht auf zwei der ältesten Biographen Dantes zurück, nämlich auf
Bernardino Daniello (s. S. 248) und auf Cristoforo Landino, dessen
Comento sopra la Commedia schon 1481 in Florenz erschien. Die
Stelle, dafs Dante Rom als Babylon bezeichne, beruht wohl auf einer
Weiterfuhrung der oben (S. 249) besprpchenen des Wolfius, während
die Angaben über die Monarchie, falls er dieselbe nicht selbst in der
Originalausgabe oder in Herolds Übersetzung kannte, dem gleichen
Werke und dem genannten Ketzerkatalog entnommen sein dürften.
Auf Matthias Bernegger fufst der Hallische Theologe Joh. Gott-
fried Olearius (1635 — ^7'0 ^ seinem 1673 zu Jena erschienenen
„Abacus Patrologicus sive Ecclesiae Christianae Patrum atque Doc-
torum alphabetica Enumeratio"* Auch er nennt (S. 129) das Geburts-
jahr falsch mit 1260, giebt Dante das Prädikat „eniditione omnibus
carissimus" und sagt von ihm mit Anfuhrung Bemeggers als seines
Zeugen: veritatem magna ex parte agnoscens regni Papistici fraudes
non ignoravit. Dann geht er, indem er Bartolus und Raphael
Volaterranus**) dtiert, auf die Monarchia ein, deren wegen Dante
als Ketzer verdammt worden sei, nennt die Basler Ausgabe von 1559
und die OfFenbacher von 1610, und wendet sich gegen die von
Oporinus gemachte Unterscheidung zwischen dem Dichter der Commedia
und dem Verfasser der Monarchia (s. S. 236 f.): „An et cur hie Dantes,
Monarchiae scriptor a Comoediarum et Poematum***) de Purgatorio
*) Marsilius Patavinus starb 1338. Der erste Druck des defensor pads erschien
In Basel 1522.
^*) Raph. Volaterranus (1450 — 1521) widmet im XXI. Buch seiner Commentaril
urbani Dante einen längeren Abschnitt. Ausgabe von 1603 S. 770 u. 771.
***) Die aus Unkenntnis des Werkes selbst entstandene Unterscheidung des Über
Comoediarum und der Commedia als zweier Werke findet sich häufig in älterer Zelt, so
auch bei Boissard, aus dem Olearius schöpft.
Dante in der deutschen Litteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. I. 253
Inferno, Paradiso confectorum autore sit dlsting^endus, uti quidem
suadere conatus Oporinus praef. 1. c. (nämlich der Basler Ausgabe
von 1559) nuUa urget necessitas: Imo unius ejusdem ista omnia esse,
dare docet ejus sepulcri, quod Ravennae visitur, marmor et epita-
phium, quod cum aliis lectu circa eundem dignis exhibet Job. Jac.
Boissardus Tom. I. icon. illustr. p. 76*) adde Volaterranus 1. c. Paul.
Jovü elog. Doct. c. 4. p. 17****). — Der, wie wir sehen, durchaus un-
selbständige und nur objektiv referierende Bernegger ist der letzte, der
Dante ausschlieislich von dieser Seite als Gegner des Papstes auffafst
und infolgedessen in der Monarchia sein Hauptwerk erblickt.
München.
*) J. J. Boissard (1538— 1602) icones quinquaginta virorum illustrium. Francoforti
1597—1599. I. 73 ff.
**) Paolo Giovio (1481—1552) elogia veris clarorum virorum imaginibus apposita.
Yen. 1546. S. 6 f.
~—~
VERMISCHTES.
Zwei Schwanke des Hans Sachs und ihre Quellen.
Von
A. Ludwig Stiefel.
L Der Müller mit der Katze.
In meiner Abhandlung »Über die Quellen der Fabeln, Märchen und
Schwanke des H. Sachs« in den von mir herausgegebenen« Hans
Sachs-Forschungen« (S. 157) habe ich bezüglich der Quelle des
Meistergesangs des H. Sachs »Der müller mit der katzen« nur
auf die 199. Novelle des Franco Sacchetti verweisen können, die
inhaltlich mit jenem Meistergesang so ziemlich übereinstimmt Ich
sprach dort die Vermutung aus, dafs Sachs eine deutsche Quelle be-
nutzt haben werde, die ihrerseits gleich der italienischen Novelle in
letzter Linie auf ein altfranzösisches Fabliau zurückgehe. Ich habe
seitdem eine Version entdeckt, die unserem Meister sowohl zeitlich,
als dem Inhalt nach, noch näher steht. Es ist dies eine Erzählung im
zweiten Bande der »Convivales Sermones« (S. 182 der Ausg. Basel
1554) des Johannes Gast, betitelt „De molitoris astutia". Ein Abdruck
derselben scheint mir aus verschiedenen Gründen gerechtfertigt:
„Molitor callidus rufticum, ä quo optima ad molendum frumenta
acceperat, allocutus ijs uerbis: Optime uicine, frumentum tuum modica
grana fedufis paleis habet, idque tibi praedico, ne tandem me
furti accufes; obfecro itaque te, accede molendinam & adiunge te
mihi focium, & oculis fubijciam tuis, me uerum dicere. Aflentitur
uicinus, ac uadit cum eo. Mox feruo mandat molitor ut frumentum
uicini ipfo uidente, faccum agnofcente, effundat ad molendum. Seruus
quod iufTus erat, fine mora facit. Molitor autem ut fraudem tegere
poffet, felem ad fe uocat, quae mox accurrit. Veni obfecro, inquit
molitor, fidelis uicine, oftendam tibi mirabile quiddam in ista feie.
Nouit enim eg^egie pifcari. Subfequitur uicinus cum feruo (ut omnis
furti fufpicio abiit) molitorem & ad fluuiolum aedes praeterlabentem
2wei Schwanke des Itans Sachs und ihre Quellen. ib6
uentum eft, felis projicitur in fluuiolum. Molitor inclamat: Adfer
pifcem magnum, rape quicquid inueneris & delicatior hac coena uiues.
Cum hunc damorem audiflet uxor, aduolat ac frumentum furatur.
Nam hoc fignum erat uxori datum. Verum cattus nuUum pifcem
cepit. Molitor contuens uicinum: Mirum, quod tam aftuta felis nunc
temporis comprehendere nihil potuerit, fortafsis tu in culpa es, hactenus
enim multis pifcibus me locupletauit. Reuertuntur in molendinam.
Vicinus frumentum fuum coUigit, modio metitur, ac parum frumenti
inueDit. Sane admirari fatis non potuit propter raritatem granorum,
dicens: Profecto, 6 uicine, tibi hoc si dixifles, non credidiffem, sed
iam, quod oculis meis uidi, non pofTum negare. Sicque elufus est
rusticus uafride molitoris".
Einzelne Abweichungen von der Fabel des Sachs ergeben sich
allerdings, aber sie sind nicht gröfser und nicht zahlreicher, als sie
der Nürnberger anderen Quellen gegenüber aufweifst. Man könnte
also die vielverbreitete Kompilation ohne weiteres als die direkte
Vorlage des Meisters ansehen, wenn nicht eine chronologische Schwierig-
keit im Wege stünde: Der Meistergesang ist vom 25. Juli 1545 datiert
und der II. Band der Convivales Sermones erschien erst 1 548. Dafs
der gelehrte Gast den Meistergesang des Nürnberger Schuhmachers
etwa gekannt und nachgeahmt habe, ist wohl nicht anzunehmen.
Aber Gast erfand nichts selber, seine Erzählungen sind gröfsten-
teils Excerpte aus älteren Werken. Soweit ich ihn mit seinen
Quellen vergleichen konnte, benutzte er sie fast immer wörtlich.
Und so darf man wohl die Vermutung aussprechen, dafs die oben
abgedruckte lateinische Erzählung dem Sachs entweder aus Gasts
eigener Vorlage oder durch eine mündliche Nacherzählung derselben
bekannt worden war. Welche von diesen beiden Annahmen mehr
für sich habe, läfst sich an dieser Stelle nicht entscheiden. Denn die
Frage, ob Sachs so viel Latein verstand, um einen in dieser Sprache
geschriebenen Schwank lesen zu können, läfst sich vorerst weder
verneinen noch bejahen. Es giebt wohl einige lateinische Schriften,
von denen deutsche Übersetzungen fehlen und die Sachs gleichwohl
benutzt zu haben scheint, allein wenn keine Übersetzungen mehr vor-
handen sind, so konnten doch einmal welche vorhanden gewesen
sein. Und anderseits hatte Sachs gewifs Verkehr mit Leuten, die
mehr Latein als er verstanden und aus deren Munde der wifsbegierige
Meister gar manchen Witz, gar manchen Schwank vernommen haben
mochte. Kurz, wir kommen vorläufig über die Hypothese nicht
hinaus.
IL Des Schäfers Wahrzeichen.
Dieser Schwank findet sich, wie ich in meiner oben erwähnten
Arbeit (S. 189) gezeigt habe, bereits in den Facetien des Piovano
Arlotto. (Ausg. Ven. 1516: Sign. L 4a), Obwohl ich es für möglich
hielt, dafs H. Sachs den italienischen Schwank mittelbar kannte, so
sprach ich doch die Vermutung (1. c.) aus, dafs er auch den StoflF
ZUchr. f. vgl. Litt.-Ge«ch. N. F. VlII. 17
256 A. Ludwig Stiefel. 4,
auf irgend eine andere Weise kennen gelernt haben konnte. Idi
sagte dort unter anderem: ^ich glaube mich zu erinnern, eine Sltere
deutsche Version irgendwo gelesen zu haben, die H. Sachs näher
stand als der italienische Schwank^. Inzwischen habe ich, zwar nicht
diese deutsche, aber eine lateinische Darstellung der Fabel gefunden,
die Sachs in mancher Hinsicht näher kommt als Arlotto, ohne indes
ganz mit ihm übereinzustimmen. Sie findet sich in den bereits 1538
gedruckten »Fabulae Aesopicae« des Joachim Camerarius. Mir liegt
die unten*) beschriebene Ausgabe vor, in welcher unsere Erzählung
als die 408. Fabula auf Sign. V3 unter dem Titel „Pastoris
Memoria" zu finden ist. Ich gebe sie hier ganz wieder:
Profecturum uillae cuiufdam dominum in urbem opulentam longius,
negotiorum fuorum gratia, orabat uxor, monile fibi ut aureolum
afFeret. Orabat filia, ut ueftem apportaret, etiam ancillulae, ut reticula
emeret. Tum pastor accedit, numosque in crumenula tradit hero,
& ut fistulam fibi mercetur rogat. Rebus perfectis, quas ob res in
urbem illam uentum erat, cum reditum ifte ad fuos appararet, dum
farcinas infpicit, forte crumenulam acceptam a pastore reperit. Ibi ,
recordatus petitionis huius, fistulam emit, & pastori paulo post {
reuersus domum eam dari iubet. Vxor igitur & filia in primis, fed
& ancillulae fperare atque pofcere fua. Cum uero diceret hic^ fibi
excidiiTe quid quaeque uoluifTet curari fibi, & omnino illarum emptionum
oblitum fuifie, indignari mulieres & molefte ferre, pastoris mandata
potiora eum habuifle fuis. Tum paterfamilias: Nolite mirari neque
irafci, inquit, Pastoris enim meinoria me in crumenula profecuta fuit.
Fabula docet, gratuito operam qui dent alijs, nonnullos, fed largiri
qui uelint, & de fua etiam pecunia effe liberales, paucos reperiri.
Itaque & Sueuicum prouerbium est, Pastoris memoria, („defs |
SchefFers jvortzeichen") cum impendia recufantur.
Die Ähnlichkeit dieser Darstellung mit derjenigen des H. Sachs
gegenüber dem italienischen Schwank besteht in dem charakteristischen
Zug, dafs in jenen beiden ein Schäfer Geld zum Einkauf einer Pfeife
hergiebt und dafs dessen Auftrag allein besorgt wird, während die
anderen Aufträge, weil ohne Vorschufs, unbesorgt bleiben. Hierzu
kommt noch der verwandte Titel und die sprichwörtliche Bedeutung
die „des schefFers warzeichn" (Wortzeichen?) (Pastoris memoria) bei
Sachs und Camerarius in der Schlufsmoral beigelegt wird.
Aber bei Camerarius fehlt, was wiederum Sachs und Arlotto
gemeinsam ist: das Aufschreiben der Aufträge auf Zettel und deren
Verwehen während der Wasserreise durch den Wind, mit Ausnahme
desjenigen bezw. derjenigen, die durch Geld beschwert gewesen.
'*) FABV i LAB AESOPI | lAM DENVO MUL | to emendatius quam | ant«a
aeditae, | Authore Joachimo Camera | rio Pabergenfi. | Catalogum indicabit pagina ( uerfa. {
Norimbergae apud GBORGIUM VVachterum. s. a. — . Da diese Ausgabe weniger Fabeln
als die 1542 zu Tübingen gedruckte enthält, so wird sie wohl eine der ersten Ausgaben
sein.
über die Quelle der Turandot-Dichtung Heinz des Kellners. 267
Bei Camerarius sind es die nächsten Angehörigen des Mannes, bei
Sachs und Arlotto Nachbaren oder Freunde, deren Aufträge nicht
ausgeführt werden.
Und so erscheint die Annahme gerechtfertigt, dafs Sachs für
diesen Schwank, wie für so viele andere mehrere Vorlagen hatte.
Er kannte, wiederum entweder aus dem Original oder durch eine
mündliche Nacherzählung, die Fabel des Camerarius und dann noch
eine zweite dem Arlotto nahekommende Darstellung, welche beide er
in seiner Frzählung verschmolz.
Nürnberg.
-•••
Über die Quelle der
Turandot-Dichtung Heinz des Kellners.
Von
A. Ludwig Stiefel.
Unter den poetischen Denkmälern des deutschen Mittelalters können
meines Erachtens die kleinen Erzählungen ein höheres Interesse
beanspruchen, als ihnen bisher zu teil geworden ist. Getreuer als
irgendwo sonst, getreuer namentlich als in den Helden- und Ritter-
dichtungen spiegelt sich in ihnen der wahre Charakter der Zeit, schärfer
als anderswo zeigt sich in ihnen die Eigenart der Nation; und so
bieten sie, auch abgesehen von ihrer Eigenschaft als Dichtungen, dem
Kulturhistoriker ein kostbares Material zu seinen Studien. Allerdings
ist es dann nötig, die Dichtungen auf ihre Quellen hin zu untersuchen,
um die einheimischen Elemente — die Fabeln gingen selbst im
Mittelalter ungemein schnell von Volk zu Volk — von den fremden
zu scheiden.
In der schönen Sammlung, die von der Hagen von derartigen
Erzählungen veranstaltet hat*), ist von dem kenntnisreichen Herausgeber
schon Vieles in dieser Hinsicht geschehen und Andere (wie R. Köhler
und F. Liebrecht) haben seine Arbeit seitdem ergänzt. Von der Hagen
hat nachgewiesen, dafs ein sehr erheblicher Teil der von ihm ge-
*) Gesammtabeoteuer etc. Stuttgart und Tübingen 185O1 3 Bde.
17*
1258 A. Ludwig Stiefel.
sammelten poetischen Erzählungen gallischen Ursprungs ist*), und
dafs dieselben gprofsenteils in uns noch erhaltenen Fabliaux entweder
ihre direkte Vorlage oder nahestehende Parallelen haben. Ich be-
absichtige mit den nachfolgenden Zeilen einen kleinen Beitrag zu diesen
Nachweisungen zu geben.
Eines der seltsamsten und durch seine Beziehungen zum Morgen-
lande beachtenswertesten dieser kleinen Gedichte ist das von dem
Herausgeber mit Turandot bezeichnete Heinz des Kellners (abgedr. bei
von der Hagen lU, S. 179 — 185 und in Lafsbergs »Liedersaal« No. 73).
Von der Hagen hat in seinen Nachweisungen (III. Bd., p. LXI) auf
persische Erzählungen, darunter auf die durch Gozzi und Schiller be-
kannt gewordene von Kalaf und Turandot, ferner auf »Gesta Rom.c
C. 70 bezw. 60 und auf ein Walachenmärchen verwiesen. Woher
dem deutschen Dichter des 14. Jahrhunderts der Stoff zugeflossen, ist
ihm nicht zu ermitteln geglückt. Die Erzählung kam aber, wie die
meisten anderen von unseren Nachbarn jenseits des Rheins. Um das
zu beweisen kann ich zwar nicht ein altfranzösisches Gedicht vorlegen,
wohl aber eine Prosa-Erzählung des 16. Jahrhunderts, die offenbar
auf ein Fabliau zurückgeht. Dafs solche, selbst noch verhältnismäfsig
späte Erzählungen wirklich direkt auf Fabliaux zurückgeleitet werden
müssen, beweisen die meisten Novellen der »Cent Nouvelles«, die
»Nouvelles Recreations et joyeux devis« des Des Periers, das iHepta-
meron« der Königin von Navarra u. a. Selbst im 17. Jahrhundert be-
gegnen wir nicht selten derartigen Schwänken. Ich begnüge mich,
auf ein Beispiel hinzuweisen: Der anonyme „Threfor des Recrea-
tions'***) (zuerst gedruckt 1605) enthält (in der mir vorliegenden
Ausgabe von Rouen, Jean Osmont 161 1 auf S. 210) eine Erzählung,
betitelt „Bonne et facille Maniere pour arracher les dents". Es ist
dies nur eine Wiedergabe des alten Fabliau „De la Dent" (Barbazan-
Meon I, p. 159 — 164). Und so dürfte es sich wohl auch mit der Er-
zählung verhalten, die ich hier im Auge habe. Sie findet sich in einer
Schwanksammlung, welche unter dem Namen »Les Escraignes Diion-
noises« (Recueillies par le Sieur des Accords) dem eigenartigen Buche
des Verfassers »Les Bigarrvres du Seigneur des Accords« beigegeben
ist. Estienne Tabourot von Dijon***), der Verfasser dieser Bücher, liefs
die Bigarrures, d. h. einen Teil davon, 1582 erscheinen. „Les Escraignes"
fallen etwas später und dürften zwischen 1585 und 1590 — im letzteren
Jahre starb Tabourot — zuerst herausgekommen sein. Alle Schwanke
und Scherze Tabourots tragen echt volkstümlichen Charakter, be-
*) So z. B. bei No. 2, 3, 5, 6, 10, 11, 13, 14, 17, 35, 30, 35, 41, 45, 47, 54, 55,
61, 62, 67, 68, 73, 74, 76, 81, 83, 85» 86.
**) Thresor des Recreations contenant Histoires fac^tieuses et honnestes propos
plaisans & pleins de gaillardises, faicts et tours ioyeux etc. Le tout tire de diuers
Auteurs trop foameux. Duay Balth. Beilere 1605, pet in za*. Weitere Ausgaben:
Douay 161 6, Rouen, Romain de Beauvais 1611, Rouen de la Marre 1627, 1630, Reuen
D. Ferrand 1637.
***) Über ihn und seine Werke verweise ich auf Goujet Bibl. Pran9. Bd. 13, S. 364 fi^
Ober die Quelle der Turandot-Dichtung Heinz des Kellners. 259
sonders gilt dies von den „Escraignes" *), die wir am besten durch
Rockenstubengeschichten bezeichnen können. Eine dieser Geschichten
(die 41.), die, nach Annahme des Dichters, zu Dijon von armen Winzern
in einer Art von Spinn- oder Rockenstube (escraigne) erzählt werden,
lautet mit Hinweglassung der einleitenden Worte folgendermafsen **) :
„II y auoit en ce pays de France vn grand feigneur qui n'auoit
quVne feule fille, que Nature auoit doiiee de grande beaute & bonte
d'entendement, laquelle il prit plaiiir de faire inftruire. En quoy eile
prollta fi bien qu'elle fut la plus fine, accorte & mieux difante
Damoifelle qu'il eftoit poffible. Ses perfections furent caufe qu'elle
fiit souhaitee en mariage par plufieurs grands feigneurs. Mais eile
ne prenant plaisir que de contenter fon efprit a la lecture, auoit tou-
siours banny Amour de fon coeur, tellement que fes pere & mere
ne luy peurent perfuader d*accepter condition par mariage auec quel-
quVn. En fin, comme ils deuenoient vieux ils la folliciterent fort,
voire menacerent de defsobeyffance, fi eile ne condefcendoit a leurs
volontez: Comment, difent-ils, eft-ce la fecompenfe que tu nous donnes,
du foucy que nous auons pris a te faire efleuer & inftruire? II euft
mieux valu que nous t'euflions laiflee toute rüde & impolie, comme
Nature t'auoit forgee, que d'eftre maintenant caufe de voir tous nos
biens & cheuances cheoir en autre maifon que la noftre. Cefte
Demoifelle s'attendrit le coeur, de pitie qu'elle eut de voir ainsi fes
pere & mere parier, & fe lettant a genoux, dit qu'elle feroit tout ce
qu'ils voudroient pourueu qu'ils luy accordassent vne requefte, qu'ils
trouueraient fort iuste, qui eftoit qu'elle ne fuft donnee, finon a celuy
qui la pourroit rendre confufe en difpute; car, difoit-elle, ce feroit vne
chofe mal appariee, que de me loger auec quelque badaut, fous couleur
•) Escraigne, heute ecraigne (von Schranne?) wird von Tabourot folgender-
mafsen erklärt, bezw. geschildert: „En tovt le pays de Bourgongne mesmes es bonnes
villes, ä cause qu^elles sont peuplees de beaucoup de pauures vignerons qui n'on pas
le moyen d*achepter du bois pour se deffendre de Tiniure de THyver . . . la necessitp . .
a appris cefte inuention de faire en quelque ru£ escartee vn taudis, ou bastiment compos^
de plusieurs perches lichtes en terre en forme ronde, repliees par le dessus, & a la
sommite, en belle sorte qu'elles representent la teftiere d*vn chapeäu, lequel apres on re-
couvre de force motes, gazons & liimier, si bien li^ & mesle que Teau ne le peut penetrer.
En ce taudis entre deux perches du cost^ quMl est le plus d^fendu des vents, Ton laisse
vne petite ouuerture de largeur parauenture d*vn pied & hauteur de deux, pour feruir
d^entree .... La ordinairement les apres fouppees s^afTem bleut les plus bell es filles
de ces vignerons auec leurs quenouilles & autres ouurages & y fönt la veilMe iusques
a la minuit .... Cbacun an apres THyuer on la rompt (sc. TEscraigne) & au com-
mencement de Tautre Hyuer on la rebatift. L'on Tappelle en Tuscan de Bourgongne
vne Escraigne (folgt die Ableitung von scrinium) . . . a telles aftembl^es de filles se
trouve vne infinit^ de ieunes varlots & amoureux que Ton appelle autrement des Voueurs
qui y vont pour defcouvrir le secret de leurs penfi^es a leur amoureuses.**
**) Mir liegt folgende Ausgabe vor : Les | Bigarrvres | Dv Seignevr Des Accords: '
De la demiere main de l'Autheur etc. 1 A. Paris | Par Clavde de Montr*oeil | et Jean
Richer | 1595 Auec privilege du Roy. Das Buch enthält mit eigenem Titelbl. und Pagi-
nierung I. Premier livre des Bigarr., 2. Le Quatriesme des Bigarr., 3. Die Apophthegmes
du Sr. Gaulard und 4. Les Escraignes Düonnoises. Über die zahlreichen Ausgaben ver^
gleiche Bninet.
860 A. Ludwig Stiefel.
des grands bien qu'il auroit dont Dieu grace vous en auez competem-
ment pour vous & pour moy. Cefte requefte luy fut facilement octroyee
ä fon contentement, eftimant que par ce moyen eile n'entreroit iamais
au Heu de mariage, ä caufe qu'elle s'affe roit bien de confondre tous
ceux qui fe prefenteroient ä eile. Suyvant ces conditions les pere et
mere firent incontinent publier que quiconque de quelque eftat &
qualite qu'il fuft, pourroit confondre leur fille en difpute, il Tauroit
a femme, & affignerent iour de la difpute au premier de May fuyuant,
en vn beau lieu auquel ils firent conftruire vn bei efchaiFaut oü eftoit
pose le fiege de cefte Damoifelle & de deux des premiers hommes
de robbe longue pour eftre iuges equitables, & conferuateurs, de la
difpute. Ce bruit efpanche incontinent par tout, enflamba le coeur
de plufieurs personnes, de fe trouuer a Taffignation, les vns pour
efperance de gaigner ce beau pris, les autres pour voir la belle
affemblee qui y feroit. Entre autres il prit volonte a vn homme de
vUlage, nomme Jean de Paigney, de s*y trouuer, et d*autant qu'il eftoit
loing du lieu, il prit au partir de fa maifon vne bouteille de vin, vn
bon morceau de pain, & demie douzaine d'oeufs. II fait tant qu*il
arriua le foir au lieu, oü le lendemain matin fe deuoit faire la difpute,
& mangea la moitie de fa prouifion, referuant Tautre pour le lendemaio,
auquel il ne faillit de fe rendre für la place de grand matin, oü in-
continent arriuerent plusieurs danoies & feigneurs, lefquels s'efprou-
uerent tous les vns apres les autres, mais ils n'y gaignerent rien. Les
disputes continuerent tout le iour. Cependant Jean de Paigney fut
contraint de lafcher le ventre & pour crainte de perdre fa place,
s'abaifla & s'accroupit en bas, faifant fon prefent en son chappeau,
leqüel apres il remit fous fon bras. En fin, comme chacun fe retiroit,
parce que le Soleil commen^oit ä decliner & que Ton voyoit ce bon-
homme tenir coup, il y eut quelquVn qui par rifee commen^a ä dire:
Poffible que ce bon compagnon veut difputer. Pourquoy non, dit-il?
Lors Ton luy fait largue, & s*approchant de cefte Damoifelle, qui eftoit
efchauffee de la dispute, apres l'auoir faluee gracieufement luy dit,
Pardey madamoifelle, vous eftes bien rouge. Ouy, dit-elle i'ay le feu
au cul. Lors il fe fouuient de fes trois oeufs qu*il auoit encores, et
les tirant de fa poche, les luy prefente, la priant de les luy faire cuire
pour fon foupper. Cefte Damoifelle refpond foudain : C'eft bien chic!
Ce bon-homme prend fon chappeau, & luy dit, En voylä madamoifeUe.
A ce prefent eile fe trouua fi eftonnee qu'elle ne peut refpondre, qui
fut caufe qu'elle fut adiugee audit Jean de Paigney a femme, qui de
pauure homme deuint g^and feigneur".
Diese derbe Erzählung mit der fast noch derberen altdeutschen
verglichen, ergiebt freilich, bei aller Übereinstimmung, die namentlich
am Schlüsse stark hervortritt, eine Anzahl gröfserer und kleinerer
Verschiedenheiten, die sich aber meist durch den verschiedenen Zeit-
geschmack und die verschiedene Auffassung der Erzähler erklären
lassen. Bei Heinz dem Kellner stehen wir völlig auf dem Boden des
Märchen^. Tabourot, der Parteigänger der Liga, der Sohn einer
Ober die Quelle der Turandot-Dichtung Heinz des Kellners. 261
nüchternen Zeit^ rückte die Erzählung mehr in die Atmosphäre des
alltäglichen Lebens. Damit mufsten alle märchenhaften Bestandteile
bei ihm ausscheiden. Ist die Heldin bei Heinz eine Königstochter,
so ist sie bei Tabourot nur hoher Adeligen Kind. Infolgedessen mufste
auch die blutige Behandlung der unglücklichen Freier hinwegfallen;
dann war es aber nicht nötig das Preisdisputieren als eine sich seit
langer Zeit stetig wiederholende Handlung hinzustellen und der jüngere
Darsteller konnte, um seine Erzählung zu vereinfachen, sich mit einem
einzigen Disput begnügen. Selbstverständlich war auch die blutige
Episode mit dem „Junkher** überflüssig und der Dörfler, der sich bei
Heinz diesem Junkher als schreiender Gegensatz anschliefst, mufste
eine leichte Umgestaltung erfahren. Die noch übrigen kleinen Ab-
weichungen so z. B. das Fehlen des „egften zan" bei dem Franzosen
und die damit verknüpfte Verringerung der drei Reden auf zwei, und
andere ähnliche Kleinigkeiten fallen wenig ins Gewicht. Nur ein
Unterschied ist noch zu erwähnen; Der Franzose ist breit in seiner
Einleitung und schildert uns namentlich das Wesen der Heldin und
ihr Verhältnis zu ihren Eltern näher, während der Deutsche gleich in
medias res eilt. Vielleicht schliefst sich aber Tabourot hierin dem
alten Fabliau an, von dem sich Heinz mehr ferne hält. Es ist in der
Tat nicht zu leugnen, dafs das altdeutsche Gedicht besonders am
An&ng den Eindruck macht, als ob es eine ausfuhrlichere Vorlage
gekürzt wiedergebe.
Alles dies zusammengenommen, glaube ich, dafs Tabourots Spinn-
stubenerzählung direkt oder indirekt auf die gleiche Quelle zurückführt,
welche der deutsche Dichter des 14. Jahrhunderts benutzt hat.
Ein ganz analoges Verhältnis bietet — und dies ist gewisser-
mafsen eine Bestätigung meiner Vermutung — eine Novelle des Des
Periers (die 64., betitelt „De Tenfant de Paris qui fit le fol pour jouyr
de la jeune vefve et comment eile, se voulant railler de luy, re9ut
une plu«i grand' honte"*) zu der Erzählung „Diu halbe bir" Konrads
von Würzburg (Von der Hagen »Gesammtabent.« No. 10 Bd. I, S. 207 ff.).
Auch hier ist, was der deutsche Dichter von einer Königstochter be-
richtet, bei dem Franzosen des 16. Jahrhunderts in eine weit niedrere
Sphäre« hier sogar in rein bürgerliche Verhältnisse übertragen. Die
Abweichungen zwischen den beiden Versionen sind womöglich noch
gröfser, als bei der obigen Fabel und doch haben beide offenbar ein
Fabliau zur gemeinsamen Vorlage gehabt: Vermutete ja schon von
der Hagen (I. B. praef. CXVI) von Konrads Gedicht: „Die ganze
herbe Anlage und nackte Darstellung stimmt zu den fabliaux et
CO nies und weiset auf Wälsches Vorbüd".
Nürnberg.
BESPRECHUNGEN.
-*••-
VICTOR ZEIDLER: Die Quellen von Rudolfs von Ems Wühebn
Eine kritische Studie, Berlin und Weimar, Verlag von Emil Felber,
i8p4. 3S6 S. S^.
Von Rudolfs von Ems Dichtungen sind bekanntlich nur zwei
yollständigf herausgegeben. Von den anderen kennen wir nur die
Überlieferungen, teils mehr oder minder vollständige Handschriften,
teils zahlreiche Bruchstücke, sowie eine Reihe von gröfseren . und
kleineren Auszügen und Proben. Ohne Zweifel hat es immer etwas
Mifsliches, Untersuchungen an unedirte Werke anzuknüpfen, und
dennoch haben sich manche Forscher nicht abhalten lassen, auch den
noch ungedruckten Epen Rudolfs ihren Fleifs zu widmen. So hat
uns Vilmar die bekannte wichtige ergebnisreiche Abhandlung über
die Weltchronik geschenkt, der sich weitere Untersuchungen und Mit-
teilungen von Karl Schröder und von J. Zacher und Hegel anschlössen.
Doberentz behandelte die Länder- und Völkerkunde in dieser Chronik.
Der Alexander reizte, was sehr nahe lag, mehrfach zu Quellenunter-
suchungen an: Ausfeld (1883) und O. Zingerle (1885) sind dieser
wichtigen Frage nachgegangen, und ihnen folgten mehrere Gelehrte,
vor allen Kinzel und Toischer.
Nun ist endlich auch Rudolfs Wilhelm nach seinen Quellen unter-
sucht worden. Ich gestehe, dafs ich die vorliegende „kritische Studie"
Dr. Victor Zeidlers mit einer gewissen Spannung zur Hand genommen
habe. Denn hier mufste doch die in den Litteraturgeschichten öfter
vorgebrachte, aber unerwiesene Meinung, dafs der Held des Gedichtes
auf Wilhelm den Eroberer zurückgehe, zum Austrag gebracht und
endgültig entschieden werden. Zwar konnte man aus der zweiten
Auflage von Goedekes Grundrifs vom Jahre 1884 entnehmen, dafs
jene Meinung nur eine der bekannten Vermutungen war, wie sie öfters
auftauchen und in den Büchern fortgeschleppt werden. Während
Goedeke in der ersten Auflage vom Jahre 1859 Wilhelm den Eroberer
namhaft macht, übergeht er ihn in der zweiten mit Stillschweigen.
In der ersten war mit ein paar Worten der Inhalt skizziert, in der
zweiten fügte er eine höchst willkommene längere Inhaltsangabe ^nach
Uhlands bisher ungedruckter Analyse der ungedruckten Dichtung**
hinzu, die gar keine historischen Beziehungen zu Wilhelm den Eroberer
erkennen läfst.
Ganz im Einklänge mit dieser Beobachtung steht ein Satz in
Dr. Zeidlers Vorwort: „. . . ich hoffe durch meine Arbeit endgültig
die Behauptung, dafs die Gestalt des Helden unserer Dichtung auf
Wilhelm den Eroberer zurückweise, als vollständig unrichtig dargetan
zu haben".
Eine andere Stelle im Vorworte erregt aber Bedenken. Wenn
der Verfasser sagt, dafs er hinsichtlich des in der Untersuchung heran-
zuziehenden Textes des deutschen Gedichtes im wesentlichen der
Bonner Pergamenthandschrift (No. 5, S. 125 bei Goedeke) gefolgt sei,
BesprechuBgea. 268
„die allerdings sehr weit vom Original abstehe", da er zur Zeit von
ihr allein eine vollständige Abschrift, von den übrigen Handschriften
nur Kollationen besitze, so hätte er uns genauer wissen lassen sollen,
wie dies „weite Abstehen" vom Original aufzufassen sei. Bezieht es
sich auf die Form, auf das Sprachliche und Metrische, dann hätte es
nichts weiter auf sich, zumal die Bonner Handschrift noch aus dem
14. Jahrhundert stammt und nicht erst, wie so manche andere, dem
15. Jahrhundert angehört. Steht aber die Bonner Handschrift stofflich,
in ihrem Textbestande, weit vom Originale ab, dann wäre sie über-
haupt für eine Quellenuntersuchung unbrauchbar, dann hätte Herr
Zeidler eine andere Wahl treffen müssen.
Der Verfasser hat es verschmäht, seine Leser durch eine orien-
tierende Einleitung auf die Untersuchung vorzubereiten. Er fallt so
zu sagen gleich mit der Türe ins Haus hinein. Es folgt gleich auf
das Vorwort die Überschrift des §. i „Inhaltsangabe von Philipps
dje Remi afr. Epos, Jehan et Blonde" mit der Begründung, dals
der Zweck der nachfolgenden Untersuchung es fordere, eine genauere
Inhaltsangabe des altfr. Epos „Jehan et Blonde" von Philippe de Remi
Sire de Beaumanoir (ed. Hermann Suchier societe des anciens textes
Fran^ais n)*) vorauszuschicken. Hier ahnt natürlich jeder Leser so-
fort, dafs das genannte Epos Philipps de Remi oder Philipps de
Beaumanoir die Quelle oder eine Quelle für Rudolf von Ems gewesen
ist oder gewesen sein soll. Und das spricht der Verfasser auch gleich
zu Anfang des folgenden Paragraphen aussdrücklich aus.
Erwünscht wäre für das erste Kapitel auch eine Einleitung
gewesen. Wer ist denn dieser Philippe? In welche Zeit gehört er,
wer ist er, welchem Meister folgt er, in welchem Dialekte schreibt
er? Wo hat er seinerseits den Stoff her, was ist für ihn die Quelle?
Der Verfasser hat doch ohne Zweifel sein Buch vorzugsweise für
Germanisten bestimmt, von denen heutzutage bekanntlich nur wenige
zugleich Romanisten sind. Glaubt er, dafs diese seine Leser alle von
Philippe und seiner Erzählung wissen und dafs sie alle gleich Suchiers
Ausgabe zur Hand haben? Dann irrt er sich. Spezifischen Romanisten
natürlich brauchte er nicht mit Belehrungen entgegenzukommen. Diese
werden hinlänglich über Philippe de Beaumanoir, den Dichter und
Juristen unterrichtet sein.
Die Inhaltsangabe, die uns Herr Zeidler bietet, ist dankbar hinzu-
nehmen. Leider ist sie recht unübersichtlich gehalten; der Verfasser
macht niemals einen Absatz; und diese typographische Atemlosigkcit
geht durch das ganze Buch. Nur wenn Textstellen in kleinerem
Antiquadrucke und in Versen abgesetzt mitgeteilt werden — meist
werden sie cursiv gedruckt in die Zeile gestellt — kommt etwas Ab-
wechselung in das öde Einerlei.
Vergleichen wir nun den Inhalt der beiden Erzählungen von
Philippe und von Rudolf, so kommen uns Zweifel, ob der Verfasser
der vorliegenden Untersuchung auf dem rechten oder auf dem falschen
*) Dies soll wohl heilsen 11, d. h. im zweiten Bande.
264 Besprechuogen.
Wege sei. Die beiden Erzählungen stimmen ja allerdings in einzelnen
Zügen und Motiven überein, im Ganzen aber weichen sie doch auch
beträchtlich von einander ab. Der Verfasser aber hält sich krampfhaft
an die Übereinstimmungen und will durchaus beweisen, dafs Rudolt
gerade dieser Erzählung der altfranzösischen Dichter gefolgt sei. Ja
er spricht S. 300 es offen aus, Philipps Werk sei die „direkte" Vor-
lage Rudolfs gewesen, „mit andern Worten, die Vorlage Rudolfs sei
nicht eine Bearbeitung des französischen Gedichts" gewesen.
Es tut mir aufrichtig leid, dieser Siegesgewifsheit einen Dämpfer
aufsetzen zu müssen. Ich werde zeigen, dafs Philipps Erzählung un-
möglich das Vorbild für Rudolfs Wilhelm gewesen sein kann. Hätte
Herr Zeidler die von uns vermifste und gewünschte einleitende Belehrung
seinen germanistischen Lesern geboten, so wäre er wohl von selbst
auf die Widersinnigkeit seiner Beweisführung gekommen und hätte
seine ganze Schrift oder wenigstens die ersten Abschnitte, sowie die
späteren, soweit sie auch von Philippe handeln, unterdrückt. Oder
er hätte sie ganz anders fassen, ein ganz anderes Buch schreiben müssen.
Wufste Herr Zeidler denn nicht, zu welcher Zeit Rudolf von Ems
lebte und dichtete, und in welche Zeit sein Wilhelm gesetzt wird? Er
gehört doch in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts. Ganz genau
läfst sich die Abfassungszeit des Wilhelm zwar nicht bestimmen, aber
sorgsame Forschung hat es doch erwiesen, dafs das Gedicht im An-
fang der dreifsiger Jahre geschaffen worden ist. Und nun halte man
Philippe de Beaumanoir und seine dichterische Wirksamkeit entgegen!
Er ist nicht unbeträchtlich jünger als der deutsche Dichter; sein
Jehan et Blonde oder, wie der Roman auch genannt wird, seine
Blonde d*Oxford wird um das Jahr 1270 gesetzt! Mit dieser nüchternen
Erwägung fallt die ganze Quellenforschung Zeidlers ins Wasser.
Schade, recht schade um die eifrige Bemühung! Das kommt aber
von der Oberflächlichkeit!*) Was nützt aller philologische Kleinkram,
wenn man nicht litterarhistorisch zu denken weifs?
Oder hat der Verfasser um alle diese Zeitbestimmungen gewufst
und hat er an ihre Unversöhnlichkeit nicht geglaubt? Dann wäre es
doch seine unabweisbare Pflicht gewesen, zunächst, ehe er an die
Vergleichung der beiden Dichtungen ging^ den Irrtum der germa-
nistischen wie der romanistischen Forschung nachzuweisen; nachzu-
weisen, dafs Philippe der ältere, Rudolf der jüngere Dichter sei. Das
aber würde ihm verzweifelt schwer geworden sein.
Vielleicht erleben wir es noch, dafs ein junger Doktorant, der
gleich Herrn Dr. Zeidler sich auf beiden philologischen Gebieten
bewegt, sozusagen den Spiefs umdreht und mit Benutzung der vor-
liegenden kritischen Studie den Beweis zu fuhren sucht, dafs Rudolfs
von Ems Wilhelm die Quelle von Philipps de Remi Blonde gewesen
*) Diese unwissenschaftliche Oberflächlichkeit ist um so unbegreiflicher und un-
verzeihlicher, als Suchler, dessen Ausgabe Herr Zeidler zunächst bibliographisch anf&hit
und dann weiterhin im einzelnen ausgiebig benutzt, gleich auf S. VII. der Introdaktion
bemerkt: „Philippe est probablement n^ vers 1350*.
Besprechungen. 265
sei. Das wäre etwas Neues, noch nicht Dagewesenes! Ein Franzose
sucht sich bei einem deutschen Dichter den Stoff und das Vorbild zu
einer Erzählung! Ob ein solcher Versuch wohl in beiden Lagern auf
Zustimmung zu rechnen hätte?
Es verlohnt sich nicht, den als durchaus verfehlt erkannten ersten
Abschnitt des Zeidlerschen Buches und überhaupt seine Quellen-
untersuchung des Näheren zu betrachten. Nur das sei bemerkt, dafs
der Verfasser der Leichtgläubigkeit seiner Leser allzuviel zutraut.
Ich glaube kaum, selbst bei Voraussetzung der Möglichkeit seiner
Annahme^ dafs nur ein Leser sich völlig von seinen Ausfuhrungen
überzeugt fühlen wird.
Aber es handelt sich nicht allein um Philippe. Auf dem Titel
des Buches heifst es ja auch nicht „die Quelle", sondern „die Quellen".
Was sind es denn nun für andere Quellen, die Rudolf aufserdem be-
nutzt hat? Sind es auch französische? Nein, es sind deutsche. Wir
werden im Laufe der weiteren Untersuchung unterrichtet vom „Ein-
flufs" der Parzivalbücher auf die Turnierschilderung, vom „Einflufs"
von Hartmanns Gregorius auf die Episode vom Schiffmann; von
weiteren „Einflüssen" des Nibelungenliedes, des ersten und dritten
Parzivalbuches, des Erec, des Tristan, der Eneide, des Titurel, der
Kudrun, nochmals des Gregorius. Auch das Eckenlied und der
Wallaere des Heinrich von Linouwe haben den Dichter angeregt.
Alles, was hier Herr Zeidler vorbringt, ist sehr fleifsig und tüchtig,
lehrreich und anziehend. Er führt uns in die Werkstatt nicht allein
Rudolfs von Ems, sondern überhaupt in die eines mittelhochdeutschen
Dichters der Epigonenzeit. Wenn er von „Einflüssen" redet, so trifft
dies durchaus zu. Aber er sollte jene einflufsreichen Dichtungen nicht
„Quellen" nennen. Es sind keine Quellen, höchstens Vorbilder. Wir
haben bewufste und gewifs zum Teil auch unbewufste Verwertungen
vor uns, Reminiscenzen, die einem litterarisch gebildeten Mann wie
Rudolf von Ems haufenweise in Kopf und Feder kommen mufsten,
und die er anbrachte, wo sich ihm Gelegenheit bot.
Die Frage nach der eigentlichen Quelle für Rudolfs Wilhelm, die
allerdings wahrscheinlich in einem französischen Gedichte zu suchen
sein wird, ist, wie wir gezeigt haben, durch die neue Schrift Herrn
Zeidlers nicht gelöst. Zu einem Teile ist sein Buch völlig überflüssig,
zum andern verdient es Lob und Anerkennung. Insofern ist es eine
geradezu kuriose Erscheinung.
Wenn eine grofse Menge Stellen im Wilhelm mit Philipps Blonde
übereinstimmen, so liegt es nahe, eine gemeinsame ältere Quelle an-
zunehmen. Aber wo ist diese? Das zu erweisen wäre eine Aufgabe
für einen Kenner der internationalen Sagenlitteratur.
Schliefslich komme ich nochmals auf des Verfassers Vorwort
zurück. In ihm finden wir eine Andeutung erfreulicher Natur. Herr
Zeidler weist leise hin auf seine spätere Textausgabe des Wilhelm.
Lange haben wir auf eine solche gewartet. Bekanntlich ging Franz
Pfeiffer mit dem Plane um, das Gedicht herauszugeben; er starb aber,
ehe er zur Ausfuhrung gelangte. Dann glaubte man, Bartsch würde
266 Besprechungen.
mit Benutzung des Pfeifferschen Nachlasses diese Aufgabe lösen.
Aber auch er gelangte nicht dazu. Wenn nun Herr Dr. Zeidler
Hand anlegen will, so wünschen wir ihm, dafs er sich, wenn es nicht
schon geschehen ist, in den Besitz der Vorarbeiten Pfeiffers setzen
möge. Wir zweifeln nicht, dafs er uns eine gute Ausgabe bringen
werde. In der künftigen Einleitung von dieser Ausgabe möge er aber,
wenn er auf die Quellen zu sprechen kommt, ums Himmelswillen den
guten Philippe de Beaumanoir und seine Blonde aus dem Spiele
lassen! Sonst wird ihm sein fataler Irrtum aufs neue und für alle Zeiten
vorgerückt!
Rostock. Reinhold Bechstein. (f)
Bibliothek älterer deutscher Übersetzungen. Herausgegeben von August
Sauer, L Die schone Magelone. Weimar, Verlag von Emil JFelber,
1894, LXVII, 87 Seiten, kl. 8.
mm
Auf dies erste Heft der „Bibliothek deutscher Über-
setzungen", welche die wichtigsten deutschen Übersetzungen vom
14. bis zum 19. Jahrhundert, zunächst aber die ältesten Übersetzungen
aus den Kreisen der deutschen Humanisten und die Grundlagen der
Volksbücher enthalten soll, ist bereits S. 142 hingewiesen worden.
Das Heft enthält die von Veit Warbeck 1527 aus dem Französischen
übersetzte, 1535 zuerstgedruckte Schöne Magelone, nach der Original-
handschrift in der herzogl. Bibliothek zu Gotha herausgegeben von
Johannes Bolte. Er konnte zu seiner Ausgabe auch das Original
Warbecks und eine französische mit einer lateinischen Interlinearversion
versehene Handschrift benutzen und hat mit seiner bei sechzig Seiten
starken Einleitung eine treffliche Arbeit geliefert.
In sieben Kapiteln behandelt er: I. Das französische Original und
seine Quellen, IL Die Verbreitung des französischen Romans, III. Veit
Warbecks Leben, IV. Die französische Litteratur am kursächsischen
Hofe, V. Warbecks „Schöne Magelone", VI. Die Nachwirkung von
Warbecks „Schöner Magelone" und VII. Die Bibliographie. Dem
Texte nach der Handschrift von 1527 folgen die Abweichungen des
ersten Drucks von 1535. Kapitel 3 und 4 enthalten viel Interessantes
zur Litteratur- und Kulturgeschichte des sechzehnten Jahrhunderts,
Kap. 5 ist speziell der Arbeit Warbecks gewidmet. Aus dem sechsten
Kapitel und der Bibliographie erfahren wir die ungewöhnlich grofse
Beliebtheit, deren sich sowohl das französische Original als die
Übersetzungen in die meisten europäischen Sprachen, selbst ins ^Neu-
griechische zu erfreuen hatten. Namentlich die Warbecksche Über-
setzung, aus der alles spezifisch Katholische entfernt ist, ward eines
der populärsten deutschen Volksbücher, und Bolte zählt nicht weniger
als sechzig Ausgaben von 1535 bis 1894 (!) auf*).
*) M. Steinschneider erwähnt in Serapeum (Bd. IX 1848 S. 330, 351, 364) drei
jüdisch-deutsche Erzählungen: „Historie von Ritter Sigmund und Magdalena, OfiFenbach
1717''; „Lied von Provenen mit der Tochter des Königs von England, FQrth 1698" und
Besprechungen. 267
Angesichts diese." Reichtums drängt sich freilich die Frage auf,
ob die neue Ausgabe Boltes wirklich so nötig war und ob es nicht
besser gewesen wäre die „Bibliothek" mit einer andern weniger ver-
breiteten Übersetzung zu eröffnen.
Aber wenn man auch den Neudruck des Textes nicht als not-
wendig betrachtet, wird man den litterarhistorischen Wert der Ein-
leitung Boltes und der Quellenforschung im ersten Kapitel die Aner-
kennung nicht versagen können. Freilich ist Bolte die letztere Arbeit
durch die von ihm citierten „Untersuchungen von F. H. v. d. Hagen,
W. v. Tettau, Alessandro d*Ancona, Giuseppe Rua u. a." sehr er-
leichtert worden.
Ich selbst habe über die Fabel der Magelone und ihre Bearbeitungen
in diesen Blättern in der Abhandlung über die „Verlobten" (Bd. V.
420 — 429) ziemlich ausführlich gehandelt, und Bolte, der ja auch viel
Neues hinzugefügt hat, konnte meine Arbeit benutzen und ergänzen.
Ich glaube daher nicht unbescheiden zu sein wenn ich annehme, dafs
unter den S. XII citierten „u. a." (mit kleinem a) auch meine Wenigkeit
neben anderen diis minorum gentium gemeint ist.
Dagegen hat er einmal, wo er mich mit Namen citierte, mich
mifsverstanden: S. XI sagt er nämlich: „Eine Stelle in Boccaccios
Decamerone 2, 7, auf die Landau (Zs. f vergleich. Littgesch. 5, 420)
hindeutet, ist schwerlich als eine Persiflage der Mageionensage aufzu-
fassen," Ich habe aber an der betreffenden Stelle nur von einer
„boshaften Anspielung auf die weit verbreitete Legende von der
verleumdeten und verfolgten Frau (Crescentia, Florentia u. s. w.)"
gesprochen, was doch etwas Anderes ist.
Aber solche kleine Fleckchen tun dem Wert von Boltes Arbeit
keinen Eintrag, und, wenn er auch keine älteren Quellen des fran-
zösischen Romans als die von mir bereits angeführten zu nennen weifs,
so hat er doch für dessen spätere Bearbeitungen und für die ver-
schiedenen Ausgestaltungen des ältest bekannten Grundstoffs viel,
zum grofsen Teil durch eigene Forschung gesammeltes Material bei-
gebracht.
Auch Sauers, in Form eines Widmungsbriefes an Professor Dr.
Michael Bernays gefafste Einleitung, in der er die Ziele und den
Nutzen der ganzen Sammlung auseinandersetzt, verdient eine „ehren-
volle Erwähnung". Es ist ein weites und hohes Ziel, das er seinem
Unternehmen gesetzt hat: Es soll eine Geschichte der deutschen
Ubersetzungskunst ^anbahnen und zugleich gewissermafsen eine Schule
für die künftigen Übersetzer bilden. Die Namen der von ihm ange-
worbenen Mitarbeiter bieten die Gewähr, dafs Gediegenes dem Publikum
geboten werden wird. Möge bei diesem auch die „Bibliothek" die
gute Aufnahme finden, die sie verdient und der sie zu gedeihlichem
Wachstum bedarf.
Wien. Marcus Landau.
„Lied von Ritter Siegmund und Magdalenn s. 1. u. a.**, welche vielleicht Bearbeitungen
der Magelone-Geschichte sein dürften.
908 Besprechungen.
KARL AMERSBACH: Aberglaube, Sage und Märchen bei Grimmek"
hausen, Baden- Baden, E. Kolbün, iSpijp^. 8a S, 4^.
In der Einleitung zu seiner Ausgabe des Simplicissimus g^ebt
Tittmann (S. LXII — LXVIII) eine Übersicht über die verschiedenen von
dem Verfasser des Romanes berührten Gebiete des Aberglaubens, indem
er zugleich auf die Bedeutung hinweist, die eine vollständige Sammlung
und Sichtung des Matedals für die Kulturgeschichte des deutschen
Volkes haben würde: ein Gedanke, der freilich schon vorher durch
Gustav Freytags Bilder aus der deutschen Vergangenheit (Ges. Werke,
Bd. 20, S. 64 — 99) nahe gelegt worden war. An diesen Gedanken
knüpft Amersbach in der vorliegenden Programmabhandlung an, zu
deren erstem Teile (1891, S. i — 32) nunmehr in fortlaufender Pagi-
nierung eine Fortsetzung erschienen ist, die den Gegenstand insoweit
abschliefst, als der Verfasser sich nur noch eine Besprechung über
jüdischen Aberglauben bei Grimmeishausen (ob als Programm, ist
nicht ersichtlich) vorbehält. — Hatte der erste Teil nach der die all-
gemeinen Gesichtspunkte aufstellenden Einleitung unter den Ober-
schriften „Der Teufel", „Geister und gespenstige (warum nicht ge-
spenstische?) Wesen" und „Zauberer und Hexen" eine Personalrevue
gegeben, nach der „dem Forscher, der die Ergebnisse in den g^ofsen
Zusammenhang der vergleichenden Sagenkunde rückt, allerdings noch
genug zu tun bleibt"*), so bietet der zweite Teil (S. 35 — 82) in den
zwei Hauptabschnitten „Der Zauber", „Die Wahrsagerei" eine weitere
„gründliche Zusammenstellung und Gruppierung", bei der es selbst-
verständlich nicht an häufigen Zurückweisungen und Wiederholungen
fehlt, die aber einen beträchtlichen Teil der von dem Jahresberichte
geforderten Arbeit in anerkennenswerter Weise leistet. Die in gleiche
Reihe mit jenen fünf Abschnitten gestellten Schlufskapitel „Die Al-
chemie", „Märchen und Sagen" — ^ eine etwas augenfälligere als die
nur durch den Druck angedeutete Übersicht wäre erwünscht gewesen
— füllen nur wenige Seiten, und das letztere namentlich läfst es fraglich
erscheinen, ob nicht eine kürzere Fassung des Titels dem Inhalte der
Abhandlung besser entsprochen hätte. Desto reicher ist die Fülle
des Stoffes, den der Verfasser teils aus den ausschliefslich oder doch
fast ausschliefslich den Aberglauben behandelnden Schriften Grimmeis-
hausens (Vogelnest, Galgenmännlein), teils aus den Andeutungen oder
breiteren Ausführungen in seinen übrigen Schriften (unter diesen
natürlich in erster Linie der Simplicissimus) zusammenstellt; desto
überzeugender die aus den einzelnen Abschnitten gewonnenen Er-
gebnisse über die Stellung, die der Dichter zu seinem Stoffe nimmt
(vgl. z. B. die Schlufssätze auf S. 68: „Aus dem Angeführten dürfte
wohl hervorgehen. . . festhielten").
Weniger glücklich erscheint uns der Verfasser an den Stellen,
wo er aus dem Gebiete des Aberglaubens in das der höheren Mytho-
logie hinübergreift. So S. 41, wo unter den Beispielen des Fest-
*) Jahresberichte für neuere deutsche Litteraturgeschichte tod Elias, Herrmaimy
Ssamatölski. 1891, n. Halbband, S. 17.
Besprechungen. 269
machens auch Balder und Siegfried angeführt sind, hier freilich, wie
es scheint, nach dem Vorgang Frey tags (a. a. O. S. 72), dessen Ver-
dienst um die Würdigung und kulturhistorische Verwertung Grimmeis-
hausens keineswegs damit angetastet werden soll. Und ebenso ist,
den Übersetzer und Dichter in allen Ehren gehalten, ein Hinweis auf
Sixnrocks Mythologie doch nur mit gröfster Vorsicht anzuwenden.
Wenn aber eine Vergleichung der angeführten Litteratur mit den
Verzeichnissen in Pauls Grundrifs (II. i, S. 776 — 808, darunter auch
der I. Teil der vorliegenden Programmabhandlung) allerdings erkennen
lafst, dafs nur ein sehr geringer Bruchteil aus dem reichen Sagen-
und Märchenschatze des deutschen Volkes zur Verwendung gekommen
ist, so wollen wir mit dieser Bemerkung nicht sowohl einen Tadel
darüber aussprechen, dafs die vergleichenden Citate nicht reichlicher
erbracht wurden; wohl aber darf auch bei dieser Gelegenheit nicht
unausgesprochen bleiben, dafs bei jeder wissenschaftlichen Arbeit die
Einzelforschung durch einen Blick auf das Gesamtgebiet des jeweiligen
Gegenstandes in das rechte Licht gestellt werden sollte: eine Forderung,
die für die germanische Philologie seit dem Erscheinen des erwähnten
Grundrisses ebenso leicht zu erfüllen wie unnachsichtlich zu stellen
sein wird.
Die Citate aus Grimmeishausens Schriften selbst sind nach der
Kurzschen Ausgabe gegeben. Für die „noch nicht wieder edierten
Schriften" benutzte der Verfasser die Göttinger Universitäts-Bibliothek.
Wenn aber S. 80, Z. i gesagt wird, dafs das Ratsstübel Plutonis
fjetzt" von Bobertag in Kürschners Deutscher Nationallitt. Bd. 35 neu
ediert ist, so ist dazu zu bemerken, dafs der betreffende Band schon
1883 und nicht, wie es nach einer Vergleichung mit S. 4, Anm. i,
erscheinen könnte, erst nach 1891 in diese Sammlung eingestellt wurde. —
S. 63 wäre der von Tittmann beigebrachte Hinweis auf den Rubin,
der in Kalidasas „Urvasi** den König auf die Spur der verlorenen
Gattin fuhrt, doch wohl nicht überflüssige Wiederholung gewesen.
Zum Schlüsse möge der Wunsch nicht unterdrückt werden, dafs
das von der Reichs-Schulkommission angeordnete Institut des Programmen-
tausches für die höheren Lehranstalten Deutschlands gerade in Einzel-
untersuchungen wie die vorliegende ein dankbares Arbeitsfeld und in
der Gründlichkeit, mit der unser Verfasser verfuhr, ein aneiferndes
Vorbild erblicken sollte.
Darmstadt. Karl LandmUnn.
— .••-
Le poime de Gudrun\ ses ortgines, sa/ormatiön et son htstoire, These
soutenue devant la Faculte des Lettres de Paris le j^ jum i8p4
par Albert Fecamp, charge de cours ä la Faculte des Letires
de Montpellier {XXX VII, 267 p. <5*. Paris, Emile Bouillon, 1892).
Cette Oeuvre existait en manuscrit onze ans avant de paraitre
sous forme de livre. Une long^e et grave maladie de Tauteur en a
270 Besprechung^ezk.
retarde la publication. Elle a ete imprimee en 1892 teile qu'en 1881
eile avait re^u Tapprobation officielle de la Faculte de Pans. Si rien
n'a ete change au texte primitif, les travaux publies dans Tintervalle
en AUemagne sur le poeme de Gudrun ne sont pas restes sans
mention ni sans examen. Ils ont ete indiques en note partout oü des
vues nouvelles etaient produites, et oü il convenait de signaler la
concordance des conclusions de Tauteur lui-meme avec Celles qui
etaient proposees dans ces travaux. M. Fecamp est ainsi arrive ä
une bibliographie complete de son sujet. 11 la donne en ving^t-deux
grandes pages, avec un soin et une exactitude dont auront ä se
feliciter tous ceux qui, apres lui, voudront encore toucher a la meme
quesdon. L'index des nomsd'auteurs cites et une riche table alphabetique
et analytique des matieres achevent de donner une idee de la con-
science avec laquelle M. Fecamp a travaille, et faciliteront la con-
sultation de son ouvrage a ceux qui n*auront pas le loisir de le lire
d'un bout ä Tautre.
Pour le public lettre fran^ais qui sinteresse aux oeuvres litteraires
del' AUemagne, mais ne possede pas suffisamment la langue pour les
lire dans le texte, les pages les plus consultees du livre de M. Fecatnp
seront Celles qui donnent Tanalyse du poeme de Gudrun. Les trente-
deux aventures dont ce poeme se compose sont resumees et exposees
de maniere a en donner une idee süffisante et claire (v. p. 14 — 43).
M. Fecamp a le talent de soutenir Tallention du lecteur, ä travers
de savantes discussions de textes, par des faits souvent pleins d'attrait.
C*est ainsi que, p. 203 et suiv., il indique d'une fa^on attachante
comment Tauteur de Gudrun a fait passer dans son oeuvre, a cöte
des simples et vagues reminiscences que poüvait lui oflfrir la legende,
les traits principaux de Thistoire d* Adelaide, racontee et connue alors
dans toute TAllemagne. L'inspiration venue de ce cöte est manifeste
dans un des episodes les plus beaux et les plus touchants de Touvrage,
ä savoir: Tarrivee de la jeune Gudrun sur cette terre etrangere oü
Tattend un sort si cruel, et la constance avec laquelle eile supporte
les humiliation qui lui sont infligees. A ce propos nous voudrions
faire a M. Fecamp un petit reproche. Pourquoi n'a-t-il pas ajoute
ä sa bibliographie la belle inspiration de Geibel dans „Gudruns Klage^,
qui se rapporte justement au passage en question? Mais c'est lä une
simple chicane, sans autre importance. La these de notre auteur est
d*un bout a Tautre une oeuvre instructive. L'artisan s' est montre
digne de la matiere, et la Nebensonne du Nibelungenlied va etre
connue en France et appreciee ä sa juste valeur.
Poitiers. Jacques Parmentier.
-«••-
Schillers Alpenjäger und Kalidasas Sakuntala.
Von
Ernst Malier.
Vor einiger Zeit hat Professor W. Sauer in Stuttgart die Behaup-
tung aufgestellt, dafs Schiller sicher aus dem Anfang des ersten
Akts der Sakuntala den Anlafs zur Dichtung seines Alpenjägers ge-
nommen habe, nur verlege er die Scene in die näher liegende Schweiz,
mit der er damals aus Anlafs seines Teil sich viel beschäftigt habe.
Zur Begründung seiner Ansicht fuhrt er folgendes an: „Hietür sprechen,
abgesehen von dem Inhalt der Dichtungen im allgemeinen und von
Einzelheiten, auch die Jahreszahlen. 1791 hat Forster seine Über-
setzung herausgegeben, 1799 siedelt Schiller nach Weimar über
und verkehrt von da an täglich mit Goethe. 1803 erscheint die
zweite Auflage der Forsterschen Übersetzung, besorgt von Herder,
und 1804 dichtet Schiller seinen Alpenjäger"*).
Zur Beurteilung dieser Frage lasse ich zunächst den Anfang des
ersten Aktes der Sakuntala in der Forsterschen Übersetzung folgen,
soweit es nötig ist**).
Sakontala oder der entscheidende Ring.
Erster Aufzug.
Scene: ein Wald.
Daschmanta auf seinem Wagen verfolgt eine Antelope oder Gazelle mit Bogen und
Köcher; sein WagenfUirer begleitet ihn.
*) Korrespondenzblatt för die Gelehrten- und Realschulen Württembergs, 1893,
S. 300. Vgl. dagegen a. a. O. S. 43 flf.
**) Sauer hat a. a. O. S. 303 ff. eine eigene Übersetzung gegeben. Hier aber kann
es sich nur um die Porstersche Obersetzung handeln, die Schiller kannte, da sie zum
Teil schon 1790 in dessen Thalia erschienen war. Der folgende Text steht in Georg
Forsters sämtlichen Schriften, herausgegeben von seiner Tochter. Leipzig 1843. Bd. 9.
S. i74ff.
Ztachr. f. TfL Litt..G«Mb. N. P. Ylll. ^3
272 Ernst Mflller.
Der Führer.
(Sieht erst die Antelope und dann den König an.)
Wenn ich dort die schwarze Antelope und dann dich, o König,
ins Auge fasse, mit deinem gespannten Bogen, so erblick' ich gleich-
sam vor mir den Gott Mahesa, wie er einen Hirsch verfolgt, mit
seinem Bogen, genannt Pinaka, straff in seiner Linken.
Duschmanta.
Das schnelle Tier hat die Jagd sehr in die Länge gespielt. Dort
läuft es nun wieder, mit seinem Halse so zierlich zurückgebogen, und
sieht sich von Zeit zu Zeit nach dem Wagen um, der es verfolgt.
Jetzt, aus Furcht vor dem herabsinkenden Pfeil, zieht es den Kopf
ein, und streckt die biegsamen Hüften, und jetzt ermattet, hält es
inne, mit halbgeöffneten Lippen das Gras auf seinem Pfade abzu-
weiden. Sieh, wie es springt und in langen Sätzen sich fortschnellt,
leicht am Erdboden hinschwebt, und sich wieder hoch in die Luft
bäumt. Jetzt wird seine Flucht so schnell, dafs ich es kaum noch
erkennen kann.
Der Führer.
Wir hatten rauhen Boden, und die Pferde wurden im besten
Rennen aufgehalten. Der Flüchtling hat unsere Zögerung benutzt.
Hier ist es eben, und es wird ein Leichtes sein, ihn einzuholen.
Duschmanta.
Lafs ihnen die Zügel schiefsen.
Der Führer.
Wie der König befiehlt. (Er jagt im vollem Lauf und hernach gemach.)
Entfliehen könnt* er nicht. Die Staubwolken von den Pferden
aufgetrieben, berührten sie nicht einmal; sie schüttelten die Mähnen,
spitzten die Ohren und galoppierten nicht, nein, sie flogen über
die glatte Ebene.
Duschmanta.
Sie holten die schnelle Antelope bald ein. Gegenstände, die ent-
fernt ganz klein erschienen, wurden plötzlich grofs; was wirklich ge-
teilt war, schien eins, indem wir vorüberkamen, und was krumm war,
schien gerade. Die Bewegung der Räder war so schnell, dafs einige
Augenblicke nichts nah und nichts fem zu sein schien. (Er legt einen
Pfeil auf die Bogensehne.)
Schillers Alpenjäger und Kalldasas Sakuntala. 878
Stimme hinter der Scene.
Sie darf nicht getötet werden! Diese Antelope, o König, hat in
unserem Walde ihren Zufluchtsort; man darf sie nicht töten!
Der Führer (horcht und sieht sich um).
Eben stand das Tier dir schufsgerecht, da kommen ein paar Ein-
siedler dazwischen.
Duschmanta.
So halte den Wagen an.
Der Führer.
Des Königs Wille geschieht. (Er hält die Zügel an.)
Ein Einsiedler und sein Schüler.
Der Einsiedler (hält die Hände hoch auf).
Töte nicht, mächtiger Herrscher, töte nicht ein armes junges Tier,
das einen Schutzort gefunden hat. Nein, gewifs, es darf nicht ver-
letzt werden. Ein Pfeil in dem zarten Leibe eines solchen Tieres
wäre wie Feuer in einem Ballen Baumwolle. Verglichen mit deinen
scharfen Geschossen, wie schwach mufs nicht das zarte Fell einer
jungen Antelope sein! Verbirg doch schnell den Pfeil, mit dem du
zieltest. Eure Waffen, ihr Könige, ihr Helden, sind zur Rettung der
Bedrückten bestinunt, nicht zum Verderben des Schuldlosen.
Duschmanta (grüist sie).
Seht, ich berge meinen Pfeil. (Er steckt ihn in den Köcher.)
Der Einsiedler (freudig.)
Dein würdig ist diese Tat, glorreichster Fürst; ja, sie ist eines
Fürsten würdig, der von Puru stammt Möchtest du einen Sohn
haben, den die Tugend ziert, einen Beherrscher der Welt!
Der Schüler (beide Hände emporhebend).
Jal Allerdings, möge dein Sohn mit jeder Tugend geschmückt
sein, ein Beherrscher der Weltl
Duschmanta (neigt sich gegen sie).
Mein Haupt trägt in Ehrfurcht die Aussprüche eines Bramen.
So die Sakuntala. Vergleicht man damit Schillers Alpenjäger,
so faUt es sehr schwer, wirkliche Beziehungen zwischen beiden heraus-
18*
374 Ernst MfiUer.
zufinden. So ist vor allem die Situation in den beiden Dichtungen
eine absolut andere. Dort eine königliche Jagd in der Ebene zu
Wagen gegen eine Gazelle, hier eine Jagd eines einzelnen Gemsjägers
im Hochgebirge. Auch der Schlufe, der scheinbar ähnlich ist, zeigt
im Grunde doch eine grofse Verschiedenheit. Doch es wird nicht
nötig sein, die Punkte alle einzeln aufzufuhren. Die Unähnlichkeit
liegt zu sehr auf der Hand. Übrigens sagt Sauer ja auch selbst, dafs
Schiller aus der Sakuntala nur den Anlafs zu seiner Dichtung ge-
nommen habe. Das schliefse, argumentiert er sodann weiter, die
Möglichkeit nicht aus, dafs Schiller noch aus andern Quellen geschöpft
habe. Also noch andere Quellen. Und welche? Die wichtigste
Quelle bildet eine Stelle in Bonstettens Briefen über ein schweizerisches
Hirtenland. Die Stelle lautet: „Alte Ehern hatten einen ungehorsamen
Sohn, der nicht wollte ihr Vieh weiden, sondern Gemse (so!) jagen.
Bald aber ging er irre in Eistäler und Schneegründe; er glaubte sein
Leben verloren. Da kam der Geist des Berges, und sprach zu ihm:
„Die Gemse (so!), die du jagest, sind meine Heerde; was verfolgst
du sie?" Doch zeigte er ihm die Strafse; er aber g^ng nach Haus
und weidete sein Vieh"*). Leimbach erzählt die Sage nach Tschudi,
Sauer selbst erwähnt die Schweizersagen bei Viehoff. Doch will ich
darauf nicht weiter eingehen. Ich halte mich nur an Bonstetten. Es
fragt sich nun: Brauchte der Dichter neben dieser Schweizersage, die
er aus Bonstetten kannte — er besafs das Buch selbst — noch andere
Quellen? Hat ihm nicht diese eine Quelle hinreichenden Stoff für
seine Dichtung geboten? Brauchte er vollends bei dieser Quelle noch
einen besonderen Anlafs zu seiner Dichtung anderswoher zu nehmen,
und zumal bei einem so kleinen Gedicht? Was stammt denn dann
eigentlich noch von Schiller selbst, möchte man fast fragen, wenn für
alles noch eine besondere Quelle da sein soll? Da bleibt der Dichter-
fantasie nichts mehr übrig.
Aber, entgegnet Sauer, „in dieser Beziehung (zu Sakuntala) ist
auch die Überschrift: „Der Alpenjäger" statt „Der Gemsjäger" zu
bemerken. Diese eigentümliche Überschrift ist wohl gewählt, weil in
der Dichtung nicht von einer Gemse, sondern von einer Gazelle die
Rede ist". Allerdings der Ausdruck Gazelle für Gemse ist auffallend
und er mag im ersten Augenblick zu der Ansicht fuhren, dafs er aus
*) Schriften von K. V. von Bonstetten, herausgegeben von Fr. v. Matthisson, 2. Ausg.
1824, S. X2I. Vergl. H. Dünt2ers Erläuterungen zu Schillers lyrischen Gedichten,
2. Aufl. S. 68.
Schillers Alpenjäger and Kalidasas Sakuntalsu 27b
derSakuntala entlehnt sei. Aber eine etwas genauere Betrachtung der
Sache wird uns ebenso leicht davon überzeugen, dafs dem nicht so
ist. Gesetzt nämlich, Schiller habe in der Tat den Ausdruck Gazelle
aus dem indischen Drama genommen: wäre es da nicht höchst sonder-
bar, wenn er nur das allein entlehnt und dann in ganz verkehrtem
Sinne angewandt hätte? Hätte er in diesem Falle nicht auch die
ganze Situation und vor allem die Figur des Königs mit herüber ge-
nommen? Spdann ist ganz besonders zu beachten, dals nach Forsters
Erläuterungen zu Antelope (S. 317) es nicht sicher ist, was für ein
Tier in der Sakuntala gemeint ist. Vielleicht sei es „die sogenannte
blaue Kuh oder Nil-Ghaa der Indier, ein grofses Tier, von der Höhe
eines kleinen Pferdes, von schwarzgrauer Farbe, mit weifsen Flecken
an den Füfsen und Ohren". . Damit konnte aber Schiller doch unmög-
lich eine Gemse vergleichen! Also kann er auch den Namen nicht
von dort endehnt haben!
Aber wie kommt Schiller zu der Bezeichnung der Gemse als
Gazelle? Die gewöhnliche Erklärung ist, der Dichter habe das Wort
um des Reimes willen gewählt. Das ist ziemlich wahrscheinlich, aber
sicher nicht allein mafsgebend gewesen. Es waren vielmehr zweifellos
noch andere Gründe, die den Dichter zur Wahl dieses Wortes be-
stimmten. Zunächst ist festzustellen, dafs an eine Verwechslung na-
türlich nicht zu denken ist. Der Dichter kannte das Leben und die
Gewohnheiten der Gemsen genau. Das zeigen uns seine Notizen aus
Fäsi: „Gemsen weiden gesellschaftlich — Vorgeis pfeift, wenn Gefahr
ist — ihre Zuflucht unter Felsvorsprüngen" etc.*). Das sehen wir
ferner aus seinem Teil. Wemi sagt dort I. i:
Das Tier hat auch Vernunft,
Das wissen wir, die wir die Gemsen jagen.
Die stellen klug, wo sie zur Weide gehen,
*ne Vorhut aus, die spitzt das Ohr und warnet
Mit heller Pfeife, wenn der Jäger naht.
I, 4 Melchthal:
Die Gemse reifst den Jäger in den Abgrund.
IV, 3 sagt Teil in seinem berühmten Monolog:
Ich laure auf ein edles Wild — Läfst sich's
Der Jäger nicht verdriefsen, Tage lang
Umher zu streifen in des Winters Strenge
*) Schiller, Historisch-kritische Ausgabe v. Gödeke. Bd. 14 S. XI.
976 Ernst Müller.
Von Fels zu Fels den Wagesprung zu thun,
Hinan zu klimmen an den glatten Wänden
Wo er sich anleimt mit dem eignen Blut,
Um ein armselig Grattier zu erjagen.
III, I jammert Teils Gemahlin Hedwig;
Ich sehe dich, im wilden Eisgebirg
Verirrt von einer Klippe zu der andern
Den Fehlsprung thun, seh', wie die Gemse dich
Rückspringend mit sich in den Abgrund reifst.
Ein paar Zeilen nachher fahrt sie fort:
Ach den verwegenen Alpenjäger hascht
Der Tod in hundert wechselnden Gestalten!
Also auch hier der Alpenjäger *) statt des Gemsenjägers. Damit
ist sicher bewiesen, dafs auch in dem Gedicht „der Alpenjäger"
zweifellos der Gemsjäger gemeint ist. Sauers Annahme, dafs diese
Überschrift gewählt sei, weil in dem Gedicht nicht von einer Gemse,
sondern von einer Gazelle die Rede sei, ist damit hinfällig geworden.
Und jetzt die Antwort auf die Frage, warum Schiller hier aus der
Gemse eine Gazelle machte. Die Gemse, antilope rupicapra, und
die Gazelle, antilope dorcas, gehören in dieselbe Gattung. Auch
äufserlich haben sie viel Ähnlichkeit. Und die Gewandtheit und
Schnelligkeit beider Tiere ist gleich bekannt. Diese Eigenschaft
machte gerade die Gazelle zum Liebling der orientalischen
Dichter. Auch ihr Auge wird als besonders schön von ihnen
gerühmt. So heifst auch die Sakuntala das „Mädchen mit dem
Gazellenauge" (Forster S. i8i). Ebenso ist in der Sakuntala von
Lieblingsgazellen die Rede (S. 189 u. 219). Doch ist das Tier ja
eigentlich keine Gazelle. Aber die Gazelle spielt auch in der arabischen
und hebräischen Dichtung infolge ihrer trefflichen Eigenschaften eine
Rolle. Und aus der hebräischen Poesie war das Schiller sicherlich
bekannt. So ist es also wohl begreiflich, wenn er die Gemse mit der
Gazelle zusammenstellte. Stillschweigend setzte er voraus, dafs der
Leser unter dem verfolgten Tiere nur an eine Gemse denken würde.
Und diese Annahme war nicht ganz unberechtigt. Hätte er doch am
18. Februar 1804 seinen Teil beendet und am 5. Juli desselben Jahres
*) Im Anfang der Scene, in dem bekannten Gedicht «Mit dem Pfeil dem Bogen" etc.
ist noch allgemeiner der Alpenjäger bezw. Gemsjäger als „Schütce*^ bezeichnet.
Schillers Alpenjäg^er and Kalidasas Sakuntala. 277
den Alpenjäger an Becker gesandt, in dessen „Taschenbuch" das Ge
dicht zuerst erschien. So lebte der Dichter noch ganz in seinem Teil
und so entstand auch der Alpenjäger infolge der Beschäftigung mit
dem Teil gerade so wie das „Berglied." Ja man möchte fast glauben,
dafs die Spuren der Dunkelheit, in die Schiller sein „Berglied" ab-
sichtlich hüllte — er sandte es an Goethe als eine „Aufgabe zum
Dechifl&ieren" — auch noch im Alpenjäger anzutreffen sein. Freilich
ist das Dunkel so wenig stark, dafs der Leser es ohne grofse Mühe
aufzuhellen vermag.
Betreffs des Ausdrucks „Gazelle" dürfte vielleicht auch noch
daran erinnert werden, dafs Schiller auch sonst Wechsel liebt. So
nennt er in seinem „Handschuh" den Löwen, Tiger und die Leoparden
„gräuliche Katzen." Den „Pegasus im Joche" bezeichnet er als
.muntere Krabbe", die furchtbaren Seetiere im „Taucher" als Larven.
Bei genauerer Nachforschung liefsen sich wohl noch passendere Bei-
spiele finden. In unserem Gedicht liegt die Sache freilich etwas
anders, da ja der Name der Gemse darin garnicht vorkommt, sondern
nur stillschweigend vorausgesetzt wird; man müfste nur etwa an-
nehmen, dafs — was allerdings nicht undenkbar ist — der Dichter
mit dem Ausdruck „das gequälte Tier" direkt die Gemse bezeichnet,
so wie der Gemsjäger nicht von der Gemse, sondern nur von dem
„Tier" redet.
Vielleicht darf betreffs des Wechsels im Ausdruck auch noch
daran erinnert werden, dafs Schiller den Gemsjäger zuerst als „Knaben"
einfuhrt und nachher als „harten Mann" bezeichnet.
Und mm der Schlufs der beiden Dichtungen. Sauer sagt*):
„Den Schlufs im ganzen heben wir noch besonders hervor: „Raum
für alle hat die Erde, was verfolgst Du meine Herde?" Hier, wie in
in der Sakuntala, wird zum Schlufs in zwei kurzen, schlagenden
Zeilen die Forderung des Dazwischentretenden begründet, nur nach
meinem Dafürhalten in der Sakuntala besser als im Alpenjäger." Da-
gegen bemerke ich : es ist für unsere vorliegende Frage ganz einerlei,
ob in der Sakuntala oder im Alpenjäger die Forderung des Da-
zwischentretenden besser begründet ist. Hier handelt es sich ja nur
darum, ob Schiller von der Sakuntala beeinflufst war. Das ist aber
gerade am Schlufs am allerwenigsten der Fall. Denn diesen hat der
Dichter doch ziemlich wörtlich "aus Bonstetten herübergenommen. Das
dürfte kaum zu bezweifeln sein. Unter diesen Umständen ist es über-
*) a. a. O. S, 306.
278 Ernst Maller.
flüssig auf alle Aufstellungen Sauers einzugehen. Er sagt nämlich:
„Weitere Einzelheiten sind: Und der Knabe ging zu jagen, Und es
treibt und reifst ihn fort, rastlos fort; vor ihm her mit Windes-
schnelle flieht die zitternde Gazelle; trägt sie der gewagte
Sprung; folgt er mit dem Todesbogen; mit des Jammers stummen
Blicken fleht sie zu dem harten Mann; denn loszudrücken legt
er schon den Bogen an; plötzlich aus der Felsenspalte tritt der
Geist, der Bergesalte; und mit seinen Götterhänden schützt er
das gequälte Tier; was verfolgst Du meine Herde? Zu diesen
Einzelheiten im Alpenjäger werden sich die Parallelen in der Sakun-
tala leicht finden/' Übrigens lassen sich auch diese Stellen nicht alle
nachweisen. So findet sich von den „stummen Blicken^' etc. nichts in
der Sakuntala, sowenig wie von der „Herde". Und wenn sich der
eine und andere Anklang findet, so ist es unter ganz anderen Ver-
hältnissen. So lange sich aber keine wördiche Übereinstinmiung nach-
weisen läfst, so lange ist auch an keine Endehnung zu denken oder
zum wenigsten nicht sicher anzunehmen.
Eine wörtliche Entlehnung, die als solche doch ziemlich zweifel-
los ist, läfst sich für den Alpenjäger nur aus der erwähnten Schweizer*
sage nachweisen. Darum wird es auch vorerst dabei bleiben müssen,
dafs diese, wie bisher mit vollem Recht angenommen wurde, die
einzige Quelle und damit auch sicherlich den Anlafs zu Schillers
Alpenjäger bildete.
Tübingen.
-«••-
Die Dramen von Herodes und Mariamne.
Von
Marcus Landau.
vn.
Erst ein Jahrhundert nach V Hermite *) erscheint Mariamne wieder auf
der französischen Bühne, aber in Spanien dramatisieren fast gleich-
zeitig mit ihm zwei bedeutende Dichter, Calderon und Tirso de Molina,
ihre Schicksale und ihnen folgt ein Menschenalter später ein tief unter
ihnen stehender — Lozano.
Ein spanischer Litterarhistoriker erklärt Calderons Trauerspiel El
Tetrarca (der Vierfurst) oder El mayor monstruo los zelos (Eifer-
sucht das gröfste Scheusal) für eines der vier Meisterwerke der dra-
matischen Litteratur seines Vaterlandes. „Wenn", sagt er, „durch
undenkbares Verhängnis der ganze Reichtum dieser Litteratur zum
Untergange verurteilt würde, so dafs nur vier Stücke gerettet werden
könnten, würde er als die ruhmvollsten Reliquien derselben die vier
Dramen El Tetrarca von Calderon, El desden con el desden von
Moreto, La verdad sospechosa von Alarcon und Garcia del Castanar
von Rojas aus dem allgemeinen Untergange erretten" **).
Mich eines Urteils über das mir unbekannte Stück Alarcons ent-
haltend kann ich dem über die Stücke Moretos und Rojas wohl
zustiüomen, mufs mich aber gegen die Aufnahme des Tetrarchen unter
die vier g^öfsten Meisterwerke des spanischen Theaters ebenso ent-
schieden verwehren, wie vor neunzehn Jahrhunderten die Juden sich
gegen die Einsetzung dieses Idumäers zu ihrem Könige wehrten***).
•) Vergl. S. ao4 f.
**) Si por una inconcebibile fatalidad estuviere destinado a desparecer de repente
de la luz de la tierra nuestro antiguo teatro y nos fuere dado salvar solo una pequeöisima
parte de ^1, cuatro dramas como reliquia de tanta riqueza, nosotros, que tenemos en
mucho las glorias literarias de nuestra nacion, no vacilariamos en eb'gir para salvarlos
de eso espantoso naufragio universal. El Tetrarca de Calderon^* . . . . u. s. w. wie
oben. (Tesauro del Teatro espaflol, dtiert von J. L. Klein, Geschichte des Dramas XI
erste Abt. S. 233.)
***) Zur Zeit der Handlung des Stücks, kurz vor und nach der Schlacht bei Actlum,
war Herodes schon seit neun Jahren König, der Titel Tetrarch, den er darin f&hrt, ist
einer der vielen Anachronismen Calderons.
280 Marcus Landau.
Gar manches spanische, ja selbst Calderonsche Drama wurde
viel eher diesen Ehrenplatz verdienen als diese mit oft schwülstiger
Lyrik überladene, mit Anachronismen und den unwahrscheinlichsten Zu-
fallen gefüllte Schicksalstragödie, in der uns die Eifersucht in ihrer
sonderbarsten Gestaltung vorgeführt wird.
Während Dolce sich ziemlich treu an die Berichte des Josephus
hält, benutzt Calderon nur sehr wenig von diesen, ändert sie willkür-
lich ab und fügt eine Menge von ihm erfundener unhistorischer, den
Sitten und Verhältnissen jener Zeit nicht entsprechender Zwischen-
falle und Details hinzu, ohne durch irgendwelche dramatische Motive
dazu genötigt zu sein und ohne irgendwelchen künstlerischen Zweck
damit zu erreichen.
Hat Calderon die Geschichte und die Verhältnisse Judäas zur Zeit
der Geburt Christi so wenig gekannt oder wollte er in souveräner
Laune mit den Personen des Stücks sein Spiel treiben?
Im Beginne des ersten Akts finden wir den Tetrarchen Herodes
mit seinem vertrauten Diener Filipo und seine Gattin Mariamme die
Calderon Mariene nennt, mit ihren Hoffräulein Sirene und Libia in
einem Landhause am Meeresufer bei Joppe. Die traurig gestimmte
Mariene wird mit Musik und Gesang begrüfst, worauf Herodes, nach-
dem er seiner Gattin ein schwungvolles Kompliment gemacht, vor der
ganzen Gesellschaft seine schlaue Politik entwickelt, wie er durch
geschicktes Lavieren und Hetzen zwischen Antonius und Octavianus
beide Römer verdrängen und sich in Rom mit seiner Gemahlin zum
Herrscher krönen lassen will. Einstweilen hat er aber ihren Bruder
Aristobul und den Feldherrn Tolomeo, die in seine Pläne nicht ein-
geweiht sind, mit Mannschaft und Schiffen zur Unterstützung des
Antonius ausgesendet.
Mehr aber als diese Weltherrschaftspläne liegt ihm die Stimmung
Marienes am Herzen, und besorgt fragt er sie um die Ursache ihres
zur Schau getragenen Kummers, der schon anfange, bei ihm Eifersucht
zu erregen. (A zelos me ocasionan tus desvelos.) Sie giebt als Ur-
sache an, ein gelehrter Sternseher in Jerusalem habe ihr verkündet,
sie werde die Beute des grausamsten, stärksten und schrecklichsten
Scheusals werden und dafs Herodes mit dem Dolche, den er im
Gürtel trage, sein Liebstes auf Erden töten werde. Der Gatte sucht
hierauf mit den subtilsten Arg^umenten ihre Besorgnis und Angst zu
zerstreuen. „Diese Prophezeiung" sagt er, „ist entweder falsch oder
wahr. Ist sie falsch, so haben wir uns um sie nicht im geringsten zu
kümmern, ist sie wahr, so bist du besser daran als Andere, die jeden
Die Dramen von Herodes und Mariamne. II. 281
Augenblick vom Tode erreicht werden können; du aber weifst, dafs
du nur von einem schrecklichen Ungeheuer getötet werden kannst,
und ein solches ist ja vorläufig weit und breit nicht zu sehen. Und
dann lautet die Prophezeiung, ich werde mein Liebstes auf Erden mit
einem Dolche töten, mein Liebstes ist aber niemand anders als du,
der ja ein Scheusal den Tod bringen soll. Da du nicht zugleich von
einem Monstrum und einem Dolch getötet werden kannst, so hebt
eine Prophezeiung die andere auf und du hast nichts zu furchten".
Um sie vollends zu beruhigen und die Erfüllung der Prophezeiung
unmöglich zu machen, wirft hierauf Herodes den Dolch ins Meer.
Der fatale Dolch benimmt sich aber ungefähr so wie der Ring
des Polykrates. Anstatt ins Meer zu versinken, dringt er in den
Rücken des Feldherrn Tolomeo, der gerade als Besiegter von Actium
zurückkehrte, angesichts Jerusalems (das Calderon also zur Seestadt
macht) Schiffbruch litt und sich gerade in dem Moment ans Land
rettete, als Herodes seinen Dolch ins Meer warf. Mit dem Dolch im
Rücken schildert Tolomeo ausfuhrlich Seeschlacht und Sturm, und
wir erfahren aus seiner Schilderung, dafs Kleopatra sich auf dem
Bucentoro eingeschifft hatte und dafs das Meer „ein Nimrod der Luft,
Berge auf Berge häufte". Tolomeo, der, wie wir bei der Gelegen-
heit erfahren, der Geliebte Libias ist, wird hierauf abgeführt, um von
der Dolch wunde kuriert zu werden, und Herodes, der nun zu merken
beginnt, dafs der Dolch kein gewöhnlicher, sondern ein Schicksals-
dolch ist, befiehlt ihn sorgfaltig aufzubewahren*). Im übrigen erträgt
Herodes die Nachricht von dem Siege Octavians, von der Zerstörung
seiner ganzen Flotte, von der Gefangennahme seines Schwagers
Aristobul so gleichmütig ^und ruhig wie Schillers Philipp II. die,
welche ihm der Herzog von Medina Sidonia vom Untergang der
Armada überbringt. Was den Tetrarchen einzig und allein kränkt,
mehr kränkt als selbst die unerwartete Rückkehr des fatalen Dolchs,
ist, dafs er durch die Niederlage verhindert wurde, seine Mariene zur
Königin der Welt zu machen. „Du magst es Torheit nennen", sagt
er seinem Vertrauten Filipo, „aber Liebe ohne Torheit ist keine
Liebe."
*) Y aquese pufial guardadle;
Que importa saber, que debo
Hacer d^l, que ya ^1 me hace
Tenerle por prodigioso,
sagt er, während es doch gescheidter gewesen wäre, ihn zerbrechen zu lassen. Aber
was wäre dann aus dem Drama geworden?
283 ICarcus Landaa.
Recht töricht benimmt sich aber auch der nicht verliebte Filipo,
der, man weifs nicht warum, den Dolch, den Herodes ihm zum auf-
bewahren gegeben, diesem wieder zurückbringt. Herodes, der nun
zu ahnen beginnt, dafs das schreckliche Scheusal, welches Marienes
Leben bedroht, seine Liebe zu ihr und der Dolch das Werkzeug da-
zu sein könnte, hält einen langen Vortrag über Prophezeiungen, Ein-
flufs der Gestirne und dergl. und bittet schliefslich seine Gattin, das
gefahrliche, zu ihrem Tode bestimmte Instnunent, zu gröfserer Sicher-
heit stets bei sich zu tragen, denn es gebe kein gröfseres Glück, als
stets sein Schicksal in der Gewalt und seinen Tod gleich bei der
Hand zu haben*).
Königin Mariene antwortet ihm in ebenso langer pathetischer
Rede und beweist ihm, dafs man für gröfsere Sicherheit nicht gerade
am besten sorge, wenn man Feuer neben ein Dach lege oder Steine
auf einen Spiegel. Ebenso finde sie es nicht geheuer, den gefahr-
lichen Dolch gerade in der Nähe ihres Herzens aufzubewahren. In
höchst subtiler Weise kommentiert sie dann die Prophezeiung des
Stemsehers und schliefst daraus, dafs Herodes am besten tun würde,
den Dolch stets bei sich zu tragen.
Einer Argumentation wie sie Mariene gebraucht:
„Drum gleichviel, geliebt, verschmäht.
Meine Sicherheit erbitt* ich,
Meine Furchtsamkeit verjag* ich,
Meine Seelenruh* gewinn ich.
Meinen Lieblingswunsch erlang' ich,
Meinen Argwohn unterdrück' ich.
Meine Hoffnungen beschwing* ich,
Wenn dein Lieben und mein Leben
Über Tod und Dunkel siegen,"
einer so symmetrisch aufgebauten Rede kann selbst ein Dialektiker wie
Herodes nicht widerstehen, und so giebt er endlich nach und steckt
den Dolch wieder in seinen Gürtel.
*) Para mas segurldad
Tuya, cuerdo he prevenido,
Que tu, arbitro de tu vida,
Traigas ta muerte contigo;
Que major felicidad
Nadie en el mundo ha tenido,
Que ser, Ä poesar del hade
El juez de su vida Ü mismo.
Die Dramen von Herodes und Mariamne. IL 888
Nach der Erzählung bei Josephus ward Mariamme auf Befehl
des Herodes hingerichtet. Von einem Dolch ist bei ihm keine Rede,
und diese hin- und herwandemde Waffe, welche aus der Tragödie
der Eifersucht eine Schicksalstragödie macht, scheint ganz der Fan-
tasie Calderons ihre Existenz zu verdanken zu haben. Dagegen hat
er ein anderes, ebenfalls eine grosse Rolle im Drama spielendes leb-
loses Ding dem jüdischen Geschichtsschreiber entlehnt. Es ist dies
das Porträt Mariammes.
Nach den oben mitgeteilten Berichten des Josephus*) hatte die
Mutter der Mariamme auf Veranlassung von Dellius, des Freundes des
Antonius, diesem die Porträts ihrer Tochter und ihres Sohnes Aristo-
bul gesendet, um ihn durch deren aufserordentliche Schönheit für sie
günstig zu stimmen, die Mutter und Schwester des Herodes hätten
aber diesem eingeredet, Mariamme habe selbst ihr Bild dem Antonius
geschickt, um diesen Lüstling für sich zu gewinnen. Dadurch wäre
nun die Eifersucht des Herodes aufs Höchste gesteigert worden.
G^alderon hat dieses Motiv eigentümlich verwendet und weiter aus-
geführt, ja fast zur Hauptursache der Katastrophe gemacht. Statt
des Antonius tritt bei ihm Octavianus ein, der nach der Schlacht bei
Actiuxn den Aristobul in Memphis in Ägypten gefangen nimmt und
bei ihm ein Kistchen mit wichtigen Papieren, Juwelen und dem Por-
trät Marienes findet. Aus den Schriften erfahrt er die Absicht des
Herodes, sich nach seiner (des Octavian) Niederlage zum römischen
Kaiser zu machen, und in das Bild verliebt er sich sofort, ohne zu
wissen, wen es vorstelle**).
Aristobul, der gleich die dem ehelichen Frieden seiner Schwester
drohende Gefahr merkt, antwortet dem Kaiser auf dessen Frage nach
dem Original des Bildes, es stelle eine bereits Verstorbene vor, sie
sei nur ^ Asche eines glühenden Strahls"***). Dies kränkt den Kaiser
*) Josephus Arch. XV. a«. Jüd. Krieg 1. aa«.
**) No vi mas viva hermosura
Que es alma de la pintura.
In dem 1632 erschienenen Roman Polezandre von Gombervüle verliebt sich ein
afrikanischer Prinz in das Bild der Königin der Unzugänglichen Inseln, die er nie ge-
sehen hat Dazu bemerkt Dunlop (History of fiction eh. X S. 346): This notion of
princes — for it is a foUy peculiar to them — becoming enamoured of a portrait, the
or^nal of which is at the end of the world, or perhaps does not ezist, seems to be
of oriental origin.
***) Auf Bitten des Aristobul hatte sich sein Diener Polidoro, der Gracioso (lustige
Person) fOr Aristobul ausgegeben. Auf die komischen Scenen, die daraus resultieren,
brauche ich hier nicht weiter einzugehen, da sie nicht zur Haupthandlung gehören.
284 Biarcus Landau.
SO sehr, dafs er sofort ein Sonnet dichtet, in dem er den Sieg des
Todes über einen solchen Ausbund von Schönheit beklagt. Zugleich
giebt er seinem Capitano Befehl, sofort mit der erforderlichen Mann-
schaft aufzubrechen und ihm den Herodes herbeizuschaffen, damit er
vor seiner cäsarischen Majestät Rechenschaft über sein Betragen ab-
legen solle.
Bevor noch der Akt zu Ende ist, erscheinen die römischen Sol-
daten schon in Jerusalem, und Herodes, der sie (in Joppe?) anrücken
hört, eilt fort, um sich selbst dem Octaviano zu ergeben.
Am Beginne des zweiten Akts finden wir Soldaten im 2Jelte des
Octaviano beschäftigt, ein grofses Bild Marienes aufzuhängen. Der
in die Totgeglaubte hoffnungslos verliebte Besieger des Antonius
und der Kleopatra hatte nämlich in Memphis von dem erbeuteten
Miniaturbilde mehrere Kopien auf Leinwand anfertigen lassen, imd
nun wird die gröfste über der Tür aufgehangen, damit er sie be-
ständig vor Augen habe. Dafs die römischen Soldaten etwas schleuder-
haft vorgehen und das Bild nicht genügend befestigen, ist nicht ihre
Schuld, sondern nur des Dichters, der diese Nachlässigkeit zu seinen
Zwecken brauchte.
Während Octavian sich in Liebesklagen vor dem Bilde Marienes
ergeht, wird ihm Herodes vorgeführt, der sich vor ihm auf die Knie
wirft und seine Treue und Anhänglichkeit beteuernd, ihm die Hand
küfst. Octavian hält dem Verräter die bei Aristobul aufgefundenen
Schriften vor, welche aber den Tetrarchen nicht so erschrecken luid
überraschen wie die Porträts seiner Gattin, welche er hier an der
Wand und in der Hand Octavians erblickt. Seine Eifersucht erwacht,
und ohne lange zu überlegen, stöfst er dem sich von ihm abwenden*
den Kaiser den Dolch in den Rücken. Aber nicht umsonst haben
die Soldaten das Bild schlecht befestigt. Das Schicksalsbild fallt zur
rechten Zeit herunter, um sich vom Schicksalsdolch durchbohren zu
lassen und Octavian zu retten. Dieser kann sich über die sonder-
baren Zufalle und die Rettung seines Lebens durch das Bild der
Angebeteten nicht genug verwundern, und läfst den Herodes in den
Kerker werfen, nachdem er ihm zuvor den Dolch abgenommen.
Im Gefängnis triflft Herodes den von den Römern noch immer
für Aristobul gehaltenen Lustigmacher Polidoro, den er aber bald
fortschickt, da er einen Monolog halten will
. . . . ä un lado te aparta
Que tengo que hablar conmigo.
Sein Monolog über die verdächtige Porträtsammlung Octavians
Die Dramen von Herodes und Mariamne. n. 985
wird aber schon beim fünfundziebsigsten Vers unterbrochen, da sein
Vertrauter Filipo kommt, um ihm den bevorstehenden Marsch Octa-
vians nach Jerusalem zu melden und sich seine letzten Befehle zu er-
bitten, da der Römer ihn wahrscheinlich, bevor er Ägypten verlasse
um einen Kopf kürzer machen werde.
Herodes, der sich in seinem Monolog noch mit der Erwägung
getröstet hatte, dafs Octavian das Original des Bildes wahrscheinlich
nicht kenne, wird nun ganz verzweifelt bei dem Gedanken, dafs der
siegreiche Römer in Jerusalem das Original finden und noch ganz
anders als die gemalte Kopie lieben werde. Er braucht nur ungefähr
zweihundert Verse, um uns seine traurige Lage und seine Eifersucht
zu schildern, seine Eifersucht, die auch nach seinem Tode fortdauern
werde, denn wenn die Seele unsterblich, ist es auch die Liebe. Der
langen Rede kurzer Sinn ist demnach: Filipo soll nach Jerusalem
zurückkehren und, wenn er dort seinen Tod erfahre, mit Strick oder
Gift Mariene töten^ denn nur wenn er wisse, dafs die Gattin zugleich
mit ihm das Leben verliere, werde er ruhig sterben. Jeder Andere,
meint er, Gatte oder Liebhaber würde an seiner Stelle ebenso han-
deln, würde „seine Dame lieber tot als eines Andern sehen^.
Er empfiehlt dann dem Filipo, den Auftrag vor Mariene geheim
zu halten und giebt ihm einen Brief an Tolomeo mit, damit dieser ihm
bei der Ausfuhrung Vorschub leisten solle. Filipo hat keine Zeit,
Einwendungen zu machen, denn, wie er den Mund öffnet, verändert
sich die Scene, und aus dem Kerker in Memphis werden wir wieder
nach Palästina versetzt. Wir finden den von Octavian für Polidoro
gehaltenen und deshalb freigelassenen Aristobolo im Begriffe von
Mariene Abschied zu nehmen, um mit der jüdischen Armee und
Flotte zur Befreiung des Herodes aufzubrechen.
