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Full text of "Zeitschrift für vergleichende Litteraturgeschichte"

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Zeitschrift 


,  V*  für 


vergleichende  LitteraturgescMchte 


Herausgegeben  von 


Dr.  MAX  KOCH, 

a.  o.  Professor  an  der  Universität  Breslau. 


Neue  Folge.  —  Achter  Band« 


^, 


WEIMAR  1895. 


VERLAG  VON  EMIL  FELBER. 


-5<)%I3- 


INHALT. 


Abhandlungen.  sdte 

Humor  und  Humore.     Von  Robert  Boyle x 

Deutschlands  und  Spaniens  Utterarische  Beziehungen.     (Spanien  und   die  spanische 
Litteratur  im  Lichte  der  deutschen  Kritik  und  Poesie.    10.   und  IV.  Teil.) 

Von  Artur  Farinelli 318 

Die  byzantinischen  Quellen  von  Gryphius*  ,,Leo  Armenius^^    Von  August  Heisen- 
berg      439 

Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.     L  II.     Von  Marcus  Landau  .     .      175,  279 

Schillers  ^(Alpenjäger"  und  Kalidasas  ,,Sakuntala".     Von  ErnstMflller.     .     .     .  371 

Nochmals  Penthesilea.     Von  Hubert  Roetteken 34 

Die  ossianischen  Heldenlieder.     I.  II.  III.     Von  Ludwig  Chr.  Stern  .     .     51,  71,  143 
Dante  in  der  deutschen  Litteratur    des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.    I.  II.     (Dante  in 
d.  deutschen  Litt«  bis  zum  Erscheinen   der  ersten   vollständigen  Übersetzung 

der  Divina  Comedia.  I.  Teil.)    Von  Emil  Sulger-Gebing  ....     221,  453 

Dichterisch  und  poetisch.    Von  Veit  Valentin 213 

Uhlands   „Harald"  und  Zaleskis  ,,Lubor".     Von  AlbertZipper 449 

Neue  Mitteilungen. 

Des  Petrus  Tritonius  „Versus  memoriales".    Von  Paul  Bahlmann zi6 

Die  erste  Verdeutschung  des  1 2.  Lukianischen  Totengesprächs  durch  Johann  Reuchlin 

(1495).     Von  Theodor  Distel 408 

Lessings  Anmerkungen  zu  den  Fabeln  des  Aesop.    Von  Richard  Förster      .     .  87 

Gotter  und  die  Karschin.     Von  Rudolf  Schlösser 418 

TschuYaschisches  zur  vergleichenden  Volkspoesie.     Von  Heinrich  v.  Wlislocki  120 

Das  Manuskript  von  Kraszewskis  Dante -Obersetzung.     Von  Albert  Zipper    .     .  423 

Vermisohtee. 

Zur  Entstehungazeit  zweier  Faustmonologe.     Von  Max  Koch 125 

Eine  Quelle  zu  Shaksperes  Love^s  Labour*s  lost.     Von  MaxKoch 124 

Johannes  Bockenrod,    ein  vergessener    lateinischer   Dichter    des    16.  Jahrhunderts. 

Von  F.  Wilhelm  E.  Roth 480 

Zum  Eulenspiegel.    Von  A.  Ludwig  Stiefel 483 

Über  die  Quelle  der  Turandot-Dichtung  Heinz  des  Kellners.  Von  A.  Ludwig  Stiefel  257 

Zum  31.  Fastnachtspie]  des  Hans  Sachs.     Von  A.  Ludwig  Stiefel 483 

Zwei  Schwanke  des  Hans  Sachs  und  ihre  Quellen.     Von  A.  Ludwig  Stiefel  254 


Bespreohungen.  sette 

Reinhold    Bechstein    (f):    Die  Quellen    von  Rudolfs   Yon    Ems   ^ Wilhelm   von 

Orlens".     Eine  kritische  Studie  von  Victor  Zeidler a6a 

Felix  Bobertag^:  Grimmeishausens  „Dietwald  und  Amelinde^*  von  Edward  Stil- 
gebauer    484 

—  —  Moscherosch*  Insonmis  Cura  Parentum  herausgegeben  von  L.  Pariser .     .     .     485 
Wilhelm  Creizenach:  Ein  russisches  Werk  über  die  Anfänge  der  humanistischen 

Litteratur - 132 

Robert  W.  Felkin:    Lieder  und  Geschichten  der  Suaheli.     Anthologie  aus  der 

Suahelilitteratur,  gesammelt  und  übersetzt  von  C.  G.  Büttner  (f)     •     .     .     •  139 
Wolfgang  Golther:  More  celtic  fairy  tales,  selected  by  Josef  Jacobs  ....  438 
Hugo  Holstein:  Esther  im  deutschen  und  neulateinischen  Drama  des  Reformations- 
zeitalters.    Eine  litterarhistorische  Untersuchung  von  Rudolf  Schwartz       .     .  437 