Tolomeo, der ihn begleiten will, wird von Mariene zurückge-
halten, da er ja von Herodes zu ihrem Schutze zurückgelassen worden
sei. Er begnügt sich daher über die vor Anker liegende Flotte
poetische Betrachtungen im Stile Gongoras anzustellen.
„Schon auf des Meer's Krystallen
Sieht man von Lein so manchen Vogel wallen,
So manchen Fisch von Holze,
Dafs die anmuth*gen Wellen jetzt mit Stolze
Den Horizont umfassen.
Als Republik regsamer Bergesmassen ^.
Dann läfst sich der zum Leibwächter Marienes bestellte tapfere
General von seinem Liebchen Libia einen nachgemachten Schlüssel
zum königlichen Garten für ein nächtliches Stelldichein geben.
1
386 BCarcus Landau.
Die Liebescene wird voa Filipo unterbrochen, der den Tolomeo
abruft und ihm im geheimen den Brief des Herodes mit dem Befehl
zur eventuellen Ermordung Marlenes übergiebt. So wird der Leib-
wächter und Beschützer der Königin, der schon den Gartenschlussel
besitzt, zum Bock-Gärtner ernannt. Vorher mufs er aber noch die
Vorwürfe seiner verlassenen Geliebten Sirene ausstehen, die durchaus
nicht wie Sirenengesang klingen und von der eifersüchtigen schlüssel-
spendenden Libia hinter der in keinem spanischen Intriguenstück
fehlenden spanischen Wand (pano) belauscht werden. Ihre Eifersucht
wird noch gesteigert, als sie den Brief des Herodes, den sie für ein
Liebesbriefchen der Sirene hält, in Tolomeos Händen erblickt und
er ihn ihr nicht zum Lesen geben will. Sie greift mit der Hand nach
dem Brief, den er festhält, und während sie streitend den Brief entzwei
reifsen kommt Marlene hinzu. Sie müfste keine Evastochter sein, um
nicht auch auf den Inhalt des Briefes neugierig zu werden, und be-
fiehlt daher dem Liebespaar, ihr die disjecta membra desselben aus-
zufolgen. Vergebens stellt ihr Tolomeo vor, dafs der Brief eine
Viper sei, deren jedes einzelne Stück beifsen könne, vergebens warnt
er sie, dafs der Brief vergiftet sei. — Mariene erkennt die Handschrift
ihres Gatten und, nun noch mehr auf dessen Inhalt erpicht, legt sie
die einzelnen Stücke zusammen und entziflFert: „Meine Ehre und mein
Dienst erfordern, dafs Du nach meinem Tode (grausames Schicksall)
Mariene (ich zittere!) tötest".
Verhältnismäfsig ruhig examiniert Mariene nach dieser Lektüre
den Tolomeo über die nähern Umstände und den Überbringer des
Briefes und endäfst ihn mit dem Befehl, das strengste Stillschweigen
über ihr Wissen von dem Briefe zu bewahren.
Allein gelassen klagt sie über die Undankbarkeit und Schlechtig-
keit des Herodes, zu dessen Befreiung sie eben „eine Semiramis der
Wellen, ein Babilon von Schiffen" ausgesendet habe. Nach langem
Schwanken und Überlegen bittet sie dann den Himmel ihr Mittel und
Wege anzugeben, wie sie sich als beleidigte Gattin und weise
Königin benehmen solle.
„Dann sollt ihr sehen,
Himmel, Sonne, Mond, Gestirne,
Sterngebüd^ und Himmelsphären,
Berge, Meere, Bäume, Pflanzen,
Fische, Vögel, Wüd und Menschen,
Dafs, als Fürstin ich verzeihe,
Und dafs ich als Weib mich räche."
Die Dramen von Herodes und Mariamne. II. 287
Im Anfange des dritten Aktes erblicken wir den Octaviano nach
der Besiegung des Aristobul, mit seinem Heere vor den Mauern
Jerusalems, wo er den mitgebrachten Herodes hinrichten lassen will.
Filipo und Tolomeo tragen ihm die Schlüssel (der Hauptstadt, nicht
des Gartens) entgegen; an der Spitze einer Frauendeputation bittet
ihn die in Trauer gekleidete verschleierte Mariene sie zugleich mit
ihrem Gatten sterben zu lassen. Octavian weist sie zuerst barsch ab,
wie sie sich aber entschleiert und er in ihr das Original des Bildes
erblickt, schlägt er einen ganz anderen Ton an. Inzwischen bringen
Soldaten den gefangenen Herodes, und Mariene stimmt einen Bittgesang
in sechs schwungvollen, aber auch des Schwulstes nicht ermangelnden
Oktaven an, um von Octavian dessen Begnadigung zu erlangen.
Der Kaiser bewilligt, was sie verlangt, dann erklärt er, „ein Leben
giebt er ihr zurück für das seinige, das durch ihr Porträt gerettet
wurde. Von wem und wie dies bedroht wurde bleibe unerwähnt und
der Vergessenheit überliefert". Überdies begnadigt er alle an dem
Kriege gegen ihn Beteiligte, setzt den Herodes in seine frühere Würde
wieder ein und giebt Marienen ihr Bild zurück.
So hat sie zur Augenweide von „Himmel, Sonne, Mond" et caetera
als Fürstin verziehen und geht nun daran „als Weib sich zu rächen",
indem sie dem Herodes in einem tete-a-tete ob seines Mordbefehls an
Filipo und Tolomeo, dessen Original sie ihm vorzeigt, gehörig den Kopf
wäscht und ihm erklärt, sie habe sein Leben von dem „tapfern, berühmten
und grofsmütigen römischen Helden" nur deshalb erbeten, um ihn recht
lange quälen und hassen zu können. Dann wirft sie ihm seine niedere
idumäischeHerkunft vor, erklärt sie werde von nun an Trauer tragend als
Witwe in ihrem Gemache leben, das ihm für immer unzugänglich bleiben
werde und endet die Gardinenpredigt von ein Vierteltausend Versen,
indem sie sich in das erwähnte Witwengemach zurückzieht und die
Tür hinter sich zusperrt.
Den allein gelassenen Tetrarchen beschäftigt am meisten die Frage,
wie der dem Filipo mitgegebene Brief in die Hände Marienes gelangt
sei^ im übrigen bleibt er dabei, in ähnlichem Falle den Mordbefehl zu
wiederholen, aber zu gröfserer Sicherheit nichts Schriftliches von sich
zu geben.
Der Entschlufs Marienes eingeschlossen zu bleiben, findet seine
volle Zustimmung und will er noch ein Übriges tun und die Tür auch
von aufsen absperren, um so sich vor aller Qual der Eifersucht
zu sichern. Jetzt gelangt er auch zur Erkenntnis, dafs diese Leiden-
schaft „das gröfste Scheusal der Welt" ist.
Ztschr. t rgl Litt-Geadi. N. P. YIU. 19
288 Marcus Landau.
In der Erzählung des Josephus wird die Katastrophe hauptsäch-
lich dadurch herbeigeführt, dafs Herodes aus dem Verrate des dem
Soemos erteilten Mordbefehls an Mariamme auf ein sträfliches Ver-
hältnis derselben mit Soemos schliefst (Arch. XV. 7.*). Dolce, der
seiner Quelle treu folgte, hat diesem Umstände noch gröfsere Be-
deutung beigelegt, andererseits aber auch das Unwahrscheinliche
eines solchen Verhältnisses, in Anbetracht des hohen Alters und der
höchst unliebenswürdigen Persönlichkeit des Soemos, durch den ver-
trauten Rat des Herodes hervorheben lassen. Calderon war hier in
der Abweichung von der historischen Quelle viel besser beraten.
Die Eifersucht des Herodes auf den jungen siegreichen Octavian, be-
sonders nachdem er das Porträt Marienes in dessen Händen und die
Aufnahme, die sie bei ihm fand, gesehen hatte, ist eine leicht begreif-
liche, ja fast selbstverständliche.
Dagegen ist es nicht aus Eifersucht, sondern wegen Verrat des
Geheimnisses, dafs er den Tolomeo töten will. Dieser entflieht in das
Zelt des Octavian und erzählt ihm nicht ganz der Wahrheit gemäfs,
dafs ihn Herodes habe töten wollen, weil er den Auflrag, Mariene zu
vergiften, nicht ausgeführt habe. Mit der Nebenabsicht, in den Besitz
seiner Libia zu gelangen, fordert er ihn auf die von Herodes einge-
sperrte und am Leben bedrohte Mariene zu befreien, damit dir ver-
danke
„Die Sonne ihre beste Morgenröte,
Die Morgenröte ihre beste Perle,
Die Erde ihre beste Sonne
Der Himmel«
Hier unterbricht Octavian den Wortschwall des lyrischen Leibwächters,
um zur Befreiung Marienes zu eilen, während Tolomeo sich freut am
grofsen Brand sein Süppchen kochen zu können. ,
„Pues que no dudo, que, puesta
La ciudad en confusion,
Podre ir ä favorecerla." (die Libia.)
In der nächsten Scene finden wir Mariene von ihren Kerzen
tragenden Frauen, welche sie auskleiden und zu Bett bringen wollen,
umgeben. Die Scene hat manche Ähnlichkeit mit der letzten des
vierten Akts des „Othello".
Wie Desdemona das schwermütige Liedchen von der Weide
singt, so läfst sich Mariene von ihrer Sirene während des Auskleidens
vorsingen
Die Dramen von Herodes und Marianme. II. 289
Komm' Tod ganz still heran,
Dafs dein Kommen ich nicht fühle .... *)
Und es wirkt ergreifender als bei Shakespeare, da hier unmittelbar
auf diese schwüle schwermütige Nachtscene die Katastrophe herein-
bricht: Octavian und Tolomeo schleichen in den unter dem Schlafzimmer
befindlichen Garten und Ersterer dringt in das Zimmer, wo er auf die eben
die Türe zusperrende Kammerfrau stöfst. Während Sirene noch ihr
„Komm' Tod ganz stille"
singt, hört man das Aufschreien der Kammerfi'au, dem sofort das
Gekreisch der andern über den Eindringling erschrockenen Frauen
folgt. Dieser giebt sich zu erkennen, macht schnell Marienen eine
Liebeserklärung und bietet ihr an, sie zu befreien . . . Das Weitere
kann man sich hinzu denken, und auch Mariene errät es; denn sie
lehnt entschieden seinen Antrag ab, es vorziehend, unschuldig das
Leben zu verlieren, als mit Schuld und Schande zu leben. Da er
etwas zudringlich wird und ihre Hand ergreift, entreifst sie ihm deq
Dolch — den Schicksalsdolch, den er dem Herodes abgenommen —
und droht sich zu erstechen, besinnt sich dann eines bessern, wirft
ihn weg und entflieht. In diesem Moment tritt Herodes ein und fafst
beim Anblick der herumliegenden Kleidungsstücke den ärgsten
Verdacht
Que quien arrastra despojos,
Hara celebrado triunfos.
Erst als Octavian die entflohene Mariene zurückbringet, wird er
ihretwegen beruhigt und will nun seinen Ehrenhandel mit Octavian
ausfechten. Ganz wie zwei Caballeros in einem Mantel- und Degen-
stück ziehen der jüdische Tetrarch und der römische Imperator die
Degen, und dem spanischen Bühnenwitze in solchen Situationen ent-
sprechend, löscht Mariene die Kerzen aus. Die beiden Duellanten
suchen einander im Finstern, Herodes läfst seinen Degen fallen, er-
greift den bekannten Dolch und durchbohrt mit ihm, nicht den
Octavian, sondern seine Gattin. Soldaten kommen mit Lichtern,
*) Nach G. Ticknors Geschichte der spanischen Litteratur (III 49 der spanischen
Obersetzung) sind die Verse
Ven, muerte, tan escondida
Que no te sienta venir,
Porque el placer del morir
. No me vuelva 4 dar la vida
von dem 1497 verstorbenen Comendador Escriba und finden sich schon im Cancionero
general von 151 1. S. auch Don Quichote parte 11 cap. 38 und Calderons Las manos
blancas no ofenden, Akt a.
19*
290 Marcus Landau.
Octavian will den Herodes töten lassen, der sich aber damit ent-
schuldigt, dafs nicht er, sondern, wie es die Sterne verkündet, „das
gröfste Scheusal der Welt**, seine Gattin getötet habe. Dann eilt er
fort, und einen Augenblick später hören wir, dafs er sich ins Meer
geworfen hat, das sich merkwürdigerweise in nächster Nähe von
Jerusalem befindet.
Octavian verfafst noch in aller Schnelligkeit die Grabschrift
Marienes, in der Eifersucht als ihre Todesursache angegeben wird,
was aber nicht ganz richtig ist, denn Herodes hatte sie ja nur zu-
fallig im Finstern erstochen.
Libia reicht weinend ihrem Liebhaber die Hand und Filipo er-
klärt die Tragödie zu Ende; die Tragödie, setzt der lustige Polidoro
hinzu,
„Wie sie der Verfasser schrieb,
Nicht wie sie der Diebstahl druckte,
Dessen Müh* ist, dafs er richte
Andrer Mühe stets zu Grunde".
Und diese Endstrophe ist dann als Motto zu den altern Aus-
gaben des Brockhausischen Konversations-Lexikons weit und breit
bekannt geworden.
Calderons Drama wurde i. J. 1637 aufgeführt und gedruckt, es
mufs aber schon einige Jahre fiiiher verfafst und vielleicht auch auf-
geführt worden sein, da es von dem 1635 verstorbenen Lope de
Vega in einer Loa sacramental erwähnt wird*).
vm.
Ein Jahr später erschien der fünfte Teil der Comedias nuevas del
Maestro Tirso de Molina, welcher dessen Drama La vida de Herodes
enthält**), Molina, mit seinem wirklichen Namen Gabriel Tellez ge-
heifsen, wurde um 1571 in Madrid geboren und starb im Jahre 1648
als Prior des Klosters de la Merced von Soria.
*) Klein, Geschichte des Dramas XI. a, S. 552.
**) Parte V, Madrid 1636, mit Bewilligung des Censors datiert vom 30. Juni 1635
und TeztcoUationierung datiert i. Januar 1636. Der erste Teil der Comedias, wie der
fünfte 12 Stficke enthaltend, erschien 1627 in Sevilla. Don Pedro Mudoz Pefia sagt in
seinem bei 700 Seiten starken Werke über Molina, (El Teatro del maestro Tirso de Molina
£studio critico-literario Valladolid 1889) kein Wort über dessen Vida de Herodes, und
nicht gröiserer Beachtung erfreut sich dieses Drama bei den andern spanischen Litterar-
historikem, die mir zugänglich waren.
Die Dramen von Herodes und Mariasme. II. 891
Trotz seines geistlichen Standes liefs er es in seinen Lustspielen,
deren er bei 300 geschrieben haben soll, an Unanständigkeit und
schlüpfrigen Ausdrücken nicht fehlen. Bewunderer und Nachahmer
von Lope de Vega, von bedeutendem komischem Talent, zeigt er
für das ernstere Drama geringere Begabung, und hat sich um dieses
nur dadurch verdient gemacht, dafs er zuerst den Don Juan zum
Helden eines Dramas machte.
Obwohl sein „Leben des Herodes" ein Jahr früher als Calderons
Tetrarca gedruckt wurde, macht es doch den Eindruck, als ob der
Verfasser mit Calderon rivalisieren wollte. Ohne dessen lyrische
Schönheiten zu erreichen, hat er ihn nur in Wunderlichkeiten, in
Anachronismen, in kühner Hinwegsetzung über alle historische Wahr-
heit und alles Zeitkostüm übertroflfen, den Herodes Calderons über-
herodest In richtiger Erkenntnis, dafs die Einmischung der Schwieger-
mutter in die Ehestreitigkeiten das Eifersuchtsmotiv schwäche und
trübe, hat Calderon die Alexandra weggelassen. Molina ging aber
noch einen Schritt weiter und raubte ihr ganz die Existenz, indem er
Mariadnes (so nennt er die Gattin des Herodes) zur Tochter des
alten Hircano, ihres Grofsvaters machte. Aber die dem Calderon ab-
geguckte Verbesserung verdarb er wieder, indem er den Herodes mit
Schwiegervater, Vater und Bruder begabte, diesen durchaus unhisto-
rische Rollen zuteilte und das Eifersuchtsmotiv mit der Rivalität der
Brüder contaminierte.
Wir haben gesehen, welche fatale Rolle das Porträt Marienes
bei Calderon spielt ; bei Molina übt es freilich keinen solchen grofsen
Einflufs aus, aber statt eines Porträts finden wir bei ihm eine ganze
Bildergallerie. Und nicht blos Kleopatra und Marcus Antonius ver-
lieben sich in die Porträts von Aristobolo und Mariadnes, Herodes
selbst, der doch genug Gelegenheit hatte, die „Infanta Mariadnes" in
Jerusalem zu sehen, mufs erst in der Bildergallerie des Königs von
Armenien unter vielen Schönheiten das alle andere überstrahlende
Bild der wunderschönen Jüdin (perdone el Dios de Elicona fugt
Molina hinzu) finden, um sich darin zu verlieben. Auf dem Rahmen
des Bildes mufs sich wohl der Name des Originals befunden haben;
denn Herodes weifs ihn wohl, will ihn aber nicht aussprechen, damit
das Herz nicht auf die Zunge eifersüchtig werde
Porque la lengua no osa
dar zelos al corazon
que los tendrä si la nombra.
Von seinen siegreichen Kriegszügen in Peträa, Armenien u. s. w.
298 Marcus Landau.
zurückgekehrt, giebt Herodes seinem Vater Antipater ausfuhrlichen
Bericht darüber. Der bis über die Ohren verliebte Held, der in
siebzig Versen die königlich armenische Bildergallerie und ihr schönstes
Porträt schildert, ermangelt auch nicht, sich mit seinem besonders
scharfen Appetit nach Kinderblut mit Milch vermischt, als den
künftigen Abschlachter der Kinder unter zwei Jahren anzukündigen.
Als Vorübung hat er in Armenien Säuglinge ihren Müttern entrissen,
um zu zeigen
que mi sed provoca
sangre en leche de inocentes
medio blanca y medio roja.
Um so sparsamer ist er mit dem Blute seiner Soldaten umge-
gangen. Von den 12000 Mann, die ihm Antipater mitgegeben, fehlt
kein teueres Haupt, kein Blutstropfen. Nur des Feldherrn eigene
Seele kehrt leider nicht zurück, ist an dem bewufsten Porträt hängen
geblieben, und mufs nun wiederzuerlangen gesucht werden.
Doze mil hombres Ueve
y con ellos buelbo agora
sin que falte, padre invicto,
ni de su sangre una gota.
Sola una alma buelbe menos,
que por los ojos me roban,
para ofrecer a su origen
su mas que divina copia.
Und als Lohn für alle seine Siege und Heldentaten verlangt er
nur die Erlaubnis
que busque
en premio desta victoria
un alma, que fugitiva
es vencida vencedora.
Papa Antipater, den Molina aus eigener Machtvollkommenheit
zum König (Rey viejo) macht, wundert sich weder über den Kinder-
blut-Durst noch über die Verliebtheit seines Heldensohnes, „da ja
wie männiglich bekannt, zwischen Mars und Venus stets grofse
Sympathie herrschte". In Verlegenheit ist er nur, wie er seinen
Sohn belohnen soll. Einstweilen teilt er ihm mit, er habe seinen
Sohn Faselo (Phasaelos bei Josephus) mit der Infanta Mariadnes und
seine Tochter die Infanta Salome mit dem Prinzen Aristobolo ver-
lobt. Die Doppelverbindung zwischen den Kindern Antipaters und
den des von ihm im Einverständnis mit dem römischen Senat zum
Die Dramen von Herodes und Mariamne. U. 298
König und Hohepriester eingesetzten Hircano, den Molina auch Rey
viejo tituliert, ist während Herodes Abwesenheit geschlossen worden,
unter Vermittlung des Josefo, der auch die Porträts der Hasmonäer-
kinder den Kindern des Idumäers Antipater überbrachte und die
Schönheit der Originale in schwülstiger Rede schilderte.
Prinzessin Salome weifs nur wie Cordelia zu lieben und zu
schwdgen
que duda
de hablar quien ama agradecida y muda.
Aber der dritte Akt wird ausweisen, dafs sie noch besser zu
hassen und zu schreiben als zu schweigen weifs und in Bezug auf
Geschwisterliebe es mit der kindlichen Liebe Gonerils und Regans
aufnehmen kann. Etwas aufrichtiger zeigt sich Faselo. Mit dem
Stolze des Bräutigams zeigt er das Porträt der Braut dem Bruder,
^er möge doch sehen ob seine Angebetete aus der armenischen
Bildergallerie eben so schön sei".
Das Bild erblicken, seine Einzige erkennen, vor Eifersucht
wütend werden und den Tod des Bruders, nötigenfalls auch des
Vaters beschliefsen, ist far Herodes eins. In abwechselnd wütend
heldenhaften und jämmerlich schwülstigen Reden giebt er seiner
Stimmung Ausdruck, kündigt dem Antipater die kindliche Liebe auf,
sagt aber wohlweislich nichts von seinen weiteren Plänen. Anti-
pater schliefst daraus, dafs Herodes verrückt oder eifersüchtig sein müsse.
In der nächsten Scene, die im Palaste des Königs Hircan spielt,
finden wir diesen beschäftigt, Körbe an Bewerber und Bewerberinnen
um seine bereits verlobten Kinder auszuteilen. Sie sind alle zu spät
gekommen, die Infantin von Korinth sowohl als die Könige von
Tyrus, von Sidon, des Libanon u. s. w., von Tirso de Molina's Gnaden
Hircan segnet Mariadnes und Aristobolo, welche zur Jagd ausziehen,
und letzterer macht als glücklicher Bräutigam ein Wortspiel mit cazar
(jagen) und casar (heiraten).
Hier schaltet Molina einige komische Hirtenscenen in bäurischem
Dialekt ein, die mit der Haupthandlung noch weniger zusammen-
hängen als die Polidoroscenen oder die Liebesepisoden von Sirene
und Libia in Calderons Tetrarca. Ja, die letztern haben aufserdem,
dais sie indirekt einiges zur Katastrophe beitragen, auch ihre Be-
deutung als Darstellung der weiblichen, ziemlich harmlosen Eifersucht
im Gegensatz zur mafslos wilden des Herodes. Indessen verbindet
Molina mit seinen Hirtenepisoden auch eine Absicht, die erst im
dritten Akt zu Tage treten wird.
894 Marcus Landau.
In die Hirtengesellschaft stürzt die Jägerin Mariadnes mit ihren'
scheugewordenen Pferde herein und von diesem ohnmächtig hinunte
Herodes, der zu rechter Zeit eintriflft, trägt die Ohnmächtige in eie
Hirtenhütte hinein, während die Hirten forteilen, um dem Könige ien
Unfall der Infanta zu anzuzeigen. Auch Josefo, den wir als Hetats-
vermittler zwischen den Familien des Hircan und des Antipater kennen
und der jetzt als Begleiter des Herodes erscheint, geht fort um
Wasser zu holen und verspricht als gefalliger Hofmann recht lange
auszubleiben, um dem Herodes genügende Zeit für sein Tete-ä-tete mit
Mariadnes zu lassen.
Allein gelassen hält dieser einen Monolog, aber nicht wie Hamlet
über Sein oder Nichtsein, sondern ob Geniefsen oder Nicht-
geniefsen, entscheidet sich indessen für letzteres und beschliefst als
Hirte verkleidet, um Mariadnes Liebe zu werben. Während er sich
entfernt, um die Kleidung zu wechseln, erwacht die Infanta aus ihrer
Ohnmacht und jammert über die Gefahr, in der sich während derselben
ihre jungfräuliche Ehre befunden, als ob sie den Monolog des Herodes
gehört hätte. Dieser kehrt hierauf in Hirtenkleidem zurück, macht
ihr die schönsten Komplimente, nicht etwa wie der Hirt des Hohen-
liedes, sondern im schönsten Gongorastile, wie es einem Ritter vom
Hofe Philips III. geziemt. Zugleich teilt er ihr mit, er habe sie von
einem Attentate des Faselo auf ihre Ehre gerettet und diesen, der
garnicht daran denke sie zu heiraten
Porque non intenta casarse
el que pretende violento
gozar despojos robados
fortgejagt.
Mariadnes glaubt dem sich Claricio nennenden Hirten alles, lafst
sich von ihm die Hand küssen und nach Jerusalem geleiten, wo er
belohnt werden soll. Kaum haben sie sich entfernt, als der von dem
Unfälle seiner Tochter benachrichtigte Hircan mit seiner ganzen
Familie und den Hirten eintrifft. Da sie weder Mariadnes noch
Herodes, wohl aber dessen abgelegte Kleider finden, glaubt Hircan
die Hirten hätten ihn getötet und läfst sie ins Gefängnis abfuhren.
Im zweiten Akt finden wir Herodes und Mariadnes im Walde
schon ziemlich vertraut mit einander. Sie hat an seinem höfischen
Benehmen, an seinen kleinen Händen und dem vom Hirtenkittel nicht
genug verdecktem feinem Hemde erkannt, dafs er ein vornehmer Mann
sei und verspricht ihm einen Vorgeschmack von Gunstbezeugungen,
die er sitzend bequemer in Empfang nehmen werde. Traulich neben
Die Dramen von Herodes und Marianme. II. 8d5
ihr sitzend erzählt ihr Herodes, der sich für den Sohn des Libanon-
königs ausgiebt, unter Pseudonymen seine eigene Lebensgeschichte,
die Auffindung des Bildes, in das er sich verliebte, die Verlobung
seines Bruders mit dem Original u. s. w. bis zimi bekannten Monolog,
in dem schliesslich die Ehre siegte, so dafs er sich begnügte, die
Ohnmächtige zu küssen. Er schliefst mit der verfänglichen Frage:
Was hättest Du, wenn Du die Ohnmächtige wärest, beim Erwachen
getan? Mariadnes, die nun schon erraten hat, wen sie vor sich
tiabe, antwortet, sie würde dem, der so edel der rohen Begierde
widerstanden, zu der gepflückten Kufsblume auch ehrbare Früchte
gegeben haben.
Nun giebt sich ihr Herodes zu erkennen, und bittet sie um Hand
und Herz, welche ihm Mariadnes ohne Zögern gewährt, indem sie
erklärt, sie kümmere sich nicht im geringsten um Faselo. Inzwischen
bricht die Nacht herein, aber die beiden beeilen sich nicht, in die Haupt-
stadt zurückzukehren. Herodes will weitere Kufsblumen pflücken,
und bittet Mariadnes ihre Arme um seinen Nacken zu schlingen, was
sie mit zärtlichen Worten beantwortet. Während das Pärchen sich
im nächtlichen Waldesdunkel verliert, erscheinen Hircan, Antipater,
Aristobolo, Faselo und Salome wieder auf der Scene und beklagen
jeder in einer besonderen dreizehnzeiligen Strophe den Verlust Ma-
riadnes, welche gerade, wie sie mit ihren Deklamationen zu Ende
sind, sich zu allgemeiner Freude finden läfst. Während Herodes be-
scheiden im finstern Hintergrunde bleibt, erzählt die Infanta ihr Jagd-
abenteuer und was darauf folgte, ihre Meisterschaft zeigend in dem,
was sie weise verschweigt. Hätte sie gleich gesagt, dafs Herodes
ihr Retter sei und da& sie nur ihn und nicht Faselo heiraten wolle,
so würden die „alten Könige" in Anbetracht des langen Tete-ä-tete
im Waldesdunkel gewifs ihre Einwilligung zum Tausch gegeben
haben. Mariadnes zieht es aber vor, ihrem Vater mit allerlei Wenns
und Abers zu quälen, um dann endlich doch den Herodes als Retter
und Gatten vorzustellen. Es bedarf gar nicht der grofsen Worte,
die dieser macht, um die Einwilligung Hircans zu erlangen, und auch
Antipater giebt seine Zustimmung, „da ja die Infanta in seiner Familie
bleibt". Den leer ausgehenden Faselo tröstet er mit dem Gemein-
platz sobre gustos no ay disputa, und ähnliche Trostsprüchlein sagen
ihm die übrigen Personen. Der verschmähte Bräutigam aber sagt
sich „ist über die Geschmäcke nicht zu disputieren, so kennt auch
Eifersucht keine Mäfsigung^ und beschliefst, sich zu rächen. Dazu
werde ihm sein Freund Marcus Antonius helfen, der eben um die
296 Marcus Landau.
Alleinherrschaft über die Welt mit Augustus Krieg führt, zu dessen
Partei aber Herodes halte*).
Kaum hat Faselo diesen Entschlufs gefafst, als ihm ein Römer
einen Brief des Antonius, datiert Byzanz Kai. Junii anno 752 u. c.**)
überbringt, in dem der Imperator seinen erlauchten Freund ersucht,
zu seiner Unterstützung bei der bevorstehenden Seeschlacht herbei-
zueilen, zum guten Anfang den Herodes gefangen mitzubringen, so-
wie als süfse Zugabe die durchlauchtige Infantin Mariadnes, deren
Schönheit ihn zum Sklaven gemacht habe.
Faselo ist der Meinung, dafs der Imperator sich mit dem ge-
fesselten Herodes begnügen möge, Mariadnes sei kein Bissen für ihn.
Dann geht er und nimmt, mir nichts dir nichts, mit Hilfe der rö-
mischen Besatzung den Herodes und dessen treuen Begleiter Josefo
gefangen. An die unverletzten 12000 Mann, die er von seinen Feld-
zügen zurückgebracht, ganz vergessend, begnügt sich Herodes zu
klagen und auf den Bruder zu schimpfen. Schliefslich bittet er den
von Faselo zum Gouverneur von Jerusalem ernannten Josefo, falls
er hören werde, dafs er das Leben verloren, sofort die Mariadnes zu
töten. Josefo ist zwar darob höchst bestürzt, da er aber geschworen
hatte, alle Aufträge des Herodes auszufahren, mufs er auch diesen
übernehmen.
Im dritten Akt finden wir den Faselo schon als König von Jeru-
salem von Antonius* Gnaden. Hircan ist tot, was mit dem König
Antipater geschehen, erfahren wir nicht. König Faselo läfst dem
Herodes sagen, er werde ihm das Leben schenken, wenn er ihm die
Mariadnes abtrete und zur Partei des Antonius übergehe. Herodes
will weder das eine noch das andere tun, worauf ihn Faselo zur Hin-
richtung in Gegenwart der Gattin abzuführen befiehlt. „Und doch
wird sie nicht dein sein, sondern mir in den Tod folgen", höhnt der
Gefangene.
Während sie noch reden, kommt, wie der Gott aus der Maschine,
Augustus mit Lorbeer und im Kaiserornat als Sieger von Actium
und ist sehr erstaunt, seinen Freund Herodes in Ketten zu finden.
Wir sind noch mehr erstaunt, dafs Faselo an der Seeschlacht, zu der
*) In Wirklichkeit stand Herodes während dieses Kriege auf Seiten des Antonios.
Der historische Phasael, der keine bedeutende Rolle spielte, hielt stets treu zu seinem
Bruder Herodes und geriet ungefähr zehn Jahre vor diesem Weltkriege in die GefangfOk-
Schaft der Parther, wo er den Tod fand. (Josephus Jüdischer BCrieg I 13).
**) Zur Ehre des Priors Gabriel Tellez wollen wir annehmen, dafe dies ein Druck-
fehler für 733 ist.
Die Dramen von Herodes und Mariamne. II. 897
er doch eingeladen war, nicht Teil genommen, ja davon gar nichts
gewufst zu haben scheint. Aber Augustus läfst uns nicht Zeit zum
Erstaunen und Fragen, denn er mufs dem Antonius nach Ägypten
nachjagen. Kurzer Hand setzt er dem Herodes die dem Faselo ab-
genommene Krone auf und schenkt ihm den Bruder noch dazu.
Herodes stellt philosophische Betrachtungen über die Wandelbarkeit
des Glückes an und beschliefst, den Faselo nicht zu töten, ihn lebens-
lang im Kerker zu quälen sei süfsere Rache, meint er.
Wie Wermut fallt in diese Süfsigkeit ein anonymer von Herodes
aufgefangener Brief, in dem es heifst, Gouverneur Josefo bewache
wohl die Mariadnes, aber nicht ihre Ehre, und von dem Leichtsinn
einer Strohwitwe sei alles zu befurchten. Herodes ist der Mann, auf den
geringsten Verdacht hin stets das schlimmste zu befurchten und eilt,
vor Eifersucht rasend, spornstreichs nach Jerusalem. Bei aller Eile
findet er jedoch Zeit, Betrachtungen über die schlechte Einrichtung
der Welt anzustellen: Alles kostbare ist sorgfaltig verwahrt und ge-
schützt, das Gold im tiefsten Bergesschacht, die Perle in der Muschel
am Meeresgrund, nur unser kostbarstes, die Ehre, hängt von Laune
und Leichtsinn einer Frau ab.
I que la honra, que es suma
de todo el valor y ser
la fie de una muger,
que es viento, sombra y espuma.
In der nächsten Scene, die wieder in Jerusalem spielt, erfahren
wir, dafs Salome die Verfasserin des anonymen Briefes ist. Sie be-
klagt sich bei ihrem Gatten Aristobolo über den Hochmut und das
beleidigende Benehmen seiner Schwester Mariadnes. Diese wieder
klagt vor Josef über den grausamen Befehl des Herodes, der auch
ganz überflüssig sei, da sie Qhnehin nach dessen Ableben sich selbst
getötet hätte. Josef sucht sie zu beruhigen und macht ihr den sonder-
baren Vorschlag sich vorzustellen, Herodes kehre als von Augustus
eingesetzter König zurück und zur Zerstreuung mit ihm den herzlichen
Empfang einzustudieren, den sie dem geliebten Gatten bei seiner
Ankunft bereiten werde.
Mariadnes geht auf diesen, wir wissen nicht ob naiven oder
hinterlistigen, Vorschlag ein, und sie beginnen ihre Rollen einzu-
studieren:
Josef: „Teuere Gattin".
Mariad. „Oh geliebter Fürst, wie beglückt mich deine Gegenwart!"
Während sie ihre immer zärtlicher werdenden Wechselreden fort-
898 Marcus Landau.
setzen und zugleich den Faselo, ohne dessen Namen zu nennen,
schmähen, schleicht sich Herodes unbemerkt herein und behorcht sie.
Er bezieht das, was sie von Faselo sagen auf sich, und das, was er
sonst sieht und hört würde genügen, selbst den gefalligsten Ehemann
zum Othello zu machen. „Teueres Herz** seufzt Josef, und „Süfser
Geliebter^ antwortet Mariadnes. n^^i^st du mich denn nicht zärtlicher
zu empfangen?" Mariadnes: „Wie denn?" — „Indem du mich umarmst''
antwortet Josef.
Das wird begreiflicher Weise dem horchenden Gatten zu viel,
besonders da er noch den anonymen Brief in Händen hat. Wütend
stürzt er aus seinem Horchwinkel hervor, will keine Entschuldigung
und Erklärung anhören und läfst die Beiden ins Geifangnis abfuhren.
Was mit Mariadnes weiter geschieht, wird uns nicht gesagt, aber aus
den Worten des Herodes
que el talamo de sus bodas
serä un mortal cadahalso
können wir schliefsen, dafs sie kein gutes Ende nehmen wird.
Nun könnte der Vorhang fallen, aber Molina mufs noch die Ge-
schichte des Herodes fortsetzen. Ein Bote meldet die Ankunft der
vom Stern geleiteten drei Könige aus dem Morgenlande und beschreibt
sie und ihr Gefolge sehr ausfuhrlich. Sie fragen überall nach dem
neugeborenen König der Juden, was den Herodes veranlafst, den
Befehl zur Ermordung aller Nachkommen König Davids, vor allem
des Aristobolo, des Josef und des Senats der Siebzig (der doch ge-
wifs nicht aus Neugeborenen oder lauter Nachkommen Davids bestand)
zu erteilen.
Und jetzt begreifen wir erst, wozu Molina die Hirten in das Eifer-
suchtsdrama einführte. Sie kommen jetzt, um die Geburt des Kindes
in Bethlehem, die Erscheinung des Gloria in altissimis Deo singenden
Engels, die Anbetung des Kindes in der Krippe durch die drei Könige
u. s. w. zu schildern. Kurz, ein Weihnachtsspiel im Stile des Gil
Vincente ist in die Eifersuchtstragödie eingeschaltet und daran schliefst
sich wieder der Mord der unschuldigen Kinder. Auf die derbkomischen
Scenen, in welchen die Hirten den neugeborenen König als König von
Carreau, Coeur, TreflF und Pique (Rey de oros, de copas de bastos
de espadas — mit Erlaubnis von Censur und Inquisition ?) feiern,
folgen die Gräuelscenen des Kindermords. Nach der Meldung, dafs
bereits 14000 Kinder getötet wurden, kommen Mütter mit Kindern,
darunter eine mit einem Kinde, das sie dem Herodes selbst geboren,
und flehen um Erbarmen. Aber der unerbittliche Wüterich läist alle,
selbst sein eigenes Kind töten und entfernt sich wütend.
Die Dramen von Herodes und Mariamne. II. 299
In der letzten Scene wird uns ein, wenn der Ausdruck hier er-
laubt ist, lebendes Bild gezeigt: Der tote Herodes, ein ermordetes
Kind in jeder Hand haltend.
Mit der entsprechenden Leichenrede auf den Wüterich schliefst das
Stück, das schwächste der von uns bis jetzt behandelten Mariamne-
Dramen. •
Den Personen fehlt es an deutlich ausgeprägtem Charakter, wir
haben jfür sie keine Sympathie oder Antipathie und selbst den Herodes
können wir nicht recht hassen.
Es fehlt ihm das Schwanken und Zweifeln, das Abwechseln von
Verdacht und Vertrauen, was den Liebenden zum Eifersüchtigen macht.
Er wird überhaupt erst im letzten Akt eifersüchtig, und was er da
mit eigenen Augen und Ohren sieht und hört, mufs ihn von der
Schuld seiner Frau überzeugen. Sonst macht er eher den Eindruck
eines Wahnsinnigen, und ganz unbegreiflich erscheint es, wie er nach
so vielen Heldentaten während des Entscheidungskampfs zwischen
Antonius und Augustus untätig bleibt und sich ohne Widerstand zu
leisten von Faselo wie ein unschuldiges Lamm in Bande legen läfst.
Mit wem es Josef hält, ob er ein Dummkopf oder schlauer Verräter
ist, erfahren wir nicht. Den ihm erteilten Befehl Mariadnes zu töten,
hat Molina aus seiner Quelle übernommen, aber er erscheint bei ihm
ganz überflüssig, da er ohne jede Wirkung auf Mariadnes bleibt und
Herodes gar nicht erfahrt, dafs Josef das Geheimnis verraten hat.
Und diese Quelle ist wahrscheinlich nicht direkt das Geschichtswerk
des Josephus, sondern eine von diesem abgeleitete gewesen, da sonst
die Anachronismen kaum zu erklären wären. Ein Dramatiker kann
sich nicht streng an die historische Wahrheit halten, aber er soll von
ihr nur im Interesse der poetischen Wahrheit abweichen; Molinas
Verletzungen der historischen Treue schädigen aber sein Stück noch
mehr, als es die prosaischeste Kopierung von Josephus Bericht tun
könnte. Die wenigen schönen Stellen und ergreifenden Scenen ent-
schädigen weder für die mifslungene Erfindung, noch für das Über-
mafs des Schwulstes.
DC.
Cristobal Lozano, ein Doktor der Theologie und Kaplan an der
Kathedrale von Toledo, den Ticknor (a. a. O. IE 328 und 434) nur
als Verfasser historischer Novellen und moralischer Schriften kennt,
hat auch einige dramatische Werke geschrieben, darunter ein biblisches
800 Sfarcus Landau.
Drama: „Los trabajos de David y finezas de Michol," mit dem
unvermeidlichen „Gracioso" und die „Comedia famosa^ „Herodes
Ascalonita y la hermosa Mariana"*).
Die Ausführung dieses Stücks mufs grofse Kosten für Beleuch-
tung erfordert haben, denn die Handlung geht gröfstenteils in der
Nacht vor sich. Die Personen kommen mit Kerzen und Laternen auf
die Bühne, die zu rechter Zeit verlöschen oder verlöscht werden, um
Verwechslungen, Täuschungen und Zusammenstöfse im Dunkeln zu
ermöglichen. Gewöhnlich werden die Personen von erschreckenden
Träumen oder rätselhaften Rufen aus dem Schlafe aufgejagt und
kommen im Nachtgewand, die Männer stets mit gezogenem Degen,
auf die Bühne gestürzt. Gleich im Beginne des ersten Akts haben
Mariana und Josefo, ihr platonischer Liebhaber und Gatte Salomes,
gleichzeitig solche schreckliche Träume, die sie einander bei Kerzen-
licht im Neglige erzählen. Josef berichtet ohne Namen zu nennen
von seiner Jugendgeliebten (Mariana), die ihn verlassen, um einen
Andern (Herodes) zu heiraten. Er habe sich darin gefunden und
Salome geheiratet, deren treuer Gatte er nun sei; ist ihm doch der
böse Traum gekommen
quando estando con mi esposa
despues de delidas tiernas.
Und sein Diener Lazaro, die komische Person des Stücks, wun-
dert sich, wie sein Herr eine Frau
en la cama como un sol
zurücklassend, auf nächtliche Abenteuer ausgehen könne.
Dafs Salome, die ihren Gatten zu nachtschlafender Zeit im tete-
ä-tete mit Mariana findet, eifersüchtig wird, können wir leicht begrei-
fen und wir nehmen es ihr auch nicht übel, wenn sie nach der andert-
halbhundert Verse langen Rede, welche ihre Schwägerin in Unterrock
und Nachthaube hält, noch eifersüchtiger wird. Doch gelingt es dem
Diener Lazaro den Frieden zwischen ihr und Josefo herzustellen.
*) Sie sind abgedruckt in den Soledades de la vida y desengaöos del mundo.
Novelas y comedias exemplares escritos por el Licenciado Don Caspar (sie) Lozano,
Rector del Colegio de nuestra Senora de la Anunciation de Murda, Madrid 1663. Der
Widmungsbrief an Don Pedro Portocarrero, in dem der Verfasser die Soledades als
Jugendwerke bezeichnet, ist von Christoval Lozano unterschrieben ; in den Überschrif-
ten der Dramen nennt er sich wieder Caspar. Nach Barrera y Leirado, „Catalogo bi-
bliografico y biografico del Teatro antiguo espafiol**, Madrid 1860 S. 225 war Christobal
Commissär der Inquisition und königlicher Kapellan (geb. um 161 8), der wirkliche Ver-
fasser, dessen Namen als solcher aber erst in den nach seinem Tode erschieneoen Aus-
gaben genannt wurde. Die erste Ausgabe der Soledades erschien 1658.
Die Dramen von Herodes und Mariamne. II. 301
Dann wird es Tag und wir sehen den triumphartigen Einzug des
Herodes, der bis über die Ohren in Mariana verliebt, darüber beun-
ruhigt ist, dafs sie ihm nicht entgegengekommen sei. Aber er schliefst
dann aus seinem eigenen Wohlbefinden auf das ihrige, denn sie beide
bilden ja nur eine Seele; wäre sie gestorben, so hätte auch ihn schon
der Tod erfafst
Si fuera muerta mi esposa,
quando un alma en dos mitades
igualmente nos anima
toda Junta en cada parte,
no era for90SO, que yo
en parasismos lethales,
despulsadas los alientos
y roto el vital estambre
huviera tambien passado
los destro^os de cadaver?
Claro esta; pues si me miro
sano, animoso, arrogante,
no es claro que este valor
lo anima todo aquel Angel?
Nicht ohne Verwunderung werden wir später einen sehr ähn-
lichen Gedanken bei Hebbel (Akt IV 8) wiederfinden. Auch bei ihm
sagt Herodes:
„Zwei Menschen, die sich lieben, wie sie sollen.
Können einander gar nicht überleben.
Und wenn ich selbst auf fernem Schlachtfeld fiele :
Man brauchte dir*s durch Boten nicht zu melden.
Du fühltest es sogleich, wie es geschehen,
Und stürbest ohne Wunde mit an meiner 1^
Endlich kommt Mariana, die zwar ihren Gatten hafst, weil er ihren
Bruder töten liefe, äufserlich aber nichts davon merken läfst und ihn
bittet, ihr seine Erlebnisse zu erzählen. Er tut es, sie mit zweihundert
Versen überschüttend, was wir der Heuchlerin gönnen.
Herodes hat in Ägypten das Büd Marianas in den Händen des
darin verliebten Marcus Antonius gesehen, der aber nicht wufste, wen
es vorstelle, ganz wie Octavianus bei Calderon. Der Triumvir hat
zwar, als ihm Herodes sagte, es sei das Porträt seiner Frau, seiner
Liebe entsag^, aber Herodes ist doch unruhig und eifersüchtig imd
sucht den Josefo darüber auszuholen. Es geschieht dies in einer geheimen
Unterredung, die von einer Seite von Lazaro, von der andern von
802 Bfarcus Landau.
Mariana hinter dem pano, dem unentbehrlichen Requisit der spani-
schen Bühne, behorcht wird. Sie begleiten die Unterredung mit ihren
a parte Zwischenrufen, reagieren aber nicht weiter auf das Vernommene.
Zwischenfalle, die auf den Fortgang der Handlung ohne Einflufs sind,
gehören zu den Eigentümlichkeiten dieses Stückes.
Der zweite Akt beginnt wieder mit einer Nachtscene, zu der Jo-
sefo und Herodes, jeder mit Kerze und gezogenem Degen, heran-
schleichen. Herodes hält aufserdem noch einen Brief in der Hand,
(wieviel Hände hat denn der Mann?), der ihm auf sonderbare Weise,
im Schlafe, zugekommen ist. Er ist an Alexandra, Marianas Mutter,
gerichtet, kommt von Marcus Antonius und betrifft das erwähnte
Porträt. Da Herodes zugleich vom Römer aufgefordert wurde, nach
Laodicea zu kommen, um sich zu verantworten, so sieht er im ganzen
eine Intrig^ue, um ihn zu verderben und g^ebt daher dem Josefo den
bekannten Befehl, wenn Antonius ihm das Leben nehmen würde, Ma-
riana zu töten. Diese Unterredung wird von Wutanlfallen und Hai-
lucinationen des Herodes unterbrochen, in denen er Josefo £ur Mar-
cus Antonius hält und ihn zu erstechen versucht. Dabei läsft er es
aber auch nicht an schwülstigen Reden fehlen und sagt von Marianas
Tränen sprechend
me eche hidropico a beber
a las fuentes de sus ojos.
Bald nach seiner Abreise läfst sich Josefo verleiten, Marianen
den Mordbefehl zu verraten und verspricht ihr, ihn nicht auszufuhren.
Sie läfst dagegen merken, das sie ihn noch liebe, aber ihrem Gatten
treu bleiben werde und zankt dann in nicht königlicher Weise mit Sa-
lome. Diese verfallt auf eine sonderbare List, um über die Beziehun-
gen ihres Gatten zu Mariana ins Klare zu kommen. Sie schickt ihr
durch Lazaro einen Liebesbrief ohne Adresse, den sie einst von Jo-
sefo erhalten *). Es ist dies jedenfalls eine viel unschuldigere List,
als die in den andern Dramen vorkommende Beschuldigung der Gift-
mischerei, bleibt aber ohne Wirkung. Der Brief fallt zwar in Herodes
Hände, aber der furchtsame Überbringer gesteht, dafs er ihn von
Salome empfangen hat und diese giebt zu, dafs sie ihn geschickt habe,
um Mariana auf die Probe zu stellen. Bevor diese Aufklärungen ge-
geben werden, haben wir noch mancherlei Sonderbares zu sehen und
zu hören: Nachtscenen, ganz lustspielmäfsig mit ausgelöschten Lich-
tern, umgestürzten Tischen, Verwechslungen, Zusammenstöfsen, Qui-
*) Bei Tirso de Molina operiert Salome mit einem anonymen Brief an Herodes.
(S. oben. S. 397).
Die Dramen von Herodes and Mariamne. II. 803
proquos und dergleichen. Herodes ist gar nicht zu Marcus Antonius
abgereist und schleicht sich, gar nicht königsmäfsig mit Laterne und
Degen durch eine geheime Tür in Marianas Zimmer ein, um sie zu be-
lauschen, rauft im Dunkeln mit Lazaro, und das Ganze endet mit
allgemeiner VerblüflFung.
Trotz der gestörten Nachtruhe finden wir am Beginne des dritten
Aktes Mariana am frühen Morgen singend im Garten, wohin auch
Josefo kommt und seinen Gesang anstimmt. Das Duett wird durch
Lazaro und Marianas Kammermädchen Isabel unterbrochen, die voll
Angst melden, sie seien bei einem Tete-ä-tete in Marianas Schlaf-
zimmer von dem durch die geheime Tür mit Degen und Laterne ein-
gedrungenen Herodes überrascht worden. Dieser und Salome, noch
im Neglige, folgen ihnen auf dem Fufse. Dafs die Eifersucht des
Herodes durch die Morgenpromenade seiner Gattin mit Josefo er-
regt wird und dafs Salome sie zu schärfen bemüht ist, das ist leicht
begreiflich. Es kommt zu einer lebhaften Auseinandersetzung zwischen
den Gatten, in deren Verlauf Mariana ihrem Manne den an Josefo
erteilten Mordbefehl vorwirft. Dadurch und durch die Fürbitte Ma-
rianas für Josefo wird die Eifersucht des Herodes aufs höchste ge»
steigert und er läfst den Josefo ins Gefängnis bringen. Mariana
bittet um strenge Untersuchung und beteuert ihre Unschuld.
In der nächsten Scene finden wir Josefo im Gefängnis, wo ihn
Mariana mit der Laterne besucht und dem zu Tode Verurteilten Ge-
legenheit zur Flucht bietet. Er will aber lieber sterben als durch
die Flucht seine und ihre Ehre kompromittieren. Dann kommen die
Wachen und fuhren beide durch verschiedene Türen ab. Man hört
Josefos Worte „Ich sterbe unschuldig!" und Mariana fallt in Ohn-
macht. Der Ohnmächtigen erscheint in einer Wolke die Fama mit
Lorbeer gekrönt, einen Palmzweig in der Hand. Mit den Attributen
anderer Gottheiten geschmückt, begnügt sie sich nicht, Stadt- und
Weltneuigkeiten zu erzählen, sondern wagt sich an das Prophezeien.
Sie verkündet Marianen ihren und ihrer Kinder Tod, sowie den des
ganzen Synedrium, das über sie richten soll, dann die Geburt des
Heilands und den Kindermord in Bethlehem. Die Königin erwacht
aus ihrer Ohnmacht und sieht in Verzückung die heilige Jungfrau
mit ihrem Kinde auf der Flucht, wozu ihr Fama die nötigen Erklärungen
giebt.
Von einem Verhör und einer Verurteilung Marianas hören wir
nichts; aber in der nächsten Scene finden wir Herodes bei Tische,
auf dem alle Speisen und alles Geschirr mit Blut bespritzt sind.
Ztschr. f. ygl Litt.-Gescb. N. P. VIU. 20
304 Marcus Landau.
Selbst das Wasser, das ihm zum Waschen, und die Servietten, die
zum Abtrocknen gereicht werden, sind blutig. Salome entschuldigt
sich weinend, sie könne ihm keine andere Servietten geben, alle ihre
holländische Leinwand sei mit dem Blute ihres Gatten getränkt.
Pues sangre de Joseph mancha
las olandas y cambrayes.
Der anfangs entsetzte Herodes findet bald seinen Appetit wieder
und läfst sich die blutigen Bissen schmecken, bis man draufsen schreien
hört: „Justicia cielos, Justicia!^ Auf die Frage des Herodes, was
der Lärm bedeute, schildert ihm Lazaro ausfuhrlich die Hinrichtung
Marianas. „Du betrügst mich, Schurke!" schreit der wütend werdende
König. Da zieht Salome einen Vorhang weg und man erblickt den
sitzenden Rumpf Marianas. Herodes, noch wütender, wirft den Tisch
um, läuft mit dem Messer im Zimmer herum, so dafs alle vor ihm
entfliehen und geht endlich ab, mit dem Entschlüsse, sich zu töten.
Lazaro, der allein auf der Bühne geblieben, verkündet, dafs die
traurige Geschichte von Herodes und Mariana zu Ende sei, „w^er
näheres erfahren wolle, der lese Philo, Josephus oder die Annalen
des Pineda".
Man kann das in bald schwülstiger, bald niedriger Sprache ge-
schriebene Drama die extravaganteste Behandlung des Mariamne-
stoffes nennen. Die Eifersucht des Herodes ist zwar besser motiviert
als in vielen der anderen Bearbeitungen, aber es ist eine lustspiel-
mäfsige Motivierung, wie auch das ganze Stück trotz des schreck-
lichen Ausgangs mehr den Eindruck eines Lustspiels als einer Tra-
gödie macht. Ja, wiederholt drängt sich beim Lesen die Frage auf:
Haben wir es mit einem ernstgemeinten Stück eines Stümpers oder
mit einer Parodie der Dramen Calderons und Tirso de Molinas zu
tun? Gegen letztere Vermutung spricht freilich das sehr lobende, den
„Soledades" vorgedruckte Empfehlungsschreiben Calderons vom
12. Juli 1658, in welchem es u. a. heifst: »que a mi corto juido me-
rece su autor sobre las gracias de averlo escrito la licencia que pide
de imprimirlo".
Tirso de Molinas Mariadnes und Lozanos Herodes sind un-
fruchtbar geblieben, aber THermites Mariamne hat die Voltaires
hervorgerufen und die Mariene Calderons wurde schon 1670 von
Giacinto Andrea Cicognini unter dem Titel Mariena owero il magg^or
mostro del mondo ins Italienische übertragen*). Ein halbes Jahr-
*) J. L. Klein, Geschichte des Dramas V, 717 VI, I» 58.
Die Dramen voo Herodes ood Mariamne. ü. 805
hundert später (1724) wurde in Venedig das Musikdrama La Mariane
oder Eccessi della gelosia, Text von Domenico Lalli, Musik von
Tomaso Albinoni aufgeführt*). Nach den Namen der auftretenden
Personen — Mariane, Arminda, Ottaviano, Tolomeo — zu urteilen,
beruht das Stück entweder direkt auf Calderon oder auf Cicogninis
Bearbeitung. Fast gleichzeitig mit dieser tauchte das Ehama Cal-
derons in Deutschland auf. Im Jahre 1674 wurde in Dresden von
den Hamburgischen Komödianten „Das g^ofse Ungeheuer oder der
eifersüchtige Herodes'* aufgeführt, und damit identisch ist wohl das
ebenda 1688 aufgeführte Stück „Vier Fürsten (Vierfürst) Herodes"**).
Ein von den Jesuiten 1656 in München mit grofsem Beifall auf-
geführtes Schuldrama: "Herodes filiorum suo.rum camifex (Alexander
et Aristobulus Tragoedia)***) dürfte seinem Titel nach nicht zu den
Mariamne-Tragodien gehören.
X.
Der entsetzliche Vielschreiber, Pfarrer Johann Rist (1607— 1667),
aus Pinneberg in Holstein, „der Rüstige, wo man sein bedarf" in der
Fruchtbringenden Gesellschaft und Gründer des Schwanenordens an
der Elbe, sagt in einem Klagegedichte über „gar zu frühzeitiges Ab-
sterben Herrn Ernst Stapelen" f): „Herodes, Wallenstein und Gustav
waren mein" und bemerkt dazu in einer Anmerkung (Bogen O.
Blatt 2): „Diese sind alle gantz neue und vor einiger Zeit erfundene
und ausgearbeitete Tragaedien, zu welchen noch gehören meine
Polymachia, Irenochorus, Berosiana, Begomina und noch andere mehr,
deren aber gleichwohl keine (aufser dem Herodes, als welcher unter
allen die älteste) auflF die öffentliche Bühne ist gebracht worden".
Da der Herr Stapel 1635 starb und Rist hier den Herodes als
seine älteste Tragödie nennt, so mufs sie wohl eine Jugendarbeit sein.
Ob sie gedruckt wurde, giebt er nicht an. Ich habe sie nicht finden
können und war hierin nicht glücklicher als Gottsched, der in seinem
Nötigen Vorrat (I 200) sagt, er habe alle diese Stücke niemals ge-
*) T. Wicl im Nuovo Archivlo veneto 1891 vol. ü. 388.
**) Moritz FQrstenau, Zur Geschichte der Musik und des Theaters am Hofe zu
Dresden. Dresden 1861, I 244, 304. S. auch Carl Heine, Das Schauspiel der deutschen
Wanderbühne vor Gottsched. Halle 1889. S. 10.
♦**) K. V. Reinhardstöttner im Jahrbuch für Münchener Geschichte III (1889)8. 115.
f) Johannis RistU Holsati Poetischer Lust-Garte, Hamburg 1638, ohne Paginiening.
Das Gedicht 6ndet sich auf Blatt 7 von Bogen N.
20*
806 Marcos Landau.
sehen **). Für diesen Entgang werden uns Klaj und Hallmann mehr
als genügend entschädigen.
Einige Jahre nach Rists Lustgarten ist (1645 ^ Nürnberg) des
deutschen Dichters und Pegnitzschäfers Johann Klaj (1616 — 1656)
„Herodes der Kindermörder, nach Art eines Trauerspiels ausge-
bildet und in Nürnberg einer Teutschliebenden Gemeine vorgestellt"
erschienen, geziert mit den Porträts von Herodes und Mariamnel Es
kann aber dieses Werkchen in „trochäischen Versen männlicher und
weiblicher Art", kaum ein Drama und noch weniger ein Mariamne-
Drama genannt werden. Es findet sich darin keine eigentliche Hand-
lung, denn das Wenige das geschieht geht hinter der Scene vor und
wird von Boten erzählt. Es besteht g^öfstenteils aus langen Reden,
lyrischen Ergüssen und Deklamationen in dem bekannten schwülstigen
Stile der sogenannten zweiten schlesischen Schule. Jeder Rede wird
nicht einfach der Name des Redenden, sondern eine kurze Inhalts-
angabe vorangesetzt. Den 620 Versen des dramatischen Gedichts folgen
bei siebzig Verse über den traurigen Zustand Deutschlands im dreifsig-
jährigen Kriege und 25 Seiten mitunter höchst kurioser, eine sonder-
bare Gelehrsamkeit bietender Anmerkungen. Den Beschlufs machen
Klaj's Schäferkollegen Philipp Harsdörffer mit einer Abhandlung über
das Drama im Allgemeinen und Sigmund von Birken (Betulius) mit
einem Lobgedicht auf Klaj.
Die Schlufsbemerkung (S. 54): „Dieses Trauergedicht ist mit
einer beweglichen Musik angefangen, gesondert und geendigt worden",
läfst annehmen, dafs dieser „Herodes" aufgeführt oder vielmehr vor-
deklamiert wurde. Seinen eigentlichen Inhalt büden nicht die Schick-
sale Mariamnes, sondern die auf Befehl des Herodes aus Furcht vor
dem durch den Stern und die Magier aus dem Morgenlande ver-
kündeten neugeborenen König der Juden, ausgeführte Ermordung der
Kinder in Bethlehem und die darauffolgenden Gewissensqualen und
Reue des Herodes. Das Stück beginnt schon nach dem Tode
Mariamne's, deren Todesursache nicht angegeben wird und von der
Herodes ziemlich gleichgültig sagt: „als ich neulich Weib und
Kinder hingerichtet".
Statt der lebenden Mariamne tritt ihr Geist auf, begleitet von
den Geistern ihrer Kinder „aus dem Abgrunde der Höllen", um dem
Gatten eine posthume Gardinenpredigt zu halten:
**) „Weder ein Herodes noch ein glückseliges Britanien sind bekannt geworden".
(Goedeke, Grundrifs 2, Aufl. HI. 87.
Die Dramen von Herodes und Mariamne. n. 807
„Der Höllenschlund ist aufgetan,
Ich Mariamnes komm heran,
Mein Antlitz ist mit Blut besprützet,
Stix, der mit Stank und Schwefel hitzet,
Stix, der mit Feuerströmen raucht,
Auch Acheron, der dampfft und schmaucht.
Vermerkt mit allem Höllgewürme.
Herodes Himmelmacht Gestürme.
Der in dem blauen Dache wohnt.
Wird hier im minsten nicht verschont,
Für dem der Fürst der KlufFt erschrikket
Und sich zu seinen Füfsen bükkeL
Der an an den Menschen ausgerast.
Dem Himmel nach dem Kopffe grast.
Das Haufs ist durstig aufgetrieben,
In welchem Ich und Kinder blieben.
Megera hat dein Brautbett mir
Das Hochzeidiecht getragen für.
In welchem ich funff Söhn erzeuget,
Und (wolte Gott niemal) gesäuget.
Die Fruchtbarkeit, der Wangenliecht,
Hat mich und Kinder hingericht.
Die Freunde sind dahingegangen,
Wo nimmer nicht ist herzulangen.
Fort, fort, ihr Schwestern, säumt euch nicht*),
Werift ihm die Funken ins Gesicht,
Lafst euer Haar verwirret hangen.
Auf, foltert ihn mit Feuerzangen."
*) Klaj citiert hier aus Heinsius:
cur adhac cessant faces
Saevae sorores? ....
and aus der Medea des Seneca (V. 13 — 15)
Adeste, adeste sceleris ultrices deae
Crinem solutis squalidae serpentibus,
Atram cruentiß manibus amplexa faceza.
306 Marcus Landau.
Darauf beginnen die „Plagegeister" ihrer AuflFordening ent-
sprechend dem Herodes zuzusetzen:
Wir Geister aus der Höllen *),
Verfolgen den Gesellen,
Er will sich unterstehen.
Ein solches zu begehen,
Was alle Welt und niemand hat erfahren.
GreifFt an, greifft an und schleppt ihn bei den Haaren,
Stofst ihm die Fakkeln in die Augen,
Er mag die Drachenmilch aussaugen,
GifFtaufgelaufene Nattern zischen,
Kein Tröpflein Wasser soll ihn frischen.
Die er mit Blut und Mord zum Abgrund wollen schikken,
Mufs er in einem Traum mit Furcht und Angst erblikken."
Gegen die höllischen Geister zeigt Herodes den grofsmauligsten
Trotz:
„Zerzerret, zerstukket
Zerfleischet, zerknikket.
Rauchet und schmauchet,
Rädert und ädert,
Rekket und strekket,
Henket, ertrenket.
Schwenket, verrenket.
Naget und plaget,
Täuffet, ersäu£fet,
. Foltert imd poltert,
Senget und brennet,
Zwakket, zerhakket.
Arm und Bein,
Hin und wieder
Meine Glieder,
Grofs und klein.
Ich bin ja keinem unterthan.
Will stehn bis auf den letzten Mann."
Dann läfst er die Kinder in Bethlehem töten und als er vernommen,
dafs sein Anschlag mifslungen und das Kind Jesu nach Ägypten ent-
kommen ist, läfst er seine eigenen noch lebenden zwei Kinder grau-
sam hinrichten.
') Heinsius;
Sequimur ultrices Deae
Sequimur Tyrannum.
Die Dramen von Herodes und Marianme. II. 809
Am Schlüsse verfluchen ihn die Belhlehemitischen Weiber in vier-
zehn vierzeiligen Strophen, und Klaj zweifeh nicht, dafs die Zuhörer
in den Fluch einstimmen werden.
Die Mordscenen in Bethlehem werden in gröfster Ausführlichkeit
und mit dem entsetzlichsten Schwulst geschildert, mit welch letzterem
Klaj seinen Zeitgenossen THermite weit übertrifft. Dafs dieser „be-
rühmte Frantzos" ein Trauerspiel von Mariamne geschrieben hat, weifs
der deutsche Dichter, wenn er aber hinzusetzt, er habe sie darin „ver-
glichen mit Maria der jüngstverstorbenen königlichen Wittib als sie
aus Frankreich geflohen", so scheint er es nur sehr flüchtig gelesen
zu haben *). Calderons Drama erwähnt er nicht, doch ist es auf-
fallend, dafs er Herodes sagen läfst, er wolle das nach Ägypten ent-
flohene Jesuskind nach Memphis verfolgen, also wie der Spanier
Memphis und nicht Alexandria für die damalige Hauptstadt des
Pharaonenlandes hält.
Als seine eigentliche Quelle nennt aber Klaj Daniel Heinsius:
„Es hat", sagt er S. 29, „der edle und unvergleichliche Niederländer
Heins von diesem Blutbade ein Trauerspiel gemacht, welchem wir in
vielen nachgegangen, alldieweil solches kunstgefugte Werk je und je
von der gelehrten Welt hochgehalten worden".
Die Verse des Niederländers werden von Klaj mehrmals im
Original angeführt und mit solchen Senecas verglichen.
In Danielis Heinsii Poematum editio nova Lugd. Bat. 1621 Elzevir
habe ich das Trauerspiel von Herodes „Herodes infanticida" nicht
gefunden, wohl aber in der Amsterdamer Ausgabe der Poemata von
1649 S- ^'^ — ^^* ^ beginnt mit der Geburt Jesu und der Ankunft
der drei Magier aus dem Morgenlande imd endet mit der Abschlach-
tung der Kinder in Bethlehem. Mariamne erscheint nur als Geist,
begleitet von Tisiphone und anderen Furien aus der Hölle und be-
ginnt ihre Rede mit
Adsum recluso noctis ignavae sinu,
Coecisque latebris, sparsa Mariamne comam
Notis cruentae caedis etiamnum tremens . . .
Eine Benutzung von Calderons Drama als Quelle , wie sie
A. Farinelli (Bd. V. dieser Ztschft. S. 187) annimmt, habe ich in Heinsius
Dichtung nicht wahrgenommen. Wohl aber wurde diese von Opitz
*) AlsrHermite sein Drama schrieb, befand sich König^in Maria, Witwe Heinrichs IV.,
in der Verbannung, und der Dichter wird sich wohl gehütet haben, mit ihrer Verherr-
lichung den mächtigen Minister Ludwig XHI., Kardinal Richelieu, herauszufordern.
310 Marcus Landau.
ins Deutsche übertragen und scheint auch von Andreas Gryphius zu
seinem epischen Gedicht „Dei vindicis impetus et Herodis interitus**
(1635) benutzt worden zu sein. Auch bei ihm erscheint der Geist
Mariamne's strafend und Unheil verkündend dem Herodes, und Verse wie
Visa Caput moestum per hiantia viscera terrae
Tollere et efFracta Mariamnae accedere tumba
• •••••
Pectoris ostentat vulnus, monumenta nefandae
Caedis et efTuso concretos sanguine crines
Funereas quassat flammas u. s. w.
scheinen aus einer gemeinsamen Quelle mit manchen der oben citierten
Klajs geflossen zu sein.
Einen weiteren Bezug auf die Eifersuchtstragödie hat des Gryphius
Gedicht nicht, und noch weniger hat damit dessen ein Jahr vorher
erschienenes „Herodis furiae et Racheiis lacrymae" zu tun". Eine
Inhaltsangabe davon findet sich in F. W. Jahns Programm „Ober
Herodis furiae" etc. Halle 1883*).
XL
Für den Mangel an Handlung bei Klaj entschädigt uns der Bres-
lauer „Juris Utr. Candidatus und Praktikus beim Kaiserl. und König!.
Oberambte" Johann Christian Hallmann (geb. zwischen 1640-45,
f 1704) in seiner mit Handlung u. Gräuelsfcenen überladenen Maria mne,
deren vollständiger Titel in den bei J. Fellgiebel in Breslau erschienenen
„Trauer-, Freuden- und Schäffer-Spielen" lautet: „Die beleidigte Liebe
oder die grofsmütige Mariamne, von Joh. Chr. Hallmann Erfundenes
und in Hoch-Teutscher Poesie gesetztes Trauerspiel"**). In dem vom
15. Dezemb. 1670 datierten Widmungsschreiben an den Grafen Christoph
Leopold V. Schaffgotsch sagt Hallmann, dafs sein Stück bereits einige
*) Diese Mitteilungen über Gryphius verdanke ich der besonderen Gefälligkeit
des Herausgebers dieser Zeitschrift Herrn Professors Max Koch. S. übrigens noch
A. J. van der AA Biographisch Woordenboek der Nederlanden, Hartem 1867 Bd. 8 I
S. 431, wo auch eine Ausgabe des Herodes infanticida von 1632 angeführt ist.
**) Diese undatierte Ausg. enthält aufser der Mariamne die Trauerspiele Sophia,
Theodoricus Veronensis, Antiochus und Stratonice^ Katharina (Gemahlin Heinrichs VIFI),
einige „Pastor eilen", zwei aus dem Italienischen übertragene Stücke und eine Be-
schreibung ,,All6r Obristen Hertzoge über das gantze Land Schlesien". In der Vorrede
zum Schäferspiel Adonis und Rosibella sagt Hallmann, dais er es dem Kaiser Leopold im
November 1673 in Wien überreichte. Die Ausgabe kann also nicht, wie es in der AUg.
Deutschen Biographie (X. 445) nach StoUe heifst, von 1672 sein.
Die Dramen von Herodes und Mariamne. IL 311
Mal in Breslau aufgeführt worden sei. Es füllt aufser einer unpaginierten
Einleitung von 14 Seiten und gelehrter Anmerkungen gleichen Umfangs
106 enggedruckte Seiten. Hallmann nennt als seine Haupt quelle den
Josephus, den er in seinen Anmerfcungen oft, mitunter auf griechisch
citiert. Aufserdem dtiert er lateinische, französische und italienische
Werke, aber weder Dolce noch PHermite. Trotzdem lassen manche
Einzelheiten schliefsen, dafs er diese Dramen kannte. Im Stile ahmt
er seinen Landsmann und Zeitgenossen Lohenstein, den hochange-
sehenen Syndicus der Stadt Breslau nach, in der dramatischen Form
ist der Einflufs des damals in Mode gekommenen italienischen Musik-
dramas unverkennbar.
Die Handlung geht nach seiner Angabe im Jahre der Welt 3922,
vor Christi Geb. 25 vor sich, „beginnt mit dem anbrechenden Morgen,
wehret den Tag und die Nacht durch bifs auf folgenden Mittag", was
Gottsched (Not. Vorr. I. 226) zu der Bemerkung veranlafst: „Dieses
Stuck ist besonders in Absicht auf die Einheit der Zeit fehlerhaft."
Da er aufser dieser Einheitsverletzung von einigen Stunden nichts
einzuwenden hat, nicht einmal gegen die häufigen Scenenverwand-
lungen, so hat er wohl mehr als die Einleitung nicht gelesen.
Hallmann war so rücksichtsvoll, seinem Stück einen kurzen In-
haltsauszug voranzuschicken. Ich will daher diesem folgen und nur
hie und da einiges aus dem Text des Stückes, sowie auf dessen Ver-
hältnis zu anderen Mariamne-Dramen Bezügliches einschalten. Vor
allem mufs ich aber das umfangreiche Personenverzeichnis mitteilen.
An „spielenden Personen" fuhrt er auf: Herodes, Mariamne, ihre
Mutter Alexandra, ihre Kinder Aristobulus IV. und Alexander III.,
ihren Grofsvater Hyrcanus, gewesener jüdischer Hohepriester, Phe-
roras, Bruder und Salome, Schwester des Herodes, Antipater, dessen
Sohn von der verstofsenen Frau Dosis*), Josephus, Gemahl Salomes,
zwei Verschnittene, Sohemus und Philo, Arsanes „des vertriebenen
und in die Mariamne verliebten Tyrdates Königes in Parthien Ab-
gesandter, die furnemsten (12) Rabbinen des grofsen Synedrii" mit
Namen, sechs namenlose Staats- Jungfern Mariamnes, zwei Priester,
Blutrichter (Henker), Mundschenk und Page des Königs, Hauptmann
der königlichen Leibwache, dann die Geister von Aristobulus, Jo-
sephus, Hyrcanus und Mariamne und den Berg Sion in höchsteigener
Person.
Zu den „Schweigenden Personen" zählt Hallmann die Wachen
*) So schreibt Hallmann konsequent statt Doris.
318 Marcus Landau.
Diener u. s. w., „die Leiche Hyrcani", der also in dem Drama in drei-
facher Form, als Lebender, als Geist und als Leiche erscheint. Schwei-
gende Personen sind auch die sechs „Eitelkeiten", Ehre, Reichtum,
Wollust, Stärke, Schönheit und sonderbarer Weise auch die Keusch-
heit. Dagegen machen die „Reyen** der königlichen Gnade, der
Frauenlist, des Todes, der Freiheit, der jüdischen Priester, der Wald-
nymphen, des Baches Kidron u. s. w. ziemlich viel Lärm, da sie die
Stelle von Chören vertreten. Auch sonst wird mitunter gesungen
oder eine Rede von Musik begleitet.
Die erste Abhandlung (so nennt Hallmann die Akte) spielt an-
fangs im Gebirge um Jerusalem. Der Berg Sion träg^ in Begleitung
von „Violen di Braccio und di Gamba" einen Gesang vor, in wel-
chem König Herodes stets nur als Bluthund, türkischer Hund, Ver-
dammter Fuchs u. dgl. angesungen wird. Und dieser Redefreiheit er-
freut sich nicht blos der hochansehnliche Berg Sion, auch der kleine
Bach Kidron nennt den König, ohne Furcht vor Polizei und Censur,
einen erbosten Hund und kündigt ihm an (Ende von Akt IV):
„Ja, eh du dichs, du Mörder, wirst versehen,
Wird dir der Höllen Mohr den krummen Hals verdrehen".
Dadurch dürfte Herodes aber wieder einen geraden Hals be-
kommen. — Der Mariamne prophezeit dagegen der Berg:
„Vor Tyrannen werden künfFtig Engel deine Buhler werden!"
Nach dem Berg Sion erscheinen Salome und Antipater und
bereden, wie Mariamne mit ihrer ganzen Familie zu vertilgen
sei. Pheroras widerrät zuerst und stimmt ihnen dann zu. Dabei
entwirft Antipater ein gar verführerisches Bild von der Schönheit
seiner Stiefmutter:
.... „Kein Zeuxis wird sich dürffen unterstehen
Der Mariamnen Pracht mit Farben zu erhöhen.
Dem gröfsten Künstler fallt der Pinsel aus der Hand,
Der diese Göttin sich zu malen unterwand.
Denn welche Feder kann das Alabast der Glieder,
Wo Türkis und Rubin, als festverknüpfte Brüder,
In schönster Anmut spieFn, entwerfen auflfs Papier?**
u. s. w.
Salome aber erklärt, sie wisse nicht, was sie hindern könnte,
ihrem Bruder vorzulügen:
„Wie Mariamne sich mit meinem Eh-Gemahl
Durch allzufreyen Schertz, der meistens aus dem Saal,
-Der reinen Tugend weicht, oflEt allzusehr vergangen".
Die Dramen von Herodes und Mariamne. 11 . 818
In der nächsten Scene, die im Zimmer des Herodes spielt, rühmt
dieser vor dem ganzen Hof sein Glück, seine Macht und die Schön-
heit und Tugend Mariamnes, wird aber von Salome unterbrochen, die
ihre Schwägerin coram publico des Ehebruchs mit ihrem Manne an-
klagt. Herodes befiehlt den Josefus in den Kerker zu werfen und
die Chore schliefsen den Akt.
Im zweiten Akt erzählt Mariamne, ungefähr wie bei Dolce und
THermite (S. obenS. 1 86, 206) ihren Hofdamen ihren schrecklichen Traum,
worüber diese sie zu beruhigen suchen. Dann folgt eine Scene
zwischen ihr und Herodes, der sich als feuriger Liebhaber zeigt und
sie mit so schönen Versen wie:
Blüh Mariamne, blüh! Du Muschel schönster Früchte!
Blüh Mariamne, blüh! Dein hinmilisches Gesichte
Verwelke nimmermehr! Blüh Mariamne, blüh!
ansingt. Ungerührt von dieser blühenden Poesie wirft ihm Mariamne
den dem Josef gegebenen Befehl vor, sie nach seinem Ableben zu
töten, woraus Herodes sogleich schliefst, dafs die Anklage Salomes
der Wahrheit entspreche. Er befiehlt, dem Josef sofort im Ge-
fängnis r)den Schädel abzuhauen^, und in der nächsten Scene sehen
wir schon die Vollziehung des Urteils. Josef beteuert vor dem Tode
seine und Mariamnes Unschuld; dann wird sein Kopf dem Herodes
überbracht.
Die Scene verwandelt sich in einen „Spatzier-Saal". Alexandra
und Hyrcan beschliefsen, nach Arabien zu entfliehen, werden dabei
von Pheroras und Antipater belauscht, die dem König den Anschlag
verraten.
In einer „lustigen Gegend mit vielen Gezeiten" schliefsen die
singenden Reyen des Lebens, des Todes und der Freiheit den Akt,
Letztere setzt dem Tode einen Lorbeerkranz auf und giebt ihm eine
blaue Fahne mit der Inschrift LIBERTAS.
Im dritten Akt werden Hyrcan und Alexandra von Herodes zum
Tode verurteilt und nur letztere auf Bitten Mariamnes zu lebens-
länglichem Kerker begnadigt Wir sehen den alten Hohepriester
von seiner Familie Abschied nehmen und erdrosselt werden. Die
Henker müssen sich beeilen,
„Sonst blitzt der Fürst auflF uns mit schwefellichten Keilen".
Während der letzten Reden Hyrcans „werden im Verborgenen in ein
dazu gespieltes PfeifF-Werck von zwei Diskantisten die Worte
„Heilig! Heilig! Heilig! ist der Herr Zebaoth. Alle Lande sind
seiner Ehren voll!
zierlich gesungen."
314 Marcus Landau.
Auch die Totenfeier Hyrcans im Tempel wird von Chorgesang
begleitet.
Inzwischen beredet Salome den Mundschenk, Mariamne der ver-
suchten Vergiftung des Königs anzuklagen. Die Scene ist ungefähr
wie die entsprechende bei THermite (oben S. 207), nur verstärkt Sa-
lome ihre Uberredungskraft durch eine „Handvoll Geld", die sie dem
Schenken giebt.
Der vierte im Schlafzimmer des Herodes spielende Akt wird durch
ein unter Begleitung von Violen und Bratschen gesungenes Schlummer-
lied eingeleitet. Dann erscheint der Geist König Davids und ängstigt
den schlafenden Herodes so sehr, dafs er voll Schrecken erwacht und
Mariamne herbeirufen läfst:
„Dafs sie die Traurigkeit in Freuden uns verkehr'
Durch ihre Gegenwart und Zucker-süfse Lippen!"
Er findet aber nicht das geringste Entgegenkonmien bei der
Königin, die auf seinen Vorschlag „lafst uns der Wollust pflegen**
antwortet :
„Der Nachen deiner Brunst verfehlt den rechten Port."
Nachdem sie einige Zeit' mit nautischen Ausdrucken disputiert
haben, droht Herodes:
„Wer Fürst und Eh-Bett trotzt, wird schmecken bittre Mandeln"
und Mariamne benutzt die Mandeln um darauf
„Man mufs die Venus nicht in Furien verwandeln"
zu reimen.
Herodes wird immer zärtlicher, bittet um Leistung der Liebes-
pflicht oder wenigstens um einen Kufs, worauf Mariamne mit „dir
Mörder nicht!" reimt und dann als rechte shrew ihn mit einen
Schwall von Schimpfwörtern überschüttet: „Totschläger! Lügen-
freund! Patron verfluchter Laster!" entfliefsen ihren süfsen Lippen
und so fort sine gratia, durch dreifsig Verse ihm den Tod Aristobuls,
Hyrcans und Josefs vorwerfend. Nun verliert auch Herodes die
Geduld und beginnt mit
„Welch TeufFel reitet dich, vermaldeytes Weib?"
zu wettern.
In dieser Stimmung trifft ihn der unangemeldet eintretende Mund-
schenk mit der Denunciation von Mariamnes angeblichem Vergiftungs-
versuch. Das bringt den Herodes ganz in Wut und aufsein Geschrei:
„Mord! Mord! Mord! Mord! Mord! Mord! Man will den Fürsten töten,
Mord! Mord! Mord! Mord! Mord! Mord!«
kommt der ganze Hof zusammengelaufen.
Die Dramen von Herodes und Mariamne. II. 815
Salome schiefst nun ihren dritten Pfeil ab und klagt Mariamne
des Ehebruchs mit dem parthischen Prinzen Tyridat und mit dem
Verschnittenen Sohem an.
Mit dem Partherprinzen wird eine neue Episode eingeführt, von
der sich weder bei Josefus noch in den älteren Dramatisierungen
eine Spur findet. Und Tyridates, obwohl er nicht in Person erscheint,
übt einen grofsen Einflufs auf den Gang der Handlung aus. Wie
wir nämlich später, ungeschickter Weise erst im fünften Akt
erfahren, hatte sich der aus Partien nach Palästina geflüchtete Prinz
oder König in Mariamne verliebt, die aber ihrer Tugend nichts ver-
gab. Und auch seine Liebe war eine reine, respektvolle. So sagt
sein Gesandter Arsanes:
„Hier konnte nun mein Prinz die Mariamne schauen,
Ob deren Göttligkeit er schleunig ward entzückt
Und in das Liebes-Seil, doch mit Vernunft, verstrickt."
Gleichzeitig verliebte sich aber Salome in Tyrdates, und da er
ihre Liebe nicht erwiederte, griff sie gegen ihn und Mariamne zu
allen Mitteln der Verleumdung und er mufste Palästina verlassen.
Woher hat nun Hallmann diese Episode? Gewissenhaft giebt er
in einer Anmerkung an, er habe sie sowie manches Andere aus dem
französischen Roman Cleopatre genommen.
In der Tat finden wir auch das hier Erzählte sowie die Folterung
von Sohemus und Philo in dem zwölfbändigen 1647 — 49 '^^ Paris ge-
druckten, dem Herzog von „ Anguyen" gewidmeten anonym erschienenen
Roman Cleopatre, dessen Verfasser der Gascogner Gautier de Costes
Seigneur de la Calprenede war. Die Episode von Tyridate und
Mariamne, ihre Briefe und unendlich langen Reden nehmen dort das
ganze erste und einen Teil des zweiten Buchs der ersten Abteüung,
sowie das vierte Buch der fünften Abteilung, im ganzen bei vier-
hundert Seiten, ein. Mariamne ist auch hier die reine verfolgte
Tugend, und die höchste Gunst, deren sich Tyridate von ihr erhalten
zu haben rühmen kann — la plus grande et la plus signalee faveur,
que j'ai jamais re9U — ist ein Kufs auf die Stirne. Sie ist wie
alle Heldinnen der französischen Romane des siebzehnten Jahrhunderts,
mögen sie nun Perserinnen, Römerinnen, Agyptierinnen u. s. w. sein,
eine vornehme französische Dame vom Hofe Ludwig XIIL, er-
scheint uns aber doch naturwahrer als Hallmanns Mariamne, die bald
sanft und geduldig ist, bald wie ein Fischweib schimpft.
Soheme ist bei Calprenede noch ein Mann wie alle Männer, und
scheint Hallmann aus eigener WUlkür die fatale Operation an ihm
816 Marcot Landau.
vorgenommen zu haben. Zur Entschädigung hat ihn dann Voltaire,
wie wir weiter unten sehen werden, zum souveränen Fürsten gemacht.
Was das Historische in dieser Episode betrifft, so mag hier die
Bemerkung genügen, dafs Tyridates, ein vornehmer Perser, als
Gegenkönig gegen Phraates IV. aufgestellt, von diesem aber wieder
verjagt wurde und sich (zur Zeit des Kaiser Augustus) nach Syrien
flüchten mufste, von er vielleicht auch nach Palästina kam. Calprenede
hat das Wenige, das man von Tyridates weiis, mit alleriei fan-
tastischen Zutaten und Liebesgeschichten aufgebauscht.
Doch kehren wir zu HaUmanns Drama zurück. Herodes läistSohem
und seinen Kollegen Philo vorführen, weil, wie Salome meint,
„difs verschnittene Paar
Weifs alle Heimligkeit dem Fürst zu stellen dar^.
Die Eunuchen, die in gräfslichster Weise auf der Bühne gefoltert
werden, wobei Herodes selbst die Henkersknechte kommandiert:
„Zieht, foltert, reckt und brennt!^ . . . Flöfst heifs geschmolzen Pech
in den verfluchten Mund! Streut Salz aufs rohe Fleisch ^** die Eu-
nuchen benehmen sich wacker und beteuern ihre und Mariaomes Un-
schuld, bis sie unter der Tortur den Geist aufgeben. Trotzdem wird
Marianme in den Kerker geworfen, wo sie ihre Mutter trifft und auch
die Gesellschaft ihrer „Staatsjungfem" geniefst.
Im fünften Akt hält Herodes eine Art Probegericht mit den
zwölf Rabbinen ab und klagt Marianme des Mordversuchs und des
Ehebruchs an
.... „weil nicht nur Tyridat,
Auch ihr Verschnittener selbst mein Bett entehret hat."
Mariamne wird hier sowie in der darauffolgenden öffentlichen Gerichts-
sitzung ohne Zeugenverhör und trotz ihrer Verteidigung zur Enthaup-
tung im Kerker verurteilt. Ein Gnadengesuch des Tyrdates, das
sein Abgesandter Arsanes überbringt, macht ihre Sache noch schlim-
mer. Auch die Bitten ihrer Kinder und Hofdamen bleiben ohne Erfolg.
Es folgen nun die recht rührenden Abschiedsscenen, die freilich
mit denen der Schillerschen Maria Stuart sich nicht vergleichen lassen«
Mit diesen hat eher die in Trissinos Sofonisba einige Ähnlichkeit.
Mariamne singt ein ergreifendes frommes Sterbelied, zwei Priester
trösten sie und unter dem Wehklagen der Umstehenden fallt
ihr Haupt.
Es folgen dann Reue, Angst und Gewissensbisse des von Geister-
erscheinungen geplagten Herodes, der sich den Gespenstern gegen-
über viel feiger zeigt als der Klajsche (S, oben. S. 308). Der Geist
Die Dramen von Herodes und Afariamne. n. 817
Konig Salomons verkündet den ^Grofsen Leopold^ als künftigen Hort
der Christenheit und Befreier des heiligen Landes. Palästina ruft:
„Es lebe Leopold, des Erden-Kreises Zier!
Es lebe Leopold I Er siege für und fürl"
Das Bild des Kaisers erscheint, und wird von Palästina und Salomon
mit „demütigster Ehrererbietung" begrüfst.
So endet das Stück, ganz in der Weise der italienischen Musik-
dramen, mit einer Lobhudelei für den Monarchen.
Gottsched (Not. Vorr. I 233) erwähnt noch ein fast gleichzeitig
(Halle 1673) mit Hallmanns Mariamne erschienenes Trauerspiel „Der
verliebte Mörder Herodes der Grofse", mit einem musikalischen Nach-
spiel. Ich habe aber weder das Stück finden noch den Namen des
Vöfassers erfahren können. Ebenso unzugänglich blieben mir: „He-
rodes der Kindesmörder" in einem Singspiele dargestellt von Joh,
Ludwig Faber (Nürnberg 1675), der als Pegnitzschäfer Ferrando I.
hiefs und 1678 in seiner Geburtsstadt Nürnberg starb, sowie des säch-
sischen Konzertmeisters und gekrönten Poeten Constantin Christian
Dedekind (1628 — i697X'fcsingendes" Trauerspiel, „Stern aus Jakob
und Kindermörder Herodeis", Dresden 1676. Nach Goedeke ist Fa-
bers Herodes nach Klaj gearbeitet und bildet Dedekinds Trauerspiel
den zweiten Teil von dessen „Jesu Geburt", dürfte also auch nur den
Kindermord behandeln.
Gervinus fallt ein vernichtendes Urteil über Dedekind, den er
einen „fortlebenden Rist" nennt und aus dessen Herodes er folgende
Verse citiert:
„Donner und Hagel, Hammer und Nagel,
schmiedendes Eisen,
stechende Spitzen, Mässer zum Schlitzen
will ich dir weisen" *),
die übrigens auch Klaj gedichtet haben könnte.
*} Goedeke, Grondrifs III 220, 226 ; Gervinus, Geschichte der deutschen Dichtung
4. Aufl. m 442—3, Moritz FÜrstenau, Zur Geschichte der Musik und des Theaters
am Hofe zu Dresden 11 115, 150; Allg. Deutsche Biographie V S. 11.
Wien.
•••
Deutschlands und Spaniens litterarische Beziehungen.
(Spanien und die spanische Litteratur
im Lichte der deutschen Kritik und Poesie. III. und IV. Teil.)
Von
Artur Farinelli.
lU. Teil«).
Spanien und die spanleohe Litteratur nach deutschen Urteilen am Ausgang
des 18. Jahrhunderts.
Was deutsche Reisende am Schlüsse des 1 8. Jahrhunderts von der
Unkenntnis der Spanier in allem, was die Kultur fremder Länder
betraf, berichten, ist wahrhaft ergötzlich. „Ein Franziskaner, Bibliothekar
seines Klosters", sagt der Orientalist Tychsen in seinem „Abrifs über
den Zustand der spanischen Litteratur" (1790)^) „fragte mich, ob
man bey uns auch von der Linken zur Rechten schreibe^*. „Ein
anderer Gelehrter erklärte sich die Nachricht, die ich ihm gegeben
hatte, dafs in Teutschland das Griechische bekannter und geschätzter
sey als in Spanien, daraus, dafs Griechenland so nahe an uns gränze,
und also die Griechen häuffig zu uns kämen, von denen wir dann
die Sprache durch den Umgang lernten. Und dieser war Mitglied
der Akademie der Geschichte". Wie ein Madrider Alcalde de Corte
einmal gefragt habe: „was für eine Sprache in Deutschland gesprochen
wurde", erzählt Kaufhold in seiner interessanten Reiseschilderung:
„Spanien, wie es gegenwärtig ist" (Gotha 1797. I, 64). — Was für
eine Sprache der Spanier rede, nach welcher Richtung er seine Worte
auf Papier schreibe, haben wohl deutsche Geisdiche und deutsche
Staatsbeamte zu fragen doch wohl niemals nötig gehabt. Allein
») Vgl. N. F. Bd. V. S. 135 und 276 f.
') „Des Herrn Ritters von Bourgoing. Neue Reise durch Spanien vom Jahre 1782
•bis 1788. Aus dem Französischen. Mit einer illuminierten Charte, Planen, Kupfern und
einem Anhange des Hrn. Prof. Tychsen zu Göttingen, über den gegenwärtigen Zustand
der spanischen Litteratur**. B. II. Jena 1790. S. 329.
Spanien u. die spanische Litteratur im Lichte der deutschen Kritik u. Poesie. III. 319
auch für den Deutschen verstrichen Jahrhunderte, ehe er sich ein
klares, sachliches Urteil über Spaniens Sitten, Litteratur und geistiges
Leben bilden konnte. Kurz vor Schlufs des 1 8. Jahrhunderts erteilten
Franzosen und Engländer den Deutschen Unterricht in den „cosas
de Espana**. Die Übersetzungen aus fremden Reiseberichten, welche
ganz fabrikmäfsig in Leipzig und anderswo für die Bedürfnisse des
neugierigen Lesers hergesteift wurden, bilden eine stattliche Anzahl
Bände, die heutzutage unter dem Schutte der Zeit vollkommen be-
graben liegen. Barettis „A journey from London to Genua, through
England, Portugal, Spain and France" (1770)*), Bourgoings „Tableau
de TEspagne moderne"') waren in Deutschland am meisten bekannt
und verbreitet. Mitunter aber wurden auch: Feyrons „Essais sur
l'Espagne" (1780), Clarkes „Letters conceming the Spanish nation"
(1763), die Reisen Twiss', (1775), Dalrymples (1777), Swinbumes
('787)') aai Rate gezogen. Erst nachdem durch Rousseaus Schriften,
besonders durch die „Nouvelle Heloise" das Naturgefühl bei den ver-
schiedenen gebildeten Völkern verinnerlicht ward, ergriflfen auch die
Deutschen den Wanderstab und suchten ihre Sehnsucht nach der
Fremde durch weite, mühsame Reisen zu stillen. Langten die Mittel
nicht zum Besuch der Fremde selbst, so nahm man desto begieriger
die Berichte der Freunde über die besuchten fernen Gegenden auf
Die Reisebeschreibungen wurden Mode und bildeten am Ausgange des
18. Jahrhunderts einen wichtigen Faktor in der Entwickelung des
deutschen Geistes. Sie verbreiteten sich in den weitesten Schichten
des Volkes, und selbst ein Goethe und Schiller haben sich gerne
aus Reiseberichten Belehrung und Nahrung für ihre Fantasie geholt.
Die Frauenwelt verlangte Reiseeindrücke und Reiseabenteuer, statt
Romane und Erzählungen. Lotte Schiller gelang es, ihre Leidenschaft
auch ihrem Gatten mitzuteilen^). Als Archenholz' „Reisen durch
^) «Muster von jenem Geheimnisse zu interessieren sind Barettis Reisen durch Spa-
nien und Brydones durch beide Sicilien**, sagte Herder einmal. Vgl. K. A. Böttiger
«Literarische Zustände und Zeitgenossen**. Leipzig 1838. I, 108.
*) In der Vorerinnerung zum i. B. der deutschen Übersetzung (Jena 1789) wird
ausdrücklich bemerkt: das Werk sei «ohnstreitig das beste, brauchbarste und zweck-
mäßigste Buch, das Ar Ausländer je Ober Spanien, diefs wichtige Land erschienen ist**.
*} Vgl. H. Oum^l: «Les Voyageurs anglais en Espagne au XVIII. si^cle. Arthur
Joong**. Toulouse 1881. („Extrait du Bulletin de la societ^ academique Hispano-Portu-
gaise de Toulouse".)
*) ,Ich lese so gern Reisebeschreibungen**, schrieb Lotte einmal an Fried. Pr.
y. Stein (Rudol&tadt, 30. Nov. 1788) „es macht eine angenehme Empfindung, wenn
Ztach^ f. Tgl. Litt-GMch. N. P. YIII. 21
(ttO Artur ParinelU.
England und Italien'^ 1787 zu erscheinen begannen, brannte Caroline
Boehmer so sehr vor Begierde, das neue Werk zu besitzen und zu
lesen, dafs sie in ihren Briefen ausrief: „Ich sterbe, wenn ich ihn
nicht kriege"*). — Natürlich führte die Hauptströmung nach dem
Lande, wo die Citronen blühen, nach Italien. Doch übte auch das
Land des Lazarillo und Don Quixote auf das Gemüt der Deutschen eine
bezaubernde Wirkung aus und zog manchen Reisenden dahin. Man
fluchte zwar immer noch über die elenden Wege in Spanien, über
die noch elendere Küche, über den gänzlichen Mangel an allen äuüser-
lichen Bequemlichkeiten; man mufste noch immer auf der Hut sein,
um nicht für einen Feind der Nation, für einen Franzosen gehalten
und als solcher mifshandelt zu werden, um nicht als Ketzer in die
Hände der Inquisition zu fallen. Allein der Reiz der Neuheit, das
Staunen über die fremden Sitten und das fremde Land überwogen
alle diese Beschwerden. Auch in Spanien wuchsen Myrten, blühten
Citronen und glühten im dunklen Laub die Gold-Orangen. In den
Gärten von Cadix glaubte W. y. Humboldts Gemahlin die Einfach-
heit und Schönheit des Goetheschen Liedes »Kennst du das Land"
erst völlig erkannt zu haben ^. Und wie hat Christian August Fischer
man von dem kleinen Fleck Erde auch einen grofeen Theil der Welt sehen kann nnd
sich dahin versetzen. Ich denke, Sie werden noch einmal hören, dafs ich mit einem
Schiff abgehe, um die Welt cu umsegeln*. Vgl. ^Charlotte von Schiller und ihre
Freunde*. Stuttgart, 1860. I, 433. — Dafs Lotte auch Reiseschildenmgen von Spanien
las, erhellt aus ihrem vom 37. Mars datierten Brief, I, 419. — Schiller selbst schrieb,
nachdem er im Winter 1797—^8 «viele Reisebeschreibungen", darunter Niebuhrs und
Volneys Reise nach Syrien, gelesen, an Goethe (Jena, 13. Februar 1798), er habe sich
nicht enthalten können zu versuchen, welchen Gebrauch der Poet von der Schilderung
einer Reise machen könne; es sei ihm bei dieser Untersuchung der Unterschied zwischen
einer epischen und dramatischen Behandlung neuerdings lebhaft geworden**. ^- Goethe
aber antwortete am 14. Febr. dem Freunde zurfick: «Ich bin mit Ihnen völlig aberzeogt,
dais in einer Reise, besonders von der Art, die Sie bezeichnen, schöne epische Motive
liegen, allein ich würde nie wagen, einen solchen Gegenstand zu bdiandeln, weil mir
das unmittelbare Anschauen fehlt und mir in dieser Gattung die sinnliche Identifikation
mit dem Gegenstande, welche durch Besclireibungen niemals gewirkt werden kann, ganz
unerläüslich scheint".
*) Caroline. Briefe an ihre Geschwister, hig. v. G. Waitz. Leipzig 1S71. II, 37.
Auch in späteren Jahren behielt sie diese ihre Liebhaberei. «Wenn Du keine neue
Bücher kriegen kannst«, schrieb sie an Jolle Gotter (18. März 1804), „so lais Dir doch
von der Bibliothek alte Reisebeschreibungen oder Geschichten geben, denn der Mensch
lebt nicht vom Brot allein*.
*) Guillaume de Humboldt et Caroline de Humboldt. Lettres ä Geoffiroi Schwog-
hauten. Traduitet et annot^es sur les originaux in^dits par A. Laquiante. Paris-Nancy
Spanien u. die spanische Litteratur im Liclite der deutschen Kritik u. Poesie, m. 8^1
fiir sein Valencia geschwärmt! — Wie einst italienische Humanisten
der Renaissance: Marineus Siculus, Petrus Martir von Angera, Nava-
gero, Castiglione, Pier Vettori auf Spaniens Boden den Spuren der
entschwundenen Kultur des Altertiuns nachgingen*), so blieben auch
manche Deutsche des i8. Jahrhunderts staunend und gedankenvoll
vor den Trümmern Sag^nts und Numancias stehen. Mit den Er-
innerungen an Schillers Don Carlos verweilte Caroline v. Humboldt
am Grabe Philipps II. und Elisabets im Escurial: „Hier war es, als
Stande ich vor dem Sarge bekannter Personen*', schreibt sie an Lotte
Schiller*). Die tiefe symbolische Bedeutung des Goetheschen Frag-
mentes: „Die Geheimnisse", „in der eine so sonderbare hohe und
menschliche Stimmung herrscht", hat Wilhelm v. Humboldt, wie er
selbst gesteht, erst, nachdem er den Einsiedlerberg Monserrat er-
klommen, eingesehen und bewundert*). Bekannt ist, wie Goethe
später sein Fragment einen „geistigen Montserrat" nannte und die
Schilderung Humboldts wieder für den Schlufs des II. Faust verwertete.
Die Beschreibung, welche Humboldt von dem seltsamen, vereinzelten
Berge gab, erzeugte unter denDeutscheneineformlicheMontserratomanie.
Für den Forscher sind nicht allein die Beobachtungen, die Reise-
eindrücke eines so klarblickenden, tiefen, weitumfassenden Geistes
wie Wilhelm v. Humboldt von Wichtigkeit, auch die Berichte von
minder begabten Reisenden bieten viel des Interessanten und Beach-
tungswerten. Die Reiseschilderungen aus Spanien und Portugal von
Kaufhold, Fischer und Link, um blofs diese zu erwähnen, enthalten
-wohl gereifte Urteile über Sitten und Litteratur. Nicht nur als
historische Bilder vergangener Zeiten gewinnen sie besonderen Wert,
sie sind auch an sich lehrreicher und treffender als die anmafsenden
und gesuchten Urteile gewisser modernen Kenner Spaniens.
1893 (Brief vom 33. Januar 1800). „Cest ici que j*ai vralment compris, dans sa belle
simplicit^ le Lied de Goethe: „Connais-tu* ... et que j^ai senti la v^ritd de sa po^ie
.... je ne me figurais pas Teffet des fruits dor^ ressortaat sur le feuillage sombre**.
^) Charakteristisch f&r das Interesse, welches Spanien den italienischen Humanisten
des Cinquecento erweckte, sind die 14 Fragen, welche Castiglione seinem Freunde Ma-
rineo Siculo über die Merkwürdigkeiten Spaniens stellte. Vgl. die Anleitung zu der von
A. Maria Fabiö besorgten Ausgabe ^Los cuatro libros del Cortesano, compuestos en Italiano
por el Conde Baltasar Castellon y agora nuevamente traducidos en lengua castellana,
por Boscan*^, in ^Libros de antafio". Madrid 1873. S. XXIII ff.
*} Charlotte von Schiller und ihre Freunde, H, 182.
•) W. V. Humboldts „Der Montserrat bey Barcelona'' im HI. B. der Ges. Werke,
und in Goethes Briefwechsel mit den Gebrüdem v. Humboldt. Leipzig 1876. S. 166.
21*
822 Artur Parinelli.
xm.
„Wer in Spanien einigermafsen bequem reisen will, muls sich mit
einem Bette, Küche und Keller versorgen**, behauptete Goethes
italienischer Reiseführer Volkmann in seiner „Reise durch Spanien** *).
Mit Möbeln und Küchengeräten reiste aber der Baedecker des vorigen
Jahrhunderts ungerne und so hat er, wie sein Vorgänger Martin 2Jeiller,
seine spanische Reise blofs in der Studierstube vollbracht. Er sammelte
fleifsig Materialien aus allen möglichen fremden Reisebeschreibungen
und bereitete anderthalb Dezennien nach dem Erscheinen seines viel-
benutzten Werkes „Historisch-kritische Nachrichten von Italien** ein
bequemes Reisehandbuch über Spanien, welches durch die Hände
vieler Deutschen ging. Humboldt und Goethe haben es sicher, Schiller
hat es vielleicht gelesen. Da es Volkmann an eigener Anschauung
gebrach und er blofser Sammler war, mufste er oft in bedenklidie
Irrtümer verfallen. Er hat sich mit Recht den Tadel Kaufholds zugezogen,
der (Spanien, wie es gegenwärtig ist II, 286) ihm sein „fabelhaftes Zeug**
vorwirft, wodurch das Wahre seiner Erzählungen so sehr verunstaltet
worden sei, dafs man sich nie auf ihn verlassen könne. — Volkmann
gewährt den Spaniern „Scharfsinn** imd „Tiefsinnigkeit**. Er hält sie
zu allen Wissenschaften fähig (I, 113), er glaubt aber, dafs alle Auf-
klärung in Spanien keinen Zutritt haben könne, „so lange Mönche
und Inquisition, denen so viel an Erhaltung der Finsternis und des
Aberglaubens gelegen ist, noch so starken Einflufs haben** (Vorbe-
merkung). Mit der Philosophie in Spanien „sieht es kläglich aus**.
„Die scholastischen Grillen haben hier ihren Sitz, und Sophisterey
heifst Urtheil** (I, 118). Von spanischer Litteratur hat Volkmann keinen
Begriff. Er empfiehlt die „artigen Nachrichten** in den Briefen Clarkes.
Er erwähnt den „Parnaso Espanol** des Sedano (1768 — 73) und kennt,
1) J. J. Volkmann: „Neueste Reisen durch Spanien vorzüglich in Ansehung der
Kflnste, Handlung, Ökonomie und Manufakturen aus den besten Nachrichten imd neuem
Schriften zusammengetragen.** Leipzig 1785 I, 123. — Die zu Berlin und Stettin 1785
und 1787 erschienenen 2 Teile einer „Neueren Staatskunde von Spanien** enthalten am
Schlüsse eine Beschreibung Spaniens in Rücksicht auf seine Gebräuche, Sprache und
Sitten. Der Verfasser behauptet unter anderm: Die spanische Nation sei berechtigt ,im
Rücksehen auf vergangene Zeiten, auf Thätigkeit und Kultur Anspruch zu machen, ob
sie gleich in der Parallele mit anderen kultivierten Nationen, zumal wo kein MOnchdium,
sondern die Rechte der Vernunft den Geist bilden, bei so reichlichen Naturgütem, noch
aufserordentlich zurück ist**. Ein in diesem Werke erwähnter „Versuch einer Staatsver-
fassung von Spanien** (Hamburg 1783) ist mir unbekannt
Spanien u. die spanische Litteratur im Lichte der deutschen Kritik u. Poesie, m. 888
vielleicht auch nur dem Titel nach, das Velazquez-Diezesche Werk,
Er spricht von „einer grofsen Menge Dichter, welche in Spanien ge-
diehen^, und kümmert sich weder um ihre Namen, noch um ihre Werke.
Von den Dramen Lope's de Vega sagt er kurz und bündig (I, ii6):
„Sie sind berühmt, aber es mangeln dramatische Regeln^ ^).
Die Briefe sind mit einer kaum glaubwürdigen, tragischen Liebes-
geschichte verwoben und ausgeschmückt, welche der Buchhändler
Friedr. Gotthelf Baumgärtner im Jahre 1787 von Spanien aus, wo er
als Begleiter des sächsischen Kammerrates Frege weilte, an einen
Leipziger Freund sandte und später im eigenen Verlag druckte*).
Baumgärtner traf in Spanien auch mit dem Herder so sympathischen
Prof. Daniel Gotthilf Moldenhawer aus Kopenhagen zusammen (S.225)').
Seine Eindrücke sind diejenigen eines oberflächlichen Vergnügungs-
reisenden, der sich um eingehende gründlichere Kenntnis des fremden
Landes nicht im geringsten kümmert. Er schreibt, was er im Augen-
') Volkmann hat später das zu London 1791 erschienene Werk von J. Townsend
„ Ae joumey through Spain in the years 1786 and 1787** verdeutscht: Es erschien 17 Jahr
vor der französischen Obersetzung des Genfers Pictet-Mallet. „Reise durch Spanien in den
Jahren 1786 und 1787 vornehmlich in Absicht auf Ackerbau, Manufakturen, Handlimg
u. s. w. V. M. Jos. Townsend übersetzt und mit Anmerkungen erl&utert**. (2 Bde.
Leipzig, 1792). — Imgleichen Jahre wie Volkmanns ^Reisen durch Spanien** erschien
eine Obersetzung der Schrift Cavanilles* (Erwiderung zum Artikel „Espagne*" des in
Spanien berühmt gewordenen Masson de Morvilliers) «Don Anton Joseph Cavanilles
über den gegenwärtigen Zustand von Spanien** aus dem Französischen von Biester
Berlin 1785. — Von 1781 stammt bereits der Bericht eines Ungenannten: „Von den
Stier-Gefechten in Spanien", welcher A. L. Schlözer: „Briefwechsel meist historischen
und politischen Inhalts" T. EX. Göttingen 1781. S. 68. ff. einverleibt wurde. Der seltsame
Bericht, welcher von einem Deutschen herrühren mag, ist mit Anmerkungen über technische
Ausdrücke des Tauromaquie versehen. S. 69 ist vom „klugen Cervantes" die Rede,
welcher den Geist seiner Nation recht wohl erkannt hätte und die „irrende Reiterei", die
„Abenteuerlichkeit** der Spanier, die sich noch in den Stiergefechten abspiegelt, persiflierte.
*) „Reise durch einen Teil Spaniens nebst der Geschichte des Grafen von S.
von F. G. Baumgärtner. Mit Kupfern,, Leipzig (ohne Druckdatum — 1794?) Am Schlüsse
des Buches ist eine Tirana mit den zugehörenden Noten abgedruckt
•) Moldenhawer hatte schon einige Jahre vor Baumgärtner (1784) Spanien besucht
und dort eifrig gesammelt. — Am i8. Juli 1784 schreibt Knebel in seinen „Tagebuch-
blättem und Denkbüchem": „Jüngst bei Herder, wo Herr Moldenhauer zugegen war,
der kürzlich eine Reise durch Spanien, England etc. gemacht und Reichthümer von
Kenntnissen und Saounlungen mitgebracht hat. Wir waren glücklich in seinen Erzählungen,
in seinen Kenntnissen, in seiner Bescheidenheit und sichtbaren Tugend und Wärme des
Herzens. Er war besonders auch Herdem eine höchst liebliche Erscheinung**. Vgl. H. L.
von KnebeVs: „Literarischer Nachlais und Briefwechsel". Leipzig 1840 in, 373.
334 Altar Farinelli.
blick empfindet, was ihm eben durch den Kopf geht. So erzahlt er
umständlich vom aufserordentlichen Hasse der Spanier gegen die
Franzosen und von ihrer Liebe zu den Deutschen. Es genügt, sich
als Sachse auszugeben, als Heimatsgenosse der verstorbenen beliebten
Konigin Maria Amalie*), um sich die gröfste Achtung beim Spanier
zu erwerben und wohlwollend von ihm bewirtet zu werden (S. 260).
Doch sagt Baumgärtner anderswo (S. 29) dafs, als er in Tolosa ver-
weilte und einigen erklärt hatte, er sei ein Sachse, „so wufsten sie nicht
einmal, dafs es ein Land in der Welt gäbe, welches Sachsen hiefs".
In einen „blonden Deutschen" oder in einen „munteren Franzosen**,
der sich natürlich für einen Deutschen oder Engländer ausgeben mufs,
verliebt sich ein spanisches Mädchen oder eine Frau sogleich. Unser
Reisender brauchte aber gewifs nicht an die vielgerügte spanische
Eifersucht, an die vergitterten Fenster der Schönen zu erinnern, um
die Tatsache festzustellen (S. 71): „Man darf nur als Fremdling in der
Provinz ein Weib in aller Unschuld küssen, und der Mann sieht es,
so kann man auf einen tötlichen Messerstich sichere Rechnung machen**.
Nebst der Eifersucht ist „der unbegrenzte Stolz" die „hervorstechendste
Seite" des Charakters des Spaniers. Über die eigentlichen National-
sitten der Spanier wird in diesen Briefen, wo sehr viel von Essen
und Trinken die Rede ist, wenig gesagt. Wirtshäuser imd Küchen
sind schlecht, man findet darin, „keine Geräthe weiter als zwei Töpfe".
Die reichsten Wirtshäuser besitzen deren drei (S. 39). Die Trachten
weichen von dem in den üblichen Reiseschilderungen Berichteten merk-
lich ab. Baumgärtner hatte sich alle Spanier mit Degen und capa
vorgestellt ; er ist erstaunt, sie waffenlos und wie gewöhnliche Menschen
gekleidet zu finden. Die Mantillas der Spanierinnen aber dünken ihm
sehr spafsig. Wenn Frauen in die Messe gehen, so sieht es aus, „als
wenn die Kirche mit lauter schwarzen Zuckerhüten besetzt wäre" (S. 25).
Erinnerungen an historische Vorfalle, an vergangene Gröfse be-
schäftigen Baumgärtner nicht. Höchstens sucht er da und dort Wind-
mühlen auf, und da er keine antrifift, schreibt er: „vielleicht hat sie
Don Quixot alle zerstört" (S. 22). Das geistige Leben ist in Spanien
gering. „Hauptgeschäft" der Spanier, meint unser Reisender, ist das
^) Mit dem Leben dieser Königin endigte H. Plorec seine „Memorias de las Reynas
Catölicas^' (II. Ausg. Madrid 1770 II, 1042 ff.). Vgl. jetzt den Artikel „Maria Josefii
Amalia, Herzogin von Sachsen, Königin von Spanien** in v. Sybels Historischer Zeit-
schrift 189a. — '
Spanien n. die spanische Litteratnr im Lichte der deutschen Kritik u. Poesie. UL 895
Kirchengehen (S. 35). Er gedenkt eines einzigen Gelehrten, des grofsten
in seiner Meinung, des Francisco Perez Bayer (S. 283). Und doch
ist Baumgärtner um die Zukunft des noch vom Schleier der Unwissen-
heit umhüllten Spanien nicht bange. Er glaubt an eine natürliche Be-
gabung der Spanier, die nur der Pflege bedarf, um schöne Früchte
hervorzubringen. Ja er glaubt und befurchtet sogar, dafs die Spanier
einst alle übrigen Völker an Gröfse und Macht übertreflfen werden.
„Wenn auch die Sonne der Kultur über den Horizont Spaniens nur
wenige Strahlen wirft^, sagt er einmal (S. 283) „so ist zu befurchten,
dafs es für uns Nordländer in Spanien immer noch zu früh tagen
wird, denn wenn die Spanier einmal anfangen, so werden sie auch in
jeder Art, vermöge ihres Genies, wichtige Fortschritte machen**.
In den letzten Dezennien des Jahrhunderts werden deutsche
Reisende häufiger. Karl Georg Weisse, bekannter zu seiner Zeit
unter dem schriftstellerischen Pseudonym Albus, soll im Jahre 1791
eine originelle Wanderung nach Spanien unternommen und in Bar-
celona selbst eine Hofmeisterstelle bekleidet haben, doch scheint
mir alles, was er in seinem Buch: „Schicksale und Verfolgungen in
Deutschland und Spanien** (Halle 1792) von seinen unangenehmen
Reiseerfahrungen, von den erduldeten Gewalttaten der Inquisition,
von seiner Gefangenschaft und unerwarteten Befreiung und Absege«
lung nach Genua erzählt, viel zu abenteuerlich und märchenhaft, um
für wahr und erlebt zu gelten ').
') Nur dem Titel nach bekannt ist mir die Schrift: MSendschrdben eines spanischen
Esels an seine Verwandten in Deutschland** Madrid, (Sicf) des H. Fr. Bahrdt,
miils aber wohl unter die unsähligen stachligen, mit Arglist und Chicane strotzenden
Schriften des originellen boshaften Theologen gerechnet werden. Auch von den „katho-
lischen Fantasien- und Predigeralmanachen*" des nämlichen Bahrdt (Rom^ Madrid, Lissabon,
München und Nürnberg) auf Kosten der heiligen Inquisition, (4 Jahrgänge 1783 — 86) sowie
von seinem „Alvaro und Ximenes, ein spanischer Roman", Halle 1790 kann ich nur den Titel
anftlhren.. — In G. Franks sorgfältiger Studie: «Dr. Karl Friedrich Bahrdt, ein Bei-
trag zur Geschichte der deutschen Aufklärung" in Raumers « Historisches Taschenbuch"
IV. Folge Vn. Jahrg. (l^prig 1866) S. 305 ff. habe ich nichts darüber gefunden. —
Die „Reisen durch Spanien und Portugal," (3. Bde. Wien, Verlag von F. H. Schrämbl
179a), sowie die ein Jahr später gedruckten ^Memoiren eines Emigranten, der kein
Emigrant war, auf seiner Reise nach Spanien, im Jahre 1791**. Riga 1793 (auch unter
dem Titel: „Memoiren, historische und galante Romane aus den Zeitaltern Ludwigs XIV.,
XV. und XVI.") und die „Briefe über Holland, England und Spanien von Herrn Spaen,
damaligem holländischen Ambassadeur in Lissabon**, (m Teile, Amheim 1793) sind Ober-
setzungen aus dem Französischen. — Die im Jahre 179a in Berlin erschienene „Reise
von Wien nach Madrid im Jahre 1790" von J. Hagen, mit Kupfern, ist mir nur nach
einem kurzen Bericht in der ^Neuen Allgemeinen Deutschen Bibliothek** (1793) m,
315 fL bekannt
826 Artur Farinelli.
Während die Gröfsten auf dem deutschen Parnas für Italien
schwärmten und eine unbezwingliche Sehnsucht nach den sonnigen
Gestaden Hesperiens fühlten, mochten sich wohl einige EMchter minderer
Ordnung Spanien als ihr Arkadien vorstellen imd lange eine Reise
dorthin planen, ohne sie zur Ausführung bringen zu können. So ist es
wenigstens Friedrich Schulz, dem jetzt verschollenen, originellen und
tiefsinnigen Verfasser der „Leopoldine" und des Buches „Über Paris
und die Pariser" ergangen. Nahe an seinem Lebensende, fühlte er
sich mächtig nach Spanien angezogen. Er wollte Spaniens Boden
betreten und sich an seiner Schönheit laben. Er dachte ernsthaft
daran, den Rest seines Lebens in Spanien zuzubringen, und besprach
mit Freunden eifrig seinen Reiseplan. „Sein lebhaftester Wunsch**,
berichtet uns Richard in seiner Selbstbiographie *), „war nach Spanien
zu gehen und in Valencia zu leben; mit Begeisterung setzte er mir
diesen Plan in meinem Garten auseinander". Schulz starb jedoch schon
1789 zu Mittau; das Land seiner Träume zu betreten war ihm nicht
vergönnt.
Der unsaubere, viel verspottete, auch von Tieck (Schriften. B. VI.
S. XLI) getadelte Grosse, der Verfasser des „Genius", des „Dolches**
und einer Anzahl der fadesten Erzählungen, welcher sich bald als
Marquis Grosse, bald als Graf von Vargas ausgab und weder Mar-
quis, noch Graf, noch Vargas war und niemals, wie oft er es auch
sonst unverschämt beteuerte, ^ Spanien mit eigenen Augen gesehen
hatte, veröflFendichte 1794 gewisse „Briefe über Spanien"*). Er hat
sich auch darin einfach viel fremdes Gut angeeignet. Seine Briefe
sind nichts als eine klägliche Kompilation aus älteren Reiseaufzeich-
nungen. In der Vorrede wird gegen die „faulen Reisebeschreiber"
losgezogen, welche so wenig auf die Schilderungen der Gebräuche
und des Charakters der spanischen Nation Gewicht legen. Grosse
selbst, sobald er seine trüben Quellen verläfst, verliert sich in Phrasen
und in leerem Wortschwall. Er will den Spaniern wegen ihrer regen
Einbildungskraft ein Lob erteilen und drückt sich folgendermafsen
aus (S. 74): „Der Spanier ist im ganzen mit einer grenzenlosen
Einbildungskraft, mit einem durchdringenden Scharfsinne obgleich mit
einer weniger richtigen Beurteilungskraft versehen; daher rühren
^) H. A. O. Reichard. Seine Selbstbiographie, überarbeitet und herausgegeben
von Hermann Uhden. Stuttgart 1877 S. 240.
*) Karls Marchese von Grosse: « Briefe Aber Spanien." Halle 1794.
Spanien u. die spanische Litteratur im Lichte der deutschen Kritik u. Poesie. III. 327
seine Talente für alles, was Flug und Spannung der Seele erfordert,
sowie besonders für einige Wissenschaften**. In diesem herrlichen
Tone ist das ganze Buch geschrieben. Grosse ist selbst ein lächer-
licher Don Quixote, ein leerer Schwärmer und Aufschneider und
macht dabei dem Cervantes Vorwürfe (S. 55), er habe durch seinen
Quixote die heroischen Gesinnungen, die Energie und Ausdauer der
Seele, die , Gröfse und über alles hinwegsehende Fassung seiner
Nation, zugleich mit seinem abenteuerlichen, aber edlen Heroismus
zerstört.
Weit mehr als dieser Marquis Grosse verdienen drei deutsche
Reisende unsere Aufmerksamkeit: Anton Kaufhold, Christian August
Fischer und Heinrich Friedrich Link. Nur der zweite unter ihnen
hatte sich einen litterarischen, nicht eben glänzenden Ruf, erworben.
Kauf hold hat zwei Bände über Spanien anonym veröffentlicht. Weder
die Zeitgenossen, noch die Nachwelt haben seinen Namen gekannt.
Ich selbst lernte ihn aus der „Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek^
(LV, 417) und Kayser „Bücher-Lexikon" (V, 282) kennen. Link war
als Naturforscher, vorzüglich als Botaniker tätig. Wer diese längst
vergessenen Reiseschilderungen nachliest, findet unter dem Schutte
veralteter Anschauungen eine Menge vorzüglicher Beobachtungen,
gediegene Urteile über Litteratur und Sitten der unbekannten Nation,
welche lebhaft bedauern lassen, dafs sie bis heute von dem Kultur-
historiker unberücksichtigt gelassen wurden. Kaufholds Reise nach
Spanien fallt in die Jahre 1790 und 91. Fischer hat, falls ich nicht
irre, 1797 zuerst das Land seiner Sehnsucht betreten. Er ist dann
mehrmals nach Spanien zurückgekommen. Link hat ebenfalls im Jahre
1797 als Begleiter des Grafen Joh. Centurius von Hoffmannsegg seine
erste spanische und portugiesische Reise angetreten. Alle drei schrei-
ben gewifsenhaft, ohne gelehrte Prätensionen, ihre Eindrücke nieder.
Sie urteilen über Menschen und Sachen nach eigener, nicht nach
fremder Anschauung. Am unparteiischsten und zuverlässigsten ist
wohl Kaufhold, ein hellblickender, nüchterner Mensch, den ein Aufent-
halt von mehr als 18 Monaten in Madrid niemals aus seiner kühlen
Beobachtung ziehen konnte. Fischer dagegen läfst oft seiner Begei-
sterung freien Lauf; er möchte unter Spaniens Himmel leben, lieben,
sterben; er war litterarisch gebildeter als Kaufhold, und schrieb mit
Wärme und Hingebung. In Frankreich würdigte man seinen Reisebe-
schreibungen Spaniens einer Übersetzung. Link war für die Portu-
giesen eingenommen; er wollte ihren Ruf von den derben Schlä-
8SS Artor Parinelli.
gen, die sie von den Engländern erlitten, retten. — Kaufhold liefs
seine Reise in Gotha 1797 drucken'), eigentlich eine zweibändige Be-
schreibung Madrids, von der merkwürdigerweise alle, auch die gröfsten
Reisebücherverschlinger, schweigen ') , obwohl sie in gewisser Hinsicht
mehr als das berühmte „Tableau" Bourgoings bietet. Vielleicht fand
sie in der Stille doch zahlreiche Leser, und haben selbst Goethe und
Schiller darin geblättert. Manche Stellen dieses unbekannten Buches
sind nicht veraltet und auch dem heutigen Forscher der Kultur Spa-
niens noch immer zu empfehlen. Was über das spanische Theater
berichtet wird, ist frei von Vorurteilen, wirklich empfunden, rückhaltlos
ausgesprochen und ist den späteren enthusiastischen, aber oberflächli-
chen, kenntnisleeren Nachrichten Aug. Wilhelm und Friedr. Schlegels
weitaus vorzuziehen und nur den kostbaren Berichten eines anderen
deutschen Reisenden, Georg Rists, an die Seite zu stellen. — Fischer
liefs gerade vor Schlufs des Jahrhunderts sein Erstlingswerk über
Spanien drucken^), eine anregende, frisch und schön geschriebene
Reisebeschreibung, welche bald eine neue Auflage erlebte*), von Gra-
mer, dem Verdeutscher von Raynouards Tragödie «Les Templiers",
ins Französische, und von einem Unbekannten ins Englische übersetzt
wurde'). Nach Wilhelm v . Humboldts Urteil besitzt sie neben andern
') Spanien, wie es gegenwärtig ist. Bemerkungen eines Deutscheo während seines
Aufenthaltes in Madrid in den Jahren 1790 -i 791. (3 Bde., Gotha 1797).
') Die Reise Kaufholds ist aber in der bereits erwähnten »Neuen Allg. deutschen
Bibliothek** (1800) (LV, 417 — 423) im allgemeinen günstig besprochen worden. ^Zwar
kein Bourgoing und kein C A. Fischer**! sagte der Rezensent, ,,aber doch immer ein
achtungswerter Augenzeuge, der uns teils durch Bestätigung früherer Nachrichten, teils
durch eigene Beobachtungen mit den Eigenheiten eines Landes, das wir nicht überflüssig
genau kennen, bekannter machen'* (S 417).
') „Reise von Amsterdam über Madrid und Cadix nach Genua in den Jahren 1797
und 1798 von Christian August Fischer^*, Berlin, Unger 1799. Eine lange, sehr anerken-
nende Recension der Reise Fischers erschien im 51. Bd. der «Neuen Allg. deutschen Bibl.*
(1800 S. S15 ff). Der schöne Stil, die spannende Erzählung, die weit um&ssenden
Kenntnisse des Verfassers werden darin hervorgehoben nnd wichtige Stellen ans dem
Buch mitgeteilt.
*) Die zweite, vermehrte Auflage (Berlin 1801) enthält im 33. und im 5a. Brief
wichtige Zusätze über die «Fortschritte der Kultur in Spanien" und eine reiche Nachlese
über die Utteratur. Dafür werden manche Betrachtungen über Sitten, Lebensart nad
Religion der Spanier weggelassen.
') »Voyage en Espagne auz ann^es 1797 et 1798, faisant suite au Voyage en Espagne
du citoyen Bourgoing, par C. A. Fischer. — Traducteur C. F. Gramer. Avec un appen-
dice sur ia mani^e de voyager en Espagne. Avec figures*. 2. Vol. Paris, An IX (x 801);
die englische Übersetzung erschien ein Jahr darauf: »Travels in Spain in 1797 and 1798
S|>aiileii u. die spanische Litteratnr im Lichte der deutschen Kritiic u. Poesie. IIL 889
Vorzügen von ihren Vorgängern besonders den treuer und anziehen-
der Naturbeschreibungen *). Sogar den biederen Knebel entzückte das
Werk Fischers. Von Ilmenau am i6. Dezember schrieb Knebel an
Goethe: ^Ich ergötze mich indefs an einer spanischen Reise von Hm.
Fischer in Dresden, die sehr anmutig geschrieben ist, uns unter ein
frohes Klima versetzt und Bescheidenheit und Charakter des Verfassers
verrat, was jetzt so selten ist^*). Nach Bertuch fiel unserem Fischer
die Rolle eines Vermitders zwischen Spanien und Deutschland zu.
Er hat eifirige, ununterbrochene Propaganda für Spanien gemacht;
und Männer der Prosa und Männer der Dichtung, Gelehrte und Un-
gelehrte zum Studium des lange vernachlässigten Landes angespornt
nO, wer das wahre Leben des Dichters, des Künsders, des Genusses
leben will — Lafst ihn in jene glücklichen Länder gehn!^ hat er
einmal in seinem Gemälde von Valencia (11, 173) ausgerufen. Im
Jahre 1800 hat er gar ein „Neues spanisches Lehrbuch über politi-*
sehe und merkantilische Gegenstände" in Leipzig veröffendicht, eine
Sammlung spanischer Zeitungsartikel zum kaufinännischen Unterricht').
Ebenfalls 1800 gab er in Jena einige Zusätze und Berichtigungen zur
Reise Bourgoings heraus ^). Dann lieferte er „Spanische Miscellen'',
eigene Übersetzungen und Bearbeitungen aus dem Spanischen, ein
spanisches Lesebuch, spanische Novellen u. s. w. In seinen zahlreichen
Reisewerken hat er immer, wenn er nur konnte, seinem geliebten
Spanien Platz eingeräumt Im ersten Teil seiner „Bergreisen** (Posen
1801) hat er einiges sehr Interessante über die Pyrenäen und das Bas-
by F. August Fischer with an appendiz on the method of trayelling in that country**.
London 1803.
') W. y. Humboldts. Gesammelte Werke. Berlin 1803 ^ I79 (Au&atz Aber den
Mootserrat).
') Goethes und Knebels Briefwechsel, Leipzig 1851 I, 230.
*) Darin ist (S. 31 ff) ein interessanter Aufsatz über die „ Erweiterung des spani-
schen Handels** aus dem II. Band der «Memorias de la sociedad econömica de Madrid**
entnommen.
^) «Bourgoings neue Reise durch Spanien in den Jahren 1782—1793, oder vollstän-
di^^e Übersicht des gegenwärtigen Zustandes dieser Monarchie in allen ihren verschie-
denen Zweigen. HI. Band, welcher Zusätze und Verbesserungen zu den zwey ersten
enthält. Ans dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Christian
Au^st Fischer**, Jena 1800. — Zwei weitere Arbeiten über Spanien, welche Fischer
in dieser Obersetzung verprach (S. 335), eine ^Sammlung der besten neuesten spanischen
Lustsspiele in Prosa '^ sowie (S. 345) eine «yoUständige Geschichte und Beschreibung
der spanischen Stiergefechte mit Kupfern**, sind niemab zu Stande gekommen.
380 Artur Farinelll
kenland berichtet. In seine »Reiseabentheuer" (2 Bd.) hat er der Odyssee
seiner allzuabenteuerlichen Wanderungen durch Rufsland, Holland, Spa-
nien, Italien und die Schweiz, farbenreiche Schilderungen von Madrid,
Cadix, Malaga, Valencia und die Geschichte seiner Liebestandeleicn
mit einer schönen Spanierin eingewoben ^). 1802 sammelte er vier
oder fünf in verschiedenen Blättern zerstreut gedruckte Artikel zu
einem Buche „Gemälde von Madrid" (Dresden). Er hatte Erfolg und
gab ein Jahr darauf in zwei Bänden die Beschreibung seiner Lieblings-
stadt, des von Friedrich Schulz geträumten Paradieses, das „Gemälde von
Valencia" heraus') (Leipzig 1803. Der Schlufs des II. Bandes enthält
die Beschreibung der Balearischen Inseln), die Gramer 1804 ins Fran-
zösische übersetzte •). Eine „vollständige Abhandlung über das
Reisen in Spanien", welche Fischer (Reise von Amsterdam u. s. w.
S. 504) herauszugeben versprach, kam nicht zu Sande. Die im „Ge-
mälde von Valencia" (II, 160; 257) angekündigte „pittoreske Reise
vonSpanien ",welche das in Labordes „ Voyage pittoresque" und das von
einem Madrider „Viaje pintoresco" Gebotene verbinden sollte, ist erst
1809 und 18 10 in Leipzig erschienen^).
*) Fischers „Neue Reiseabentheuer*. Posen und Leipzig i8oa — 1803 in 4 TeÜen be-
handeln Ereignisse, welche anderen berühmten und dunklen fremden Reisenden vorge-
kommen sind. Spanien kann höchstens die vorletzte Erzählung (im 4. Teil), betitelt:
^Der Wanderer in den Pyrenäen", interessieren, wo eine Bärenjagd in den Pyrenäen
beschrieben wird.
'j Eia Werk, welches A. Jose Cavanilles „Observaciones sobre la Historia Natural
geografia, agricultura, poblacion y fnitos del reino de Valenda** (1795 — 1797) viel ▼«"-
dankt. — Der „Anhang fiber die Mauren**, in Fischers ^Gemälde von Valencia** ist ober-
flächlich und meistenteils aus dem kläglichen „Precis historique sur les Maures** des
Florian entnommen.
*) nDescription de Valence ou Tableau de cette Province, de ses productions, de
ses habitants, de leurs moeurs, de leurs usages etc. par Chr. Aug. Fischer, pour &ire
suite au Voyage en Espagne du m^me auteur. Trad. G. F. Gramer**, Paris 1804. —
In Spanien scheint dies Gemälde Fischers als das Werk eines Franzosen aufgefaist wor-
den zu sein. So ist es wenigstens unter der Rubrik „Literatura francesa** im «Memo-
rial literario 6 biblioteca periodica de ciencias y artes"* II, 103 1 besprochen worden,
nOfrece**, sagt der Recensent** una descripcion pintoresca, y al mismo tiempo agradable,
exacta € instructiva .... Debemos 4 Mr. Fischer otros escritos interesantes acerca de
Espaiia, y sobre todo una descripcion de Madrid que se puede leer con fruto y placer aun
ä pesar de lo mucho que se ha hablado en este particular". — Ich bemerke nur nebenbei,
dafs im III. Band (L*Espagne) der „Guide des voyageurs en Europe par Mr. Reichard, Con-
seiller deS. M. le Duc de Saze Gotha** Weimar 1807 die Reisewerke Fischers reichüdi
benutzt wurden.
') „Neuestes Gemälde von Spanien nach Alezander Laborde", in a Bänden, Leipzig
1809 — x8io. — Im Jahre 1820 wurde es auch von Goethe gelesen. Vgl. die „Tag-
und Jahres-Hefte*" (i8ao) in „Goethes Werke'S Weim. Ausg. Abt. I, B. 36. S. 176.
Spanien u. die spanische Litteratur im Lichte der deutschen Kritik u. Poesie, m. 381
„Ich ergriflf die Feder zur Verteidigung meiner Portugiesen und
unbemerkt wurde aus einer Apologie eine Reisebeschreibung^, hat
Link*) in der in Kiel 1801 gedruckten „Reise durch Frankreich,
Spanien und Portugal^* gestanden '). Sein Beruf als Naturforscher hat
ihn nicht gehindert, treffliche Betrachtungen über das geistige Leben
des fremden Volkes zu machen. Sein Buch ist nicht etwa eine trockene
Aufzeichnung von Pflanzengattungen, nicht ein gelehrtes Gerippe
wie die Reise des Botanikers Loefling; es ist unterhaltend, oft span-
nend, wenn auch nicht immer stilvoll geschrieben und gewährt dem
Leser stets einen erfreulichen Einblick in die Merkwürdigkeiten des
Landes, in ihre mannigfaltigen, entzückenden Naturschönheiten *). Die
eingestreuen Nachrichten über die portugiesische Litteratur lassen be-
dauern, dafs Link sein (B. I, VHI) versprochenes Werk über die
«portugiesische Verfassung, Litteratur und Sprache" nicht zu Stande
brachte. (Im III. Teile S. 197 ist wieder von einem geplanten Werke
über die „portugiesische Litteratur und den Zustand der Wissen-
schaften im Portugal^^ die Rede.) Auch Link hatte wie Knebel und
W. v. Humboldt den Zauber der Darstellung Fischers empfunden.
y,Die Schilderungen des Verfassers (Fischer) haben mich oft durch
*) Ob dieser der gleiche Link ist, von welchem Caroline in einem Briefe an Louise
Gotter (Göttingen, 12. Januar 1781) spricht, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. —
Über Links schriftstellerische Tätigkeit, vergl. die «Münchener Gelehrten Anzeigen**
▼om Jahre 1851 Nr. 59—69. — Ein Porträt Links steht im 9. B. des monumentalen,
aber äufserst chaotischen Werkes des Branco Manoel Bemardes «Portugal e os
Estrangeiros, Lisboa 1879.
*) «Bemerkungen auf einer Reise durch Frankreich, Spanien und vorzüglich
Portugal von Dr. Heinrich Friedrich Link, Prof. zu Rostock**, I. Teil, Kiel 1801 (S. IV).
— Ein in. Teil, welcher Zusätze und Berichtigungen zu der Reise nach Portugal ent-
halten, erschien zu Kiel 1804. — Die in der Vorrede dieses letzten Bandes erwähnte
englische Obersetzung der früheren Reise habe ich nirgends auftreiben können. — Ein
Franzose, behauptete Link (Vorrede), wollte sie in seiner Sprache übersetzen, ^sur
einige (vielleicht indiscrete) Äulserungen hielten ihn ab. ^- Links „Flora von Portugal**
st 1809 in 2 Teilen erschienen. — Das von Link (I, 225) angeführte „Neueste Gemähide
von Lissabon" eines Franzosen (herausgeg. von einem Deutschen Magister Tilesius), das
auch von Goethe („Tagebücher^* ~ 4. April 1801 — „Tableau de Lisbonne^') gelesen
wurde, ist mir gänzlich unbekannt.
') Links Reise in der „Neuen allgemeinen deutsch. Bibl." (1801. LVIQ, 213 ff) von
einem Eik . • . , der selbst in Portugal gewesen sein soll, rühmlich besprochen worden :
„Der Verfasser zeigt sich auf allen Seiten als ein vortrefflicher Kopf, als ein Mann von
ausgebreiteten Kenntnissen. An eine fortlaufende Reihe botanischer und mineralogischer
Bemerkungen schliefsen sich so viel neue Nachrichten über Sitten, Ackerbau, Verfassung,
dais der Gelehrte und der Dilettant, der Geograph und der Philosoph dieses schätzbare
Werk mit gleichem Vergnügen aus der Hand legen wird**.
832 Artnr Parindli.
die lebhafteste Täuschung in jene Gegenden zurückgezaubert •*. Sem
Reisewerk kann würdig an die Seite der Gemälde Fischers gesetzt
werden. Kein Wunder, dafs Goethe, nachdem er selbst die Reise
Links gelesen und unterhaltend, lehrreich gefunden hatte, sie Schiller
empfahl (6. März 1800): „Ich habe, um eine empirische Unterlage
zu meinen Betrachtungen zu gewinnen, angefangen mir ein An-
schauen der europäischen Nationen zu bilden. Nach der Linkischen
Reise ^) habe ich noch manches über Portugal gelesen und werde
nun nach Spanien übergehen^^ Ein Jahr darauf (25. März 1801)
schickte er die Reise Links an Schiller. „Ich schicke Ihnen eine
portugiesische Reisebeschreibung, welche unterhaltend und lehrreich
ist, und den Wunsch dieses Land zu besuchen wohl schwerlich
rege machen wird*).
Ein skizziertes Bild von Spanien, seiner Bewohner und seiner
Kultur, nach den Reiseaufzeichnungen Kaufholds, Fischers und Links
mag hier als Einleitung dienen zu den im folgenden Jahrhundert mir
geringer Sachkenntnis niedergeschriebenen Urteilen der Romantiker
über das ferne südliche Land.
„Ich weifs^, sagte Kaufhold (I, 128), „dafs Deutschland in stolzer
Einbildung seiner Überlegenheit in allen Zweigen der Wissenschaften
mit Verachtung auf den Spanier herabsieht und ihn nicht für würdig
hält, ihm die Schuhriemen aufzulösen**. Die verbreiteten Reisebe-
schreibungen stellen immer den Spanier und sein Land so hin, „wie
beide in den Zeiten des Ritterwesens** (Vorbericht V). Eine Reise
nach Spanien war ein grofses Wagnis, man betrachtete sie „wie eine
') Es bleibt immerhin seltsam, wie Goethe schon im Jahre 1800 von der Reise Links
sprechen konnte, da ja die ersten 3 Bände der Reise erst i8ox zu Kiel erschienen.
') Hier ist unzweifelhaft von der Reise Links die Rede. Die früher erschienenen
Beschreibungen Portugals von den 80 er u. 90 er Jahren waren sämtlich ungeniefsbare,
trockene^ fabriksmäisig verfertigte Übersetzungen aus dem Französischen u. EogllscheB.
So die „Bi'i^c ^^^ Portugal, nebst einem Anhange fiber Brasilien. Aus dem Pranxösischen.
Mit Anmerkungen herausg. v. C. M. Sprengel'*, Leipzig 1782. Die „Skizzen der Sitten
und des gesellschaftlichen Lebens in Portugal, in Briefen von dem Kapitän Arthur
Wilhelm Costigan an seinen Bruder in London. Aus dem Englischen^*, II Teile 1788 — 89.
Die „Bemerkungen über Marokko; desgl. über Frankreich, Spanien und Portugal. Von
einem Officier, während seiner Reise durch diese Länder, einigen Freunden in Briefen
mitgetheilt. Ein gedrängter Auszug aus dem Englischen**, Leipzig 1 796 und noch folgende
zwei Reisen aus dem Französischen: „Des Duc du Chätelet Beschreibung seiner Reise in
Portugal*", Leipzig 1799 und das „Tagebuch einer Reise durch die Portugiesische
Provinz Alemtejo mit einer Beschreibung der Stiergefechte in Portugal**. HUdesheim 1799.
Spanien u. die spanische Litteratur im Lichte der deutschen Kritik u. Poesie, m. 883
Reise an das Ende der Welt" (Fischer, Reise von Amsterd. u. s. w.
S. 503). Hörte man von Spanien sprechen, so vernahm man nichts
als die Wiederholung alter Vorurteile: das Land sei ganz verwildert,
seine Einwohner zeigen wenig geistige Begabung, sie seien nicht
weiter vorgeschritten als die Hottentotten.
Die immerwährende Absonderung von der Fremde erzeugt Ab-
neigung und Hafs gegen alles Fremdländische. Die Gastfreiheit sagte
Kaufhold (I, 31) ist keine Tugend des Spaniers. Jeder Reisende,
den er erblickt, ist ihm ein Dorn im Auge. Die Abneigung gegen
den Franzosen übersteigt jede Grenze; unglücklicher Weise hält er
jeden Fremden für einen Franzosen. Schroff und feindselig be-
gegnet er jedem, der in sein Land eindringt* — Von dem äufseren
Aussehen des Spaniers giebt uns Kaufhold eine ganz detaillierte
Schilderung (I, 262 ff.), er spricht von seinem raschen und feurigen
Gang, welcher ein sehr hitziges, aufbrausendes Temperament ver-
kündigt, von seinen Augen „klein, schwarz . . . voller Feuer und
Leben"; Witz, Satyre, List, Betrug und Feindschaft sieht man in
jedem Auge und „das Feuer, das dieses über das ganze Gesicht ver-
breitet, ist abschreckend und fürchterlich". Man ist gewohnt, sich
den Spanier als ein langsames, träges, untätiges Volk vorzustellen,
alles zeug^ dagegen (I, 35) von Bewegung und Geschäftigkeit.
Link bemerkt als hervorstechende Züge der Portugiesen (III, 315):
«^Lebhaftigkeit, Geschwätzigkeit, Höflichkeit, Leichtsinn" (I, 137). Die
Höflichkeit, das leichte, muntere, freundliche Wesen des gemeinen
Volkes nimmt sogleich mehr für die portugiesische Nation ein, als für
die spanische. Das Gegenteil aber findet statt so bald man die
hohem Stande kennen lernt.
Was den viel gerügten spanischen Stolz betrifft, so gehen die
Meinungen unserer Reisenden auseinander. Kaufhold (I, 268 f.) tadelt
die hohe Meinung, welche jeder Spanier von sich hat: „Er brüstet
sich mit den Taten seiner Vorältem". Fischer dagegen (Reise
S. 222): „Der Spanier kann seine Würde fühlen, aber er weifs nichts
von Hochmut, er kann ungerührt scheinen, aber sein Mitleid ist desto
tätiger**. Und Link (I, 95) erklärt geradezu: „Man denkt sich oft in
Deutschland unter dem gemeinen Spanier ein grobes, stolzes Wesen,
welches kaum antwortet, wenn man fragt. Ich versichere meine Lands-
leute, dafs man nach dieser Schilderung die Spanier in Niedersachsen
suchen mufs***
Die Sorglosigkeit der Spanier in allem, was die Bequemlichkeiten
384 Artur Pariaelli.
des Lebens betrifft, ihre schlechte, elende Wirtschaft haben Deutsche
wie Franzosen, Engländer und Italiener zu allen Zeiten getadelt. Fischer
empfahl in dem Abschnitt „Über das Reisen in Spanien^^ (Anhang
zur Reise S. 517) mit dem Führer, dem Arriero, einen allgemeinen
Akkord iiir Essen, Trinken und Schlafen zu schliefsen. — In allen
Häusern Spaniens fehlen praktische Einrichtungen. Die Küche, be-
merkt Link (I, 90), befindet sich überall im Hintergrunde der Haus-
flure, die Zimmer stehen auf den Ställen. In Bilbao findet Fischer
(Reise S. 91) in allen Häusern die Abtritte in der Küche, gerade neben
dem Herde. Nicht reinlicher ist es in dieser Beziehung in Lissabon.
Link erinnert an eine von Martin Zeiller geschilderte Reiseerfahrung
(Itin. Hisp. S. 28)': „logierten allda bey einem Italiäner und hatten
ziemliche Tractation, aber schlechten Wein und so viel Flöhe, dafs
sie schier verzagten". Was das Gedeihen des letzteren Ungeaefers
in Portugal betrifft, so wufste Link „zuverlässig" (I, 228 und 11, 88)
dafs »Junge Frauenzimmer bey Besuchen sich einander zum Zeitvertreib
die Läuse absuchen", eine Behauptung, welche er später im III. Teil
seines Werkes zurücknehmen mufste. — Wohlleben, meinte Kaufhold
(I, 243), ist dem Spanier kein Bedürfnis, um glücklich und zufrieden
zu leben. Spanische Mäfsigkeit und Nüchternheit waren längst sprich-
wörtlich.
Im Lobe der Spanierinnen, ihrer physischen Reize, sind unsere
Reisenden einstimmig. Sie taugen allerdings sehr wenig zur Ehe,
sind schlechte Hausfrauen und haben keine Neigung zum Flatonismus
(Gem. V. Mad. S. 434). Ihre äufsere Erscheinung aber wirkt einneh-
mend und bezaubernd. „Kleidung, Anstand und Gang hat etwas so
Reizendes, so Einnehmendes und so Anziehendes, das fast unwider-
stehlich ist und das den Spanierinnen den Vorzug vor den Frauen-
zimmern anderer Nationen beilegt" (Kaufhold I, 162). Man stellt sie
sich gewöhnlich als Sklavinnen der Eifersucht der Männer vor. Die
Spanierin ist dagegen, sagte Kaufhold (I, 335), „gleichsam Königin".
Und Fischer (Reise, S. 267), „Die Weiber sind freier als irgendwo".
Die Spanierin (204) will selbst wählen, nicht sich wählen lassen; sie
übernimmt die Rolle des Mannes und ihm bleibt nichts übrig, als sich
ihr hinzugeben und aufzuopfern. Im Theater wird die Eifersucht
lächerlich gemacht, wie in der 3aktigen Comedia „El zeloso de Les-
mes" des Vicente Rodriguez de Arellano*). Alles ist wild und un-
*) In Deutschland dagegen schrieb ein Herr Herbst um die ^er Jahre ein wahriiaft
trauriges Trauerspiel über spanische Weiberrache, betitelt: ^^^^ ▼on Consengra, ein
Spanien u. die spanische Litterator im Lichte der deutschen Kritik u. Poesie. III. 386
gestüm, alles Laune und Eigensinn bei ihr. Sie empfindet durch
lauter Extreme (Gem. v. Mad. S. 434). Sie bewahrt wohl eine
schwärmerische Anhänglichkeit an das kirchliche System ihres Landes,
sie zeigt einen Eigensinn, der nur sich selbst nachgibt, Rachsucht,
glühende Wollust; dafür verrichtet sie Wunder von Treue, Anhäng-
lichkeit, Seelenstärke und Heroismus. Die Valencianerinnen sind un-
streitig die schönsten Weiber von ganz Spanien (Fischer, Reise
S. 446). „Süfse, bezaubernde Geschöpfe", ruft der hingerissene Deutsche
einmal aus (Gem. v. Valencia II, 115), „deren Kleidung das schönste
Symbol eines holden Charakters, eueres paradiesischen Landes, eueres
hesperischen Himmels ist — drey mal glücklich, wer von euch ge-
liebt werden kann". Nicht minder warm schlägt Fischers Herz für
die Frauen Madrids. Er belauscht sie im Tanze (Gem. v. Mad. S. 458):
„O Weiber von Madrid! In diesen Augenblicken seid ihr allmächtig!
Euere schmachtende Augen, euere verführerischen Lippen, dieser
klopfende Busen, diese zauberischen Bewegungen des schönsten Kör-
pers! In welcher Sprache fände man Worte dafür!" Wie unsere
Deutschen die Liebe im Süden als höchstes Glück sich vorstellen,
das den Menschen hienieden vergönnt ist, kann man sich denken').
Kaufhold (I. 317) erzählt eine ergötzliche Geschichte zweier Liebes-
paare, eine Art Wahlverwandtschaft niederer Stände, wobei ein alter
und ein junger Eseltreiber ihre Frauen gegenseitig vertauschten. Wer
die Liebe in ihrer ganzen Schönheit und Holdseligkeit kennen lernen
will, sagte Fischer, der eile in ihr Vaterland, „ins zauberische Valencia"
(Gem. V. Val. II, 215)*).
Opfer der Weiberrache, ein Trauerspiel in 5 Aufzügen aus der spanischen Geschichte
des elften Jahrhunderts. Dresden 1794**.
*) Spätere deutsche Reisende haben lange nicht wie Frischer für die Spanierinnen
geschwärmt. So hat der Schweizer Studer im Jahre 1807 folgendes Bild entworfen (vgl.
H. Morf ^Pestalozzi in Spanien** im „Neujahrs-Blatt der Hülfsgesellschaft von Winter-
thur**. Winterthur 1876. S. 11. Ins Spanische übersetzt im: „Boletin de la Institucion
Itbre de Enseiianza**, B. XI. (1887): „I^ic Spanierin ist äufserst stolz und eigensinnig,
anmafsend, ungenügsam, intriguant und eifersüchtig. Bigotismus is{ zwar dem ganzen
Volke eigen, eingesogen mit der Muttermilch, aber ganz besonders zeichnen sich die
Schönen aus, und ihre Andacht trägt den Bonzenschwarm Iberiens im Beichtstuhl Früchte
aller Art. Als Gattin ist die Spanierin gewifs nicht zu empfehlen. In ihrem Wesen
liegt das Reine, Rdle, Keusche nicht, das in dem Herzen eines deutschen Weibes wohnt,
und Häuslichkeit und Weiblichkeit sind diesen Ohren ohne Sinn".
') Der Name Valencia allein übte auf unseren Fischer einen unbezwinglichen Zauber,
ähnlich wie ihn der Deutsche noch heute empfindet, wenn der Zigeunerhauptmann
in Wolffs «Preciosa** das Zeichen; „Auf nach Valencia" zum Aufbruch giebt. Köst-
ZUchr. f. vgl. Litt-Geach. N. P. VIII. 22
886 Artiir Parinelli.
Im gesellschaftlichen Verkehr der Spanier ist alles lebhaft, munter
und fröhlich. Die Schilderungen düsteren, finsteren, geheimnisvollen,
verhüllten spanischen Lebens erscheinen erst später in deutschen so-
wohl wie in französischen Reiseberichten. Eine freie und volle
Ausgelassenheit herrscht in den Tertulias. (Gem. v. Mad. I, 441)
Zwischen beiden Geschlechten waltet die gröfste Vertraulichkeit. Keine
Spur von ängstlicher, klösterlichen Steifheit. Alles atmet hier
Wonne und Freude. Die Quelle der Fröhlichkeit, meinte Kaufhold
(I, 231) liegt in dem Spanier selbst, und er braucht sie nicht erst
wie der phlegmatische Deutsche aus der vollen Flasche herzuleiten.
So hat der über die spanische Heiterkeit hochentzückte Kaufhold im
privaten und öflfentlichen Leben der Spanier eine wahre Arkadia ge-
sehen. Hatte Voltaire einige Jahrzehnte vor ihm im „Essais sur les
moeurs** (Kap. 177) von Spanien behauptet: „Tout le monde jouait
de la guitarre et la tristesse n'en etait pas moins repandue sur la face
de TEspagne", so fand der Deutsche dagegen, dafs Guitarra und
Guitarreros die allgemeine Fröhlichkeit in Spanien nährten und unter-
hielten. Nach ihm ist kein Spanier ohne Guitarra*), keine Spanierin
ohne Castanetas. Den spanischen Typus, den später die französischen
Romantiker, die Hascher nach der Couleur locale in die Mode brachten,
erscheint hier schon in voller Rüstung (I, 180). Wenn das Essen
vorbei ist, so geht es an Spielen und Tanzen, jeder Spanier versteht
die Guitarra zu spielen und träg^ dies Lieblings-Instrument überall
mit herum (I, 36). Überall erschallt die mimtere Guitarra und über-
all tönen Gesänge wieder, sowohl in Häusern als auf Strafsen; „der
nämliche Nationalgesang, der mich des Abends in Schlaf wiegt,
weckt mich auch des Morgens wieder; singend legen sich hier die
lieh ist, was sonst Fischer über Liebe, Brautwerbung und Hochzeiten in Valencia be-
richtet. Köstlich auch sein malsloser Enthusiasmus. Am ergötzlichsten ist wohl folgende
Stelle (Gem. v. Valencia II, 131): «Söfs und entzückend hatte das junge Weib empfangen,
leicht und fröhlich vollendete sie ihre Schwangerschaft. Ohne Schmerzen, ohne Gelahr
geht das holde Kind aus ihrem SchoCs hervor, eine schöne Blüte, die ihre Knospe zer-
sprengt! — Welche Eltern! Welches Vaterland! — Ach, und ihr könnt noch fragen,
warum der Genius im Norden so selten ist?"
') Eine Guitarre aus Spanien hätte W. v. Humboldt an Gottfried Kömers Frau nach
seiner Reise gebracht, wenn er sich nicht überzeugt hätte, dafs in Spanien selbst alle
guten Guitarren aus England kamen. Vgl.: „W. v. Humboldts Ansichten über Ästhetik
und Litteratur. Seine Briefe an Christian Gottfried Köm er hrg. v. F. Jonas". Berlin 1880:
(am 30. Mai 1800). Vgl. auch S. 107: „Aus Spanien verschaffe ich Ihnen, und hoffent-
lich bald, ein Packet Nationalmusik, die merkwürdig seyn soll, obgleich Sie das Ohr
Spanien u. die spanische Litteratur im Lichte der deutschen Kritik u. Poesie. HI. 837
Mägde, die in andern Ländern zum Schweigen verdammt sind, nieder
und singend stehen sie wieder auf, und frohe Gesänge erleichtern
ihnen alle ihre häuslichen Beschäftigungen. Alles singt, selbst Kinder
auf der Strafee, und alles scheint nur Freude und Vergnügen zu
atmen". Seltsam gewifs diese spanische Musikmanie (Bf, 194). »Der
muntere, feurige Geist der Nation stimmt alles zum singen imd dichten"
Ol 243)- So vergifst der nur Liebe und Vergnügen atmende Spanier
die ganze Welt, seine oft knappen Umstände, seinen Gram und seine
Not und setzt sich im gleichen Rang mit den Kindern des Glücks,
mit denen er gleiches Vergnügen geniefst.
Für die Kunst Spaniens haben unsere drei Reisenden wenig Ver-
ständnis. Sie wissen von den vielen Schätzen der spanischen Malerei
und der spanischen Architektur nichts zu berichten. Höchstens widmet
Fischer im „Gemälde von Madrid" einige Seiten einer trockenen Auf-
zeichnung der vorzüglichsten Malereien, welche den Residenzpalast
schmücken. Kaufhold (I, 93) prahlte, dafs er mit der Reise den
Antonio Ponz (Fortsetzung des De la Puente) in der Hand da
und dort herumirrte; er betrachtete aber gleichgütig die darin ge-
schilderten Gegenstände, er schilt sogar den Spanier, dafs er seine
Nation vollgepfropft mit Meisterwerken hatte schildern wollen*).
„Reiset ruhig nach Spanien! Die Zeiten der Finsternis sind vorüber,
die Autosdafe vergessen! ... Jude oder Heide; Niemand bekümmert
sich darum", hatte Fischer (Gem. von Madrid S. 332) seinen, Landes-
genossen zugerufen. Kauthold dagegen gibt uns noch vor Schlufs
des Jahrhunderts ein haarsträubendes Bild vom Rückstande der
spanischen Justiz (I, 130 ff.) und dem Druck der spanischen Censur,
von der grausamen Gewalt und den Taten der Inquisition. Er hebt
die Schattenseiten hervor und häuft Tadel auf Tadel gegen die
niclit angenehm rührt, mit Guitarrenbegleitung für Ihre Frau". Sehr interessant und
nunmehr selten ist die von Fischer (Reise. S. 458) angeführte, mehrfach wiedergedruckte:
^»Coleccion de las mejores coplas de seguidillas volos y tiranas, para cantar d la guitarra,
divididas en cinco clases, con un discurso preliminar sobre el bayle espanol y müsica
nacional". (II Ausg. Madrid 1799; III. Madrid 1805 in 2 B.; IV. Madrid i8i6). — ,,Der
Spanier mit der Mandoline" ist ein Titel eines zu Leipzig 1803 erschienenen Buches in
2 Teilen mit Kupfern von Penzel.
*) Unbekannt war unseren Reisenden die deutsche Übersetzung des Werkes
Palominos: ,,Don Antonio Palomino Velasco Leben aller spanischen und fremden Maler,
Bildhauer und Baumeister, welche sich in Spanien durch ihre Werke berühmt gemacht
haben; ins Deutsche übersetzt, und mit dem Leben des berühmten Raphael Mengs ver-
mehrt". Dresden 1781.
22*
838 Artur ParinelU.
priesterliche Intoleranz, gegen den beschränkten mönchischen Geist,
der alles Blühen und Gedeihen in Dämmen halte. Sein düsteres Bild
schmückt er noch mit der Erzählung von bedenklichen Tatsachen aus.
Er ist Zeuge von manchen Greueltaten gewesen, und während er
anfanglich von seinem Aufenthalte in Madrid Erquickung und Trost
empfand und gestanden hatte (I, 38), es sei ihm, als ob er wirklich
neues Leben bekäme, verabschiedet er sich von der Hauptstadt wie ein
Vogel von seinem Käfig; es sind ihm, sagt er, Zentnerlasten von
seiner Brust gefallen und blickt zurück (II, 384) auf das stolze, üppige
Madrid, „wo geistlicher und weltlicher Despotismus die Menschheit in
eiserne Fesseln geschlagen hat, die nun ihre Niederträchtigkeit und
ihre Schande in schwelgerischen Vergnügen zu vergessen sucht".
„Der Spanier", meinte Kaufhold (II, 184), „ist von Natur aus
scharfsinnig, feurig und zu jeder Wissenschaft geschickt; es bedürfte
also nur eines Stofses von oben herab, um den Geist der Nation zu
wecken". Ahnlich sagte Fischer (Reise. S. 329): „Könnten die
Spanier alle Fächer ungehindert bearbeiten, sie würden den übrigen
Nationen in Allem nacheifern". Statt aber das Genie, die natürlichen
Anlagen zu fördern, werden sie in ihren Keimen erstickt. „Der hiesige
Mönchsgeist ist die gefahrliche Klippe, an der schon so manches
litterarisches Unternehmen gescheitert ist" (Kaufhold 11, 199). Der
Spanier, der nach Aufklärung strebt, hat eine herkulische Arbeit vor
sich (I, 305); die Vernunft wird als die gefahrlichste Feindin ver-
schrien (I, 297). Helle Köpfe müssen gleich der Finsternis anheim-
fallen.
Über die Religion in Spanien hat J. Georg Rist in seinen „Lebens-
erinnerungen" am Anfang des Jahrhunderts, am schönsten und tref-
fendsten geurteilt. Die Religion, meinte Kauf hold (I, 271), ist dem
Spanier nichts als eitle Ceremonien, die nur die Sinne füllen, das
Gehirn erhitzen und das Herz leer lassen. „Liebe und Bigotismus
und Bigotismus und Liebe sind die zwey Hauptbeschäftigungen des
Spaniers; nimm ihm diese, und du hast ihn zu einem Klotze gemacht".
Ahnlich Link (I, 84): „Die Religion ist der Stolz und die Belustigung
der Spanier" und (I, 236) : „Man geht in die Messe, weil man keinen
anderen Spaziergang hat; man liebt die Ceremonien der Religion,
weil man Zeitvertreib sucht; man folgt den Prozessionen, wie man zur
Oper läuft**. In der Beobachtung des Äufserlichen der Religion über-
treffen aber die Portugiesen noch die Spanier. Eine Frage wurde
einmal von einem Portugiesen aufgeworfen (I, 237), ob es eine gröfsere
Spanien a. die spanische Litteratur im Lichte der deutschen Kritik u. Poesie, m. 339
Sünde sei, am Fasttag Fleisch zu essen oder das sechste Gebot zu
übertreten, und der Schlufs war allgemein, das letztere sei eine Kleinig-
keit gegen das erstere^).
Moderne Ideen können schwerlich in Spanien Eingang finden.
Die Bildung zeigt seit Jahrhunderten keinen Fortgang. Vor jedem
fremden Willen bewahrt man eine heilige Scheu (Kauf hold I, 302).
Von fiüher Jugend an hat man dem Spanier Mifstrauen gegen fremde
Schriftsteller eingeflöfst, „er flieht sie daher so wie die Pest". An
keiner Universität sind öflfentliche Lehrer für firemde Sprachen an-
gestellt (II, 175)- Die Bibliotheken sind reich an Bänden und inhalt-
lich arm. In neueren Zeiten hat man zwar mehr Mittel für die Er-
werbung fremder Bücher verwendet als ehemals (II, 166)" die besten
englischen und französischen Autoren sind zwar in den zwei öffent-
lichen Bibliotheken (zu Madrid) vorhanden, aber als Ketzer sind sie
gleich räudigen Schaafen aus der guten Herde ausgesondert" (I, 302).
Besonders verworfen waren Werke phUosophischen Inhalts. Fragt
einer, sagt Kaufhold nach einem Buch über französische oder eng-
lische Philosophie, so antwortet ihm der Bibliothekar mit einem
Achselzucken: „esto es libro prohibido". Auch die politischen
Wissenschaften sind in bedenklichem Rückstande. „In Absicht auf Politik"
(Kaufhold I, 268) „ist der Spanier eine wahre Null!" Er schleppt
eine passive Existenz durch das bürgerliche Leben hin. Staatsange-
legenheiten, sowohl innere als äufsere, gleiten wie die Bilder des
Traumes an seiner spiegelglatten Seele vorbei, ohne eine bleibende
Spur zu hinterlassen.
Dafs sich bereits am Schlüsse des Jahrhunderts Deutsche in
Spanien niedergelassen hatten, erzählt Kaufhold umständlich. „In
allen spanischen See- und etwas ansehnlichen Landschaften sind
deutsche Kaufleute etabliert" (Kaufhold I, 547). Seit undenklichen
Zeiten hatten Böhmen den Weg nach Spanien und Portugal einge-
schlagen. Gewöhnlich kamen sie ganz jung nach Spanien, sie
heirateten dann in ihrer Heimat, sobald sie ein wenig Geld in der
Fremde zusammengebracht hatten, und kehrten dann wieder zu ihrem
Geschäfte zurück. Germanische Elemente waren vor allem in die
Armee eingedrungen. Den fremden deutschen Soldaten im Dienste
') UndKaufliold (I, 217 f.): n^^^ Messe an Festtagen zu versäumen, ist ihm (dem
Spanier) eine der gröfsten Sünden; die Fastengesetze hält er mit gewissenhafter Pünkt-
lichkeit; dagegen ist es ihm nur Kleinigkeit, seinen Mitmenschen zu verraten, seinen
Feind zu ermorden und selbst an Festtagen Löcher in das sechste Gebot zu machen".
840 Artur FarinellL
Spaniens zog Kaufhold die einheimischen vor. Die ersteren (I, 607)
sind „langsam", „unbehülflich" und „schwerfallig", die letzten dagegen,
voll „Feuer und Leben". Die Behauptung Kaufholds: Die OflSciere
„seien lauter gebohrene Schweizer", ist wohl nicht stichhaltig.
Fischer hat (Reise. S. 360 ff) interessante Nachrichten von der Be-
schaffenheit der spanischen Armee gegeben. Die sogenannten Schweizer-
regimenter und wallonischen Garden sind fast aus lauter Deutschen
und Österreichern zusammengesetzt. So ist das neue Schweizer-
regiment Kurton (1792) „ganz aus Österreichern errichtet worden
und ebenso findet man auch bey anderen Regimentern oft ein Drittefl
Österreicher in den Compagnien" ^). Von dem barbarischen Rekruten-
handel in Spanien, welcher besonders von den Familien Redling,
Betschland, Rütimen, Schwollen in grofsem Mafsstabe betrieben
wurde, ist schon früher (II. Teil) die Rede gewesen. — In Portugal
(Link I, 143 f.) hat eigentlich der Graf von Schaumburg-Lippe, Herders
und Zimmermanns ^) langjähriger Freund und von dem letzten in der
„Einsamkeit" gepriesen, eine eigentliche ständige Armee geschaffen.
Der Name dieses „aufserordentlichen Mannes" (o conde de Lippe —
o gran conde) war stets im ganzen portugiesischen Volke mit Ver-
ehrung ausgesprochen '). In portugiesischen Dienst stand auch (Link
I, 144), der Prinz von Waldeck, „der liebenswürdigste Mann, den
Deutschland Portugal schenken konnte". — Manche öffentliche Stellen
in der Halbinsel werden von Deutschen verwaltet. Im Berg- und
Minenbau besonders haben sich Deutsche eingeschlichen. Ein Deutscher
(Kaufhold II, 205) ist Direktor in der Almaden, das Ministerium hat
ihn beauftragt, junge Leute im Bergwesen zu unterrichten. Deutsche sind
es, welche die Naturwissenschaften, die Mineralogie vorzüglich, in Spanien
pflegen (Link I, 109). Der chursächsische Gesandte, Baron von Forell, ein
Mann von vorzüglichen Kenntnissen, unterstützt Gelehrte in Spanien,
ist selbst ein eifriger Sammler, er veranlafst Christian Herrgen, dem
wir später als Professor in Madrid und als Bekannten W. v. Hum-
') Vgl. das Kapitel: „Die Schweizerregimenter in spanischen Diensten** in A. Maag:
„Geschichte der Schweizertruppen im Kriege Napoleons I. in Spanien und Portugal".
Kiel 1893. I, 17 ff.
') Vgl. auch R. Ischer, Joh. Georg Zimmermanns Leben und Werke. Litterarhisto-
rische Studie. Bern 1893. S. 129, 135.
•) Ein interessantes Urteil über den Grafen von Schaumburg-Lippe fmdet sich in
den „Briefen von Carlyle an Varnhagen v. Ense.** Deutsche Rundschau 1891 April,
S. 115.
Spanien u. die spanische Litteratar im Lichte der deutschen Kritik u. Poesie. lU. 341
boldts begegnen werden *), Wedemanns „Handbuch der Mineralogie"
ins Spanische zu übersetzen ^). Zu den korrespondierenden Mitgliedern
der Akademie der Wissenschaften in Lissabon zählt obenan, seines
Vornamens wegen, Abraham Kastner (Link III, 199).
Akademien und Universitäten sind in Spanien, nach Kaufhold, in
elendem Zustande; die Begriffe von Aberglauben und Dummheit, wozu
der Grund schon in den unteren Schiden gelegt wird, werden erst recht
in diesen höheren Anstalten ausgebildet. Besser sind die Schulen in
Portugal. Die Universität Coimbras, sagte Link (II, 27 f.) zählt mehr als
800 Studierende, sie „übertrifft bey weitem alle spanische Uni-
versitäten (Salamanca nicht ausgenommen): ja, es giebt wahrlich
sehr viele Universitäten in Deutschland, welche in Rücksicht der
zweckmäisigen Anstalten ihrer sehr verachteten portugiesischen Schwester
weit nachstehen müssen." — Unter den Professoren der Universität
Coimbras traf Link (II, 37 ff.) einige helldenkende, lebhafte Männer,
welche durch die portugiesische Höflichkeit noch liebenswürdiger
wurden, mit der französischen und englischen Litteratur vertraut
waren. Der Botaniker Brotero (Link I, 39) kannte auch die Schriften
der Deutschen und studierte Hedwig '). Ein Mann der Wissenschaft
konnte sich aber schwerlich sowohl in Spanien, wie in Portugal einen
Namen machen (Link I, 114).
Ein solches Bild von Spanien haben Kauf hold, Fischer und Link un-
mittelbar vor Anbruch des neuen Jahrhunderts entworfen. Beinahe zur
gleichen Zeit wie unsere drei Reisenden betreten zwei der gröfsten, der
klarsten, der tiefsinnigsten Deutschen das schöne, verkannte Land:
Alexander und Wilhelm v. Humboldt. Ihre Reiseerinnerungen aber, die
Briefe des letzteren vornehmlich, welche an Freunde und Bekannte in
die Heimat geschickt wurden, müssen später im Zusammenhange mit
') ^S^* «Goethes Briefwechsel mit den Gebrüdern v. Humboldt**. S. 173 und
Fischer, Reise. S. 246.
') Vgl. den Artikel über Herrgen In Eug. Maffei y Ramon Rua Figueroa: „Apuntes para
una Biblioteca espaAola de libros, folietos y artfculos, impresos y manuscritos, relativos
al conocimiento y explotadon de las riquezas minerales y 4 las ciencias auxiliares**.
Madrid 1871 I, 351 ff.
*) Auch des Valencianers Cavanilles gedenkt Link in seiner Reise. Er gehört zu
den geschätztesten Gelehrten Spaniens (I, 113). „Schade aber, dafs er sich von zwey
Fehlem der spanischen Schriftsteller nicht losmachen kann. Er ist zu streitsüchtig —
und seine spanischen Schriften, besonders seine sonst vortreffliche Reisebeschreibung
vom Königreich Valencia ist in einem schwülstigen Styl geschrieben*^.
843 Artur Farinelli.
Goethes Beschäftigung mit Spanien und mit der spanischen Litteratur
besprochen werden *).
XIV.
Über spanische Litteratur flössen die Urteile der Deutschen
vor dem Auftreten der Romantiker äufserst spärlich. Vernünftige
Urteile überhaupt dürfen wir nur von unseren Reisenden erwarten,
welche lange im Lande selbst verweilt hatten, mit der fremden Sprache
mehr oder weniger vertraut waren. Was wir sonst da und dort,
meist unter dem Schutte veralteter, unverdaulicher gelehrter Abhand-
lungen finden, bietet zwar ein gewisses historisches Interesse; im grofsen
und ganzen ist sie dem Geschichtsschreiber der Litteratur von geringem
Nutzen und beinahe wertlos.
Calderon war, trotz Gerstenbergs begeisterten, aber rasch ver-
rauschenden Lobes, den Deutschen vor 1800 ein leerer Name und
harrte noch auf die Apotheose der Romantiker. Für Lope war,
Ende der 80er Jahre, Butenschön begeistert, aber gewifs, ohne ihn
je gelesen zu haben. Die kümmerliche Geschichte des Studiums der
Poesie Lope's in Deutschland bis Grillparzer habe ich anderswo er-
zählt^). — Nur Cervantes „Don Quixote" behielt seine unverwüst-
liche Macht, ergötzte und belehrte selbst die gröfsten unter den
deutschen Dichtem. Auch die „Novelas exemplares*' und der „Per-
siles** fanden Leser in den Übersetzungen des Grafen Julius von
Soden. — Nach Mainhardts verstümmeltem Fragment einer Über-
*) Wilhelm v. Humboldt spricht einmal in einem seiner Briefe an Goethe (Rom,
IG. Dezember 1802) von Uhden (Job. Dan. Wilh. Otto), welcher Goethe empfohlen
sein wollte und ^seinen zwölfjährigen Aufenthalt in Spanien vortrefflich benutzt,
eine ungeheure Menge Materialien und selbst viele Sachen gesammelt** hatte und sehr
gut über alles, was Goethe nur irgend wünschte, Auskunft geben konnte. Hier liegt
gewifs entweder ein lapsus Humboldts oder ein Druckfehler im Text vor. Es soll statt
Spanien, Italien heifsen. Uhden hatte ja Anfangs der 90 er Jahre Italien bereist und
war bis zu seiner Abberufung nach Berlin (Dezember 1802), königlicher Resident in Rom.
Alle Kunstgelehrtcn Italiens seiner Zeit waren durch Freundschaft mit ihm verbunden.
Vgl. Neuer Nekrolog der Deutschen (1835 XIII, 85—88).
Auf die scharfsinnigen Bemerkungen über Spanien, seine Kultur und seine Re-
gierung des Sandoz-Rollin, preufsischen Gesandten am spanischen Hofe, die noch als
Ms. im geh. Staatsarchive zu Berlin aufbewahrt bleiben, hat H. Baurogarten in der
Hauptsache seine ^Geschichte Spaniens zur Zeit der französischen Revolution**, Berlin
i86i gestützt. Vgl. das Vorwort S. VII.
') In der Einleitung meines Buches „Grillparzer und Lope de Vega*. Berlin 1894.
Spanien u. die spanische Litteratur im Lichte der deutschen Kritik u. Poesie. III. 343
Setzung von Camoes Lusiade hatte Siegraund von Seckendorf (nicht
Gerstenberg, wie Buchholz in seinem „Handbuch der spanischen
Sprache und Litteratur. Poetischer Teil". Berlin 1804. S. 68 behauptet)
den I. Gesang des berühmten Epos für Bertuchs „Magazin der spanischen
und portugiesischen Litteratur" übersetzt. Vater Gleim las Camoes
wie er an Heinse berichtet, (Halberstadt, 16. Januar 1779) im Jahre
1779 in der englischen Übersetzung Mickles (II. Ausg. Oxford 1778):
„Ich lese mit grofsem Vergnügen, aber leider zu oft unterbrochen: The
Lusiad, translated from the original Portuguese* of Luis de Camoens
by Mickle** *). — Von kleineren Gestirnen der spanischen und portu-
giesischen Litteratur ist kein Strahl nach Deutschland gedrungen,
wenn auch hie und da, meist nach französischen Berichten, dies oder
jenes Buch angeführt wurde. Die weitläufigen Rubriken über die
ganze Litteratur der iberischen Halbinsel lieferten nur verstümmelte
Namen. So ist schon in der Albrecht von Haller gewidmeten deutschen
Übersetzung des „Aparato para la historia natural Espafiola" des
Torrubia ein „Anhang über die portugiesische Litteratur" (S. 137 ff.)
aus der Feder des uns schon bekannten Christoph Gotdieb von Murr
eingerückt ^, ein ziemlich wüster Kram, worin aus allen Wissenschaften,
aus der alten und neuen Litteratur Titeln von Büchern verzeichnet
werden. Obwohl Murr aus dem 20 bändigen Werke des Luiz Antonio
Verney „Verdadeiro methodo de estudar", welches am besten über die
portugiesische Litteratur unterrichten sollte, aufmerksam macht, hat er
selbst, so oft er Camoes, Ferreira, Sa de Miranda und die neueren
*) „Briefe zwischen Gleim, Wilhelm Heinse und Johann von MQller — hrsg. v. Körte".
Zürich 1806. 1, 390. — Eine dritte, verbesserte Ausgabe der Übersetzung Mickles er-
schien zu London 1798.
') „Des Vaters Josephs Torrubia. Vorbereitung zur Naturgeschichte von Spanien.
Aus dem Spanischen übersetzt und mit Anmerkungen begleitet, nebst Zusätzen und Nach-
richten, die neueste portugiesische Litteratur betreffend, von Christoph Gottlieb v. Murr".
Halle 1773. Murr gab auch später von Zeit zu Zeit in seinem „Journal zur Kunstge-
schichte und zur allgemeinen Litteratur** einige verwirrte Nachrichten und Misccllen über
die portugiesische Litteratur. Im XIV. Teil (Nürnberg 1787) werden einige lateinisch
geschriebene Bemerkungen eines Jesuiten über die von Prof. Sprengel zu Halle aus der
französischen Obersetzung in Deutschland bekannt gemachten „Letters on Portugal**,
dann einige „Responsiones ad Epigrammata Joannis de Iriarte" (1771), im XVI. Teil
(1788): „Varia de vita P. Gabrielis Malagrida, und Excerpta nonnulla Ulyssiponensi-
bus" u. s. w. mitgeteilt. S. 137 der Obersetzung Torrubias ist von einigen „älteren
Nachrichten von der portugiesischen Litteratur**, in Herrn. Blacksfords „neuern Schriften
der Ausländer und der Deutschen** (Wien 177 1) die Rede, welche ich nicht kenne. Es
wird wohl eine Übersetzung aus fremden Berichten sein.
BU Artur FarineUi.
Jose de Sousa, Domingo dos Reis Quita erwähnt, die trockene Ge-
schichte Diezes vor Augen. Er liefert nichts als ein hohles Gerippe
von Namen. So verzeichnet er unter anderen die ,,Noticias de Por-
tugals^ des Manuel Severim de Parias, die ,,Bibliotheca Lusitana^^ des
Barbosa Machado (Lisbona 1759), die „Gazeta Litteraria" des Fran-
cisco Bernardo de Lima (Porto 1760) und, die Kunst betreffend, die
„Raridades das Naturaleza e da Arte" (Padilla 1759)^)- — Die Vor-
rede zur „Portugiesischen Grammatik" (Frankfurt a. d. O. 1778) des
Johann Andreas von Junk (1763 war er Officier im Dienste Portugals)
brachte auch einiges über Camöes*) und die Obersetzung der ganzen
Episode der Inez de Castro. Junk hat aber den Geist der Dichtung
des grofsen Portugiesen völlig mifsverstanden; er hat nur Tadel auf
Tadel angehäuft und eine seichte, nahezu triviale Kritik geliefert, welche
einige Zeitgenossen empörte').
Als der Göttinger Professor T. C. Tychsen, Heynes Lieblings-
schüler, der Vater der durch ihren frühen Tod, durch die Liebe und die
Elegien Ernst Sdnulzes berühmt gewordenen Caecilie*), die um 1784,
zur Zeit seiner^it Prof. Moldenhawer aus Kopenhagen unternommenen
gelehrten Reise durch Spanien, niedergeschriebenen Aufzeichnungen
über den gegenwärtigen Zustand der Wissenschaft und Litteratur in
Spanien als Anhang zum II. B. des von Hofrat Kayser übersetzten
Gemäldes Bourgoings, einrückte^ (1790), machte der Übersetzer den
Leser aufmerksam (S. V der Vorerinnerung), dafs eine so interessante
Übersicht „die der Litterator bis jetzt noch nirgends fand*', „blos
*) Die im Gothaischen Theater- Journal für Deutschland (1778) gegebenen Nach-
richten über die ^Komödie im Portugal** konnte ich leider nicht lesen.
^) Die kleine Schrift Wilhelm Storcks: nCamoens in Deutschland. Bibliographische
Beiträge zur Gedächtnisfeier des Lusiadensängers**. Kolozvar 1879, aus welcher K. v.
Reinhardstoettner einen Auszug in portugiesischer Sprache machte: („A Pigura poetica
de Camo^s em Allemanha". Porto 1889) ist mir nur dem Titel nach bekannt. In Joaquim
de Vasconcellos Jubiläumsschrift „Camoes em AUemanha. Ensaio critico em memoria
do terceiro centenario. Porto 1880** wird blos die Litteratur des 19. Jahrhuaderts be-
rücksichtigt.
9) Gegen Junk äulserte sich auch Bouterwek in seiner nC^eschichte der spanischen
Poesie und Beredsamkeit** (1804) S. 154 y.
*) £. Franzos nEmst Schulze und Caecilie Tychsen**. Deutsche Dichtung 1890^93
und 1894 „Ernst Schulze und Adelheid Tychsen**.
') „Des Herrn Ritters von Bourgoing Neue Reise u. s. w. mit einem Anhang
des Hrn. Prof. Tychsen zu Göttingen über den gegenwärtigen Zustand der spanischen
Litteratur**. B. II. (Jena 1790). Auf S. 343 bemerkt Tychsen ausdrücklich: nHier be-
schliefse ich diesen Aufsatz, den ich schon vor fünf Jahren entworfen hatte**.
Spanien u. die spanische Litteratur Im Lichte der deutschen Kritik u. Poesie. III. 345
Teutscher Fleifs und Teutsche Gelehrsamkeit, welche die wissenschaft-
lichen Reichtümer fremder Nationen besser kennt, als ihre eigenen
Besitzer, liefern konnte". Trotz dieser Aufschneiderei kommt uns
Tychsens Bericht recht bescheiden und mager vor. Im Sammeln von
Nachrichten war der Göttinger Professor Reufs behilflich, welcher im
Jahre 1788 eine spanische Schrift über das Inquisitionsgericht über-
setzte und mit Anmerkungen versah'). In der allgemeinen Un-
wissenheit in spanischen Dingen, welche in Deutschland damals
herrschte, konnten Tychsen wie Bertuch als Ratgeber gelten und ihre
Leistungen leicht übertrieben werden. Tieck, der unter den Roman-
tikern mit spanischer Dichtkunst am besten vertraut war, wurde von
Tychsen zuerst ins Spanische eingeführt. Köpke berichtet^), dafs
der Göttinger Professor Vorlesungen über die spanische Litteratur
hielt, eine Behauptung, die ich sonst nicht zu bekräftigen vermag').
Der mit „teutscher Gelehrsamkeit" verfafste Bericht enthält mehr
Lob als Tadel für die Spanier, ein „edles und geistvolles Volk" frei-
lich, ein Volk, welches, wenn es seine litterarischen Institute vervoll-
kommnen, die Erziehung verbessern würde, „keinem der übrigen ge-
bildeten Völker unsers Weltteils nachstehen würde" (S. 343), das
aber leider gegen jede ausländische Kultur sich verschlossen zeigt und
eine „fast orientalische Gleichgültigkeit" (S. 328) gegenüber allem,
was in der Fremde geschieht, bewahrt. — In einer Zeit, meinte
Tychsen (S. 343), in welcher das Poetische zu verschwinden drohte.
*) ^Sammlung der Instruktionen des spanischen Inquisitions-Gerichts. Gesammelt auf /
Befehl des Kard. D. Alonso Manrique. Aus dem Spanischen übersetzt v. J. D. Reuü^.
Nebst einem Entwurf der Geschichte der spanischen Inquisition v. L. T. Spittler**. Haii-
nover 1788. — Spittlers Bericht geht der Obersetzung Reufs' voran. Mit Recht wird
auf die französischen Einflüsse in der modernen Kultur Spaniens Nachdruck gelegt.
S. LXI ff.: „Alles, was von Aufklärung nach Spanien kam, kam offenbar nur die Pyrenäei
herüber. . . . Eben die Schriftsteller, die zu Frankreichs politisch-religiöser AufkJdrCfng
am meisten gewürkt haben, sind auch unmittelbar die Lehrer der Spanier geworden,
weil in Spanien fast blos französische Lektüre ist**. Die Schrift endigt mit dem unum-
schränkten Lobe des „grolsen Grafen Campomanes**.
^ K. Köpke: Ludwig Tieck, Erinnerungen aus dem Leben des Dichters. Leipzig,
1^55' h 151.
') Von Tychsen rührt ein Aufsatz „Ober die alten Kunstwerke in Spanien ** (aus
einem Briefe an Hrn. Hofr. Heyne) her, in der von Tychsen selbst und A. H. L. v. Heeren
redigierten „Bibliothek der alten Litteratur und Kunst mit ungedruckten Stücken der
Escurialbibliothek und andern**. I. B. I. Stück. Göttingen, 1786. S. 90 ff. — Die merk-
würdigste Sammlung von Altertümern in Spanien hat Tychsen in Valencia in der erz-
bischöflichen Bibliothek gesehen (S. looj.
346 Artur Farinelli.
die Vernunft vorherrschend war, das Genie beschränkt, die kritische
Wagschale alles wog und die Dichter in dem Mafse weniger wurden,
wie die Philosophen sich vervielfältigten, blieb doch Spanien seiner
alten Überlieferung treu und behielt ein gutes Erbteil seiner alten
Poesie. Einen Vorteil haben noch die Spanier vor den Deutschen,
„dafs sie noch immer ihre alten Dichter schätzen, da bey uns gewöhnlich
nur das Neueste gesucht wird und gefallt" *). Bourgoing hatte sich um die
neuere Litteratur Spaniens nicht bekümmert; Tychsen in seinem An-
hang berücksichtigt blos diese. Er spricht rückhaldos sein Lob aus;
mit starker Überschätzung sieht er überall Talent und gute Anlagen.
Er ist in Spanien mit den jüngeren Schriftstellern und Dichtem zusam-
mengetroffen^) und will nun ihre Namen seinen Vaterlandsgenossen
verkündigen. Am vertrautesten scheint er mit dem spanischen Theater
zu sein. Leider gibt er kein selbständiges Urteil über die erwähnten
Stücke. Von Moratin dem älteren nennt er die „Hormesinda", die
„Lucrecia", „Guzman elbueno** und die Satire „Über die Fehler des
Theatergeschmacks" („El desengano al teatro espanol"); vonColomes
den „Coriolan", die „Ines de Castro" den „Scipio", von Lopez de
Ayala die „Numancia destruida". Auch den „Sainetes" des Ramon de
la Cruz wird Lob gespendet. Die Lyrik ist durch Iriarte, dessen
*) Die schönen, prunkvollen Ausgaben spanischer Dichter des 16. Jahrhunderts,
welche zur Zeit der Reise Tychsens die Druckereien Madrids und Valencias verlieisen,
haben sicher unseren Deutschen zu diesem Urteil bewogen.
^) Tychsen hatte sich leider in eine Polemik mit spanischen Gelehrten verwickeli,
welche sich jahrelang fortschleppte und welche deutliche Spuren auch in den Madrider
Blättern hinterlassen hatte. — Einzelne Verteidigungsschriften Tychsens sind von Spanlero
übersetzt worden. So kenne ich eine: ^Carta latina del Senor D. Olao Gerardo Tych-
sen al 111 ^ Senor D. Francisco Perez Bayer, con su traduccion Castellana** (Madrid
17S6) und eine „Vindicacion de la refutacion escrita en Castellano por el Seöor D. Olao
Gerardo Tychsen del Consejo de S. A. S. el Duque de Mecklemburg, traducida fiel-
mente de Latin por D. Thomas Fermin de Arteta" (Madrid 1787). Folgendes Geständnis
Tychsens entnehme ich aus einem Briefe an Arteta: „Raro de vestris novis Litterariis
ccrta notitia, rarissime ipsa scripta ad nos perveniunt, nee ullis saepe sumptibus et curis
comparari possunt, ut saepius expertus sum: in ephemeridibus quidem Gallids libri his-
panici Interim recensentur. Sed tot falsa saepe mixta, et jejune dicta reperi, ut levem
his fidem tribuam**. — Im „Memorial literario" (Oktober 1705; S. 33 — 50) steht eine
ziemlich derbe, linkische „Historia de la carrera de las opiniones del Sr, Tychsen sobre
las monedas Hebreo Samaritanas**.
Wie Tychsen geriet auch J. J. Hey deck in Streit mit spanischen Gelehrten w^en
seiner „Ilustracion de la inscripcion Hebrea que se halla en la Iglesia del Trdnsito de
la Ciudad de Toledo** (Madrid 1795). Vgl. darüber den III. Bd. der n^emorias de
la Real Academia de la Historia" (Madrid 1799, S. 31 fi).
Spanien u. die spanische Litteratur im Lichte der deutschen Kritik u. Poesie, m. 347
Fabeln und Gredicht über die Musik auch in Deutschland Beifall fan-
den, durch Menendez Valdes, durch Cadalso vertreten. Auch werden
die lateinischen Dichtungen einiger Spanier wie Marineros, Ortegas*)
und andere angeführt. Den Schlufs der Abhandlung bildet ein „Ver-
zeichnis einiger Schriften, die in den letzten Jahren in Spanien heraus-
gekommen sind". Diese sonst recht fleifsige, bibliographische Über-
sicht über die verschiedenen Zweige der Litteratur und der Wissenschaft
interessiert uns nur insofern, als sie Muster fiir spätere, ähnliche,
trockene Schriftenrubriken wurde, und weil sie bereits einige Werke
angibt, wie der ,.Parnaso Espanol" des Sedano, die „Coleccion de
Poetas Espanoles" des Ramon Fernandez (Pedro de Estala), den
„Ensayo de una biblioteca espanola" des Sempere y Guarino, die
„Coleccion de escritores castellanos" des Sanchez, die „Memorias** des
Sarmiento, den „Teatro histörico-critico de la eloqüencia espanola"
des Capmany, welche später die von Begeisterung fiir die spanische
Dichtung hingerissenen, trunkenen Romantiker nicht umsichtig genug
durchblätterten.
Ende der 8oer Jahre wollte ein Deutscher, dessen Name heutzu-
tage zu den verschollenen gehört, seine Landsleute, Jünglinge insbe-
sondere, die sich mit den schönen Wissenschaften beschäftigten, auf
eine Quelle aufmerksam machen, „aus der sie unzählige Goldkörner
schöpfen könnten". Diese Quelle war die spanische Litteratur, der
Deutsche war Johann Friedrich Butenschön*). Eine Übersetzung aus
dem „Persiles y Sigismunda" des Cervantes'), als Einleitung dazu:
einige abgedroschene Phrasen über das Leben des grofsen Spaniers
und ein sogenannter „Versuch über die spanische schöne Litteratur"
sind ebensoschnell vergessen worden, wie sein im Jahre 1791 erschie-
nener ,, Alexander der Eroberer", ein Gegenstück zu Meissners „Alci-
biades", und der 5 Jahre darauf veröffentlichte „Petrarca". Ein Denk-
mal edler Liebe und Humanität", worin er auch, um seine Ausdrücke
*) Die Verdienste Ortegas als Botaniker wurden bereits in der „Wiener Zeitung"
(3. Juni 1786) hervorgehoben.
') Über Butenschön (Allg. deutsche Biographie III, 650) kenne ich nur die spärlichen
biographischen Nachrichten bei Heindl „Biographien der berühmtesten und verdienst-
vollsten Pädagogen und Schulmänner aus der Vergangenheit^* (Augsburg 1860, S. 68 IT.),
worin der Leistungen Butenschöns im Spanischen nicht gedacht wird.
•) J. Fr, Butenschön. „Leiden zweyer edlen Liebenden" nach dem Spanischen des
Don Miguel de Cervantes Saavedra, — nebst dem merkwürdigen Leben dieses berühm-
ten Spaniers und einem Versuche über die spanische schöne Litteratur** (Heidelberg 1789).
Das vorige Citat auf S. 36.
848 Artur Parinelli.
zu gebrauchen, kleine Blumen aus fremden Gärten in den seinigen
verpflanzte und die Gleichgiltigkeit andrer gegen alles Edle und
Grofse in überlegenem Tone schalt*). Übrigens hat Butenschon
seinen lobenswerten Vorsatz niemals ernst genug aufgefafst, denn nach
dieser seiner ersten Leistung im Spanischen hat er nichts weiteres im
gleichen Fache geliefert und die spanischen Goldkörner mitten in dem
Haufen der Sandkörner ruhen lassen.
Die Verdeutschung des „Persiles" scheint mir einen Ruckschritt
zu bedeuten gegenüber der 7 Jahre vorher (Ansbach 1 782) erschiene-
nen Übersetzung Sodens, welche Butenschön, wie er selbst gesteht
(S. 32), so gut wie die von einem Unbekannten in Ludwigsburg 1746
erschienene erst nach Abdruck des I. Buches seiner Verdeutschung
kannte und benutzte. Eher hat er sich mit der italienischen Über-
setzung des Francesco Elio (Venedig 161 9) zu behelfen gewufst. Das
schöne Werk des Spaniers ist da verkürzt, dort verlängert, oft mifs-
verstanden und entstellt worden. Die drei letzten Bücher sind stark
und kümmerlich zusammengeschrumpft, auch der Gang der Geschichte
ist nicht unbedeutend verändert worden. Verdeutschen mufste man
den Persiles gewifs, ihn von vielen überflüssigen Reden befreien; Bu-
tenschön hat ihn aber elend verstümmelt. Und doch behauptete der
Übersetzer von seiner Leistung kühn und frech (XXXII): ^,Durch Weg-
werfung der oft äufserst unwichtigen Episoden gewann das Ganze
gewifs an Interesse, der Geist des Cervantes, der auch auf die-
sem Werke ruht, ist weniger mit Wolken umgeben".
Was Butenschön über das Leben Cervantes' berichtet, ist meist
nach dem recht flachen, geistlosen Vorbericht Florians zu seiner
Übersetzung der „Galatea" entnommen. Es war zu erwarten, dafs
der Deutsche noch mehr als der Franzose den Mund voll des Lobes
nehme (XXII), „Cervantes ward durch seinen Don Quixote auf ewig
ein Wohlthäter des ganzen menschlichen Geschlechtes**. Den „Persiles"
charakterisiert aber Butenschön nicht näher; er zieht vor, einige
„Empfindungen bey dem Grabe des unglücklichen Cervantes" nieder-
zuschreiben, wo er den Spanier als Erretter der Jugend dem Shake-
speare gegenüberstellt und auf Cervantes gefeiertes Haupt folgenden
Kranz von verwelkten Versen flicht:
*) Eine interessante Recension dieses abgeschmackten „Petrarca" ist in A. W. Schle-
gels „Sämmtlichen Werken" hrsg. v. Böcking X, 204 ff. zu lesen.
\
Spanien u. die spanische Litteratur im Lichte der deutschen Kritik u. Poesie. lU. 349
Aber beim Winke des sanften Cervantes lacht
Hoch der Greis und das Kind. Im Taumel der Freude
Sieht die Matrone den Kufs nicht,
Den die schlaue Enkelin nahm imd gab.
Britte, Männern pochte das Herz, wenn du sprachest,
Jünglinge streckten den Arm nach der Krone aus.
Die das Verdienst allein erringt.
Und vergossen die Träne der Tugend I
Aber im Himmel umarmen nun Selige
Ihren Retter vom Tajo, der sie dem Schlünde
Eines schwarzen Drachen entrifs.
Der die edelsten Herzen zerfleischte.
Lächelnd stehn sie um ihn, lächelnd umarmen
Sie nun den, der aus ihren düstern Gesichtern
Sonnen hervorrief — sie jauchzen.
Und Gott reicht ihm lächelnd die Krone.
Ein chaotisches Zeug ist Butenschöns „Versuch über die spanische
schöne Litteratur", worin recht viel trübes Wasser aus Florians Quelle
fliefst. Aus Velazquez-Dieze „Geschichte der spanischen Litteratur",
ja sogar aus dem gegen die Anklagen Tiraboschis und Bettinellis ge-
richtete, „Saggio apologetico", des Lampillas (1778 — 81), selbst aus der
einschläfernden, langatmigen „Historia litteraria" der Padres Mohe-
danos wird geschöpft. Vom Ritterwesen, Orientalismus und vom
arabischen Geschmack wird gefaselt, die Werke der Spanier (XXXVII)
mit den „alten zwar ungeheuren, doch soliden und oft äufserst edlen
gothischen Gebäuden" in Vergleich gezogen. Die spanische Sprache,
die sich durch „Stärke und Bündigkeit" auszeichnet, erhält den
Vorzug vor der französischen, in welch letzterer „Rousseau und die
faden französischen Dichterlinge" schrieben (LV). Eine Verteidigung
und Rettung der Vertreter der „soliden Wissenschaften" in Spanien
wird versucht. Zum Uberdrufs werden einige hmkende Übersetzungen
(darunter 2 Gedichte des Villegas) in die biographischen Angaben
der Dichter verflochten. Vor dem „göttlichen Villegas", welcher in
Deutschland früher von Dieze, dann von Bertuch, der in Wielands
„Teutschen Merkur" ein paar Dutzend erotische Lieder in prosaischer
Übersetzung einrückte, gepriesen wurde, neigte Butenschön bewundernd
und andächtig das Haupt. Über die andern Dichter urteilt er flach,
•wiederholt das fade Geschwätz anderer, ohne die besprochenen
350 Artur Farinelli.
Werke selbst gelesen zu haben. Doch hatte Butenschön den Mut,
den Lesern zu erklären (S. XXXVII), dafs ,»Lope de Vega und Calderon
Männer waren wie Shakespeare und Goethe". „Umstände und innerer
Drang machten sie eher zu Dichtern, als sie Schüler der Ordnung
und regelmäfsiger Schönheit geworden waren". Was er von Calderon
sagt, ist aus Dieze entnommen. Über Lope spricht er anfanglich
mifsbilligend (XXIII): „Lope de Vega war nun durchdrungen, seine
unzähligen Schauspiele überschwemmten ganz Spanien und ersäuften
fast durchgängig den Geschmack an regelmäfsiger Schönheit". „Lope
besafs mehr Klugheit, die Umstände zu seinem Vorteile zu benutzen,
als warme Liebe für die schönen Wissenschaften". Sein „Arte nuevo"
ist „ein unedles Werk". Fünfzig Seiten weiter aber ergiefst er sich
in Lobsprüchen über den Fenix de los Ingeniös und bedauert
(S. LXXVI), dafs die Grenzen seines Versuches ihm nicht erlauben „Bei-
spiele aus irgend einem vortrefflichen Stück des Lope anzuführen,
so wenig als es beym Calderon geschehen konnte". „Ich werde aber
nächstens ein paar von den besten Schauspielen dieser grofsen Dichter
für die deutsche Bühne bearbeiten, vielleicht findet das Publikum dann,
wenn die Arbeit glücklich ausfallt, überzeugende Beweise, wie sehr
Lope und Calderon seine Aufmerksamkeit verdienen". Dafs Buten-
schön diese Arbeit niemals unternahm, haben wohl wenige bedauert.
Litterarische Schätze können überhaupt nicht ohne ein gründ-
liches Studium der fremden Sprache verstanden, genossen und ge-
würdigt werden. Die spanische Sprache war den Deutschen vor den
Romantikern und noch zu ihrer Zeit gar zu spanisch. Es fehlten die
unentbehrlichsten Hilfsmittel, um sie zu erlernen, es fehlten gute
Grammatiken und Wörterbücher. Die Bahrdtsche Grammatik (zu-
erst in Erfurt 1778 erschienen) ist zwar mehrmals von zehn zu zehn
Jahren aufgelegt worden, zum zweiten Male im Jahre 1 788 ^), ein
drittes Mal im Jahre 1797^), ein viertes Mal 10 Jahre darauf 1807,
^) „Kurzgefaßte Spanische Grammatik, worinnen die richtige Aussprache und alle
zur Erlernung dieser Sprache nötigen Grundsätze abgehandelt und erläutert sind, dais
ein jeder, der lateinisch versteht, diese Sprache in ein paar Wochen ohne Lehrmeister
zu lernen im Stande ist, nebst einigen Geprächen und kleinen Gedichten des Vi]I^;as,
Boscan und Garcilasso. II. sehr vermehrte und verbesserte Ausgabe", Erfurt 1788.
') Erfurt, vermehrt und verbessert v. L. H. Teucher. — Als ein «bequemes Mittel
sowohl für Deutsche zur Erlernung des Spanischen, wie für Spanier zur Erlernung des
Lateinischen" hat der nämliche Teucher eine kaum brauchbare spanische Über-
setzung des Comenius zu Leipzig 1794 herausgegeben: „La excelente Puerta de las
Leng^as, 6 Introduccion al estudio de ellas, por muchifsimas descripciones de cosas
Spanien u. die spanische Litteratur im Lichte der deutschen Kritik u. Poesie, m. 351
die Wagner'sche „Spanische Sprachlehre" druckte man in Leipzig 1 795
zum zweiten Mal (ein drittes Mal, Leipzig 1828); beide Grammatiken
aber waren dürftig, sehr mittelmäfsig und konnten Niemanden zu
ernsthaftem Studium anspornen *). Noch bedenklicher stand es mit
den portugiesischen Grammatiken. Die bereits erwähnte Sprachlehre
Jungs (1778) wimmelte von Irrtümern und war wenig zu brauchen.
Abraham Meldolas' „Neue portugiesische Grammatik" (Hamburg 1785)
war noch läppischer und kindischer als die von Jung und kleidete
ihre Lehre in altväterliche Katechismusmethode, in Fragen und
Antworten. Man mufste sich mit Vieyra's englisch-portugiesischer
Grammatik behelfen. — Was die Wörterbücher betrifft, so war man
vor dem Erscheinen von C. A. Schtnid „Spanisch-Deutsches, Deutsch-
Spanisches Handwörterbuch" (2 Bde. Leipzig 1795 — 1796) aufSobrino
und Sejournant, Vieyra und Cormon angewiesen. Das bereits 1726
bis 1739 erschienene „Diccionario de la lengua castellana" der spanischen
Akademie hatte einigen imponiert. Kaufhold (I, 48) wünschte, dafs
man daraus, zum Gebrauch der Deutschen, einen Auszug mache. Es
kam nicht dazu. Noch 1820 gestand Soden, dafs in der Übertragung
mancher schwierigen Stellen in den Stücken Lope's de Vega, fünf
Wörterbücher von Sobrino bis Wagner ihn im Stich gelassen hatten.
Was fleifsige, bequeme, aber dürre, skelettartige deutsche
Kompendien und Encyklopedien der allgemeinen Litteratur, noch vor
1800 über Spanien bringen, ist meist, Blankenburgs Zusätze zu Sulzer
möchte ich ausnehmen, billiger Kram, eine oUa podrida, um das den
Deutschen so sympathisch gewordene Wort zu gebrauchen, aus allen
möglichen und unmöglichen Werken. Aus den dramaturgischen
Kompendien des Riccoboni, des Signorelli, auch aus Lessings Drama-
turgie, aus Quadrios „Storia e ragione d'ogni poesia", aus Flögeis
„Geschichte des Groteskkomischen" wurde am liebsten Material ge-
nommen und mosaikartig zusammengestellt. — In den vier ersten
Bänden der „Theorie und Litteratur der schönen Wissenschaften"
corporales y morales. Obra traducida del Latin de Juan A. Comenio por Luis
Henrique Teucher y por el mismo aumentada de un Indice de vocablos espaAol y
aleman** (auch mit dem nebenbei gedruckten deutschen Titel).
') In Wien war bereits 1777 eine mir unbekannte spanisch-deutsche Grammatik,
, .Grundsätze zur Erlernung der spanischen Sprache, aufs neue übersehen und verbessert
V. Don Fernando Navarro, Lehrer der spanischen Sprache und Litteratur auf der k. k.
Universität zu Wien", erschienen. 1790 erschien eine „Spanische Sprachlehre Mind
Chrestomathie von Johann Baptista Calvi, Lektor der spanischen und italienischen
Ztschr. C vgl. Litt-Gewib. N. F. VDI. 23
869 Artur PaiinellL
hatte J. Joachim Eschenburg von fremden Völkern: die Italiener,
die Franzosen und die Englander, nicht aber die Spanier berücksichtigt.
Im V. Bande (Berlin und Stettin 1790) holte er das Versäumte oadi
und räumte den Spaniern Platz ein, wenn er auch an Erfolg beim
Publikum zweifelte und im Vorbericht den Leser aufinerksam machen
zu müssen glaubte: „Meine Recensenten wird es freilich noch mehr
befremden, in diesem fünften Bande sogar einige spanische und
portugiesische Stucke anzutreffen^. Über spanische Romanzen holte
Eschenburg bei Bertuch Rat und druckte in seinem Buche (S. 127 ff.)
den „Rio verde** aus Hitas „Guerras dviles**. Als Proben der portu-
giesischen und spanischen Epik gibt er (8.269 ff.) den i. Gesang der
„Lusiade** in der Übersetzung Seckendorfs und einen Auszug der
„Araucana** (XXIIl Ges.) ErciUas, aus einem mir nicht näher bekannten
„Essay on epic poetry*. — Drei Jahre darauf (1793) erschien ein
Vn. Band, der sich mit dramatischer Dichtung befafste, und ein
Kapitel (S. 127 ff.) über das spanische Lustspiel („Ursprung und
Fortgang des Lustspiels überhaupt und besonders des Lustspiels bei
den Spaniern*'). Wir lernen darin, was allgemein und die einzelnen
Dramatiker betrifft, nicht viel mehr als aus dem Velasquez-EMezeschen
Werke und aus einem Kapitel im „Tableau^^ Bourgoings: („Über den
Zustand der spanischen Bühne'*). — Lope de Vega wird in zwei nichts
sagenden Seiten abgefertigt (132 f.). Von Calderon wird richtig (S. 135)
die kunstvolle Führung der Intrigue hervorgehoben. Die von ihm
entworfenen Charaktere „sind wenigstens treue und richtige Kopien
der Sitten und Eigenheiten seines Zeitalters, wenn sie gleich dem
heutigen Zuschauer etwas romanhaft und abenteuerlich vorkommen.
Nur der Dialog hat allzu viele Ungleichheiten und verfallt gaür zu oft
ins Gesuchte und Erkünstelte**.
Reichhaltiger, gediegener, wenn auch nicht auf eigener An«
schauung beruhend, sind die von Friedrich von Blankenburg in
seinen: „Litterarische Zusätze zu Johann G^org Sulzers allgemeine
Theorie der schönen Künste** (3 Bde., Leipzig 1798) der spanischen
Litteratur gewidmeten Abschnitte. Über das Leben und die Werke
der einzelnen Dichter, z. B. Cervantes', Quevedos u. s. w. erfisüiren
wir freilich nicht viel mehr als aus dem Jöcherschen Lexikon. Das
Sprache zu Göttingen", Hefanstädt 1790. Diese und die vorher dtierten Gramniatikeo
sind in der nützlichen, aber sehr unvollständigen, wenig geordneten „Biblioteca
histörica de la fllologia castellana*^ des Conde de la Vifiaza. Madrid 1893, Oberseheo.
Spanien u. die spanische Litteratur im Lichte der deutschen Kritik u. Poesie, m. S5S
lange Kapitel über die Komödie aber, welches von Lessings Ideen
ganz durchtränkt, mit Lessingschen Worten da und dort geschmückt
ist, verdient unsere besondere Aufmerksamkeit. Sein historisches
Material hat Blankenburg meist aus den italienischen Kompilatoren,
aus dem niemals genug gewürdigten Napoli Signorelli geholt; er
schöpft aber auch aus Quadrio, aus Andres, aus der Reise Barettis,
aus dem Prolog des „Theatro Espanol" des Garcia de la Huerta.
Er verteidigt, ganz im Sinne Lessings, die Eigentümlichkeiten des
spanischen Dramas: „die Q>media sind freilich nicht nach den klas-
sischen Mustern eingerichtet, aber dafür atmen sie mehr Leben und
Wahrheit, als manche nach diesen Mustern ängstlich zugeschnittene
Stücke der Italiener« (I, 288). Richtig hat er (I, 303) die Stärke der
spanischen Dramatik nicht in der Charakterentwickelung, nicht in den
logischen und konsequenten Schilderungen, sondern in der Situations*
komik und im Verwicklungsthema gefunden, gesteht aber doch (I,
309), dafs „ungeachtet alles Erfindungsgeistes derselben, Einförmigkeit
in den Stücken entsteht«. „Die einmal angelegten und angenommenen
Auftritte oder Situationen, so unnatürlich sie auch im Grunde herbei-
geführt seyn mögen, sind an und für sich selbst, öfters äufserst
interessant oder komisch, so wie gröfstenteils sehr glücklich ausge-
führt und der eigentümliche frühere Zustand der Sitten und Lebens-
weise dieses Volks macht jene Unwahrscheinlichkeit nicht blos be-
greiflich, sondern rechtfertigt solche auch zum Teil". Ganz richtig und
im Sinne Tiecks tadelt Blankenburg den Abt Andres, weil er das
spanische und englische Theater, Lope und Shakespeare nebeneinander
gestellt hatte. Um ja nicht irregeführt zu werden, sollte man sich
„aller Vergleichung zwischen dem spanischen Theater und der
Komödie der anderen Völker Europas enthalten«. Dafs die Spanier
zur Hervorbringung reiner, scharf geschiedener tragischer oder
komischer Stücke sich untauglich erweisen, beständig das Tragische
mit dem Komichen vermischten, war nach Blankenburgs Meinung im
Charakter der Nation selbst begründet. — Die Autos, die von Cal-
deron insbesondere, bezeichnete er im Vergleich zu den Mysterien
und Moralitäten andrer Völker als wahre Meisterstücke (I, 286).
Calderon selbst beurteilt er wie Signorelli. Meisterhaft versteht der
Spanier seine Stücke zu verwickeln (I, 299), die Erwartung der Zu-
schauer bis auf den letzten Augenblick zu spannen, „in der Sorgfalt
und Fülle der Ausarbeitung überhaupt, übertrifft er den Lope weit«.
Lope warf er (I, 295) mit Unrecht einen „ebenso hochtrabenden
23*
354 Artur Farinelli.
als erkünstelten Styl" vor, mit Unrecht nannte er ihn, wie später
auch die Romantiker^ welche Lope niemals lasen, einen „von dem
Beifall berauschten" Dichter, welcher dadurch zum „Verderber des
guten litterarischen Geschmackes" wurde. Die Gaben eines wahrhaft
grofsen Dichters konnte er ihm doch nicht absprechen, „und wenn
gleich viele von den seinigen (Stücken) beynahe unter der Kritik sind,
wenn gleich mitten unter rührenden Stellen, niedrige und possierliche
vorkommen und seine Fürsten öfters wie das gemeinste Volk und
gemeine Menschen wie Fürsten oder vielmehr wie gebildete und ge-
lehrte Leute bey ihm sprechen, .... so läfst sich ihm doch nicht
das, was den Dichter zum Dichter macht, nicht Erfindungsgeist und
Darstellungsgabe absprechen".
1799 hat Joh. Gottfried Eichhorn die I. Hälfte seiner „Litterär-
geschichte" herausgegeben und darin, gestützt auf*die „Bibliothek" des
Nicolas Antonius, auf das Werk von Velazquez-Dieze, auf Bertuchs
„Magazin**, auf Montiano y Luyandos „Discurso", auf Bourgoings
„Gemälde**, ein äufserst konfuses, von Irrtümern wimmelndes Kapitel
über die „Schönen Redekünste der Spanier** eingeschaltet *). Dichter
und Prosaisten werden nach Gruppen angeführt, und dann und wann irgend
ein allgemeines seichtes Urteil aus fremder Quelle hinzugetan. So wird
im Abschnitt über das Lustspiel (§ 232) hervorgehoben, wie unter
den 24000 Lustspielen der Spanier kein einziges bekannt sei, „das
die Prüfung der Kritik durchweg aushalten könne**. — Indessen
meint Eichhorn, machte die geringe Bekanntschaft der spanischen
Litteratur, die ganz eigene Fabel ihrer Komödien, ihre sinnreiche Ver-
wickelung, ihre vielen neuen und sonderbaren Theaterstücke, die
mannigfaltigen Situationen, die gut angelegten und zuweilen auch gut
gehaltenen Charaktere, die stellenweise unleugbare Würde und Stärke
des Ausdrucks — dieses und anderes — die spanischen Theater-
Dichter als Quellen brauchbar, aus denen sich das dramatische Genie
des Auslandes bereichern konnte. Lope (Eichhorn schreibt beständig
Lopez) und Calderon sind die Hauptrepräsentanten dieses Lustspiels.
Unter den unzähligen Stücken des ersten ist „trotz einzelner ausge-
zeichneter Intriguen und trefflicher Situationen, vielleicht kein einziges,
*) Joh. Gottfried Eichhorn, „Litterärgeschichte." I. Hälfte Göttingen 1799 § 226 ff.
— In der 13 Jahre später erschienenen 11. Hälfte (Göttingen i8ia) hat er in einem
gleich betitelten Kapitel (§ 76 ff.) das früher Gesagte wörtlich wiederholt und seine An-
gaben erweitert. — Vgl. auch Eichhorns „Geschichte der Litteratur", Göttingen 1807.
Teil IV, Abt. I.
Spanien u. die spanische Litteratur im Lichte der deutschen Kritik u. Poesie. III. 355
das nicht gegen die Regeln der Kunst verstiefse". Regelmäfsiger in
der Erfindung und Ausarbeitung, reicher in der Verwickelung, fester
in der Durchfuhrung wirklicher Charaktere, nennt Eichhorn die Lust-
spiele „des sogenannten spanischen Terenz, Calderon de la Barca".
In dem kleinen Abschnitt über das Trauerspiel kehrt Lope wieder,
welcher nach Christobal de Virues „sudelte". Cervantes erscheint
dann als einziger Vertreter der Satyre, des Romans und der Novelle
der Spanier (§ 234). „In seiner Reise nach dem Parnafs, hält er
(Cervantes) ein schreckliches Gericht über die schlechten Dichter;
doch arbeitete der Dichter unbekümmert um die Regeln der Poetik
und daher sieht das Ganze mehr einer komischen Epopöe, als einer
Satyre ähnlich". Es folgt eine leere Phrase über den Quixote, eine
andere über die „kleinen lustigen Erzählungen, welche unter dem
Namen der Novellen bekannt sind". Die Epopöe (§ 235) wird durch
Camöes allein vertreten. Die Lusiade aber, „so grofs die Sensation
war, welche dieses Heldengedicht bey seiner Erscheinung machte, so
kann die Kritik doch nur einzelne Stellen seiner Schilderungen für
vorzüglich erkennen" *).
Selbständige, nicht von dem Chaos fremder Bücher und Abhand-
lungen geborgte Urteile über spanische Litteratur, die Frucht eigener
Lektüre und eigener Anschauung, finden wir zu dieser Zeit blos in
den Schriften unserer Reisenden: Kaufholds, Fischers und Links.
Der erste widmet in seiner Reisebeschreibung ein Kapitel der
Sprache und Litteratur der Spanier, ein anderes speziell dem spa-
nischen Theater'). Kaufhold liest die Spanier zum Vergnügen, als
Dilettant; er nimmt weder Partei für die spanischen, noch für die
deutschen Dichter, darum sind seine Urteile, ungeachtet keiner sie
noch der Achtung würdig gefunden, für uns sehr schätzenswert. Dafs
er der Lektüre fremder Werke keinen reinen Genufs abgewinnen
konnte, ist ihm nicht zu verargen. In Sachen des litterarischen Ge-
schmacks ist ein jeder sein eigener Herr. Dafs die spanische Litte-
ratur so wenig in Deutschland gewürdigt wurde, dafs man gegen sie
') In dem zu Leipzig 1793 erschienenen U. B. der ^ Nachträge zu Sulzers allgemeine
Theorie der schönen Künste* oder ),Charaktere der vornehmsten Dichter aller Nationen",
hat ein Herr Schatz zu Gotha die „Araucana" des Ercilla (II. B., I. Stück Nr. VI,
S. 140 — 349) natürlich nach fremden Berichten, besprochen.
') Im II. B. S. 205 sehier Reise erwähnt KauFhold ein Werk des Schweden
Liberto Wolters Vonsichielm über Spanien, welches zu Madrid 1 725 in spanischer Sprache
erschienen ^ein soll, und über welches ich keine Auskunft erteilen kann.
356 Artur Parinelli.
immer so ungerecht gewesen war, ärgert unseren Deutschen. „Ist
es doch ausgemachte Sache", meint er (II, i86), „dafs die Spanier
unter den europäischen Nationen, die gegenwärtig auf einer höheren
Stufe der Geisteskultur stehen, die ersten waren, welche sich um die
Litteratur bekümmerten Die Spanier hatten ein Theater und
gute Schriftsteller, noch ehe weder Franzosen noch Engländer etwas
dergleichen aufweisen konnten". Er gibt Nachrichten über ein Dutzend
Dichter, unter ihnen die gröfsten: Cervantes, Lope, Calderon, Gön-
gora, Quevedo. Die sonst sehr unvernünftig verfafste Dichtersamm-
lung: „Parnaso Espanol" des Sedano bot ihm Stoff zu reichhaltiger
Lektüre. Von Cervantes kennt er nicht nur den Quixote, dessen
Geist in Übersetzungen „leider verhunzt worden ist", sondern auch
einige Novellen, welche ihm nicht alle von gleichem Werte scheinen;
Cervantes hat darin (II, 195) „die Sitten seines Zeitalters mit seinem
gewöhnlichen Witze und munterer Laune geschildert; Galanterie und
Ritterauftritte machen immer die Hauptbestandteile davon aus"; die
zwölf noch aufbewahrten Comedias sind „in dem Geschmack der
Theaterstücke seiner Zeit; Engel, Teufel und Zauberer sind auf eine
sonderbare Art miteinander verwebt". — So wie Cervantes hatte auch
Lope(z) de Vega (II, 196 ff.) „viel mit den Launen des Glückes zu
kämpfen; er versuchte die civile und militärische Laufbahn, aber ohne
glücklichen Erfolg, endlich wählte er den geistlichen Stand, und dann
fing sein Glück und sein Ruhm an". Woher Kaufhold die Nachricht
entnahm, dafs Lope's poetischer Geist dem Dichter nicht nur Ansehen,
„sondern auch grofse Reichtümer" erwarb, weifs ich nicht. (II, 197):
„Seine Werke sind aber keineswegs schulgerecht und können daher
keineswegs als Muster zur Nachahmung dienen; es sind lauter Original-
stücke, worin der Verfasser blos dem Drange einer feurigen schöpfe-
rischen Fantasie gefolgt ist". Lope's Nachfolger hätten leider nur
blos seine Fehler nachgeahmt, „ohne von dem grofsen Geist ihres
Vorgängers beseelt zu seyn, .... durch diese Aftergenies ist der
gute Geschmack in Spanien ganz verdorben worden". Das „vortreff-
lichste", was Lope de Vega im komischen Fache geliefert hat, ist
seine „Katzenepopee" („Gatomaquia"). „Ich habe dieses Gedicht mit
sehr vielem Vergnügen gelesen, aber dabei immer bedauert, dafs der
grofse Dichter den Reichtum seines Geistes an den Heldenthaten von
ein paar Katern verschwendet hat" (198)'). — Calderon (II, 197)
*) Lope's ^Gatomaquia** wurde erst von A. Herrmann im 24 Bde. v. Herrigs „Archiv
f. neuere Sprachen^* (1858) ins Deutsche übersetzt: „Der Kater. Ein komisches Helden-
gedicht V. F. Lope Felix de Vega Carpio".
Spanien u. die spanische Litteratur im Lichte der deutschen Kritik a. Poesie. III. 357
wird in einem Satze abgefertigt. Kaufhold hat offenbar nichts von
ihm gelesen. Von Moreto erwähnt er blos das Stück „Der Cavalier"
{JSL Caballero*^ — in der ,,Segunda parte de las Comedias de D.
Augustin Moreto", Valencia 1676), welches für vorzüglich gehalten
wird« Gongora (II, 198) „hat satyrische lyrische Gedichte geschrieben,
die hier sehr geschätzt werden, aber sehr schwer zu verstehen sind".
An Garcilasos und Boscans Gedichte kann derjenige, der sie, „um
sich aufzuheitern, liest", kein Behagen finden. Quevedos Hauptver-
dienst war „ein oft beifsender Witz, gute originelle Laune und gfrofse
Menschenkenntnis". Von anderen Dichtern und Prosaisten bekommen
wir nicht viel mehr als die leeren Namen zu hören. Sarmiento, Florez,
Burielf Isla, Iriarte tmd andere werden auf einen Haufen zusammen-
geworfen. EMe Censur ist die drohende gefahrliche Klippe, an wel-
cher alle Talente Spaniens scheitern. Die Journale, welche „oft Ge-
schmack und Witz ihrer Verfasser" zeigen, leiden besonders darunter,
„so wie sie nur von ferne etwas von Aufklärung blicken lassen,
werden sie von der hämischen Inquisition unterdrückt". Das beste
litterarische Werk der Spanier sind für Kaufhold „Die Anfangsgründe
der Geschichte vom Pater Isla, Verfasser der Satyre auf die schlechten
Prediger". Mariana, Solis, Herrera haben nicht mit philosophischem
Geiste geschrieben.
Weit wichtiger und treffender sind die Bemerkungen Kaufholds
über das spanische Theater. Ohne Fachmann zu sein, zeigt er hier
einen reinen, gesunden Geschmack. Er hat einige Stücke der Spanier
aus der klassischen Periode gelesen und einigen modernen AufHihrungen
derselben beigewohnt; er hat sich nicht von dem prunkvollen Aufseren
verblenden lassen, sondern tief ins Wesen des Dramas geblickt. Er
urteilt allerdings vom nüchternen protestantischen Standpunkt aus. Das
Unnatürliche, Übermenschliche, das Unwahrscheinliche überhaupt in
der spanischen Comedia hat schon er, wie später Grillparzer, der
beste Kenner der spanischen Dramatik unter den Deutschen, aus den
besonderen Anlagen im Charakter des spanischen Volkes, aus der
Leichtgläubigkeit und regen Fantasie des Publikums, erklärt. Die
Mängel, die Kaufhold mit gleicher Schärfe, wie Joh. Georg Rist,
rügt, haften eben wirklich dem Drama der Spanier an und waren
Schuld an seinem raschen, plötzlichen Untergehen. — Um die feine
Beobachtungsgabe dieses gänzlich verschollenen Deutschen zu zeigen,
soll hier einiges aus seinem Elapitel üb^r das spanische Theater wort"
lieh wiedergegeben werden,
358 Artur Farinelli.
(I, 193 fF.): „Um moralischen Wert des Schauspiels bekümmert
sich der Spanier wenig; Belehrung und Bufspredigten erwartet er
nicht von der Bühne; dazu, glaubt er, sey die Kanzel und die Pfaffen
da ; ihm würde es daher lächerlich vorkommen, wenn man die Schau-
spieler als Sittenlehrer aufstellen wollte Der Spanier sieht das
Theater als einen Belustigungsort an, wo er für sein baar Geld durch
lustige, komische Auftritte aufgeheitert, entweilt seyn, und sein Zwerg
feil erschüttert haben will; oder aber, wo durch Darstellung aufser-
ordentlicher Begebenheiten Sinne und Seele ganz erschüttert, und
gleichsam aus ihren Angeln gehoben werden ; vermöge seines National-
charakters liebt er das Grofse, das Feierliche, das Aufeerordentliche
und Übernatürliche in sehr hohem Grade; Engel und Teufel, Zauberer
und Zauberinnen, die die Pläne der Menschen in den Staub treten,
aufserordendiche Helden, die mit übermenschlichen Thaten glänzen
und gleich reifsenden Fluthen alles mit sich fortwälzen, jedes Hinder-
niss, jede noch so drohende Gefahr wie Kartenhäuser vor sich nieder-
werfen, die alles mit Furcht und Schrecken erfüllen und nur durch
Unterwerfung unter ihre Befehle versöhnt werden können, das sind
des Spaniers Lieblingpscenen, die oft auf die seltsamste Art noch mit
Religion gepaart sind; der Engel, oder Schutzheilige, der gewaffiiet
vor dem Helden herzieht, kämpft für ihn nur zum besten der christ-
lichen Religion, und der Held, erhaben über menschlichen Stolz,
rühmt sich seiner Thaten niu*, in sofern er dadurch zur Verherrlichung
seines Gottes gewirkt hat. Sein Glauben an die Wunderkraft der
Heiligen reifst ihn oft zu den abentheuerlichsten Darstellungen hin,
und zuweilen läfst er den fürchterlichen Teufel oder sonst einen bösen
Geist auftreten, ihn alles verheeren, Schrecken und Verderben ver-
breiten, und dann, wenn fast alles verloren ist, so erscheint plötzlich
erweicht durch das Flehen der gedrängten Christen, ein Engel oder
Schutzheiliger, der den schrecklichen Feind zu Boden schlägt, und
durch übermenschliche Kraft alles Verderben wieder gut macht; die
Gröfse der Gefahr dient nur dazu, irni seinen siegreichen Thaten mehr
Glanz und Herrlichkeit zu geben, und sich ewige Ehriurcht und
Achtung bei den Zuschauem zu erwecken Dieser Hang zu
aufserordentlichen Auftritten, zu erschütternden Heldenscenen zeigt
noch in dem jetzigen Spanier die Grundzüge seines Heldengeschlechts,
das in vorigen Zeiten durch aufserordentliche Thaten in der alten und
neuen Welt Staunen und Bewunderung erregt und alle anderen Na-
tionen verdunkelt hat . . • . und der stolze Spanier brüstet sich mit
Spanien u. die spanische Litteratur im Lichte der deutschen Kritiic u. Poesie. III. 359
dem Ruhme seiner Ahnen und vergifst gern darüber seine jetzige Un-
tätigkeit .... Aber eben dieser Hang der Nation ist Ursache» dafs
jene theatralischen Stücke keinen Beifall erhalten können, wo der
Verfasser die Gröfse seines Talentes durch genaue Charakterisierung
des Menschen, durch sprechende Schilderung menschlicher Leiden-
schaften darlegt, mit ungewöhnlichem Scharfsinn und Beobachtungs-
geist die verborgensten Winkel des menschlichen Herzens erspähet
und die geheimsten Triebfedern von Tugend und Schande, von Gröfse
und Schwäche an das Licht zieht, und durch lebhafte anschauende
Gemähide täglicher Auftritte Belehrung und Besserung seiner Leser
und Zuschauer beendzweckt; dergleichen Scenen, so nutzenvoll sie
auch immer seyn und so viel Geistesgröfse des Verfassers sie immer
verraten mögen, sind doch nicht nach dem Geschmacke des ver-
wöhnten Spaniers; zu einfach in ihrer Darstellung fehlt solchen Stücken
das Wimderbare und Abentheuerliche, wovon die ganze Nation all-
gewaltig beherrscht wird". — Kaufhold sieht leider wie Moratin, wie
Iriarte das Heil des spanischen Theaters, die Rettung des guten litte-
rarischen Geschmacks in der Nachahmung der Franzosen. Und so
lobt er die Jüngeren, welche die alten Stücke aus der Bühne zu ver-
drängen suchten, wenn auch trotz ihrer Anstrengung das Volk an
seinen Lieblingen haften blieb: „nie sind daher die Bühnen voller,
als wenn ein Stück aufgeführt wird, wo übernatürliche, magische
Scenen, aufserordentliche, blendende und täuschende Dekorationen
notwendig machen". Regelmäfsige Stücke, in welchen die Handlung
einheitlich, logisch entwickelt wird, haben keinen Erfolg. Das Publikum
liebt leidenschaftlich das Theater. Es giebt Schauspiele im Uberflufs.
„Alle Buchläden und Bücherkräme sind damit angefüllt". Sie bilden
die einzige gangbare Lektüre. Die Granden haben ein Theater in
ihren eigenen Schlössern, wo sie „bei feierlichen Angelegenheiten Schau-
spiele mit grofser Pracht aufFühren". (Vgl. auch Fischer, Gem. von
Madrid, S. 425.) Das Volk unterhält sich am meisten bei der Auf-
führung komischer Stücke und derber Possen, „je mehr das Zwerg-
fell erschüttert wird, desto mehr gefallt das Stück". Zauberstücke,
von welcher Art sie auch sein mögen, haben Glück beim Publikum.
„La Sortija de Giges" wiu*de 36 Mal hintereinander aufgeführt. Kauf-
hold hat einer Aufführung des „Diablo predicador" im Sitio de
Aranjuez beigewohnt und schreibt darüber*): (I, 199) „Diese alberne.
*) Ober den „Diablo predicador** berichtet auch Baretti: „A Joumey from London
to Genova** m, S. a8. Vgl. Aber das Stück einen geistreichen Artikel von Viell-Castel in
360 Artur FarineiU.
abgeschmackte, sinnlose und höchst unanständige Vereinbarung vom
Christuskinde und dem Erzengel Michael mit dem Teufel, und von
diesem wieder mit den Mönchen, geht ganz gegen allen gesunden
Menschenverstand, gegen allen Geschmack und Achtung für die Re-
ligion; und doch wird das von göttlicher und weltlicher Obrigkeit
geduldet". Was den Vortrag der Schauspieler betrifft, so ist dieser
ihrem Nationalcharakter angemessen ^lebhaft und feuriges In ko-
mischen Rollen sind spanische Schauspieler (I, 205) „voller Leben
und Thätigkeit, alles ist in Bewegung, alles handelt mit • . Sie haben
darin einen grofsen Vorzug vor den deutschen Spielern, die, wenn
sie das Ihrige gesagt haben, gleich Bildsaulen dastehen'^ Der Fremde
hat Mühe und braucht geraume Zeit, bis er den spanischen Geschmack
zu ertragen lernt. Was dem Deutschen im Drama die Hauptsache
ist, ist dem Spanier Nebensache^). (I, 205): „Der Inhalt der Stücke
ist oft sehr sonderbar, die Darstellung schwübtig, mit Bombast und eitlem
Prunk überladen und zuweilen von einer Feierlichkeit, die ins Steife fallt.
„Das Publikum ist an das Wunderbare gewöhnt und läfst sich in seiner Ein-
bildung durch das Unnatürliche und Kindische der Darstellung nicht
stören". In den Lust- und Possenspielen herrscht zuweilen so viel Über-
triebenes, dafs es ins Gemeine, Pöbelhafte und fast Ausgelassene über-
geht; zudem ist alles in Versen geschrieben, und diese abgemessene,
künstliche, gezwungene Sprache streitet nicht selten gegen die Natur
der Verhandlung und ist häufig Ursache, dafs man in den spanischen
Stücken so viel pleonastisches Zeug, einen Schwall hochklingender
Worte, die zwar anders ins Ohr schallen, aber nichts neues an Empfin-
dungen und Sentenzen enthalten, antrifft.^ — Den wunden Fleck der
spanischen Dramatik hat kein Fremder so fiiih und so richtig erkannt,
wie unser Kauf hold.
So ausfuhrlichen Bemerkungen über die spanische Litteratur, vor-
züglich über das spanische Theater, begegnen wir in den Reisebüchem
der „Revue des deux Mondes** 15. Juni 1840 und Schack: „Gescbichte der dramatlsrhcn
Litteratur und Kunst in Spanien** U, 632 ff.
') Sehr vemflnftig über das spanische Theater schrieb der in Deutschland viel ge-
lesene Giuseppe Baretti in seiner bereits erwähnten Reise III, 37: »the present race of
play-wrights in France and England .... instead of neglecting or contemniog the
dramatic compositions of Spain, would not do amiss to read many of them, espedally
those of de Vega and Calderon, not to Imitate them at all, bvt to irarm aad
^ fecunds^t^ tbeir own cold apd barren Imagination",
Spanien u. die spanische Litteratur im Lichte der deutschen Kritik a. Poesie, m. 361
Fischers nicht. Dieser gab am Schlufs seiner „Reise von Amsterdam
über Madrid und Cadix nach Genua" einen Zusatz über die wichtig-
sten im letzten Dezennium des Jahrhunderts erschienenen spanischen
Werke der Litteratur und der Wissenschaft. Es sind trockene Nach-
richten, die sich direkt an Tychsens Aufzeichnungen (Anhang zur Reise
Bourgoings) anschliefsen, die gleiche Einteilung beibehalten und eigent-
lich als eine Fortsetzung von diesen letzten angesehen werden müssen.
Leider werden den oft entstellten Büchertiteln keine Jahreszahlen
beigelugt, offenbar, weil Fischer selbst aus verschiedenen zerstreuten
Blättern, welche nur unbestimmte Angaben enthielten, schöpfte. Wäre
die y,Biblioteca periödica anual para utilidad de los libreros y literatos",
welche 1 784 zu erscheinen anfing, nicht schon ein Jahr darauf einge-
stellt worden, so hätte Fischer Mühe und Zeit erspart, Zeitungen wie
die „Miscelänea instructiva y curiosa", die „Anales de literatura,
ciencias y artes*', welche den „Espiritu de los mejores diarios de
Europa" fortsetzen, den „Semanario erudito y curioso", den „Correo
literario de Murcia", den „Mercurio histörico y politico", den „Correo
literario deGerona" den „Correo de Aragon", den„Caton Compostelano"
und andere noch zu durchblättern. Aus den dürren, katalogartig zusam-
mengereihten Namengerippen konnte der deutsche Leser freilich keine
klare Einsicht in die litterarische Produktion des entlegenen Spanien
gewinnen. Fischer selbst hat das eingesehen und in den folgenden
Jahren das Bestreben gezeigt, mit eigenen Übersetzungen, diwch Aus-
züge aus den verschiedenen spanischen Werken der Unkenntnis seiner
Landsleute nachzuhelfen. — Was im „Gemälde von Madrid" (S. 419 flf)
über das Theater der Spanier gesagt wird, kann sich mit Kaufholds Be-
richten nicht im entferntesten messen. Von den alten Bühnenklassikern
scheint Fischer noch einen sehr mangelhaften Begriff zu haben. Das
spanische Theater sollte nach ihm durch Entlehnungen von auslän-
dischen Dramen gereinigt werden. „Nichts mehr von Autos Sacra-
mentales und den übrigen Albernheiten, die bis zum Ekel wiederholt
worden sind! Die fortschreitende Bildung der Nation ist endlich auch
an ihrem Theater zu bemerken; schon kann man Hamlet und Julius
Cäsar, Alzire und Merope auf den spanischen Bühnen sehen, einer
Menge trefflicher Originalarbeiten, besonders im komischen Fach, nicht
zu gedenken." Unter dieser Menge meinte Fischer vielleicht die Erst-
lingsstücke des Leandro Fernändez de Moratin, den damals und später
die Spanier als ihren Moliere feierten, und der eben damals schlagenden
Erfolg erlangte. Im Lobe der spanischen Schauspieler stimmt Fischer
362 Artur Farinelli.
mit Kauthold überein. In tragischen Rollen sind sie zwar sehr un-
natürlich (S. 422), „aber in komischen spielen sie wirklich musterhaft.
Die Damen besonders zeigen eine bezaubernde Leichtigkeit... Am besten
gefallen die spanischen Schauspieler freilich in den Saynetes, jenen
kleinen Farcen, wo alles national, alles Natur zu seyn pflegt. Diese
werden mit einer Wahrheit, Lebendigkeit und Laune gespielt, die dem
strengsten Richter nichts zu wünschen übrig lassen wird."
Mit Recht hat aber Fischer der Dramatik der Spanier ihre Er-
zählungslitteratur weit vorgezogen, und diese für den Geschmack
der Deutschen angemessener gefunden, eifrig gepflegt als Muster der
Nachahmung empfohlen. Er selbst hat die Verdeutschung einiger
Muster der satirisch-komischen Novellistik der Spanier, eine „Samm-
lung komischer Romane der Spanier" unternommen, wo er die Quint-
essenz des spanischen Geistes geben wollte. Leider ist sie nicht
weiter als bis zum ü. Bande gediehen. Er hat die „Vida del Gran
Tacano" des Quevedo, den „Guzman de Alfarache** des Mateo Ale-
man übersetzt. Dem ersten gab er den Titel: „Abentheuer und
Streiche eines spanischen Kniff- und Pfiff-Genies" (Leipzig 1801), den
zweiten nannte er: „Geständnisse eines Weltkindes" (Leipzig 1802).
Er folgte nicht sklavisch dem Original, er verdeutschte es im wahren
Sinne des Wortes; dem allzu spanisch Fremdartigen gab er eine
deutsche Färbung; er wollte auf den Leser nie ermüdend wirken
und schrieb in einem munteren, lebhaften Stil; \50r allem wufste er die
Scheere vortrefflich zu handhaben und schnitt rechts und links, wo
es ihm passend dünkte, besonders im „Guzman", wo die Erzählung
schleppend, der Gang der Begebenheiten durch unnötige moralisierende
Betrachtungen unterbrochen wird; er zwängte die zwei starken Oktav-
bände des Originals in einen kleinen Duodezband zusammen. Diese
Verdeutschungen haben es wahrlich nicht verdient, gänzlich verschollen
zu sein. Auch den beiden Diktatoren der litterarischen Kritik in
Deutschland: August Wilhelm und Friedrich Schlegel, die sich doch
am spanischen Schelmenroman, am „Lazarillo" besonders, ergötzten,
sind die Arbeiten Fischers entgangen. — Und so kam es, dafs die ver-
nünftigsten Leistungen des besten Kenners Spaniens seiner Zeit mit
in den Haufen seiner schlüpfrigen, obscönen Erzählungen gerechnet
wurden und seinen traurigen Ruf als Verderber der Sitten im deutschen
Leserkreis nicht zu retten vermochten.
Seltsam genug ist es, wie ein mir unbekannter, obscurer Recen-
sent des verdeutschten „Gran Tacaho" Fischers in der „Neuen allge*
Spanien u. die spanische Litteratur im Lichte der deutschen Kritik u. Poesie. III. 863
meinen deutschen Bibliothek" (LXXIII, 320 ff) der stark gewürzten
Satire, dem übersprühenden Geist der spanischen Erzählung, dem
schlagenden, beUsenden Witz, den Quevedos Held bei jeder Gelegen-
heit entfaltet, einen tiefen philosophischen Gehalt unterlegte und gar
als Vorboten der modernen deutschen Philosophie, als bittere Persiflage
des leeren deutschen Idealismus betrachtete. (S. 321). „Es zeigt sich,
dafs schon zu Quevedos Zeiten in Spanien transcendentale Philosophen
und Idealisten und gar schnurrige Originalpoeten vorhanden waren:
ebenso wie jetzt in Jena, in Penig und in anderen Orten**. Von dem
Philosophen, dem Don Pablo beim Verlassen der Universität Alcalas
auf der Landstrafse begegnet, meint der Recensent, man möchte dar-
auf schwören: „er müfste aus der jetzt neuesten deutschen Schule
seyn". Bald werden Anspielungen an Schellings transcendentale idea-
listische Naturwissenschaft, an seine Lehre, dafs die Intelligenz
als das blos Vorstellende, die Natur hingegen als das blos Vorstell-
bare ursprünglich gedacht werde, gefunden, bald sollen die einge-
streuten Gespräche in Quevedos Schelmenromanen an Fichtes, an
Steffens, an Hegels Wissenschaftslehre erinnern. Wird ein Dichter
vorgeführt, welcher seine Arche Noah, ein vierzehnaktiges Stück, in
dem Hasen, Ratten, Esel, Schweine, Füchse als spielende Personen
fungieren, als sein Meisterwerk rühmt, so soll diese Arche Noah
gerade so ein Stück sein, „wie unseres vielgelobten Hrn. Tiecks schöne
Schauspiele: „Genoveva, das rote Käppchen und das Ungeheuer
oder der verzauberte Wald". Die Spitze des Romans aber ist gegen
die in Nebel und Abstraktionen gehüllten modernen Philosophen ge-
richtet. „Man sieht wohl", so schliefst der Recensent (S. 322), „es
geschieht nichts neues unter der Sonne, und das neueste deutsche
Zeitalter der Philosophie und Poesie ist schon vor 200 Jahren in
Spanien dagewesen, ja sogar — schon verlacht worden".
Die von Fischer versprochenen Verdeutschungen moderner litte-
rarischer Satiren der Spanier, der bitteren Erzählung desFernan Gutierrez
de Vega „Los Enredos de un lugar, ö Historia de los Prodigios y
Hazaüas del celebre Abogado de Conchuela, del Licenciado Tarugo,
del famoso Escribano Carrales u. s. w. (Madrid 1778 — 81 in 3 Bde.),
der humoristischen Verspottung des Adelsstolzes in Asturien und
Biscaya des Alonso Bernardo Ribera y Sarrea: „Historia fabulosa del
distinguido caballero Don Pelayo Infanzon de la Vega, Quixote de
la Cantabria" (1792 — 99 in 3 Bde.) kamen, so viel mir bekannt,
nicht zu Stande.
864 Artur FarinelU.
Aus der 8 Oktavbände starken „Coleccion de novelas escogidas
compuestas por los mejores ingeniös espafloles" (Madrid 1785 — 1794)9
welche später oft und mit vielem Nutzen von Clemens Brentano und
Sophie Mereau durchblättert ward, hat Fischer im Jahre 1801 fünf-
zehn der besten gewählt, frei übersetzt und in einem kleinen Bande
„Spanische Novellen" (Berlin 1801) drei Jahre vor den ,,Spanischen
und italienischen Novellen** der Mereau herausgegeben *). Heute noch
können diese im frischen Tone geschriebenen Erzählungen mit mehr
Nutzen und Vergnügen gelesen werden als manche seichte Produkte
der modernen Romanlitteratur ').
Fischers „Spanisches Lesebuch** ist schon früher besprochen
worden'). In Berlin 1805 erschienen von diesem unermüdlichen
*) Von den « Spanischen und italienischen Novellen" der Sophie Mereau ist der
erste Band» enthaltend 3 der „lehrreichen Ersählungen und Liebesgeschichten der
Dona Maria de Zayas und Sotomayor** zu Penig 1804 erschienen. Der zweite folgte
zwei Jahre später (Penig z8o6) und ist wie der erste, im grossen und ganzen, eigene
Arbeit Clemens Brentanos. Vgl. R. Steig, „Achim von Arnim und die ihm nahe standen".
Stuttgart 1894, h 158. — Mit dem Titel ^Spanische Novellen** taufte auch der uns
schon bekannte Marquis Grosse einige seiner eigenen geistlosen Erfindungen, welche in
2 Teilen zu Berlin erschienen: „Spanische Novellen von Grosse, Verfasser des Genius**
I. Teil, Berlin 1794. H. Teil, Berlin 1796. — Bereits 1791 erschien eine deutsche, von
niemand noch erwähnte freie Übersetzung des originellen Schelmenromans Solörzanos
«La Gardufia de Sevilla y Anzuelo de las Bolsas** (Logrofio 1634; letzte Ausgabe
Barcelona 1887 in der „Biblioteca cldsica espafiola**) mit dem Titel , Donna Rufina. Aus
dem spanischen des Dom (sicl) Alonso Castillo de Solorzano". Wien 1791, in 2 Bde.
mit 2 hübschen Titelkupfem, einer Einleitung über das Leben Sol6rzanos und einem
Verzeichnis seiner Schriften. Der Deutsche, dem vermutlich die französische Über-
setzung vorlag, hat selbst der unvollendeten Erzählung des Spaniers einen eigenen, nicht
eben geschickten Schlufs gegeben.
*) Eine Besprechung dieser Novellen findet sich in der „Neuen allgemeinen
deutschen Bibliothek** (1802) LXDC, 363 f. „Man kann es diesen Novellen, sagt der
Recensent, auf den ersten Blick ansehen, dafs sie auf echtem spanischen Grund und
Boden gesammelt sind, so sehr sind Sittencharakter und Handlungen national**. Als
Probe der „äu&erst simpel, natürlichen und flieisenden Diction** Fischers wird ider An-
fang der I. Novelle ^Der Gefangene** angeführt.
*) Ohne Namen des Verfassers, aber wie ich vermute, Fischers Arbeit, sind die zu
Dresden 1799 erschienenen „Spanisch-deutsche Gespräche über Gegenstände des ge-
meinen Lebens, der Politik und der Handlung**. — Die 20 Jahre vorher erschienenen
„Vermischte Aufsätze in spanischer Prosa mit beygefügter Erklärung, der schweren
Wörter und Redensarten zur Übung für Anfänger**. Frankfurt und Leipzig 1779 kenne
ich nur aus einer Angabe bei Aug. Burkhardt „Anleitung zur Bücherkunde in allen
Wissenschaften**. Bern 1797, S. 373. — Vom Verfasser der „Spanischen Sprachlehre**
Wagener rührt auch ein recht mageres „Spanisches Lesebuch für Anfänger nebst einem
Wörterbuch über die darin enthaltenen Aufsätze** her. Hamburg 1793.
Spanien o. die spanische Litteratnr im Lichte der deutschen Kritik u. Poesie, m. 865
Forscher Spaniens: ,,Spanische Miscellen^^ meistens naturwissenschaft-
lichen Inhalts, blos Auszüge aus den seltensten spanischen, ameri-
kanischen Zeitungen, wo unter den Berichten über Tauben- und
Pferdezucht, über Erdbeben und derartiges, auch Nachrichten
zweier Schriften von Spanien über die deutsche Litteratur enthalten sind.
Rührend gewifs, diese ununterbrochene Propaganda Fischers
für sein geliebtes Spanien I Sein Herz hing stets voll Liebe und Be-
wunderung an dem fernen, lang verkannten, mifsachteten Lande. Er
hat sich nicht, wie die Romantiker vor und nach ihm, in leeren
Wortschwall verloren und seine Bewunderung in nichtssagenden,
Superlativen, stark kolorierten Adjektiven Ausdruck gegeben; er hat
wirklich lur seine Liebe und sein Ziel gehandelt; er hat seine Feder
in den Dienst der Spanier gesetzt; er hat auch das Trockenste nicht
gescheut, wenn daraus nur ein praktischer Nutzen für seine Lands-
leute und für seine Spanier gezogen werden konnte. Obgleich seine
Schriften veraltet, sollte doch sein Andenken als eines der tätigsten
Vermitder zwischen Deutschland und Spanien, in fernen Jahrhunderten
fortleben.
Link hat am Schlufs des ü. Bds. seiner Reise (S. 229) einen An-
hang „Über die portugiesische Litteratur und Sprache'' beigefügt.
Es sind Bemerkungen eines Dilettanten, welche doch von feinem
Geschmack und poetischem Gefühl zeugen, nach aufmerksamer Lektüre
niedergeschrieben wurden und sich über Altes und Neues erstrecken.
Wie leicht zu erwarten, stellt Link seine Portugiesen auch in litte-
rarjscher Hinsicht hoch über die Spanier (S. 235). „Portugal rühmt
sich mit Recht, die gfröfsten Dichter der Halbinsel hervorgebracht zu
haben und Spanien mufs ihm ohne allen Zweifel nachstehen. Was ist
Ercilla, was sind alle spanischen Epopöendichter gegen Camöes, der
mit den ersten italienischen Dichtern wetteifern kann. Die Ulyssipo
des Sousa Macedo würde sich noch immer mit Ercillas Araucana
messen können''. Link ist ein grofser Verehrer Camöes; wandert er
in der von Byron so gern bereisten Provinz Alemtejo durch das
romantische Tal Montijos, so will die Erinnerung an die auch von Julius
V. Soden im Jahre 1784 dramatisierte Geschichte der Inez de Castro ^)
^ Die auch Jus Italienische flberaettte (nicht su verwechseln mit der Übersetzung
TOD Colom^s Stflck: «Agnese di Castro.** Livomo 1789) «Ignez de Castro — Trauer-
spiel in 5 Akten**, München 1784 (U. Aufl. Berlin 1787) Sodens wurde selbst in Berlin
im Desember 1786 cur Darstellung gebracht. Vgl. C. Schäffer und C. Hartmann ^Die
königlichen Theater in Berlin. Statistischer RQckblick auf die künstlerische Thätigkeit
866 Artur Farinelli.
nicl^t schwinden und er ruft begeistert aus (II, 43): „Wenn die
Dichtung hin und wieder helle Funken in Portugal erscheinen lälst,
so ist es dein Werk, schönes Thal!" Er wird vom Zauber der
Sprache in der „Lusiade" hingerissen; nachdem er ein paar Strophen
aus dem 3. Gesang übersetzt hatte, gesteht er, dafs das Deutsche
nicht im Stande sei, die Schönheit des Originals wiederzugeben. Un-
umschränktes Lob zollt er aber dem Epos nicht. Er findet da und
dort zu tadeln. „Selbst die Episode in der Lusiade von Camöes hat
bey vortrefflichen Stellen eine Anrede der Inez an Alfonso, die
man absichtlich nicht schlechter hätte machen können". — Von mo-
dernen, zeitgenössischen Dichtern nennt er (II, 240) den drolligen
Manoel Barbosa de Bocage, den er nur als Lyriker, nicht als Dra-
matiker kennt und dessen „sanfte, zarte Sprache" die „Fülle von
schönen Ausdrücken" er doch zu sehr hervorhebt '). Aus den zu
Lissabon 1 794 erschienenen „Rimas" des Bocage citiert er das Sonett
über den Zustand von Indien und fugt seine Übersetzung hinzu. Auch
die „Poesias lyricas" des Medina (Lissabon 1797) sind ihm bekannt
(S. 243). Er vermifst aber darin die Fülle und Stärke der Lyrik
Bocages. „Sanfte Empfindungen, vorzügliche Schilderungen von
schönen Gegenden", geraten dem Verfasser besser. Das komische
Heldengedicht des Joäo Jorge de Carvalho: „Gaticanea ou cruelissima
guerra entre os caes e os gatos" (Lissabon 1794) findet Link mit
Recht zu einfaltig und platt. Im allgemeinen sind Sonette, Oden,
Schäfergedichte am liebsten in Portugal gepflegt. (S. 237): „Die
meisten Gelegenheitsgedichte, alle Gedichte aus dem Stegreife sind
Sonette". An Romanen findet der Portugiese keine Freude. Beliebt
und volkstümlich ist nur die „Historia de Carlos Magno ou de doze
Pares de Fran^a", wovon unaufhörlich neue Ausgaben gemacht
werden. Novellen werden meistens aus der 5 bändigen Sammlung
„Lances de Ventura, Acasos da Desgra^a e Heroismos da Vertude,
Novelas ofFerecidas a NaQäo portugueza para seu divertimento**
und die Personal- Verhältnisse während des Zeitraums vom 5. Dezember 1786 bis
31. Dezember iSSs". Berlin 1886, S. 98. — Auf Houdar de la Mottes Stück und
Zingarellis Oper «Ines de Castro**, baute später Heinrich Keller sein in Zürich 1805
(acht Jahre nach der „Noche ■ terrible, ö Ines de Castro", des Juan Maria Rodrfguez)
erschienenes funfaktiges Trauerspiel ,Ines del Castro". Vgl. B. Wyss: „Heinrich
Keller der Züricher Bildhauer und Dichter", Frauenfeld 1891 S. 47 ff. — Bereits im
Jahre 1771 war in Wien ein sogenanntes Originaltrauerspiel „Pedro und Ines** aufgeführt.
*) Vgl. die von Brag^ besorgte Ausgabe Bocages «Obras poeticas** (7 B.) Porto
i87^__76j und Braga, „Bocage. Sua vida e epoca litteraria". Porto 1876.
Spanien m die spanische Litteratur im Lichte der deutschen Kritik u. Poesie IlL 86?
(Lissabon 1794) gelesen. EMe Prosa ist in Portugal weit schlechter
als die Poesie. Der Stil in den meisten prosaischen Schriften
(S. 243) ^hat zwar nicht den Schwulst, den die Spanier noch nicht
ablegen können, ist aber verwickelt, undeutlich, voll Wiederholungen
und Abschweife**. Die Wissenschaft ist sehr im Rückstande. Ein
Schriftsteller fangt noch immer seine wissenschaftliche Untersuchung
von Adam oder der Sundflut an. Rafael Bluteau ist für Link „der
absurdeste aller absurden Schriftsteller**. In der Philologie wird nichts
geleistet. (S. 248): „In Spanien erscheinen doch noch von Zeit zu Zeit
prächtige Ausgaben von den klassischen Schriften der Alten, hier nur
unbedeutende, fehlerhafte Abdrücke für die Schuljugend**. Nach dem
Erscheinen von Barbosa Machados bekanntem Werke „Bibliotheca
Lusitana** wurde die Litteraturgeschichte vernachlässigt. Die von der
Akademie veröflfentlichten „Memorias de Litteratura portugueza** ent-
halten im Fache der Litteraturgeschichte blos eine magere und
dürftige Abhandlung über die bukolische Dichtung *). — Für Link
ist das Theater schlecht in Spanien und ebenso schlecht in Portugal
(I, 104): »Auf den beiden Theatern in Madrid werden meistens
schlechte Stücke, von meistens schlechten Schauspielern gegeben**.
In Lissabon ist nur die italienische Oper im Aufschwung. „Kein
Frauenzimmer darf das Theater betreten (I, 232); ihre Rollen werden
von Männern gemacht, welche kaum den Bart verbergen können**.
(In den Zusätzen im III. B. aber, S. 193: „Übrigens haben die Theater
in Lissabon dadurch eine gfrofse Verbesserung erhalten, dafs man dem
Frauenzimmer wiederum erlaubt hat, sie zu betreten**.) „Die Schau-
spieler sind überdies zum Theil Handwerker, ein Schuster, der am
Tage sein Handwerk trieb, spielte unter anderen Komikern den Alten
und war nicht der schlechteste Schauspieler**. Meistens gibt man
Übersetzungen aus dem Italienischen, seltener Nachahmungen von
Stücken aus anderen Sprachen und noch seltener Originale** (III. B.
S- 193: „oft werden aber die Übersetzungen von Moliere gegeben,
welche grofsen Beyfall haben**) *).
') Link hatte offenbar blos den i. Bd. der „Memorias** (Lisboa 1792) gelesen,
welcher (S. i ff.) die ^Memorias sobre a Poesia BucoHca dos Poetas Portugueies** ent-
hält. Im 2. und in den folgenden Bänden hätte Link wenigstens die Aufsätze des
Antonio Ribeiro dos Santos „Da Litteratura Sagrada dos Judeos Portuguezes** hervor-
heben müssen.
') Diese Nachrichten bestätigen die Mitteilungen von Braga im 6. Bde. meiner
„Historia da litteratura portugueza" — «A BaixaComedia e a Opera (Porto 1872). — Aus
ZtachT. f. vgl Litt.<Geacfa. N. P. VI II. ^
868 Artur FarinellL
Als eine Fortsetzung von Tychsens und Fischers Nachrichten über
den „gegenwärtigen Zustand der spanischen Litteratur** dürfen die im
August 1801 im „Intelligenzblatt der allgemeinen Litteratur-Zeitung*'
(Nr. 149; 152; 155 — 158) unter dem Titel: „Spanische Litteratur zu Ende
des achtzehnten Jahrhunderts" erschienenen Artikel eines Dr. Escher
betrachtet werden, dessen Leistungen im Spanischen ich sonst nicht
näher kenne. Es wird hier wiederum versucht, eine Lanze zu Gunsten
der vernachlässigten Spanier zu brechen, — Trotz Bourgoing, Fischer
und anderen, welche zur Entschuldigung und zum Ruhme der Spanier
gesprochen haben, denken sich doch viele Deutsche diese Nation in
Rücksicht auf wissenschaftliche Bildung so zurück, dais man es kaum
der Mühe wert finde, ihre Schriftsteller zu würdigen. — Werden
einige Fächer vernachlässigt, ist der Buchhandel in Spanien wenig ent-
wickelt, so ist „das kirchliche System des Landes** daran schuld.
Auch gegen die Anklage der Vernachlässigung und Geringschätzung
alles Fremdländischen sucht Escher die Spanier zu verteidigen. Es
sei dies ein gewöhnliches Vorurteil. Laut dagegen sprechen ^mehrere
ihrer Journale, die Nachrichten von ausländischen Schriften, Ent-
deckungen u. s. w. enthalten . . . Französische Bearbeitungen eng-
lischer und deutscher Schriften dienen, wenn nicht zur Grundlage von
Übersetzungen, doch als Quellen des Studiums ihres Inhalts". —
Sehr mager, blos die litterarische Produktion der Jahre 1799 und
1800 umfassend, ist die, nach Tychsens angegebenem Schema, einem
Herbarium ähnliche Übersicht über die zeitgenössische Litteratur der
Spanier. Mit ein paar Worten und Namen wird die moderne Dichtung
abgefertigt, welche nach Escher, der alten an „Feuer und Fruchtbar-
keit^ nachsteht, aber doch, „wie Bourgoing bemerkt", mehr Geschmack
zeigt. Die Theorie der Kunst wird eifriger als ehedem studiert. (Eben
im Jahre 1799 erschienen Losada's „Elementos de Poetica".) Für
die Fabel zeigen die Dichter Spaniens eine besondere Vorliebe. Nach
Iriarte und Samaniego druckte Ibanez de la Renteria im Jahre 1800
die 2 Bde. seiner „Fabulas en verso".
den 80 er Jahren stammen zwei deutsche Übersetzungen aus dem Portaglesischea,
welche hier im Anschluls an Links Urteilen erwähnt werden dürfen: 178a verdeutschte
ein H. V. Z. das Stück „O Ciosa" des Ferreira, welches 1825 ins Eng^lische, 1835
ins Französische übersetzt wurde. — 1788 erschien zu Rotenburg der «Briefwechsel
einer portugiesischen Nonne*", eine Übersetzung der fünf Liebesbriefe der Nonne Marianna
Alcoforado ; über sie vgl. ' Luciano Cordeiro : „Soror Marianna a freira portugueza*.
Lisboa 1890.
Spanien u. die spanische Litteratur im Lichte der deutschen Kritik u. Poesie, m. 369
Im gleichen Jahre mit Eschers Artikel, als bereits die Romantiker
Spanien wie ein neuentdecktes Land den Deutschen vorgeführt hatten,
gab Friedrich Buchholz in Berlin den I. Band seines Werkes „Hand-
buch der spanischen Sprache und Litteratur" (Prosaischer Teil)
heraus*). Es ist eine fleifsige Kompilation, die gegenüber dem
Lesebuch Bertuchs einen Fortschritt bezeichnet, ein ziemlich dicker
Band, welcher Stücke aus alten und neuen Schriftstellern in chrono-
logischer Reihenfolge enthält, eine Art Lemcke'sches „Handbuch" doch
ohne seine Tiefe und Gründlichkeit. Der poetische Teil erschien
3 Jahre später und soll im Zusammenhange mit der gleichzeitig er-
schienenen „Geschichte der spanischen Poesie und Beredsamkeit"
Bouterweks besprochen werden. — In der Vorrede wird das Werk
mit mächtigen Posaunentönen als eine neue und wohltätige Leistung ver-
kündigt. Die Deutschen erhalten wegen ihres Kaltsinns und ihrer Gleich-
giltigkeit gegen alles, was Spanien betraf, und wegen ihres andauernden,
einseitigen Studiums der Franzosen und der Engländer eine derbe,
moralische Lektion. Einem deutschen Gelehrten und Fachmann ist
unter den Prosaisten Spaniens höchstens Cervantes, unter den Dichtern
höchstens Boscan bekannt. Südliche Dichtung überhaupt wird für
die Entwickelung des deutschen Geistes nicht für notwendig erachtet.
Man glaubt mit Unrecht, dafs, weil in Spanien weniger als in Deutsch-
land gedruckt wird, dort eine geringere Masse von Ideen im Umlauf
sei, dafs die Spanier in der Geisteskultur den Deutschen nachstehen.
Zählte ja Spanien „gegen 1300 Dichter und mit diesen einen Lope de
Vega, dessen sämtliche Werke allein eine Bibliothek von Dichtern
aufwiegen könnten, so zahlreich und so gut sind sie" (S. IX). Diesem
überfruchtbaren, vortrefflichen Lope hat aber Buchholz, nach seinem
später erschienenen poetischen Teil des Handbuches zu schliefsen, nie
gekannt und gelesen. Die so übel verschrieene Inquisition nimmt
Buchholz in Schutz. Es ist ungerecht, wenn man sie als einen consessus
von Höllenrichtern betrachtet, welcher über alles Schöne und Grofse
das Verdammungsurteil ausspricht. „Die ganze spanische Litteratur
widerlegt das Urteil" (VI). In allen Litteraturgattungen wetteifert
Spanien mit Deutschland. „Die Auszüge aus dem Amadis mögen
1) F. Buchholz: ^Handbuch der spanischen Sprache und Litteratur. Sammlung
interessanter Stücke aus berühmten spanischen Prosaisten und Dichtem, chronologisch
geordnet und mit Nachrichten von den Verfassern und ihren Werken begleitet. I. Prosaischer
Theil". Berlin 1801. — Eine kleine, unbedeutende Recension dieses I. T. brachte die
„Neue allg. BibUotbek'< (1802) LXIX, 243.
24*
870 Artur ParinelÜ.
beweisen, dafs in Spanien schon vor beinah 400 Jahren bessere Ritter-
romane geschrieben werden als in dem letzten Jahrzehnt des so eben
verflossenen Jahrhunderts auf deutschem Grund und Boden entstanden
sind; und die Auszüge aus Huarte's Examen de los ingeniös mögen
zeigen, dafs die spekulative Philosophie schon vor 250 Jahren daselbst
sehr wesentliche Fortschritte gemacht hatte. Um sich zu überzeugen,
dafs die Spanier auch einen Swift und Butler haben, lese man die
Werke des Saavedra Faxardo und des Quevedo Villegas" (XI). —
Da spanische Werke immer noch zu den gröfsten Seltenheiten in
Deutschland gehörten, war das Handbuch Buchholz* ein bequemes
Hülfsmittel, um einen Überblick über die prosaische Litteratur der
Spanier zu gewinnen. Zu seiner Zeit mag es durch die Hände vieler
gegangen sein. Schillers Freund, Chr. G. Körner hat später Calderon
aus dem IL Teil des Handbuches Buchholz' kennen gelernt. — Nebst
Sedanos „Parnaso Espanol^^ dienten Buchholz als Quellen zu seinen
knappen biographischen Abschnitten: Diezes Geschichte, selbst Schottus«
Nicolas Antonio, Mayans y Siscar, Baretti. Die Nachrichten über
Cervantes sind aus der Biographie des Vicente de los Rios geschöpft.
Die Wahl der Stücke aber ist nicht immer eine glückliche. Aus Capmanys
„Teatro histörico critico de la Eloqüencia espaiiola" (Madrid 1786
— 1794) hätte Buchholz bequemer schöpfen und bessere Beispiele
entnehmen können. Das Mifsverhältnis des Werkes ist augenfällig;
den modernen wie Ulloa, Campomanes und Munoz wird übermäfsig
Platz eingeräumt; der erste ist mit etwa 100 Seiten vertreten, während
bessere Schriftsteller aus früheren Jahrhunderten kaum eine Er-
wähnung finden. Von Cervantes hat aber Buchholz nicht blos Aus-
züge aus dem „Quixote", sondern auch ein Kapitel des „Persües"
(Lib. III Kap. VI) und eine Novelle aus dem Schatze der „Novelas
exemplares" mitgeteilt.
IV. Teü.
Deutschland und die deutsche Litteratur im Lichte der spanischen Kritik in
der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts.
Es war in den bis jetzt besprochenen Schriften der Deutschen
so viel und so oft von der Gleichgiltigkeit der Spanier gegenüber
allem, was nicht einheimisch war, die Rede, dafs im Leser wohl der
Wunsch rege geworden sein dürfte, zu vernehmen, was Spanien gegen
Schlufs des vorigen Jahrhunderts von Deutschland wirklich kannte.
Deutschland u. die deutsche Litteratur im Lichte der spanischen Kritik u. Poesie. IV. 371
Waren die Klagen der Deutschen begründet? Stand wirklich zwischen
Spanien und Deutschland eine chinesische Mauer, welche zu durch-
dringen kein Spanier sich getrauen sollte? — Vom gewaltigen Auf-
schwung der deutschen Litteratur zur Zeit Winckelmanns, Lessings
und des jungen Goethe hatten sämtliche romanische Nationen kaum
einen Begriff. Prankreich erhielt zwar häufige, doch unklare Berichte
über die litterarische Produktion Deutschlands in Melchior Grimms
„Correspondance litteraire*', im „Journal etranger", im „Mercure de
France^', in anderen Zeitschriften, in Übersetzungen und Kompendien ^).
Erst die Reise M« de Staels im Jahre 1803 und vollends ihr Buch
,»De TAllemagne" (1810) haben Licht in das Chaos gebracht. — Was
die Italiener: Denina, Bertola, Bettinelli, Bianconi und ein paar andere von
deutscher Litteratur berichteten, ist meist oberflächlich und einseitig
geschrieben; das Wertlose wird oft auf Kosten des wahrhaft Grofsen
und Schönen gepriesen*). Die Reise der Stael und Aug. Wilh. Schlegels
nach Italien, welche viele noch heute als Ausgangspunkt für eine
grundlichere Kenntnis von Deutschlands Kultur und Litteratur an-
nehmen, hat in dieser Hinsicht wenig genützt, und die frühere eng-
herzige Meinung nicht mehr zu ändern vermocht. — Spanien mufste,
auch seiner isolierten geographischen Lage wegen tiefer als Italien in
der Kenntnis deutschen Wesens stehen. Wenn dann und wann vor
Schlufs des Jahrhunderts deutsche Namen und deutsche Schriften in
spanischen Zeitungen genannt werden, so war das nur ein Abklatsch
aus fi-anzösischen Berichten. Die wenigen Übersetzungen von deutschen
Werken, welche die Spanier in dieser Zeit geliefert, sind ausnahms-
los nach französischen, abgedroschenen Berichten verfertigt worden.
Hat ja Spanien, selbst in unserem Jahrhundert Deutschland blos im
Spiegel des Staelschen Werkes gesehen, die Urteile der geistreichen,
genialen Pranzösin ohne weitere Prüfung und Kritik, ohne eine eigene
Anschauung des Besprochenen zu gewinnen, als unfehlbares Dogma
*) Vgl. Th. Süpfle: „Geschichte des deutschen Kultur einflusses auf Frankreich*,
I, 1 37 ff. ; 11, I ff., ein gründliches Werk, mit dem sich nicht vergleichen läist die kläg-
liche Schrift P. Meifsners: ^Der Einfluis deutschen Geistes auf die französische Litteratur
des 18. Jahrhunderts**. Leipzig 1893.
*) Vgl. T. Thiemann: „Deutsche Kultur und Litteratur des 18. Jahrhunderts im Lichte
der zeitgenössischen italienischen Kritik". Oppeln x886. — G. Piergili: „II Foglio
azzurro e i primi romantici** in der „Nuova Antologia*". 1 886 (August). — Interessant und
neu sind die Berichte Acerbis (Direktor der „Biblioteca Italiana") Qber Klopstock und die
deutsche Litteratur, welche mein Freund Luzio mitteilte. Vgl. „Aus Klopstocks letzten
Jahres, Auizeichnangen eines Italieners*": Deutsche Rundschau 1894(7),
872 Axtur Farinelli.
angenommen. Begegnet man ja in sogenannten gelehrten spanischen
Abhandlungen der dreifsiger, der vierziger Jahre immer noch den
Namen deutscher Dichter im merkwürdigsten chaotischen Durchein-
ander und als Repräsentanten bald klassischer, bald romantischer
Poesie*). Mufste ja Harzenbusch noch 1841 gestehen, dafs Spanien
im Allgemeinen eine mittelmäfsige Kenntnis von der Litteratur Frank-
reichs besitze und von den anderen nichts wüfste^).
XV.
Im 18. Jahrhundert') hatten spanische Gelehrte eine nicht viel
bessere Vorstellung von Deutschland wie das gemeine Volk, das,
wie Tychsen berichtet, Deutschland „als einen kleinen Bezirk** in der
Welt, „wo noch Finsternis herrscht", betrachtete*). — Feijöo hatte
im Jahre 1728 im „Theatro crftico universal" die Spanier vor Nach-
ahmung fremder Kultur gewarnt. „In jeder Hinsicht verlieren wir
*) Ich entsinne mich noch eines Artikels: „Sobre ciisicos y romänticos** in den
«Carlas E^paAoIas 6 sea Revista historica, teatral, artistica, critica y literaria*" Vol. V.
Madrid 1832. (Unterschrieben: El consabido) S. 31 ff., wo derartiges gefaselt wurde,
Schiller und Schlegel (wohl August Wilhelm) „crfticos eminentes** bald als Romantiker,
bald als Klassiker figurieren und folgenden herrlichen Schlu(s enthält: S. 36 „Concluyo
diciendo que ni Schiller, ni Schlegel, ni yo, ni hombre alguno racional hemos sostenido
nunca que las reg las deben despreciarse"*. — In der Biographie des Juan Nicasio Gallego
(nGaleria de espanoles c^lebres contemporin^os** por Nicomedes Pastor Diaz, T. VIII.
Madrid 1845, S. 56) ist die Rede von der Verbreitung in Spanien des »gusto aleman
que, aunque por el conducto poco puro de traducciones francesas han propagado en
el Ocidente de Buropa las obras de Schiller, Kotzebue, Goethe y otros, ha abierto sin
duda este nuevo rumbo d las ideas y mdximas literarias** u. s. w.
*) . . . nosotros solo tenemos en general una mediana noticia de la literatura fran-
cesa; de las demds nada sabemos"* im «Semanario pintoresco BspaAol**. Madrid 1841. S. 203.
*) Aus dem vorigen Jahrhundert stammt ein interessantes Werk über Poetik eines
Spaniers (eigentlich böhmischen Ursprunges), welches da und dort auch die deutsche, ja
sogar auch die ungarische Poesie berücksichtigt. Es ist : Joannis Caramuelis. Primus Cala-
mus. Tomus II. Ob oculos exhibens Rhythmicam quae Hispanicos, Italicos, Galileos, Germa-
nicos, etc. Versus metitur, eosdemque concentu exomans, viam aperit, etc
II. Ausgabe. Campaniae 1668. Vgl. S. 382 ff. und die ^Metametrica** des nämlichen
Caramuel, Anhang S. 21 ff.
^) Tychsen im erwähnten „ Anhang über den gegenwärtigen Zustand der spanischen
Litteratur" S. 330. — K. Ph. Moritz erzählt in seinen „Reisen eines Deutschen in Italien
in den Jahren 1786 bis 1788". Berlin, 1792 (am 17. März 1788), wie ein spanischer
Mönch bei Neapel sich mit ihm im „abscheulichen Latein** unterhielt, „und versichert
mir mit Zuverlässigk^t^ daüs d^r König von Preufsen als ein guter katholischer Christ
gestorben sey".
Deutschland u. die deutsche Litteratur im Lichte der spanischen Kritik u. Poesie. IV. 373
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Spanier im Verkehr mit den Fremden, am meisten aber in der Nach-
ahmung fremder Sitten. Wir entnehmen von ihnen die schlechten und
vernachlässigen die guten" *). In einem Kapitel des nämlichen „Theatro"
(Tomo I, Discurso XV, § 2 „Mapa intelectual y cotejo de naciones"
S. 271 f.) kam er auf die Deutschen zu sprechen, welche trotz der
Behauptung eines französischen Jesuiten „so viele vortrefiliche Schrift-
steller in allen Gattungen der Litteratur besitzen, dafs man sie un-
möglich aufzählen kann^^). Und er meint, blos die allerhöchsten
Bergspitzen (solo los montes de mayor eminencia) in seinem „Mapa
literario de Alemania" zu berühren, wenn er Rabanus Maurus und
Gaspar Schoppius nennt; der erste: ein hellleuchtendes Gestirn, der
gröfste Theologe seiner Zeit, in allen Wissenschaften bewandert,
Dichter und Redner, wie Italien selbst keinen solchen hervorgebracht
hat; der zweite: ein Blitz oder Wirbel (rayo ö torbellino) der Kritik,
ein Schrecken für die Gelehrten seiner Zeit, welcher sechzehnjährig
Bücher schrieb, die von Erfahrenen bewundert wurden*).
') Fray Benito Geronimo Feijöo: «Theatro critico universal — Discurso Sezto —
Las Modas**. T. U. (Madrid 1728) S. 149; „Fatales somos los Espafioles. De todos
modos perdemos en el comercio con los Estrangeros; pero sobre todo en el träfico de
costumbres. Tomamos de ellos las malas; y dexamos las buenas. Todas sus enfer-
medades morales son contagiosas respecto de nosotros**.
') «Empezando por Europa, los Alemanes, que son notados de ingenio tardos, y
groseros en tanto grado, que el Padre Domingo Bonhursio Jesuita Frances, en sus con-
▼ersaciones de Aristios y Bugenio, propone como disputable, si es posible que haya
algun hello espiritu en aquella nacion, tienen en su defensa tantos autores excelentes
en todo g^ero de letras que no es posible numerarlos.**
*) Den Deutschen war bereits im 1 8. Jahrhundert der Name Feijöo und einzelnes aus
seinen Schriften bekannt. — Ein Bruchstück des „Theatro critico*", offenbar auf Grund-
lage der französischen Übersetzung d^Hermillys: „Kritik gemeiner Irrtümer, von Benito
Feijöo B. I — aus dem Spanischen übersetzt von L. Harscher von Almendingen *" er-
schien zu Gotha 1791. Es ging aber, so viel mir bekannt, nicht weiter als bis zum
ersten Bande. — Die im Jahre vorher (Leipzig 1790) erschienene Übersetzung aus
Fetjöos; «Diätetik, vorzüglich für Studierende, übersetzt von Michaelis*", kenne ich nur
dem Titel nach. — Dafe vor den 50 er Jahren eine deutsche Übersetzung des „Theatro
critico" zu Stande kam, wie Feijöo vennutet, bezweifle ich sehr. Feijöo selbst sagt in
den „Cartas eruditas y curiosas** B. in (Madrid 1750) Kap. XIV: „Sobre las traduccio-
nes de las Obras del Autor en otros Idiomas** S. 170 f. . . . aunque se me diö no-
ticia de la traducdon Alemana, no s^ si le d^ entero assenso. Esta me vino por medio
de Don Joseph Garcia Tufion, Capellan de el Jll. Seäor Nuncio de Espaäa; y 4 este
por un Roman, Oficial de la Nundatura, que le assegurö, que el Eminentissimo Car-
denal Bezzozi (Besozzi) tenia el Theatro critico en lengua Alemana. Si hay esta tra-
duccion, es verisimil, que sea Autor de e|la ^1 VarondeSchomber^, residente enDresda,
374 Artur FarinelH.
Der Vater der modernen spanischen Kritik Ignacio Luzan *), ein
klarblickender^ vorurteilsloser Mensch, den man unbilligerweise auch
von Seite berufener Litterarhistoriker getadelt und lächerlich gemacht
hat, soll, nach dem Zeugnis seines Sohnes Antonio, welcher die Bio-
graphie des Vaters als Einleitung zur 2, Ausgabe der berühmten
„Poetica" veröffentlichte, das Deutsche gelaufig gesprochen und ge-
schrieben und Korrespondenten in Deutschland gezahlt haben *). Luzan
hat zwar italienische, französische, auch englische Dichter, unter den
letzten vorzüglich Milton und Pope, fleifsig gelesen und Beispiele aus
ihren Werken (ur seine Poetik verwertet, — er hat ein sehr interessantes
Buch über seine Reise nach Paris geschrieben •), — er .war in der
italienischen Litteratur wie zu Hause und hat, in der Jugend besonders,
fast ausschliefslich italienisch geschrieben und gedichtet *), — von
seinem Studium und irgend welcher Kenntnis deutscher Utteratur
finde ich in seinen Schriften nicht die geringste Spur.
Luzäns Nachfolger: Nasarre, Velazquez, Montiano y Luyando
und ihre Genossen waren engherzige Gelehrte mit der Perücke des
Pedanten, die kein Gefühl für wahre Poesie besafsen, Altes und Neues,
das nicht ein französisches Gepräge trug, unerbittlich verwarfen und
porque este docto Cavallero hi trece, 6 catorce aAos pidlö d un corresponsal suyo
Espafiol un resumen de mi vida, coo las circunstancias de nacimiento, patria, nombres,
y calidad de mis padres, edad, tiempo en que recibf el santo Hdbito, estudios empleos y
honores, que tuve en la Religion, etc. lo quäl no veo para que pudiesse ser, sioo para
estampar estas ooticias en la frente de alguna traduccion de mis obras". Pdjöos «Car-
tas** enthalten da und dort zerstreut einige Nachrichten über Deutschland. Im II. B.
Kap. 14 (auch B. V. Kap. XXIII) ist von der Trunksucht der Deutschen die Rede. Im IV. B
13. Kap. wird der „incomparable Saxon Gofredo Guillermo Baron de Leibniz mit „otros
muchos grandes hombres .... los Reuclinos, los Tritennos, los Clavios, los Kepleros,
OS Kircherios** genannt.
*) Vgl. Femdndez y Gonzalez: „Historia de la crftica literaria en Espaiia desde
Luzdn hasta nuestros dias". Madrid 1867 und Gumersillo Laverde: ^Ensayos erfticos
sobre Filosofia, Literaturae instniccion publica Espaäolas". Lugo 1868. S. 43^ flf.
•) „Aprendi6 la lengua alemana que hablaba y escribia corrientemente* Vgl. ^La
Po^tica 6 Reglas de la Poesia en general y de sus principales especies, por D. Ignacio
de Luzdn. Madrid 1789. B. I S. XII. — Im B. I. S. 43 der „Poetica" selbst ist von
den dramatischen Regeln die Rede ^que han explicado y reßnado los autores Latisos,
Franceses, Ingleses, Alemanes, y nuestros mismos Espatioles"*.
'j „Memorias literarias de Paris: actual estado y metfaodo de sus estudios*^
Madrid 1751.
*) Eine eigene, bereits vollendete Studie über Luzin gedenke Ich später zu ver-
OffeQtlicheq.
Deutschland u. die deutsche Litteratur im Lichte der spanischen Kritik u. Poesie. IV. 375
einer vernichtenden Kritik preisgaben. Kaum, dafs einige darunter
einen gewissen Geschmack für englische Poesie bewiesen, einzelnes
aus Milton (bereits 1754 von Alonso Dalda spanisch übersetzt) von
Thompson, Young lasen und übersetzten, wie denn auch viele der nach
Italien ausgewanderten spanischen Jesuiten, entschieden die besten
Kopfe ihrer Nation, nebst der italienischen auch die englische Litteratur
eifrig pflegten. — Der originelle Mariano Jose Nipho, eine wahre
Bibliothekmaus, welcher auf die Jagd aller bibliographischen Selten-
heiten ging, seine drolligen Bücher aus allen möglichen Zeitungen,
aus einheimischen und fremden Berichten, mosaikartig zusanunenstellte,
welcher Korrespondenten in verschiedenen Ländern zählte, eine „Estafeta
de Londres** unter anderem schrieb, wird wohl da und dort auch von
deutschen Schriften vernommen haben. Ob er sich hierüber irgendwie
geaufsert hat, ist mir nicht bekannt ^). — Don Jose de Cadalso, ein fein,
zartfühlender Dichter, mit der englischen Litteratur wohl vertraut,
welcher Milton und Young zu seinen Lieblingsdichtern zählte, warnte
ironisch die Spanier in den „Eruditos ä la violeta" vor dem
Studium der fremden Sprachen. ^Ich bitte euch dringend, dies Studium
nicht für ernst zu nehmen, denn um Französisch, Englisch, Italienisch
und Deutsch zu lernen, sind vier Menschenleben erforderlich '). Am
besten wird sein, wenn man vorgibt, das, was man nicht kann, doch
zu kennen. Fragt dich einer über die Beschaffenheit der deutschen
Sprache, so antworte, „dafs es eine sehr rauhe Sprache ist, lobe aber
ihr Alter"«* •).
*) Eine Fortsetzung der „Estafeta de Londres", den „Correo general historico
literario y economico de la Europa, 6 Memorias sobre la ^gricultura, Literatura, Artes
y Comercio de Francia, Olanda, Alemania, ^Inglaterra, y particularmente de Espada'*
vermochte ich selbst in Spanien nicht aufzutreiben.
*) n^^os eruditos 4 la violeta 6 curso completo de todas las ciencias, dividido
en siete lecciones para los siete dias de la semana compuesto por D. Josef Vasquez*'
Madrid 1772. S. 53: ,fOs pido encarecidamente no teneis este estudio de veras, porque
esto de aplicarse d la Francesa, Inglesa, Italiana y Alemana pide cuatro vidas'*.
') ^- 53 D^^l aleman decid que es lengua mui 4spera, pero alabad su antiguedad".
- - In Cadalso's „Cartas Marruecas" (Mad. 1 793). Kap. XXIX ist auch von der „aspereza
del Aleman** die Rede. Im Kap. LXIV bespricht Cadalso die Einführung Schweizerischer
Costfime in Spanien, welche jedoch den französischen weichen mufsten. — Charakteristisch
für das geringe Interesse, welches die Spanier für deutsche Litteratur hatten, ist Capmanys
„Discurso Preliminar" zu seinem „Teatro histdrico-critico de la Eloquencia espanola**
(Madrid 1786), wo oft von Italien, England und Portugal die Rede ist und Deutschland
(I. 88 ff.) mit ein paar nichtssagenden Worten abgefertigt wird. .
d76 Artur FarinelU.
Die Bibliotheken in Madrid und in anderen Städten Spaniens
waren, wie auch deutsche Reisende mehrmals betonten, blutarm an
Werken der fremden Litteratur. Ein Wunder noch, wenn unter den
lateinisch geschriebenen Werken der Deutschen diejenigen Wolfe zu
treffen waren '). Ein Wunder auch, wenn ein spanischer Grelehrter
mit den Gelehrten fremder Nationen verkehrte und mit deutscher
Wissenschaft vertraut war, er mufste denn ein Naturforscher sein.
So sind einige spanische Bücher mineralogischen Inhalts, welche
meistens Mitarbeiter der n Anales de historia natural^ Ende des i8.
und Anfangs des 19. Jahrhunderts, herausgaben, wie die „Elementos
de Orictognosia'S der „Tratado de Cristalografia^^ des Andres Manuel
del Rio, die „Pianos geognosticos de los Alpes y de la Suiza con
sus descripciones^^ (Ms. von 1804) und andere noch auf Grundlage
deutscher Werke verfafst worden und sind zum Teil Übersetzungen.
Christian Herrgen hatte von der spanischen Regierung im Jahre 1798
eine Lehrkanzel in Madrid erhalten. — Ausländer waren es, welche,
um wenigstens durch einen Faden mit der fernen Heimat verknüpft
zu sein, eifrige Propaganda für die Errichtung von Lesezirkeln in
den verschiedenen Städten Spaniens machten. So war bereits zur
Zeit der ersten spanischen Reise Fischers, in Cadiz, wo später der
tref&iche Bohl von Faber wirkte, durch die Bemühung von Ausländem
ein Lesezimmer, die sogenannte Camorra im ehemaligen italienischen
Opernhause errichtet worden, wo man die besten fremden Zeitungen
zu lesen bekam ^).
Reisefaul ist der Spanier seit dem Sinken seiner politischen und
geistigen Macht immer gewesen. Er hat selbst höchst selten das
gemütliche Herumschlendern im eigenen Lande verstanden und ge-
nossen. Jenseits der Heimat lag eine Ode für ihn. Die Sehnsucht
nach der Fremde, ein Übel, welches stark, übermäfsig stark die Ger-
manen, Deutsche sowohl wie Engländer, überfiel und an ihren Herzen
nagte, hat den Spanier nie ergriffen. y,Scheint es doch, dafs fremde
Länder und Sitten den Spanier nicht genug interessieren, um sie zu
') Dais in der Hausbibliothek eines spanischen Officiers Hallers, Ge&neis, Rabeners
und Bürs^ers Schriften nebst den Werken Rousseaus und Voltaires zu finden waren, be-
richtet irgendwo Karl Georg Weifse in seinem wenig glaubwürdigen Buche „Schicksale
und Verfolgungen in Deutschland und Spanien^*. Halle 179a.
*) C. A. Fischer: „Reise von Amsterdam u. s. w." S. 41 1. — Nachrichten &ber diesen
Lesezirkel suchte ich in A. de Castro; „Historia de Cddiz y su provinda."* Cadiz 1858
vergebens.
Deutschland u« die deutsche Litteratur im Lichte der spanischen Kritik u. Poesie. IV. 377
bemerken oder zu beschreiben! Wir haben wenigstens zwanzig Reisen
nach Spanien übersetzt, aber dort kennt man keine Reise nach Teutsch-
land^* hat Tychsen einmal ausgerufen (Anhang zu Bourgoing S. 329).
Tychsen wufste vielleicht nicht, wie gern die Spanier zu Hause hockten,
wie gern sie andern den Wanderstab überliefsen. Reiseschilderungen
haben auch die Spanier meistens kalt gelassen. Noch in den 50^
Jahren wollte ein Mitarbeiter der Madrider „Revista historica teatral, ar-
tistica, critico-literaria** den Spaniern eine Nachricht von Wien geben
und brachte — die Übersetzung eines Kapitels von Madame de Stael
„De r Allemagne" *)• — Wenn dann durch politische und religiöse
Wirren Spanier haufenweise ihre Heimat verlassen und jahrelang auf
fremder Erde herumirren muüsten, so war die Sehnsucht nach dem
fernen Vaterlande unbezwinglich und nie und nimmer zu stillen; nur
die nach Italien Ausgewanderten haben durch rastloses, energisches
Schaffen, und indem sie Sprache und Sitten des fremden Landes an-
nahmen, ihre Schmerzen zu lindern gewufst.
Aus den höchst seltenen, spärlichen Berichten von spanischen
und portugiesischen Reisenden in Deutschland am Schlufs des 18. Jahr-
hunderts ist wenig Erfreuliches und Interessantes zu entnehmen.
Aus dem Jahre 1757 ist uns eine schöne und lange Epistel eines
mir sonst nicht näher bekannten Schlofsherm von Avües erhalten,
in der ausführlich über eine im Jahre 1755 unternommene Reise nach
Wien, Frankfurt a. d. O., Berlin, berichtet wird und treffliche Beob-
achtungen über den Hof und die Armee Friedrich des Grofsen, über
Hochzeitsgebrauche, über das Privatleben des Königs enthalten sind').
Fast gleichzeitig mit der Ankunft des Grafen von Aranda in Berlin, ge-
langt der Castellan, Ende August 1 755, von einem westfälischen Diener
begleitet, in die Hauptstadt Preufsens. Er ist dem Minister de Touche
und dem General Conde de la Puebla empfohlen, wird selbst dem
Könige vorgestellt und wird überall mit Achtung und Wohlwollen
empfangen. Er ^besucht fleifsig die Abendgesellschaften, läfst sich
<J »Cartas Espafiolas** (Madrid 1831, S. 308 ff) «Descripcion de Viena por Ma-
dame de Staä**. ^ Doch finde ich im „Memorial literario*' (Madrid 1803 IV, 377 ff.) eine
^Descripcion de Dresde y de sus alrededores, sacada de una obra publicada nuevamente
en Berlin*.
') «Carla del castellano de Avil^ 4 un amig^o suyo en Madrid, sobre la presente
guerra de Alemania, la corte y estados del Key de Pnisia, su vida, tropa, gobiemo etc.**
im «Epistolario £spafiol"(6iblioteca de autores Bspafioles LXII, 184 ff.). Der Brief ist
von Ovledo, den 14. Dezember 1757 datiert.
378 Artur Farlnelll.
gerne in Unterredungen über Religion und Politik ein und verteidigt,
so gut es ihm gelingt, die Ehre und den Ruf seines Vaterlandes,
wenn er auch bemerken mufste, dafs einige seiner Landsleute, welche
ihre Heimat selbst nicht kannten, die geringschätzenden Urteile, die
erfundenen Fabeln der Fremden nachschwatzten und gar bitteren An-
klagen über den Verfall ihrer Nation Vorschub leisteten. Den Fest-
lichkeiten, welche bei Gelegenheit der Hochzeit des Fürsten Ferdinand
in Hannover gehalten wurden, wohnt unser Reisender bei; er unter-
richtet uns über die verschiedenen Hoftrachten, über das Hofceremo-
niell; er besucht fleiCsig das Theater und urteilt über die an den
Hochzeitstagen aufgeführten Stücke^). — Nach einem kurzen Besuche
in Leipzig kehrt er an den Hof zurück. Er ist voll Bewunderung für den
grofsen König, dessen intimes Leben er näher kennen lernt; er spricht
von der rastlosen Tätigkeit des Monarchen (apenas le cuentan cuatro
horas de suefto), von seiner französischen Lektüre mit dem Abbe
de Prades, von seinen musikalischen Leistungen, von seinen eigenen
prosaischen und poetischen Werken*), er urteilt über seinen Stü*).
Am meisten aber imponierte dem Spanier die strenge Disdplin
der preufsischen Armee, welche (S. 190) „aus Automaten und nicht
aus Menschen zu bestehen scheint^^ — Dieser interessante Bericht lälst
lebhaft bedauern, dafs eine zweite Epistel, welche am Schlufs der
ersten in Aussicht gestellt wird (S. 192), nicht erhalten, oder überhaupt
nicht geschrieben wurde, worin der asturische Schlofsherr uns über „den
') (S. 188). „AI siguiente dia 28 de septiembre se celebrö la boda con una opcreu
£1 templo de Amor . . . . el papel de Vulcano en ocasion de boda era bien
digno de cHtica; repartieron Hbretes, una llana era en italiano y la otra traducida es
prosa francesa. La compafiia de operantes era muy buena, y entre las mujeres muy
sobresaliente la primera, que era la famosa Astrua; los bailes muy magniticos, habia
en ellos dos primeras celebres bailarinas, la Denis, italiana, y la Cossue, francesa etc.
AI dia siguiente 29, hubo las mlsmas fiestas, con la diferencia que en lug:ar de
la opercta s^ria hubo opera bufa, la intitulada La Maestra de escuela, traducida
en aleman la llana correspondiente, con un gran baile de pantomima etc.*
*) „El Rey se ha entretenido por sf en componer algunas obras de espiritu, la
intitulada Le Philosophe sans souci, en prosa y verso, tres volümenes en cuarto
real, dicen es cosa muy buena; solo se han tirado veinte y cuatro ejemplares, que ei
Rey ha regalado d personas de su particular estimadon'; tambien ha escrito la Vida de
SU padre, de la que se han tirado poquisimos ejemplares; si yo me hubiera detenido
roas tiempo quizis hubiera logrado estas obras*.
*) „Su estilo ds bastante nervioso, rdpido y claro, y se da un aire al de Voltaire,
con quien trat6 mucho; todas sus obras son en franc^s, que le habla perfectameote,
como tambien el italiano, y conoce su fuerza**.
Deutschland a. die deutsche Litteratur im Lichte der spanischen Kritik u. Poesie. IV. 379
Hof, die Regierung, den Zustand der Wissenschaften, Kunst und Sitten
und andere Merkwürdigkeiten^^ unterrichtet hätte, die er während seines
kurzen Aufenthalts in Deutschland zu beobachten Gelegenheit hatte.
In Wien, wo schon im Jahre 1 734 Francisco Xavier de Oliveira,
als Sekretär des portugiesischen Gesandten Conde de Tarouca, er-
schien^), hatte sich von 1768 bis 1774 D. Joäo Carlos de Braganpa,
Herzog von Laföes, der Begründer der „Academia Real das Sciencias
de Lisboa^ (^779) '^^ einem stattlichen Palaste, von einem grofsen Kreise
Bekannter umgeben, niedergelassen. Er war ein enthusiastischer Be-
wunderer Glucks^), ein Beschützer Mozarts, ein Freund Burneys und
Metastasios, ein feinsinniger Kunstkenner und selbst ein begabter Kom-
ponist*). Bei Kaunitz und selbst bei dem grofsen Friedrich stand er in
hohem Ansehen. — Ebenfalls in Wien, wo so viele Musiker und Musik-
freunde aller Nationen in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahr-
hunderts ein zweites Heim fanden, wo der Valencianer Martini gleichzeitig
mitMozart mit seinen melodienreichen, aber geistesleeren Opern Triumphe
feierte^), hat lange Jahre hindurch der Abbe Antonio da Costa gelebt,
mit Kummer und Not auf seiner Geige gespielt und Noten geschrieben ^).
Weder in der Heimat, noch in Italien, noch in Österreich, in keiner
der „cinco na^öes differentes^, welche er durchwanderte, hat dieser
Portugiese Ruhe und Befriedigung finden können. Seine in Rom und
in Wien geschriebenen Briefe, die eine pietätvolle Hand sammelte
und herausgab*), wenn sie auch Interessantes über die musikalischen
Zustände seiner Zeit enthalten, sind nicht weniger als schmeichelhaft
für den Italiener und für den Deutschen und dürfen wohl, will man
*) Die «Cartas familiäres, historicas, politicas e criticas** des Cavalleiro Francisco
Xavier de Oliveira, welche in 3 Bänden 1855 erschienen, konnte ich leider nicht lesen.
— Bis Anfang der 80 er Jahre hat Oliveira Wien mehrmals besucht
*) Die Partitur seiner Oper: „Paris und Helena** ist Gluck dediziert.
>) Man lese fiber ihn den Aufsatz J. Vasconcellos: „D. Joao Carlos de Bragan^a,
segundo Duque de Lafoes** im «Plutarcho Portuguez** (B. II. H. VII, S. 49 ff.). Nach
seiner Rückkehr nach Portugal hat der Herzog von Lafoes, Wien, sowie London, Paris
und Rom besacht
*) Über Martini, den man auch in Wien ,lo Spagnoletto** nannte, finden sich interes-
sante Mitteilungen in Lorenzo da Ponte „Memorie** Nuova-Yorca 1829, B. I. T.
11, S. 70; 96 tt).
') Einige seiner Kompositionen dürften noch als Ms. in der Wiener Hof-Bibliothek
aufbewahrt sein.
*) «Cartas curiosas do Abbade Antonio da Costa annotadas e precedidas de um en-
saio biographico por Joaquim de Vasconcellos.** Porto. 1878.
880 Artur Farinelli.
sie irgendwie entschuldigen, als Ausdruck gereizter Stimmung aufge-
gefafst werden. Hat Costa in diesem oder jenem einen Fdiler ent-
deckt, so glaubt er sich berechtigt über die ganze Nation seinen er-
habenen Tadel auszusprechen. In einem von Wien, 24. Dezember 1774
datierten Brief wollte Costa eine Charakteristik der Deutschen liefern,
imd reihte, nach Art der in Italien verfafsten Episteln, Schmähungen
an Schmähungen aneinander (S. 64 ff.). Durch beschränkten Verstand,
durch Gefühls- und Empfindungslosigkeit, durch Mangel an Grofsmut,
an Bescheidenheit, an Aufrichtigkeit und Edelmut, durch eine Geld-
gier, welche zu niedrigen Handlungen führt, durch Excentridtät,
Neid und Rachsucht, sollen sich die Deutschen, nach dem Urteil
Costas, von den übrigen Völkern auszeichnen^). Man gelanget mit
Mühe an den Schlufs der Epistel und man findet nur einen Trost in den
Schmähungen, mit welchen d^ gute portugiesische Abbe sein eigenes
Vaterland selbst hat beschenken wollen.-
Als Begleiter von hohen Herrschaften, von D. Jose de Silva
Bazan, Marques de Sta. Cruz und seines Bruders D. Pedro de Silva,
durchwanderte 1 780 und 8 1 Don Jose de Viera y Clavijo, Arcediano von
Fuerteventura, Verfasser eines sehr brauchbaren vierbändigen Werkes:
„Noticias de la historia general de las islas de Canarias'^ (Madrid 1 778
bis 83) und eines schnell verschollenen Gedichtes in 6 Gesängen ^Los
aires fixos" (Las Palmas 1775), einen Teil von Deutschland und
Österreich und schrieb dann in einem erst 1849 erschienenen Buche seine
Reiseeindrücke nieder ^). Ein trostlos trockenes, kindisches, unverdau-
') Nur eine Stelle aus diesem merkwürdigen Brief sei hier wörtlich angeiiUirt: S. 64 f.
«V. M, ter4 ouvido dizer que os Allemaes 6 gente muito romba de jui2o e a meu Ter
nao Ihe faz injuria quem o die; eu ao menos achei-a tal, mais do que esperaya,
porque suppunha grande encarecimento nas informa^oes dos italianos, e outras na^öcs
que teem para si que f6ra d'ellas näo ha juizo fino; com effeito estes homens sao de
pouquissinfa vivesa de cabe^a e de cora^ao no considerar as cousas, e sentil-as; dälbe
poucos passos o espirito; pasmados e insensiveis föra de modo; d*onde V. M. podetirar
fadlmente que no seu cora9ao ha menos bondade, e menos maldade, .... mas n^essa
bondade eu näo vejo nada da que 6 digna de estima9ao considerave! ; quiero dizer
d*aquillo que se chama virtudes finas, como sinceridade, rasgo, modestia, generosidade
& latina, ou nobreza de ac^oes u. s. w.** ^
*) „Viajes i Pranda, Plandes, Italia 7 Alemania en los afios de 1777 i 1781
de D. Jos6 de Viera y Clavijo, escritos por el mlsmo.** Santa Cruz de Tenerife 1849.
— Unbekannt ist mir, ob die „observaciones de Uteratura y bellas artes dignas de
memoria*^, welche der aus dem hohen spanischen Adel stammende D. Juan Pablo AragoD
Azlör in seiner um das Jahr 1777 unternommenen Reise durch Deutschland „notierte^S
Deutschland u. die deutsche Litteratur im Lichte der spanischen Kritik u. Poesie. IV. 881
liches Tagebuch, dafs meist von Kirchendienst, von Mahlzeiten, von
faden Besuchen spricht. Der Leser erhält gleich viel Belehrung, ob
er das Buch offen oder geschlossen hält. Naturschönheiten üben auf Viera
y Clavijo keine Anziehung aus. Eine Stadt ist ihm ebenso gleichgültig
wie die andere. Er datiert sein Geschreibsel von Graz, Wien, München,
Augsburg, Ulm, Mannheim, Worms, Koblenz, Bonn, liefert aber als
^Ergebnis seiner Beobachtungen so g^t wie nichts. In Ulm (S. 57)
sieht er gewisse Leute, welche den Boden ihres Hauses wuschen,
und schliefst daraus, dais die Ulmer recht höfliche und anständige
Leute sein sollen ^). Die meiste Zeit hat er in Wien zugebracht. Hier,
wo der Herzog von Lina, spanischer Gesandter am russischen Hofe,
ein halbes Jahrhundert zuvor die traurige Rolle, welche Spanier
vom Stande am Hofe und in der Gesellschaft spielten, bedauerte ^,
rühmt er das splendide, gastfreundliche Leben gfrofser Herrschaften;
er lernt Metastasio kennen, welcher trotz seines vorgerückten Alters
g^ofee Lebhaftigkeit, frisches Gedächtnis und Liebe zu den spanischen
Büchern zeigte" (November 24; 1780.). Von Wien selbst entwirft
Viera y Clavijo in einem vom 10. Juni 1781 datiertem Briefe seiner
„Cartas familiäres" folgendes Bild: „Es gibt hier gute Strafsen,
schöne Plätze, eine grofse Anzahl Kutschen, wohlhabende Leute, eine
vortreffliche Beleuchtung in der Nacht mittelst kristallener Laternen.
Ein glänzender Adel, ein offenes Wesen, freundliche Gastmähler bei-
nahe jeden Tag, so dafs wir mehr als 20 Unterhaltungen, oder, wie
wir sie nennen, sehr gewählten Tertulias von Damen und Kavalieren
beigewohnt haben« Ein aufserordentlich frommes Volk, keine sehr
schöne Kirche, nicht weniger als 4000 Professoren der Musik, wie
man mir versicherte, schöne Paläste, eine grofse Bibliothek" •).
und von welcher in einem phrasenreichen Discurso des Marquis de Moiins „Contestacion
al discurso del duque de Villahermosa'* („Memorias de la Academia Bspaflola**. Madrid
1884 Vm, 80) die Rede ist, irgendwo aufbewahrt blieben.
*)„... me parederon muy corteses y aseados, pues vimos muchos que estavan
lavando el suelo de sus casas*^
*) „Diario del Viaje 4 Moscovia del Embajador Duque de Liria y X^ca (1727
bis 30)" in „Coleccion de documentos in^ditos para la historia de Espafla" Madrid 1 889.
S. 43 „Un Espafiol de nacimiento .... hace el mds infeliz papel en Viena que se puede
imaginär; .... Es muy rare que un espafiol est^ convidado i alguna fiesta, d menos
que sea algun Ministro*'.
*) wCartas familiäres escritas por D. Jos^ Viera y Clavijo*. Anhang zur ^Reise**
S. 19: Diese Reise durch Österreich und Deutschland erwähnt auch Viera y Clavijo im
nProloge*« des 4. B. seiner ^Noticias de la historia general de las islas de Canarias**,
8B9 Artur Parinelli.
Im Sommer 1 793 unternahm der begabteste Dramatik^ Spaniens
seiner Zeit: Leandro Femändez de Moratin eine Reise nach Italien,
nachdem er bereits längere Zeit in Paris und in London verweilt
hatte, nachdem er, Dank der Unterstützung des Ministers Godoy, sich
in das Theater Frankreichs und Englands gründlich eingearbeitet hatte.
Er ging von London aus über Ostende, Brüssel, Köln, Frankfurt,
Freiburg, Schafihausen, Zürich, Luzem, über den St. Gotthard, nach
Mailand, Parma und Bologna. Seine Reiseeindrücke schrieb er in Form
von Tagebüchern in aller Hast, ohne jede Überlegung nieder. Lange
nach dem Tode des Dichters wurden sie von seinem Verehrer Manuel
Silvela gesammelt und als „Obras postumas^^ herausgegeben^. Sie
sind meistens von trostloser Trockenheit und, was die Anmerkungen
über Deutschland und die Schweiz betrifft, so unbedeutend, dafs man
sie auch gerne unveröffentlicht gesehen hätte '). — Deutschlands Kultur
und Litteratur sind Moratin gänzlich unbekannt. Er reist durch klassische
Gegenden, durch Goethes Vaterstadt und sieht alles mit gleichgiltigem
Auge; er erwähnt nicht einen Dichter, nicht einen Schriftsteller; er,
welcher zu den feinsten, schärfsten und gründlichsten Geistern Spaniens
gehörte, der über England und die englische Litteratur manche fein-
sinnige Urteile gefallt hatte, der später das italienische Theater scharf
und richtig, wie kaum ein Italiener zu seiner Zeit analysieren sollte;
er fährt in Deutschland eiligst von Stadt zu Stadt; er zeichnet im
trockensten Tone auf und reiht nach Art eines gezifferten Gegenstands-
kataloges die Gegenstände, die ihn am meisten interessieren, aneinander.
Und was ihn in Deutschland interessiert, ist das materielle, nicht das
geiistige Leben. Er hat kein Verständnis für die bildende Kunst, für
die Kunst überhaupt^). Der Kölner Dom läfst ihn, so wie später der
(Madrid 1783) ... «ya por los afios de 1780 y 81 haciendo todo el giro de Italia
pasando ä Viena de Austria, donde pennanecf cincö meses (bis zam Beschlüsse der
Hochzeit des Marquis von Santa Cruz mit der Gräfin Biaria Anna von Waldstein))
viajando despues por la Baviera, la Suavia y ciudades del Hajo Rin, y dando en fin la
vuelta, por Bruselas y Paris d nuestra Corte**. Vgl. auch A. Morel-Fatio. Etudes sur
TEspagne. D. S^rie ^Grands d*Espagne et petits princes allemands** etc. Paris 189a
Appendice V. S. 380 f.
*) „Obras pöstumas de D. Leandro Ferndndez de Moratin, publicadas de Orden
y ä expensas del Gobierno de S. M." Madrid 1867 ^Vlaje de Italia* I, 271 ff.
*) „Parece el inventario de un escribano** nennt Men^ndez y Pelayo mit Recht
die Reiseerinnerungen Moratins in der „Historia de las ideas est^ticas de Espaöa**.
T. III. V. n. S. 239.
*) Auch anderen begabten Spaniern, Moratins Zeitgenossen, erschien die ganze
deutsche Kunst nicht viel mehr als Barbarismus. Während z. B. Albrecht Dürer in
Deutschland u. die deutsche Litteratur im Lichte der spanischen l^tik u. Poesie, IV. i&i
Dom zu Mailand kalt, und er schreibt darüber (I, 282): „Die Kathedrale
ist ein gothisches Werk, welches, wenn es vollendet g^ewesen wäre',
zu den riesenhaftesten Bauten Europas zählen würde; man findet sehr
alte Bilder darin und einen ungeheuren S. Christophorus^^ Kein Wort
mehr als das. Vielleicht hat sich Moratin die Mühe erspart, das
Innere des riesenhaften Münsters zu betreten, worin Vincenzo Carducho
anderthalb Jahrhundert früher „pocas luzes y mucha tristeza, sin
ninguna hermosura^ fand*). Dafür läfst er sich in den „posadas^^
Deutschlands, die er etwas besser findet als die spanischen, das Essen
und Trinken wohl schmecken und rühmt in einer Kneipe Oppenheims
die „sopa con huevo desleido, ä la alemana^^ den „buen asado de
camero^^ Er findet oft Ähnlichkeit mit spanischen Gegenden, die Ebene
bei Köln erinnert ihn an die Felder Alcaläs, so wie die Stadt Zürich
Alcalä selbst gleiche, Mannheim erinnert an Aranjuez, die Umgebungen
Schaffhausens an Guipuzcoa. Überall findet er grofse Reinlichkeit;
nur die „atmösfera espesa^^ der „pestilente humo de tabaco'^ in den
Ka£feehäusern ist ihm unleidlich. Es scheint ihm ganz sonderbar,
dals Frauen in Deutschland Feldarbeiten verrichten, dafs sie
in allem wahre, treue Gefährtinnen der Männer sind. — In Köln
fallen ihm die krummen Gassen, die alten Häuser mit ihren
„frontispicios puntiagudos y repiqueteados^^ auf. Er findet Wappen-
schilde an allen Ecken, einen sehr zahlreichen Adel. ,|Aus Mangel
an Laternen müssen in der Nacht recht viele Zusammenstöfse
stattfinden*^ Ein naturhistorisches Kabinet, wo man ihn wohlwollend
früheren Zeiten grolse Bewunderung in Spanien fand, von Carducho („DÜlogo de la
pintura**), von Pacheco („Arte de la pintura") gepriesen wurde. (Vgl. ein interessantes
Kapitel: „Influeoda de Dürer na Peninsula e especialmente em Portugal** im Buche
J. Vasconcellos* „Albrecht Dfirer easua influencia na peninsula** Porto 1877. „Archeologia
artistica** (V. I T. I. S. 55 ff.) konnte Azara, der Herausgeber der Werke Mengs, skrupellos
folgendes über den grofsen deutschen Meister drucken: „si hubiera nacido en Italia, habria
llegado i mayor perfecdon; pero ni ^1, ni sus imitadores podian salir del barbarismo, no
viendo otras formas que las de las figuras de su pais, ni otros ropages que los extra-
vagantes de su tiempo**. Vgl. „Obras de D. Antonio Rafael Menge publicadas p. D. J.
Nicolas de Aiara**. Madrid 1780 S. 363. — S. 90 werden die Niederländer „groseros
imitadores de la Naturaleza** genannt.
') V. Carducho: „Di^ogo de la pintura, su defensa, origen, essSda, definidon,
modos y diferencias. Madrid 1633. f. 19. — Anders freilich urteilte über den Kölner Dom,
über die Kunstdenkmäler Deutschlands überhaupt, der in Berlin begrabene, Alexander
von Humboldt und Tieck wohlbekannte, fein und tiefiühlende, liebenswürdige Dichter
Enrique Gil in seinen Reiseerinnerungen durch Deutschland. Vgl. „Obras en prosa de
D. Enrique Gil y Carrasco**. Madrid 1883 I, 461 ff.
Ztschr. t vgl. Litt.-Geflch. N. P. Till. 25
384 Artur t^arinelU;
empfangt, bringt ihn in Entzücken. Bonn, Koblenz, die reizenden
Rheinufer entlocken ihm nichts weniger als enthusiastische Schilderungen.
Über Mainz eilt er schnell hinweg und notiert sich nur, dafs die Stadt
von den Preufsen halb zerstört sei. In den Staaten des Markgrafen
von Hessen-Cassel ist ihm doch nicht der schändliche Menschen-
handel entgangen, der immer rüstig weiter getrieben wurde, wenn er
auch den deutschen Patriotismus tief verletzte, Schubart ihn mit bitterem
Hohn in verschiedenen Briefen und besonders im vielgesungenen,
markigen, unvergänglichen „Kaplied" (1787) brandmarkte und Schiller
in „Kabale und Liebe" rügte. „Der Markgraf, sagt Moratin (I, 285)
„handelt mit Menschen, unterrichtet seine Soldaten, dann vermietet er
sie so und so viel per Stück jedem beliebigen Fürsten, der sie auf
eine gewisse Zeit verlangt. ... Es gibt Zeiten, in welchen er sie
sämtlich ausliefert, ohne dafs einer unter ihnen lebendig heimkehre, als-
dann läuft ihm viel Geld in die Kasse ein. Dieses Geschäft zeigt, dafs das
Schicksal der Menschen nicht gar so verschieden ist von dem der Kalber,
wie man denkt" *). — Im „grofsen, bevölkerten, reichen Frankfurt" fallt
unserem Moratin nichts mehr, als das Judenviertel, dessen Einwohner
„narigudos, aceitunados, hediondos" und die Jüdinnen „tan bonitas
como ellos" auf. kein bemerkenswertes öffentliches Gebäude in der
Stadt, der alte Teil ist gar häfslich. Mannheim hat dem Spanier
besser gefallen. Die neuen Paläste, die breiten Strassen, der Markt-
platz, das Rathaus, das Theater, die Bildergallerie, worin er fast aus-
schh'efslich Gemälde aus der Verfallzeit, eines Guido, Carracdo,
Caravaggio, Luca Giordano bemerkt, haben ihm imponiert. Von
Mannheim nach Schwetzingen, Rastatt, Freibiu"g bis zur schweizerischen
Grenze sind die Aufzeichnungen Moratins unbedeutend; wenn er da
den Fleifs und die Reinlichkeit der Einwohner lobt, dort sich an der
üppigen Vegetation erfreut oder die Kunstarmut bedauert, den Mangel
an den sonst sehr zahlreichen Kreuzen auf Strafsen und Brücken
hervorhebt und einmal vom gewaltigen Schnauz eines Husaren spricht,
der sein ganzes Zimmer in Schatten steckte, so ist uns das alles recht
gleichgihig. In Freiburg erfreut den Spanier die grofse Offenherzig-
keit, die Einfachheit und Fröhlichkeit der Einwohner« Schaffhausen *)
*) Ober diesen Menschenhandel vgl. Kapp: „Der Soldatenhandel deutscher
Fürsten nach Amerika** (2. Auflage) Berlin 1874 und Minor: „Schiller** ü, I47ff; 6oi£
') Ober <lie Reise Moratins durch die Schweiz und dtn Gotthard nach Belliniona
und Lugano sprach ich bereits im ^Bollettino storico della Syizzera Italiana** 1893.
„Leandro Femdndez de Moratin e il Canton Ticino".
Deutschland a. die deutsche Lltteratur im Lichte der spanischen Kritik tu Poesie. IV. 886
ist eine kleine, armselige und schmutzige Stadt. In Zürich (I, 295)
sind die Häuser nichts weniger als elegant, die Strafsen sind schlecht
bepflastert, krumm und dunkel. Kein Kaifeehaus, kein Versammlungs-
lokal, keine Bibliothek, die mehr als 50 Bände enthält. Moratin sieht
hier ein Arkadien, das idyllische Land des Idyllendichters Gessner.
Die Züricher selbst sind von vortrefflicher Natur, für die dramatische
Kunst erweisen sie sich aber als untauglich. Die Frauen sind häfs-
lieh, sie kleiden sich blos an, um nicht nackt zu erscheinen. In
Luzern, wie überall in der Schweiz, ist Mangel an Schauspiel- und
und Kafleehäusern, an Kutschen, an prunkvollen Palästen. Die Sitten
der Schweizer sind einfach, das Volk aber ist entkräftigt, die Freiheit
ist überall gefährdet.
Im gleichen Jahre wie Moratin hat der gelehrte Verfasser der
„Origine, Progressi e stato attuale di ogni Letteratura^S der Abbe
Juan Andres Deutschland besucht und seine Reise nach Wien in
einer ausfuhrlichen Epistel an seinen Bruder Karl beschrieben. Andres,
einer der hellsten Köpfe unter den spanischen Ausgewanderten in
Italien, ein bienenfleifsiger Forscher, Verfasser des wertvollen, heute
noch brauchbaren „Catalogo dei Codici mss. della. famiglia Capilupi^S
(Mantova 1 797) ein liebenswürdiger, zu jedem Dienst bereiter Mensch hatte
leider von Deutschland und von der deutschen Litteratur eine durch und
durch oberflächliche Kenntnis und in seinem grofsen Werke, so oft er
deutsche Schriften besprach, blos Phrasen an Phrasen aneinandergereiht.
Was mein gelehrter Freund Menendez („Historia de las ideas esteticas^*
T. III, V. n, S. iio) fest behauptet: Andres habe Lessing und Klop-
stock in der Originalsprache gelesen, möchte ich ernsthaft bezweifeln.
Doch stand Andres in Deutschland in hohem Ansehen. Herder hatte ihn
bei Gelegenheit seiner italienischen Reise kennen gelernt und Ende 1789
oder Anfangs 1790 an Goethe, als dieser sich zur zweiten italienischen
Reise anschickte, geschrieben, er solle doch den Abbate Andres, den
Verfasser der Storia d*ogni Letteratura besuchen, der ihm sehr dienst-
fertig sein würde *). Geming widmet in der Beschreibung seiner
„Reise durch Osterreich und Italien^, ein Kapitel der Charakteristik
') Goethe -Jahrbuch Vm, 37. — In seiner zweiten italienischen Reise gelans^
Goethe in der Tat bis nach Mantova, doch scheint er nach dem, was er von hier aus
an Herder schreibt, den liebenswfirdigen Spanier nicht besucht zu haben. „Aus
Herders Nachlafs", Frankfurt a. M. 1856, I. 123.
25*
886 Artur Parindll.
unseres Spaniers •). Andres „Origine e progressi" war in Deutsch-
land ein sehr verbreitetes, vielgelesenes Buch. Wie oft Herder in
litterarhistorischen Fragen sich auf Andres stützte ist bereits erwähnt
worden (II. Teil)*). — Grundlage für sämtliche Urteile Andres' über
die deutsche Litteratur sind die berühmten, geistsprühenden Briefe
Friedrichs des Grofsen: „De la litterature allemande*^ Jerusalems
Schrift über die deutsche Sprache und Litteratur und Bielefelds
„Progres des Allemands*^ Aus seinem Ärmel hat der Spanier
deutsche Namen geschüttelt, die nichts als leere Namen bedeuten.
Im gleichen Haufen werden Dichter ersten und minderen Ranges
zusammengeworfen. Böttiger erscheint (III. T. 11, S. 97) neben Goethe
und Wieland, Gessner neben Klopstock, Kotzebue neben Goethe und
Schiller (II, 249). Das Lob über dieses oder jenes litterarische Er-
zeugnis ist regelmäfsig von einer Zensur begleitet und die Zensur
überwiegt meistens das Lob. — Im deutschen Pamass war alles dunkel
und leer vor Opitz. Erst nach Meister Martin „hat Deutschland einige
Blüten hervorgebracht" (II, 54). Logau, Fleming, Canitz, Brockes,
Günther, Wemicke werden stramm wie Soldaten nebeneinander
gereiht) sie sollen die „felici albori della poesia alemanna" ver-
kündigen. Es folgen Bodmer und Hagedom, beide „Patriarchen der
deutschen Poesie", hierauf Geliert (II, 56), dessen Gedichte das Herz
rühren und in Entzückung bringen, dann Lessing, welcher mit Geliert
um die Palme ringt und sie in der Fabel sowohl wie in der Dramatik
wirklich erlangt; nach Lessing: Klopstock der Homer, Ramler
der Horaz, Gleim der Tyrtaeus der Deutschen. Denis, Gessner und
Haller haben dann „von der Höhe der Alpen zarte und sufse,
erhabene und volltönende Gesänge in ganz Europa erschallen lassen'.
Wieland hat Sprache und Poesie auf einen solchen Grad der Voll-
kommenheit gebracht, dafs sie kaum höher gelangen können. Es
folgen Nicolai, Voss, die Stolberg, ein paar andere. Nur Goethe
^) J. J. Geroing: ^Reise durch Österreich und Italien**, Prankfurt a. M. 1802. T. m
S. 363 ff, wo behauptet wird, dals Andres Herder und Goethe von Angesicht sah.
*) Die 1. Ausgabe des Werkes Andr^^ blieb mir leider unzugänglich. Ich benutzte
die vermehrte 5, verbesserte von Pisa: ^I^eir origine, progressl e stato attuale di ogni
Letteratura di Giovanni Andr^. — Nuova edizione conforme all* ultima di Roma coo
giunte e correzioni dell' autore, Pisa 1829. — Recht dürftig werden die Urteile Andres'
bei Thiemann „Deutsche Kultur" u. s. w., S. 42 ff, 7a; 86 besprochen. — Ch
Aug. Fischer hatte bereits in seinen ,,Spanische Miscellen", Berlin 1803 I, 221 ff. im
Kapitel „Über die Poesie der Deutschen", der Seltenheit und Lächerlichkeit wegen,
Andres* Urteile über die deutsche Litteratur gesammelt
Deutschland u. die deutsche Litteratur im Lichte der spanischen Kritik u. Poesie. IV. 887
und Schiller fehlen in der Rubrik. Der Geist der deutschen Sprache,
sagt dann Andres (II, 157) ist zu verschieden von dem der
romanischen, als dafs wir nicht allein nachahmen und folgen, sondern
selbst die wahren Schönheiten der deutschen Dichter gänzlich ge-
nieisen können. Er tadelt dann in den Schriften der Deutschen die
zu grofse Ausführlichkeit, die metaphysischen Gedanken, die ofi:
ajBfektierten Ausdrücke (als ob er die Deutschen mit den Spaniern
verwechselt hätte) und wünscht mehr Behendigkeit des Stiles, mehr
Natürlichkeit, Feinheit und Zartheit der Gefühle. — Im Abschnitt
über das Theater kehrt er wieder zu den Deutschen zurück. Er
fafst die Urteile anderer zusammen, fangt mit der Neuber an und
endigt mit Kotzebue. So konfus wie nur möglich wird der Produktion
von: J. E. Schlegel, Cronegk, C. F. Weisse (der deutsche Crebillon)
und Lessing gedacht. Lessings „Freigeist" (er übersetzt „Spirito forte")
und „Miss Sara Sampson^^ bedeuten ihm viel. Diese letzte bürger-
liche Tragödie möchte er auf die Höhe der besten weinerlichen
Stücke der Franzosen stellen, wenn sie nur mit den ausgedrückten
feinen, zarten, edlen Gefühlen weniger Metaphysik enthielte und die
Handlung geschürzter wäre. „Emilia Galotti" lobt er nur, weil das
Stück auf allen Theatern grofsen Erfolg hatte. „Minna" und „Nathan^^
kennt Andres nicht. Nach Lessing erwähnt er Brawe, AyrenhoflF,
CoUin, Schiller und Goethe. Von Schiller, der schon längst ge-
storben war, als Andres sein Werk verbessert und vermehrt wieder
herausgab, wurden nur „Don Carlos^^ und „Wallenstein^^ genannt,
beide „eher politische Gemälde, als Dramen^S Lächerlich und seicht
ist, was sonst noch von Schillers Vorzügen und Schwächen gesagt
wird. Goethe ,,ein gelehrter, feinsinniger und schönerer Geist als
Schiller" ist blos mit der „Iphigenie" vertreten. Natürlich giefst der
Spanier seinen Tadel auch auf den gröfsten deutschen Dichter
und wirft ihm eine zu grofse Freiheit und Unabhängigkeit in der
Anwendung dramatischer Regeln vor, einen Hang zum Philosophischen
und eine Raffinatesse, welche dem Theater eher schadet, als nützt
Kotzebue, der am Schlufs des Jahrhunderts überall in Europa mafs-
losen Erfolg erzielte, mufste in den Augen Andres\ mehr bedeuten
als Goethe und Schiller. Doch wird auch an ihm Kritik ausgeübt
und ihm Trivialität, Mischung des Erhabenen und Komischen, die
lockere Intrigue vorgeworfen. — Andres hat auch seine Meinung über
die deutsche Philosophie nicht verschweigen wollen. Mendelssohn (er
hat stets Jerusalems Schrift vor sich) zieht er Kant und Fichte vor (VI,
868 Aftur ParinellL
370 ff., doch gesteht er Kant wohl einen tiefen, scharfen Verstand zu
III.T. 111,8.39), allein die Liebe zum Neuen, der Ehrgeiz, in philosophischen
Spekulationen über andere glänzen zu wollen, sollen ihn auf krumme,
domige Wege gefuhrt haben „dove non trovasi che pochisstmi
firutti e molti bronchi, triboli e oscuritä^S — In der bukolischen
Dichtung (II, 150) soll den Deutschen ihr Phlegma, die Gabe einer
peinlichen genauen Naturbetrachtung zu gute gekommen sein. —
EKe deutsche Sprache findet Andres (III. T. II, S. 39) nicht gefeilt
genug und für die Beredsamkeit wenig tauglich ^).
Wertvotter als diese durchaus unselbständigen Urteile über die
deutsche Litteratur ist der oben erwähnte Brief, den der Verfasser der
nOrigine^ von Wien aus an seinen Bruder in Spanien schrieb. Hier
spricht Andres über Menschen und Dinge aus eigener Anschauung;
er urteilt, über Gelehrte, mit denen er meist zusammengetroffen ist
Die Epistel wurde unter dem Titel: „Carta del Abate D. Juan An-
dres ä SU hermano D. Carlos Andres dandole notida de la literatura
de Viena^ in Madrid 1 794 gedruckt (vollendet wurde sie in Mantova am
30. November 1793) und ist auch den bekannten „Cartas familiäres^ An-
dres' einverleibt, ins Italienische und ins Deutsche übersetzt worden'). —
Land und Leute, das bunte, bewegte Treiben des sonnigen, heiteren,
gemütlichen Wien haben keine Anziehungskraft auf den Spanier aus-
üben können. Er hat im Januar 1793 als Begleiter des Sohnes des
Marquis Bianchi seine Reise angetreten und bloa zwei Monate des
') nUna certa trasposizione stentata ed oscura delle proposUioni e dei versi, im
pesante afiastellamento di parentisi, una nojosa diffusione di tutto lo Stile rende b
maggior parte degli scritti tedeschi diflficÜi e disgustosi agli stessi nazionali''.
') „Cartas familiäres i sa hermano D. Cdrlos, dandole notida de! viaje que hizo
i varias ciudades de Italia en los afios 1785 — 88 y 91 7 de la literatura de Vieoa*
Madrid 1791 — 94. — In Weimar 1793 erschien eine a-bändige Übersetxung davon von
C. A. Schmid : «Don Joan Andr^ Reise durch verschiedene Städte Italiens in den Jahren
1785 und 1788 in vertrauten Briefen an seinen Bruder Don Carlos Andr^". — Ob
diese Übersetzung fortgesetzt wurde, ist mir nicht bekannt — Geming „Reise** III, 263
spricht von einer deutschen Übersetzung des letzten Bandes von Andr^ , Litterarge-
schichte", welche „ehestens fertig werden soll*, und in welcher Andres „sein voriges
Urteil Ober Teutschlands Litteratur . . . freundlich berichten* sollte, und wdche, meines
Wissens, niemals zu Stande gekommen ist. — Im gleichen Jahre wie die italienische
Übersetzung des Briefes Ober Wien «Lettera sulla letteratura Viennese" von Prof. Luigi
Brera (1795) ist die deutsche erschienen: „Sendschreiben des Abate Andres über das
Litteraturwesen in Wien. Mit vielen wichtigen Zusätzen des Herrn Doktor Aloys Brera,
aus dem Spanischen ins Deutsche übersetzet" (von Jos. Richter). Wien 1795. Ich
eitlere zugldcb aus dem spanische» Original und aus der deutschen Übexsetzung.
Deutschland u. die deutsche Litteratur im Lichte der spanischen Kritik u. Poesie. IV. 889
Strengsten Winters in der Hauptstadt verlebt. Seiner Lebensweise
gemäfs hockte er lieber auch in Wien in der Bibliothek, als dafs er
sich mit Menschen im Freien zurecht fand. Er hat selten die Nase
aufserhalb geschlossener Räume gesteckt, er hat auf die schöne Stadt
nur einen flüchtigen Blick geworfen, nichtsdestoweniger will er be-
haupten, dafs Wien in Ansehung der bildenden Künste sehr wenig
bietet, dafs alle Paläste, derjenige des Fürsten Lichtenstein und des
Prinzen Eugen ausgenommen, geschmacklos sind, dafs die Kirchen
unschön sind, der Stephansturm merkliche Fehler aufweist und mit einem
Walde vergleichbar ist, wo es zwar einige angenehme und schöne
Pflanzen gibt, der aber gröfstenteils aus Gebüschen und Dornen be-
steht. Wissenschaftliche Sammlungen, Archive, Museen sind in Wien,
wie überall die Liebhaberei, das Lebenselement Andres'. Er vermag
den Staub der Bücher nicht von sich abzuschütteln. Er wird mit dem
Abbe Eckel, Verfasser des „Catalogus Musei caesarei Vindobonensis
nummorum veterum", der „Doctrina num. vet." bekannt, der ihm unter
anderem seine noch ungedruckte Lobschrift auf Bayer zeigt, worin
er den gelehrten Spanier gegen Tychsens Angriffe verteidigt. Er
kennt auch den Hofrat Schmid, Direktor des kaiserlichen Archivs,
Verfasser der „klassischen^^ Geschichte der Deutschen, er ist befreun-
det mit Prof. Jacquin, Verfasser des „Hortus botanicus Vindobon.",
der ihn mit Wohlwollen empfangt und mit g^ofser Achtung von
Ortega und Cavanilles spricht und bedauert, seit langer Zeit den
Briefwechsel mit den Spaniern abgebrochen zu haben. Mit Ärzten
und Naturforschem sowohl, wie mit Litteraten, Dichtern und Philo-
logen tritt Andres in Verbindung. Er gibt statistische Angaben über
die Verfassung der Lehranstalten; er unterrichtet über die Gattungen
der öffentlichen Vorlesungen; er gibt uns einen Namenkatalog von
Professoren aus allen Fakultäten. Das alles ist fleifsig, gewissenhaft
niedergeschrieben, aus sicheren Quellen geschöpft, bietet für uns aber
kein Interesse mehr. — Wien kann aber nicht, meint Andres, als
eigentliche gelehrte Stadt angesehen werden, es fehlen Akademien,
die wissenschafdichen Anstalten anderer grofser Städte; Kriegs-
kanzleien, Zeughäuser, Kasernen und andere militärische Einrichtungen
machen in Wien die Kollegien und Akademien aus. Die „schönen
Wissenschaften" jedoch, die vormals in Wien nicht blühten,^ findet
Andres nunmehr in ihrem höchsten Glänze.*) — Ein Triumvirat der
') Am Schiasse der Epistel aber bricht Andr^ in Klagen aus Ober die n^uy mal
parada literatura de Viena . . . reducida d dos 6 tres poetas y Üteratos saperficiales**.
Einer unter den verschiedenen Widersprüchen in der ^Carta** des Spaniers.
390 Artur FarineUI.
Reform des guten litterarischen Geschmackes in Wien findet der Spa-
nier in Denis^ Sonnenfels und Retzer. Mit Denis war Andres intim
befreundet und wechselte auch später nach seiner Rückkehr nach
Italien mit ihm Briefe. Denis gehörte in die Zahl der guten Schrift-
steller, deren Werke man sowohl in gebundener als ungebundener
Rede für klassische hält. Er sei einer der ersten, welche in Wien
den guten Geschmack in der deutschen Prosa und Dichtkunst ein-
führten. Von Sonnenfels werden die „Briefe über die Schaubühne"
erwähnt, die zierliche Sprache, der reizende Stil, die kraftvolle Beredt-
samkeit gelobt. Seinem litterarischen Eifer und der Gründlichkeit
seiner Schriften verdankt das deutsche Theater in Wien seine
Umschaffung. Sein „Mann ohne Vorurteil" bekämpfte im Tone einer
gewählten Satire die Vorurteile eines jeden Standes, und seine „The-
rese und Eleonore" brachte dem schönen Geschlechte Grundsätze
der Sittlichkeit und des guten Geschmackes bei. Unter die vorzüg-
lichsten Schriftsteller Wiens zählt auch General von Ayrenhoff, der
Verfasser des „Postzuges", des einzigen deutschen Theaterstücks,
welches vor Friedrichs des Grofsen strengem Richterstuhl Gnade
fand*). Als eine andere Zierde des wienerischen Parnasses gilt
Alxinger, von dem Andres die seltene Gabe hat rühmen hören: hohen
Schwung mit äufserster Korrektheit, Delikatesse, Leichtigkeit und
höchste Sprachremigkeit zu verbinden. Zu den jüngeren begabten
Dichtem zählte Haschka, dessen Ode auf den Tod Ludwigs XVI.
(verfafst, während Andres in Wien war), für ein Meisterstück der
deutschen Dichtkunst gilt. Dafs der gute Abbe Andres über Blumauers
berühmte Parodie, die er nur aus den Berichten anderer kennen ge-
lernt hatte, die Nase rümpfte, versteht sich von selbst. „Unter seinen
übrigen poetischen Werken hat ihm seine travestierte Aneis einen
grofsen Namen gemacht; er setzt darin die Geistlichkeit und die
') S. 96. «Como has visto en el opuscolo del rey de Prusia, que traduxo ahi tu amigo
Don Josef Malleut y Romeu, sobre la literatura alemana** (in der deutschen Übersetzung
der Carta Andr^* erscheint der Name des Katalanen in der verstümmelten Form (S. 154)
Malente Romen). Diese auch sonst nur von Jos. Hager ^ Reise von Wien nach Madrid*^,
Berlin 1892 (vgl. «Neue allgem. deutsche Bbl. III, 317) erwähnte spanische Übersetzung
der Schrift Friedrichs II. «De la litt^rature allemande** erschien 7 Jahre vor der Ab-
fossung 'der Epistel Andr^\ «Discurso sobre la literatura Alemana, los defectos que se
le pueden objetar, quales son las causas, y quales los medios para corregirlos; escrita
en Franc^ por Federico 0. Rey de Prusia y traducida al Castellano por D. J. J. M. R.
Mildrid 1787.
Deutschland u. die deutsche Litteratur im Lichte der spanischen Krittle u. Poesie. IV. 391
Mönche ins Lächerliche und unterhält durch solche Possen, die wider
Sittlichkeit und Religion sündigen. Dieses Gedicht ist zwar voll Witz,
allein ich kann es nicht billigen, dafs man den Verstand und die
Dichtkunst auf solche unwürdige .Gegenstände verwende". — Auch
über die grofse Verbreitung der italienischen Litteratur in Wien gibt
uns Andres Auskunft. Es gebe eine italienische Kirche, ein italienisches
Theater; die Theaterdichter und selbst die ersten Hofmänner seien
Italiener, monatlich gebe der junge Marquis Valari, ein Cremoneser,
ein Blatt, den „Mercurio italiano", heraus, welches als Vermittler
zwischen deutscher und italienischer Litteratur diene. — Auch Spa-
nier fänden in Wien oft ein zweites Heim. So habe Huerta, spanischer
Legationsrat am österreichischen Hofe, sein „philosophisches Werk
über die kastilianische Synonime" in Wien veröffentlicht (die bekannte
„Coleccion de Sinönimos" des Jose Lopez de la Huerta). Am Schlufs
der Epistel stellt Andres noch ein paar allgemeine Betrachtungen
über den Zustand der Kultur in der Hauptstadt an ; er sieht so trübe
in die Zukunft, dafs er vergifst, was er selbst zum Lobe der Wiener
Gelehrten gesagt hatte, und findet um sich eine Öde: „Kein Theologe,
kein Geschichtsschreiber, kein Jurist, kein Astronom und Mathema-
tiker, kein wahrer Redner, welcher in Europa den Namen Wien ver-
breitet. Den litterarischen Erzeugnissen wird in Wien lange nicht
jene Achtung gezollt, welche sie in anderen Ländern erlangen. Auch
finden Litteraten wenig Schutz und Hilfe. Im Adelstande, der halb
aus Baronen, halb aus Ratsherren besteht, g^bt es auch Gelehrte
darunter, doch leben sie meist zurückgezogen und scheinen die Öffent-
lichkeit zu scheuen; ihr Studium, ihre Bildung verschafft ihnen kein
Ansehen. Alte Schriftsteller werden wenig studiert. Man verläfst
die guten Quellen. In den letzten Jahren taucht kein junger Mann
auf, welcher bedeutende Fortschritte in der Wissenschaft hoffen läfst
Aus Mangel an Gelehrten und tief denkenden Männern wird die Wiener
Litteratur übel zu stehen kommen" '). — Das schrieb Andres nieder,
zwei Jahre, nachdem Grillparzer das Licht der Welt erblickt hatte.
Der Spanier war zum Glück für Österreich ein schlechter Prophet^).
'j Dieses und mehr als dieses hat der deutsche Übersetzer, auf welchen gewifs der
Druck der Zensur lastete, übersprung^en. Während Andres mit pessimistischen Gedanken
schlols, hat Richter die Epistel durch und durch optimistisch geendigt.
^) Mit Andres* Epistel sind die mir bekannten Reiseerinneningen der Spanier in
Deutschland erschöpft. Leider ist mir das „Itinerario de su viaje cientifico ä Alemania"
(1798} des Naturforschers Diego de Larrafiaga, welcher lange mit Francisco de la Garsa
893 Artur ParinelU.
An Hülfsmitteln, das Deutsche zu erlernen, an Grammatiken und
Wörterbüchern ist in Spanien immer fühlbarer Mangel gewesen. In
den 90 er Jahren erschien zwar eine ^Gramätica alemana, compuesta
para la nacion Espafiola", ein Werk des Beichtvaters am Madrider
Spitale D. Antonio de Villa; es war aber ein ungeordnetes, weitschwei-
figes Buch, das die französischen Handbücher noch immer unentbehrlich
machte. Vom gleichen Priester erwartete man ein spanisch-deutsches
Wörterbuch, das jedoch, so viel ich weifs, niemals erschienen ist Unter-
dessen, berichtet Fischer (Reise von Amsterdam u. s. w.S.251), ist die Er-
scheinung des inLeipzig herausgekommenen (1795) „Spanisch-Deutsches,
Deutsch-Spanisches Wörterbuch" als eine grofse Merkwürdigkeit an-
gezeigt worden. — Besseres Glück hatte in Spanien, wie bereits her-
vorgehoben, das Englische, für dessen Erlernen selbst ein Jovellanos,
der hellste Kopf und der beste Prosaist Spaniens seiner Zeit die
„Rudimentos de Gramatica inglesa" und ein mir unbekannter Verfasser,
Ende der 90er Jahre, ein sogenanntes „Diccionario nuevo y completo
de las lenguas Espa/iola e Inglesa, Inglesa e Espafiola" ') herausgaben.
— Dichter und Kritiker zeigen um diese Zeit eine, man möchte sagen,
gezwungene Vorliebe für englische Litteratur, welche mit leerem Wort-
schwall, in begeisterten Phrasen in Zeitschriften zumal Ausdruck &nd
So hat nicht allein Moratin der Jüngere dem englischen Theater eif-
riges Studium gewidmet, auch Joseph Calderon de la Barca, der fünf
Jahre lang von 1793 — 1798 den „Memorial literario" dirigierte, lieferte
zahlreiche Übersetzungen aus dem Englischen und rückte im 14. Bd.
der „Continuaciondel Memorial" (März 1797) einige „Reflexiones sobre
el teatro Ingles" ein, worin er die Fruchtbarkeit englischer EKchter
hoch rühmte^) und gar Congreve und Wicherley höher als Moliere
stellte'). Höchst zweifelhaft bleibt, ob Don Juan Melendez Valdes,
in Kärnten, Böhmen und Tyrol studiert und praktiziert hatte (vgl. den ihm gewidmeten
Artikel in dem bereits angeführten Werke des Eugenio Maffei und Ramon Rua Figueroa
I« 389) unzugänglich gewesen. — Ponz „Viaje fuera de Espana**, welches als Anhang
zum bekannten „Viaje de Espafia** (x8 Bde. 1794 vollendet) erschien, berücksichtigt
blos Frankreich, England und die Niederlande.
') Nicht zu verwechseln mit Barettis bekanntem Wörterbuch.
*) „El ingenio po^tico de esta nadon es semejante ä un arbol silvestre muy copado,
que brota hacia todas partes con suma fiierza*.
*) Shakespeare selbst ist viel später als Milton in Spanien eingedrungen. Dais
französische Übersetzungen die erste Kenntnis der Dramen des Briten verschafften, war
zu erwarten. «Hemos salido ya de los vergonzosos tiempos" sagt D. Lopez in einem
unvollendet gebliebenen Artikel : «Shakespeare en Espafla** auf die modernen Obersetcer
anspielend, „Revista hispano-americana** Afio II. T. VIII (Madrid 1882, S. 41) «en que
Deutschland u. die deutsche Litteratur im Lichte der si>anischen Kritik'u. Poesie. IV. 893
neben Jose Quintana, der begabteste spanische Lyriker seiner Zeit,
( Wilhekn v. Humboldt lernte ihn auf seiner Reise nach Madrid kennen ^),
die deutschen Dichter las und auf sich wirken liefs. In der Vorrede
zum ILund in. Bd. seiner Gedichte (Valladolid 1797) bekennt er allei(-
dings: „Meine poetischen Hervorbringungen dürfen blos als Versuche
angesehen werden, sie mögen unseren guten Talenten ein Sporn sein, um
mit mehr Feuer, mit anderen edleren Tönen, mit reicherem Wissen,
mit besseren Anlagen die Poesie in ihrer ganzen Würde zu umfassen
und unsere Muse an die Seite derjenigen zu stellen, welche Pope,
Thompson, Young, Racine^ Roucher, Saint-Lambert, Haller, Uz, Gra-
mer und andere zu erhabenen Gesängen begeisterte, worin das Nütz-
liche mit dem Angenehmen gleichen Schritt hält und das Ergötzen
von Humanisten und Philosophen bildet^*); die drei letztgenannten
Deutschen Dichter waren aber vermutlich, obgleich etwas von Uz ins
Spanische übersetzt war, Melendez blos leere Namen. Melendez war
anfanglich ein Zögling der Franzosen und der Engländer. Die letzten
insbesondere bewunderte er mafslos. Er wollte seiner Lyrik einen
philosophischen Gehalt geben. Er machte aus Pope und Young
(Vgl. „La Noche y la Soledad^) ein eifriges Studium und ging so
weit, zu gestehen, dafs: vier Verse von Popes „Essay on man" mehr
wiegen und mehr belehren als alle seine eigenen Dichtungen.
Spanische Dramenfabrikanten am Schlufs des Jahrhunderts haben
sich nie um sorgfaltiges, getreues Studium des behandelten historischen
Stoffes bekümmert. Wenn sie Handlungen aus fremden Gegenden
auf die Bühne brachten, so machte ihnen die Wiedergabe der, den
Franzosen nachgerade so teueren „couleur locale" nicht im geringsten
Sorge. Sie schrieben maschinenmfäsig, fantasie- und vernunftlos,
meist nach französischen Schablonen. Ob die Handlung im alten
se publicaban obras inglesas traducidas del ingl^s al franc^ y de esta lengua al
castellaDo". (Vgl. auch C. Michaelis de Vasconcellos „Shakespeare in Portugal*^ im „Jahr-
buch der deutschen Shakespeare-Gesellschaft^^ 15 Jahrg. S. 266 ff.).
') «Valdes ist einer der neuesten Dichtem, die zu uns nach Deutschland gelangt
sind**, schrieb Platen an Fugger von Briangen aus den 39. Februar 1820.
') nD^e pues d mls composiciones el nombre de pruebas, 6 primeras tentativas; y
sirvan de despertar nuestros buenos ingeniös, para que con otro fuego, otros mas
nobles tonos, otra copia de doctrina, otras disposidones los abracen en toda su digni-
dad : poniendo nuestras Musas al lado de las que inspiraron ä Pope, Thompson, Young,
Racine, Roucher, Saint-Lambert, Haller, Uz, Cramer y otros c^lebres modernos sus sub*
Ihnes composiciones, donde la utilidad camina & par del deleyte, y que son i un tiempo
las delicias de los humanistas y filösofos*.
394 Aiiur Farioelli.
Rom , in Russland, Deutschland oder Spanien spielte, war fiir sie
einerlei. Ihre Menschen waren weder Römer noch Russen, weder
Deutsche noch Spanier. Von der Sucht nach fremden Helden der mo«
dernen spanischen Komödiendichter sag^e Moratin („Obras postumas^
I, 131): „Hacen ä los personages de sus dramas, irlandeses, rusos,
escandinaos, ulanos ö valacos; suponen la scena en Schaffhausen, en
Hansgeorgenstadt, en Sichartskirchen, en Pfaflenhofen ö en Schwaben-
münchen; pero { a quien podrän enganar con este artificio?^. —
Von den verschiedenen Dramen, welche die Handlung nach Deutsch-
land versetzen, seien hier nur folgende erwähnt: ^Guillermo de Hanau**,
„El imperio de la verdad 6 el Sepultiwero**, „Cumplir dos obüga-
cionesy Duquesa de Saxonia*" (eine grausige Geschichte), „El tirano
de Ormuz", „El Fenix de los Criados, 6 Maria Teresa de Austria*,
„Sitio y Toma de Breslau", „Los carboneros de Holbach**, «Ma-
tilde de Orleim" etc. Vergebens donnerte Leandro Femander de
Moratin, welcher durch seine Hamlets-Ubersetzung Wilhelm v. Hum-
boldt bekannt wurde '), gegen diese Stümper. Sie schrieben im gleichen
Stil rüstig weiter. Luciano Francisco Comella hatte in der Wahl der
Stoffe sowohl, wie in der Benennung seiner dramatischen Helden,
Erstaunliches geleistet. Er hat meistens Ereignisse aus der modernen
Geschichte in Scene gesetzt. Sein Theater winunelt von extravagao-
ten Individuen aller möglichen Nationen; sein General Stoffel, sein
Herr Konrad Kruger, sein General Swieten, sein Hauptmann Roth,
seine Kadetten Neis und KevenhüUer, sein Theodor von Württemberg,
um nur einige Deutsche darunter zu nennen, haben, wie ihre Genossen,
kein Vaterland, sie sind gestaltlose Geschöpfe der Einbildung Cornelias.
Seine Vorliebe für deutsche Helden erklärt sich zum Teil durch seine
Heirat mit einer Deutschen: Maria Teresa Beyermon, einem EMenst-
mädchen eines spanischen Granden, die ihn dem Spotte und dem
i) W. V. Humboldt, Ges. Werke. Bd. V, Briefe an P. A. Wolf, S. 150, berichtet,
dafs Moratin ihm seine prosaische Obersetzung des Hamlet ( vielleicht noch im llano-
skript) gezeigt und ihn gebeten habe, er möge sie mit dem Original vergleicheD und ihio
dann seine Bemerkungen darüber sagen« „Ich werde mich jetzt an diese Arbeit macfaen**,
fügt Humboldt hinzu. — Nach einer Äulserung an Schlabrendorf (Anhang zu „W. t.
Humboldts Ansichten über Ästhetik und Litteratur** a. a« O. S. 129): «Moratin hat neulich
den Hamlet übersetzt, er sagt in der Einleitung ganz deutlich, daüs Dinge, wie sie sich
die noch barbarischen Engländer gefallen lassen, in Spanien nicht g^uldet werden
würden**, scheint Humboldt wirklich diese unerfreuliche Arbeit vorgenommen zu haben.
Deutschland u. die deutsche Litteratur im Lichte der spanischen Kritik u. Poesie. IV. 895
Hohn seiner Theaterkollegen aussetzen sollte^). In seinem Haschen
nach Darstellung fremden Geistes und fremder Sitten hat der arm-
selige sein bischen Verstand eingebüfst und sich den Ruhm der Lächer-
lichkeit erworben '). Er schrieb unter anderem eine „Maria Teresa de
Austria en Landaw^, worin die Königin als Bäuerin verkleidet, das
abenteuerlichste Zeug verrichtet, einen „Federico II. Rey de Prusia,
drama en tres actos", im Coliseo del Principe zuerst aufgeführt, das
zu seinen Haupt- und Kraftstücken zählte. Die Figur des grofsen
Königs ist darin so elend verunstaltet, die Geschichte in eine so sinn-
lose Fabel umgewandelt, das Ganze ist ein so miserables Machwerk,
dafs wir Mähe haben zu begreifen, wie es zu seiner Zeit selbst in
Italien und in Portugal Erfolg haben konnte*).
Die Taten des grofsen Friedrich hatten auf die Spanier immer
gewaltigen Eindruck gemacht. D. Ignacio Lopez de Ayala, der Ver-
fisisser der „Numancia destruida'S fing, offenbar auf Grundlage eines
fremden (französischen) Werkes, eine „Historia de Federico el Grande^^
an, kam aber nicht über den ersten Band hinaus (Madrid 1767*). —
AlleS) was in Frankreich über Friedrich II. geschrieben und ge-
faselt wurde, fand in Spanien begierige Leser. Die in den 80 er und
90 er Jahren übersetzten Schriften über das Leben, die Werke, die
Taten und Gedanken Friedrichs sind Legion. Es erschienen (1785):
') Ich verdanke meinem Freunde Cotarelo y Mori die Kenntnis einiger kleinen Ar-
tikel von Chr. Box-Thom: «Comella contra Moratin", die nächstens mit anderen in
einem Buche erscheinen werden.
*) Ein treffendes Urteil über diesen spanischen Kotzebue niederer Ordnung in „Obras
literarias de Manuel Slvela** (Madrid 1890, S. 512 ff). — Cornelia verfalste auch einen
«Werter* (eine Übersetzung aus dem Französischen), und einen ,,£1 tirano Gesler",
vrelche ich leider nur dem Titel nach kenne.
s) Comellas Stück, welches durch Andolfati für die italienische Bühne bearbeitet
worden ist („Federico II re di Prussia. dramma di Luciano Francesco Comella** — in «11
teatro modemo applaudito** (Venezia 1796, Bd. 6), «piacque, place molto ancora In
Ispagna ma non tanto per6 quanto in Italia*, sagen einige einleitende «Notizie storico-
critiche* über das Stück, «ogni quäl volta vien rappresentato suUe scene italiane, diletta,
intenerisce, e sembra, per cosf dire, sempre nuovo*S -— Von einer portugiesischen Ober-
setzung des Stückes Comellas durch Felix Moreno de Monroy spricht Braga in seiner
«Historia do theatro portuguez** a. a. O. S. 45 ff.
*) Tychsen, (Anhang zu Bourgolng, S. 329) erwähnt «eine kurze Lebensgeschichte
der Kaiserin Maria Theresia, aus dem Französischen", die mir nicht bekannt ist; —
Fischer, „Reise von Amsterdam" u. s. w., S. 285) verzeichnet eine «Vida de Joseph II.
Emperador de Alemania** in 4 Bdn. «Es scheint«*, bemerkt der Reisende, «ein Original-
werk zu seyn, wobei aber die ausländischen Materialien benutzt sind**.
896 Artar ParinelU.
die ,,Pensamientos escogidos de las maximas filosoficas de Federico 11*^ ;
(1787) die „Pasages escogidos de la vida privada de Federico 11 Rey
de Prusia . . . sacada de un anönimo frances^^; (1787) die „Cartas
sobre el Patriotismo, segun el original impreso en Berlin, traducidas
al Castellano^^ etc., wo viel von Friedrich die Rede ist; (1787) ein
„Elogio del Rey de Prusia escrito en Frances por el Conde de Gtii-
bert, y traduddo al Castellano; (1788) eine „Instrucdon reservada
. • , del Rey de Prusia a su sobrino . . . traducida de un manuscrito
frances"; (1788) eine vierbändige „Vida de Federico 11 Rey de
Prusia . . . traducida del frances; (1789) die „Coleccion de las
guerras de Federico II el Grande en veinte y seis planos. Dada
ä luz en Aleman y Frances por Don Luis Müller (Abrifs der Schlachten
Friedrichs II) y traducida por Don Francisco Patemö" Malaga 1789;
(1793) „El .Arte de la Guerra, Poema escrito por Federico II Rey
de Prusia . . traduddo en verso Castellano por D. Genaro Figueroa".
Den Tod des Königs hat Bernaldo de Quiros in Sonetten betrauert*).
In den 90 er Jahren wollte ein mir unbekannter Spanier seine Lands-
leute mit Zimmermanns „Gespräche mit Friedrich 11^* bekannt machen
und übersetzte sie („Dialogos de Federico II Rey de Prusia con el
Dr. Zimmermanns^) aus dem . . . Portugiesischen^. Die portugiesische
Übersetzung selbst war nach dner englischen verfertigt worden •)•
Die Spanier waren in der Wende des Jahrhunderts mit ihren
dgenen politischen Wirren zu viel geplagt, um sich um die Ereignisse
in Deutschland zu kümmern. Auch für die gewählten Kreise gUch
Deutschland einer noch nicht entdeckten Insel. Höchstens waren bis
zu ihnen, wie Fischer (Gem. von Madrid S. 459) versichert, deutsche
Walzer gedrungen, welche sie mit ihren Nationaltänzen bereits vor
Schlufs des Jahrhunderts zu tanzen anfingen, dazu noch ein bischen
') Obras po^ticas de D. Jgnacio de M^ras Queypo de Llano (Psendonym) Bd. I,
Madrid 1797. ^- Dem genialen Ver&sser des „Pray Gerundio**, Francisco de Isla, war
Friedrich, dessen Taten der Spanier in den »Cartas femiliares** (II. Ausgabe, D, 9» ff.,
136 ff.; V, 256 ff.; VI, 31, 50) verfolgte, nicht sympatlüsch.
•) Vgl. Fischer, Rdse u. s. w., S. 285.
*) Die mir bekannte englische Übersetzung „Zimmermann*s Solitnde witfa respect
to its influence upon the Mind and the Heart" datiert von 1796.
Das sonst fleüsig verfalste Buch R. Ischers: „J. G. Zimmermanns Leben und
Werke", Bern 1893, entbehrt leider einer sorgfältigen Bibliographie der Obersetzungen
der Werke des berühmten Brugger Arztes ins Französische und in andere Sprachen.
Eine spanische Obersetzung der „Einsamkeit** (La Soledad) von Pedro Espina j
Martinez erschien zu Madrid 1873.
Deutschland u. die deutsche Litteratur im Lichte der spanischen Kritik u. Poesie. IV. 897
deutsche Musik. Ich habe früher *) die Bewunderung Iriartes für Haydn
hervorgehoben und Stellen aus seinem Gedicht „La Müsica" ange-
führt^- Die Buchhändler in Madrid, sagt Fischer (Reise von Amster-
dam u. s. w. S. 319) „kündigen täglich neue Musikalien der besten
deutschen und italienischen Komponisten an". „La müsica" sagte
Capmany („Discurso preliminar" zum „Teatro . . de la eloquencia
espafiola'' S. 10 1) vemos que quiere huir de Italia para casarse con
los alemanes".
Die Madrider Zeitungen'), die monatlichen und wöchentlichen Blätter
anderer spanischen Städte, brachten selten Nachrichten und Besprechungen
fremder, es sei denn französischer Werke. Aus französischen Blättern
meist aus dem „Journal etranger", dem „Journal des savants", der
„Correspondance litterarire^^ Grimms und Meisters, dem „Journal
encyclopedique", dem „Magazin encyclopedique" und dem „Mercure
de France^^ schöpften sämtliche spanische litterarische Blätter. Der
„Espiritu de los mejores diarios" (1787 — 1793) (sogar der Titel
stammte aus dem französischen „Esprit des joumaux^^), sowie der
„Correo Literario de la Europa, en el que se da notida de los libros
nuevos, de las invenciones y adelantamientos hechos en Francia y
otros reinos extranjeros" (1781-— 1787) gaben jahrelang Übersetzungen
und Auszuge aus dem Französischen. Weit selbständiger und reich-
haltiger war der „Memorial literario", der sich volle 24 Jahre erhielt
(1784 — 1804). Iß seinem 7. B. (S. 88 — 96) ist aus der Feder von J. E.
(Joaquin Ezquerra) ein Aufsatz über Kant: „Noticia literaria sobre
Mr. Kant y sobre el estado de la Metafisica en Alemania", der allem
Anschein nach einen englischen Bericht zur Grundlage hat*).
*) In meinem H. Teil „Spanien u. s. w." (2^tschr. für vgl. Litt.-Gesch. N. F. V, 324).
*) Ein groises Werk über Iriaite wird E. Cotarelo y Mori noch in diesem Jahre
▼eröfientlichen. — Iriarte hat auch Campes „Robinson'* aus dem Französischen übersetzt:
„El nuevo Robinson, historia moral, reducida i. diilogos para instruccion y entretenimiento
de niflos y jöyenes de ambos sdzos, escrita recientemente en Aleman por el Setior Campe,
traducida al Ingles, al Italiano, al Frances, y de este al Castellano con varias correc-
donespor D. Tomas de Iriarte**. Madrid 1789 (2 Bd.).
*) Einen äuiserst mageren Artikel über den „Periodismo madrilefio 1788 — 1888**
enthält das Büchlein des M. Ossorio y Bemard „Papeles viejos 6 Investigaciones literarias**
Madrid 1890. — Weit nützlicher ist die Zusammenstellung v. E. Hartzenbusch „Apuntes
para un catdlogo de periödicos madrilefios desde el afio 1661 al 1870. Madrid 1894.
^) In einem seiner Briefe an Goethe schrieb W. v. Humboldt im November 1799:
die Kantische Philosophie sei auch in Madrid wenigstens dem Namen nach bekannt.
„Wenn ich nicht fürchtete, von Ihnen als Missionar verlacht zu werden, so möchte ich
Ihnen sagen, dais ich noch heute einem Spanier die alleinseligmachende Lehre gepredigt
898 Artixr Farinelli.
Alle geistigen Erzeugnisse Englands und Deutschlands sind den
Spaniern durch Frankreich zugekommen. Nach dem Französischen
sind ausnahmslos die spärlichen Übersetzungen aus deutschen EKchtern,
welche vor 1800 in äufserst verstümmelter Form in Spanien erschienen;
wahre Verunglimpfungen, welche den verdorbenen litterarischen Ge-
schmack jener Zeit getreu abspiegelten. Die Neigung der spanischen
Musensöhne zur bukolischen und beschreibenden Dichtung entschied
meistens die Wahl. Der Übersetzer brauchte sich nicht im geringsten
um die Kenntnis der Sprache des Originals zu kümmern, die fremde,
bereits verwässerte Vorlage, die er noch nach seinem DGnken und
Können mifshandelte, war ihm mehr als genug.
Die überaus günstige Aufnahme, welche Salomon Gessners Ge-
dichte in Frankreich fanden, das uneingeschränkte Lob, welches Hinen
in französischen Zeitschriften gespendet wurde, bewog den Spanier
Pedro Lejeusne, seine Landsleute mit einer Übersetzung des „Tod
Abels^^ zu versehen ^). Das Gedicht, welches ganz und gar die franzö-
sische Übersetzung Hubers „La Mort d'Abel" (Paris 1 760) zur Grund-
lage hatte, fand Leser und Bewunderer, denn bereits drei Jahre darauf
(1788) erschien zu Oviedo eine zweite „muerte de Abel", eine Nach-
ahmung der vorhergehenden, obgleich in Versen geschrieben*). Im
Jahre 1803 wurde dann Legouves gleichnamige Tragödie übersetzt
und am 30. Mai in Madrid im Theater de los Cafios del Peral darge-
stellt*). Im Jahre 1796, nachdem Juan Lopez bereits im „Memorial
literario" vom Juni 1794 (S. 460 ff.) ein Idyll „Palemon" „ä imitactoo
habe. Aber auch in der Philosophie haben die Franzosen hier alles angesteckt**. — DzSs
Kantsche Ideen selbst vor dem Erscheinen des g^ofeen Königsberg^ers die Spanier, Tor-
zflglich Luis Vives, Francisco Sanches, Pedro de Valencia beschäftigten, behauptet
M. Menendez y Pelayo, doch mit Übertreibung, in seinem schönen Aufsatze: „De los
oHgenes del criticismo y del escepticismo, y espedalmente de los precursores espanoles
de Kant** in ,yRevista de Espafia** Juni, Juli, August 1891 (auch als 2. Siudieim Men^dcz:
„Ensayos de crftica filosöfica** Madrid 1892). — Die Nachrichten über Kant im ,yMemorial
literario** III, 38 und IV, 4 sind unbedeutende Auszüge aus Merders und Tracys
Schriften Ober deutsche Philosophie.
>} „La muerte de Abel. Poema moral en prosa en cinco autos, su autor Mr.
Gesnero. Traducido al Castellano por Don Pedro Lejeusne**. Madrid 1785.
') „La muerte de AbeL Poema moral que en cinco cantos en versos endecasflabos
escribio D. Joaquin Joseph Queypo de Llano y Vald^**. Oviedo, 1788.
') „La muerte de Abel. Tragedia en tres actos, escrita en Prances por G. LegouYe,
y traducida en castellano por D. Antonio Savinon**. Madrid 1803. Vgl. darüber Quin-
tanas* Zeitschrift. „Variedades de ciencias, literatura y artes I, 45. — Im gleichen Jahre
erschien : „La muerte de Abel vengada, tragedia en tres actos, acomodada al teatro
espafiol por Dofia Magdalena Femandez y Figuero.
Deutschland u. die deutsche Litteratur Im Lichte der spanischen Kritik u. Poesie. IV. 899
de uno de Gesnero" eingerückt hatte, wurden einige Idyllen Gessners als
Ankündigung veröffentlicht. Vom guten Erfolge ermutigt, gab der
Übersetzer ein Jahr darauf in einem schön gedruckten, mit einem treff-
lichen Kupfer geschmückten Band, 24 Idyllen Gessners heraus: „Idilios
de Gesner en prosa y verso por el traductor del Primer Navegante" ').
Madrid 1797. (Imprenta de Sancha). Für den „Primer Navegante" ^)
sowohl wie far die „Idilios^^ haben dem Spanier unzweifelhaft die vom
Züricher Heinrich Meister besorgten „Oeuvres de Salomon Gessner
traduits de TAUemand" (A Zürich chez l'auteur, 1777) vorgelegen.
Ende der 80er Jahre erschien (wie ich aus Fischers Reise von
Amsterdam u. s. w. S. 311 Nr. 11 und aus dem „Memorial literario"
(Juli 1787) XI, 362, entnehme) in Madrid, von Bernardo Maria de
Calzada, dem Übersetzer von Addisons „Cato", eine spanische Über-
setzung von Uz: „Die Kunst stets fröhlich zu sein": „Arte de ser
feliz, dividido en 4 epistolas morales en prosa, escrito en Aleman, su
autor Utz: con mas otras dos epistolas, la una intitulada la Riqueza
y la Gloria, y la otra el amigo de los hombres, ambas escritas en el
mismo idioma: su autor Gellart ^ (sie), welche vermutlich aus der
französischen Übertragung Hubers in dem „Choix de poesies allemandes"
(Paris 1766, III, 298 ff.; IV, 185 ff.) fliefst »)•
Für Wielands „Oberon" zeigten die Portugiesen mehr Sinn als
die Spanier. Eine spanische Übersetzung des „Oberon** ist im
18. Jahrhundert meines Wissens nicht zu Stande gekommen^). Dafür
hat der originelle, aber ungründliche Francisco Manoel do Nascimento
(bekannter unter dem arkadischen Namen Filinto), welcher trotz seiner
ausgesprochenen Gallophobie, Racine, Voltaire, Gresset und andere
Franzosen mit schönen portugiesischen Versen umkleidete *), eine Über-
0 ^S^* n^^ primer oavegfante. Poema en dos cantos de G6sner*. Madrid 1796.
') Daus Gessners Idyllen in Spanien grofses Glück machten, bezeugt auch
W. ▼. Humboldt, Er schreibt an Schlabrendorf (Mai 1800} von Valencia aus: „Sie (die
Spanier) klagen über Mangel an Empfindung und Herz und geraten in Entzücken über
Gessners Idyllen**. Vgl. W. v. Humboldt, Ansichten a. a. O. S. 129. Vgl. auch Moratin,
nObras pöstumas** I, 105), und ein chaotischer Artikel: „La tumba de Gdsner en Zürich"
in „El semanario pintoresco espafiol" 1849 S. 43.
*) Im Memorial literario^' (1801)1,133 findet sich ein aus dem Französischen über-
setztes Gedicht: „La Luciemaga, fdbula del aleman Pfeflfer".
^) Von der spanischen Übersetzung des nOberon" des Calderon de la Barca, an
welcher Graf v. Schack («Ein halbes Jahrhundert**. Stuttgart 1888 I, 367) nmehr Behagen
als an dem Original** fand, wird später die Rede sein.
*) Zum Lohn dafür haben die Franzosen einen Band seiner eigenen lyrischen Gedichte
fibersetzt. Vgl. „Po^ies lyriques de Francisco Manoel de Nacimento, traduites en Fran-
9ais", Paris 1808.
ZtMhr. f. vgl. Litt Gesch. N. F. VIIL 26
400 Artur Parindll.
setmng von Wielands Epos unternommen, ohne, wie er selbst gesteht,
ein Wort deutsch zu verstehen *). Er hat sich, wie Pereira da Silva in
seinem deklamatorischen, inhaltsleeren Buche über „Filinto Elysio^
(Rio de Janeiro 1891, S. 87) versichert, mit der kläglichen Übersetzung
des Grafen de Borch „Oberon pöeme en douze chants^' (Basel 1798)
zu helfen gewufst '). — Aus Links Reisebeschreibung (II, 236)
erhalten wir von einer zweiten, wenn auch nicht veröflfentlichten
portugiesischen Übersetzung des „Oberon" Nachricht. „Es ist viel-
leicht nicht unangenehm zu hören", schreibt Link, „dafs die verwittwete
Gräfin von Oeynhausen, eine Tochter des Marquis von Alomo, also
eine gebohrene Portugiesin, viele Gesänge von Wielands Oberon sehr
glücklich ins Portugiesische übersetzt hat. Schade, dafs sie sich noch
nicht entschliefsen kann, sie öffentlicht bekannt zu machen" ').
Man begreift, dafs in der Zeit des trosdosesten Ver&lls der
spanischen Bühne, als das erfinderische Genie und die dichterische Em-
pfindung erlahmt waren, die Bühnenklassiker des 16. und 17. Jahr-
hunderts, die gröfsten darunter: Lope, Tirso, Mira de Amescua,
Alarcon, Moreto, Calderon, von der allwissenden zeitgenössischen
Kritik mit Geringschätzung, sogar mit Verachtung angesehen wurden
und regelmäfsige, wie man sie nannte, aber fade, stumpfsinnige Stücke
nach firanzösischen Schablonen dem Publikum zur Unterhaltung darge-
boten wurden; man begreift, dals sich die Spanier die Bühnen fi-emder
Nationen als Goldgrube vorstellten, woraus sie nach Bedarf plündern
könnten. — Moratins Stück „La Comedia nueva ö el Cafe", welches
zuerst am 7. Februar 1792 zur Darstellung kam, gegen die Theater-
pfuscher Spaniens, gegen Valladares, Comella, Conchas, Moncines
und Genossen gerichtet war, eine köstliche witzvolle Satire, „la mäs
asombrosa sätira literaria que en ning^na leng^ conozco" wie sie
*) „Ja d*aquS advirto os Senhores Criticos, que näo comprendo uma s6 palavra de
Alemao linguagem, em que este Poema foi origfinalmente escripto*^ Prolog zur Über-
setzung des „Oberon" im 3. B., S. 5 der „Obras completas de FiÜnto Elysio" (2. Ausg.)
Paris 1817. — Auf diese Übersetzung stützt sich in der Hauptsache Garrets Gedicht
„Donna Branca".
^ Die Übersetzung Filintos von etwa 38 Oden Ramlers befindet sich blos in der
3. Ausg. seiner Werke (Lisboa 1836 — 40), die mir nicht zugänglich war.
*) Von einer portugiesischen Übersetzung des „Hermann oder das befreiie
Deutschland" Schönaichs" spricht Link in seiner Reise II, 245. — Als Vorlage wird
wohl die in Paris 1 769 erschienene französische Übersetzung Rydous : „Arminius ou la
Germanie d^livr^e, pöeme heroTque par le baron de Schonaich" gedient haben.
Deutschland a. die deutsche Litteratur im Lichte der spanischen Kritik u. Poesie. IV. 401
Menendez nennt ^), war auch in Deutschland bekannt. Im Jahre 1800,
fünf Jahre nach der italienischen Übersetzung des Napoli Signorelli
hatte sie Manuel Ojamar (Anagramm von Ramajo), der lange Zeit
in Dresden verweilt hatte, mit einer deutschen Übersetzung zur Seite
neu veröffentlicht*). — Eine gewisse Zensurkommission, welche den
Zweck einer Reinigung des spanischen Theaters verfolgte, zu welcher
anfanglich Moratin zählte, später aber, als die Konmiission Unsinn auf
Unsinn stiftete, seine Entlassung einreichte, hatte in den Jahren 1800
und 1801 sechs Bände eines „Teatro nuevo espanol" drucken lassen,
welche in der Hauptsache aus kläglichen Übersetzungen fremder Stücke
besteht. Wir finden darin unter anderen: (B. IV) Lessings „Minna von
Barnhelm^^ unter dem Titel: „Los amantes generosos. Comedia en dnco
actos. Compuesta en Frances, sobre un modelo Aleman, por M.
Rochon de Chabannes (»Les amans genereux") y traducida por D. G.
F. R." •). (B. ni) Schillers „Kabale und Liebe" („El amor y la intriga**) *).
(B.n) Kotzebues „Die Versöhnung oder Bruderzwist" („La Reconciliacion
6 los dos hermanos". (B. VI, 1801) Brandes „Der Graf von Olsbach"
(„El Conde de Olsbach") nach französischen Übersetzungen bearbeitet.
Der federgewandte, auf alle edlen und gemeinen Instinkte der
Zuschauer spekulierende, dem blendenden Effekt nachhaschende
Kotzebue, den die Spanier zu einem Kot — bue (nach dem französischen
^) „Historia de las ideas est^ticas*' T. m. V. II, S. 228. Der feinsinnigre Juan
Valera in seinen „Disertaciones y juicios literarios** (,,Obras*', Madrid 1 890. — ,,Coleccion
de escritores castellanos**. LXXXTV, 171 f.) nennt die „Comedia nueva" Moratins eine
„gradosisima sätira literaria, donde no sabe uno de qu6 admirarse mäs, si del ingenio,
sal itico y rico tesoro de chistes del autor, 6 de su mezquina crftica*'.
') «Das neue Lustspiel oder das Caffeehaus, in zwei AufzQgen, aus dem spanischen
des Leandro Femandez de Moratin, Obersetzt von Manuel Ojamar**. — Spätere Über
Setzungen von A. v. Halem (Bremen 1835), von A. Schuhmacher (in „Dramatische
Bibliothek des Auslandes**. Wien 1842 B. VII). Eine unbedeutende Recension der ersten
Übersetzung findet sich in der Gothaschen „Belletristischen Zeitung auf das Jahr 1800^*.
1 1 Stück (15. März) S. 86 f. — Einige Jahre vorher War ebenfalls zum Zwecke des Sprachunter-
richts das Rühr-Stflck Jovellanos „El Delincuente honrado" von einem mir nicht näher
bekannten Josef Leonini verdeutscht und unter dem Titel: „Der edle Verbrecher. Ein
Schauspiel in 5 Aufzügen" in Berlin 1796 herausgegeben.
') Auch Lessings „Emilia Galotti", auf welche Antonio Gutierrez in den 50 er Jahren
seine wirkungsvolle Tragödie „Un duelo & muerte** gründete, war schon vor Schluls
des Jahrhunderts, wie mir mein Freund Menendez y Pelayo versichert, ins Spanische nach
einer französischen Vorlage übersetzt.
*) Leider ist in dem Exemplar des höchst seltenen „Teatro nuevo" das ich in der
Biblioteca de San Isidro in Madrid benutzte, dieses Stück herausgerissen worden, so
dafe ich es nur nach seinem Titel anführen kann.
26*
40S Artur Parinelli.
Kotz— bue) umtauften, erlangte wie in Deutschland, Frankreich, Italien
und England *), so auch in Spanien unverdienten Beifall. Zu ver-
wundern ist, dafs Kotzebues Stück „Die Spanier in Peru oder Rollas
Tod", aus dem Sheridan 1799 sein berühmtes „Pizarro" ') und Julius
Graf von Soden mit mehr Anlehnung an die Geschichte sein
„Franzesko Pizarro oder der Schwur im Sonnen-Tempel" schufen, ein
Stück, welches südliches Kolorit zeigt und südliche glühende Leiden-
schaften schilderte, keine Bearbeitung für die spanische Bühne
fand. Dafür haben aber „Menschenhafs und Reue" und „Der Bruder-
zwist" weiche spanische Herzen und Augen gerührt und manche stille
Versöhnung in Familienkreisen bewirkt •). Das Stück kam nach zwei
verschiedenen Übersetzungen im Jahre 1800 in den Madrider Theatern
zur Auffuhrung. Dionisio de Solis, welcher später Alfieris Dramen:
„Oreste" und „Virginia" in pompöse kastilische Verse umkleidete,
lieferte eine dreiaktige „Misantropia y Arrepentimiento, traducido del
Frances, puesto en verso y arreglado a nuestro teatro". Gleichzeitig
erschien von einem D. A. G. A. „La Misantropia y el Arrepenti-
miento, drama en 5 actos en Prosa del Teatro aleman de Kot — büe
refundido y arreglado a la escena por la ciudadana Mole (Julie Mole)
Actriz del Teatro Frances, y traducido fielmente en Prosa castellana"*).
') Vgl. Süpfle ^,Beiträg>e zur Geschichte der deutschen Litteratur in England im
letzten Drittel des 18. Jahrhunderts" in dieser Zeitschrift N. F. VI, 326.
*) Vgl. Bahlsen „Kotzebues Peru-Dramen und Sheridans Pizarro". Berlin 1893.
*) So behauptet der Komiker Mariano Querol in einem 1 8 1 1 an den „Gobiemo de la
Regencia" in Cadiz gerichteten Schreiben: (Ossorio y Bernard „Papeles Viejos". — ,,Un hal-
lazgo bibliogrifico en defensa del teatro". S. 90) „muchos de los habitantes de este noble
pueblo son testigos de haber visto la primera representacion de la comedla titulada
Misantropia y arrepentimiento, por lo que se vieron muchos matrimonios que
estaban separados por bagatelas, reunidos otra vez y estrecharse en los lazos de himeneo.
Por la representacion de la nombrada La reconciliacion de los dos hermanos
diversas familias enemistadas volverse & pacificar, olvidando las dicordias domdsticas
que habian causado su enemistad**.
^) Diese zweite spanische Übertragung von „Menschenhafs und Reue" fehlt In der
sonst fleifsig zusammengestellten Bibliographie bei C. Rabany: „Kotzebue, sa vie et son
tempSf ses oeuvres dramatiques". Paris, 1893, S. 458, wo aber die in Paris 1841
erschienene portugiesische Übersetzung des Coetemo Lopes de Moura: „Misantropia e
arrependimento" aufgezeichnet wird. — Die weitläufige Kritik über Kotzebues „Menschen-
hafs und Reue", welche in dem „Memorial literario" erschien, worin vom Dichter lobend
gesprochen, der Plan des Stückes und die sententiöse Sprache des Originals getadelt
werden, hat C. A. Fischer in seinen, uns schon bekannten „Spanische Miscellen" Berlin
1803 I, 304 ff. „Von Kotzebues Schauspiele in Madrid" eingerückt. — Von Kotzebue
erschienen ebenfalls nach dem Französischen einige Übersetzungen von „El ano mas
memorable de mi vida por D. T. R." 2 Bände (Bladrid 1805) wie ich aus dem „Memorial
Deutschland u. die deutsche Litteratur im Lichte der spanischen Kritik u. Poesie. IV. 403
Was haben die Spanier von Schiller und Goethe vor Anfang des
neuen Jahrhunderts gekannt? Ihre Namen kaum. Ihre Dichtung lag,
wie es heute noch zum Teil der Fall ist, den Spaniern fern. Das
„Teatro nuevo" enthielt zwar ein Stück Schillers „El Amor y la in-
triga"^, aber es ist nach dem Französischen fabrikmäfsig bearbeitet, nach
der 1799 erschienenen Übersetzung von La Marteliere „L'Amour et
rintrigue". — Schillers „Don Carlos", welcher vor 1800 in drei fran-
zösischen Übersetzungen : von Mercier, La Marteliere und Adrien Lezay
und in einer Nachahmung des Marie Joseph Chenier (Philippe 11.) vorlag,
hat keinen Spanier vor dem 19. Jahrhundert zur Bearbeitung angespornt.
Vielleicht verursachte in dem Stücke der kühne Charakter des Posa, der
darin ausgesprochene Tyrannenhafs, das dunkle Licht, das auf Spanien
fiel, starke Bedenken *). Das Publikum hätte vielleicht protestiert, die
Regierung die Darstellung verboten. Aus diesem Grunde hat auch
glaube ich, Dionisio de Solis Alfieris „Filippo" nicht zu übersetzen
gewagt^). Erst um die Mitte unseres Jahrhunderts, als Schiller inuner
literario" (1805) I, 245 f.) entnehme, wo viel von den „dulces Idgrimas que, (die Werke
Kotxebues), arrancaron d todos los corazones sensibles^', gefaselt wird. Im gleichem
,,Memorial** I, 137 ist eine ,)Noticia de una novela de Kotzebue titnlada: „Villiams y
Juanita*^ und VII, 142 eine unbedeutende Anzeige von Kotzebues „Blinde Liebe" und
„Die Heimkehr** zu treffen. — Aus dem „Journal 6tranger** ist zum groisen Teil die
„Notlcia acerca de la poesia ditir^bica'*, welche der „Memorial" I, 320 ff. brachte, wo
auch von Gerstenberg „oficial Dinamarques . . . bien conocido de todos los literatos que
miran con el aprecio que merece la llteratura alemana" die Rede ist und (S. 362) die
Übersetzung des Gedichtes „Der Taback" enthält.
') Dais eine spanische Übersetzung des nI)on Carlos** Schillers um die Mitte unseres
Jahrhunderts in Cadiz und anderswo aufgeführt wurde, teilt mir wiederum Men^ndez y
Pelayo mit.
^) In den 20er Jahnen erschien jedoch in Spanien eine gänzlich verfehlte Übersetzung
des Dramas Alfieris („Felipe II. tragedia en cinco actos del conde Victor Alfieri"). Was
der Spanier Arteaga über Alfieris „Filippo** in seinen „Le rivoluzioni del Teatro musi-
cale Italiano"*, Bologna 1782 (7 Jahre später auch verdeutscht: „Stephan Arteagas Ge-
schichte der italienischen Oper, von ihrem Ursprung an bis auf gegenwärtige Zeiten
übersetzt und mit Anmerkungen begleitet v. L. Nicolaus Forkel**. Leipzig 1789. 2. B. —
II. B. S. 297 ff. enthält Nachrichten von der deutschen Oper) und ausführlicher noch in
der «Lettera deir Abate Stefano Arteaga a Monsig. Antonio Gardoqui intomo il Filippo**
(im letzten Bande von Alfieris Werke, Piacenza 181 1 eingerückt) vorwirft, drückt gewifs
die Meinung der meisten Spanier damaliger Zeit aus, welche sich lieber an Diego Xi-
menes de Encisos Stück „El principe Don Carlos** hielten, und hätte ebensogut auf
Schillers „Don Carlos** Bezug haben können. Vgl. auch eine Anmerkung vonSchack:
„Ein halbes Jahrhundert**. HI, 99. — Da hier Arteaga genannt wurde, so will ich nur
nebenbei bemerken, daüs sein Werk: ninvestigaciones filosöficas sobre la Belleza
Ideal, considerada como objeto de todas las artes de imitaciön**, Madrid 1789, mit-
unter auch Spuren von Kenntnis der Schriften der Deutschen (Lessing und Winckel-
mann) zeigt «
404 Artur Farinelli.
noch in der chaotischsten Verwirrung bald als Klassiker, bald als
Romantiker, immer ohne eine nur entfernte Ahnung seines Schaffens,
mit anderen nicht minder ignorierten deutschen Dichtem von unklugen
Kritikern genannt wurde, sind einige seiner Dramen ins Spanische
übersetzt worden. Die Leistungen des Gil y Zarate, Hartzenbuschs,
des Infanten de Palacio, des Gerardo de la Puente, Sebastian de Se-
guras, J. Ixarts, Eduardo de Miers und ihre Beurteilung sind hier
noch nicht am Platze.
Woher Goedecke (Grundrifs IV, 683) die Nachricht hat, dafs in
Madrid im Jahre 1800 bereits eine spanische Übersetzung von Goethes
„Wilhelm Meister*' erschien, kann ich nicht sagen. Weder habe ich
diese Übersetzung irgendwo gesehen, noch fand ich sie in irgend
einer spanischen Schrift erwähnt. Die erste französische Übersetzung
der „Lehrjahre" von L. Levelinges: „Alfred ou les annees d'appren-
tissage de Wilhelm Meister" war in Paris erst 1802 erschienen. Dafs
Goethes „Meister" in Spanien früher als in Frankreich übersetzt wurde,
ist mir sehr zweifelhaft *). Werthers Leiden ist nach aller Wahrschein-
lichkeit das einzige Werk Goethes, welches in Spanien damals Ein-
gang fand. Es circulierte zunächst in schlechten französischen Über-
setzungen und machte einen grofsen nachhaltigen Eindruck, nicht einen
so erschütternden jedoch wie in den Nachbarländern Frankreich ') und
Italien'). Im Jahre 1803 konnten es die Spanier in einer direkten
Übersetzung aus dem Deutschen aus der Feder des sprachgewandten
Arragoniers Jose Mor de Fuentes lesen und geniefsen („Werther,
traducido del aleman de Goethe". Paris 1803). Bald darauflieferte
der nämliche Fuentes, der sich, nach seiner Übersetzung des Horaz,
(Madrid 1 798) viel mit deutscher und englischer Litteratur abgab und
selbst deutsche Verse schrieb*), in seiner Novelle „La Serafina" eine
recht schlechte Nachahmung des Goetheschen Romans. In den folgenden
Jahren wurde „Werther" immer mehr ein Lieblingsbuch der Spanier.
') Mir ist blos folgende Übersetzung aus Goethes ^Lehrjahren** bekannt: ^Wflhelm
Meister por Goethe. Version castellana de J. de Fuentes. Anos de aprendizaje*^ Ma-
drid 1880.
') Vgl. J. Groüs „Les imitations fran9aises de Werther** in „Revue politique et litte-
raire" 1894 (No, 13).
*} «Den Werther lieben sie (die Spanier) zwar auch, aber in französischer Über-
setzung**, schrieb W. v. Humboldt in dem erwähnten Briefe an Schlabrendorf. „An-
sichten'* S. 129.
*) Über die Übersetzungen und die Studien Mor de Fuentes soll, wie mir Menendet
y Pelayo mitteilt, das autobiographische kleine Werk Fuentes* nBosquejillo de ml Tida*,
das ich nicht auizutreibeQ vennochte, Interessantes und Wichtiges enthalten.
Deutschland u. die deutsche Litteratur im Lichte der spanischen Kritik u. Poesie. TV. 405
^^■^^■^— ^^^-^i^ ■■^■■^ ■■ ■!■ I !■■■» Uli I ■ — ■ -■< ■iiMi.ii ■■■■■■i.—.^
Es erschien eine Übersetzung nach der anderen und Neudrucke der
älteren von Fuentes*). Die „pasiones^^ oder „cuitas" des Werther
wurden bald auch in Spanien Mode. Man brachte sie früh auf die
Bühne. Der leichtsinnige Cornelia hatte sich gleich, wie wir sahen,
des wirkungsvollen Stoffes bemächtigt. Noch in jüngster Zeit hat
eine dramatische Bearbeitung „El suicidio de Werther" Furore ge-
macht^). Wollte ein spanischer Kritiker den Mund voll nehmen und
den grofsen Namen Goethe aussprechen, so wufste er kein anderes
Werk des deutschen Dichters anzuführen, als eben den „Werther"«
So tat es in den 20 er Jahren der Abbe Jose Marchena in seinen
„Lecciones de filosofia moral y eloquencia" (Bordeaux 1820), so taten
andere früher und später. Die Hauptwerke der Goetheschen Muse
blieben noch lange und lange den Spaniern unter verschlossenem
Riegel'). Über das Leben des Dichters wollte keiner unterrichtet
werden. Der „Memorial literario" brachte zwar im Jahre 1802 (II,
102 flf.) einige Anekdoten über das Leben Goethes, „autor del jöven
Werter y de muchas otras obras", sie waren aber gar zu fabelhaft und
fantastisch und übrigens aus einem Artikel des „Monthly Magazine^^
geschöpft. Da sollte Goethe, welcher „Liebeselegien mit der Glut und
der Wollust eines Properz gedichtet und eine Novelle, Wilhelm Meister
betitelt, geschrieben, wo Frauencharaktere vortrefflich gemalt werden",
Goethe sollte niemals wirklich verliebt gewesen sein, und weü es ausge-
machte Sache ist, dafs die Ehe ein Talent erdrückt und erstickt, so hat er
nie heiraten wollen, wenn er auch grofses Glück bei Damen gehabt hat.
Das war den Spaniern vorgefaselt, nachdem Goethe mit der Vulpius
etliche glückliche Jahre der Ehe verbracht hatte. Reinecke Fuchs
wird hier in ein „Reynaldo*' verwandelt. Die „Iphigenie** soll aus idylli-
') Ich kenne eine Ausgabe von Valencia 18 19 (nicht 1820, wie bei Goedecke IV,
651 zu lesen Ist) „Las pasiones del joven Verter, escritas en alemanporel celebre Goßthe,
autor de Hernan y Dorotea**.
^) «El Suicidio de Werther: Drama en cuatro actos y versos, original de D. Joaquln
Dicenta. Estrenado con extraordinario aplauso la noche del 23 de Febrero de 1888
en el teatro de la Princesa^^ Madrid 1888.
') Der „Memorial literario*^ von 1801 (I, 12 ff.) sprach bewundernd über Goethes
^Hermann und Dorothea** in einer Anzeige der französischen Übersetzung des Betaube; er-
wähnte auch die Luise Vofs' und nannte die Nation glücklich (S. 14) „cuyas costum-
bres dom^sticas pueden ser objeto digno del pincel de los poetas . . . Felix la nacion
que puede contemplar con gozo y satisfacion interior el reflejo de su propia imagen**.
— Goethes „Götz von Berlichingen** hat der den Romanisten wohlbekannte Mild y
Fontanals in seiner Jugend übersetzt, doch, wie mir sein Schüler und Herausgeber seiner
Werke Menendez y Pelayo versichert, nicht zu Ende gebracht.
406 Artur Farinelli.
sehen Betrachtungen in den Wäldern Jenas entstanden sein. Venus
weit mehr als Bacchus, sagt unser drolliger Bericht am Schlüsse, habe
Goethe begeistert und entflammt*). — Als in den 30er Jahren ein
ungeschickter Mitarbeiter des „Semanario pintoresco" nach der üb-
lichen Plünderung des Buches der Madame de Stael: „De TAllemagne**
einen Artikel über Goethe zusammenschmierte, so klagte er laut, es
sei doch ein undankbares Geschäft, das Leben eines Mannes zu schil-
dern, das so arm an dramatischen Vorfallen war und gar wenig Neuig-
keiten und Kontraste bot*).
Ziehen wir die Summe von dem, was Spanien am Ausgange des
18. Jahrhunderts von Deutschland und von der deutschen Litteratur
gekannt hat, so wird uns begreiflich, dafs einige Deutsche mit einem
Gefühl der Überlegenheit auf die in fremden Sachen so übel unterrich-
teten Spanier hinabschauten, sich über die Ungelehrsamkeit der spa-
nischen Gelehrten lustig machen konnten und kühn behaupteten, sie
seien doch die einzige Nation, die sich um Kenntnis fremden Wesens
und fremder Sitten kümmerten. — Zwischen dem Geist beider Völker,
des Deutschen imd des Spaniers, lag eben damals wie noch jetzt eine
tiefe Kluft. Hätten auch deutsche Geistesprodukte ungehinderter»
nicht durch die Vermittelung Frankreichs, in Spanien eindringen
können, so wären sie doch niemals recht gewürdigt, niemals recht
genossen, nie wären sie als Gemeingut der Nation den eigenen Er-
zeugnissen einverleibt worden. — Und doch glaubte an der Scheide-
grenze beider Jahrhunderte der gröfste Deutsche, der je Spaniens
Boden betrat: Wilhelm von Humboldt, der überall, in allen Dingen
nach tiefer, grundlegender Charakteristik drang, er der die Menschen
in verschiedenen Nationen und Zeitaltem in beständigen Vergleich
stellte, dafs ein enges Band der geistigen Verwandtschaft Spanien und
Deutschland umschlinge. Und wie er von Rom aus (am 25. Februar
1804 — „Goethes Briefwechsel mit den Gebrüdem von Humboldt") an
^) Im gleichen Bde. des «MemoriaP* (II, 311 ff.) befinden sich auch einige „Antelotas
de la vida de W. F. (sicl) Mozart, traducidas de] Aleman**. Die im folgenden Bde. (lU, 134)
enthaltene nNoticia acerca de Goethe**, sowie die „Noticia concerniente al celebre Autor
Dramitico Schiller** (UI, 378) sind gamc unbedeutende Berichte aus französischen Zei-
tungen. — In einem Aufsatze ,De Ossian y de una nueva traduccion espanola de sus
poemas** in den „Variadades de ciencias u. s. w.** III, 351 f. ist auch von Goethe die Rede.
*) „Goethe" im „Semanario pintoresco**. Madrid 1837 (IV. Jahrg. — 24. Dezember
S. 399 -— mit beigefügtem Porträt) „es un trabajo ingrato el hacer la historia de una
vida como la suya, en donde faltan aquellos acontedmientos dramiticos, aquellos lances
de extraordinaria novedad, aquellos raros contrastes y rasgos singulares, que son tan
cömodos elementos para un articulo biogrifico**.
Deutschland u. die deutsche Litteratur im Lichte der spanischen Kritik u. Poesie. IV. 407
Goethe schrieb : „Die spanischen Gegenden wirken im ganzen wie die
deutschen", so hatte er vier Jahre vorher, von Valencia aus an Schla-
brendorf geschrieben (7. März 1800): „Unter den mittäglichen Nationen
aber scheinen die Spanier eine besondere Stelle einzunehmen; sie
haben offenbar mehrere Charakterseiten, die man nordische zu nennen
geneigt sein möchte, einige, die sie uns Deutschen sehr nahe bring*en".
Eine gewagte Behauptung, welche hier zuerst ausgesprochen wurde,
welche hunderte von Deutschen später wiederholten, die nie müde
wurden, die „wunderbare Ähnlichkeit des deutschen und spanischen
Charakters'^ wie sie Friedrich de la Motte-Fouque nannte*), zu rüh-
men, eine Behauptung, welche, wie wir in der Folge sehen werden,
von den tatsächlichen Verhältnissen, von den verschiedenen Anlagen
beider Nationen, Lügen gestraft wurde.
Innsbruck.
*) «Ein Wort ober Fr. Schlegels £:esaminelte Gedichte** in MGeföhle, Bilder und An-
sichten V. Friedrich Baron de la Motte-Fouqu^**. Leipzig 1819. H, 151.
-••■
NEUE MITTEILUNGEN.
-••-
Die erste Verdeutschung des 12. Lukianischen Toten-
gesprächs
— nach einer urteztlichen Handschrift —
von Johann Reuohlin (1495) und Verwandtes aus der Folgezeit'*').
Eingeleitet und erläutert durch
Theodor Distel.
Man sollte sich schämen, Fremdes ins Deutsche zu
mischen. (Nach Reuchlln z. d. Tusk., 1501}.
In einem früheren Bande *) habe ich meine bisher völlig unbekannten
zwei Reuchlinfunde bereits angekündigt. Überaus fruchtbar war
„der gelehrteste Mann Deutschlands, ja aller Länder"*) als Schöpfer
hellenischer „Überläufer"') nach Deutschland, besonders während der
Monate Juli und August vor vierhundert Jahren: die erste Olynthika,
das folgende Gespräch . und die zwei ersten Philippiken wandte er
damals in unsere Muttersprache. Kühne Unternehmungen fürwahr!
Sollte doch die Lutherische Bibelübersetzung (N. T.)*) erst über
sieben und zwanzig Jahre später erscheinen, ungelenk zeigte sich noch
die deutsche Sprache und war nur besser als die römische, wie Lpriti
meint, zum Schimpfen geeignet, Hilfsmittel fehlten fast gänzlich. Über-
haupt ist unser Humanist der erste Deutsche, der, nach Jahrhunderten
— im Auslande — wieder Griechisch lernte^). Viel leichter würden ihm
die Arbeiten geworden und besser gelungen sein, hätte er in's La-
*) Die einschlagende Litteratur darf ich hier, einschl. Klüpfels, G. Voigts,
K. F. Stalins, Ulmanns, Froudes bezüglichen Werken im allgemeinen als bekannt
voraussetzen; man vgl. auch den betr. Artikel des vortrefflichen Reuchlinforschers
Geiger, i. d. A. D. B. und Schmidt: hist. litt, de TAlsace . . . (1879), im Register.
Brunet kennt den Lukiandruck v. 1496 z. B. i. d. k. Bibll. zu München und Stuttgart nicht.
») N. F. III. (1890), 360 ff. Das N. F. IV. (1891), 316 Anm. Bemerkte erledigt sich
nunmehr: die erste Verdeutschung der Olynthika wird ein Anderer mitteilen, auch sie ist nach
einer Handschrift „ gedichtet** worden, der erste Druck erst 1504 (Venedig) in Fol. erschienen«
Melanchthon übersetzte u. A. diese Rede in^s Lateinishe, sein Schwiegersohn, Peucer
gab sie (1562) heraus. Hiemach verdeutschte Riccius sen. (Mscr. Dresd.).
*) So sein Zeitgenosse Bebel über ihn.
•) So treffend R. z. d. Tusk.
*) An ihr hat Melanchthon, Reuchlins (hier R.) Grofsneffe, wacker geholfen.
^) Beherrschte doch der Satz „Graeca sunt, non leguntur!'* eine lange Vorzeit.
Die erste Verdeutschung des zwölften Lukianischen Totengespräcbs, 409
teinische*) übertragen ^ doch der „an Verstand und Tugend"^) un-
vergleichliche Graf, beziehungsweise Herzog Eberhard im Barte zu
Württemberg, dem er die Werke der Griechen verstandlich machen
wollte — pafeten doch die Reden eines Demosthenes so vortrefflich
auf die Zeit des „grofsen" Reichstages •) — verstand bekanntlich
der Römer Sprache nicht. So mufste Reuchlin wohl oder übel aus
der Not eine Tugend machen und wir danken ihm dies aufrichtigst.
Auch der nachher zu erwähnende Ringman, ein Elsasser, befand sich,
dem Kaiser gegenüber, in der gleichen Lage.
Meine beiden Funde nun sind etwa gleichzeitige Abschriften*) von
einer ungebildeten*) Hand, die Niederschriften des Übersetzers selbst
aber, wie diejenige der Philippenverdeutschung untergegangen.
Nach der Handschrift des Urtextes ist leider vergeblich geforscht
worden, betreflfs der unten besprochenen Stelle: ini rc rpauaw könnte
sie genau nachgewiesen werden'). —
Unter BeihiBe eines tüchtigen „Griechen", Angermann-Plaueni.V.,
habe ich, der Archivar, der schon vor über sechsundzwanzig Jahren zur
Universität ging, um die Rechte zu studieren, anfangs die Vorlage be-
arbeitet, dann die meisten griechischen, lateinischen und deutschen
Texte zur Hand gehabt und gefunden, wie schlimm es mit der Kenntnis
der Originalsprache bei einem Reuchlin, der zu der ersten Olynthika
hierin „das Feld zu behalten" und im folgenden „stracks bei dem Sinne"
geblieben zu sein vermeint, beschaffen war. Ja! überaus grofs ist der
Fortschritt in der Wissenschaft seit dem Reformationsvorabende. —
Am nächsten 21. Juli ist der vierhundertjährige Gedächtnistag der
von Württemberg erlangten Herzogswürde''), dazu soll die damalige
Reuchlinsche Festschrift endlich bekannt werden. Der „Schreiber"
in der herzoglichen Kanzlei, der einem Geheimen Rate glich, hätte
^) Ich unterlasse nicht, auf die bisher übersehene in Zedlers, nicht wieder erreich-
tem, groüsen Universallexikon enthaltene Nachricht, nach welcher R. insbesondere «Luciani
aliquot mortuarum dialog^ et de concilio deorum** ins Lateinische gewendet hat, hinzu-
weisen. Diese Übertragungen (Mscr.) sind nicht auf uns gekommen.
') Kaiser Maximilian I. (29. Mai 1498) am Grabe des am 24. Februar 1496
verstorbenen Freundes.
») R. zur Olynth, pr. und Geiger: R,s Briefw. Jedem Fürsten wurden sie zum
Lesen empfohlen.
*) Zu dem früher erwähnten Aufbewahrungsorte füge ich noch an: § Büchersachen.
Die beiden Stücke sind zu der Handbibliothek der genannten Behörde, unter H. 184 a
und b gebracht worden.
*) Man vgl. nur Anm. 64.
*) Auch Ringman (Philesius, hier Rm., sein Vorname ist, nach Zedier, Ma-
thias; man vgl. auch Schmidt a. a. O.) ist — wie denkwürdig! — derselben Hand-
schrift, nicht einem der bereits 1507 erschienen gewesenen Drucke (Florenz 1496, Venedig
1503, in Foll.) gefolgt. War doch sein Lehrer, Wimpheling, ein Freund R.s. Ein
Degen «steht ehrfurchtsvoll** vor diesem „rohen Versuche**, obwohl er die erste Ausgabe
des Buches nicht gekannt hat. Ich besitze photographische Platten zu dem, vop^ ihm, aus
Liebe für seinen Helden, erweiterten Gespräche, sowie von der Vorlage und d^ genannten
beiden ersten Originaldrucken. Abzüge dieser Denkmäler werden in^s Bismar lUseum ge-
langen; man vgl. vorläufig d Kat der betr. Bhrengesch. zum i. April V No. 836.
') Das Diplom ist z. B. abgedruckt bei Sattler (1768) Nr. a' Erhebungs-
Akt fand an demselben Tage statt. Im K. Jagdschlosse Bebenhausen bei ' ^en wird noch
das Schwert der damals verliehenen Würde gezeigt. Unter anderem Wimpheling
den jungen Herzog mit seinem bekannt gegebenen Carmen heroicii ., welches Wolf
410 Theodor Distel.
freilich, nach dem aus dem Überreichungsschreiben ersichtlichen Grunde
besser getan, das übernächste Gespräch, welches Alexander mit
seinem Vater allein hält, zumal dieses noch kürzer, als jenes ^) ist,
zu wählen. Vielleicht lag ihm dasselbe aber nicht mit vor. —
Erwägt man, dafs die Kunde von dem freudigen Ereignisse
mehrere Tage brauchte, ehe sie von Worms nach Tübingen, wo
Reuchlin auch damals war^, gelangen konnte, so sind wir
berechtigt, die erste Wiedergeburt des von dem Samosatensen
geschaffenen Rangstreites in das Ende des gedachten Monats zu setzen.
Wie nun die beiden unheimlichen Verdeutschungsabschriften aus
dem Juli 1495 nach Sachsen gelangt seien, bestimme ich, nachdem
ich die einschlagende Korrespondenz amtlich bearbeitet habe, dahin:
Herzog Albrecht, der Stammvater des Sächsischen Königshauses,
hat die Reuchlinischen Sendungen ^ vom 13. Juli und i. August
gedachten Jahres bei Eberhard d. Alt. gesehen und sie, in seiner*)
Reisekanzlei, für seinen gelehrten Sohn, Georg, und zwar noch vor
Eingang der erwähnten Philippiken^) abschreiben lassen. Da
die so entstandenen Zeilen nicht nachgeprüft worden sind, wird der
Empfanger kaum Etwas damit haben beginnen können. Zu meiner
Arbeit war genaue Kenntnis der Reuchlinischen Hand und Schreib-
weise erforderlich. Sind die Anmerkungen zur Übersetzung dem Einen
zu knapp dem Anderen zu breit gehalten, so bemerke ich, dafs ich hier
nur für klassisch Gebildete und mit der gesamten Humanistenlitteratur
Vertraute schreibe, bezw. superflua non nocent und, wie Hildebrand
sich mir gegenüber einmal äufserte, man nicht Alles geben mufs, was
man ermittelt hat, der Leser doch auch die Freude des Selbstfindens
geniefsen will.
Zum Schlüsse noch ein Wort über die Reuchlinbilder. Thor-
waldsen hat in der Walhalla die schlafende Frau von Rembrandt,
die auch Lamey wiedergiebt, und Donndorf am Lutherdenkmale
zu Worms, nach seiner Mitteilung an mich, eine Fantasiefigur
geschaffen: ein wahres und gutes Portrait des groisen Humanisten
giebt es, nach Mitteilung von Seidlitz*, überhaupt nicht.
I. Das Reuohlinisohe Beiwerk*).
a) Überreichungsschreiben an Herzog Eberhard i. B.
zu Württemberg [Tübingen] i. August 1495.
„Dem durchleuchten, hochgebornen fursten und hem, hem Eber-
von HermansgrQn an&ngs von R. gewünscht hatte. Der ^wahre Grund, weshalb
dieser ablehnte, dOrfte in der gerade von ihm fertig gestellten Übersetzung des Gesprächs
des „Spottvogels aller Schreiber** zu finden sein.
') Man vgl. dazu Rentschs kürzlichst erschienene Programmarbeit : Ludanstudien.
*) Eine, mir im K. S. Hauptstaatsarchive vorgelegene Wormser Präsenzliste fuhrt
Reuchlin überhaupt nicht auf.
*) EinWürttemberger würde wenigstens R.s Namen inuner gleich geschrieben haben.
Zur „Rede** lautet er „Reuchling** (g ähnelt dem Abkürzungszeichen för us).
*) Sonst wären wohl auch diese abschriftlich mit nach Sachsen gekommen und
— erhalten. Herzog Heinrich z. S. war übrigens mit seinem Vater in Worms.
*) Ganz Unwesentliches lasse ich unberücksichtigt, in ( ) setze ich Überflüssiges,
Die erste Verdeutschung^ des zwölften Lukianischen TotengesprSchs. 411
harten, dem eltem, herzogen zu Wirtemberg und zu Tecke etc., graven
zu Mumpelgarten, meinem gnedigen herren, erbeut ich, Doctor Johannes
Reuchlin, mine undertenige, gehorsam, willig dinst allezeit') zuvoran.
Gnediger furste und herre, in kurzvorruckten tagen hat euer fürstlich
gnade durch Demosthenes^), den hochvorrumten redener, von mir aus
krichsscher sprach in das swebischs-teutschs gebracht'), wol mögen
versten, wie sich Philippus, des grofsen Alexanders vater umbgethan
hat, bis er zu hohen ern und wirden, auch zu vil landen und leuten
komen ist. So sich nun niemanthalb *) wil geborn, vor euern herz[o]k-
Uchen wirden, mit dem auch unser allergnedigister her, der romischs
konig ietzo von neuen dingen [e. f. g.] begabt') ([hat]), das ich euer
[f. g.] vil glucks wu([nsche al]s ein Schreiber aus euer gnad([en c])anzlei
nit ([mit]) leren henden zu erschinen und aber die kurzzeit*) solichs
mines wissens kain lang arbeit hat mögen erleiden, haben ich mir
vorgenomen, ein kleins buchelein, das Lucianus von dem grofsen
Alexander, des obgemelten Philippus sone''), als man sagt, und von
Hannibal und Scipio in kriechescher sprach mit wenig Worten begriffen
und geschrieben hat, denselben euern fürstlichen gnaden zu em und
ergetzlichkeit auch in unser teutschs zu wenden, indem ich nichts sun-
ders darzu, noch darvon gethan habe, alle([i])n, das ich bei dem
sunne stracks beleiben ([b])in^), das wolle euer fürstliche gnade, umb
seiner klein*) willen, nit verachten, gleich dem eteln stein'®), daraus
man dick die dein für die grofsen erkieset*'). Damit thue ich mich
euer fürstlichen gnaden und dieselbige got, dem allermechtigen, ge-
treuelich bevelhen. Geschrieben an (I) sant Peterstag ad vincula anno
M.C.C.C.C. XCquinto".
b) Die „Vorrede«.
„Lucia([nus ei])n krichscher schre([ib])er und aller Schreiber
spotfog([el]) hat under andern seinen werken auch etliche kurzschriften
von dem gespreche der toten gemacht, derselben eine ist difs buchlin
Eigenes und Falsches, in [ ] Ausgelassenes, in ([ ]) Zerstörtes, Schreibfehler sind durch
ein ^f* kenntlich gemacht. Wörterbücher ziehe ich i. d. Rgl. nicht an, Satzzeichen, die
in der Vorlage vollends sinnlos stehen, sind neu eingefügt worden«
') Bei Anm. 31 und 65 c gekürzt.
^ Es steht „dem Ostenes". Schon hiemach ist auf den Bildungsgrad des Ab-
schreibers zu schliefsen.
8) Am 13. zuvor hatte R. die erste olynthische Rede an den damaligen Grafen ge-
sandt. Die Olynthika Hegt in einer Abschrift von der Hand des Gesprächskopisten
vor. Die R.scbe Philippikenverdeutschung ist gänzlich untergegangen.
*) J. Sinne „keineswegs".
') Es steht nbctab[t]**. Kaiser Maximilian I. ernannte Eberhard (man vgl. oben)
zum Herzoge,
•) Zu „Kurzzeit* palst „Langweil*. Waren dofch schon mehrere Tage vergangen,
ehe die Freudennachricht nach Tübingen gelangen konnte.
'') Man vgl. die vorige Seite (oben).
■) Hierher sei nur ein „?* gesetzt.
•) „Kleinheit".
*•) Generell.
") Dieses Bild ist allerliebst In dem Überreichungsschreiben zur Rede schreibt R.
„bey cleyner gäbe wolle e. g. grofsen willen vorstan**.
412 Theodor Distel.
von Alexander, Hannibal, als parthien, und Minos, als dem richter in
der helle sagende*). Denn dieser Minos ist ein gerechter konig ge-
wesen zu Creta, das man itzo Candia') heischt'), und hat sein under-
tanen gut ordenung und Satzung gemacht, deshalb in die porten als
ein aufrichten, fiirnam^) vogt, mitsampt zwaien andern, Eacus und
R(h)adamanthys genant, zu riechten aller sphein*) in der helle benent
haben. Vor demselben Minos werden nun Alexander der grofs und
Hannibal von Cart(h)ago unains, wer vor dem and([em]) gan, sitzen
ader stain soll, denen*) undermisch([et]) zuletzst'') Scipio und sagt den
zank Alexander also an^.
2. Die Verdeutschung.
„Alexander, Hannibal, Minos, Scipio.
A. Man sol mich über dich setzen, 'du afrikanischer man, von Libyen
herkomen, bann*^) ich bin besser, denn du.
H. Nain, nit alsol'^) Man sal mich über dich setzen und wil (ich)
mich darumb Minos entscheiden lossen, Minos gib ortel*^).
M. Wer seit ir?
A. Der ist Hannibal von Cart[h]ago, so bin ich Alexander, Phüippus
sone.
M. Su mer got')! So seit ir beide nit zu verachten. Aber bes")
seit ir stritik?
A. Wer ob*) dem ander [n] sitzen soll. Dieser wil sagen *^), er sei ein
besser hauptman'), dann ich, so main ich, als das*) aller weit
kunt und wissen[t] ist, das ich nit allem diesem der**) kriege
*) Erweiterung: des Urtextes.
«) Heute „Kriti".
') Schwab, iür heifst (eiscdn, ahd. vgl. Grimm, hier Gr.).
*) Es steht ^ftirman", vgl. ndenen** (nachher).
>) Pluralbildung fQr spenne (von span = Zwist); 1555 der Pleonasmus: spenn
und irdungen (irr . ., Gr.).
•) Es steht «denen**, vgl. „fiirman** (vorher).
^) Zur Form, die nachher mehrmals wiederkehrt, vgl. Gr.
^) Wann. (1471 Arnold Bestveling, d. i. der Westfale, im heutigen Kgr. Sachsen
Ähnliches 1519; 1557 Wascha für Pascha, 1735 Wase für Base; in Leipzig, Dresden
u. s. w. hört man lewen für leben, nie aber b f&r w; hier auch mehrere Beispiele
dazu, sowie gebesen, neben gewesen).
*h) „Handelnd*.
^o) Ob fiiv 6ÖV , . , Zu den Lukianpartikeln vgl. man die Festschrift z. 50 jähr. Dr.-
Jub. Ludwig Friedländers (1895), 163fr.
'd) Man vgl. Anm. 1. Die Worte und wil . . . ortel hat gewöhnlich A.
•) Näml. helfe. Markgraf Heinrich von Osterreich (f 1177) führt übrigens den
Beinamen Jochsamer, nicht Jasomirgott.
*) Gen. weswegen.
*) Ober, ober,
*h) Behauptet
^) Wie minderwerthig heute I (Hildebrand: Vom deutschen Sprachunterr. 1890,
213 f.: Feldherr).
*) Wie das (dieses).
T) Betreffs der.
Die erste Verdeutschung des swölften Lukianischen Totengesprächs. 413
und streite vorgehe, sunder gar nach®) allen denen, die je vor
mir gelebt haben.
M. Wol anl So thu euer jeder ime*) selber sin wort besonder, einer
nach dem andern, und du von Libya fach^®) zum ersten an.
H. Ein ding, Minos, komet mir jetzo zu nutz, das ich auch hieniden**^)
die kriechische sprach gelernet habe, damit mir joch*') der in dem-
selben nit etwas vorthun"). Nun sage ich, das die am aller-
meinsten") zu preisen, zu loben und mehr eren wert sein, die
vom anfang nichts odir wenig gewesen und doch zu gfrofsen
dingen komen, auch durch iren eigen tugend'*) wirdig geach[t]
sint, das sie solten über ander leut herschen und regeren. Also
bin ich ernsdich ^•) mit einer deinem habe**) ausgezogen und in
(H)Iberien komen, aldoch *^) ich dan von meinem bruder zu einem
ubervogt") gemacht worden bin, und ist mir desselbs*®) grofs
ere widerfaren, dan ich bin vor den besten geacht und gehalten
gewesen. Ich hab die Celtib[e]ros uberobert*') und die Gallos
in occident uberbunden, ich habe**) durch das hochschneibietz**)
gebrochen und was man Eridanus leit**), das han ich alles durchlofen
und so vil der stet gerumpt und so viel der leut fluchtig gemacht und
Italien in der eben **) eingenomen und bin schier in der vorstat der
verrumpten Stadt Rom komen und habe auf ein tag erschlagen, das
man ir goldene ringe, so sie in (!) den fingern getragen haben, [mit]
sumem**) hat müssen ausmessen und aus den toten die brück
über die wasser machen. Das als**) han ich gethan und
*) Noch, bezw. auch f,
•) Der isset . . , ihm selber . . . (Luther).
*•) Fähe, fange,
'•h) Man vgl. hierzu die Anm. in der vorzflglichen Verdeutschung Wielands
(hier W.).
*i) Ja; mhd., noch oft im Nhd.
") Darin vorthue. f« Die Übersetzung ist ungenau (Ärre), auch ^ipem^at =
etwas als Gewinn (z. B.) Ar sich davontragen; man vgl. die Baseler und die Reitzische
Latinisierung.
^) Dialekt, für meist; ob das folgende ernstlich auch hierher gehört? Man
vgl. Anm. I.
1«) Männl.
") Der Schwaben was eine grofse hab (Uhland), der . . . schar (Liliencr.).
«•) Allda (?).
") Etwa Unterfeldherr (2, 5).
") Daselbst.
'•) Ueberwältigt, auch sonst i. Gebr.
*•) Nicht bin, vgl. Apostelgesch. 27, 21.
**) HoheSchnee-Spitzen = Hörner (bietz, butz, Pike, pico, peak, bouton, Butte,
Butze, Boze, österr. = Knospe, pizzo, piz. Auch comu das Korn an der Flinte u. s. w.
sei hier mit erwähnt. In Schwaben heifst ein hochgelegenes Dorf (bei Ehingen) Biz;
Schmid: Schwab. W. B. (1831).
•*) Am, f, Po, Rm. verwechselt den Flufs mit der Rhdne.
*») Liegt; noch i. Gebr.
M) Das flache Land von . . (W.).
'*) Rm.: mit sestern, d. i. m. Scheffeln: summer (simmer, Luther braucht die,
wohl hebräsierende Form sirarl) = Geflecht, dann Getreidemafs. Das Ereignis selbst
ist hier nicht zu prüfen.
**) Nachher: Alles, auch Rm. hier als.
414 Theodor Distel.
dennocht***) mich nit, weder Hammoms*®), noch keins andern g^ottes
sone genenet. Ich hab auch keinen got aus mir wollen lassen
machen, noch meiner mutter träum herfurgezogen"^), sunder in*^
albe[re]t begert, ain menschs zu sein und mich des öffentlich
bekent und bewisen; ich, alzt'^) zu den vemunftigisten hauptleuten
geschetzt und geglichet •*) worden und hab mich under die streit-
barsten ritter (1) ingemust''). Ich het mich nit gebunschet mit den
Med(i)ern, noch mit den Armeniern zu streiten, die viel ehe
doren'*) jQien, dann man sie jatzet**) und einem jeden, der inen
der**) sig zumutet, dem ergeben sie sich behende. Aber
Alexander hat am ersten sein veterlich furstenthum angenomen,
das geraeret und in die weite gebreitet, durch den lauf des
glucks, doch, so (sie) '*') balde er einen sig hat behalten und den
unglückseligen Darius zu Jossen**) und zu Arbelis**) gefangen,
ist er von veterlicher wirde [abjgestanden und hat gemainet,
man sol ine anbeten und hat sich eines medischen wesens ange-
nomen, g^ut fru[n]den in den geselschaften und zeichen^") zu tot
geslagen und eins teils zu to(i)t gefangen ^^). Ich hab aber ge-
herschet nit mir, sunder meinem vaterlant zu g^t in gemein
und, so die feinde mit merklicher grofser schiffung ^^ gein
Libyen zu gefaren sein und man deshalb noch mir geschicket
hat, bin ich gehorsam gewesen und han mich selber widerumb
als ein burger gemacht. Da ich auch vorurtailt bin worden, hab
ich solichs gedultiglich gelieden. Und das alles han ich gethon
ain geborner barbarus und krischer kunst ungelernt. Man hat
mir nie müssen Homerus bucher furlesen, alsdem ^*) so hab ich kain
Aristotües^^) gehapt, der mich als ein Schulmeister underwisen hat,
sunder mich allein gebrucht angebomer, guter natuer**)- Das ich**)
*^ Dennoch, auch nachher; vgl. Gr.
'^ Mit und ohne sp. asp. 1. Gebr. (Ammun = der Verborgene).
«8b) Träume auf meiner Mutter Unkosten (W.), Traumgesichter der Mutter su er-
zählen (Fischer); zur Stelle vgl. man Anm. i.
»•) Sundern. f-
**) Das engl, already bezw. allbott (semper, saepe)?
*') Gekürzt, wie smch nachher, obersächs. höchst (Hochzeit).
*^ Ihnen gleichgestellt.
") Inngemischt. f.
•*) Do von. f.
**) Cz können leicht mit g verwechselt werden.
»•) Den. f.
*7) Eine Art Dittographle zu so.
M) Sollte R.S Vorlage 'loamS gehabt haben? Rm.: by Ipsio (I).
••) Auch d. Mehrz. i. Gebr.'
^) Zechen, f. Rm.: im den glochen (gelagen) und zechen.
^') Sinn: fing sie, um sie zu tödten.
^*) Flotte mufste damals noch lange umschrieben werden.
*») Aisdan. f.
^^) Zu den Tuskul. richtig, wie auch unten Carthago, man vgl. jedoch zu letzterer
Schreibweise oben.
*^) Dieses Wort gefiel einem Hildebrand sehr; Rm. eigenschaft, vgl. Gr. Vier
Monate vor seinem Tode schrieb er mir noch „Was macht Xhv Reuchlin ? Wie gern läse
ich die . . . Arbeit nochl"
*•) Ist, t.
Die erste Verdeutschung: des zwölften Lukianischen Toten^esprächs. 416
die Sache, danimb ich mein besser zu sein, dan Alexander.
Und, ob er hubscher ist und sein haupt in ein cosdiche*') ge-
bunden hat, das veleicht die Mazedones für schone und hoch-
geachten (!) noch dan^^) sol er billich desselben halben einen (sie!)
eteln strei[t]barn man, der sein ding vilmehr uf vemunft, dan auf
das gluck gesetzt hat, nit furgewelet werden.
M. (hat ime dannocht unhöflich sein rede gethan ferrer *^ und bafs'*),
dan einem Libyer zustat) '•^) Nun Alexander, was sagstu**o) darzu?
A. Es wolt sich wolgeburn, lieber Minos, das ich einem so verwegen
man kein antwort auf sein rede gebe, dann das gemein geschrei
und der lumet**) moch ich**) des wol berichten**^), was ich für ein
konig und dar vor*') ein rauber were, jedoch, so hab acht, ob
ich eins kleinen ubertreflfens für den sei. Als ich noch gar junk
bin gewesen, habe ich mich zu den dingen genehert und ist mir
das regement zeruet**) und widerwertig in die hende gewachsen.
Ich hob die durch acht und [bann] vervolget, [die] meinen vater
han tot geschlagen, und daran han müssen ganz [krichen-] lant
forchten, dem Verlust nach**) der Tebier, bin doch zuletzsten von
inen zum hauptman aufgenomen worden und hab mich das*^)
mazedonischen regements nit lassen benugen, so vil mir des
mein vater gelossen het, sunder das ganz erterich für mich ge-
nomen und han mir laids gedaicht, wo ich das nit gar under
mich solt bringen. Mit einem deinen zug bin ich in Asian ge-
zogen und, im grossen streit zu (!) Tegranico *'), da han ich das
feit behahen, Lydram*®) ingenomen, Jonian und Phrygiam ge-
wonen und also in und in hin im fufsstapfen alle ding erobert, bis
ghen Josson^^^) kommen bin, aldo hat nun Darius [mich] erwart
[mit] *®®) vilmalu zehentausent mannen. Des mogent ir, lieber Minos,
*^ Sächl. Hauptw., näml. Binde.
**) Danach.
'••) Komp. von ferre = sehr.
•') Desgl. von wohl.
**h^ Zu der Parenthese sind die verschiedenen Urtexte zu vergl.
••o) Derartige Zusammenziehungen sind gewöhnlich, auch hier kehren solche öfters
wieder.
'*) Leumund (vgl. Gr.).
'*) R. hat wohl mac dich geschrieben,
"h) Vielleicht hat R. ij xoorq . . . vorgelegen, dM$at dann Opt.
^ Der für.
**) Zerrüttet.
") Nach dem Verluste der Thebaner. Abweichungen vom gr. Texte!
5«; Des. f.
") Dieser Flüchtigkeits(?)- Fehler kommt auf R.s Rechnung, der Urtext (im re
Vpavtxw) mag verleitet haben, die Partikel zum Namen zu ziehen. Rm. ebenso by Theo-
gonio, seine Ausgaben von 1552 an zeigen noch Granio Die Achtung beanspruchenden
Urtexte von 1496 und 1503 sind auch hier korrekt. Rm. und seine späteren Heraus-
geber wufsten jedenfalls nichts von dem Siege A.s über die Perser.
"*) Lydian. f. Griech. und lat. Akkuss. neben einander 1
•^bj Die ganze Stelle ist ungenau wiedergegeben.
Ztschr. f. Tgl. Litt-Gescb. N. F. VIII. 27
I
416 Theodor Distel.
darbi noch ingedenk sin, das ir wissent, wie vil toten ich euch
einstags haingeschickt ^•) hab, dan der schifFmann**) sag^, das er
auf dieselben fart nit schiff gnung gehabt hab, sundem mufste
zerrissen pracketi'*) wider pletzen*^), darinen er vil uberfurt.
Das hab ich alles gethan und an meinem selbs lib schaden ge-
nomen und wunden empfangen, und, das ich dir nit viel von den
grofsen taten sage, die ich in Tyro und Arbelis begangen han,
so bin furaus bis in Indien geruckt und han das grofse mere für
ein margstein meiner oberkait gesetzt und in ire elephanten ab-
gewonnen und Porus gefangen, bin darnach über das wasser
Tanais komen und durch die Scythier*'), die nit wol nit zu
verachten sind, gezogen, mit einem grofsen raisigen zug*'^) und
han den frunden guts gethan und den feinden ubels. Ob mich
dann die leut für ein got hetten wellen halten, das inen villeicht
zu vorzihen gebesen, solche grofse taten angesehen, die sie an
mir befunden haben; und zu ende der sach, so bin ich gestorben
Begir der**) konig, aber der ist gestorben in der flucht bei
Prusia, dem fursten von Bithynia und hat sein ende genomen, als
sich einem solchen boslistigen und tyrannischen man gezimpt, dan,
wie er Italian erob[e]rt hab, ist nit no(i)t'*®) darvon vil zu sagen,
besunder mit keiner macht ist es zugangen allein mit bosheit, Un-
glauben •*) und aufsatz*'), aber auf rechts und redlichs ist nichts
dagewesen. Das er mir aber zu ung^t authept, wie ich erzogen
und aufkommen bin®'^), bedunkt mich, er wolle •^°) vergessen, was er'
mit sines gleichen •*^) zu Capua gethan, und, wie er die zeit des
kriegs in libslust vorzert habe. Ich han auch nie vÜ auf die
occidentischen gehalten, darumb bin alzt gein Orient berait ge-
wesen. Was ist grofs daran erjak[t], ob ich Italien an bluet-
vergiefsen ingenomen und Libyen überwunden hab, bis gein
Gadria'*). Es hat mich kains Streits no(i)t bedaucht, an die ende,
da man mir jetzunt gehorsam was, und mich mit namen ain hem
nanten. Das ist mein rede. Nun, lieber Minos, en[t]scheide uns
dan des'***) und dergleichen machstu wol von andern auch xmder-
richt werden.
") KorrektureD im Worte: heimgeschickt.
••) So wird, wie auf der Hand liegt, CharoD bezeichnet.
•*) Bracke (frangibulum), bzw. b2Lrke. f. Den Begriff zerrissen hat R. irrig in
a^edia^ gelegt^ er dachte wohl an das lat. scida für scheda.
*^ Auch bletzen = ausbessern.
•*b) R. hat wohl ßej'oh^ ticToa gelesen.
•*) Das Abkürzungszeichen für en ist vom Abschreiber nicht beachtet worden, B
konnte leicht für R gelesen werden: als regierender König {SamXetMov),
*^h) Nach Gr. kommt im Schwab, auch nout und noat vor.
•*o) Untreue wäre hier am Platze.
^) Noch i. alt. Nhd. ziemlich häufig.
•*h) R. wird Tpo^v (nicht rpu^v) gelesen haben.
«*c) Er wolle steht zweimal, einmal getilgt (I).
•'d) Desgl. iTatpoez (nicht kratpat^) sc. avv&v,
^) Gadira für Gadeira (Gades), man vgl. das oben zu furnam und denen Gesagte,
••b) Gen.
Die erste Verdeutschung des zwölften Lukianischen Totengespräcbs. 417
Sc. Thu gemache, fare nit füre vor, (und) ehe du mich auch gehört
habest.
M. Guter frunt, wer bistu, ader von wannen körnest, das du auch zu
den Sachen wilt reden?
Sc. Ich bin ain italischer hauptman, Scipio genant, der Carthago
zurstert und Africam mit merglichen streiten gewonnen hat.
M. Was wilt nun du sagen?
Sc. Das ich minder bin, dann Alexander, und besser, dan Hannibal,
dan ich han in ube[r]zogen und bin ime ubergelegen und er ist
durch mich in ein schantliche flucht gebracht; wie mag er nun
so unverschampt sin, das er sich gedar*'') mit Alexander umb
den Vorgang [zu] zanken, so doch der Scipio, der im ange-
sigt^®), han mich selber nit vormut, etwas zu setzen gegen
Alexandem.
Warlich! Du redest weislich, Scipio, und darumb so erkenne ich
M. Alexandern für den ersten, nach demselben dich, zuletzst wil es
auch gefallen, so sei Hannibal der dritt, denn er ist auch nicht
zu verachten".
Eine Schlufsnachricht meldet noch, dafs Reuchlin seine Festgabe
eigenhändig geschrieben gehabt hat.
Möchte meine kleine, aber mühsame Arbeit nicht nach der Lampe
riechen und ich immerhin mehr geboten haben, als von einem Nicht-
philologen zu erwarten ist: mich hat sie erfreut und gefördert, da ich
bei ihr Gelegenheit fand, mich weit und breit umzutun. Mein (?)
Bestes gebe ich wenigstens damit. — Niemand wolle mit mir in's
Gericht gehen! Sollte je Reuchlins Niederschrift gefunden werden,
so hoffe ich, dafs meine Konjekturen grofsenteils Stand halten.
Mit dem Reuchlintexte, glaube ich, ein neues, nicht zu unter-
schätzendes Lehrmittel für den griechischen und deutschen Unterricht
dargebracht zu haben. Wem mein Beiwerk nicht genügt, der kann
es nun leicht verbessern, habe ich doch eigentlich nur für den Wort-
laut der Vorlage aufrukommen. Ich kann nicht passender, als mit
Eberhards Wahlspruche „Attempto" schliefsen. —
Blase witz - Dresden.
•') Getraue, mhd., bis in's 17. Jhrh., vgl. Gr.: turren.
*^) Jemandem ansiegen bis auf W. herab, vgl. Gr.
27*
418 Radolf Schlösser.
Gotter und die Karschin.
Von
Rudolf Schlösser.
V
on dem Briefwechsel zwischen Friedrich Wilhelm Gotter und Anna
Louisa Karschin haben sich im ganzen drei Stücke erhalten:
erstens die Abschrift einer poetischen Epistel der Karschin an Gotter,
welche mit dem übrigen Nachlasse der Cotterschen Familie eine
Enkelin des Dichters, Frau Caroline von Zech geb. Schelling in Gotha,
bewahrt, und zweitens zwei Briefe Gotters an die Karschin, die mit
Varnhagens Handschriftensammlung in den Besitz der Königlichen
Bibliothek zu Berlin gelangt sind. Die Schriftstücke scheinen mir der
Veröflfendichimg wert zu sein, einmal weil über die Beziehungen Gotters
zu der „deutschen Sappho" bisher nichts bekannt war, dann aber
auch deshalb, weil die beiden Briefe des jungen Dichters einen Charakter
tragen, welcher von dem seiner sonstigen Briefe wie auch seiner poe-
tischen Erzeugnisse aufs merkwürdigste abweicht.
Wie Gotter mit der Karschin in Berührung kam, läfst sich aus dem
Briefwechsel der beiden leicht feststellen, wenn man einige Gottersche
Familienbriefe in Zweifelsfallen zu Rate zieht: darnach war die Karschin
mit einer Cousine Gotters, der Frau von Knobloch in Berlin, eng ver-
bunden und hatte auch des Dichters damals eben verstorbenen Stief-
bruder*) Avemann, welcher preufsischer Offizier gewesen war, näher
gekannt. Sei es nun, dafs diese Verwandten Versuche des jungen
Poeten der Karschin in die Hände spielten oder dafs Gotter selbst im
Vertrauen auf ihre freundschaftlichen Beziehungen zu den Seinen das
Urteil der Dichterin über seine Werke anrief — genug, im Herbste
1768 kamen zwei Gedichte Gotters der Karschin zu Gesichte, und diese
hatte natürlich nichts eiligeres zu tun, als dem jungen Kollegen, der
\ sich zu jener Zeit als Hofmeister der beiden Lausitzer Barone von
Riesch in Göttingen aufhielt, mit einer poetischen Epistel zu beglücken.
Ich teile sie hier nach der erwähnten Abschrift mit, welche von Gotters
Schwester Auguste herrührt:
Von der Frau Karschin, an meinen
Bruder Gotter bey gelegenheit zweyer von ihm ver-
fertigter Oden an den Prinz Ferdinand von Br.[aunschweig]**)
und an Hrn. Ayrer in Göttingen.
*) Wenn man ihn so nennen darf; Gotters Stiefmutter war in erster Ehe mit efnem
Konsistorialrat Avemann verheiratet gewesen.
*♦) Was es mit dieser Ode, über welche in der Epistel so weitschweifig gehandelt
wird, (ur eine Bewandnis hatte, weifs ich nicht zu sagen, sie hat sich nicht erhalten.
Gotter und die Karschin. 419
Mein liebenswürdiger geliebter Junger Freund
in den (I) Apollo, der die Schwestern und die Brüder
von seiner Götterzucht, der Seele nach vereint,
ich las das jüngste las das schönste deiner Lieder
und ward entzückt darob, der Weise Sulzer sprach,
Hört, dieser Jüngling singt den Teutschen Flaccus nach
Und lasset keinen Gott und keine Göttin rauschen
Der Greis den Er besang erhielt ein feinres Lob
Als mancher Sieger den einst Pindars Lied erhob,
Und Ferdinand der Held wird sanft und lächelnd lauschen
Auf seinen Schild gelehnt der um und um mit Laub
Von Lorbeer ist becränzt, wird hören wie der Sänger
Ihn gleich den [!] Hercul prelfst, viel priefsen ihm [!] schon länger
im ausgedehnten Thon, doch allen blieb er taub,
Den Glaucus nur und dem der Gotters Nahmen führet,
Hat Er sein Ohr geneigt, so sprach der weise Mann,
dem [!] selber mein Gesang schon lange nicht mehr rühret
Weil ich so schön nicht singen kan,
Bey Friedrichs Ruhm und Friedrichs Leben,
Zehn mahl zehn Lieder wollt ich den [I] Vulcanus geben
Für diesen einzigen Gesang,
Wenn er von meiner matten Leyer
Herab gethönet war, mir fehlt der Jugend Feuer.
« So wie ein müder Greis mit Zwang
Und kalten Lippen küfst, so sing ich itzt und nenne
Mich nur noch rühmenswerth weil ich
Den Werth von andern Dichtem kenne
Denn hätte nicht die Muse mich
Verlassen, würd ich wohl von Mitleid ganz durchdrungen
Nicht hingeflohen sein bey deiner Julie
So Thränen nasses Grab?*) Hätt* ich sie nicht gesungen
Die Klagen einer Frau?**) die nirgends an der Spree
Nicht eines Avemanns nicht einer Julie
Volkomnes Herze weifs zu finden und zu lieben
Und noch die Schatten küfst die ihr in Briefen blieben.
Gotter, der damals in dicfiterischen Dingen noch nicht sehr an-
spruchsvoll gewesen zu sein scheint, geriet über dieses Schreiben in
grofse Freude. Er, der sich sonst in seinen Briefen einer sehr ver-
ständigen und klaren Prosa bedient, und auch später die dichterische
Epistel nie anders als in scherzhaftem Sinne zu Privatmitteilungen
gebraucht, wandelt in seiner Antwort an die „Sappho** auf Bahnen,
wo man ihn anzutreffen nicht gewohnt ist. Die Vers- und Prosa-
mischung im Briefe, wie sie die Halberstädter liebten, das Lieblings-
metrum Kleists, Ramlers Schwidst, ja, selbst einige Requisiten aus der
Rüstkammer der Barden und ein preufsischer Patriotismus, den man
sonst an ihm nicht kennt — alles mufs herhalten, um die „grofse
Karschin" zu verherrlichen und sie des Gotterschen Dankes zu ver-
sichern. Der Brief lautet:
Madame,
Sie, die der Pöbel unter den Vornehmen mit gaflfendem Erstaunen
und die kleine Zahl schöner Geister mit stillem Gefühle bewundert,
Sie, die geliebteste des Appolls unter seinen deutschen Töchtern
*) Gotters Schwester Julie war am 23. Msu 1767 gestorben.
*•) Frau von Knobloch.
490
Rudolf Schlösser.
\
miissen es am besten wissen, welche unnennbahre Freude es ist, von
Kennern — Meistern gelobt zu werden. Ich will Ihnen also die Be-
wegungen nicht beschreiben, die Ihr poetischer Brief in mir hervor-
brachte, wie ich dem gütigen Schicksaal danckte, das meine Lieder
Ihnen und unsres feinsten Weltweisen Augen in einer glücklichen
Stunde zugeführt, wie meine ganze Seele glühte —
So glühtest du — so schwoll dein Herz
VoD Amphionschem Stolz, dein Blick
Schofs Feuerflammen, weit umher.
Es sträubte sich dein Haar empor,
Wie Pythiens geweyhtes Haar,
Wann Delos Gottheit in ihr stürmt.
Als du, mit Hyparenen (?) nicht.
Nein, mit der Feinde schwarzem Blut
Getränckt, von ihren Leichnahmen
Umthürmt, die Thaten Friedrichs sangst,
Und eine schwarze Wolke schnell.
Mit Donnerschall, vor dir zerriss
Und alle Barden grauer Zeit
Aus dem geborstnen Schoolse goss.
Wie einst die Helden Griechenlands
Ein Ross von Holz. Sie standen da,
In strahlenloser Majestät,
Gleich einem schattenreichen Hayn,
Von Faunen und Dryaden voll;
Ein Löwen-Raub war ihr Gewand,
Ihr HauptSchmuck Laub ; es hielt ihr Arm
Die mofsumwundne Leyer hoch,
Die Muth und Unerschrockenheit
Und HeldenTod fürs Vaterland
Den Galliern ins Herze schlug;
Sie stimmten in dem Schreckens-Ton,
Vor welchem unverwundet noch
Roms ausgeartet Heer entfloh.
So feig, als jüngst der Gallier
Unwürdige Nachkommenschaft,
Des unbekannten Rossbachs Spott,
Geschreckt vom Trommel- Ton entwich;
Sie salbten dich zu dem Gesang;
Von ihren Lippen flofs dein Ruhm,
Wie Honigseim, den weisen Bart
Herab; sie nannten dreymahl dich
Die erste der Bardinen — und
Du sangst —
Aber dancken mufs ich Ihnen, meine berühmte Freundin, dancken
für das Andenken, das Sie meiner verewigten Julie widmen. Ach,
Sie würden sie noch mehr betauert haben, wann Sie ihr vortrefliches
Herz ganz gekannt hätten.
Ich klage noch immer
Immer um Sie — mein trauriges Leben
Ist noch immer von Ihr ein einziger langer Gedanke*).
Nur sie zu besingen hat mir so wenig als Ihnen gelingen wollen.
Wann ich mich niedersezte, las ich nach meiner Gewohnheit Hallers
Ode auf Mariannen, machte das Buch zu und gab meinen Vorsaz au£
Er soll reiferen Jahren vorbehalten bleiben.
Auf Freund Avemann lege ich Ihnen eine Grabschrift bey**),
oder wie Sie es sonst nennen wollen; für ein Inscription ist es wohl
zu lang. Ich fuge noch andre Kleinigkeiten hinzu. Das Lied an
Cronegks Schatten verdient Ihre Aufmercksamkeit, we^en seiner Ver-
anlassung. Soll ich es Ihnen gestehen? Ich habe dieses liebenswürdigen
Dichters unvollendetes Trauerspiel = Olint und Sophronia auszu-
führen unternommen; Ja, erschrecken Sie nur, ich habe es gewagt
einem Cronegck nachzusingen. Vielleicht wag ich es auch mich dem
Publiko zu zeigen.
*) Die Verse stehen im IV. Gesänge des , Messias**, 778 — 780; doch lautet Vers 779
daselbst: „ Immer um siel Mein Leben voll Qual, mein trauriges Leben.**
**) Die Beilagen fehlen sämtUcb.
Gotter und die Karschia. 421
Doch ach! mich schreckt der Haufe Cerberisch liegen sie und lauren nur auf
▼on Barbaren, Beute;
Der Famens Tempel streng bewacht; Ihr Kopf ist hundert Augen voll,
Viel lieber wollt* ich in der schwarzsten - Ihr Athem Gift — o schfitze mich, Apoll,
Nacht Mit deinem Göttlichen Geleite
Durch Scyllen und Charibden fahren; Vor diesem Volck, noch unerbittlicher
Ihr weiter Schlund zermalmt, verschling^ Als Pluto selbst, dem Volck der Kritiker!
Den Jüngling, der zu kühn hinauf zur
Göttin dringt;
Und Sie schweigen jetzt, grofse Karschin? Sie haben Recht. Es
ist süfs auf Lorbern auszunihn.
So ruht der Vater deutscher Helden Es pranget an den heiigen Eichen
Im weichen Arme von Thusnelden Der Vogel Jupiters, das Zeichen
Auf dem erkämpften Eigentum; Von Roms Ruin und Hermanns Ruhm.
Die Frau Professorin Heyne*), eine vorzüglich würdige Frau, die
die Empfindung ihres Vaters, des Einzigen Lautenisten Weifse geerbt
hat, trägt mir auf Ihnen zu sagen, Madame, dafs sie sich für glücklich
schäzt unter Ihren Verehrern zu seyn, denWerth der Oden: an Gott
bey Mondenschein**) und auf Kleistens Tod***) fühlen zu können.
Dies, Madame, ist auch längst der Stolz
Göttingen Ihres gehorsamsten
d. 21. Septbr; Dieners
1 768. Joh. Fried. Wilh. Gotter.
[Ein Bogen Quart. Alle 4 Seiten sind beschrieben.]
Der zweite Brief datiert erst ein Jahr später und zeichnet sich
weniger durch auffallenden Ton aus. Gotter hatte im Herbst 1769
Göttingen verlassen und seine Zöglinge in ihre sächsische Heimat
geleitet, wo er, ohne es erwartet zu haben, verabschiedet wurde. Er
kehrte nun in seine Vaterstadt Gotha zurück, nachdem er zuvor
Dresden besucht und sich in Leipzig mehrere Wochen aufgehalten
hatte. Diese Reise war Schuld, dafs er zwei Briefe der Karschin
längere Zeit unbeantwortet liefs und ihr auch für ihre Beiträge zu
dem frisch im Entstehen begriffenen Musenalmanach erst verspätet
dankte. Er schreibt:
Gotha den 19. Decemb. 69.
Für zwey freundschaftliche, liebe Briefe, meine theuerste Karschin
und für die schönen Lieder, mit welchen Sie den Musenalmanach f)
zu beschenken beliebt haben, sage ich Ihnen den verbindlichsten
Dank. Unser Freund Boie, der itzt das Vergnügen Ihrer persönlichen
Bekanntschaft geniefstf f ), wird Ihnen die Hindernisse erzählen, die mich
*) Therese Heyne, geb. Weifs, die Gattin des Philologen Chr. Gottlob Heyne.
**) Karschin, Gedichte 1764, S. 3 ff.
***) Ebenda S. 155 ff.
t) Gemeint sind, wie aus dem folgenden hervorgeht, Beiträge zimi Almanach von
1770, der im Januar dieses Jahres erschien.
ff) Boie reiste am 15. Des. von Göttingen nach Berlin und kam dort den 91. an.
(Weinhold, Boie, S. 34 f.).
432 Rudolf Schlösser.
abgehalten haben dieses eher zu thun und ich weifs Sie dencken zu
gut von mir, als dafs Sie diesen Verzug einem Mangel an Höflichkeit
zuschreiben sollten. Ich habe auf meiner kleinen Reise nach Sachsen
die würdigen Männer alle kennen lernen, die Sie und ich so sehr
lieben und verehren, und meine Thränen fliefsen itzt gedoppelt um
denjenigen den jedes fühlbare deutsche Herz beweinet, da ich den
Menschenfreund von Angesicht gesehen habe*). Mehr als Eine
unvergefsliche Stunde ist mir in seinem vortreflichen Umgang ver-
flossen. Er dankte mir beym Abschied für meine Bekanntschaft und
umarmte mich mit der Zärtlichkeit eines Vaters. Verzeihen Sie dafs
ich Ihnen diese kleine Umstände erzähle. Wer sich Gelierten gekannt
zu haben nicht mit Enthusiasmus rühmt, ist dessen nicht werth.
Nun sieht er auf des Schmerzens HQlle Als ein verklärter Sohn das Weib das ihn
Mit unaussprechlich heitrer StiUe Seebär,
In seinem Fluge noch herab, Ihn führen zu dem rauchenden Altar,
Nun trocknen Engel ihm von Wangen Wo Thränen, die er hier geweint,
Des Todes Schrecken ab. Mit Wünschen aller, die ihn kennen
So zärtlich wird sein Cronegk ihn em- Mit frommer Mütter, Väter, Töchter, Söhne
pfangen. Dank vereint
Ein süfser Weyhrauch! brennen.
Ich wünschte etwas von der heiligen Begeisterung zu haben, mit
welcher Sie auf Kleistens Aschenkruge**) weinten, oder dafs Sie,
meine liebe Karschin dem frömmster (!) unsrer Dichter wie Sie ihn
in einem Briefe an Hn. Reich in I^eipzig nannten ein Grab-Lied sangen.
Ihre Lieder für die jüngste Tochter Ihrer Freundin***) haben mich
entzückt. Es sind die schönsten Empfindungen in der einfachsten
Sprache ausgedrückt. Mein kleiner Neffe, der Schwester Sohn unsres
verewigten Freimd Avemannsf) soll sie beten lernen, sobald er
lallen kann. Seine Mutter hat sie nicht ohne Thränen angehöret.
Das Gleichnis mit Reh und Wölfenff) ist eine Kleinigkeit, die schon
abgedruckt war, als ich Ihren Brief erhielte. Wie kömmt es dafs
Ihnen nicht lieber das Lamm eingefallen ist? Vielleicht weil es zu
oft gebraucht ist. Wenn Sie mir von denen der Frau von K.fff)
gesungenen Liedern eines oder das andre schicken wollen so werden
Sie sich Ihren Gotter sehr verbinden. Ich weifs nichts süfseres als
*) Gotter traf am 30. Oktober in Leipzig ein und verweilte dort 4 Wochen, sah
also Geliert noch ganz kurz vor seinem Tode (13. Dez.). Er war ^jede Woche einige-
male bey ihm*^ und konnte sich schmeicheln, „ einen Antheil an seiner Freundschaft
erworben zu haben** (an Kestner, 23. Dez. 1769). Geliert bot ihm gleich beim ersten
Besuche eine neue vorteilhafte Hofmeisterstellc an (an Boie, 8. Nov. 1769).
*♦) Vergl. Karschin, Gedichte 1764, S. 155 flf.
***) Die Lieder stehen im Musenalmanach für 1770 und heifsen: Bittgesang für ein
fünig^^"?^ ^°^ (^' 1^5 ^Oi G^bct eines kranken Kindes (S. 166 ff.); Danklied eines
gesund gewordenen Kindes (S. 168 ff.).
f) Also ein Sohn von Gotters Stiefschwester,
ff) In dem ^ Gebet eines kranken Kindes" heilist es S. 167: „Achf ich zittre vor
dem Schmerz, wie das Reh vor Wölfen zittert".
fj-f) Im Musenalmanach für 1770 steht S. 77 ein Gedicht der Karschin: „An die
Frau von Knoblauch",
Das Manuskript von Kraszewskis Dante-Übersetzung. 423
das an Ihren Bruder*), das dem Musen Almanach einver- [halb
abgeschnitten:] leibt worden ist.
[Ein Bogen kl. Quart. Blatt 2 ist von der Mitte an abgeschnitten.
S. 4 war unbeschrieben. Darauf jedoch noch ein Rest der Adresse:
ä Mada Madame].
Weiteres von dem Briefwechsel zwischen Gotter und der Karschin
scheint sich nicht erhalten zu haben und es fragt sich auch, ob Gotters
Begeisterung für sie, die schon in dem zweiten Briefe etwas abgekühlt
erscheint, sehr lange vorhielt. Bei seinem Freunde Boie, mit dessen
Ansichten Gotter, wenigstens damals noch, gewöhnlich übereinstimmte,
war dies nicht der Fall; er schreibt schon am 22. Januar 1770 an
Gotter über die Karschin: „Es ist eine gute Frau, wenn sie gleich
oft schlechte Gedichte macht". Ein ebenso komisches wie gerechtes
Urteil, welches die Nachwelt vollauf bestätigt hat.
. Jena.
-•••-
Das Manuskript von Kraszewskis Dante-Übersetzung.
Von
Albert Zipper.
Über Kraszewskis Verhältnis zu Dante liefse sich ein recht
interessantes Buch schreiben. Kraszewski hat sich zu wieder-
holten Malen, kürzer oder länger, über den grofsen Florentiner und
seine Werke ausgelassen, hat über dies Thema unter allgemeinem
Beifalle öffentliche Vorlesungen gehalten, hat Dante übersetzt.
In der Übersetzung Kraszewskis brachte die Zeitschrift Biblioteka
Warszawska 1866 die drei Schlufsgesänge der „Divina Commedia".
In der gelegentlich des Schriftsteller- Jubiläums Kraszewskis, in Warschau
erschienenen Publikation lesen wir (S. CII), dafs Anton Stanislawski,
welcher 1857 mit Kraszewski bekannt worden und demselben den
I. Gesang der Commedia in der eigenen Übertragung vorgelegt habe,
von ihm aufgefordert worden sei, zur Vollendung dieser schwierigen
Aufgabe alle Kräfte einzusetzen. Kraszewski habe ihm bei jener
Gelegenheit erklärt, dafs er selbst eine Übertragung des Danteschen
Riesenwerkes versucht, aber die Arbeit aufgegeben habe. Des
Weiteren wird daselbst berichtet, Kraszewski habe indessen seine
•) Gemeint ist das Gedicht im Musenalmanach S. 113: „An Herrn * * ***, welches
einen Bruder nach Berlin beruft, um den neugeborenen Sohn seiner Schwester zu sehen.
i24 Albert Zipper.
Übersetzung später dennoch zu Ende geführt, trotzdem aber Stani-
slawskis auch zu Ende gebrachte Übersetzung mit inniger Freude
begrüfst und in der Druckerei, welche er damals in Dresden gegründet,
veröffentlicht. Auch habe Kraszewski Stanislawski gegenüber erklärt,
er werde nun seine eigene Übersetzung nicht mehr veröffentlichen.
Dies ist alles, was bezüglich der Kraszewskischen Danteübersetzung
zu allgemeiner Kenntnis kam. Auf eine Anfrage bei Rittergutsbesitzer
Herrn Franz von Kraszewski, erhielt ich die Antwort, das Manuskript
der Danteübersetzung seines Vaters sei in seinem Besitze, und er
hatte die Güte, mir selbes einzusenden.
Das Manuskript stellt sich dar als ein in schwarzes Papier mit
Lederrücken und Lederecken gebundenes Buch in Folioformat. Der
Rücken, ziemlich defekt, trägt in Golddruck den Namen: Dante. Das
Manuskript bestand, wie zu ersehen, ursprünglich aus loo losen Bogen,
I — 12 und 45 — lOO starkes Schreibpapier gewöhnlichen Formats,
13 — 44 starkes Briefpapier grofsen Quartformats. Diese Bogen sind
dann von Kraszewski selbst mit Bleistift numeriert und zum Buch-
binder gegeben worden.
Die 100 Bogen enthalten auf je 2 — 4 engbeschriebenen Seiten eine
Übersetzung der Commedia, und zwar jeder Bogen einen Gesang.
Die Übersetzung, welche auf diesen Bogen zu lesen, ist der
erste Entwurf Dabei ging Kraszewski in der Weise vor, dafs er
das Original möglichst wörtlich übersetzte, keineswegs ^ in Versen,
sondern zunächst ohne Rücksicht auf Metrik, und diese Übersetzung
so hinschrieb, dafs je eine Zeile derselben je einer Zeile Dantes ent-
spricht. Dieser erste Entwurf zeigt verhältnismäfsig wenig Korrekturen.
Hie und da finden sich Fragezeichen, doppelte oder dreifache Über-
setzung eines Ausdrucks oder einer Stelle, eine sachliche Anmerkung.
So findet sich zu „Inferno" XVI. 15. angemerkt, dafs Fieron und
König Johann (Philalethes) diese Stelle mifsverstanden hätten. Zuweilen
trifft man auf Bleistiftnotizen, die Kraszewski offenbar bei Wieder-
vornahme des Originals hinzufügte.
Erst bei der Umgiefsung des Rohmaterials in die endgiltige Form
arbeitete Kraszewski unter mannigfachen Veränderungen den Ent-
wurf in die iisUbigen Verse um, welche im Polnischen dem
Danteschen Verse entsprechen, aber reimlos. Diese Umarbeitung
erfuhren jedoch in dem vorliegenden Manuskripte blofs die Gesänge
I. — IV. des „Inferno", und da ist auch das vom Übersetzer gebrauchte
Löschblatt liegen geblieben. Auch blofs bei diesen 4 Gesängen ist
unter dem Datum des ersten Entwurfes, welches am Schlüsse jedes
Gesanges ersichtlich, auch das Datum der Überarbeitung zu lesen.
Dafs Kraszewski jedoch auch Weiteres überarbeitet hat, davon zeugen
mit Tinte, seltener mit Bleistift gemachte metrische Bearbeitungen ver-
schiedener Stellen, zuweilen, wo genügend Raum war, auf dem Papier
des ersten Entwurfes, also in das gebundene Buch hineingeschrieben,
oder aber auf besonderen, teilweise anderweitig beschriebenen Zetteln
und Bogen, von denen eine Anzahl in dem Buche liegt. Solche
Das Manuskript von Kraszewskis Dante-UberseUung. 425
metrische Bearbeitungen finden sich zu folgenden Gesängen: „Inferno
XV., XXXIV., „Purgatorio" L, IV., VI., XI. (vollständig), XXVII.,
XXVIIL, XXXI., «Paradisq« III., XVU., XXXL, XXXII., XXXffl.
Offenbar bediente sich der Übersetzer mit Vorliebe besonderer Zettel,
weil die dichtgedrängten Zeilen des ersten Entwurfes nicht Raum
liefsen für die Überarbeitung, insbesondere, da Kraszewski manche
Stelle zwei und dreimal umarbeitete.
Zu Anfang 1863 verliefs Kraszewski auf Befehl der Regierung
den Boden seines Heimatlandes. Von Warschau ging er nach Dresden
und liefs sich daselbst nieder. In Dresden unternahm er 1864 die
Übersetzung Dantes. Auch über seinem Haupte schwang der Fluch
der Verbannung die unheilschweren Fittige wie über dem grofsen
Florentiner. Er versenkte sich in dessen Lebenswerk. Kein Tag
vergeht, ohne dafs er einen oder mehrere Gesänge im ersten Entwurf
hinschriebe. In 13 Tagen (27. Februar bis 10. März) war „die Hölle*^
in weiteren 13 (11. bis 23. März) „das Fegefeuer", in 22 Tagen
(24. März bis 14. April) „das Paradies" im ersten Entwürfe fertig.
Diese Schnelligkeit nimmt Keinen Wunder, der mit Kraszewskis Art
zu arbeiten bekannt ist. Wie immer, beschränkte er sich natürlich
auch damals ganz und gar nicht auf eine einzige Beschäftigung, sondern
Romane, Novellen, Korrespondenzen u. s. w. nahmen ihn zu gleicher
Zeit ein.
Nach dem Abschlufs des ersten Entwurfes, der jetzt zum Buch-
binder gewandert sein mufs, tritt eine dreimonatliche Pause ein. Erst
den 15. Juli wird der I., den 16. der IL und III., den 22. Juli der
IV. Gesang in metrische Form gebracht, der I. Gesang findet sich
sogar zum Unterschiede von dem Entwurf grofs und deutlich
geschrieben, offenbar in endgiltiger, far den Druck bestimmter Kopie
dem Buche eingeklebt. Dann hören leider, wie schon oben bemerkt,
alle Daten der Überarbeitung auf; erst aulF dem losen Bogen, welcher
die metrische Bearbeitung des „Paradiso" XXXL enthält, finden wir
neben dem 14. April 1864, dem Datum des Entwurfes, das Datum der
Umarbeitung: den 15. Februar 1865.
Nach all dem, was bisher dargelegt wurde, scheint keinem Zweifel
zu unterliegen, dafs Kraszewski die metrische Übersetzung der ganzen
„Divina Commedia" vollendet habe. Sowohl der erste Entwurf, wie
die metrische Redaktion wurden offenbar systematisch von Gesang zu
Gesang gearbeitet. Mit dem Frühjahr 1865 war das vor einem Jahre
begonnene Werk fertig. 1866 erschienen in der „Biblioteka Warszawska"
die letzten 3 Gesänge der „Commedia", „Paradiso XXXI — XXXIII.
Dafs Kraszewski an die Herausgabe seiner Übersetzung, und zwar
in einer illustrierten Ausgabe, gedacht und seine Arbeit vollendet
haben mufs, dafür finden wir noch einen Beweis in einem dem „Pur-
gatorio" vorgeklebten Bogen, worin 10 Holzschnitte aufgezählt und
die zugehörigen Stellen in der metrischen Übersetzung Kraszewskis
citiert werden. Die Stellen sind den Gesängen I. (2 Stellen), IV., V.,
i26 Albert Zipper.
XITL, XIX., XX., XXVIl, XXVra. und XXXIII. des „Purgatorio"
entnommen.
Leider dürften die Zettel und Bogen, auf denen Kraszewski
die endgiltige Redaktion niederschrieb, verloren gegangen sein, was
in Anbetracht dessen, dafs die Manuskripte Kraszewskis Legion waren
und dafs seine Bibliothek und seine Papiere vielfach herumwanderten,
leicht erklärlich ist. Wohl wäre zu wünschen, aber erscheint kaum
erfüllbar, dafs die losen Zettel, die ja am leichtesten verloren gehen,
als unnötig weggeworfen werden konnten, sich fanden und die ganze
Übersetzung Kraszewskis bekannt würde.
Dem Manuskript vorgeklebt ist von Kraszewskis Hand der g^ofs
und deutlich geschriebene, für den Druck bestimmte Titel: [Komedja
Boska [Danta [Alighieri [przeklad wierszem miarowym [J. I. Kra-
szewskiego. (Die göttliche Comödie des Dante Alighieri, metrische
Übersetzung von J. I. Kraszewski.) Und darunter folgendes Motto,
welches auch auf das Titelblatt kommen sollte:
E pero sappia ciascuno, che nulla cosa per legame musaico ar-
monizzata si puö della sua loquela in altra trasmutare senza rompere
tutta sua dolcezza e armonia. Dante. Convito T. I. c. 7.
Auf einem anderen beigeklebten Blatte sehen wir eine von Kra-
szewski gezeichnete Kopie des bekannten Danteporträts (Dante im
Alter). Auch auf einem der Manuskriptzettel findet sich eine Zeich-
nung Kraszewskis, der Malen und Zeichnen, letzteres bis in seine
letzten Lebenstage, als Liebhaber mit Erfolg trieb.
Inwieweit das hier auf Grund des Manuskripts Mitgeteilte die zu
Anfang erwähnte Stelle der Jubiläums-Publikation berichtigt, bedarf
nicht weiterer Auseinandersetzung.
Lemberg.
BESPRECHUNGEN.
-•••-
RUDOLF SCHWARTZ: Esther im deutschen und neulateinischen
Drama des Re/ormationszeitalters. Eine litterarhistorische Unter-
suchung. Oldenburg und Leipzig o. J. ft8p4j, Schulzesche Hof-
Buchhandlung und Hof'Buchdruckereu 2jy S. 8^. 4 Mk.
Während diejenigen biblischen Stoffe, die sich im Reformations-
zeitalter einer grofsen Beliebtheit erfreuten, wie Josef und der ver-
lorene Sohn, eine Reihe von Dramatikern anzogen, die eine t)edeutende
dramatische Leistung aufzuweisen haben, hat der Estherstoff zwar auch
eine Reihe von dramatischen Bearbeitungen gefunden, aber nur wenige,
die den Ansprüchen an ein Kunstwerk genügen. Man kann eigentlich
nur Naogeorgs Hamanns und dem ihm nachgebildeten Drama des
Chryseus ein verdientes Lob zusprechen; alle übrigen Dichter, die
sich mit dem Estherstoff beschäftigt haben, sind unbedeutend. Das
hat auch der Verfasser der vorliegenden Untersuchung erkannt und
die Urteile, die er über die einzelnen Dramatiker fallt, sind richtig
und zutreffend. So heifst es von Hans Sachs, dafs seine dramatische
Technik noch auf einer sehr tiefen Stufe stehe, und ebenso in Bezug
auf die zweite Hans Sachsische Bearbeitung, dafs der Dichter in
23 Jahren als Dramatiker keine merklichen Fortschritte gemacht habe ;
von Voith, dafs seine Technik noch auf einer niedrigeren Stufe stehe
als die des Hans Sachs, dafs von dramatischer Entwicklung keine
Spur zu finden sei; ebenso von Pfeilschmidt; von Pfeffer, dafs sein
Drama ein durchaus kompilatorisches Machwerk sei; von Murer, dafs
sein Stück über das Niveau der Mittelmäfsigkeit nicht hinausgehe; von
der Berner Hester, dafs sie eine litterarische Bedeutung kaum be-
anspruchen könne u. s. w. Es war daher sehr fraglich, ob es sich
lohnte, eine so eingehende Analyse aller, auch der vielen unbe-
deutenden und wertlosen Estherdramen zu geben, wie es der Ver-
fasser getan hat. Referent hat selbst einmal, nachdem er schon ver-
schiedene Estherdramen besprochen und beurteilt hatte, den Gedanken
gehabt, eine zusammenhängende Darstellung zu liefern, aber er ist
davon wieder abgekommen, weil er sich von dem für die Litteratur-
geschichte zu erhoffenden Ertrage nicht viel versprach. Indessen da
der Verfasser der vorliegenden Arbeit sich einmal der grofsen Mühe
428 Besprechung^en.
unterzogen hat, jede dramatische Bearbeitung des Estherstoffes auf
ihren ästhetischen Wert oder Unwert hin zu prüfen, so wollen wir
seinen Eifer anerkennen, zumal da wir ihm bezeugen können, dafs er
mit klarem Verständnis und mit liebevoller Hingabe den an sich
spröden Gegenstand behandelt hat. Dabei hat er keine Mühe gescheut,
den bisdahin noch unbekannten Standort manches Estherdramas aus-
findig zu machen und sich das betreffende Exemplar selbst von fi-emd-
ländischen Bibliotheken zu erbitten; ja selbst die nur handschriftlich
vorhandenen hat er eingesehen und einer Analyse unterzogen, um
eine möglichst ausgiebige Vollständigkeit zu erzielen. Zwar wird inuner
nur der Standort des einzigen vom Verfasser benutzten Exemplares
angegeben, und nur dann und wann wird nach Goedeke oder Roth-
schild ein zweites oder drittes nachgewiesen ; aber es war ja nicht
seine Absicht, eine Bibliographie des betreffenden Dramas zu geben,
und wir können schon zufrieden sein, dafs Goedeke in dieser Be-
ziehung mehrfach vervollständigt ist. Ich will nur erwähnen, dals das
Drama des Chryseus und des Mauricius auf der Leipziger Universitats-
bezw. Stadtbibliothek sowie in Berlin vertreten ist.
Bei dem anerkennenswerten Bestreben, die litterarische Zusammen-
gehörigkeit der einzelnen Estherdramen und ihrer Abhängigkeit von
einander festzustellen, sah sich der Verfasser veranlaist jedem Drama
eine ausfuhrliche Analyse zu widmen; das Ergebnis hat er in einem
Seite 171 aufgestellten Stammbaum in graphischer Darstellung ge-
geliefert, aus dem ersichtlich ist, dafs nur Hans Sachs, Voith und
Naogeorg selbständig gearbeitet haben und dafs sie von den nach-
folgenden benutzt worden sind. Es ist jedoch nicht recht klar, warum
der Verfasser sich entschlossen hat, diejenigen Dramen, die unter sich
in einem engeren Abhängigkeitsverhältnisse — Konnex oder organischem
Konnex, sagt der Verfasser — in zwei Gruppen zu verteilen, während
doch eigentlich drei durch die oben genannten Urheber bestimmte
Gruppen entstehen. Richtiger wäre es dann gewesen zu sagen: zur
ersten Gruppe gehören Hans Sachs und Voith mit ihren Ausläufern,
zur zweiten Naogeorg mit seinen Übersetzern und Uberarbeitem.
Unter den letzteren befindet sich der Verfasser eines bisher noch un-
bekannten, in der königlichen Hof- und Staatsbibliothek zu München
handschriftlich erhaltenen Jesuitendramas aus der Zeit von 1576 — 79,
und Caspar Wolfs Drama, das die Universitäts-Bibliothek zu Basel in
einer Handschrift bewahrt und auf das bereits Bächtold aufmerksam
gemacht hat. Wolfs Drama ist von Schwartz im Anhang abgedruckt
worden. Desgleichen war das Drama eines unbekannten Verfassers
von der stolzen Vasthi, das Schwartz in Darmstadt fand, bisher un-
bekannt.
In einem dritten Abschnitt werden diejenigen Dramen behandelt,
die kein bestimmtes Abhängigkeitsverhältnis erkennen lassen. Es sind
lateinische Bearbeitungen, von denen einige bei Goedeke nicht ge-
nannt sind, wie Eutrachelius (1549), Fabronius (1600 — aus einer Hand-
schrift der Casseler Liandesbibliothek — ) und Zevecotius (1623). Die
Besprechungen. 429
Jesniten-Scenarlen, die die Jahre 1627 — 1683 umfassen, sind den Hof-
und Staatsbibliotheken zu München und Wien entnommen. Zuletzt
folgt noch eine Übersicht über die dramatischen Behandlungen des
JEstherstoffes aus späterer Zeit, obgleich dies aufserhalb des Rahmens
der vorliegenden Untersuchung lag.
Vermifst haben wir ungern biographische Nachweise über
die einzelnen Dramatiker. Es ist doch immerhin lehrreich, zu
wissen, mit wem wir es tun haben. Die meisten sind zwar
Geistliche oder Schulmeister gewesen, aber warum soll man
nicht erfahren, wo und in welcher Stellimg sie gelebt und gewirkt
haben? Referent hat sich bei seinen litterarischen Untersuchungen
jedesmal danach umgesehen, welche Stellung der betreffende Drama-
tiker im Leben eingenommen hat; es lassen sich dann mancherlei
Schlüsse auf seine Umgebung, auf seine Zeitgenossen u. a. machen.
Goedekes grofs angelegtes Werk würde eher einem Bücher- oder
Schriftenverzeichnis als einem litterargeschichtlichen Grundrifs gleichen,
wenn darin nicht auch das biographische Moment stets berücksichtigt
worden wäre. Natürlich bei Männern wie Hans Sachs und Naogeorg
hätte der Hinweis auf die hervorragendsten Biographien genügt; aber
auch die andern alle flöfsen uns ein litterarisches Interesse ein,
dem Schwartz nicht entgegenkommt. Und hätten nicht Pfeilschmidt
und Pfeffer sich selbst, der eine als Geiger und Buchbinder zu Cör-
bach, der andere als Schreib- und Rechenmeister in Braunschweig,
auf den Titeln ihrer Dramen genannt, so würden wir sicherlich nicht
erfahren, in welcher Lebensstellung diese grofsen Dramatiker ge-
standen haben.
Von Druckfehlern möchte ich verbessern: S. 91 Z. i divitiae, S. 124
Z. 21 Termini, S. 142 Anm. i secundum, S. 226 Z. 16 besitzt, S. 256
Anm. 5 No. IV, i, S. 265 letzte Z. 251 statt 25.
Wilhelmshaven. Hugo Holstein.
Letteratura Norvegtana del Doit Santi ConsoH, Docente privaio in
Catania. Mt'lano, Ulr. Hoepli xSg^ (Manuali Hoepli CXLVIJ
XVI ^o S. i6\
Die bekannte und mit Recht gerühmte Sammlung Hoepli, die ein
hervorragendes populäres Bildungsmittel des modernen italienischen
Geisteslebens geworden ist (vgl. das kundige Urteil Scartazzinis, Beil.
zur Allg. Zeitung 1893 No. 97), bringt in ihrem neuesten Bändchen
eine norwegische Litteraturgeschichte; ein erfreuliches Zeichen der
430 BesprechoDg^en.
Steigenden Aufmerksamkeit, die man in Italien der jüngsten der
germanischen Litteraturen zuwendet, zugleich ein ehrenvolles Zexig-
nis für den umfassenden redaktionellen Blick der Leitung: dieser
Sammlung.
Der Verfasser hat den Begriflf »Norwegische Litteratur* in weitestem
Umfange gefafst, und fuhrt den StoflF in drei Perioden (Altnorw. Litt-,
Dänische Periode, Das XIX. Jhr.) wohlgegliedert, klar, und z- T. mit
überraschender Reichhaltigkeit seinen Lesern vor; nicht leicht dürfte
ein bedeutenderer Schriftstellemame des modernen Norwegen vermilst
werden. Den Anspruch originaler Untersuchungen und Ergebnisse an
ein Werkchen mit dem Zwecke, den die ganze Sammlung hat, stellen
zu wollen, wäre unbillig. Genug an dem, dafs der Verfasser verstanden
hat, mit Fleifs und Umsicht sich in einen Teil des ihm sprachlich wie
geographisch so endegenen Stoff einzuarbeiten und ihn seinen Lesern
geschickt und zweckentsprechend darzubieten. Kein Vorwort giebt
darüber Aufschlufs, unter welchen Umständen der Verfasser die Arbeit
zu vollfuhren hatte, ob er in der Lage war, in Skandinavien seine
Vorarbeiten zu machen, oder sich auf die Werke beschränken mufste,
die ihm in seiner Heimat zugänglich waren, was zu wissen für die
Billigkeit des Urteils über die Mängel des Werkes nicht unwichtig wäre.
Auch über die Quellen, an die er sich gehalten, ist nichts direkt ge-
sagt, während es doch auch dem Buche nur zum Vorteil hätte ge-
reichen können, mit einer kleinen ausgewählten Bibliographie versehen
zu werden, an statt der in Noten gegebenen zufalligen Hinweise, die
den Leser schwerlich fördern. Am schlechtesten beraten war der
Verfasser jedesfalls in der Altnorwegischen Periode; von der ganzen
modernen wissenschaftlichen Litteratur über dieselbe scheint er keine
Kenntnis zu besitzen; für die Eddafragen wird beständig auf Bergmann
hingewiesen, und die sonstigen litterarischen Hinweise in den Noten
sind ähnlichen Schlages: Torfaeus, Schöning, Suhm, und andere
antiquierte Autoritäten. Dem entspricht auch die gänzlich veraltete
und unbrauchbare Darstellung der betreffenden Periode im Texte,
begleitet von offenbarer Unkenntnis der Sprache, die in Citaten zu
Tage tritt: Die altnordische Sprache habe gewöhnlich „danska tüngu"
geheifsen; der Verfasser der Heimskringla heifst in den Noten S. 14
„Snorra Sturlasyni" (sie! als Nominativ gebraucht); u. ähnl. mehr. Es
hiefse den betreffenden Abschnitt neu schreiben, wollte man hier alle
die groben und kleinen Fehler des Buches korrigieren. Ein paar
Proben genügen. Die sog. Eddagedichte gehen in das „siebente
und achte Jahrhundert" zurück (S. 24); was hier der Verfasser zusetzt,
nimmt er an anderer Stelle, indem er den Codex Regius erst in den
Anfang des vierzehnten Jahrhunderts setzt (S. 28). Wer das Lied
von Skirnis Werbung mit Lokasenna und Harbardslied als eine Ver-
spottung des alten Götterglaubens in eine Reihe stellt (S. 30, 31) hat
es schwerlich gelesen; so wenig als jemand, der von einem Gegen-
satze der Formen im Alt- und Neuisländischen spricht (S. 15), jemals
einen neuisländischen Text oder eine neuisländische Grammatik an-
j
Besprecfaungen. 481
gesehen hat. In diesem Abschnitte ist der Verfasser seiner Aufgabe
ganz und gar nicht gewachsen, und man mufs im Interesse des Buches
nur dringend wünschen, dafs er diese Partie von Grund auf neu be-
arbeitet und sich hierbei besser informiert. Sollte er aber nicht vor-
ziehen, sie ganz fallen zu lassen? Es ist eine schöne Sache um den
nationalen Sinn der Norweger, der sie antreibt, so viel als möglich von
der altisländischen Litteratur für ihr Land in Anspruch zu nehmen; was
aber die nüchterne Kritik Norwegen zuzusprechen in der Lage ist, ist
so wenig, dafs es nicht zu einer altnorweg^schen Litteraturschilderung
ausreicht, die mit der unvergleichlich reicheren isländischen Litteratur
untrennbar verwachsen ist. Kann jemand die in Norwegen gedichteten
Eddalieder getrennt von den isländischen Teilen der s. g. poetischen
Edda behandeln? kann die Entwicklung der norwegischen Skalden-
poesie von der Islands gesondert dargestellt werden? Zum Begriffe
einer nationalen Litteratur gehört doch mehr als die blofse geogra-
phische Abgrenzung. Entweder wird im vorliegenden Falle ein Litterar-
historiker sich darauf beschränken müssen, rein äuiserlich aus der
westnordischen Litteratur alle Werke und Dichter auszusondern, die
in Norwegen zu Hause sind, oder er mufs die gesamte isländische
Litteratur mit hereinziehen, wenn er nicht auf die litterarhistorische
Entwickelungsdarstellung verzichten will. Consoli schwankt zwischen
beiden Gesichtspunken: für eine blofs norwegische Litteraturgeschichte
giebt er zu viel, für eine allgemein westnordische zu wenig. Das
gleiche gilt mutatis mutandis auch für die zweite Periode, die Zeit
der s. g. „gemeinschaftlichen Litteratur" („Faelles-litteratur"), d. h. die
vier Jahrhunderte von der Kalmarischen Union bis zur Lostrennung
Norwegens von Dänemark 1814. Eine norwegische Nationallitteratur
giebt es in diesem Zeiträume nicht, die wenigen Norweger, die littera-
risch aufgetreten sind, haben entweder rein provinzielle Bedeutung
oder sie nehmen ihren Platz in der dänischen Litteratur ein, wo allein
sie litterarhistorisch gewürdigt werden können. Das beste Beispiel
hierfür ist der gröfste Sohn Norwegens in diesen vier Jahrhunderten,
Ludwig Holberg, dessen Ehrenname „Vater der neueren dänischen
Litteratur" alles besagt. Vorbedingungen wie Wirkungen seiner
litterarischen Tätigkeit liegen in der dänischen Litteratur, und daran
können die paar Norvagismen seiner Sprache, auf die sich Consoli
(unter Verweis auf Dietrichson) beruft, nichts ändern. Auch hier
bietet sich nur die Alternative, entweder die dänische Litteratur mit
in Betracht zu ziehen, oder auf eine wirkliche Litteraturgeschichte zu
verzichten. Das Geburtsland allein giebt eben noch keinen hinreichen-
den Grund für die litterarische Einreihung eines Autors ab.
Von norwegischer Litteratur kann man erst seit dem Erwachen
des norwegischen Nationalbewufstseins reden, und mit der Darstellung
der ersten Anfange desselben, die sich in der Gründung der Nor-
wegischen Gesellschaft in Kopenhagen 1772 manifestieren, hat auch
eine norwegische Litteraturgeschichte zu beginnen; alles vorhergehende
kann und soll nur einleitungsweise kurz berührt werden. Wenn der
Ztachr. t rgl Litt-G«Kh. N. P. Vlll. 28
489 Besprecbnngfen.
Verfasser hierüber eine kompetente norwegische Stimme zu hören
wünscht, so sei er auf die Darstellung von J. E. Sars in seinem grofsen
Werke „Udsig^ over den norske Historie", oder auch desselben Autors
Büchlein „Historisk Indledning til Grundloven" verwiesen, wo er eine
allgemein historische Begründung der oben ausgesprochenen Meinung
finden kann. Fafst man in diesem Sinne den Begriff Nationallitteratur
tiefer, so wird man schwerlich die norwegische Litteratur eine der
ältesten und reichsten Europas nennen können, wie es Verf S. i tut,
und wird von früheren Perioden, in denen wir nichts speziell nor-
wegisches zu erkennen vermögen, absehen. Das Ersparnis von fast
hundert Seiten, die Perioden gewidmet sind, welche teils in der islän-
dischen, teils in der dänischen Litteratur ihren Schwerpunkt haben,
wird bei einer Neuauflage dem Verf. Gelegenheit geben, die Behand-
lung der eigentlichen norwegischen Litteratur, seiner dritten Periode,
voller und tiefer auszugestalten, und über eine stellenweise recht dürre
Aufzählung von Namen und Daten zu heben. Die Quellen, denen der
Verf. in diesem Abschnitte folgt, waren ungleich besser als die für
die erste Periode benutzten, und man kann hier den Fleifs, die Um-
sicht und geschickte Anordnung seiner Kompüation nur loben. Der
Abschnitt ist reich, nur zu reich an mitgeteiltem Stoffe; was das
Kapitel „La prosa scientifica moderna^ mit Aufzählung nicht blofs
historisch-ästhetischer Prosawerke, die man sich noch gefallen lassen
könnte, sondern auch zoologischer, medizinischer, juridischer etc. Ab-
handlungen norwegischer Gelehrter in einem Abrifs der Litteratur
zu tun hat, ist unldar, wenigstens pflegt man den Begriff ,Litteratur^
gewöhnlich nicht auf Werke wie „Histoire naturelle des crustaces
d'eau douce de Norvege", „Über die provisorische Behandlung frischer
Wunden" oder gar Abhandlungen über die Bereitung des Bieres
(S. 264) auszudehnen. Dagegen vermifst man die schärfere Charak-
terisierung der litterarischen Strömungen. Die von Henrik Jäger glück-
lich genannte „Hulder-Romantik" ist nicht hinreichend gekennzeichnet
und abgegrenzt; der Einflufs von Georg Brandes* Lehren, der zum
Beispiel in der Entwicklung Bjömsons so scharf und ausgeprag^t zu
Tage tritt, und überhaupt der gesamten norwegischen, wie dänischen
Litteratur seit 1870 eine neue Richtung gegeben hat — ob zu ihrem
Heile oder nicht, mag hier unerörtert bleiben — wird nirgends er-
wähnt; und ähnliches mehr.
Vieles von den Mängeln, die getadelt werden mufsten, beruht
wohl auf den besonderen Verhältnissen, unter denen der Verf. arbeiten
mufste und die sich unserer Kenntnis entziehen. Immerhin bliebe zu
wünschen, dafs dem Verf. vergönnt wäre, bei einer Umarbeitung sein
Werk von den Flecken zu befreien und namentlich die ganz ver-
unglückte erste Periode einfach radikal abzuschneiden, die jetzt durch
den ungünstigen Eindruck, den sie hervorruft, dem sonst brauchbaren
und verläfslichen Büchlein starken Eintrag tut. Vielleicht emancipiert
sich dabei der Verf. auch ein wenig von seinen norwegischen Quellen
Besprechungen. 483
und deren Gesichtspunkten: die Behauptung, dafs die politische Tren-
nung Norwegens von Dänemark eines der wichtigsten Ereignisse der
Geschichte Europas im 19. Jahrhundert sei (pg. 7) klingt stark, als ob
sie aus dem Munde eines ,,norsk Nordmand^^ stamme, wird aber
schwerlich viele Anhänger finden.
Breslau. Otto L. Jiriczek.
-•••-
ADOLF STERN: Studien zur Lüteraiur der Gegenwart. Mit neun-
zehn Porträts nach Originalaufnahmen. Dresden. Verlag von
V. W. Esche, 18g $. VIII. 44^ S. Lex. 8\ Mk. 10, $0; geb. 12,^0.
Unter den Versuchen, den Verlauf unserer litterarischen Ent-
wickelung in den letzten fünfzig Jahren geschichtlich darzustellen, ge-
bührt der Vorzug noch immer der Arbeit Sterns mit der er i886
Vilmars „Geschichte der deutschen Nationallitteratur" bis auf die Gegen-
wart fortführte, nachdem er soeben im 6. und 7. Bande seiner „Ge-
schichte der neueren Litteratur" ähnliches für die gesamte europäische
Litteratur, die deutsche eingeschlossen, geleistet hatte. Der Anhang zu
Vilmar, „Die deutsche Nationallitteratur vom Tode Goethes bis zur
Gegenwart", ist inzwischen (Marburg 1894) in dritter manigfach ver-
besserter und bereicherter Auflage erschienen. Je mehr sich aber für
die historische Betrachtung dabei die „führenden Geister" aus der
kaum übersehbaren Masse der neueren Schriftsteller hervorhoben,
desto mehr mufste Stern auch das Bedürfnis empfinden, die Charakte-
ristik der einzelnen weiter auszuführen als ihm innerhalb des streng
gezogenen Rahmens möglich war. Der Wunsch mufste um so stärker
sich geltend machen, als Stern mit mehr als einem der leitenden Dichter
persönlich befreundet war. Aus seinem Briefwechsel mit Hebbel hat
Bamberg im zweiten Bande der Hebbelschen Briefsammlung Mitteilung
gemacht. Stern ist als Dichter durch Hebbel gleichsam in die Litteratur
eingeführt worden. Mit der Charakteristik Hebbels eröflfnet er nun
als kritischer Essayist seine Porträts aus der Litteratur der Gegen-
wart. Freilich gehören von den neunzehn Charakterköpfen bereits
sechs als Menschen der Vergangenheit an: Hebbel, Frey tag, Bodenstedt,
Storm, Keller, ScheflFel. Aber der g^öfste Teil ihrer Werke und ihr
Einflufs sind noch in der Gegenwart voll Leben. Ja Sudermann und
Hauptmann schulden der von ihnen Gröfseres erwartenden Zukunft
erst noch ihre Taten. So sind es wirklich Ansprüche der Gegenwart,
denen Sterns geistvolle Studien gerecht zu werden streben. Aufser
den bereits genannten sind von deutschen Dichtern noch Fontane,
88*
484 Besprechuns^en.
Baumbach, Seidel, Wildenbnich und Rosegger behandelt, von schwedi-
schen Viktor Rydberg und Graf Snoilsky. Alfons Daudet ist als
Vertreter der neueren französischen, Walter Besant als Vertreter der
neuesten englischen Litteratur eingeführt. Ibsen und Tolstoi sind nicht
blofs die hervorragendsten Erscheinungen der norwegischen und
russischen Litteratur unserer Tage; sie haben auf unsere eigene
Litteratur wahrend des letzten Jahrzehnts so starke Einwirkung aus-
geübt, dafs sie wenigstens vorübergehend Bürgerrecht in ihr bean-
spruchen können. Zu ihnen sollte sich eigentlich Zola gesellen. Aber
Stern erhebt ja keinen Anspruch darauf, eine systematische Auswahl
zusanunenzustellen. Das Buch ist aus einzelnen Vorträgen hervorge-
gangen. Innere Neigung und vielleicht auch äufsere Anlasse haben
Stern bestimmt gerade diese litterarischen Charakterköpfe zu zeichnen.
Und für die Ausfuhrung der Zeichnung wissen wir ihm rückhaltlos
Dank und Anerkennung.
Diese Essays sind nicht nach einer Schablone gehalten. Fein-
sinnig weifs Stern seine Darstellung der jeweilig behandelten Indivi-
dualität anzupassen. So wird bei Hebbel aller Nachdruck auf die
Vorführung der Persönlichkeit gelegt, wie sie aus den Tagebüchern
und Briefen in herber Gröfse sich erhebt, bei den Romanschriftstellern
steht die charakterisierende Inhaltsangabe ihrer Hauptwerke im Vorder-
grunde, und erst von ihnen aus wird der Verfasser selbst beleuchtet.
Die Ausbildung menschlicher und dichterischer Eigenart durch alle
Wandlungen ihres Lebensganges wird bei Keller, Scheflfel, Bodenstedt
veranschaulicht. Besonders Scheffel ist ausgezeichnet charakterisiert.
Bodenstedt scheint mir etwas überschätzt zu sein. Sein mifsglückter
„Alexander in Korinth** ist zudem keine eigene Dichtung, sondern
nur eine Bearbeitung Lylys. Aber treflfend wird sein Schaffen doch
wieder charakterisiert durch Sterns Urteü: „Sein Talent behielt einen
improvisatorischen Zug, was zu gleicher Zeit einen Vorzug und einen
Mangel bedeutete". Etwas zu hart will mir das Urteil über Freiligrath
(S. i8) scheinen, ein „unbequemer Störenfried bei dem Picknick der
zeitgenössischen Litteratur". Aber um Zustimmung zu jeder Einzelheit
handelt es sich ja auch nicht. Lie poetische Lebensempfindung und
das gesunde künstlerische Genufsverlangen, die unbefangene Würdi-
gimg des Lebensvollen bezeichnet Stern selbst als das Entscheidende
in der Beurteilung der litterarischen Erscheinungen. Und diese Eigen-
schaften verbinden sich bei ihm mit gründlichster Kenntnis der
modernen Litteraturen, einem durch eigenes dichterisches Schaffen
gefestigten Eindringen in die poetische Technik. Die modische Me-
thode, „die für jede poetische Erfindung und jede lebendige Gestalt
eines Dichters am liebsten gedruckte Quellen fände" verurteflt er
ebenso wie ,Jenen deutschen Gelehrtengeist, der im Grunde genommen
alle lebendige Kunst und Dichtung als eitles Spiel mifsachtet". Diese
Mifsachtung hat ja zu jener, lange Zeit als vornehm geltenden Igno-
rierung der ganzen nachgoetheschen Litteratur geführt, die sich für
Besprechungen. 486
Litteratur und Litteraturgeschichte als gleich schädlich erwiesen hat
und jetzt in der Hauptsache glücklich überwunden scheint. Sterns
„Studien zur Litteratur der Gegenwart" sind selbst ein erfreulicher
Beweis der zwischen lebendiger Litteratur und Litteraturgeschichte
gewonnenen Fühlung. Und die prächtige Ausstattung, welche die Ver-
lagshandlung dem Buche angedeihen liefs, zeigt wenigstens von der
HoflFnung, dafs auch weitere Leserkreise ernste Belehrung über die
bedeutenderen Erscheinungen der Unterhaltungslitteratur verlangen.
Die Fachgenossen werden sich an der formvollendeten Darstellung
und feinsinnigen Beurteilung erfreuen, mit der Stern altbekannte Ge-
stalten und die etwas fremderen schwedischen Dichter ihnen aufs neue
so anziehend vor Augen zu stellen wufste.
Breslau. Max Koch.
-•••-
HEITMÜLLER, FERDINAND: Adam Gottfried Uhlüh; Holländische
Komödianten in Hamburg 1^40 und ly^i. Hamburg und Leipzig,
Vo/s, i8p4. X, ijj S. S^. (Litzmanns Theatergeschichtliche
Forschungen Bd. 8.)
Durch seine 1891 erschienene Schrift ^Hamburgische Dramatiker
zur Zeit Gottscheds und seine Beziehungen zu ihm^ (von mir besprochen
im Litteraturblatt für germanische und romanische Philologie 1893
S* '55) ^^ sich Heitmüller als Forscher auf theatergeschichtlichem
Gebiete bereits* vorteilhaft bekannt gemacht. In dem vorliegenden
Hefte sind zwei Abhandlungen vereinigt, deren erste einem fast ver-
gessenen Schauspieler und Dichter des vergfangenen Jahrhunderts,
Adam Gottfried Uhlich, gewidmet ist. Er war „einer von jenen
akademisch gebildeten jungen Leuten, die mit einem geringen schau-
spielerischen Talent ein etwas gröfseres schriftetellerisches vereinigten,
die infolge dessen zum Theater drängten und die eben durch diese
Doppelbegabung für jeden strebsamen, mit der Zeit fortschreitenden
Bühnenleiter einen unschätzbaren Gewinn bildeten": so charakterisiert
ihn in Kürze Litzmann in seiner Biographie Schröders (i, 11). Mit
liebevoller Hingabe ist Heitmüller nun Uhlichs Lebensbeziehungen und
seiner schriftstellerischen Betätigung nachgegangen und es ist ihm ge-
lungen, aus einer Menge weitzerstreuten, bisher unbekannten Stoffes,
wenn auch hie und da ihm unaufhellbare Punkte geblieben sind, eine
monographische Skizze zusammenzustellen, die den Eindruck eines ge-
schlossenen Ganzen macht. Gewifs ist Uhlichs Wechsel- und dornen-
voller Lebensweg geradezu typisch für eine grofse Gruppe von gut-
beanlagten Existenzen, die damals nicht zur Entwicklung und Reife
486 Besprechttfis^eB.
kamen. Ob der Verfasser seine Abhandlung mit Glück in zwei Teile
„Leben" und „Werke" zerlegt hat, möchte ich bezweifeln: das Un-
zulängliche dieser technischen Anordnung macht sich durch die vielen
Verweisungen auf die spätere Besprechung der Werke im voraus-
gehenden Lebensabrifs und noch mehr durch die Verstreuung der
höchstinteressanten Briefe Uhlichs an Gottsched in bdde Abschnitte
deutlich. In Uhlichs wechselvollem Leben nimmt naturgemäfs unser
gröfstes Interesse seine Beziehung zu Gottsched in Anspruch, auf
deren Entwicklung HeitmüUer auch ein Hauptgewicht legt; die nach
Gervinus' etwas scharfem Ausdruck „erbärmlichen" Theaterstucke
werden in einigen typischen Vertretern eingehend besprochen, auch
Proben aus ihnen mitgeteilt. Besonderer Dank gebührt dem Wieder-
abdruck der tiefempfundenen „Beichte eines chrisdichen Komödianten"
(S. 94). Bei der Au&ählung von Uhlichs dramaturgischen Arbeiten
S. 91 hätten die Angaben aus seinen Briefen an Gottsched S. 18 und 19
wieder mitberücksichtigt werden sollen, dafs er eine Übersetzung von
Riccobonis Reflexions sur tous les theätres de l*£urope begonnen
und „Regeln für Schauspieler", um Goethes Titel zu wählen, „Ver-
schiedene Anmerkungen, insoweit sie den Komödianten angehen", zu-
sammengestellt hat; von beiden Ausarbeitungen scheint nichts durch
den Druck bekannt geworden zu sein. — Im einzeben habe ich fast
nichts zu bemerken. Die S. 3 Anm. 4 zum Schlufs erwähnte Angabe
Löwens, Uhlich sei aus Beigern gebürtig, wird mit seiner dortigen
Tätigkeit als Advokatenschreiber (S. 6) irgendwie zusammenhängen.
S. 40 vorletzte Zeile verlangt der Vers „Heldenmut". — Eine allge-
meine Ausstellung mufs ich an den sprachlichen Sammlungen machen,
die Heitmüller hie und da aus Uhlichs Schriften giebt. Schon in der
Besprechung seines früheren Werkchens habe ich Heitmüllers Auf-
fassung verschiedener sprachlicher Formen tadeln^ müssen, die er als
willkürliche, des Metrums wegen vorgenommene Änderungen auffafst,
während es nichts anderes als Dialekteigenheiten der Dichter sind;
so bezeichnet er auch hier fälschlich als „des Verses wegen vorge-
nommene Wortumbildungen" Formen wie „brachtst", „machtst", „er-
hübe" (S. 50), „Wiesenwachs", „sich wegern", „redte", „Ungelücke"
(S. 65), wgnug", „Bräutgam", „mindste", „zärtlichs" (S. 69); an der
letzten Stelle spricht er sogar von „willkürlicher Elision des bestinunten
Artikels" in Wendungen wie „sich in nächsten Graben stürzen", wo
doch dialektische Assimilation aus „in'n" vorliegt wie so oft beim
jungen Goethe. Nicht auffällig, wie Heitmüller S. 61 und 69 meint,
sind für die Sprache des vorigen Jahrhunderts „anstehen" und
„Hinderniss" als Femininum; nur graphisch ist der Wechsel von „-gen"
und „-chen" im Diminutivsuffix, deren Nebeneinander Heitmüller nicht
erklären kann (S. 50, 65, 69, 85). „Dahlen" endlich (S. 43, 61) be-
deutet nicht „küssen", sondern überhaupt „tändeln" von Verliebten
und begegnet auch im Werther (Der junge Goethe 3, 283).
Die zweite Abhandlung schildert Spielplan und Charakter zweier
holländischer Komödiantentruppen, die 1740 und 1741 in Hamburg
Besprechungen. 4S7
spielten; eingeleitet wird sie durch einen kurzen Überblick über
holländische Truppen in Hamburg vor jenem Zeitpunkt. Der
Charakter des holländischen Theaters, wie es auch noch zu Georg
Forsters Zeiten war, der es in den Ansichten vom Niederrhein schildert,
lieg^, wie bekannt, vor allem in der besonderen Betonung des deko-
rativen imd^mimisch-orchestischen Teils der Bühnenwerke, die bald
genug zur Übertreibung wurde; dieselben Eigenheiten zeigen auch die
Stücke jener Wandertruppen, die der Verfasser kurz mustert. Unter-
suchungen vergleichend-litterargeschichtlicher Natur hat derselbe nicht
beigefügt, über welche ja an dieser Stelle vor allem zu berichten sein
würde. — Die Bühnenkunst der holländischen Rhetoriker (Rederykers)
betreffend (S. loi), kann auf te Winkels Aufsatz in Pauls Grundrifs
der germanischen Philologie 2, i, 481 verwiesen werden, wo auch
weitere Litteratur angegeben ist.
Weimar. Albert Leitzmann.
•••-
Kurze Anzeigen.
Schon wiederholt hatte ich Gelegenheit in dieser Zeitschrift (VI, 144; YD, 233
und 490) die trefflichen MSrchensammlungen von Jacobs, wobei Herausgeber, Künstler
und Verleger ihr Bestes taten, zu rühmen. Dem ersten Bande der keltischen Volkssagen
folgte nun ein zweiter, gleich angelegt, ausgeführt und ausgestattet: More celtic fairy
tales, selected and edited by Josef Jacobs, illustrated by John D. Batten. London,
David Nutt 1894. X, 334 S. 8^ Von den ao Stücken sind die meisten gälischer Her-
kunft, irisch oder schottisch, zwei kymrlsch. Die Anmerkungen, kurz gehalten, geben
doch die nötigen Nachweisungen. Die Bilder sind wie immer stilvoll und von köst-
lichem Humor erfüllt. Die in den zwei Bänden veröffentlichten 46 keltischen Sagen
gewähren nur eine kleine Auslese, während die 87 englischen die wesentlichsten Typen
darbieten. Jacobs ist sich dessen wohl bewufst, er ist im englischen Märchenschatze
auch mehr zu Hause, aber auch seine keltische Auswahl verdient alles Lob.
Rostock. Wolfgang Golther.
Das in den Anmerkungen zu Reuchlins Obersetzung (S. 410) erwähnte Gynmasial-
programm „Lucianstudien** von Johannes Ren t seh (Plauen i. V. 1895) besteht aus zwei
Teilen: einer anziehend und treffend durchgeführten, vergleichenden Charakteristik von
Lucian und Voltaire und einer reichhaltigen Übersicht ^Das Totengespräch in der Lit-
teratur". Von Aristophanes „Fröschen" bis zu den Ausläufern in unserm Jahrhundert,
bei denen freilich der bedeutendste Nachzügler, Grillparzer (Werke XI,* 175 und 197),
unerwähnt geblieben ist, werden die satirischen und erzählenden Gespräche im Hades
in ihren wichtigsten Erscheinungen charakterisiert. Wie Lucian im Altertum als der be-
deutendste Vertreter der ganzen Gattung erscheint, so beginnt sie auch erst mit seiner
Wiederentdeckung im 15. Jahrhundert in den neueren Litteraturen. In der neueren
deutschen Litteratur sind Schillers Hadesgespräche in den Xenien und Goethes Farce
„Götter, Helden und Wieland ** die bekanntesten Totengespräche geworden. Zu Goethes
Satire hat Alfred Schöne in den Anmerkungen seiner Rede „über die Alkestis des
Euripides" (Kiel 1895, Universitätsbuchhandlung) einen kleinen aber nicht unwichtigen
Beitrag geliefert. Goethes Anführungen aus dem Euripides stimmen nicht mit dessen
Wortlaut überein; Goethe läfst Herakles von der Todesgöttin sprechen, während bei
Euripides Thanatos ein männlicher Gott ist. Bnimoy bemerkt auch zu seiner Übersetzung
(1733) ausdrücklich „ce personnage est masculin**. Goethe hat weder Brumoys französische
noch David Christoph Seyboldts deutsche Übersetzung, deren „Verfasser ganz im Bann
von Wieland steht**, benutzt, sondern die lateinische von Ämilius Portus (Heidelberg 1 597)
in der Thanatos wirklich durch mortuorum reginam — Goethes „Königin der Toten*^
wiedergegeben ist.
Wie Schönes Kaiserrede über die Alkestis führt auch die Richard Försters
über „Iphigenie** (Breslau 1895) in höchst anziehender und belehrender Weise von der
antiken Sage und Dichtung durch die verschiedensten, besonders französischen Bc:art>ei-
tungen hindurch bis zu Goethes Neudichtung der Taurischen und Schillers Übersetzung
der Aulidischen Iphigenie. Von Lagrange „Oreste et Pilade" (1699), meint Förster,
habe Goethe die Liebe des Thoas zu Iphigenie übernommen, einige Motive von Guy-
mond de la Touche (1757), Einzelheiten sogar aus der einst verspotteten Behandlung
von Wielands Alkeste (?).
Die Geschichte der Wiederbelebung der älteren deutschen Litteratur bei der ,«vod
Anfang an Gelehrte und Dichter zusammenwirkten** (vgl. Golther VI, 275 f.) bat, so in-
teressant das Thema ist, bisher doch nur wenig eingehendere Untersuchungen aufzuweisen.
Um so erfreulicher ist es, dafs der neueste treffliche Herausgeber und Biograph Tiecks,
Gotthold Klee seiner auch selbständig (Meyers Volksbücher Nr. 1028/9) erschie-
nenen Lebensbeschreibung Tiecks ein eigenes Programm „Zu Ludwig Tiecks germa-
nistischen Studien** (Bautzen 1895) folgen liefs, das zusammen mit Bernhard Steiners
Untersuchung über Tiecks Bearbeitung der Volksbücher (Berlin 1893), diese wichtige
dichterisch-wissenschaftliche Tätigkeit des Romantikers nun ziemlich erschöpfend dar-
stellt. Da die Anzahl der gedruckten Briefe Tiecks nicht sehr grofs ist, gewinnen die
durch Klee zum erstenmale veröffentlichten Briefe, in denen Tieck an A. W. Schlegel,
von der Hagen, den Verleger Mohr über seine Bearbeitung der Minnesänger und des
Heldenbuches berichtet, doppelte Bedeutung.
Von der bei G. J. Göschen erscheinenden N. P. der ^ Deutschen Litteraturdenkmale
des 18. u. 19. Jahrh.** (deren ausführlicher Prospekt dem Hefte beiliegt), ist als Fort-
setzung der von K. Redlich besorgten wichtigen Göttinger Musenalmanache (s. S. 143)
der Almanach auf 1771 herausgekommen.
-•••-
Die
byzantinischen Quellen von Gryphius' „Leo Armenius".
Von
August Heisenberg.
Die Quellen des „Leo Armenius* sind bis jetzt nicht genügend
untersucht worden. Die Gryphiusforscher haben sämtlich den
Standpunkt eingenommen, den H. Palm*) folgendermafsen kennzeichnet:
„Der Dichter ist der Darstellung seiner Quelle Schritt für Schritt
gefolgt; er bekennt in der Vorrede selbst, iiicht nötig gehabt zu haben,
andere Erfindungen in seinen Stoff zu mischen. Die einzige Abweichung
von der historischen Darstellung, dafs er das Kreuz, welches der
sterbende Kaiser ergriffen, zu demselben gemacht habe, an dem Christus
gekreuziget worden sei, hält er für so erheblich, dafs er sich deshalb
besonders entschuldigt". Dennoch ist eine genauere Untersuchung
schwerlich ohne Nutzen; aus einem Vergleiche des Dramas mit den
Quellen läfst sich besser als auf irgend eine andere Weise ein Urteil
über die dramatischen Absichten und Fähigkeiten des Dichters gewinnen.
Wir wollen es indessen den Litterarhistorikern von Fach überlassen,
dieses Urteil zu fallen und die Folgerungen aus unserer Untersuchung
zu ziehen, wir begnügen uns im allgemeinen damit, die tatsächlich
vorhandenen nicht geringen Abweichungen des Dramas von den
Quellen festzustellen.
Es sind dies die zwei byzantinischen Historiker Georgios Kedrenos
und Johannes Zonaras. Beide lebten um die Wende des ii. Jahr-
hunderts, dieser etwa fünfzig Jahre später als jener. Beide erzählen
also die Schicksale des Kaisers Leo Armenius, der von 813 — 820
regierte, nicht aus eigener Anschauung, sondern nach älteren Quellen;
Zonaras folgt im allgemeinen der Darstellung des Kedrenos. Im
*) Kürschners Deutsche Nationallitteratur, Bd. 29 S. IV. — Vgl. L. Parisers
Besprechung von Wysockis umfongreichem Werke, S. 485.
Ztschr. f. vgl. Litt-Geach. N. P. VIII. 29
i40 August Heisenberg^.
Übrigen brauche ich hier die Quellen dieser beiden Schriftsteller nicht
zu untersuchen. Ebenso ist es für unseren Zweck gleichgültig, dafs
das Bild, welches uns diese beiden Historiker von Leo entwerfen,
nicht vollständig ist. Uns sind aufser ihren Geschichtswerken noch
eine Reihe von anderen Quellen erhalten, mit deren Hilfe wir die
Charakteristik dieses in mehr als einer Beziehung hervorragenden
Kaisers trefflich ergänzen können. Aber A. Gryphius nennt als seine
Gewährsmänner Kedrenos und Zonaras*), andere hat er nicht gekannt
oder jedenfalls nicht benutzt; sie kommen daher für uns nicht in Betracht
Um ein ganz klares Bild von der Vorlage des Dichters zu geben,
teilen wir den Bericht des Kedrenos mit, von dem Zonaras nur in der
Anordnung abweicht, dem aber Gryphius am meisten gefolgt ist.
Vorauszuschicken ist, dafs auch Leo sich mit Gewalt des Trones be-
mächtigt hatte. Sein Vorgänger, der Kaiser Michael Rhangabe, hatte
Unglück im Kampfe mit den Bulgaren; infolge dessen fiel das Heer
von ihm ab und rief auf Betreiben des Michael , eines der Unterfeld-
herrn, den General Leo den Armenier zum Kaiser aus. Michael
Rhangabe verzichtete auf die Krone und ging ins Kloster, Leo über-
häufte nach seiner Tronbesteigung seinen Freund Michael mit den
höchsten Ehren. Nun erzählt Kedrenos folgendes**):
1. Mt^a^X de 6 i( ^Apuoplotß äel roc^ Ifiitpotr^eu iTrexrseuoßsvo^ iid vo jaeKov i:poßaafar>ßy
diaßoXiju ia^e xa^attixntü^' hq TOUTf^v el xal du{r^spw<: o/juo^ disoffeunzfieuo^ ixTr^rsTW
Ttapä ßaatXiu}^ raxTtxä dtddaxeof tov öttö X^^P^ kaov. i^v dk 6 Mt^ai^X od vatz SXXm^
mitratiz xaxtacq imppeT^^ fsovov, dXJC ivotret xal yXwmrrj^ dxoX/iüiav, xai vä iuSk» -r^c
6. xapdia^ ix^aoXi^eaf dovdfiBvoq fioaTfjpui, iXäXee yap toav rd rtaptardfiBvov eec roofMj^payiq,
dnepptTTTei dk xal xar* auroo rou ßaaiXiw^ Xoyotjq oox ed7:pe7xt^, dTxtXjUßu a^j-np ts
xat^atpemv T^q ßamXeia^ xal r^ olötou auf^uyip ydfwv iTZureuov ävomou. Sixp ö ßaadso^
wjv^av6(xevoq izpwTov fikv edfir^^duo}^ iTxtpävo irapaTzpoaTWtoüpsvo^ r^v yvÄötv, dTsoarfi^sat
ToÖTOif T^c d^üpoyktücaia^ xal t&u xaxwv ßouXeußdrwv ßouh'tpzvo^' jJ^Jb« ydp ahrdfif
10. dJUr/UmQ v6<m dxoXdöXw yXibaaiQ dooXeuouTa. a*^ de xal Toipaeueasai xcd d^zseiocc oTqn
-napetxot )^pwpjevoq eö^uq ßkv i^apvoofievov eSpurxe Td Xsyofxsva, ddeta^ dk itdXof tttv-
^y^xora tw\> xard axomv jirj d^undpLevov , imi^iy^atv advip axojoouq xal wvaxooara^
XeX7^i96rto^, oirtve^ imXXdxt^ iv eumj^iaiq xcu fxh^atq ßeraxtifoußsvov r&v ^ps'joiv utso tw
oiuoij xaraXaßSuzeq xal röiq izporipov^ fidXa "Kpo^^/uaq imTv^ifievou xavd&i^Xov ?aEWK/<ir
15. T^ ßaoiXeX, i/iveTo de T:po<j^7jxi^ Tzurrsoic tu/v diaßaXXoßivtov tw Mt^a^X xai 6 'E^-
ßooXto^, dv^p ^pevTjpyjq xal amn^&T^q rw ßamXei, obx äyvannoq dk np Mfj^a^X. ooro^
TzoXXdxiq iiaa^eiv aövdv r^^ d^upooroptaq im^eiprqaat:, xal itapao^eaa^ atjrob*, xai pa^
oSvioq dxaipwq itappy^mdZeai^at xal elq itpou'jrrov kaurbv avvw^etu xofduvov leapaxaXsaaQ
*) Bibliothek des litter. Vereins in Stuttgart CLXII. Andreas Gryphius Trauer-
spiele, herausgegeben von H. Palm. Tübingen 1882 S. 14.
**) Georgius Cedrenos ed. J. Bekker. Bonnae 1839 S. 61 ff.
Üie byzantinischen Quellen von Gryphius' „Leo Armenius*^ 441
1. iTcst^ fiif iiKtde, d^la mzvra rä xar' oötov ri&iqai rw ßaadeL xcu J^ Tcpd puä^ ijfJiipc^
T^ xarä adpxa Xptarou wo ^oö ^fjJöv yevvi^asw^ de^dpsifoq rdq ßT^vuaei^ 6 ßaurdsöt;
iid ß^fiaro^ re iv tocc äaijxpTjTsioiq ixct&tae, xoi dxptßi^^ i^erourrij^ rwv ßjjuo&evrwy
i^ero. äJUaxeTtu towov ropayvldo^ ö M^ca^X, aört^ xaraßicdm ÖTtd t^c ii'apysta^ ribv
5. iAej^wv äpayxaa^et^' xcu ipij^^ ix^iperai xar^ ajbrou Tojpt xaraarpiipat rijv Z*tnjv,
ifißhid'ivroq iv rj TLtifiiytp rou iv rw TcaXaTup XourpoO, ehai dk x(ü adr^ &swpdu töv
ßaunXia rou dpdfiaro^» ^yero pku ohv t^v iid ^^dvarov deofitun)^, bTttsto dk xal 6 ßa-
aOjsbq ^ear^? e&foc dpcpfWfAieva^ roo dpwfiivou. iv oatp dk ro ftsTa^b miprrifutß&f dtdim^fiay
il ßaaüÜ^ ßeodoata, rd rou 'Apaaß^p ■^üyärpiov, fxa^ouaa r6 piXXov izpa^^^vat i^ecac
10. /A£Ta OTmudtjq ort mXJi^ rou ^akdpou, -Kopaßax^f&v re xdx pjoiftxbv xotou/Jiivrjf rdv ßaunHa
TS xaraXaßouaa äldurropd t£ xal ^ofid^oy äitsxdXEt dtq oddk ri^p ^etav •^fiipav äyst dta
^tdouq, rou ^sioo ßiXlav awfiaToq pLeraa^eiu, xou r^^ ^Pß'^ dtBxutkuey, ouroq dk vut
^e<p fjti) 'TTpoaxpouüat dedotxtbq, rb fuv mipaxP^f^^ itaXofrpoimv aönp ri^v (narv^ptav ißpd-
ßsooBf ailhipov da roec ^tom itepc&ei^ voo M^ai^X, xal r^^ x^oföc kawnp ri^v <ppoupav
15. iiarpitpa^t Ttp Tsama r^v abxou ^uJlaxi^v äifari^T^ai. npd<: ^k r^v aoZoyov iToarpa^el^
i^ ^'iyw fiiu. St yvvat, Ttu^ adt^ ßoj^Biatq icsur&^ iitoa^aa d>^ ixiXsuaaq' ab dk oöx
el^ fiaxpäv i7t6^ei xcu ttz tij^ ißi^ vrjduoq ßkaarfifiaTa rä diüoßtjoofieva, el xou tr^/iepov
jue Tou dpxtprfifxaroq ijXeoi^ipmüa^^\ oOno tv ßiXXov, el xal mppw izpo^nx^ ^v im-
Ttyota^ äXi^i^^ äne^oißaaz,
20. Im folgenden erzählt Kedrenos mehrere Vorzeichen, die auf Leos
Tod hindeuteten. Dann fahrt er fort (S. 64, 16):
oiq ärtaat deifiaToufisvo^ 6 ßaaiXeb^ iiaiXXBTo re rtp diei xat xijv fpo^^v ixupicuuevo. dtb
xaJt äj'poTo^o^ dtersXet laxp* oXt^u r^v uuxra. ao^Tspa rotvov fj ßamkixatrspa ßooXeu-
üdfisvo^ r^v iid x^ itaToav ipipooaav mjXida dtappj^^a^ xarsaxöiTet rä ivdov. el<Fekßwv
25. dk efe Ti dwpdrtoy d'iafxa dpa slq ixTtXT^^tu od t^v Tu^ouaau äyov rrördv slde yäp röv
fikv xardxpyrov im, anßddoq ift/rpfXijq ndyo /le/aXonpsTOü^ duaxetfievou, rdu dk -mimav iid
$j)pou xaraxXofopzvov rou iödcpouq. TKpiepyoTEpov dk TtpooeX^wu iTcsaxÖTtet rdv Mt^aijX,
sl OTtep ^tXet iv rot? xuptacvofiivot^ xal r^v ^wrjv äß^tßoXov fyoum yivta^atf imizdXatov
rtva xal i/ißepqjLvov bm^wxret ümfov fj roövavTtov ä<pp6vrtda xal i^^v, th^ ^ebpev äviratq
30. b-m^vra (xak yäp ob3* iita^fuvo^ oötüv dtuituuiai ufj^uasv)^ elq ßßt^ova äv^^^rj ^ufjjbv
Toec 'Kap' iXm/Sa Touroeq ^sdfxam, xai. äw^Ei xarä a^oXi^Vf deevdv oöx aönp fwvov äXXä
xai TW TKima emaeüov, Kai raura fikv 6 ßaatXso^, oöx iXa^e dk raura toüc ^^pl 'n^*'
miToav, dXXd te? r&v TcpoxoiTtov roo Mt^a^X ix r&v <potvix&v ^topaüdpsvo^ ifißddwv
dTr^jrystXe wdvra aa^^. occ ixisa&et^ xal fuxpou detv ix^pove^ ol Txpl rbv Ttamav ye-
35. vofisvot iaximovro mb^ äv röv xivduvov dta^oyoiBv. Ö7:sXaß7:sv äprt ijfsipa, xal axsTnrsrat
wn^cv Toubfds 6 Mt^ay^X^ &^ (pu^^txd^ Teva? xy^Xi^aq ßouXerat rtvt rmv &eo^ptXtov i^ayo-
peuüat dta ßeoxrurwo, dv fierd raura na rou xavtxXeiou rtrifiy^xev d^uojüLart, iTteri-
rpamo youv roüro yevitr&at rxLpd ßaaiXiw^. ö ^k M^a^X ddetaq Xaßofievoq Xiyei npöq
röv ßeoxrurrov "xatpoq. St ßeoxrtare, Toe? üuvwfmratq ina'KstXrjijat^ &q bI p.^ rdj^ufv
40. OTXUüoomv i^tXia^at rou xtvduvou "Sj/iä^, itdvra rd r^ npä^eto^ dvaxaXuipat rm ßamXei.'"
xal rou ßeoxrurrou tb^ ixeXeuff&Tj imc^aavro^, dq dytuviav oö r^v ru/ouimv ivineaov ol
auvunope^, xal dteaxoimuvro mu? äv aörot re aat&ehv xai röv oaov oödirao i^avetv xiv-
duveuaavra dtamixKuev. (tdTtrouaof oÖv ßouXijv ijrt^ aörou^ re ippuaaro xaX np M^ad^X
Tzpöq rj ßaöiXeuf xal rr^v Cttnjv i^apiaaro. i6o^ iixxpdrei rore, ytxij, ü>tn:ep vuv, ivdov
45. rwv ßaatXeüov, ixrore Xaßöv ri^v dp^v, ßivecv rouq iv r^ ixxXjjata rou TozXariou (pdXXovraq
jÜLTiptxouqf dX}^ iv Toc«? Idiot/^ c^buH^ itept dk rpirjjv ^uXaxj^v rfj^ vuxrö^ dyetpcir^ai xavd
29*
442 August Heisenberg:.
tfuveuy^eaaof, xeä iv neve axoreoK/f r^ ixxXtimaq ^/j^tfovrrc votsup tö ow/^ij/na. i^edi^ot^va.
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Tcire &ij ü^rmj^üaüfTt^ d^poou oi auvwftprai ix ptkv t^ icptorr^^ i^pdpTm^w 'Kp€M^}^
Tcpd^ rAv Tou xX-f^pou i^ap^ou dtfotdayTj^ivn^, erre -KopdfMOfov dura nlT ßaunXät xava
rv^v atüjaaTtx^v ipu^ipstatf, sht r§ mpi r^v xe^aX^if bpfiuf, "KEptßokj' ^v ydp ^ &pa
xpofuü^q TE xai )[$tßipto^ xai Aä toöto iu TxptfiXT^puiai mhfTS^ dtexapripouu aTe]ra>af
10. repoc^ idkovz raq xs^PoXä^ d^urdrotiz fteptxaXu'TrrouTeq. dJUC 6 ßkv voo x^poo xa^ijytfwnf
rinß xhlkwjiy dneaKfaWf rov mXov r^c x£^aXij^ d^ekmv xai r^ <paXdxpa rr^v cutTT^pioD/
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avrjpioü shri^, xai r^v roö ^ofiLtan^ptou OEtpdv ^tapitdaa^, ^ &q Ttve? Xifown &am
araupQv, rd^ ßoXdq riov Tdr^rTouTiov ids^ero, dDi oi auvw/WTOt d^poot xai od xa&* iva
16. imdpafwurs^y ö pkv xard T^g xe^aX"^ äXXoq xavd rmv anXäj^vwv xai SUXo^ dJLlitj[6^
TOU awjnam^ xaTsrtrpwaxov. xai ^po^ou ßiv roa dvria^e, nc^ f9euti araopw Tag vuv
^t^dfu dpfid^ ditoxpoüSfiMvo^' Ttdyro^su ^ä*^ i^rjptov ßampßvo^ xai Tzpo^ rd^ rpwastq
d'HoxapmVf rtXturmov iva ttvd y^e^ropTtäidv iiapepovTa IXav tijv tUij/i^v, opxw r^^ ztS
vatp ivotxouariq xartdiofut /dpcro^ xai ^uaaa^ai i^tXtndpei' rijq twv Kpa^ißun/ecwy
dO. ohro^ 6 j'swädaz wpßtjvo j^evusäz* dXJC o/% "o^/ opxtov* elmov '^dXXd fp6»w¥ xoMpo^
TtaUi xard r^ X^*P^ duofraua^ 7cXij/:^v, ^ p^ pi&yoy r^ xXstdö^ vaoTrpt diampLaf^
dXXd xai rd xipaq avuaTtorefaiiv tou araupou. dTtoripyet di rec aitroö xai n^v xc^cbli^,
^Ifirj xaTaTKTtovrjpeifou rtäq "Tdrj/m^ xai dxXiäaavro^.
Nach einer kurzen Charakteristik des Kaisers heilst es weiter
26. (S. 67, 20):
difiQpTIfUvou dk roö Aiovro^ oi diHQpTjxdre^ aupovre^ rdv rouvoo vexp^ dyj^XjBt»^ M, tuv
ZtxuXwu sl^ rdv lintddpofjtov i^ya^ov^ itavrbq adtoi^ ixpojpTjpiuou ^oßoo dta z6 r^
ßaaiXetou adX-^u onXm^ oixetot^ näuvoi^su ixpti^pa^^ijvaL xarioTtaaau dk t&v ßaatXßw»
xai ri)v aörou ya/isr^v auv tdiz naoapai rexvoe? adr^c V dk Mi^a^X rijq ix
30l toü Tvnaa <ppoüpdz dvev^eec Ifrc roii^ Ttodaq iv atdyjpoitedat^ fya>v xarta^p^/iivoo^ &ia rd
r^v xXoit T&v at^pwv iv np x6Xma tou Aiovro^ ^oXdrTta&at, o5rwq d*^ efys yctrra ranr
atdr^pwv ird t^ ßaaiXttov ixä^tae ^povov, xai Ttapd mivTwv viov Tiw^ livTunf iv vm na-
Xarup dyaYopeu^Elz repoaexovi^dfj.
Den Verlauf der Handlung hat Gryphius im grofsen und g^zen
nicht geändert und konnte ihn nicht wohl ändern. Der Stoff ist so
reich und an sich so dramatisch, dafs es nur geringfügiger Zusätze und
Verknüpfungen bedurfte, um ein wirkungsvolles Schauspiel zu geben.
Von der fünften Scene. des ersten Aktes an, in der Michael gefangen
genommen wird, spielt sich denn auch das Drama in der von Kedrenos
vorgezeichneten Weise ab. Gleichwohl sind einige Abweichungen
charakteristisch. Der Dichter läfst das Schauspiel beginnen mit einer
Unterredung Michaels und des Krambonites, den er „den von Krambe**
nennt und neben Michael zum Führer der Verschworenen macht. Sie
Die byzantinischen Quellen von Gryphius' «»Leo Armenius". 448
&ssen mit einigen Freunden den Entschlufs, Leo noch vor dem Weih-
nachtsfeste zu ermorden. So war die Sache der Anhänger Michaels
mit der seinen unauflöslich verknüpft, und ihr energisches Eingreifen
später durch ihre eigene Sicherheit bedingt. In der zweiten Scene
treten Leo und die Hofbeamten Exabulios und Nikander auf. Leo
zeigt die Absicht Michael mit dem Tode zu strafen, aber, und dies
ist eine bemerkenswerte Abweichung von den Quellen, er zeigt sich
zaudernd und bedenklich, er furchtet das Urteil des Heeres und des
Volkes, bei dem Michael in grofsem Ansehen steht. Davon lesen
wir bei den Historikern nichts; da ist Leo langmütig, aber nicht un-
entschlossen. Im Drama fordert er, man solle noch einmal versuchen,
Michael zur Abbitte und zum Gehorsam zu bewegen, und in der fol-
genden Scene sind es Nikander und Exabulios, die für Leo handeln.
Der erstcre ist eine von Gryphius frei erfundene Figur. Er hat den
Exabulius bei Kedrenos in zwei Personen zerlegt und dem Nikander
einen energ^chen, durchgreifenden, dem Exabulios einen bedächtigen,
vorsichtigen Charakter gegeben. Nicht Leo sendet, wie bei Kedrenos,
dem Michael Späher und Horcher, sondern verhält sich ganz passiv.
Die beiden Höflinge beschliefsen, Exabulios solle noch einmal den
Michael in Güte zum Gehorsam ermahnen und Nikander solle dieser
Unterredung mit Bewaffneten verborgen beiwohnen. Die nächste
Scene zeigt die Unterredung. Michael, der den Exabulios für seinen
Freund hält, spricht sich in seiner gewohnten unvorsichtigen Art offen
aus und enthüllt seinen Plan, den Kaiser zu töten. Darauf wird er in
Fesseln geschlagen. Nicht der Wein hat ihm, wie in den Quellen
erzählt wird, die Zunge gelöst; im Drama hält er den Exabulios für
einen Gesinnungsgenossen und legt sich deshalb keine Mäfsigung auf,
er wird ein Opfer nicht nur seiner Zügellosigkeit, sondern auch seines
allzugrofsen Vertrauens gegen einen vermeindichen Freund.
Der Anfang des zweiten Aktes fuhrt uns in die Gerichtssitzung.
Aus den wenigen Worten des Kedrenos (S. 441 Z. 4 ff.) hat der Dichter
eine vortreffliche Scene geschaffen. Hier, wo die Rhetorik am Platze
ist und von selbst dramatisch wirkt, befand sich Gryphius' Kunst auf
ihrem eigensten Boden; diese Scene ist vielleicht die beste und wir-
kungsvollste im ganzen Drama. Michael wird von den Richtern ein-
stimmig zum Tode verurteilt. Da erbittet er eine Stunde Aufschub,
um von seinen Kindern schriftlich Abschied zu nehmen. Dies fehlt
im Berichte der Historiker, und der Dichter hatte wohl mehrere
Gründe diese Episode einzuschieben« Erstens gewann er so Zeit für
444 August Heisenberg.
den nun folgenden Monolog Leos, der ihn uns in seiner Befriedigung
über den Triumph, doch nicht ganz frei von Sorgen zeigt, zweitens
wurde es nun wahrscheinlicher, dafs die Kaiserin inzwischen von dem
Urteilsspruch erfahren konnte. Auf einen dritten Grund werde ich
sogleich zurückkommen. Theodosia sucht Leo auf und bittet (ur das
Leben des Verurteilten. Sie macht Leo auch hier wie bei Kedrenos
auf die Heiligkeit der Zeit aufinerksam, die eine Hinrichtung für jetzt
wenigstens verbiete, aber sie macht noch anderes geltend. Sie wünscht
nicht blofs Aufschub der Urteilsvollstreckung, sie bittet überhaupt um
Schonung des Gefangenen. Sie hält dem Kaiser vor, wie viel er
Michael zu verdanken habe, wie hoch sein Ansehen beim Volke sei,
und fleht Leo bei seiner Liebe zu ihr an, ihr diesen Wunsch zu er-
füllen. Zunächst weist Leo sie ab. Michael erscheint wieder, vor-
bereitet zum Tode. Da begnadigt ihn Leo, und man erkennt deutlich,
da{s nicht religiöse Bedenken für ihn allein mafsgebend sind, sondern,
ebenso sehr die Liebe zu seiner Gemahlin, die ihr keinen Wunsch
versagen mag. Das ist eine sehr charakteristische Änderung des
Dichters. In der Einleitung zum „Leo Armenius" sag^ er wörtlich*):
^Diejenigen, welche in diese ketzerey gerathen, als koennte kein trauer-
spiel sondern liebe und bulerey vollkommen seyn, werden hierbey
erinnert, dafs wir diese den alten unbekandte meynung noch nicht zu
glauben gesonnen und desselben werk schlechten ruhms würdig
achten, welcher unlängst einen heiligen märtyrer zu dem kampff ge-
führet und demselben wider den grund der Wahrheit eine ehefrau
zugeordnet, welche schier mehr mit ihrem bulen, als der gefangene
mit dem richter zu thun findet und durch mitwürckung ihres vatem
eher braut als wittbe wird. Doch um dafs wir derselben gunst
nicht ganz verlieren, versichern wir sie hiermit, dafs aufs eheste unser
Chach Abas in der bewehrten beständigkeit der Catharine von
Georgien reichlich einbringen sol, was dem Leo nicht anstehen koennen,
welcher, da er nicht von dem Sophocles oder dem Seneca auffge-
setzet, doch unser ist". So verwahrt sich Gryphius dagegen, im
„Leo Armenius" seinem Publikum, von dem er voraussetzt, dafs es
LiebesafFairen und Sentimentalität verlange, Zugeständnisse zu machen,
wie Corneille in seinem „Polyeucte" getan hatte. Gleichwohl ist der
Abschied Michaels von seinen Kindern ein solches Zugeständnis des
Dichters an seine Zuschauer, die der Rührung nicht entbehren mögen,
ebenso wie die Scene zwischen Leo und Theodosia, die mit den
zärtlichen Worten beginnt;
Die byzantinischen Quellen von Gryphius* „Leo Armenius". 445
Theodosia: Mein Licht! Leo: Mein Trost! Th.: Mein Fürst!
L.: Mein Engel! Th.: Meine Sonn!
Leo: Mein Leben! Th.: Meine Lust! L.: Mein Aufenthah und
Wonn!
Wenn der Dichter auf diese Weise ein ganz neues Motiv ein-
fugte, war es natürlich, dafs er die prophetischen Worte, die Leo bei
Kedrenos (s. o. S. 441, 16) der Kaiserin zuruft, unbenutzt liefs.
Bei Beginn des dritten Aktes kommt der nania^^ ein Wort, das
übrigens nicht, wie Palm meint*), einen Geistlichen, sondern den
obersten Palasthüter bezeichnet**), und übergiebt Leo die Kerker-
schlüssel. Die wenigen Worte des Historikers: 8tb xcu ä^poTn^o^ dttziket
Tzap 5Arj)^ TTjv vöxza (s. o. S. 441, 22 f.) sind dem Dichter der Anlafs zu
einer umfangreichen Scene geworden. Unter Saitenspiel sinkt Leo in
Schlaf. Da erscheint ihm der Geist des verstorbenen Patriarchen
Tarasios, der ihm Unheil androht und seinen Begleiter, einen gewissen
Michael, auffordert, den Kaiser zu ermorden. Dieser Traum ist keine
freie- Erfindung von Gryphius; auch die Historiker erwähnen ihn im
Zusammenhang mit anderen Vorzeichen, die auf Leos Tod hindeuten.
Aber indem sich der Dichter zu eng an seine Quellen anschlofs,
hat er Unklarheiten nicht vermieden. Der Zuschauer erfahrt nicht,
wer Tarasios war und in welcher Beziehung er zu Leo stand. Wenn
Gryphius, wovon später noch die Rede sein wird, darauf verzichtete,
sein Drama sich auf dem Hintergrunde eines grofsen, weltgeschicht-
lichen Ereignisses abspielen zu lassen, so hätte er die Wirkung
wenigstens dadurch vertiefen können, dafs er nicht wie Kedrenos den
Tarasios, sondern den von Leo abgesetzten Patriarchen Nikephoros
ihm hätte erscheinen lassen. Freilich berichten uns die Quellen, dafs
Nikephoros in der Verbannung den Kaiser überlebt hat, aber das
wäre für den Zuschauer völlig gleichgiltig und für den Dichter kein
Hindernis gewesen.
Der weitere Verlauf des Dramas entspricht ziemlich genau dem
Gange der Handlung bei den Historikern. Der Kaiser sucht den
Gefangenen auf und findet ihn, anstatt im armseligen Kerker, be-
schützt imd verehrt von seinen Hütern ; nach seiner Rückkehr kündigt
er dem Nikander und Exabulios, die mit dem Aufschub keineswegs ein-
*) In den Anmerkungen zur Stuttgarter Ausgabe S. 71.
**) cf. Du Gange, Glossarium ad Scriptores Mediae et Infimae Graecitatis tom. II,
S. iioi.
446 August Heisenberg.
verstanden sind, seinen Entschlufs an, die Verräter aufs streng^ste zu
bestrafen. In der letzten Scene dieses dritten Aktes entwirft Michael
ganz wie bei Kedrenos seinen Rettungsplan.
Der vierte Akt, der im ganzen eine freie Erfindung des Dichters
ist, zeigt uns, wie die Verschworenen in der Stadt, nachdem sie von
Michaels Verhaftung erfahren haben, ihre Vorbereitungen treffen. Aus
den wenigen Andeutungen der Quellen hat Gryphius hier einige drama-
tische Scenen geschaffen. Zwei Verschworene treffen sich vor dem Hause
des durch seine Zauberkünste bekannten Jamblichus, und trotz des Ab-
ratens des einen, der über die Wahrsagerei spottet, beharrt der andere
bei seinem Entschlüsse, die Geister zu befragen. In ausfuhrlichster Breite
zeigt uns die zweite Scene die Beschwörung des höllischen Geistes
durch Jamblichus; der Verschworene erhält die Gewifsheit vom Unter-
gange des Kaisers in der Kirche. Hierfür boten die Quellen dem
Dichter keine Vorlage, hier hat er wiederum dem Geschmacke seiner
Zeit, die an solchem Spuke Gefallen fand, Rechnung getragen und ist
seinen eigensten Neigungen für solche Dinge gefolgt*).
Durch den günstigen Bescheid des höllischen Geistes sicher ge-
macht fassen nun die Verschworenen im Hause des „von Krambe**
den Plan, sich als Priester verkleidet in die Kirche zu schleichen und
den Kaiser am Altare zu ermorden.
Im Aufbau des letzten Aktes ist der Dichter von seinen Quellen
abgewichen. Die Tatsachen vollziehen sich zwar hier auch wie bei
den Historikern, aber der Dichter hat sie hinter die Scene verlegt.
Er fuhrt uns in das Gemach der Kaiserin, die von Sorgen beunruhigt
wird. In dem Augenblicke, als sie sich anschickt zur Kirche zu
gehen, stürzt der Oberpriester herein und meldet in höchster Eüe den
Überfall; ein bald ihm folgender Bote berichtet ausfuhrlich die Er-
mordung Leos, fast wörtlich nach der Darstellung bei Kedrenos. Ich
will hier nicht entscheiden, ob der Dichter es sich nicht zutraute, die
Ereignisse in der Kirche dramatisch zu gestalten oder ob ihn, was
vielleicht wahrscheinlicher ist, das Vorbild der antiken Botenreden hier
beeinflufst hat.
Anders als bei Kedrenos schliefst die Handlung bei Gryphius.
Die Kaiserin Theodosia trifft mit den Verschworenen und mit Michael
*) „Er glaubte an Astrologie, Vorbedeutungen und Geister, schrieb über Chiro-
mantik, und Ho£Emannswaldau hatte einen Traktat de spectris von ihm in Händen, von
dem er auch mehrfoch in seinen Vorreden und Noten redet**. Gervinus, Gesch. d. poet.
Nat.-Litt. d. Deutschen ITI. 3. Aufl. S. 435.
Die byzantinischen Quellen von Gryphiua* ^Leo Armenius*S ^ 447
selbst zusammen und zeigt lange eine bewundernswerte Stärke des
Charakters, bis sie, da die Leiche ihres Gemahls gebracht wird, in Wahn-
sinn fallt. Michael besteigt wie bei Kedrenos in Ketten den Tron,
mit einer Huldigung für den neuen Kaiser endet das Drama.
Gryphius hat sich in der Durchfuhrung der Handlung aufs engste
an seine Quellen angeschlossen. Hin und wieder hat er die losen
Fäden enger geknüpft, zuweilen die Wahrscheinlichkeit des Verlaufes
durch eine leichte Änderung erhöht; rhetorische Scenen hat er mit
besonderem Fleifse und Geschick ausgearbeitet, einzelnes, was seiner
persönlichen Eigenart am meisten entsprach, wie die Beschwörungs-
scene, eingeschoben, zuweilen auf die Forderung der Zuschauer, in
Rührung versetzt zu werden, Rücksicht, genommen. In der Charakte-
ristik ist er ähnHch zurückhaltend gewesen. Nur einmal hat er. wie
wir sahen, aus dem einen Exabulios zwei Personen gemacht und die
Eigenschaften, die jener bei den Historikern hat, Bedächtigkeit und
Entschlossenheit« auf zwei Personen verteilt. Den griechischen Titel
TramojQ hat er, wohl um dem Träger mehr Persönlichkeit zu verleihen,
in den Eigennamen Papias verwandelt, der Zauberer Jamblichus und
die Palastdame Phronesis sind freie Erfindungen des Dichters. Charak-
teristischer aber für ihn ist das, was er seinen Quellen nicht entlehnt hat.
Kedrenos und Zonaras bieten uns ein viel mannigfaltigeres
Charakterbild des Kaisers Leo. Die Unentschlossenheit, die im Drama
seine einzige hervorstechende Eigenschaft ist, zeigt er in den Quellen
nur in dem Augenblicke, als Theodosia in ihm religiöse Bedenken
erreget. Leo wird bei Kedrenos als ein sehr fester, fast harter
Charakter geschildert, der überall mit gröfster Energie durchgriff.
Den Patriarchen Nikophoros, der sich seinen Wünschen nicht fügte,
hatte er abgesetzt, die widerstrebende Priesterschaft mit Gewalt unter-
drückt*). Die Verwaltung des Reiches war so vortrefflich, dafs selbst
sein Gegner Nikephoros ihm in dieser Beziehung Bewunderung zollte**).
Wenn er gegen Michael nicht eher auftrat, sondern immer Nachsicht
übte, so lag das nicht, wie bei Gryphius, an einem Mangel an Ent-
schlossenheit, sondern an seiner Freundschaft zu dem Empörer. Er
hatte ihn zu den höchsten Ehren erhoben und suchte ihn, da er den
tüchtigen Kern in Michaels Natur erkannt hatte, auf jede Weise zu
halten. Erst als alles vergeblich war, brachte er seine Freundes-
*) Georgias Cedrenos ed. J. Bekker tom. H, S. 56 ff.
*♦) ebd. S. 59.
448 Aagust Heisenberg.
empfindungen der politischen Notwendigkeit zum Opfer. Die Nach-
richten des Kedrenos ferner*), dafs Leo von kleineif Eitelkeiten nicht
frei war, dafs Michael die Ehe des Kaisers mit der Theodosia für
unerlaubt erklärte (s. o. S. 440, 7), hat Gryphius nicht verwendet. Bei
ihm haben wir eine Palastrevolution, die keine anderen Motive hat
als das Mifsvergnügen eines einzigen Mannes, der sich nicht genug
gewürdigt glaubt und sich zu höheren Dingen berufen fühlt. Dazu
richtet sich der Anschlag gegen einen Herrscher, von dem man nur
Gutes und Lobenswertes hört. Nach den Quellen aber, die auch
Gryphius benützt hat, war es eine grofse Partei, die gegen Leo
arbeitete, es war die Partei der Bilderverehrer. Seitdem die Kaiserin
Irene im Jahre 797 die Regierung übernommen, wurden die Ikono-
klasten unterdrückt und die Bilderverehrung in alter Pracht wieder-
hergestellt, und ebenso blieb Leos Vorgänger Michael Rhangabe ein
Freund der Bilder. Leo selbst aber trat bald nach seiner Tronbe-
steigung erst heimlich, dann offen gegen diese „Götzendienerei** auf,
der Patriarch Nikephoros, der wie sein Vorgänger Tarasios ein An-
hänger der Bilderverehrung war, wurde abgesetzt und verbannt, die
Bilder entweder zerstört oder vom Kaiser heimlich beseitigt. Ein
neuer Patriarch Theodotos sanktionierte die Verfügungen Leos, in
alle mafsgebenden Stellen der Hierarchie wurden Ikonoklasten ge-
bracht. Wie grofse Hoffnungen die Bilderverehrer auf den neuen
Kaiser Michael setzten, geht deutlich daraus hervor, dafs, wie Kedrenos
erzählt, der verbannte Patriarch Nikephoros ein Schreiben an ihn
richtete, in dem er um Wiederherstellung des Bilderdienstes bat.
Und in der Tat kam Michael, der in Glaubenssachen ganz indifferent
war, den Orthodoxen soweit entgegen, dafs er völlige Religionsfreiheit
gewährte. Erst auf diesem grofsen geschichtlichen Hintergrunde ge-
winnt die Erscheinung des Bilderfreundes Tarasios ihre rechte Be-
deutung. Andreas Gryphius aber hat auf diesen welthistorischen
Hintergrund verzichtet.
München.
! *) Georgius Cedrenos ed. J. Bekker tom. U, S. 60.
i
-•••-
Uhlands „Harald" und Zaleskis ,^ubor^^*).
Von
Albert Zipper.
ZU den bekanntesten Gedichten des polnischen Dichters Josef
Bohdan Zaleski gehört die Ballade „Lubor^. Der Inhalt der
i6 Strophen ist in Kürze folgender:
Der alte tapfere Feldherr Lubor heifst sein Heer Nachtruhe halten,
er selbst aber reitet auf schwarzem Rosse in einen finstern Tann.
In Gedanken durchläuft er sein in Streit und Krieg verbrachtes Leben
und sinnt auf neue Feldzüge. Er hört nicht, wie unfern an einer alten
Eiche die Elfen zusammenkommen. Eine von ihnen giebt in heftigen
Worten ihrem Ingrimm Ausdruck, wie Lubor schon so lange Jahre
nichts anderes als Krieg treibe, wie so viele Mütter und Bräute um
seinetwillen ihre Söhne, ihre Geliebten beweinen; genug sei's des
Ruhmes, und Zeit zu rasten, bald solle er die Augenlider schliefsen
und für immer einschlummern. Die Elfen enteilen, Lubor indes nichts
ahnend reitet weiter, und macht erst an einem Bache halt, aus dem
er, von Durst gepeinigt, trinkt. Jedoch in dem Augenblick über-
mannte ihn Schlummer, er liefs das Pferd laufen und schlief ein auf
einem Felsen — für ewig. Das Rofs kehrt ins Lager zurück, die
Krieger suchen ihren Feldherrn, finden ihn jedoch nicht und beklagen
ihn für tot. Lubor aber, regungslos wie ein Steinbild, liegt seit
Menschengedenken auf dem Felsen da; jedoch, wann ein Gewitter den
Wald durchbraust, da erwacht er und zieht das verrostete Schwert.
Wer diese Dichtung von Lubor liest und Uhlands „Harald" im
Gedächtnis hat, dem mufs die Ähnlichkeit beider Balladen in die
*) Da Herr Prof, Dr. J. Tretiak in der Sitzung der philologischen Klasse der
Krakauer Akademie der Wissenschaften vom 3. April 1895 eine Abhandlung mit zum
Teil ähnlichem Inhalte vorgelegt hat, bestätigen wir auf Wunsch Herrn Prof. Zippers,
dafs seine Arbeit bereits im Februar eingesandt worden ist. Die Red.
460 Albert Zipper.
Augen springen. Auch bei näherer Vergletchung ergiebt sich trotz
der Unterschiede, die nicht minder augenscheinlich sind, eine Anzahl
den beiden Gedichten gemeinsamer Einzelheiten, die zusammengenommen
nicht blofs einen zufalligen, sondern einen notw'endigen ursachlichen
Zusammenhang zwischen der Ballade Uhlands und der Zaleskis er-
geben. Da „Harald", vom Dichter für ein Feendrama bestimmt, den
lo. März 1811 geschrieben worden,*) in welchem Jahre der polnische
Dichter (geb. 1802, gest. 1886) erst neun Lenze zählte, so kann dies
blofs in dem Sinne gelten, dafs in „Harald"^ das primäre, bedingende,
in „Lubor" das sekundäre, bedingte Moment zur Erscheinung kommt.
Die inhaltliche Ähnlichkeit beider Dichtungen brauch* ich nicht
näher zu berühren, da über diesen Umstand die oben gegebene ge-
drängte Inhaltsangabe von „Lubor** jeden, der „Harald** kennt oder
aufschlägt, genügend belehrt. Jedoch nicht diese inhaltliche Ähnlich-
keit, sondern erst die nun zu erörternden formalen Berührungspunkte
sind ausschlaggebend für die Beurteilung des gegenseitigen Verhältnisses
der beiden Balladen.
Da mufs denn zuerst erwähnt werden, dafs das Metrum von
„Lubor** mit dem, in welchem „Harald" verfafst ist, gemein hat:
I. die Zahl der Verse, 2. die metrische Gleichheit und gröfsere Länge
der ersten und dritten, ebensolche Gleichheit und verhältnismäfsige
Kürze der zweiten und vierten Zeile, 3. den Reim in der zweiten und
vierten Zeile. Vollkommene metrische Kongruenz läfst die grund-
sätzliche Verschiedenheit deutscher und polnischer Versmessung kaum
zu; jedoch kommen die poetischen Formen von „Lubor" und „Harald"
einander genug nahe, was um so bedeutender in die Wagschale fallt,
wenn man beobachtet, wie manche andere Balladen Zaleskis einen
ganz und gar verschiedenen metrischen Bau zeigen.
Der angeführten metrischen Analogie tritt aber zur Seite voll-
kommene Gleichheit in anderer Beziehung. Uhland hat in den
Strophen i, 7, 9 und 13 im Reim den Namen des Helden „Harald**
und paart damit 3 mal, nämlich in Strophe i, 9 und 13 (der Anfiuigs-
und Endstrophe und einer in der Mitte des Gedichts) den Reim
„Wald". Ganz ebenso finden wir in Zaleskis „Lubor** — und diese
Identität kann unmöglich dem Zufall in die Schuhe geschoben
werden — in den Strophen i, 9 und 16, also wieder in der Anfangs-,
der Endstrophe und einer in der Mitte des Gedichts, zusammen wie-
•) Vgl. Zeitschrift Bd. I, S. 389 Hermann Fischers Untersuchung «Uhlands
Beziehungen zu ausländischen Litteraturen".
Uhlands „Harald" und Zaleskis ,,Lubor''. 451
derum 3 mal, in der zweiten Zeile den Namen des Helden („Labor,
der alte, tapfere Feldherr") und in der vierten, damit reimenden den
„finsteren uralten Wald". Uhland sagt „der alte Held", „der kühne
Held", „der stolze Held" — Zaleski spricht ganz analog von „Lubor,
dem alten, tapferen Feldherm"; „dem wilden Wald", „dem weiten
Wald" Uhlands entspricht „der finstre uralte Wald" Zaleskis.
Die zweite Strophe der Uhlandschen Ballade berichtet von den
Kriegern Haralds:
Sie tragen manch erkämpfte Fahn\
Die hoch im Winde wallt,
Sie singen manches Siegeslied,
Das durch die Berge hallt
Auch die zweite Strophe der polnischen Ballade schildert, wie
die in der Schlacht erkämpften Fahnen im Winde rauschen, wie die
Kriegslieder im Walde widerhallen.
An das Uhlandsche
Was rauschet, lauschet im Gebüsch?
klingt in Str. 4 von „Lubor" an der Ausdruck: „etwas flüchtet im
Dickicht"; und ganz wie Uhland seine Str. 6 beginnt:
Es ist der Elfen leichte Schaar,
beginnt Zaleski Str. 5 mit dem Verse:
Es war die Schaar der argen Elfen.
Die Vergleichung der Uhlandschen Zeilen:
Vom Felsen rauscht es frisch und klar.
(Er) trinkt vom kühlen Quell:
Doch wie er kaum den Durst gestillt.
Versagt ihm Arm und Bein;
Er mufs sich setzen auf den Fels,
Er nickt und schluounert ein.
Er schlummert auf demselben Stein
Schon manche hundert Jahr . . .
mit den entsprechenden Sätzen Zaleskis:
„Er hört den Bach fernher rauschen . . . Und als er getrunken,
ward er ein anderer; der Schlununer begann seine Augenlider zu
46S Albert Zipper.
schliefsen, er schlummerte ein auf dem Felsen, er schlummerte ein für
die Ewigkeit . . . seit Jahrhunderten in einer Stellung versteint **
ergiebt in den aufeinanderfolgenden Einzelheiten vielfache Ähn-
lichkeit in der Darstellung wie im Stil.
Der letzten Strophe Uhlands endlich:
Wann Blitze zucken, Donner rollt,
Wann Sturm erbraust im Wald,
Dann greift er träumend nach dem Schwert,
Der alte Held Harald.
entspricht wieder ganz und gar die letzte Zaleskis:
„Wann von Norden her das furchtbare Gewitter donnert durch
den finstern, uralten Wald, schrickt auf und greift nach dem rostigen
Schwert Lubor, der alte, tapfere Feldherr."
Zu guterletzt verdient angesichts des bisher Ausgeführten erwähnt
zu werden, dafs der Titel des polnischen Gedichtes ganz ebenso wie
der des deutschen nichts als den blofsen Namen des Helden enthält;
dieser Art, seine Romanzen und Balladen zu betiteln, bedient sich
jedoch Zaleski sonst nur ganz ausnahmsweise.
Die angeführten Analogien beider Balladen lassen die Abhängig-
keit „Lubors" von „Harald" als Tatsache erscheinen. Erklart wird
sie durch den Umstand, dafs Zaleski Werke der deutschen Litteratur
in der Originalsprache las, wovon in der Sammlung seiner Dichtungen
die Übersetzungen von 4 Goetheschen und 2 Schillerschen Gedichten
dauerndes Zeugnis ablegen. Während Zaleski in seinen Balladen die
heimische Volkssage als seine Quelle zu bezeichnen pflegt („ukrainische
Ballade", „nach einem ukrainischen Volksliede"), bezeichnet er die
einzige Ballade „Lubor" ganz allgemein als „Ballade nach einer Volks-
sage", was ja auch, wenn wir „Lubor" als Variation von Uhlands
„Harald" auffassen, in dem der Dichter ein paar Sagenmomente frei
verknüpfte, in gewissem Sinne das Richtige trifft. Sollte jedoch auch
die Forschung, was meines Wissens bis nun nicht geschehen, eine
slavische Volkssage von entsprechendem Inhalt auffinden und die
Möglichkeit nachweisen, dafs sie der polnische Dichter gekannt habe,
so wird dadurch die in gegenwärtigem Artikel nachgewiesene Tat-
sache der Abhängigkeit des Zaleskischen „Lubor" von Uhlands
„Harald" nicht wesentlich berührt werden können.
Lemberg.
.«• — ■ -^
Dante in der deutschen Litteratur
bis zum Erscheinen der
ersten vollständigen Übersetzung der Divina Commedia (1767/69).*)
Von
Emil Suls:er-Geblng.
3. Dante in der deutschen Schwanklitteratur.
Auch auf einem andern Gebiete ist nun aber Dante, ich möchte
sagen mittelbar in die deutsche Litteratur eingedrungen. In
Italien liefen allerhand kurze Erzählungen über den grofsen Dichter
um, Berichte besonders über treffende Antworten, die er in rascher
Geistesgegenwart gegeben, und Ahnliches. „Dante fu tenuto ne* suoi
tempi per huomo di prontissimo ingegno nel rispondere d^improviso"
sagt Domenichi in seiner Anekdotensammlung**), die auch über den
grofsen Poeten Manches zu erzählen weifs. So finden wir auch in
Poggios Sammlung der Facetien, die wir mit dem runden Jahre 1450
als abgeschlossen betrachten dürfen***), mehrfach seinen Namen und
wenigstens eines dieser Geschichtchen ist in die deutsche Schwank-
litteratur übergegangen. Wir treffen es zuerst lateinisch an bei Sebastian
Brant Der elsässische Populär-Didaktiker, um eine Bezeichnung W.
Scherers zu gebrauchen, erzählt die Anekdote, deren vielleicht älteste
Fassung f ) handschriftlich vorliegt von Michele Savonarola, dem Grofs vater
des berühmten Dominikaners (im Codex CV der Bibliotheca Estense zu
♦) Vgl. S. 323 f.
**) Detti e fiattl di diversi Signori. Venezia 1563, Bl. 106, 2.
***) Gaspary, Gesch. der ital. Litt II, 295 f., Anm.
t) Ich verdanke die folgenden Nachweise dem Schriftchen von Papanti: Dante
secondo la tradizione e i Novellatorl, Livomo 1873. Wo die Stelle genau citiert ist,
habe ich selbst nachgeprüft.
454 Emil Sulger-Gebing:.
Modena). Ebenfalls lateinisch finden wir sie femer bei Petrarca (rerum
memoran darum, lib. II*) bei Poggio in den Facetiae**), italienisch im
Novellino, bei Carbone, Vespasiano u. A. Bei Brant steht sie in latei-
nischer Fassung in dem Werke: „Esopi appologi sive mythologi cum
quibusdam carminum et fabularum additionibus Sebastianus Brant/^
Sine loco et anno ***). Jedenfalls dürfen wir das mir leider unzugäng-
liche Buch noch ins Ende des XV. oder spätestens in die ersten Jahre
des XVI. Jahrhunderts setzen, und haben als wahrscheinlich anzu-
nehmen, dafs die Fassung Poggios einfach von Brant übernommen
und abgedruckt wurde f). Die deutsche Übersetzung liegt mir vor m
der Ausgabe „Friburg im Brissgaw, Durch Stephanum Melechum GraflF
jm Jar MDXLV"ff) unter dem Titel: „Esopus Leben und Fabeln mit
sampt den Fabeln Aniani, Adelfonsi und etlichen SchimpfFreden Pogij.
Darzu auszüge schöner fabeln und exempeln Doctors Sebastian Brant,
alles klärlich mit schönen figuren und registern angestrichen" f ff).
Hier steht auf Blatt CXXXI genau nach Poggio die Geschichte von
der Antwort Dantes an einen Hofnarren Cangrandes der ihn damit
aufgezogen hatte, dafs der Dichter bei all seiner Weisheit so bedürftig
bleibe, während er, der Narr, ihm an Reichtum so weit übertreffe.
„Do sprach Dantes: Wann ich find einen herren, der mir gleich ist
und meinen sitten gleichförmig als du den deinen funden hast, so wirt
er mich auch reich machen. Ein schwer und weise antwurt, Dann
allweg erfreuen sich die herren der Menschen gwonheit, beiwonung
und geheimsamkeit, die jn gleich sind." Über Dantes Persönlichkeit
giebt nur der einleitende Satz eine spärliche Auskunft, der zugleich
durch Danebenstellung des Originals als Probe der Übersetzung
dienen mag:
*) Opera omnia. Bas. 1554. S. 480.
**) Als 56. Poggii Florentini Opera. Argentinae 1513. fol. 163,
•*•) So citiert Scart. (1. c. U. 144) und setzt hiniu (Ulm 1480?) — Bei Goedeke *
I. 390 finde ich den Titel angegeben: Mythologi Esopi clarissiml fabulatoris una cum
Aniani et Remicii quibusdam fabulis per Sebastianum Brant etc. Basileae 1501.
t) So falst wenigstens den Vorgang Reinh. Köhler (Jahrb. f&r roman. u. engl.
Sprache u. Litt. N. F. ü. 427).
f t) MOnchener Staatsbibliothek,
ttt) Nach Reinh. Köhler (1. c.) rührt die Obersetzung nicht von Brant her. Er sagt:
«Diese von Brant gesammelten Geschichten und Fabeln (d. h. die, welche Brant dem
lat. Esopus zugefügt hatte) sind nun, von einem unbekannten Obersetzer ins Deutsche
übersetzt, seit 1535 den Ausgaben des Steinhövelschen deutschen Äsops beigefikgt
worden.** Auch Goedeke (Grundr. 'LS 370) giebt die Ausgaben nur unter dem Stein-
hövelschen Esopus an, ohne den genauen Titel anzuführen.
Dante in der deutschen Litteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. U. 465
Seb. Brant (resp. sein unbek. Über- Poggio.
Setzer).
Dantes Aligerius ein poet zu Dantes aligerius poeta noster
Florentz ward etwan lang ufFge- Florentinus aliquamdiu sustentatus
halten zu Veron und erzogen von est Veronae opibus Canis veteris
dem gut Canis des alten fürsten Principis della scala, admodum
von der leitern, der vast fry was. liberalis. (Opera, Argentinae 151 3.
fol. 163.)
Also sehr enger Anschlufs an das Original, der durch die ganze Er-
zählung durchgeht und nur gelegentlich durch Beifügung synonymer
Worte durchbrochen wird. Man vergleiche noch:
so doch denselben als ein unge- Cum illum veluti beluam insul-
lert fiech Dantes der gelert, weifs sam Dantes vir doctissimus sapiens
und sittig man (als billich was) ver- ac modestus, ut aequum erat, con-
schmecht und verachtet. temneret.
Oder zu dem o^)en citierten letzten Satze die lateinische Fassung:
Gravis sapiensque responsio. Semper enim domini eorum consuetu-
dine (wofür deutsch „gewonheit, beiwonung und geheimsamkeit") qui
sibi sunt similes delectantur.
Von Sebastian Brant wandert der Stoff weiter zu Hans Sachs.
Vielleicht angeregt durch Herolds Monarchey schrieb der Nürnberger
Meistersänger am 7. März 1563 seine Historia: Dantes der Poet
von Florentz, die aber erst 1579 im V. Buch seiner Gedichte
(pag. CCLXXVIII) gedruckt wurde. Die oben erzählte Geschichte
von Dantes Antwort an den Hofnarren Cangrandes ist hier umrahmt
von einer Einleitung, die eine kurze Lebensskizze des Dichters geben
will, und einem „Beschlufs", der, 60 Verse lang, die spiefsbürgerliche
Moral des „gleich und gleich gesellt sich gern" in gar behaglicher
Breite vorträgt. Die ersten Zeilen desselben:
Doktor Sebastianus Brant,
Der thut uns die Geschieht bekandt
bezeichnen die Quelle für die eigentliche Schwankerzählung, die Sachs
übrigens vielleicht auch aus direkterer Überlieferung kannte. In dem
Verzeichnis seiner Büchersammlung*) nämlich finden wir zunächst einen
einzigen Titel, der ein italienisches Original bezeichnen könnte: „Cento
Novelle Johannis Bocacij", richtiger werden wir auch hier eine Uber-
*) Veröffentlicht von K. Goedeke im Archiv fQr Litt.-Gesch. VII. 1—6.
Ztflchr. f. Tgl. Litt.-Gesch. N. P. VIII. 3Q
466 Emil Sulger-Gebingr.
Setzung annehmen. Der Titel derjenigen von Steinhövel heifst z. B. in
der Ausgabe von 1490: „Cento novelle. Das seind die hundert neuen
Fabeln** u. s. w., in der von 1535:. „Centum Novella Johannis Boccaccii**
etc.*). — Es folgen mehrere Übersetzungen aus dem Italienischen,
nämlich „Franciscus petrarcha von payderlej glueck und unglueck
2 puch****), „Franciscus petrarcha gedenkpuoch, 4 puecher*****), „Joannes
Bocacius die 99 durchlewchting frawen**f) endlich „Joannes Bocius
(sie!) von der unglueckhafftigen person 9 puecher**ft). Davon ergiebt
nur das zweite Werk von Petrarca eine Ausbeute für Dante: im
II. Buch der nach Art des Valerius Maximus zusammengestellten Rerum
memorandarum steht die Erzählung von Dantes Antwortf f f )ohne jedoch
abweichende Züge zu der Poggio-Brantschen Version zu liefern, so
dafs es zweifelhaft bleibt, ob Sachs auch aus dieser immerhin direkteren
Quelle geschöpft habe. Von seinem deutschen Vorbild verzeichnet er:
„Esopus seine 4 puecher und ander fabel aufserhalb**, wohl sicher
die oben genannte Ausgabe, und „Sebastianus prant fabel**, womit
dasselbe Buch ein zweites Mal genannt sein dürfte.
Wichtig sind nun für uns besonders die Einleitungsverse seiner
Historie. Sie lauten:
Als Dantes Aligorius,
Der hoch Poet Laureatus,
Wohnet in der Statt zu Florentz,
Ehrlich und wol mit reverentz.
Der von seiner missgoenner schar
Fälschlichen angeklaget war,
Ausz der Statt on schuld ward vertriben.
Der darnach ist ein Zeitlang bliben
Zu Paris auff der hohen Schul,
Da er besasz der Künsten Stul,
Ein Poet und sinnreicher Dichter,
Künstlicher Carmina ein Schlichter,
Da er macht manch löblich Gedicht,
Nemlich ein Buch darinn bericht
Ganz artlich, subtil und gering,
*) Goed. « I. 368.
♦•) de remediis utriusque fortunae.
**♦) rerum memorandarum über.
f) de claris mulieribus.
ff) Boccaccios de casibus virorum Illustrium libri IX.
fff) Opera omnia. Basileae 1554. S. 480.
Dante in der deutschen Litteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. II. 457
Htmlisch, Hellisch, Irdische ding,
Künstlich beschrib und declarirt
Mit scharpfiem sinn umb speculirt,
Welliches noch wird hoch geacht,
Bey den Glehrten künstlich verbracht,
Und nach dem er ausz Frankreich zug.
Er sich zu Canis Grandi schlug,
Dem Herrn von der Leitern zu Bern,
Der glehrte Leut bei jm het gern
An seinem Hof, der sie thet speisen,
Und g^ten willen jn beweisen u. s. w.
Wo haben wir nun die Quelle für diese Angaben zu suchen? Es
liegt nahe, und auch Scartazzini weist darauf hin*), an die vier Jahre
vorher erschienene Monarchey Herolds zu denken, deren Bekannt-
schaft wir wohl . bei Hans Sachs voraussetzen dürfen. Zunächst finden
wir Übereinstimmung in der Darstellung der Verbannung, sowie des
Aufenthalts bei Cangrande, der sich allerdings auch aus der Schwank-
vorlage direkt ergab. Auffallend erscheint auch die Wiederkehr der
Worte wol und ehrlich, allerdings umgestellt (Herold: „wol, erlich,
auffrecht, doch streng und prachtig hielt er sich"; Sachs: „ehrlich
und wol mit reverentz"). Dagegen stimmt nicht die Reihenfolge der
Aufenthaltsorte: Herold läfst Dante von Verona aus nach Paris gehen,
während Sachs ihn erst von Paris aus zu Cangrande kommen läfst;
darauf ist jedoch kaum grofses Gewicht zu legen, da schon die ge-
reimte Form dem Nürnberger Meister gröfsere Freiheit vertattete und
er gar wohl berechtigt war, nur das ihm Wichtige herauszuheben.
Am meisten Schwierigkeiten macht der Vers „da er besafs der
Künsten Stuhl", d. h. Sachs läfst Dante in Paris Professor sein. Woher
kann er diese Auffassung haben? Die Sache wäre ja an sich bei
dem damals etwa vierzigjährigen Dante überaus wahrscheinlich, aber
keine der bekannten Quellen für sein Leben bezeugt es. Es ist schon
eine Streitfrage unter den neueren Danteschriftstellern, in welche Zeit
man die Reise nach Paris zu setzen habe, ob vor die Verbannung aus
Florenz, wo sie dann allerdings den Charakter einer Studienreise tragen
müfste (diese Auffassung vertreten z. B. Scheffer-Boichorst**) und
Wegele***)) oder ob erst in die Zeit des Exils, wobei es auch schwer
*) 1. c. I. la.
**) Aus Dantes Verbannung. Strasburg 1882. S. 249 ff.
♦♦*) Dante Alighieris Leben und Werke, 3. Auflage, Jena 1879. S. 94 ff.
80*
458 Emil Sulger-Gebing.
fallt, Sie genauer zu fixieren. Bezeugt ist sie unter den älteren wich-
tigsten Autoren von Villani im IX. Buche seiner Chronik (die aber
erst 1577 zum ersten Male in Florenz gedruckt wurde) von Boccaccio
in der vita di Dante*), sowie bei dem oben (S. 223) erwähnten Gio-
vanni da Serravalle **). Im Allgemeinen neigt man heute der Auf-
fassung zu, sie in diese spätere Zeit zu setzen, und Scartazzini
verficht, allerdings nur mit Wahrscheinlichkeitsgründen , die An-
sicht, dafs Dante in der Tat zu Paris Professor gewesen sei***).
Das neuerdings von Denifle und Chatelain herausgegebene Chartu-
larium Universitatis Parisiensis ergiebt keinen Aufschlufs. Die einzige
Stelle, die in den alten Zeugnissen sich wenigstens einigermafsen
dahin deuten liefse, und die auch Hans Sachs gekannt haben kann,
steht in einem andern Werke Boccaccios, nämUch in seiner Schrift
„de genealogia Deorum" Buch XV, Cap. 6f), wo es unter Anderm
von Dante heifst: Fuit enim inter cives suos egregia nobilitate ve-
rendus, et quantumcunque tenues essent illi substantiae, et a cura
familiari, et postremo a longo exilio angeretur, semper tarnen
Physicis atque Theologicis doctrinis imbutus vacavit studiis, et adhuc
Julia fatetur Parisius, in eadem saepissime adversus quoscumque circa
quamcumque facultatem volentes responsionibus aut positionibus suis
objicere disputans intravit gymnasium. Diese Stelle, die ja zunächst
nur besagt, dafs Dante in Paris als gewaltiger Disputator in ver-
schiedenen Disziplinen bekannt war, ist die einzige, welche allenfalls
den weiteren Schlufs erlaubt, dafs er das nicht als Lernender, sondern
als Lehrender getan habeff), wie ja auch eine Lehrtätigkeit zu
Ravenna in seinen letzten Lebensjahren zum mindestens sehr wahr-
scheinlich ist. Boccaccio wenigstens berichtet in der vita: e quivi
(sc. a Ravenna) colle dimostrazioni sue fece piü Scolari in poesia e
massimamente nella volgare. (1. c. S. 3 1 ) Falls wir Hans Sachs (auf welchem
Umwege aber?) eine Kenntnis dieser Stelle zuschreiben dürften, so
läge ja der weitere Schlufs, dafs der Dichter auch in Paris schon
*) Der erste Druck steht in der Ausgabe der Commedia, Venedig 1477.
**) Die betreflfende Stelle aus dem ungedruckteo Commentar ist citiert bei Tira-
boschi, storia della letteratura italiana V. 444. (Venedig 1795.)
***) So besonders: „Prolegomeni della Div. Com." (1890) S. 95 ff. und „Dante-
Handbuch" (1892), wo er der Frage (S. 122 ff.) ein eigenes Kapitel: ,, Student oder
Docent?** widmet. Vergl. auch „Dante in Germania" II. 344 ff.
f) Basler Ausgabe v. 1532 S. 389.
ff) Dafs Boccaccio selbst es nicht so gefafst, scheint mir evident, da er sich sonst
selbst widerspräche. Er sagt in der vita: „se n*and6 a Parigi; e quivi tutto si diede
allo studio e della filosofia e della teologia (Ausgabe v. Macri Leone S. 29).
Dante in der deutschen Litteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. 11. 459
„der Künsten Stuhl" besessen, für ihn nahe genug! Aufserdem aber
bleibt blofs die Annahme einer allerdings kühnen, immerhin durch
den Reim erklärlichen poetischen Licenz übrig.
Ebenfalls sehr auffällig ist des Weiteren der Vers über die Commedia:
Himmlisch, Hellisch, Irdische ding; denn Purgatorio (bei Herold
ganz richtig „vom fegfewr") so einfach mit „irdische Dinge" zu be-
zeichnen, wäre zum mindesten höchst ungewöhnlich. Man könnte
zunächst an die vita nuova oder mit mehr Wahrscheinlichkeit noch
an die Monarchie denken, aber dem widerspricht der Zusammenhang
(Nemlich ein Buch darinn etc.). Ein Ausweg liefse sich finden: be-
kanntlich befindet sich in Dantes Darstellung der Berg des Purgatorio
in der Tat auf der Erde, nämlich bei den Antipoden korrespondierend
mit Jerusalem auf unserer bewohnten Hälfte. Wäre also irgend eine
direkte Bekanntschaft des Hans Sachs mit der Commedia anzunehmen,
so könnte man hierin eine genauere örtliche Bezeichnung der drei
Reiche sehen („hellisch" d. h. das Inferno unter der Erde; „irdisch"
d. h. das Purgatorio auf der Erde; „himmlisch" d. h. das Paradiso
über der Erde). Da nun aber eine solche nähere Bekanntschaft nicht
vorausgesetzt werden darf, da sie doch wohl auch sonst Spuren in
der Dichtung des Nürnberger Meisters hinterlassen hätte, so bleibt
zur Erklärung*), solange nicht eine neue Quelle mit ähnlichem Aus-
drucke erschlossen wird, wieder nur die leidige poetische Licenz übrig,
die hier allerdings um so härter erscheint, als es sich nicht, wie im
vorigen Fall, um den Reim handelt.
Wichtig ist, dafs die angeführten Verse bezeugen, Dante sei zur
Zeit des Hans Sachs bei den Gelehrten hoch geachtet gewesen, ein
Ausdruck, der mit dem Superlativ „celeberrimus" in dem oben mit-
geteilten Brief des Oporinus völlig übereinstimmt. Freilich viel weiter
als auf den Namen und die Titel der Werke, kann sich, abgesehen
von der Monarchia, die Bekanntschaft, worauf sich diese Berühmtheit
gründete, damals in Deutschland noch nicht erstreckt haben.
Diese selbe, von Hans Sachs behandelte Facetie Poggios findet
sich gemeinsam mit zwei andern auf Dante bezüglichen des gleichen
Autors in einem Buche, das überhaupt eine reiche Fundgrube für das,
was jene Zeit von unserm florentinischen Dichter wufste, abgiebt,
nämlich in dem mehrbändigen lateinischen Werke des Basler Medizin-
professors Theodor Zwinger (1533 — 1588) „Theatrum vitae
humanae", das zuerst 1565 in 19, dann 1571 in 20 und endlich 1586
*) Hat H. Sachs nicht vielleicht aus konfessionellen Bedenken das den Anhängern
Luthers ärgernisgebende Fegfeuer durch irdische Ding ersetzt? Vgl, S. 463 (M. K.).
460 Emil Sulger-Gebing.
in 29 Büchern (Zwinger nennt sie volumina, die dann nochmals in
libri abgeteilt sind) zu Basel gedruckt wurde. Ich bediene mich dieser
letzten, als der vollständigsten Ausgabe*); Neuauflagen derselben
erfolgten 1596 und 1603. -^.n nicht weniger als 15 Stellen, die sich
auf Vol. I bis Vol. XXI verteilen, finden wir Dantes Namen in den
gewichtigen Folianten vor. Da druckt Zwinger in engstem, zumeist
ganz wörtlichem Anschlufs folgende Facetien Poggios ab: die 70.
(Dante fragt einen Uberlästigen , welches das gröfste Tier sei? —
dieser antwortet: der Elefant, und Dante repliziert: so verlafs mich,
Elefant) in Vol. I, lib. i (S. 24)**), dann die oben besprochene 56-
in Vol. XIV, lib. i (S. 2891)***), endUch die 57. (die Höflinge Can-
grandes werfen beim Essen alle Knochen unter Dantes Stuhl, um ihn
lächerlich zu machen; als das beim Aufstehen sichtbar wird, sagt
Dante ruhig: die Hunde haben die Knochen mitgegessen, ich nicht
also, da ich kein Hund bin) in Vol. XIV, lib. 3 (S. 2966). An anderem
Orte (S. 1698) erzählt Zwinger nach Josephus die gleiche Geschichte noch
einmal als am Hofe des Ptolemäers Epiphanes zu Alexandria geschehen,
wo der junge Hircanus die Antwort giebt, und fugt bei, man habe die
Anekdote dann auch auf Dante übertragen. — Die übrigen Stellen,
die sich alle auf wenige Zeilen beschränken, erzählen von Dantes Exil
bei Cangrande und in Ravenna, bei Giudo von Polento und Maruello
Malaspina (S. 793, 11 70 und 2926), überall als Quelle Volaterranus
nennend; von einer angeblichen Gesandtschaft Dantes nach Venedig
im Auftrage Guidos, um Frieden zu stiften, was jedoch mifslungen,
aus Gram über diesen Mifserfolg sei der Dichter gestorben (S. 494
und 746): auch hier ist Volaterranus der Gewährsmann; von der
Monarchie und Dantes Verdammung als Ketzer nach seinem Tode
mit einem Hinweis aufBartolus (S. 1023); von seinem Verhalten beim
Herannahen Heinrichs des VII. (S. 2823) mit Anfuhrung des Sabelli-
cusf). Endlich wird dreimal in ganz gleicher Weise eine Anekdote
über die Zerstreutheit des Dichters erzählt (S. 3821, 3822 und 3854),
*) Die Auflage von 1565 bildet einen starken Folianten von 1428 Seiten, die Ton
1586 hat 4 Foliobände mit insgesamt 4373 Seiten!
*♦) Das ganze Werk ist durchpaginiert.
***) Diese Facetie findet sich ebenfalls lat. noch 1638 in Monumenta illustrium
vironim et elogia (Amsterdam 1638) von Marcus Zuerius Boxhomius, Prof. der Bered-
samkeit in Leyden (1612 — 1663).
t) Antonius Coccius SabelUcus (f 1506) Rapsodiae historiarum Enneadum ab
urbe condita. Venedig 1498 u. 1504. Die Stelle über Dante (Enneade IX, lib. VII)
steht in der Pariser Ausgabe von 15 16/ 17 in Bd. 11. fol. 259.
Dante in der deutschen Litteratur dte 15. bis 17. Jahrhunderts. II. 461
die Aenea Silvios Kommentar zu Antonius Panormita entnommen isf").
Am wichtigsten für uns ist die folgende Notiz in Vol. IV, lib. 3, als
deren Quelle . wiederum Volaterranus erscheint (S. 1155): Dantes
Aligerius Florentinus, Hetrusca Lingua Lucretius alter**) vir doctissi-
mus et in Theolog^ scholastica versatissimus scripsit de Purgatorio,
de Inferno, de Paradiso. Hierin liegt ein direktes Zeugnis für die
Hochachtung, welche die Gelehrten laut Hans Sachs dem italienischen
Dichter entgegenbrachten, und besonders der bei Volaterranus nicht
gegebene Vergleich mit Lucrez, dem von den Männern der Renaissance
so hochgeschätzten Lehrdichter, wiegt schwer, mag er auch von
Gyraldus übernommen sein.
Ganz vereinzelt steht gegen Ende des Jahrhunderts noch ein
Zeugnis über Dante, das seiner ganzen Fassung nach besser an den
Anfang der Lexikographenreihe eines Hoffmann, König, Freher im
folgenden Säkulum gehörte, chronologisch aber hier noch eingereiht
werden mufs. Sein Verfasser, ein Rechtsgelehrter wie Wolfius, ist
Nicolaus Reusnerus(i 545 — 1602, Prof. in Strafsburg u. Jena, woselbst
er als Rektor magnificus gestorben). Von ihm erschien 1591 zu Basel,
wo er 1583 sich den Doktortitel erworben hatte, das mit zahlreichen
Porträts geschmückte Büchlein: „Icones sive imagines vivae literis
Cl. Virorum Italiae, Graeciae, Germaniae, Galliae, Angliae, Ungariae".
Auf Blatt A, 7 finden wir denn auch Dantes Bild mit der Unterschrift:
Conditor Etruscae Linguae, bonus esse Poeta
Glorior: Ingenium Comica musa probat.
deren letzter Satz allein schon beweist, dafs der Verfasser die Com-
media nicht gelesen hat, die er allerdings nachher im Texte richtiger
als „Heroica Comoedia illa^ bezeichnet. Er giebt im Anschlufs an
die Elogia des Paulus Jovius***) unter Anhäufung von lobenden Bei-
wörtern, die Nachrichten, dafs Dante in Florenz unter den höchsten
Beamten gesessen, bald aber — „fato nescto quo (!)" — verbannt
worden sei und sich „foetibus ingenii egreg^is ac imprimis Heroica
Comoedia illa, Platonicae eruditionis lumine plena^ (auch dies nach
*) Enea Silvio Piccolomini (1405 — 1464) schrieb seinen Comment. in libros
Antonii Panormitae poetae de dictis et factis Alphonsi regis memorabilibus im Jahre 1456
(Gaspary, Gesch. d. ital. Litt. II. isS).
**) Derselbe Vergleich findet sich bei dem Ferraresen Lilius Gregorius Gyraldus
(t 1553) i° seinen Dialogi de historia Poetarum (Basileae 1545 S. 667 f.}, die Zwinger
wohl gekannt hat.
***) Venetüs 1546. S. 6. Die Ausdrücke oft wörtlich von Jovius übernommen.
462 Emil Sulger-Gebing.
Jovius) berühmt gemacht habe, und nennt am Schlüsse Jahr und Ort
seines Todes, sowie sein Alter. Dann aber folgen, und das bildet
bei Reusner immer die Hauptsache, die Grabschriften und Lobgedichte.
Zunächst die dem Dichter selber zugeschriebene (s. S. 245), dann
die bei der Renovierung des Grabmals 1483 von Bernardo Bembo,
dem Vater des berühmten Kardinals, verfafste. An diese reihen sich
fünf Disticha des Constantinopolitanischen Poeten Michaelis Marullus,
der sich seit 1453 in Italien aufhielt (+ 1500): sie sind dessen Epi-
grammen und Hymnen in 4 Büchern entnommen, die 1 504 in Bologna,
1508 in Strafsburg gedruckt wurden*). Den Schlufs bilden drei
Disticha des brabantischen Canonicus Joh. Latomus (1525 — 1578), der
späteren Auflagen der elogia des Jovius verschiedene Epigframme bei-
gefugt hat**). Da die beiden erstgenannten Grabschriften ebenfalls
bei Paulus Jovius abgedruckt sind, so hat also Reusner mit Ausnahme
der Verse des MaruUus ausschliefslich aus diesem geschöpft.
4. Zeugnisse undUbersetzungsversuche imXVII. Jahrhundert.
Während wir so im XVI. Jahrhundert dem Namen und der Gestalt
Dantes auf deutschem Boden in verschiedener Weise begegnen, immer
aber so, dafs nur für die Monarchia eine direkte Bekanntschaft mit
seinen Schriften angenonmien werden kann, zeigen sich im XVII.
aufser Zeugnissen über ihn die ersten Versuche metrischer Nachbil-
duttgen von Stellen aus der Commedia, zunächst nur aus zweiter
Hand, d. h. als Citate in übersetzten Werken mit übersetzt, dann
auch schon nach freier Wahl in selbständiger Weise.
Ein Zeugnis***) steht hier billig voran, das an der Schwelle des
neuen Jahrhunderts eine hochstehende deutsche Persönlichkeit für den
grofsen Dichter abgelegt hat. Es beweist die Bekanntschaft eines
deutschen Fürsten, der zugleich in litterarischen Dingen eine führende
Stellung innehatte, mit Dante und ist deshalb ein bedeutsames Zeichen
für dessen Bekanntwerden auch diesseits der Alpen. Der Gründer
und langjährige Vorstand der fruchtbringenden Gesellschaft Fürst
Ludwig von Anhalt-Cöthen (1579-1650) verfafste eine gereimte
Beschreibung seiner in den letzten Jahren des XVI. Jahrhunderts unter-
nommenen italienischen .Reise. f) Während dieses lange dauernden
*) Die Verse auf Dante stehen in der Strafsburger Ausgabe auf Blatt f i.
**) Die Verse des Latomus auf Dante stehen z. B. in der Basler Ausgabe des
Jovius von 1577, S. 11.
•••) Nachgewiesen von Joh. Bolte in der Zeitschrift filr vergl. Litt. Gesch. I, 164.
t) Gedruckt erst 1716 in Beckmann, Accessiones historiae Anhaltinae, Zerbst 17 16,
5. 165 — 292. Goedeke (Grundr. ' III. 73) giebt die Dauer der Reise von 1598 bis 1604 an.
Dante in der deutschen Litteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. II. 468
Aufenthalts im Vaterlande Dantes, der ihm die Aufnahme in die
Accademia della Crusca einbrachte und jedenfalls auch die erste
Anregung zu seiner, erst 1643 veröffentlichten Übersetzung der trionfi
des Petrarca gab, kam er auch nach Neapel und traf auf einem Aus-
fluge nach Pozzuoli mit einem Spafsmacher Namens Dante zusammen.
Von ihm berichtet er folgendermafsen:
Er von der Freundschaft sich aus den Poeten gab,
Der aus Florentz sehr wol gefuhrt den Dichterstab*)
Drey schöne Bücher hat Reimweise wol geschrieben,
In reiner Tuscier sprach, und die sehr hoch getrieben.
Vom Fegefeur, der Hell, und von dem Paradies
Die letzten deren zwey gar klar sind und gewiss.
Das fegefeur allein von Pfaffen ist erfunden u. s. w.
Es folgt eine heftige Stelle gegen Papst und Priesterschaft, die
sich durch solchen Gewissenszwang blofs bereichern wollten, und
dann spricht er weiter von Dante:
Sonst die Erfindung ist hoch dieses Manns zu preisen
Der sehr viel gutes dings hat drinnen wollen weisen.
Wiewol die spräche wird gehalten etwas schwer,
Und guter lehren vol sein buch ist doch noch mehr
Zu achten, weil darbey viel kunst hat angeleget
Und mühe dieser Mann, der immer davon treget
Den nachruhm mit dem lob, in dem ihm niemand gleicht.
Viel münder, als man sagt, das wasser keiner reicht.
Es mag zweifelhaft erscheinen, ob der Fürst die Commedia selbst
näher gekannt hat; die Zeile über die „schwere Sprache", welche
doch auf fremdes Urteil sich bezieht, spricht kaum dafür. Jedenfalls
hat er in Italien des Dichters Lob vernommen und vom Inhalte der
grofsen Trilogie wenigstens die allgemeinen Umrisse kennen gelernt.
Interessant ist die heftige Ablehnung des katholischen Purgatorio:
der fürstliche Dichter, der sich hier so stark gegen Papst und Pfaffen-
heit ausspricht, kann die Stellen Dantes gegen sie kaum gekannt
haben; er würde sonst wohl wenigstens mit einer Bemerkung darauf
hingedeutet haben.
Auch nach seiner Rückkehr und in seiner Stellung als Vorstand
der fruchtbringenden Gesellschaft, wo es ihm nahe gelegen hätte.
*) Dazu am Rande: , Dante Alghieri. Tn Lingua Toscana dal Purgatorio, Inferno,
Paradiso."
464 Emil Sulger-Gebing:.
gelegentlich auf den italienischen Dichter hinzuweisen, scheint er das
nicht getan zu haben, wenigstens findet sich in dem von Krause ver-
öffentlichten Buche „Der fruchtbringenden Gesellschaft ältester Ertz-
schrein" (Leipzig 1855) weder der Name Dantes noch irgend ein
Hinweis auf sein Gedicht.
In einem historischen Werke über die angebliche Schenkung
Constantins des Grofsen, das anonym 1610 zu Augsburg gedruckt
wurde und den Titel trägt: „Constantini M. Imp. Donatio Sylvestro
Papae Rom. inscripta: non ut a Gradano truncatim, sed integre
edita" u. s. w. — werden auf dem letzten Blatt anhangsweise nach
andern älteren Zeugnisse, welche der Schenkung Erwähnung tun
(z. B. aus dem Sachsenspiegel, der Historia Guicciardinis) diejenigen
Terzinen Dantes im Urtext abgedruckt, welche auf den römischen
Kaiser Bezug nehmen, also Inf. XIX. 115 -117 und Par. VI. i — 9.
Der Verfasser des Jakob I. von England gewidmeten Buches ist der
als Gelehrter und Staatsmann in Diensten Friedrichs IV. von der
Pfalz weitbekannte Markward Freher*) von Ausburg (1565 — 1614),
dessen schriftstellerische Tätigkeit eine sehr ausgedehnte war. Hier
zum ersten Male tritt der Fall ein, dafs Verse Dantes in einem in
Deutschland gedruckten und von einem Deutschen verfasften Werke
in der Ursprache angeführt werden. Wie weit der Verfasser den
Dichter selbst gekannt hat, ist aus diesem einen Zeugnis nicht zu er-
schliefsen, immerhin wird es wahrscheinlich, dafs er die Divina
Commedia selber in Händen gehabt habe.
Eine direkte Bekanntschaft mit Dante erscheint auch bei dem
Manne, dem wir seit Herold zum ersten Male wieder unter den Ge-
lehrten ein deutsches Zeugnis über ihn verdanken, wenigstens nicht
völlig ausgeschlossen, wenn sie auch kaum sehr wahrscheinlich ist
Der fleifsige Aegidius Albertinus (geb. 1560 zu Deventer, seit 1596
Hofi-atssekretär und später Bibliothekar Herzog Max L, gest. 1620
zu München) erwähnt ihn in einer seiner zahlreichen Schriften**), die
zum einen Teil Bearbeitungen spanischer Vorbilder, zum andern Original-
werke, d. h. aus allen möglichen geistlichen und weltlichen Autoren
kompilierte Encyklopädien sind, nämlich in dem chronikartigen Buche :
„Der Teutschen recreation oder Lusthauss, Darinn das Leben der
allerfurnembsten und denkwürdig^sten Mans: und Weibspersonen, so
*) Joecher, Gelehrtenlexicon II. 736 f.
**) LiliencroD kennt deren 51. (Einl. zu s. Ausgrabe von „Lucifers Königreich and
Seelengejaidt" in Kürschners deutscher Nat. Litt. Bd. 26. S. VIII— XX).
Dante in der deutschen Litteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. II. 465
von Anfang der Welt hero gelebt, sambt deme, was sie sonderbares
geredt oder begangen" u. s. w,, München 161 2*). Im dritten Teile,
der handelt „von Ottone bis auf Carolum den fünfften" steht zum
Jahre 13 14 folgende Notiz**): „Dantes Algerius ein Florentinischer
Poet. Dantes Algerius, ein fiirtreflflicher Poet, componirte ein seltzames
Buch, welches hatte drey theyl. Der erst handlete von der Höllen,
der ander vom Fegfewr, und der dritt vom Paradeyss, und waren
erfüllt mit Platonischen concepten. Sein Epitaphium lautet also : Jura
Monarchiae" etc. (s. S. 245). Die Erwähnung der Platonischen Lehre
macht als Quelle für die kurze Notiz Paulus Jovius wahrscheinlich,
dem Albertinus auch die Grabschrift am bequemsten entnehmen konnte.
Er verstand übrigens Italienisch und eine Kenntnis der Commedia er-
scheint daher nicht ausgeschlossen. Unwahrscheinlich ist sie mir be-
sonders deshalb, weü sich in einem andern seiner Bücher, in „Lucifers
Königreich und Seelengejaidt" (München 161 9), das sich sogar im An-
ordnungsprinzip mit Dante begegnet (die Sünder werden nach den
7 Hauptsünden besprochen), keine Spuren solcher Kenntnis nachweisen
lassen, obgleich sie sich gerade hier hätte verraten müssen.
Mag aber auch bei Markward Freher und Aegidius Albertinus
die Möglichkeit einer direkten Bekanntschaft offen bleiben, so ist da-
gegen eine solche von vorneherein ausgeschlossen bei den ersten
Übersetzern einzelner Terzinen aus der Div. Com. Diese ersten Ver-
suche finden sich in Übertragungen ganzer italienischer Werke, in die
solche Stellen als Citate eingefugt waren und somit übersetzt wurden,
wie alles andere eben auch. Hier ist zu nennen Georg Friedrich
Messerschmid, ein Elsässer Schriftsteller, der neben anderen Über-
tragungen und einem selbständigen satirischen Werke „von des Esels
Adel und der Sau Triumph** {1617)***) im Jahre 1615 das uns hier be-
rührende Buch veröffendichte: „Sapiens stultitia. Die kluge Narrheit.
Ein Brunn des Wollustes: Ein Mutter der Frewden: ein Herrscherin
aller guten Humoren. Von Antonio Maria Spelta, Poeta Regio ** u. s. w.
Da steht zunächst im ersten Teile (S. 48) in einem Abschnitt über die
toskanischen Dichter der Satz: „Dantes ist mehr ohn Zierlichkeit,
dann Geschicklichkeit", und der zweite Teil, der einen neuen in der
*) Auf die Stelle über Dante weist hin Reinbardstoettner, Volksschriftsteller der
Gegenreformation in Altbayem [Forschungen zur Kultur- und Litteraturgeschichte Bayerns.
II. Buch 1894. S. loi].
**) S. 1043.
***) Goedeke, Grundr. - II. 586 u. Gervinus Gesch. d. deutsch. Litt. ■ III. 82.
466 Emil Sulger-Gebing.
Fassung abweichenden Titel zeigt*), bringt folgende zwei Über-
setzungen Dantescher Terzinen. Im siebenten Kapitel „Schwarzkünsder,
Zauberer und Wahrsäger" wird (^S.88j eine Zaubergeschichte von Michael
Scot erzählt. „Von diesem hat der Italiänisch Poet Dantes schreibende
von der HöU, also gesagt:
Dantes Quell altro che ne' fianchi e cosi poco
Cant. 20**) Michaele Scotto fü che veramente
De le Magiche frode seppe il gioco.
Der nechst aufF dieser Seiten sitzt,
Ist gwesen Michael Scot; von witz
Auff böss Practic sehr abgericht
Das Spiel das kundt er ganz artlicht.
Im zwanzigsten Kapitel „Narrheit der Klugen" heifst es (S. 201):
„Wozu dienet dann nun solcher Stoltz? solcher Pracht? solche Ehr
Geitz und Ruhmsucht? Dantes, schreibende von dem Purgatorio ***)
sagt also:
O superbi Christian' miseri e lassi
Che della vista e della mente infermi
Fidanza havete ne' ritrosi passi;
Non v'accorgete voi, che noi siam vermi
Nati a formar Tangelica farfalla,
Che vola alla giustizia, senza chermi?
Chi de Tanimo vostro in alto galla;
Poiche siete quasi entomata in difetto; (sic!)f)
Si come verme in cui Formation falla?
O stoltze arme Christen mein,
Ihr krank je an dem Gemüth sein:
Die ihr sucht in der Weidich PVewd
Ein TrosthofFnung. O grosses Leid!
Gedenckt jhr nicht, dass wir Wurm sein?
Mein wer kompt in die Frewde ein
Ohn schertz, Spott, Verachtung und Pein?
*) Bei Goedeke, Grundr. ' II. 585 steht dieser Titel unter 23 c als eine neue Aus-
gabe; in dem mir vorliegenden Exemplar der Münchener Staatsbibliothek folg^t dieser
Titel und der zweite Teil unmittelbar auf den ersten (unter 23 a) und das Regster ist
für beide gemeinsam.
**) V. 115 -117. ***} X. 121 - 129.
t) Richtiger; Di che Tanimo vostro in alto galla?
Poi siete quasi entomata in difetto (andere Lesart: Voi siete ecc.)
Dante in der deutschen Litteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. II. 467
Was g' denkt jhr doch, O arme Leuth?
Es find sich doch darnach die zeit,
Dass jhr ohn Glied, Haut, unterscheid
Seyd gleich wie ein Wurm. O gross Leyd!"*)
Diese Übersetzungen, deren Fehler und Ungenauigkeiten auf den
ersten Blick in die Augen fallen, sind, so unlesbar sie uns heute er-
scheinen und so wenig sie dem Gehalte des Originals gerecht werden,
wichtig als die ersten, welche Dantesche Verse in metrischem deut-
schem Gewände zeigen.
Schon etwas besser sind die sich chronologisch anreihenden Über-
tragungen eines Ungenannten. Sie stehen in der anonymen, von
dem Frankfurter Buchhändler Lucas Jennis veranlafsten Übersetzung
eines Hauptwerkes des lateranensischen Chorherren Tommaso Garzoni
(1549 — 1589), das 1585 und 1595 zu Venedig gedruckt wurde. Der
deutsche Titel lautet: „Piazza universale, das ist: Allgemeiner Schaw-
platz oder Marckt, und ZusammenkunfFt aller Professionen, Künsten,
Geschafften, Händeln und Handtwercken, so in der gantzen Welt
geübt werden" u. s. w. Frankfurt a. M. 161 9. Auch hier haben wir
es also mit Citaten zu tun, die zwei Stellen des Inferno und drei des
Paradiso beibringen. In der dem ersten vorangehenden Bemerkung
lesen wir, soweit mir bekannt zum ersten Male in einem deutschen
Buche, den Namen Beatrice. Es heifst im XXV. Discurs: Von den
Theologen (S. 152): „Der herrlich und Mysteriosus poeta Dantes
Florentinus hat unsere Theologiam nicht ohne sonderliche bedeutung
einem Weibe Beatrici vergliechen, welche jhn von einer Sphaera zur
anderen, bis für den Thron Göttlicher Majestet gefuhret und beleitet,
davon er also sagt:
Quivi la mia donna vidi si lieta
Come nel lume di quod (sie!) ciel si mise
Che piü lucente se ne fe il pianeta etc.**).
Das ist:
Alda ich meine Leiterin hoch sähe erfrewet
Da sie sich wolgemuth zu dess Himmels Liecht nahet,
Ward klar, wie ein Planet in seinem besten Schein etc."
Im LXXXVIII. Discours: Von Verleumbdern, Afterredem und miss-
günstigen Murmurern heifst es (S. 511): „Hierher gehöret auch
*) Die zweite Stelle abgedruckt bei Scartazzini 1. c. II. 89 und bei Reinh. Köhler,
1. c. 158.
*♦) Par. V. 94—96.
468 Emil Sulg:er-Gebmg:.
des Dantis Gedicht, da er in seiner Hellen unter anderen auch die
Schwätzer und Verleumbder zeiget, wie dieselbige von einem sonder-
lichen TeuflFel mit einem Schwert so wunderlich zerhauWen und zer-
fleischet werden, da er sagt:
Un diavolo e qua dentro che n*accisma,
Si crudelmente al taglio della spada
Rimettendo ciascum di questa risma*)
Das ist:
Ein TeufFel ist darinn, der mit eim blossen Schwerdt
Die Schwätzer grewlich hauwet, wie sie dessen wol werth:
Darfur sich jeder hüt, der Fried und Ruh begert."
Im CXVI. Discurs: Von Müssiggängern und Pflastertrettem heifst
es (S. 628): „Derhalben auch Dantes fiirgibt, dafs sie in der Höllen
wohnen unnd sich alda Ewiglich beklagen sollten, da er sagt:
Quivi sospiri pianti e amar quia (sie!)
Risconan (sie!) per laer senza stelle,
Ond'io al comminciar ne lagrimai**)
Das ist:
Alda hört man im finstem Ort,
Nichts, als heulen, und kläglich Wort,
Dern, so durch Müssigang verarmbt.
Das, als ich*s hör, es mich erbarmbt."
Im CXLIV. Discurs endlich: „Von Spiegelmachem und Polierern
(S. 685): „Wie man dann ein schönes Theologische Gleichnus bey
dem Dante in seiner Comedia findet, da er sag^:
Su sono specchi, voi chiamate Troni,
Onde rifulgi a noi Dio giudicante.***)
Das ist:
Droben seind klarer Spiegel, die jhr zwar Thronen nennet
Darinn der Gerechte Gott mit seinem Gericht erscheinet.
und anderswo sagt er widerumb:
•) Inf. XXVIII. 37-39.
*•) Inf. in. 22—24. Die mehrfachen Fehler im ital. Text erklären sich daraus,
dals der Frankfiirter Setzer die fremde Sprache nicht verstand, dagegen wohl mit Latein
besser Bescheid wufste (quod, quia). Das quia für guai allerdings des fehlenden Reimes
halber besonders auffällig. V. 23 lautet richtig: Risonavan per Taer senza steUe.
*♦•) Par. IX. 61, 62.
Dante in der deutschen Litteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. 11. 469
Tu dici vero che minori e grandi
Di questa vita miran nello speglio
In che prima che pensi il pensier pandi*)
Das ist:
Du sagest recht unnd wol, dass beydes gross und klein
Sich in dem Spiegel klar dieses Lebens besehen \
Alda sie durch den Glantz unnd dessen hellen Schein,
All jhr heimlich Gedancken bald oflFenbahret sehen.**)"
Die Art der Übersetzungen ist eine ungleiche, bald in gereimten
Versen, bald in versartig abgesetzt gedruckter Prosa. Auch die
Versbehandlung ist ungleich Inf. XXVIII, 37 — 39 wird die Terzine
in drei Alexandrinern mit durchgehdhdem Reim wiedergegeben, wäh-
rend als Übertragungen von Inf. III, 22 — 24 und von Par. XV. 61 — 63
Vierzeilen eintreten, und zwar dort vierhebige Verse mit der Reim-
stellung aa bb, hier aber wieder Alexandriner mit der Reimstellung
ab ab und dem Wechsel männlichen und weiblichen Ausgangs. In-
haltlich wird zur Verdeutlichung hie und da zugefugt, so die Verse
„dem so durch Müssigang verarmbt" und „Alda sie durch den Glanz
unnd dessen hellen Schein", ebenso die Halbzeile „wie sie dessen wol
wert"; die ersteren wohl hauptsächlich, um aus der Terzine einen
Vierzeiler zu gewinnen. Im Übrigen aber ist mit einer gewissen Ge-
schicklichkeit der Inhalt eines italienischen Verses ziemlich genau
durch den entsprechenden deutschen wiedergegeben. Inf. XXVIII. 39
ist unübersetzt geblieben und dafür eine inhaldich sehr freie Umschrei-
bung gegeben.
Chronologisch reiht sich hier ein Zeugnis an, das nichts Neues
bringt, aber um seines Verfassers willen bedeutungsvoll erscheint.
Kein Geringerer, als Martin Opitz (1597 — 1639) nennt Dante in
seiner vom 28. Dezember 1628 datierten Vorrede und Widmung an
Fürst Ludwig von Anhalt, die dem Bande: „Martini Opitzij Weltliche
Poemata, zum Viertenmal vermehrt und übersehen herausgeben. Franck-
furt am mayn bei Thomas Matthias Götzen. 1644"***) vorangeht. Darin
giebt er eine Art Abrifs der römischen Litteraturgeschichte zur Kaiser-
zeit, spricht dann von Karls des Grofsen Bemühungen und von der
ritterlichen Poesie, wobei er eine Reihe Fürsten und Herren aufzählt.
♦) Par. XV. 61-63.
**) Diese letzten 4 Zeilen bei Scartazzini 1. c. H. 33 u. bei R. Köhler 1. c. S. 158.
***) Die Ausgrabe stimmt genau mit der von Goedeke, Grundr.* III. 49 unter 94)
angegebenen, nur dafs bei Goed. das „Weltliche** im Titel fehlt
470 Emil Sulger-Gebingf.
Der folgende Abschnitt aber lautet: „Die Florentiner, als sie in ihrem
Dantes, dem ersten Lichte der Hetnirischen Sprache, so ein edles
und grosses Gemüt vSahen, erhüben sie ihn zu dem höchsten Ampte
und ob jhn wol nachmals das undanckbare Vaterlandt, welches er die
Mutter der Liebe nennet, verstiess, ward er doch hergegen der fur-
treflflichsten Comedie halber, die er in seinem Elend (wo Ruhm und
Ehr ein Elend ist) geschrieben, zum Bürger in gantz Italien ange-
nommen". Die Stelle über „Florentz, die Mutter der Liebe" ist in der
Erinnerung an jene dem Dante zugeschriebene Grabschrift (s. S. 245)
verfafst, und das fuhrt auch auf die Quelle fiir Opitzens kurze Be-
merkungen: es ist Paulus Jovius, in dessen „elogia" (Venetiis 1546,
S. 6) sich nicht nur fiir sie alle das lateinische Vorbild findet (man
vergl. besonders den Satz: „ut abdicata patria totius Italiae civitate
donaretur"), sondern auch zum Schlüsse die Grabschrift abgedruckt ist.
Doch hat vielleicht Opitz direkt nur aus Reusner (s. S. 461 f.) geschöpft
und somit die Aufserungen des Jovius nur aus zweiter Hand erhalten.
Im nächsten Zeugnisse, das uns begegnet, wird einmal ausnahms-
weise auf eine Schrift Dantes hingewiesen, die sonst in Deutschland,
wie dies ihrem Inhalte nach selbstverständlich erscheint, kaum ge-
nannt, geschweige denn näher gekannt wird, auf den Tractat de vul-
gari eloquio. Der unruhige, auf verschiedenen Gebieten schriftstelle-
risch tätige Jesuit Melchior Inchofer (geb. zu Wien 1584, gest. zu
Mailand 1648), der seinem Orden wie der Kirche öfters zu schaffen
machte, gab 1635 zu Messina seine Schrift „Historiae Sacrae Latini-
tatis Libri VI" heraus, worin er unter Anderm als wahrscheinlich zu
erweisen sucht, dafs Christus mitunter lateinisch gesprochen habe und
dafs die Seligen im Himmel sich lateinisch unterhalten. Ein zweiter
Druck erschien in München 1638 „Apud Melchiorem Segen, Biblio-
polam". Ich benutze diese Ausgabe. Inchofer giebt in seinem dritten
Buche („de cultu linguae vulgaris") in den Kapiteln III (S. 115), VI
(S. 126 — 129) und VIII (S. 135) knappe zum Teil wörtliche Auszüge
aus den Kapiteln XI, XII, XIII, XV (nicht XIV, wie Inchofer am
Rande anfiihrt) XVII, XVIII und XIX des ersten Buches in Dantes
genanntem Werke; es sind zumeist Stellen, die sich auf die Charak-
teristik der verschiedenen italienischen Dialekte, oder auf des Floren-
tiners Unterscheidungen des vulgare I^tinum und vulgare proprium,
sowie weiterhin auf die des vulgare illustre, aulicum und curiale be-
ziehen. Ein Urteil über den Dichter, dessen Bemühungen um die
Schaffung einer italienischen Schriftsprache er einmal, nicht gerade
Dante in der deutschen Litteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts, tl. 471
mit grofser Anerkennung, streift*), gfiebt er mit einem Hinweis auf
die Stelle des Lilius Gyraldus**) am Schlüsse des sechsten Kapitels,
das auch die meisten Auszüge enthält. Da schreibt er (S. 129): Atque
haec omnia in Dante hinc inde sparsa, ejusdem tarnen verbis collegi-
mus, ut imago quaedam esset ejus philosophiae, quam si posteri dili-
genter intuiti fuissent, quibus initüs et progressibus sermo vulgaris
Italiae qui hodie viget, prorepserit, probe perspicerent. Ex universa
porro Dantis structura, necessario consequitur, ipsum aut omnem re-
pudiare voluisse Latinitatem, aut destructam in sua deformitate stabi-
lire: aut denique quod ipse non videtur inficiari, alii vero etiam af&r-
mant, novam ex diversis conflare linguam, quae latina vulgaris adeoque
mixta esset, proinde neque semper integro habitu cum latina inces-
sisset. Von Dante dem Dichter ist also bei Inchofer überhaupt nicht
die Rede, nur den Philosophen und Sprachforscher fafst der Autor
ins Auge, wie es bei dem Thema seines Buches allerdings am nächsten
lag. Immerhin hätte er auf das grofse Gedicht, das vor Allem dazu
beitrug die lingua vulgaris zu einer litterarisch anerkannten zu machen,
hinweisen können. Seine Worte scheinen auch nicht sehr einflufsreich
gewesen zu sein, da wir nur ein einziges Mal ihn später als Quelle
ffir eine Angabe über Dante citiert finden werden.
Als Dritter in der Reihe der Übersetzer, zugleich als Erster, der
selbständig eine freigewählte Stelle aus der Commedia nachdichtete,
folgt Christian Brehme aus Leipzig (geb. 1613, seit 1629 Kammer-
diener und bald auch Bibliothekar des Kurfürsten von Sachsen, gest.
1667 als Bürgermeister von Dresden). Im Jahre 1639 veröffentlichte
er ein dünnes Bändchen Gedichte „gedruckt zu Leipzig bei Fried.
Lanckischen S. Erben" unter dem Titel „C. Brehmens allerhandt
Lustige, Trawrige und nach Gelegenheit der Zeit vorgekommene
Gedichte. Zu Passirung der Weyle mit dero Melodeyen mehrentheils
auffgesetzt". Darin steht auf Blatt o: „Aus des Dantes Italiänischen.
Der ist ein Thor, der seinen Sinn zutrawet
Und auflf VernunflFt so grosse Stücken bawet
*) S. 135: Hoc (aus der Mischung fremder und eigener Elemente eine neue hei-
mische Sprache zu bilden) sane inter alia fuit Danthis et praeceptum et praecipuum
institutttm, ut qui dicere consuevisset, in quolibet idiomate esse aliquod pulchrum, in
nullo omnia pulchra, ex multis unum formosum quod ipse praestare conatus est, concin-
nandum judicavit.
**) Lilius Gregorius Gyraldus aus Ferrara (1479 — 1552) spricht von Dante am
Schluls des V. Dialoges seiner „de historia Poetarum Dialogi X'^ Basileae 1545.
S. 667 f. In den Opera, Basel 1580. II. 224 f. Eine Prachtausgabe die Opera Lugd. 1696.
Ztichr. f. vgl. Litt. Gesch. N. P. YlII. 31
47t Emn Sulger-Gebingr.
Zu g^runden aus, was jenes Wesen sey,
Da drey ist eins und ein einfaches drey:
I>enn wann Vernunfft koennt alle Sach ergründen
Wehr ohne Noth die heiige Magd zu finden:
Ohnnöthig wer's dass sie ein Sohn geborn:
Drumb der Verstand hierinnen ist verlohrn*)".
Eine freie Übertragung von Purg. III, 34—39:
Matto e chi spera che nostro ragione
Possa trascorrer V infinita via
Che tiene una sustanzia in tre persone.
State content!, umana gente, al quia
Che se potuto aveste veder tutto
Mestier non era partorir Maria.
Der schwierige Vers 37, der mit Aristotelischen Begriffen operiert,
ist einfach weggelassen, im Übrigen aber der Gedankengang Dantes
getreulich wiedergegeben und nur die knappe Ausdrucksweise des
Originals in breitere Umschreibung umgesetzt worden, wodurch das
deutsche Gedicht schwerfallig wurde (man vergl. besonders V. 36 u.
V. 39, welch letzterer allein den drei Schlufszeilen Brehmes entspricht).
Auch hier haben wir die Wiedergabe der Terzinen durch Vierzeiler,
aber mit der Reimstellung aa bb, und mit Wechsel männlichen und
weiblichen Ausganges; die Verse sind fiinf hebig.
Die Reihe der Übersetzer unterbrechen hier abermals zwei ge-
lehrte Dichter mit Zeugnissen, die der Zeit nach zwischen Brehme
und Gryphius fallen ; und wieder ist der zuerst zu nennende Verfasser
einer der einflufsreichsten Litteraten des Jahrhunderts. Das vielge-
schäftige Mitglied der fruchtbringenden Gesellschaft, der als ehren-
werter Ratsherr seiner Vaterstadt Nürnberg verstorbene Stifter des
pegnesischenBlumenordens,GeorgPhilippHarsdörffer(i6o7— 1658)
erwähnt zunächst im dritten Teile seiner „Gesprächsspiele, So Hey
Ehrn- und Tugendliebenden Geselschaften auszuüben^* (1643) den
italienischen Poeten. In dem oblongen, mit vielen Bildern ausge-
statteten Büchlein wird unter andern Materien auch der Geiz abge-
handelt, und dabei erzählt, wie ein sparsamer Vater seinem geizigen
Sohne sechs Tafeln hinterlassen habe, deren Bilder nach den beige-
fügten Holzschnitten beschrieben werden. Auf die Frage der Angelica
von Keuschewitz: „Er sage uns ferner von der fünften Tafel Inhalt",
antwortet Vespasian von Lustgau (S. 267): „Darinnen war zu finden
*) Abgedruckt bei Scartazzini, 1. c. II. 193 und R. Köhler, l. c. 157.
Dante in der deutschen Litteratnr des 15. bis 17. Jahrhonderts. H. 47S
der Welsche Poet Dantes f , vielleicht auf das Lateinische absehend, es
were der Geber gestorben", und die Anmerkung am Rande lautet:
„f Ejus monumentum eodem modo videre est Ravennae prope Templum
D. Frandsci'. Die kleine Abbildung zeigt in der durch mehrere in-
einandergelegte Rahmen verengten Tafel einen Mann im Mönchsge-
wande mit Kaputze und Lorbeerkranz vor einem Lesepult mit auf-
geschlagenem Buche den Kopf auf die linke Hand gestützt, in der
herabhängenden Rechten ein zweites Buch.
Liegt hier nur ein noch dazu recht schwaches Wortspiel mit dem
Namen vor, so zeigt dagegen eine andere Stelle, an der HarsdörfFer sich
als Mann der Wissenschaft fühlt und giebt, dafs er eine etwas genauere
Kenntnis von der Div. Com. hatte. Er gab als „der Spieleride"
seinem Ordensgenossen „dem Suchenden" in der fruchtbringenden Ge-
sellschaft, dem tüchtigsten wissenschaftlichen Grammatiker unserer
Sprache in jener Zeit, Justus Georg Schottelius (1612 — 1675), als
dieser 1645 seine „Teutsche Vers- oder Reimkunst" in Wolfenbüttel ver-
öffentlichte, neben anderen Genossen in Vers und Prosa sein bewun-
derndes Geleit. Die Prosa ist eine kurze aus Nürnberg vom 20. Wein-
monat 1644 datierte Abhandlung über die „Gründliche und unge-
zweiffelte Maasforschung der Silben", wie sie der Suchende im Deutschen
erfunden habe und wie sie bisher auch die Ausländer für ihre Verse
nicht gekannt „Die Frantzösischen, Italiänischen und Spanischen
Poeten haben hierin noch zur zeit keine gewissheit, wie man auch
aus ihren vornemsten Schriften zubeobachten hat". Nachdem er
mehrere französische Beispiele für falsche Betonung angeführt, fahrt
er fort: „Die Italiäner sind hierinnen nicht achtsamer. Petrarcha
setzet in dem 29. Senetto (sie) f. 32*).
S'io credesse per (credesse per) morte essere scarco
(essere scarco)
Dante in seinem dritten Gesang von der Hölle f. 10.
Per me si va nel eterno dolore (eterno) etc."
Somit hat Harsdörffer das Original der Div. Com. gekannt, falls
er nicht den Vers schon irgendwo als Beispiel angeführt gefunden.
Wörtlich genau ist seine ganze Abhandlung übergegangen in Schotteis
Hauptwerk die „Ausführliche Arbeit von der Teutschen Haubtsprache"
*) Der citierte Vers ist der erste des in neueren Ausgaben als XXIII. stehenden
Sonettes „in vita di Madonna Laura*\
474 Emil Sulger-Gebing.
(Braunschweig 1663) wo sie (S. 794 fF.) als „Des Hochgelahrten,
berühmten, und nun mehr seeligen Mannes, Herrn Harsdorfers Meinung
und Uhrteihl über die invention Dieses Buches" abgedruckt ist,
An zweiter Stelle kommt der kurfürstliche Bibliothekar in Dresden,
David Schirmer (etwa 1623 — etwa 1682) hier in Betracht. Voll
höchsten Selbstbewufstseins rühmt er in der Zueignung seiner „Poeti-
schen Rosengebüsche" (1657), wie herrlich weit die Deutschen es nun
in der Dichtkunst gebracht hätten. »Wir geben nunmehr keinem
frembden Volke was bevor. Hat Welschland seine Petrarchen, Dantes"
u. s. w.'*'), und nun werden ganze Reihen von italienischen, franzö-
sischen, englischen, spanischen und niederländischen Dichtem aufge-
zählt, um ihnen nicht weniger zeitgenössische Deutsche als gleich-
berechtigt gegenüber zu stellen. Nichts weiter also, als eine blofse
Namensnennung des grofsen Poeten, die jedenfalls nicht auf direkter
Bekanntschaft beruht.
Fast zwanzig Jahre nach Brehmes Ubersetzungsversuchen ergreift
ein echter Dichter das Wort als Verdeutscher Dantes. Andreas
Gryphius (161 6 — 1664) der ja im Jahre 1646 Italien bereist und seine
der Republik Venedig gewidmeten Gedichte persönlich in der Lagimen-
stadt überreicht hatte, veröflfentlichte 1659 das Trauerspiel „Grofs-
müthiger Rechts-Gelehrter Oder Sterbender Aemilius Paulus Papini-
anus". Da schreibt er in den Anmerkungen zu V. 704 der dritten
Abhandlung „Wo Minos Urtel spricht" folgendes: „Dantes in seinem
Xn. Gedichte der Höllen stellet die Gewaltthäter und Tyrannen m
eine bluttig-sidende See:
Picea gli occhi a valle: che s*approccia
La rivera del sangue in la quäl bolle
Qual che per violenza in altrui aoccia
Und etwas ferner:
Noi ci movemmo con la scorta fida
Longa la proda del boUor vermiglio
Ove i bolliti facen (sie!) alte strida.
Beyde Orte haben wir folgends nur überhin versetzet:
Schlag dein Gesicht auf dises tiffe Thal
Es rauscht daher, der Blutt-Flusz darinn kocht
Der mit Gewalt geschadet und gepocht
Und nun die Straff erträgt in diser Qual.
*) Die ganze Stelle ist abgedruckt in Goedekes Grundrifs* TU, 69.
Dante in der deutschen Litteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. II. 475
Und folgends:
Wir gingen mit dem treuen Leiter fort
Längst hin den Strand der Blutt-gefarbten Bach
In welcher grosz Geheule nach und nach
Auszgossen die gesotten umb den Mord*)".
Also eine freie Übersetzung von Inf. XII, 46 — 48 und 100 — 102,
in zwei Vierzeilern von funfhebigen Versen mit männlichem Ausgang
und der Reimstellung a b b a.
Die Übertragung ist etwas breit und schwer ausgefallen; bei der
ersten Stelle wird eine ganze Zeile beigefiigt, deren Inhalt dem Original
fremd ist, und das einfache Verbum „noccia" erscheint in „geschadet
und gepocht" doppelt wiedergegeben, während das „in altrui" unüber-
setzt bleibt. Bei der zweiten finden wir zwei verbreiternde Zusätze,
die inhaltlich völlig ungerechtfertigt, weil überflüssig, nur des Reimes
wegen da sind; auch die Beifügungen des ersten Vierzeilers dürften
lediglich aus Reimnöten zu erklären sein.
Gryphius ist der letzte Übersetzer des XVII. Jahrhunderts, doch
reihen sich noch mehrere Zeugnisse an, die ausnahmslos gelehrten
Federn entstammen. So finden wir einen langem Artikel über Dante
in dem grofsen „Lexicon universale" des Baslers Joh. Jakob Hoff-
mann (1635 — 1706), dessen ersten Auflage 1661 — 1674 erschien.
Ich citiere nach der zweiten: 1677 — 1683. ^^^ wird (I. 528)
Dantes als „Poeta et Philosophus insignis Florentinus, Regum et
Principum amicitia clarus" bezeichnet und auf Volaterranus als
die Quelle für sein Leben verwiesen. Seine politische Geschichte
wird in kurzen Zügen richtig erzählt, und der Schlufssatz lautet:
„Cum Marsilio Patavino**) acerrime vitia cleri insectatus, Pontificiae
sedis odium in se concitavit, Ravennae tandem mortuus, cum frustra
reditum in Patriam tentasset, an 1321. aet. 56. Als Quellen nennt er
neben den uns schon bekannten Petrarca, Paulus Jovius und Bartolus
noch den Chronisten Villanius***) und Rubeusf). Die Conunedia ist
gar nicht erwähnt; die ganze Fassung beweist deudich, dafs Alles
*) Die ganze Stelle ist abgedruckt bei Sartazzini 1. c. II. 38 u. bei Reinh. Köhler
L c. S. 159.
**) Marsilius Patavinus (f 1328) wurde 1327 von Johann XXII. gebannt. Er hatte
einen ^defensor pacis** und ^de potestate imperiali et papali" geschrieben.
***) Giovanni Villani (f 1348) widmet im EX. Buch seiner Chronik Dante einen
Abschnitt. Erster Druck Florenz 1577.
t) Hieronymus Rubeus (1539—1607) war Leibarzt Papst Clemens des VIII. Seine
Historiae Ravennates erschienen zu Venedig 1590.
476 Emil Suls^er-GeUag.
aus zweiter und dritter Hand geschöpft ist. Noch kürzer &(st sich
ein anderer Lexicograph, Georg Matthias König aus Altdorf
(1616 — 1699) in seiner 1678 erschienenen „Bibliotheca vetus et nova".
Doch findet sich in der auf*s Knappste beschrankten Angabe, die
aber wenigstens das Hauptwerk wieder nennt, ein falsches Todes-
datum. Es heifst (S. 235): „Dantes Aligerius, Florentinus, natus est,
An. 1265: obiit, An. 1325. Triplicem Comoediam Hetrusco sermone
expressit. Epitaphium ejus tale circumfertur" und es folgt die uns
bekannte Grabschrift, Endlich eine reichhaltige Quellenangabe: neben
Jovius, Theod. Zwinger und Olearius erscheinen noch Gyraldus*) und
Valerianus Pierius.**)
In weitere Kreise mag Dantes Name gedrungen sein durch ein
Büchlein, in welchem man ihn zunächst kaum suchen würde, durch
den „Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie", den der
grofse Vielwisser Daniel Georg Morhof (1639 — 1691) in Kiel 1682,
im gleichen Jahre mit seinen „Teutschen Gedichten" veröffentlichte.
Der zweite Teil: „Von der Teutschen Poeterey Ursprung und Fort-
gang" erzählt im zweiten Kapitel „Von der Italiäner Poeterey", und
da (S. 185 f.) heifst es: „Ihr (sc. der Toscaner Sprache) erstes Auff-
kommen, und gleichsamb ihre Jugend ist gewesen umb das Jahr Christi
1300, da Dantes Petrarcha und Boccadus gelebt haben als die ersten
Triumviri unter den Italiänischen Poeten.***) Diese drey haben nach
Melchioris Jnchoveri Meinung f) angefangen die gemeine Sprache aus-
zuüben, so wohl in freyer als gebundener Rede, weil sie sich nicht
getrauet, in der Lateinischen Sprache etwas tüchtiges ausszurichten,
da alles damals in voller barbarie war. Wiewohl Petrarcha noch am
meisten darinne gethan, und als ein unvermutheter Stern durch die tunckle
Nacht hervor geleuchtet. Dantes ist voll von alten Wörtern, unter
welchen doch ein tieffsinniges Wesen stecket. Seine Poemata haben
viel Widersacher und Verthädiger gehabt". Er kommt nun auf den
Streit über Dantes Wert zu sprechen, den Castravilla ff) und Jakobus
*) VergL S. 47« Anm. **).
**) Valerianus Pierius (1475 — 1558) nContarenus sive de infelicitate literatorom*
gedr. Venedig 1620 u. Amsterdam 1647.
***) Diese noch heute in der Litteraturgesch. allgemein Qbliche Bezeichnung hier
zum ersten Mal in einem deutschen Buche,
t) Vergl. oben S. 470.
ff) Unter dem Pseudonym Rid. Castravilla geht ein „Discorso nel quäle si mostia
rimperfettlone della Commedia di Dante contro 11 Dialogo delle lingue del Varcfai**
(vergl. de Batines, bibl. dantesca I, 417) gedruckt in Annotarioni owero Chiose mar-
ginali di Belis. Bulgariao. Siena 1608.
Dante in der deutschen Litteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts, n. 477
Mazzoni*) mit einander geführt und den Belisarius Bulgarinus'^'*^ und
Hieronimus Zoppius***) erneuert haben, nicht ohne in einer Klammer
das Epitheton „divinus homo^, das Mazzoni dem Dichter giebt, her-
vorzuheben. Seine Hauptquelle für diese Darstellung ist nach seiner
eigenen Angabe die „Pinacotheca" des Erythraeusf). Dann fahrt
er fort: „Jacobus Gaddiusff) libro de scriptoribus, tom. I pag. 206
urteilt von dem Dante, dafs, wo sein Werth eine Comödia sey, so
übertreffe sie viel der Griechen und Lateiner, wo es aber ein Heroicum
Poema zu nennen, wäre es allein dem Lateinischen des Virgilii nicht
zu vergleichen, des Homeri seinen SchriflFten aber vorzuziehen". Dieser
Schlufssatz ist fast wörtlich übertragen aus Gaddl;f f f ) er ist interessant
auch für die damals noch allgemein übliche auf die Poetik des Jul.
Caesar Scaliger (1561) zurückgehende Überordnung Virgüs über Homer,
während wir heute den Satz gerade umkehren würden. Immerhin er-
scheint hier zum ersten Male Dantes Dichterwert aufs Nachdrücklichste
betont und sein Hauptwerk neben und über die gröfsten Epen des
klassischen Altertums gerückt.
Diese Reihe von Zeugnissen im XVII. Jahrhundert mag, auch
innerlich berechtigt durch das Überwiegen der Gelehrsamkeit über
die Dichtkunst während dieses Zeitraumes, als zeitlich letztes das eines
gelehrten Mannes, des Nürnberger Arztes Paul Fr eh er (161 1 — 1682),
beschliefsen. Erst sechs Jahre nach seinem Tode erschien in seinem
Wohnort der gewichtige Foliant „Theatrum Virorum Eruditione Cla-
rorum" und darin (S. 1421) ein langer Artikel „Dantes Aligerus" be-
ginnend: „Vocatus ab aliis Aldigerius, Poeta sui saeculi nuUi secun-
dus." Schon dieser zweite Teü des Satzes stimmt so wie das Meiste,
*) Jacopo Mazzoni aus Cesena (1553 — 1603) „Discorso in difesa della Commedia
di Dante" Cesena 1573; ib. 1587; ib. i688.
**) Belisario Bulgarlno schrieb zuerst ,,Alcune considerazioni sopraU discorso di
M. Giacopo Mazzoni" Cesena 1573; ib. 1583; denen er eine ganze Reihe Streitschriften
über Dante nachfolgen liefs.
***) Von dem Bologneser Professor Hieronymo Zoppio erschienen ,,Ragionamenti
in difesa di Dante e del Petrarca Bologna 1583; ,,Risposto air Oppositioni Sanesi fatte
(da Diomede Borghesi) a* suoi Ragionamenti in difesa di Dante" Fermo 1585: ,,Particelle
poetiche sopra Dante" Bologna 1587; endlich „la Poetica sopra Dante" ib. 1589.
t) Janus Nicius Erythraeus, eigentl, Giovanni Vittorio Rossi aus Rom (1575 — 1647)
„Pinacotheca imaginum illustrium virorum" .erschienen Colon. Agrippinae 1645.
ff) Jacobus Gaddi aus Florenz (f 1650) gab 1648 zu Florenz den I., 1649 zu
Lyon den U. Bd. seines Werkes: „de scriptoribus non ecciesiasticis" heraus.
ttt) A* si Poema Dantis appeletur Comedia, haec multas Latinorum Graecorumque
Comedias exsuperans, utrisque superiores reddet Comicos Italicos, si vero id inter heroica
referatur, praestantissimo tantum Latii impar, anteponendum Homericis videtur.
478 Emil Sulger-Gebing.
was Freher beibringt, wörtlich überein mit Boissard*). Die kurzen
Notizen über seine ersten Florentiner Jahre bieten nichts Besonderes,
wohl aber ist der wieder mit Boissard genau übereinstimmende Satz
über den Pariser Aufenthalt interessant: proscriptus primum exul
Lutetiae Parisiorum propter excellentem bonarum literarum cognitionem
cum honore exceptus est: ubi saepe magna omnium admiratione et
applausu publice disputavit tam Philosophicis quam sacris literis« pri-
mamque laudem inter Viros doctos sui temporis adeptus est." Wir
haben es auch hier mit einer freien Ausschmückung, der oben (S. 458 f.)
besprochenen Stelle des Boccaccio in der Genealogia Deorum zu tun,
auf die allein wir auch den Vers des Hans Sachs „da er besass der
Künsten Stuhl" zurückfuhren konnten. Weitere Notizen über Dantes
Exil folgen, die hier im Einzelnen auf ihre Richtigkeit und öfters Un-
richtigkeit nachzuprüfen zwecklos ist, wohl aber soll der inhaltsreiche
Satz hier stehen: „ut exilii taedia leniret, ad scriptionem animum appli-
cuit: erat enim non tantum Graece et Latine peritus, sed etiam
in lingua Hetrusca facundus (bis hieher wörtlich nach Boissard,
das folgende dagegen Frehers Eigentum) acri perspicacis mentis
acumine patrii Carminis rüdem vetustatem ad novum decus extulit,
dum infera, purgantia et beata Regna, Virgilio, Statio et Bea-
trice Portinaria ducibus A. C. 1300 se perlustrasse egregio Poemate
cecinit, et non humana ad Deos ut Homerus, sed divina ad nos trans-
tulit." An das Lob seiner Gelehrsamkeit knüpft sich also als ein noch
höheres das, dafs er der heimischen Dichtkunst durch sein Werk neuen,
glänzenden Ruhm geschaffen, und die Art, wie von der Commedia
gesprochen wird, scheint, da gerade dieser Satz sich weder bei Bois-
sard, noch bei Jovius, den beiden von Freher am Schlufs selbst an-
gegebenen Quellen, findet, darauf hinzuweisen, dafs der Nürnberger
Arzt das so hoch gelobte Werk selber gekannt hat. Darauf deutet
die richtige Angabe der drei Führer, Virgils für die Hölle, des Statius
(neben Virgil) für das Fegefeuer, und Beatrices (zum ersten Mal auf
deutschem Boden mit ihrem vollen Namen genannt!) für das Paradies;
darauf deutet auch die richtige Fixierung des für die Vision ange-
nommenen Jahres. Auch hier kehrt die Zusammenstellung mit Homer
wieder, ohne dafs dies Mal Virgil bei der Vergleichung erwähnt
würde. — Blicken wir von hier zurück auf den in diesem Punkte
ganz von Gaddi abhängigen Morhof und weiter auf die diesem vor-
angehenden Lexicographen, unter denen nur Zwinger seines höchst
*) J. J. Boissard (1528—1603) Icones quinquaginta virorum illustrium. Francoforti
1597— 1599. I- 73 ff.
Dante in der deutschen Litteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. II. 479
wahrscheinlich von Gyraldus abhängigen Vergleiches zwischen Dante
und Lucrez wegen hervorragt, so konstatieren wir ein starkes und
rasches Anwachsen der poetischen Schätzung des grofsen Florentiners
diesseits der Alpen.
Freher betont im Folgenden Dantes Eleganz der Rede, seine
Beliebtheit bei den Fürsten, und erzählt von seinem Aufenthalt bei
Cangrande, der als idealer den Wissenschaften ergebener Fürst gezeichnet
wird; durch seine Freigebigkeit habe Dante das Exil leichter getragen
und sich ganz den Studien hingeben können, \mi deren willen ihn heute
noch ganz Italien hochhalte: All das aus Boissard einfach abge-
schrieben. Dann wird eine Facezie*) von ihm berichtet, sein Todestag
genannt und eine genaue Beschreibung seines Denkmals in wörtlichem
Anschlufs an Boissard gegeben, die mit dem Abdruck der bekannten
Grabschrift schliefst. Endlich folgt ebenso wörtlich nach Boissard das
Schriftenverzeichnis, das vollständigste, das uns bis jetzt in einem Buche
deutscher Herkunft begegnete: „De monarchia Mundi lib. Comoediarum
lib. Disputatio de aqua et terra, quae Mantuae inchoata, Veronae
tarnen decisa est. Epistolae multae. Scripsit et Hetrusco sermone
Poemata doctissima, de Paradiso, Purgatorio et Inferno.** — Es fehlen
somit nur Vita nuova, Canzoniere und Convito, d. h. die lyrischen Ge-
dichte nebst den sie erklärenden Prosaschriften; im übrigen stimmt
das Verzeichnis bis auf die Erwähnung der drei Teile des grofsen
Gedichtes genau mit dem schon von Trithemius (1494) gegebenen
überein. Eigentümlich, dafs auch hier noch das durch den mifsver-
standenen Titel des grofsen epischen Werkes entstandene Buch der
Komödien fortlebt, während die drei Teile der Commedia nur mit
ihren Einzeltiteln aufgeführt werden. — Dieser lange und, wie wir
sahen, ausnahmsweise inhaltreiche Artikel Frehers ist das letzte Zeugnis,
das ich im XVII. Jahrhundert nachzuweisen vermag, abgesehen von
einer beiläufigen Nennung des Namens in Gottfried Arnolds inter-
essanter „Unpartheyischer Kirchen- und Ketzerhistorie" (Frankfurt a. M.
1699), worin nur das Epitheton „bekannt", das dem Dichter verliehen
wird, hervorgehoben werden mufs**).
München.
*} Nach Domenichi, Detti e fatti de' diversi si|^ori, Veo. 1563. Blatt 106, 2.
**) Die Stelle steht im I. Bd. Buch XIV, Kap. II. § 6 und lautet (S. 390): „Es
kam auch dissmal die weise aufif Poeten zu crönen, indem nach dem bekanten Dante
Aligerio Carolus IV zu Rom Franciscum Petrarcham zu erst dazu machte, und ihn mit
einem grofeen . lorbeer-krantz durch alle gassen fQhren liels.*^
-•••-
VERMISCHTES.
-»••-
Johannes Bockenrod, ein vergessener lateinischer
Dichter des XVI. Jahrhunderts.
Von
F. Wilhelm E. Roth.
Johannes Bockenrod oder Bockenrhodius war zu Worms a. Rh. zu
unbestimmter Zeit geboren. Der Zeitraum seiner Geburt dürfte
1490 bis 1494 sein. Über seine Familienverhältnisse ist Nichts bekannt.
Er machte seine Studien zu Cöln a. Rh. und scheint 1514 in das
Album der Cölner Hochschule eingeschrieben worden zu sein. Von
den vier damals zu Cöln vorhandenen Bursen : der Laurentiana, Hukana^
Corneliana und Montana wählte er letztere, in welche auch Bocken-
rods Studiengenosse der Cölner Gerhard Westerburg am 25. Oktober
15 14 eintrat*). In der nämlichen Burse studierten damals noch Conrad
Heresbach, der spätere Clevische Rat, der Humanist Petrus Schade
genannt Mosellanus (gestorben 1524 als Professor zu Leipzig) und
Conrad von Minden**). Lehrer Bockenrods dürfte der Humanist
Matthias Kremer von Aachen gewesen sein.
Bockenrod scheint sich dem Humanismus, insbesonders der Dicht-
kunst, zugewendet zu haben. Wo er lebte und wirkte, ist unbekannt,
er scheint sich aber zeitweise am pfalzischen Hofe zu Heidelberg und
in seiner Vaterstadt Worms aufgehalten zu haben. Ersteres läfst sich
aus seiner dichterischen Bearbeitung des Wirkens der Pfalzgrafen bei
Rhein bis König Ludwig IV. schliefsen, letzteres geht aus der genauen
Kenntnis der Wormser Verhältnisse, die sich in seinen Dichtungen
wiederspiegelt, bestimmt hervor. Bockenrod ist vorzugsweise poli-
tischer Dichter, treuer Anhänger des Hauses Habsburg und jedenfalls
auch der katholischen Sache. Als Ferdinand der Bruder Kaiser
Karls V. zum römischen König gewählt und gekrönt ward (1531),
besang Bockenrod den Gewählten, die Königin, die Türkennot, die
Beziehungen des Kaisers zu König Ferdinand und dem Papst Cle-
mens VII. Den Druck dieser Gedichte besorgte Bockenrod nicht
selbst, da dieselben jedenfalls seine der Öflfentlichkeit bestimmten Erst-
linge waren, sondern bediente sich des ihm von Cöln her jeden&lls
bekannten***) Ortwinus Gratius als älteren Humanisten zur Einfiihrung,
wobei er wiederum dessen Verhältnis zu dem Domprediger Friedrich
Nausea zu Mainz und dessen Beziehungen zum Habsburger Haus be-
*) Vgl. Archiv f. Frankfurts Geschichte und Kunst. N. F. V, S. 3.
*») Ebenda S. 3.
•**) Ortwin Gratius war Vorsteher der bursa Cucana zu Cöln zur Zeit, als Bocken-
rod dort studierte.
Johannes Bockenrod, ein vergessener lateinischer Dichter des XVI. Jahrhunderts. 481
. t — — —
nutzte. Die Gedichte sind ohne Zweifel in den Jahren 1531 und 1533
entstanden; Ortwinus Gratlus gab dieselben 1533 zu Cöln heraus und
widmete solche unter Beifügung eines Gedichts auf König Ferdinand
dem Domprediger Nausea zu Mainz.
Die Zeitverhältnisse zu Worms bearbeitete Bockenrod ebenfalls
dichterisch. Seine elegia in fatales casus reverendi domini et domini
Reinhardi inter adversa patientissimi, Joannis Bock. Wormatiensis,
auf Blatt 55 der Münchener Handschrift von Dichtungen Bockenrods
behandelt den Wormser Bischof Reinhard von Rippur (gestorben
19. April 1533) und läfst schliefsen, dafs Bockenrod dem Bischof nahe
gestanden habe*). Der Dichter bespricht den Tod des Bischofs,
dessen Erlösung aus schwerer Zeidage, die sozialreligiöse Verwirrung
in allen Schichten der Bevölkerung in Folge „haeretischer" Lehren.
Er gedenkt des Bauernkrieges, der Wiedertäufer, welche zu Worms
einen Vereinigungspunkt besessen, sowie der Türkengefahr. Manche
Ausdrücke, wie das obige „haeretisch^^ kennzeichnen auch hier den
Verfasser als Katholik.
In seinem 1536 herausgegebenen colloquium metricum aquilae
cum gallo spielte Bockenrod auf die Kampfe des Kaisers und des
Königs von Frankreich unter den Sinnbildern des Adlers und Hahns
an. Dabei ist er reicher an allgemein gehaltenen Ausdrücken als an
geschichtlicher Darlegung der Ereignisse. — Aufserdem bewahrte
Bockenrod eine Menge anderer Dichtungen in der von ihm angelegten
Münchener -Handschrift 13 17 auf. Bockenrod scheint nebstdem das
der Dichtkunst verwandte Gebiet der Musik gepflegt zu haben, seine
admiranda poemata enthalten Musiknoten über manchen Gedichten,
und bleibt es nicht ausgeschlossen, dafs auch die Melodieen von ihm
herrühren. Die meisten dichterischen Erzeugnisse Bockenrods sind
sprachlich gewandt, gut im Dialog, abgerundet im Versmafs, häufig
schwungvoll in der Diktion, aber arm an geschichtlichen Angaben.
Seiner litterarhistorischen Stellung nach scheint er Hütten nachgeahmt
zu haben. Nach 1536 verschwindet jede Spur seines Wirkens; wo und
wann er starb, ist unbekannt. Bockenrod ist so gut wie vergessen,
keine Litteraturgeschichte führt ihn nach seinem Wirken auf Kurz
behandelt ist er von K. und W. KrafFt, Briefe und Documente aus
der Zeit der Reformation im 16. Jahrhundert. Elberfeld, o. J. S. 192,
sowie im Freiburger Kirchenlexicon s. v. und in Joecher-Adelung,
Gelehrtenlexicon I, 1943; die allg. d. Biographie übersah ihn.
Seine Schriften gehören zu den Seltenheiten. Ihre bibliographische
Beschreibung ist diese.
I. Lindenblättchen ADMIRANDA Lindenblättchen | QVAEDAM
POEMATA DN. | Joannis Bockenrodij Vuormatiani, | vatis vndecunqz
rarissimi. | Inter alia. | De laudibus diui Ferdinandi regis Rhomanorum,
&c. 1 De coUoquio reginae cum rege Ferd. contra Turcas belligeraturo. |
De praeconijs organicis Musarum in laudem Ferdinandi. | De colloquio
reginae cum rege Ferd. post victoriam contra Turcas. ] De colloquio
*) Abdruck in Geschichtsblätter f&r die mittelrhein. Bisthflmer U. 254.
489 F. Wilhelm E. Roth.
regis Rhom. Ferd. cum fratre Carolo Imp. | De colloquio Caroli Imp.
cum demente papa. VII. | De colloquio Caroli Imp. cum rege Tur-
carum. | Ad reuerendiss. Dn. Card. & Episcopum Tridentinü. | Lege,
quoniam legisse iuuabit. | Coloniae, Anno M.D.XXXIII. in Septembri j
Petrus Quentel excudebat. (
Blatt I Rückseite : Lindenblättchen ORTHVINVS Lindenblättchen |
GRATIVS, FRIDERICO NAVSEAE, LL. | Doctori clarissimo, & ec-
clesiae Moguntinen., Ecclesiaste | integerrimo. S. P. D. |
Am Ende Rückseite des letzten Textblattes mit Signatur G^: DE
FORTITVDINE ATQVE CON- | stätia gloriosiss. iuxta ac inuictiss.
Rho. Hung. & Bohae. | regis Ferdinandi, Orthuini Gratij Ogdoa- l de-
castichon. Schliefst: Seruat, & haec summis comemoräda viris. TeXt)Q,
Quarto, 29 Blätter mit den Signaturen A — G. Blatt 12 ein Holz-
schnitt, eine Orgel darstellend. Hie und da Musiknoten.
Berlin, Kön. Bibl. (Libri rar. impr. Qu. i).
Joecher- Adelung Gelehrtenlexicon I, 1943. — Panzer, annales VI,
403 n. 694. — Roth, Wormser Buchdruckereien S. 66 Anm.
2. COLLOQVIVM ME I TRICVM AQVILAE CVM | Gallo. Joanne
Bockenrho- | dio Vuormacien. | authore. | Holzschnitt, ein gekrönter
Adler kämpft mit einem Hahn. Titelrückseite leer.
BUtt2 mitSignatur all Vorseite: METRICVM COLLOQVIVM. | Aqui-
Blatt 6 Rück-
quutus, in die
lae cum Gallo, Joanne Bocken- 1 rhodio, Vuormac. Auto.
Seite: AD VENA CVM PA- | SQVILLO RHOMANO LO
S. Marci, Anno &c. 36. Joanne Bockenrhodio Vuorma- 1 cien. Authore.
Quarto, 6 n. gez. Blätter, letzte Seite leer, mit Signaturen au — bll.
O. O. u. J. u. F. (Worms? 1536).
Darmstadt, Hofb. (D 5016), Jena, Univ.-Bibl. (Th. XXXVH q. 65),
Murr, memorabilia biblioth. Norimberg. II, S. 283. — Roth,
Wormser Buchdruckereien S. 66. — Joh. Jac. Bauer, bibl. libr. rar.
Suppl. I, 227.
Eine deutsche Übersetzung dieser Schrift hat den Titel: Der Adler
wider den Hauen. Eyn schöner lüschtbarlicher Dialogus vnd be-
düttnus Römischer Keyserlicher Maiestat vnd des Kunigs von Francken-
reich, wie sich der Adler vber den Hauen beclagt x. O. O, 1536.
Quarto, 6 Blätter. Mit Titelholzschnitt, Kampf des Adlers mit dem
Hahn. Übersetzer ist der bekannte fahrende Gelehrte und Verleger
Johannes Haselberg zu Reichenau am Bodensee.
3. Sammlung von Dichtungen Bockenrods. Hs. der K. Hofbibl,
zu München cod. lat. Mon. 131 7. Papier, Folio, XVI. Jahrhundert,
308 Blätter.
Blatt I : Catalogi archiepiscoporum et episcoporum Germaniae
insertis multis carminibus Jo. Bockenrhodii Wormatiensis.
Blatt 305: De principibus et ducibus Bavariae a Bavaro usque
ad Ludovicum imperatorum*). Vgl. catalogus cod. manuscript. bibL
regiae Monacensis. IV. S. 4.
*) Briefliche Mitteilung aus MQnchen.
Wiesbaden. .•.
Zu Hans Sachsens 31. Pastnachtspiel und zum Eulenspiegel. 483
Zu Hans Sachsens
31. Fastnachtspiel und zum Eulenspiegel,
Von
A. Ludwig Stiefel.
Die Namen Coridus und Medius für die zwei „Heuchler" (Parasiten)
in diesem Spiel („Der halb Freundt") brachten Michels in seiner
Besprechung der Drescher'schen H. Sachs-Studien N. F, (Ztschr. f.
d. Altert. 36, S, 358) auf den Gedanken, H. Sachs müsse ein neu-
lateinisches Drama gekannt haben, welchem er diese Namen entlehnte.
Mir scheint diese Annahme unnötig. Zu denjenigen Büchern, die
Sachs ganz besonders fleifsig las und benützte gehört die Übersetzung
der Apophtegmata des Plutarch u. A. V05 H. Eppendorff und in
dieser (Ausgabe Strafsburg 1 534) finden sich auf S. 456 nicht weniger
als vier „sittlich Spruch" d. h. Anekdoten, in denen „Corydus, ein
suppenfresser" (Parasit) der Held ist. S. 575 liefst man: „Ein suppen-
fresser vnd anzeyger bei dem kunig Alexandro hyesfs Medius".
Offenbar hat sich Sachs die Namen hier geholt.
Zu der Historie „Wie Vlenspiegel ein par schu kaufft on gelt",
welche sich zuerst in der Erfurter Ausgabe des Volksbuches von 1532
(als No. 92) findet, bemerkt Lappenberg (S. 292 seiner Ausgabe des
Eulenspiegel): „Diese Posse, so bekannt sie uns erscheint, ist unter
denjenigen, die dem Texte v. J. 151 9 eingeschaltet sind, die einzige,
welche nicht weiter nachzuweisen ist".
Die Erzählung ist aus dem „Colloquiorum familiarium opus" des
Desiderius Erasmus und zwar aus dem „Convivium fabulosum" ent-
lehnt, aber sehr stark gekürzt wiedergegeben. Dort nimmt sie (la-
teinisch) etwa I Va Seiten ein, hier ist sie auf 8 Zeilen zusammenge-
schmolzen. Dort wird sie von einem Maccus erzählt und spielt zu
Leyden, hier verübt Eulenspiegel den Streich zu „Erdtfurt".
Johannes Gast nahm die Geschichte wörtlich in seine Convivales Ser-
mones (i. Ausgabe 1541) auf unter dem Titel „De Bataua quodam"
und sie findet sich auch sonst oft genug in der in- und ausländischen
Litteratur.
Nürnberg.
f.
BESPRECHUNGEN.
ED WARD STILGEBAUER: Grimmeishausens ,,Dietwald und Ame-
linde". Inaugural- Dissertation y vorgelegt der pkHoL Fak, ssu
Tübingen. Gera iSpj. S4 ^^ ^*
Die kleine Schrift bildet eine sehr dankenswerte Bereicherung der
Grimmelshausen-Litteratur (vgl. S. 268), indem sie ein zwar weniger be-
deutendes Werk des genialen Erzählers, dieses aber nach der Ansicht
des Referenten erschöpfend und streng methodisch auf seine Quellen
untersucht« Denn wenn man sich auch vorstellen kann, dafs der Verfasser
auch noch die Frage aufgeworfen und beantwortet hatte, aus welchen
der ihm vorliegenden Geschichtswerke Grimmeishausen die einzelnen
Teile des unverhältnismäfsig umfangreichen historischen Hintergrundes
seines Romans geschöpft, so wird man sich doch ^agen müssen, dafs
hierbei überhaupt nicht viel und gar nichts Interessantes und in Bezug
auf Grimmeishausens schriftstellerischen Charakter Belehrendes heraus-
gekommen sein würde. Die positiven Ergebnisse, welche der Verfasser
auf der letzten Seite kurz resümiert, dürften in allen wesentlichen
Punkten kaum anfechtbar sein.
Eine abweichende Ansicht, welche die SteQung der Aufgabe
betrifft, möchte Referent zur Geltung bringen. Wenn der Herr Ver£
gleich zu Anfang bemerkt, dafs die Litterarhistoriker mit Recht gering-
schätzig über Dietwald und Amelinde urteilen, so scheint er mir über
eine Frage hinwegzugleiten, auf die ein Litterarhistoriker, falls er den
Namen verdient, unbedingt einzugehen hat, nämlich, inwieweit die
Individualität des Schriftstellers oder Dichters in seinem Werke sich
kundgebe. Wenn sich das in einem Werke Grimmeishausens findet,
so darf der Litterarhistoriker mit diesem Bestandteile in keinem Falle
geringschätzig umgehen. Das ist nun aber auch in Dietwald und
Amelinde nach meiner Ansicht unstreitig der Fall; es kommen Stellen
vpr, in denen sich der unsterbliche Verfasser des Simplicissimus ganz
als der zeigt, der er ist. Die bedeutendste scheint mir die im zweiten
Teile zu sein, wo Grinmielshausen nach der Besiegung der Räuber
durch Dietwald sich der moralischen Albernheit seines Stoffes bewuist
wird und sich mit den schönen Worten „O Lob würdiger Ent-
schlufs dieser edlen Jugend u. s. w." dagegen auflehnt. In den echt
simplidaniischen Stil verfallt er noch öfter, wovon Referent seinerzeit
den Nachweis geliefert zu haben glaubt. Seite 30 f. spricht Stil-
gebauer allerdings von den Vorzügen Grimmeishausens gegenüber
dem ihm anologen Hagelgansz, doch scheint er ihm mit dem, was er
sagt, nicht gerecht zu werden. Indessen wird dadurch der Wert
seiner Dissertation, der in den klar und übersichtlich dargelegten
Ergebnissen exakter Quellenforschung liegt, keineswegs beeinträchtigt
Gegen den Stil hat Referent nichts einzuwenden; Seite 2 begegnet
der störende Druckfehler Arnim für Armin.
Besprechungen. 485
LUDWIG PARISER: Insomnis Cura Parentum von H. M. Mosche-
rosch. Abdruck der ersten Ausgabe (1643). Halle a. S,, Max
Niemeyer. i8p3. (Neudrucke deutscher Litteraturwerke des XVI.
u. XVII Jahrhunderts No. loSlg.J VIII, 13p S. <J*.
Soweit man ohne Vergleichung des Originaldruckes urteilen kann,
scheint der Herausgeber seine Aufgabe mit Sorgfalt und Umsicht ge-
löst zu haben. Es sei besonders hervorgehoben, dafs Pariser
wenn ihn philologischer Eifer angetrieben oder richtiger verfuhrt hätte,
die Citate des Verfassers zu verbessern, einen argen Fehler begangen
haben würde ; denn, wie Seite VIII richtig bemerkt wird, citiert Mosche-
rosch sehr oft mit Überlegung falsch, weil das richtige Citat eben
nicht recht passen würde; oft scheint er mit seinen Hinweisungen auf be-
stimmte Bücherstelleit nur sagen zu wollen, was ihm bei seinen Worten
vorgeschwebt habe, als er sie niederschrieb. Vergl. hierzu des Ref.
Bemerkung in Kürschners National-Litteratur, Bd. 32, Einl. Seite XIX.
In seiner Einleitung hat der Herausgeber eine sich von selbst
aufdrängende Frage unberücksichtigt gelassen. Wenn die Ausgabe A i
(Strafsburg 1647) ein Nachdruck ist, wie kommt dann die Übersetzung
des Traktats der Elisabeth Joceline hinein, die nach Seite IV „von
Moscherosch besorgt" ist, und welche einige Exemplare von B
(Strafsburg 1653) enthalten (S. VI)? Hier bleibt doch jedenfalls etwas
rätselhaft. Wenn die Übersetzung in Aj mit der in B wirklich iden-
tisch ist, so ist sie entweder in beide Ausgaben ohne Moscheroschs
Zutun gekommen, oder Aj kann nicht wohl ein Nachdruck sein, was
meines Erachtens die von dem Herausgeber Seite V angeführten Stellen
auch nicht strikt beweisen, da in diesen der Verfasser einen blofsen Neu-
druck (A^) der neuen umgearbeiteten Ausgabe gegenüber (B) wohl
unberücksichtigt lassen konnte. Dies sind aber nur Vermutungen,
ein festes Ergebnis könnte nochmalige Vergleichung von A| und B
liefern.
Breslau. Felix Bobertag.
LOUIS G. WYSOCKI: Andreas Gryphtus et la TVagedü Allemande
au XVII Sücle. Paris. E. Bouillon 1893. 11, 456 S. gr. 8\
Wysocki hat in ungemein sorgfaltiger Weise die Werke des Gry-
phius studiert und zwar nicht allein die Tragödien. Alles, was ihm einen
Anhalt bieten konnte, die Persönlichkeit des schlesischen Poeten aus
seinen Dichtungen zu beleuchten, ist mit peinlicher Genauigkeit hervor-
gesucht. Es ist hierbei des Guten sogar etwas zu viel geschehen.
Es durfte vorausgesetzt werden, dafs dem Leser eines so umfang-
reichen Buches, selbst in der Heimat des Verfassers, die Werke des
Gryphius zur Hand sein würden; eine Kürzung der vielen Citate, die
neben dem djeutschen Original noch dazu in französischer Prosa ge-
boten werden, würde meines Erachtens die Lektüre des etwas weit-
schweifigen Buches erleichtern. Der Hauptwert desselben liegt in der
486 Besprechungen.
erschöpfenden ästhetischen Würdigung des Dramatikers Gryphius
und in der Gewandtheit Wysockis — nach dem Vorbilde Taines — uns
die Individualität des Dichters aus seinen Werken anschaulich zu machen.
Dementsprechend bieten die Kapitel VI u. VII des dritten Teils, in
welchen ein Bild des Menschen Gryphius gezeichnet und seine düstere
Weltanschauung aus seiner Lyrik nachgewiesen wird, für den deutschen
Leser die meiste Anregung. Neue Gesichtspunkte allerdings können
sich auch hier nicht ergeben, da die Eigenart des Gryphius, welcher
von seiner Lyrik selbst sagt: ,,mentis nostrae speculum porrigimus^^
zu deutlich ausgeprägt und von der deutschen Forschung längst fest-
gestellt ist
Für den historischen Teil seiner Arbeit hat Wysocki hauptsächlich
Gervinus, Creizenach, Borinski und Cohns „Shakespeare in Germany"
benutzt. Seinem Vergleich des römischen Dramas mit dem des Gry-
phius ist im allgemeinen zuzustimmen. Hingegen wird man mit seiner
gänzlichen Ablehnung eines Einflusses der holländischen Tragödie auf
Gryphius sich nicht einverstanden erklären können. Zunächst ist un-
richtig, wenn er Kollewijn und diesem folgend die deutschen Litterar-
historiker behaupten läfst: ^Tout est hollandais dans le drame de
Gryphius*'. Eine solche Behauptung ist nirgends aufgestellt worden.
Kollewijn konstatiert lediglich eine Verwandtschaft der Stoffe und der
dramatischen Technik, sowie die Abhängigkeit der Holländer sowohl,
wie des deutschen Dichters von der römischen Tragödie. Die triftigen
Beweise aber, welche Kollewijn bezüglich der Benutzung Vondelscher
und Hooftscher Tragödienstoffe durch Gryphius beibringt, werden
nicht dadurch entkräftet, dafs sich nirgends ein Vers bei Gryphius
findet, der Wort für Wort aus dem holländischen Vorbilde übersetzt
ist. Es liegt doch nahe, dafs Gryphius, der seine dramatische Tätigkeit
mit der Übersetzung der Vondelschen Gebroeders begonnen hat, hier-
durch zugleich seine Übereinstimmung mit dem Wesen der holländischen
Tragödie zum Ausdruck brachte. Dafs er dabei seine Originalität
eingebüfst habe und zu einem blofsen Kopisten der Holländer herab-
gesunken sei (vgl. Preface), ist meines Wissens in Deutschland nie
behauptet worden.
Die Frage nach der Bekanntschaft des Gryphius mit den Werken
Shakespeares hat Wysocki Kap. III, Teil lü seines Buches erörtert. Er
sagt: Cette question a ete plus d*une fois agitee en AUemag^e, mais
les ecrivains qui Tont etudie ne Tont pas approfondie. Idh glaube
nicht, dafs Wysocki diese von ihm bisher vermisste „Vertiefung" der
Frage geglückt ist. Er kommt zu dem Schlüsse, dafs Gryphius
während seines Aufenthalts in Holland (1638 — 44 oder 1647) Shake-
speares Dramen habe aufführen sehen, ohne jedoch Gefallen an ihnen
zu finden. Aus den Wanderzügen englischer Komödianten durch die
Niederlande, deren Daten Wysocki aus Cohns „Shakespeare in Ger-
many** zusammenstellt, kann natürlich noch nicht gefolgert werden,
dafs Gryphius auch Gelegenheit gefunden hat, Aufführungen englischer
Dramen mitanzusehen. Wysocki versucht daher nachzuweisen, dafs
Situationen und Motive aus Shakespeare in die Dramen des Gryphius
fiespreckungfed. 487
Eingang gefunden haben. Nicht verständlich ist es allerdings, warum
der deutsche Dichter, von dem Wysocki behauptet, Shakespeare sei
ihm antipathisch gewesen (il l'a dedaigne), ihn doch wieder so stark
benutzt haben soU. Denn nicht weniger als 17 Stücke Shakespeares
sollen in Einzelheiten vorbildlich für Gryphius gewesen sein. Hier
nur zwei Fälle, in denen Wysocki „Shakespearestudien" des Schlesiers
entdeckt haben will. Leo Armenius soll Anklänge an Richard III.
enthalten. Die Scene nämlich, in welchen der Geist des Tarasius
den schlafenden Leo dadurch ängstigt, dafs er Baibus auffordert, den
Kaiser zu durchbohren, soll der Geisterscene aus Richard III. (Akt. V.
Sc. 3) entsprechen. Zu dieser Annahme ist Wysocki offenbar dadurch
g^elangt, dafs ihm ein französischer Shakespeare, nämlich die Über-
setzung von Fran9ois V. Hugo vorgelegen hat. Denn im Original
iwrürde er vergeblich nach der Anweisung gesucht haben: Chaque
spectre perce Richard de son poignard pendant son sonuneil (S. 261).
Dann sollen the tragedy of Locrine — die „doubtful plays" werden näm-
lich auch herangezogen — und die „Catharina von Georgien"*) Überein-
stimmungen aufweisen. Die keineswegs originellen Worte des Abbas:
„Gefangne, die uns fieng! Die uns in Ketten schlägt"
findet Wysocki in Locrines Ausruf wieder (Akt IV, i): „I, being the
conqueror, live a lingering life". Aus solchen Phrasen, welche in der
dramatischen^ Litteratur so häufig begegnen, läfst sich doch nichts
beweisen. Übrigens hätte Wysocki gerade diesen Gedanken auch
aus Vondels „Maagden" nachweisen können; noch dazu wird er hier
von Attila in einer Situation ausgesprochen, welche mit der des Abbas
fast identisch ist. — Die komische Ansicht Wysockis (S. 24), „a mon
avis Tengouement des Allemands pour Shakespeare n*a jamais ete
que factice, que simule" bedarf keiner Widerlegung. Was er selbst
über Shakespeare zu sagen weifs, verdankt er fast ausschliefslich
deutschen Quellen. — Im grofsen und ganzen ein anregendes Buch
— und ein bedeutender Fortschritt gegenüber Wysockis Flemming —
wenngleich des Verfassers neue Entdeckungen wenig Aussicht haben,
jemals Anerkennung zu finden.
München. Ludwig Pariser.
-•••-
Zur Gesdiickie des Dramas und Theaters. IL
Schon einmal durfte ich an dieser Stelle**) einzelne Untersuchungen
und eine zusammenfassend darstellende Arbeit Wilhelm Creizenachs
rühmen, in denen er die wichtige Episode in der Geschichte des
deutschen und holländischen Theaters behandelte, welche durch
die Wanderzüge der englischen Komödianten auf dem Festlande her-
vorgerufen wurde. Die gleiche Sicherheit in der Beherrschung ver-
schiedener Litteraturen, die Creizenach dabei auf einem zeitlich enger
begrenzten Gebiete bewährte, zeigt nun der erste Band seines auf
♦) Über die Quellen der Katharina von Georgien vgl. Zeitschrift V, 207.
*•) Vgl. ffl, 146 f.
Zttchr. 1 TgL Litt.-GeKh. N. P. VUl.
488 Besprechungen.
breitester Grundlage entworfenen rühmlichen Werkes, die „Geschichte
des neueren Dramas"*), Die deutsche Litteraturgeschichte weist
nicht viele Werke auf, welche an Gründlichkeit und Ausdehnung der
Forschung, an Konzentration des riesigen Stoffes, Geschick der Dar-
stellung vor oder auch nur neben Creizenachs Arbeit genannt werden
dürften. Und diese wird um so verdienstlicher, als wir bis jetzt
weder eine allgemeine Geschichte des Dramas noch eine Geschichte
des deutschen Dramas besitzen, die auf streng wissenschaftlicher
Grundlage eine lesbare Darstellung bieten. Schon Gustav Freytag
hatte im Anfang der vierziger Jahre als Breslauer Privatdozent an
einer „Geschichte der dramatischen Poesie und Kunst" gearbeitet und
dabei geklagt, „dafs die Bewältigung dieses Stoffes aus unserer Vor-
zeit eine höchst schwierige ist und fast Alles aus den äufsersten
Winkeln der Bibliotheken mühsam zusammengesucht werden mufs".
Während die epische und lyrische Litteratur des Mittelalters von
deutschen Forschern früher als von den Franzosen und Engländern
selbst durchforscht wurde, ist dem mittelalterlichen Drama nicht
die gleiche Sorgfalt zugewendet worden. Wir haben fiir das deutsche
Drama kein Buch, das auch nur Wards History of English dramatic
Literature zur Seite zu stellen wäre, geschweige Arbeiten wie Petit
de Julevilles Darstellung der Mysteres oder Schacks Geschichte der
dramatischen Litteratur und Kunst in Spanien. Ein Buch wie E. Wilkens
„Geschichte der geistlichen Spiele in Deutschland" (1872) kann jetzt
eigentlich nur mehr angeführt werden, um zu zeigen, wie mangelhaft
und irrtumsvoll unsere Kenntnis von der Entwickelung des mittel-
alterlichen Dramas noch vor zwanzig Jahren war. Und wenn seit
dieser Zeit das Material reich vermehrt, durch die Arbeiten von Milch-
sack, Lange, Traube neue leitende Gesichtspunkte aufgestellt wurden,
so fehlen doch noch manche Vorarbeiten, wie sie für die englischen
Kollektivmysterien (vgl. Kölbings Englische Studien XX, 436) ge-
leistet sind. Die Verdienste J. L. Kleins haben in der letzten Zeit
an Wetz einen warmen Fürsprecher gefunden. Allein abgesehen da-
von, dafs Kleins 15 Bände das deutsche und französische Drama noch
nicht erreicht haben, ist gerade ein Vergleich mit Kleins „Geschichte
des Dramas" ebenso rühmlich für Creizenachs Fähigkeit, die gewaltige
Stoffmasse ordnend zu beherrschen, wie ein Hinblick auf Rob. Prölfs
„Geschichte des neueren Dramas" die Selbständigkeit seiner ausge-
dehnten Forschung und sein wissenschaftliches Erfassen aller Probleme
erst recht deutlich zum Bewufstsein bringt.
Im ersten Buche „das Fortleben des antiken Dramas im Mittel-
alter" bewegt sich Creizenach auf dem Arbeitsgebiete W. Cloettas,
zu dessen Behauptungen er öfters in Gegensatz tritt. Diese lateinischen
Komödien enthalten durchaus keinen Keim der späteren Entwickelung,
sondern sind nur als eine Art von Ersatz für das fehlende Drama zu
betrachten (S. 45). Die Fortwirkung der verzwickten mittelalter-
lichen Theorien und Definitionen läfst sich aber, glaube ich, noch ins
♦) Halle a. S., Verlag von M. Niemeyer. 1893. XV, 586 S. 8«
Besprechungen. 489
i6. Jahrhundert hinein verfolgen. Hans Sachsens Erklärung der
Komödie ^sehr traurig hin bis zu dem End, da es sich erst zu
Freuden wend", entspricht der mittelalterlichen Regel, die in der
Komödie auf traurigen Anfang fröhlichen Schlufs fordert. Die Lehren
des 13. Jahrhunderts von dem alltäglichen Stil der die Angelegen-
heiten des Privatlebens behandelnden Komödie (S. 9) finden wir wieder
bei Scaliger und Opitz. Die Durchforschung der mittelalterlichen
Elegienkomödien hat Creizenach dazu geführt, in der vierten Dekla-
mation Quintilians die Quelle von Lessings Tragödienbruchstück „das
Horoskop" zu entdecken.
Auf die Einleitung folgen im 2. Buche „die Anfange des geist-
lichen Dramas in lateinischer Sprache", im 3. die Anfange in den
Volkssprachen, das 4, behandelt dann die grofsen Passionsspiele, Le-
genden, Mirakel in Deutschland, Frankreich, der Provenze, die Gesamt-
mysterien in England, die besondere Art der aus dem Volksgesang
hervorgehenden italienischen Spiele, vor allem der Florentiner Reprä-
sentationen, und die dürftigen Überlieferungen der Niederlande, aus
Schweden, Ungarn und Byzanz. Die keltischen Spiele hat bereits
Klein eingehend besprochen. Aus Spanien sind aufser dem von Baist
1887 veröffentlichten misterio de los reyes magos nur spärliche Notizen
für die ältere Zeit überliefert. Das slavische Drama ist fast nur durch
czechische Osterspiele vertreten, bei denen man wohl Abhängigkeit
von deutschen Mustern voraussetzen darf. Die „internationalen Ent-
lehnungen in den geistlichen Spielen" hat Creizenach am Schlüsse der
Darstellung des kirchlichen Dramas eigens erörtert.
Das religiöse Schauspiel des Mittelalters „ist aus den kirchlichen
Gesängen hervorgegangen". Die Richtigkeit dieses Satzes, mit dem
Creizenach die Geschichte des geistlichen Dramas eröffnet, wird heute
niemand mehr bestreiten, und Creizenach hat durch die Verwendung
des bei Milchsack und Lange fehlenden St. Gallener Tropus aus
Tutilos Zeit die Anfänge sogar ein Stück weiter zurückverfolgen
können. Das Alter der Handschriften selbst, fiir deren sprachliche
Kriterien die Einzeluntersuchungen noch meistens fehlen, ist übrigens
nicht entscheidend, da in nachweisbar jüngeren Handschriften sich
öfters noch die weniger entwickelte Dramenform findet (S. 58). Die
einzelnen Sätze des Evangeliums wurden „in der Form übernommen,
wie sie bereits zu kirchlichen Gesängen verarbeitet waren", ein Stamm-
baum des Abhängigkeitsverhältnisses lasse sich für diese dramatischen
Liturgien nicht aufstellen. So zweifellos Creizenach mit dieser Dar-
stellung der Anfange Recht hat und so wenig Jakob Grimms Vor-
stellungen von dem Einflufs älterer heidnischer Spiele auf die christ-
lichen sich aufrecht halten liefsen, auf die dramatischen Ansätze, wie
sie in den Streitgedichten von Sommer und Winter und ähnlichem
vorkommen, hätte Creizenach immerhin wenigstens bei Besprechung
der „Ansätze zu einem ernsten weltlichen Drama" (5. Buch) oder in
der Einleitung zum komischen Drama des Mittelalters (6. Buch) ein-
mal verweisen können. Er hat diese Streitgedichte erst im 7. Buche
„die Moralitäten" behandelt.
88*
490 Besprechung^en.
Die Frage nach ursprünglichen dramatischen Ansätzen in der ger-
manischen Poesie ist ja neuerdings von anderer Seite wieder ange-
regt worden. Carus Sterne hat das Osterspiel, als ^germanisches Ur-
sprungsspiel betrachtet" und Rudolf Kögel*) spricht geradezu von
dramatischen Spielen, zu denen man schon in der Urzeit von der
hymnischen Behandlung eines Mythus durch Darstellung mit verteilten
Rollen fortgeschritten sei (S. ii). Ich kann für diese weitgehende
Behauptung in den Streitgesprächen zwischen Sommer und Winter
doch keinen genügenden Beweis erblicken. In den dialogisierten
Liedern der Edda wären dramatische Elemente vorhanden, aber für
die Annahme einer Teilung zwischen zwei Vortragenden fehlt gerade
bei ihnen jede Andeutung. In dem angeblich gotischen Weihnachts-
spiel, das durch den byzantinischen Kaiser Konstantin VII. in seiner
Schrift über das Ceremonienwesen überliefert ist, glaubt Kögel aus
der lateinischen Fassung sogar den altdeutschen Versbau herauszu-
finden (S. 39). Ich habe von dieser byzantinischen Hofbelustig^ung
einen ganz anderen Eindruck gewonnen und glaube, dafs sie so wenig
von Theoderich und den Goten stammt, wie etwa Ben Jonsons Irish
Masque aus Irland. Ich wähle absichtlich dies Gleichnis, weil mich
diese byzantische HofFestlichkeit an die Masken des Elisabetanischen
und Stuarthofes erinnert. Wenn gotisches Kostüm und einzelne
gotische Worte bei dieser höfischen Unterhaltung zur Anwendung
kommen und die Masque darnach genannt wiu'de, so ist dies bei der
Stellung der Goten zu Byzanz ganz natürlich. Einen gotischen Ur-
sprung der Sache selbst braucht man daraus noch keineswegs zu
folgern. Krumbacher hat das Stück denn auch mit den ^ öffentlichen Ver-
spottungen" zusammen genannt (Gesch. d. byzantinischen Litt. S. 299)**).
Für die Überführung des geistlichen Dramas auf weltliches Gebiet
waren die fi-anzösischen Marienmirakel von besonderer Wichtigkeit.
Die Marienerscheinung ist nach Creizenach (S. 147) nur in weltliche
Stoffe eingefügt worden, um die Aufführung des weltlich roman-
tischen Dramas im Puy zu rechtfertigen. In Deutschland haben
wir an ähnlichen Spielen nur den Theophilus und die Päpstin
Jutta. Die alte klassische Bezeichnung für das Drama taucht zum
erstenmale 1467 in Frankfurt auf: tragoedia passionis. Die beiden
umfangreichen Frankfurter Spiele selbst sind erst 1893 im 14. Bande
von Kürschners Nationallitteratur durch R. Froning vollständig ver-
öffentlicht worden. Neben den grofsen Aufführungen dauerten in den
Kirchen auch die Auffühnmgen der früheren einfacheren Art noch
fort (S. 169). Eigentümliche Entwicklung zeigten die Fronleichnams-
spiele, unter denen das Künzelssauer wieder besondere Beachtung
*) Geschichte der deutschen Litteratur bis zum Ausgange des Mittelalters. I. Bd.
Stralsburg, Verlag von K. J. Trübner 1894.
**) Diese Zeilen waren bereits vor dem Erscheinen der gründlich vorsichtigen Arbeit
von Karl Kraus im XX. Bde. von Paul und Braunes Beiträgen geschrieben. Um so
mehr freue ich mich der Obereinstimmung, die in der Hauptsache zwischen Kraus um-
fassender Untersuchung und meiner kurzen Bemerkung herrscht.
Besprechungen. 491
verdient. Für die Weihnachtsspiele hat ungefähr gleichzeitig mit
Creizenachs allumfassender Darstellung Wilhelm Koppen Beiträge
für ihre Geschichte in Deutschland geliefert*). Für das Verhältnis
des Sterzinger Spiels zum hessischen und die Grundlagen der Erlauer
und des Sankt Gallner Spiels hat Koppen wirklich förderndes beige-
bracht. Die Versuche, den Einfiufs eines verlornen Erlösungsspiels
auf die mittelalterlichen Weihnachtsspiele nachzuweisen, sollen mehr
philologischen Spürsinn bekunden als Ergebnisse liefern. Die Vorsicht
und Sdbstbescheidung in Feststellung von chronologischen und Ab-
hängigkeitsfragen, wie Creizenach sie eben bei der gründlichsten Durch-
arbeitung der ganzen Stoffmasse gewonnen hat, zeigt sich Köppens
kritischen Entschiedenheit gegenüber als die weit überlegene Forscher-
tätigkeit. Die Geschichte der lateinischen Weihnachtsspiele hat
Creizenach im Rahmen des ganzen viel ergebnisreicher behandelt als
Koppen in seiner Einzeluntersuchung. Fast die Hälfte von Köppens
Buch ist der Untersuchung des Verhältnisses von Hans Sachsens
Christi Geburtspiel zum volkstümlichen Weihnachtsspiel gewidmet.
Das Material für die deutschen Weihnachtsspiele ist wohl genügend
ausgenutzt, aber Creizenachs Bedenken gegen die Aufstellung von
Stammbäumen ist bei mir wenigstens durch Köppens Untersuchung
nicht widerlegt worden.
Creizenach ist im ersten Bande noch nicht bis zu Hans Sachs
gelangt. Seine drei letzten Bücher behandeln das komische Drama
des Mittelalters, die Moralitäten und die ersten Versuche der Humanisten.
Die deutschen Fastnachtsspiele zerMlen in die zwei grofsen Gruppen
der Nürnberger und solcher aufserhalb Nürnbergs, unter denen wieder
die Lübecker besonders wichtig sind. Zwei interessante „Regensburger
Fastnachtspiele" von 1618, ein Schreinerspill und ein kurtzweiliges
Fafsnachtspill von dem kriegslustigen Knecht Hänsl Frischen, hat Aug.
Hartmann zum erstenmale herausgegeben**). Das personenreiche
Handwerkerspiel in neun Akten zeigt, wie die sozialen Gegensätze
von Arbeitgebern und Arbeitsuchenden jeder Zeit sich geltend machten.
Klagen zwischen Meistern und Gesellen, der Streit um die Länge des
Arbeitstages sind mit dem alten Frühjahrs-Brauche des Ertränkens des
Lichts, das so lange zur Arbeit geleuchtet hat, verbunden. Halten
wir die Depositionsspiele, wie N. F. I, 280 mehrere norddeutsche er-
wähnt sind, mit diesem süddeutschen Handwerkerspiele zusammen,
so sehen wir, dafs reiche Ansätze zu einem Drama, Lust und Liebe
zum dramatischen Spiele auch noch im 17. Jahrhundert in unsern
Handwerkerkreisen vorhanden waren. Zu den reichen Zeugnissen
für das stille Fortleben einer anspruchslosen dramatischen Kunst bei
der süddeutschen Landbevölkerung, die Hartmann gesammelt hat,
lieferte Oskar Brenner einen besonders sprachlich interessanten Bei-
*) Paderborn, Verlag von Ferd. Schöning 1893. ^3^ S. 8®.
**) Sonderabdruck aus Band II der Zeitschrift: Bayerns Mundarten. München,
Verlag von Christian Kaiser. 1893. 68 S. gr. 8*.
498 Besprechui^en.
trag durch die Ausgabe der ^altbairischen Possenspiele***). Es sind
die komischen Zwischenspiele im oberbayrischen E^alekt, welche bei
den AuflFührungen der vom Schulmeister Franz Kiennast (gest. 1783)
geleiteten Liebhaberbühne zu Dachau ernsten Stücken eingefügt wurden.
Zu dem Dachauer Spielplane gehörten unter andern eine Maria Stuarda
und Joanna von Are. Aus der letzteren, aus der „von Neydt und
Eifersucht verfolgten Unschuldt, das ist Hyrlanda Herzogin aufs Bur-
gundt" und aus der „heiligen Itta" hat Brenner die lustigen Zwischen-
scenen mit Hansdampf und Kasperle mitgeteilt.
Wenn bei den übrigen von Schiller behandelten Stoffen auch
nicht ein Zusammenhang zwischen seiner Dichtung und älteren Drama-
tisierungen stattgefunden hat, wie ihn Gustav Roethe für den Teil
nachzuweisen bestrebt ist**), so bietet eine Obersicht der vorangehen-
den Bearbeitungen seiner DramenstofFe doch immer ein besonderes
Interesse. Es wird noch erhöht, wenn sich damit die Frage nach der
Beurteilung geschichtlicher Vorgänge durch die Zeitgenossen verbindet,
wie dies der Fall ist bei Theodor Vetters Buch „Wallenstein in der
dramatischen Dichtung des Jahrzehnts seines Todes"***). Ohne die
von Vetter beobachtete zeitliche Einschränkung ist über „die dramatische
Behandlung des WallensteinstoflFes vor Schiller" schon einmal von
Gg. Irmer eine Zusammenstellung gegeben worden, aber eben Vetters
Arbeit zeigt, wie völlig ungenügend Irmer zu Werk gegangen ist.
Johann Rists „Wallenstein", der vor 1638 vollendet ward, ist bis jetzt
noch nicht wieder aufgefunden worden. Wir haben von dem firucht-
baren Gründer des Elbschwanordres jetzt nur das lebende Bild von
Wallensteins Ermordung, das er im dritten Aufzug des Zwischenspiels
vom „friedewünschenden Teutschland^^ auftauchen lafst, und sein 1638
gedrucktes Gedicht „Als der Herzog von Friedland zu Eger war er-
mordet worden", beide von Vetter nicht erwähnt. Dafür schildert er
mit Wiedergabe der Titelblätter zwei lateinische und ein deutsches
Drama (Pomeris, tragico-comoedia nova; Parthenia, ein new Comoedien
Spiel; Agathander pro Sebasta vincens), in denen der Stettiner Schul-
rektor Micrälius (Johann Lütkesch wager) 1631, 32 und 33 in leicht
erkennbaren Allegorien die politischen Vorgänge darstellte. EHe Be-
drückung Pommerns und Mecklenburgs durch Lastlewen (Wallenstein)
und ihre Befreiung durch Agathander (Gustav Adolf) bilden den Inhalt
des ersten Stückes, die blutige Hochzeit Parthenias (Magdeburgs) mit
ihrem ungütigen Bräutigam Contilli (Graf Tilly) den Inhalt der Con-
tinuatio, der dann im „neuen poetischen Spiel" Agathanders Sieg wider
die beyden Wüteriche Contill und Lasdew folg^. In jeder Hinsicht
bedeutender ist die Tragödie „Fritlandus" des Löwener Gelehrten Niko-
laus von Vernulz (Vernuläus). Historische Arbeiten von Vemuläus hat
*) Fflr die Dachauer Bühne bearbeitet von Franz von Paula Kiennast; zum ersten
Male herausgegeben und erklärt. München, Verlag von Christian Kaiser 1893. 40 S. 8*.
*•) „Die dramatischen Quellen des Schillerschen Teil** in den Forschungen rur
deutschen Philologie. Festgabe für Rudolf Hildebrand. Leipzig, Verlag von Veit und
Comp. 1894.
***) Frauenfeld, Verlag von J. Huber 1894. 42 S. 8«,
Besprechungen. 493
Schiller für die Geschichte des dreifsigjährigen Krieges benutzt. Die
Möglichkeit, dafs er auch seine Tragödie kannte, liegt vor. Vetter
betont die Übereinstimmung einzelner Charaktere und Situationen ohne
jedoch mehr als ein durch den Stoff gegebenes Zusammentreffen be-
haupten zu wollen. Unter den 14 lateinischen Tragödien des Vernuläus
ist auch eine „Joanna Darcia vulgo Puella Aurelianensis" und ein
„Ottocarus Bohemiae Rex". Für Wallenstein Partei nahm der modene-
sische Dichter Fulvio Testi, der 1632 den Herzog kennen gelernt hatte,
in einem gleich nach der Tat geschriebenen Monologe Wallensteins
an seine Mörder. In Madrid wurde eben eine Wallenstein verherr-
lichende Komödie gespielt, als die Nachricht von seinem Verrat und
Untergang eintraf, worauf das (noch nicht wieder aufgefundene) Stück
natürlich nicht mehr gegeben werden durfte. Da die englischen Drama-
tiker seit langem gerne zeitgenössische Vorgänge auf die Bühne brachten
und das Interesse an dem Kriege, in dem eine englische Prinzessin
ein Kurfürstentum und eine Königskrone eingebüfst hatte, im Publikum
besonders lebhaft war, wurde die „tragedy of Albertus Wallenstein*'
schon 1636 in London gespielt. In seiner Ausgabe der „Schauspiele
der englischen Komödianten" behauptet Creizenach, dafs dieses Stück
von Henry Glapthome allen Wallenstein-Aufführungen der deutschen
Wandertruppen zur Grundlage gedient habe. Für die 1690 in Berlin
gespielte ,, weltbekannte Historie von dem tyrannischen General Wallen-
stein" giebt auch Vetter dies zu. Bei einer vorangehenden Wallenstein-
aufführung in Bremen nimmt er, wohl mit Unrecht, ein deutsches
Original an.
Creizenachs treffliche Geschichte der englischen Komödianten in
Deutschland (vgl. III, 147) hat nach einer Seite eine wichtige und
ivesentliche Ergänzung erfahren, indem Johannes Bolte mit dem
ihm eigenen Finderglück und Eifer „die Singspiele der englischen
Komödianten und ihrer Nachfolger in Deutsahland, Holland und
Skandinavien***) zum Gegenstand einer eigenen Untersuchung machte.
Bolte vermochte ein Verzeichnis von 32 Singspielen aus den Jahren
1596 bis 1743 aufzustellen, denen er dreizehn Texte und Melodien
beigesellte. Die Erfindung des Singspiels schreibt Bolte den routinierten
englischen Komödianten zu, „die dem schaulustigen Publikum ein neues
Unterhaltungsmittel bieten wollten**. Merkwürdig ist, dafs wie die
Anfange im 16. so auch das Wiederaufleben des Singspiels im 18. Jahr-
hundert (Weisses „Der Teufel ist los") durch englische Vorbilder er-
folgt. Für die Geschichte mancher Schwankstoffe, unter ihnen auch
des für Goethe vorbildlichen von Harlekins Hochzeit, sind Boltes
Aufstellungen sehr wichtig. In dem „singenden Possenspiel die selt-
zame Metamorphis der Sutorischen in eine Magistrale Person" spricht
Hans Sachsens Geist den Prolog. Über das nach dem Aufhören der
englischen Wanderzüge erfolgende Auftreten holländischer Komödianten
in Deutschland, fiir das HeitmüUer im achten Bande der „theaterge-
*) Theatergeschichtliche Forschungen Bd. VII. Hamburg und Leipzig, Verlag
von Leopold Vofs. 1893. VII, 194 S. 8'.
494 Besprechung^.
schichtlichen Forschungen urkundliche Nachweise lieferte, hat A. Leitz-
mann bereits im vorangehenden Hefte (S. 436/7) berichtet. Für die Thea-
tergeschichte des 18. Jahrhunderts bringen die drei folgenden Bände der
„theatergeschichtlichen Forschungen" wichtiges Material. Das Ver-
dienst, das B. Litzmann sich durch Begründung dieser Sammlung um
die deutsche Kultur- und Litteraturgeschichte erworben hat, tritt erst
jetzt recht hervor. Seiner musterhaften Biographie Schröders, die
zugleich die Geschichte der Ackermannschen Truppe und wichtigster
Abschnitte der Hamburger Bühne enthält*), gliedern sich nun die
Untersuchungen über die Schönemannsche Truppe an**), deren her-
vorragendstes Mitglied Eckhof dann die Leitung des Hoftheaters zu
Gotha übernahm, wo Gotter als Theaterdichter wirkte***). Für die
Wiener Theaterausstellung hat Karl Heine einen „Stammbaum der
bedeutendsten deutschen Wandertruppen" aufgestellt. Wie Heine selbst
bei Veiten (vgl. III, 149 und VI, i; 150) dem überlieferten Namen
ein historisch beglaubigtes Bild der Persönlichkeit und Wirksamkeit
neu hinzufügte, so wird der vielversprechende Fortgang von Litzmaons
Sammlung allmählich auch die übrigen Namen des Stammbaums zu
festumrissenen Erscheinungen ausgestalten.
Mit der Forschung über Schönemanns Wandertruppe hat Hans
Devrient eine mehr schwierige als dankbare Aufgabe übernommen.
Um so freudigere Begrüfsung gebührt dem jungen Forscher, der,
Träger eines in der Bühnengeschichte berühmten und um sie ver-
dienten Namens hier strenge historische Schulung bewährt hat und so
die HoflFnung weckt, dafs wir von ihm die lang versprochene not-
wendige Neubearbeitung von Eduard Devrients Geschidbte der deut-
schen Schauspielkunst erwarten dürfen. Zu zusammen^sender Dar-
stellung und künstlerischer Abrundung der gewonnenen Forschungs-
ergebnisse bot die Arbeit über Schönemann wenig Gelegenheit.
Immerhin hätte Devrient hier dem in Litzmanns „Schröder" gegebenen
Beispiele von Vereinigung der Forschung und Darstellung mehr Folge
leisten können. Trotz des umfangreichen Anhanges von 40 Nummern
ist auch der Text selbst mehr Materialsammlung als Darstellung ge-
worden. Devrient hat eben das Hauptgewicht auf die vielen Berich-
tigungen anfechtbarer Überlieferung und Ausfüllung ihrer Lücken ge-
legt und darin dankenswerte mühevolle Arbeit geleistet. Er selbst
mufs, trotz alles liebenswürdigen Bestrebens seinem Helden die
günstigste Seite abzugewinnen, doch zugestehen, dafs die Geschichte
*) Friedrich Ludwig Schröder. Ein Beitrag zur deutschen Litteratur- und Theater-
geschichte. Erster und zweiter Teil. Hamburg und Leipzig, Verlag von Leopold Vofs
1890 und 1894. XV, 350 und XU, 315 S. 8».
**) Hans Devrient, Johann Friedrich Schönemann und seine Schauspielergesell-
schaft. Ein Beitrag zur Theatergeschichte des 18. Jahrhunderts. Hamburg und Leipzig,
Verlag von L. Vois 1895 (Theatergeschichtl. Forschungen Bd. XL). 398 S. 8®.
•**) Richard Hodermann, Geschichte des Gothaischen Hoftheaters 1775 — 1779.
Nach den Quellen 183 S. 8» — Rudolf Schlösser, Friedrich Wilhelm Gotter, sein
Leben und seine Werke. Ein Beitrag zur Geschichte der Bühne und Bühnendichtung im
18. Jahrhundert. XI, 308 S. 80. Hamburg und Leipzig, Verlag von L. Vois, 1894
(Theatergeschichtliche Forschungen Bd. IX und X).
Besprechungen. 495
der Schönemannschen Truppe, als Ganzes genommen, unbefriedigend
sei (S. 286). „Sie war eben kein Ganzes. 3ie war nur Teil, nur
Mittel, nur Hülfslinie. Sie zog die Folgerungen aus dem Wirken der
Neuber, sie war die Vorschule, der Keim für kommende Geschlechter".
1730 trat der am 21. Oktober 1704 zu Crossen a. d. Oder geborene
Joh. Fr. Schönemann von der Försterschen Truppe zu der Neuberschen
über. V. Reden-Esbecks Verzeichnis der Wanderfahrten der Neuberschen
Truppe hat Devrient (S. 303) berichtigt und ergänzt. Als Prinzipal
begann Schönemann am 15. Januar 1740 zu Lüneburg mit der Auf-
fuhrung von Racines „Mithridates" und beendete seine Tätigkeit mit
der von Schlegels „Hermann** am 2. Dezember 1757 zu Hamburg.
Vom Spielplan der Schönemannschen Truppe werden im Anhang die
Verzeichnisse in zeitlicher, alphabetischer Ordnung und nach den Ver-
fassern g^ppiert gegeben, daneben eine eigene Zusammenstellung
der in Hamburg und Schwerin öfters gespielten Stücke. In Leipzig
und Hamburg suchte Schönemann zuerst festen Fufs zu fassen. Da
Gottscheds Zerwürfnis mit der Neuberin mit Schönemanns erstem Auf-
treten zeitlich zusammenfallt^ gelang es ihm als Vertreter des regel-
mäfsigen Schauspiels sich Gottscheds Gunst zu erringen. Aber dieser
Vorkämpfer des regelmäfsigen Schauspiels hat noch in seiner letzten
Hamburger Spielzeit es wieder mit der ex tempore Komödie versucht,
wie er 1741 noch die Haupt- und Staatsaktion von Karl XII. (vgl.
in, 151) neben Gottscheds sterbendem Cato spielte. Hat Schönemann
Molieres Don Juan wirklich als Schauspiel des Herrn von Voltäre an-
gezeigt (S. 33) oder ist dies nur ein Druckfehler, da Devrient diesen
Irrtum Schönemanns (?) unbeachtet läfst? Für Schönemanns litterarische
Bildung zeugen vor allem die Vorreden zur „Schönemannschen Schau-
bühne" (begonnen 1 748). Er ist der erste, welcher die Zahl der Hand-
lungen (Akte) auf dem Theaterzettel angab; diese Neuerung begann
1 747. Bei der ersten Aufführung von Lillos „Kaufmann von London"
durch seine Truppe (Hamburg, 25. Oktober 1754) vermerkte der Zettel:
„Dieses Stück ist der erste Versuch auf unserm Theater von dem
heutigen Geschmack der Engelländer in Trauerspielen* ^ Friedrich II.
hatte sich Schönemann 1742 durch die Versicherung empfohlen, dafs
er seit einigen Jahren die eifrigste Mühe anwende, „eine deutsche
Schaubühne zu Stande zu bringen, welche der französischen in allen
Stücken ähnlich w Ire". Die Aussichten in Berlin eine ständige Bühne
zu errichten, erfil.hen sich trotzdem nicht, und aus Breslau, das
Devrient übrigens für 1749 mit Unrecht zu den Universitätsstädten
rechnet (S. 158), hören wir mehr von Geldstreitigkeiten mit seinem
Rivalen Schuch und den Behörden als von künstlerischem Wirken.
Eine feste Stellung gewann die Schönemannsche Stellung in Schwerin,
als Herzog Christian Ludwig sie 1751 mit festem Gehalte zu seinen
Hofkomödianten ernannte. In diese Glanzzeit der Truppe fallt dann
auch Eckhofs kurzlebige Gründung der „Schauspielerakademie der
Schönemannschen Gesellschaft* S die in Hamburg und Mannheim teil-
weise Nachahmung fand, deren litterarische Wiederspiegelung wir in
„Wilhelm Meisters Lehrjahren" gewahren. Neben den bereits bekann-
496 Besprechungen.
ten Satzungen konnte Devrient auch bisher ungedruckte Reden ihres
Gründers und Leiters Eckhof abdrucken.
Wenn Eckhof schon in den letzten Jahren des Bestehens der
Schönemannschen Truppe auf Gestaltung des Spielplans und Bildung der
Schauspieler den Haupteinflufs übte, so stand er dem am 2. Oktober
1775 eröffneten Gothaischen Hoftheater in Tat und Namen in Gemeinschaft
mit Reichard als Direktor vor. Durch Friedrich Wilhelm Gotter, der
bereits in Wetzlar und Göttingen sich als Veranstalter von Liebhaber-
auffuhrungen hervorgetan hatte, war in Gotha dem französischen
Liebhabertheater ein deutsches zur Seite gestellt worden. Die so
erweckte Theaterlust fand dann reiche Nahrung als im Juni 1774
Abel Seyler durch den Weimarer Schlofsbrand veranlafst ward, mit
seiner Truppe nach Gotha überzusiedeln. Als Seyler seinem Wander-
triebe folgte, wurde das Gothaer Hoftheater gegründet, dessen Spiel-
plan und Schicksale durch die vier Jahre seines Bestehens Hoder-
mann aus den Akten und mit Benützung von Eckhofs Tagebuch dar-
stellt. Für die allgemeine Theatergeschichte ist besonders der in
Gotha unternommene Versuch einer Pensionskasse, die Eckhof (gest.
16. Juni 1778) gerne auf alle deutschen Schauspieler ausgedehnt ge-
sehen hätte, bemerkenswert. Für die wenig glückliche Gestaltung
des Spielplans, die zum Mifslingen des Hoftheaters beitrug, fallt ein
Teil der Schuld auf Eckhof, der bereits kränklich und allem neuen
gegenüber ängstlich sich zeigte. Wäre statt Reichards jedoch Gotter
erster Direktor gewesen, so würde sich die Sache wohl besser ge-
staltet haben. Gotter war freilich nicht der Mann, neue Bahnen zu
betreten; aber ^gegebenen Stoffen und Werken durch sorgfaltige
Behandlung und geschmackvolle Umgestaltung neuen und erhöhten
Reiz zu geben, war sein Talent und seine Lust" (Schlösser S. 278).
Wie er selbst aufsergewöhnliche schauspielerische Begabung besafs
und, freilich in engeren Grenzen als später Tieck, ein berühmter
Vorleser war, so lebte und webte er in Theaterinteressen. Schröder
gab sich alle Mühe ihn als Dramaturgen und Theaterdichter für Ham-
burg zu gewinnen (vgl. Litzmann, Schröder und Gotter. Hamburg
1887), Dalberg holte seinen Rat für Mannheim ein, IfQand pries noch
nach Gotters Tode ihn dankbar als seinen Lehrer und Führer. Seine
Singspiele und Lustspiele wurden, wie Schlössers jedem einzelnen
Stücke beigefügte Statistik zeigt, im ganzen Bereich der deutschen
Bühnen aufgeführt, mit den hervorragendsten Schauspielern und
Schauspielerinnen war er befreundet. Als der Gothaer Hof 1 780 von
neuem ein Liebhabertheater haben wollte, mufste abermals Gotter es
schaffen Den begabten und tüchtigen Helfer und Freund der Bühne
(S. 145) wieder in die ihm gebührende litterargeschichtliche Stellung
einzusetzen, ist die Aufgabe, die Schlösser sich in seiner Monographie
gestellt und sowohl in gründlicher Forschung wie abgerundeter an-
ziehender Darstellung recht gut gelöst hat.
Schlösser hat seiner zusammenfassenden Arbeit über Gotter eine
Reihe von Einzeluntersuchungen (vgl. VI, 421), für die ihm der hand-
schriftliche Nachlafs (vgl. VII, 291; VIII, 417) zur Verfügung stand,
Besprechung^. 497
vorangeschickt und auch für die Biographie neues Material, vor allem
Gotters Briefwechsel mit Lenz benutzen können. Von den beiden
ungefähr gleichstarken Hälften seines Buches ist die erste der Dar-
stellung von Gotters Leben (Göttingen, Wetzlar, Lyon, Gotha) und
persönlichen Beziehungen (Kästner, Goethe, Iffland, Schröder, Karo-
Üne Schlegel) gewidmet, die zweite der Besprechung von Gotters
Balladen und Liedern, Trauerspielen (7), Lustspielen (28), Sing-
spielen (8). Gotter hat nicht so grofse Bühnenerfolge gehabt wie
Chr. Felix Weifse, dem ja auch sein Einflufs als Leiter der „Bibliothek
der schönen Wissenschaften" in Leipzig zu gute kam. Allein ge-
rade Schlössers Monographie zeigt, wie verwandt beider litterarische
Stellung tatsächlich gewesen ist. So einseitig und eigensinnig wie
man aus den Vorreden zu seinen Gedichtsammlungen (1787/88) ge-
folgert hat, stand Gotter doch nicht auf dem Standpunkte der fran-
zösischen Litteratur. Allerdings gehen sämtliche Trauerspiele und
mit ganz wenigen Ausnahmen alle seine dramatischen Arbeiten auf
französische Vorlagen zurück, aber als höchste Muster galten ihm doch
Lessings Minna und Emilia. Als er in Göttingen gemeinsam mit seinem
Freund Boie den ersten deutschen Musenalmanach gründete, handelte
es sich um eine Nachbildung des „Almanach des Muses", aber in Wetzlar
übersetzte er im Wetteifer mit Goethe aus Goldsmith, zeigte Verständnis
far den Götz von Berlichingen und Werther, so dafs Bodmer ihn der
neuerungslustigen Jugend zuwies. Wenn er neben dem Alexandriner
sich auch der Prosa und des neuen Blankverses bediente, so handelte
er auch hier wie Weifse, hinter dem er freilich noch immer an Selb-
ständigkeit zurücksteht. Für Gotters Beurteilung ist es ein Glück,
dafs nun auch das einzige Lustspiel, für dessen Inhalt man ihn allein
verantwortlich machte, die in Mannheim auf Schiller bezogene Posse
„Der schwarze Mann", von Schlösser als Bearbeitung einer franzö-
sischen Vorlage nachgewiesen wurde. Bei der einzigen Bühnendichtung
Gotters, die heute noch auf den Brettern erscheint, dem Monodram
„Medea" ist Rousseaus Pygmalion das Vorbild gewesen. Das fran-
zösische Theater lernte er während seines Aufenthalts in Lyon kennen.
Bestimmender jedoch als dieser Eindruck war für ihn nach seinem
eigenen Zeugnisse „das Spiel Eckhofs und seiner Schule". Von Eck-
hof erbte er die Vorliebe für die Franzosen und das Mifstrauen gegen
Shakspere als eine Lebensbedingung der deutschen Schauspielkunst.
Den Nutzen der französischen Tragedie für die deutschen Schauspieler
haben ja dann auch Goethe und SchiUer (Prolog zu Goethes Mahomet-
übersetzung) anerkannt. Gotter aber ist wie Weifse und AyrenhofF
niemals über die Anschauungen, wie sie im Anfang der sechziger
Jahre herrschten, hinausgekommen. Sein Schauspiel mit Gesang
„Romeo und Julie" (1776) ist wichtig, weil den komischen Singspielen
hier zum erstenmal eine ernste Oper zur Seite tritt, im übrigen wird
dabei nur Weifses Verballhomung der Tragödie fortgesetzt. In der
Bearbeitung des „Tempest" als „die Geisterinsel", Gotters letzter
Arbeit, ist das Streben nach einer Vernüchterung Shaksperes noch
ebenso mafsgebend wie 1777 in der für Schröder ausgeführten
Bühneneinrichtung des „Kaufmanns von Venedig", die in Genees
498 Besprechungen.
Geschichte der Shakspereschen E)ramen in Deutschland als Schröders
alleinig^e Arbeit verzeichnet steht.
Schröders Hamburger Shakspereaufführungen, die für die Ein-
bürgerung Shaksperes auf der deutschen Bühne entscheidend waren,
stehen im Mittelpunkte des zweiten Bandes von Litzmanns Monographie.
Nachdem Litzmann im ersten Bande die Wanderfahrten der Ackermann-
schen Truppe und Schröders stürmische Jugendschicksale bis zum
Austritte aus der zum deutschen Nationaltheater in Hamburg umge-
wandelten Gesellschaft seines Stiefvaters behandelt hatte, fuhrt uns
der zweite bis zum Antritt seiner Wiener Stellung. Nicht ganz zwei
Jahre (1767/8) dauerte Schröders letzte Teilnahme an den alten Wander-
truppen. In Mainz und Frankfurt lernte er bei der Truppe Kurz-
Bernardon noch die alte Stegreifkomödie kennen, dann kehrte er zu
dem bereits scheiternden Nationaltheater in Hamburg zurück, um bald
selbst die Leitung der alten Ackermannschen Truppe zu übernehmen.
Von 1771 bis 1780 dauerte Schröders erste Direktion des zum Vorteil
seiner Mutter geführten und nun in Hamburg ansässig gewordenen
(S. 70) Theaters. Ackermanns letzte Tätigkeit und die Leistungen
von Schröders Stiefschwestern Dorothea (Wilhelm Meisters Aurelia)
und Charlotte Ackermann sind von dem trefflichen Biographen (der
nur bei der Angabe von Charlottens Alter als Emilia S. 96 und 128
sich widerspricht) mit besonderer Vorliebe geschildert. Für Susanna
Mecour, deren veredelnder Einflufs Schröders Erziehung erst vollendete,
wird mit Glück eine Rettung versucht. Die einzelnen Mitglieder
(Brockmann, Reinicke) werden charakterisiert, Bodes wohltätiger Ein-
flufs wird nachgewiesen und die Geschichte des vielberufenen Freis-
ausschreibens von 1775 richtig gestellt. Nicht um eine Preisbewerbung
handelte es sich dabei (S. 140), sondern um den nach Wiener Vor-
gang unternommenen Versuch, den Dichtern ein Einkommen vom
Theater zu gewährleisten und dadurch sie zur Arbeit für die Bühne
zu ermuntern. Wie der Augenblick für Gründung des Nationaltheaters
1767 durch die Produktionsarmut einer litterarischen Übergangszeit
besonders unglücklich war (S. 21), so war „die litterarische Kon-
stellation einem Bühnenunternehmen nie günstiger, als dieser ersten
Schröderschen Direktion" (S. 54). Dafs Schröders Truppe aber mit
der neuen Litteraturbewegung (Klingers Zwillinge, Goethes Götz,
Klavigo, Stella, Lenz Hoftneister) Schritt halten und das Publikum
zu einem neuen Geschmacke erziehen konnte, war durch die lange
Geschichte der Ackermannschen Schule vorbereitet (S. 134 und 198).
Die Schönemannsche Truppe, deren Darstellung durch Devrient nun
von Litzmanns freilich ungleich anschaulicherer Charakteristik glücklich
ergänzt ist, war wie Eckhof selbst bei der französisch- Gottschedischen
Tragödie stehen geblieben; die Ackermannsche Truppe hatte zuerst
Lessings bürgerliches Trauerspiel in Prosa, Wielands Jambentragödie
gegeben. Es war nur folgerichtig, dafs gerade diese Truppe nun
die Eroberung Shaksperes wagte und mit Erfolg wagen konnte.
„Die Anfange Shakespeares auf der Hamburger Bühne'* hat erst vor
kurzem (Hamburg 1890) Merschberger in dem Osterprogranmi des
Johanneum, die erste Aufnahme Hamlets in Deutschland, Lönning in
Besprechungen. 499
seinem tiefgreifenden Hamletbuche (Stuttgart 1895) verdienstlich ge-
schildert. Litzmann hat neben der litterarischen Aufgabe noch die
besondere und schwierigere zu erfüllen, die Eigentümlichkeit von
Schröders Spielweise als Hamlet, Lear, FalstafF, Shylock anschaulich
zu machen. Was Litzmann dabei geleistet hat, verdient rückhaltlose
Anerkennung. Mir wenigstens erscheint sein Werk über Schröder
als eine Musterleistung, die nicht nur im Vergleich zu Meyers, seiner
Zeit (1823) verdienstlichem Beitrage zur Kunde des Menschen und
Künstlers Schröder, sondern auch mit den besten neueren Monographien
zusanunengestellt, ihrem Verfasser zur Ehre, unserer Litteraturgeschichte
zur Zierde gereicht.
Wer mit so hellem Auge wie Litzmann die Theatergeschichte ver-
gangener Zeiten mustert, mufs auch den dramatischen Bestrebungen
der Gegenwart seine Teilnahme zuwenden. Liest es sich nicht wie
die Schilderung eines freundlich gesinnten Beobachters der jüngsten
Litteraturströmungen aus unsern Tagen, wenn Litzmann von 1768
schreibt: „das deutsche Theater befand sich in einer gewaltigen Krisis.
Aus langem Winterschlafe erwacht, drängten unzählige triebfahige,
verheifsungsvolle Keime ans Licht; der Saft trat in die Zweige. Aber
überall auch erst Knospen und Ansätze. Es galt, abzuwarten; was
reifen, was Früchte tragen werde, wer konnte das jetzt schon ent-
scheiden, und vor allem, wer wollte in dieser neue Hoffnung er-
weckenden Frühlingsstimmung pomphaft zu einem Erntefeste laden?
Was früher gemundet, mundete jetzt nicht mehr". Das unklare aber
ungestüme Verlangen nach etwas Neuem und das Hervordrängen zahl-
loser Versuche sind auch heute wieder wahrnehmbar. „Das deutsche
Drama in den litterarischen Bewegungen der Gegenwart"*) in einigen
typischen Erscheinungen zu veranschaulichen, welche „die charakte-
ristischen Merkmale bestimmter Strömungen in der heutigen Litteratur"
aufweisen, ist eine für die Litteraturgeschichte wie für die Dichtung
selbst fruchtbare Arbeit. Mag man im Einzelnen nun Litzmann zu-
stimmen oder widersprechen, das Verdienst seines frischen Wagnisses
wird auch der Widersprechende nicht verkleinern wollen. Eine arge
Übertreibung ist es allerdings, wenn Litzmann als der erste und einzige
Litterarhistoriker gefeiert worden ist, der vor den Erscheinungen der
Gegenwart nicht absichlich die Augen schliefse. Die warmherzige
Begrüfsung, die einstens W. Scherer den neu erscheinenden „Ahnen" und
George Eliots Romanen gewidmet, Erich Schmidts Essays über Storm,
Heyse, Rudolf Lindau, Schönbachs Studium der neuesten realistischen
und der amerikanischen Litteratur, dies allein würde genügen, den Vor-
wurf in solcher Allgemeinheit als ungegründet zurückzuweisen. Dafs aber
Unterlassungssünden vorliegen, ist ebenso unleugbar. Das hartnäckig
haftende Vorurteil, dafs es unwissenschaftlich sei über moderne Er-
scheinungen zu sprechen, ist weit verbreitet, und seine Anhänger mögen
sich ja für ihre Person wirklich aufser Stande fühlen durch ihre Be-
handlung den schwer fafsbaren Stoff würdig zu gestalten. Nur sollten
*) VorlesuQgen gehalten an der Universität Bonn. Zweite Auflage. Hamburg und
Leipzig, Verlag von Leopold Vofs, 1894. Vü, 216 S. 8*.
500 Besprechoagen.
nicht diese Leute uns mafsgebend sein, sondern auch hier der Leit-
spruch bleiben: das Was bedenke, mehr bedenke Wie. „Es kann",
sagft Litzmann mit Recht, „gar kein Zweifel darüber bestehen, dais
jede ernsthafte Beschäftigung mit der zeitgenössischen Litteratur ebenso
fruchtbringend und förderlich ist für unser Verständnis der litterarischen
Bewegungen vergangener Epochen, wie umgekehrt das Studium der
Vergangenheit uns oft für die richtige Würdigung gewisser aufkommen-
der Moderichtungen und Krisen die Augen öffnet". Und weil die ge-
schichtliche Kenntnis der Gegenwart Nutzen bringen kann und soll,
darum ist es durchaus nicht vornehm, sondern bequeme Unterlassung
eines nobile officium, wenn wir nicht suchen die geschichtliche Kenntnis
und Schulung für die zeitgenössische Litteratur nutzbringend zu machen.
In einer jüngst erschienenen Gedicht- und Aphorismensammlung steht
zwar der Satz: „Aus der Geschichte lernen wir, dafs die Völker nichts
aus ihr lernen mögen". Allein die trübselige Erfeihrung entbindet uns
nicht von der Pflicht, ihre Widerlegung anzustreben.
Der Schwierigkeiten, welche einer litterargeschichtUchen Betrach-
tung der Gegenwart entgegenstehen, bin ich mir mit Litzmann bewufst,
der seine Ausführungen bezeichnet nur als den Niederschlag derjenigen
Eindrücke, die er „selbst, als ein aufmerksamer Beobachter der zeit-
genössischen Litteratur im Laufe der Jahre empfangen habe. Es wird
und mufs daher manches in meinen Ausfuhrungen eine subjektive
Färbung erhalten**. Ich sehe eine solche stark subjektive Färbung
vor allem in dem Bilde, das Litzmann von Wildenbruchs Dramatik
entwirft. Ich gehöre keineswegs zu den Wildenbruch feindlich ge-
sinnten „politischen und ästhetischen Parteifanatikern" (S. 67), kann
mich aber beim besten Willen nicht davon überzeugen, dafs Wilden-
bruchs Auftreten „eine neue Epoche frischen Aufschwungs in der
Litteratur nach der Stagnation der siebziger Jahre" bedeute (S. 114).
Litzmann scheint mir die vorangehende Zeit doch stark zu unter-
schätzen, wenn er die Jahre von Goethes Tod bis zum Auftreten
Wildenbruchs mit wenigen Ausnahmen als das „Labyrint charakterlosen
Epigonentums" (S. 6) bezeichnet. Aber man wird vielleicht mir am
wenigsten die Berechtigung zugestehen, Litzmanns Datierung einer
neuen Epoche mit Wildenbruchs Auftreten anzugreifen, da ich mich
selbst des ungeheuren Frevels schuldig gemacht habe, für Richard
Wagner nicht nur einen Platz in der Litteraturgeschichte in Anspruch
zu nehmen, wie dies ja schon vor mir Heinrich Kurz und einige
wenige andere getan haben, sondern sogar einen Abschnitt „von Goethes
Tod bis zu den Bayreuther Festspielen" zu überschreiben. Es ist ganz
in der Ordnung, dafs man ohne jede Beachtung der dafür schon früher*)
von mir vorgetragenen Gründe und offenkundiger Tatsachen mich dafür
als Wagnerfanatiker zu denunzieren suchte. Dafs jemand aufser-
halb aller Parteischablone mit eignen Augen die Wirklichkeit zu sehen
und warmherzig seine Überzeugung auszusprechen sich erlaubt, wie
dies auch Litzmann in seinem Buche getan hat, dünkt eben den auf
*) Vgl. Litterarische Volkshefte Nr. 8 : «Was kann das deutsche Volk von Richard
Wagner lernen?"* Berlin, K. Eckstein Nachfolger t888.
Besprechungen. 601
Parteifanatismus eingeschworenen Unfehlbarkeitsaposteln ganz undenk-
bar. Dagegen kommt es solchen honorable men nichts weniger als sauer
an, ihre persönliche Gehässigkeit und dreiste Entstellung als Kritik auszu-
geben. Warum sollte das jetzt anders geworden sein, da doch, so lange
Wagner lebte, selbst solche Kreise, die sonst eigene Prüfung einer
Sache für Voraussetzung eines wissenschaftlichen Urteils als nicht ent-
behrlich achten, ohne jede Kenntnis von Wagners Absichten ihm das
gerade Gegenteil von dem unterschoben, was in den zehn Bänden seiner
Schriften zu lesen steht! Selbst der ehrlich und sachlich urteilende
Litzmann, der Wagners befruchtende Anregung fiir unser gesamtes
künstlerisches Leben fiir unleugbar erklärt (S. 42), scheint Wagners
Bestrebungen nicht eben aus besten Quellen zu kennen, wenn er vor
dessen „letzten Zielen" warnen zu müssen glaubt. Was war denn
dieses letzte Ziel Wagners? Nicht die alleinige Herrschaft des musi-
kalischen Dramas, an die nur seine Gegner aber niemals er selbst ge-
dacht hat, sondern die Erhebung des von allen Künsten unterstützten
Dramas zum würdigsten Ausdruckmittel echt deutscher Kultur.
Ob ihm das nun mit seinen Dramen, bei denen ihm die Musik nur
Mittel zum Zweck war, in einer Weise gelungen ist, welche die Bay-
reuther Festspiele zu einem weithinragenden Marksteine in der deutschen
Litteratur- und Theatergeschichte machen, dafür kann das Urteil und
die Huldigung des unbefangeneren Auslands ein entscheidendes Zeugnis
ablegen. Wie Wagner daran dachte Wallenstein und Faust neben Mozart
und Weber in Bayreuth zur Aufführung zu bringen, so wäre wohl
auch für Neuschöpfungen des rezitierenden Dramas, wenn sie die
deutsche Eigenart in dichterischer Gröfse zum Ausdruck gebracht
hätten, in Bayreuth Platz geworden — wenn Wagners weitgehende
Pläne bei der so kunstsinnigen und trefflich geleiteten öffentlichen
Meinung überhaupt Beachtung gefunden hätten.
Mit diesen „letzten Zielen" scheint mir auch Litzmann nach allen
Bekenntnissen, die sein Buch enthält, im Grunde durchaus einverstanden.
Er findet nur eben in Wildenbruchs Dichtungen das gewaltige, aus
der Gegenwart und für sie geborne nationale Drama, wo ich nur edle
Begeisterung, schwungvolle Frische und Schneidigkeit aber nicht den
grofsen Dramatiker entdecken kann. Und noch viel weniger kann
ich Litzmanns vertrauensvolle Haltung Hauptmann gegenüber teüen.
Ich fühle mich in meiner völligen Ablehnung der Hauptmannschen
Werke nur bestärkt, wenn ich sehe, wie sich ein Verehrer Hauptmanns,
wie Paul Mahn*) bewundernd abquält und schliefslich doch gezwungen
ist, mehr Bedenken als Zustimmung auszusprechen. Für mich bleibt
das einzige wirklich bedeutende Werk der neuesten Schule, dem ich
dauernden Wert zutraue, Sudermanns „Heimat". Allein mit allen
Widersprüchen und Zustimmungen im einzelnen wird man Litzmanns
treflflichem und nur nach Verdienst erfolgreichem Buche nicht ge-
recht. Wenn der Leser für sein Gefühl und nach seiner kritischen
Überlegung auffallende Lücken empfindet, wie z. B. das schon von
*) Gerhart Hauptmann und der moderne Realismus. Berlin, Verlag von R. Neu-
meister. 1894. 68 S. 8*.
602 Kurze Anzagtn.
Creizenach gerügte Übergehen Anzengrubers, so haben diese süd-
deutschen Volksstücke auf Litzmann eben nicht die entsprechende
Wirkung ausgeübt. Und Auffuhrungen Anzengrubers, wie man sie
noch Ende der siebziger Jahre in Berlin erdulden mufste, waren
wirklich nicht geeignet, Wert und Wesen seiner Werke zum Bewufst-
sein zu bringen. Litzmann spricht aber in diesen Vorlesungen, die
man als Bekenntnisse eines in Theater- und Litteraturgeschichte wohl
bewanderten Dichterfreundes bezeichnen könnte, nur von dem, was
auf ihn selbst tiefere Wirkung ausgeübt hat. So hat er sein Buch
mit einer Frische und Anschaulichkeit ausstatten können, dafs ihm
weiteste Leserkreise, wie auch die Fachgenossen, wirklich fördernde
Anregung danken. Aus der lebendigen Gegenwart und ihren Ein-
drücken entsprungen, wird das Buch noch seinen Zeugenwert behalten,
wenn die in ihm geschilderte Bewegung längst geschichtliche Ver-
gangenheit geworden und dann erst für die kritisch sichtende und
endgiltig urteilende Geschichte in einer Weise darstellbar sein wird,
von der Creizenach ein so mustergiltiges Beispiel für die ältere
Periode des europäischen Dramas aufgestellt hat.
Breslau. Max Koch.
»»»
Kurze Anzeigen.
Die vor Jahren begonnene Publikation der ältesten lateinisch>dänischen (bezw.
schwedischen) Sprichwörtersammlung, die unter dem Namen Peder Laales geht, liegt
nunmehr vollständig in zwei stattlichen Bänden unter dem Titel ^Östnordiska och
latinska medeltidsordspräk** (Kopenhagen, Samfiind til Udgivelse af gammel'nordisk
Litteratur) vor; die Texte sind von Carl af Petersens und Axel Kock herausge^ben,
Kock hat außerdem die Einleitung und den ganzen zweiten Band, den Kommentar
enthaltend, geliefert. In der Einleitung kommt Kock zu dem Resultate, dafs die ursprüngliche
Sammlung, die uns in zwei Versionen, einer schwedischen und einer dänischen vorliegt
(erstere in einer Handschrift des 15. Jahrhunderts, letztere in Drucken von 1506, 1508
und 15 15) in Dänemark im 14. Jahrhundert entstanden ist und wirklich den von der
Tradition genannten Peder Laale zum Urheber haben dürfte. Die Texte beider Versionen
sind diplomatisch wiedergegeben, der Kommentar bringt Worterklärungen, Deutung^en,
nordische Parallelen und textkritische Bemerkungen. Text wie Kommentar sind mit
mustergiltiger Sorgfalt gearbeitet, und das wertvolle Werk kommt nicht blos dem
philologischen Studium zu gute, sondern wird auch allen Forschem auf dem Gebiete
der Sprichwörterlitteratur sehr willkommen sein, da es die älteren schwer zugänglichen
Ausgaben der dänischen Version von Nyerup (i8a8) und der schwedischen Version von
Reuterdahl (1840) nicht blofs ersetzt, sondern auch weit überflügelt, und eine so alte und
reichhaltige Quelle der Sprichwörterkunde in exakter Textgestalt, versehen mit allen
wünschenswerten Erläuterungen und Aufklärungen, bequem zugänglich macht — k.
Unter Hinweis auf Erich Petzets Untersuchung über den Einfluls der komischen
Elemente in Alexander Popes Dichtung auf die deutschen Nachahmungen, N. F. IV, 409 flf.,
handelt R. Maack in einem Programm „Ober Popes Einfluls auf die Idylle und das
Lehrgedicht in Deutschland*" (Realschule am Eilbeckerwege, Hamburg 1895). Die
Beispiele fQr den Einflufs des Naturgef&hls und der Naturschilderung Popes entnimmt
er den Werken von Brockes, Kleist und Dusch. Der Lehrdichter Pope wirkte durch
seinen «Essay on Man"* auf Brockes, Haller („Ursprung des Übels**), Kleist, Zemiu
(„der Mensch in Absicht auf die Selbsterkenntnis^'}, Vz („Theodicee**), Dusch („die
Wissenschaften**), Lessing („das Muster der Ehen**, „die Reb'gion**, „über die menschliche
Glückseligkcsit*«), Wieland, Schiller („die KünsUer*').
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