Otto  L.  Jiriczek:  Letteratura  Norvegiana  del  Dott.  Santi  Consoli 43 

Max  Koch:  Zur  Geschichte,  des  Dramas  und  Theaters.     II 487 

—  —  Studien  zur  Litteratur  der  Gegenwart  von  Adolf  Stern 433 

Marcus  Landau:  Die  schöne  Magelone.  Herausgegeben  von  Joh.  Bolte.  (Bib- 
liothek älterer  deutscher  Obersetzungen.    I.  Bd.) 366 

—  —  German  Classics  edited  with  english  notes  by  C.  A.  Buchheim 135 

Karl  Landmann:  Aberglaube,  Sage  und  Märchen  bei  Grimmeishausen.  Unter- 
suchungen von  Karl  Amersbach 268 

Albert    Leitzmann:    August  Gottlieb  MeÜsner,   eine  Darstellung  seines    Lebens 

und  seiner  Schriften  von  Rudolf  Fürst 137 

Adam  Gottfried  Uhlich;  Holländische  Komödianten  in  Hamburg.  Von  Fer- 
dinand Heitmüller 435 

Ludwig  Pariser:    Andreas  Gryphius    et   la   trag^die  Allemande  an  XVII.  si^cle 

par  Louis  G.  WysockI .     485 

Jacques  Parmentier:  Henri  de  Kleist,  sa  vie  et  ses  ouvres  par  Raymond  Bonafous     143 

—  —  Le  poeme  de  Gudrun ;  ses  origines,  sa  formation  et  son  histoire  par  Albert 

F^camp 369 

Kurze  Anzeigen 143,  438,  503 


I 

I 


Humor  und  Humore. 


Von 
Robert  Boyle. 


ES  ist  in  der  letzten  Zeit  sehr  viel  geschehen  um  das  innere  Wesen 
der  antiken  und  der  modernen  Kunst  und  Litteratur  in  das  richtige 
Licht  zu  stellen.  Im  allgemeinen  ist  man  darin  einig,  dafs,  wie  Vischer 
schon  anführte,  das  Wesen  der  antiken  Kunst  typisch,  das  der 
modernen  Kunst  individualisierend  ist,  wenn  auch  in  ersterer  manche 
Ansätze  zur  Naturbelebung  und  Umwandlung  durch  das  Prinzip  der 
Individualisierung  zu  konstatieren  sind.  Mit  anderen  Worten  in  der 
alten  Kunst  blieb  die  äufsere  Natur  eine  tote  Masse,  trotz  zahlloser 
Personifikationen,  hinter  welcher  eine  Gottheit  steckte,  die  sie  in  Be- 
wegung setzte  und  leitete.  Um  uns  ausschliefslicli  der  Poesie  zu- 
zuwenden: eine  Naturerscheinung  verlor  auch  in  der  Personifikation 
nicht  die  ihr  eigene  typische  Gestalt,  um  in  der  Empfindungswelt  des 
Dichters  umgewandelt  und  als  ein  neues,  selbständiges  Wesen  mit 
ausgeprägter  Individualität  wieder  hervorzutreten.  Hense  hat  einige 
treffende  Beispiele:  Ein  Hügel  konnte  als  Nachbar  der  Sterne  auf- 
gefafst  werden,  aber  kaum  als  ein  himmelküssender,  wie  bei  Shake- 
speare (Hamlet)  „New-lighted  on  a  heaven-kissinghill".  Der  Wind  und 
das  Meer  konnten  einen  Bund  eingehen  um  die  griechische  Flotte  zu 
zerstören,  aber  dem  Dichter  wäre  es  schwerlich  eingefallen,  dem  Wind 
und  den  Wellen  durch  den  Zusatz  „alte  Zänker"  (old  wranglers)  eine 
volle  Individualität  zu  verleihen.  Die  Personifikation  in  der  alten 
Poesie  erhob  vorübergehend  einen  Naturgegenstand  in  die  Welt  des 
Belebten,  ohne  ihm  jedoch  ein  selbständiges  Dasein  zu  verleihen. 

In  der  modernen  Poesie  entwickelt  sich  neben  dieser  typischen 
Personifikation  ein  andere  Art,  die  individualisierende  genannt.  Wir 
können    die    individualisierende   Richtung  in  der  modernen  Kunst  als 

Ztacbr.  f.  Tgl  Litt.^Geflch.    N.  P.  VIII.  i 


2  Robert  Boyle. 


die  herrschende  deshalb  wohl  bezeichnen,   weil  jeder  grofse  moderne 
.Dichter,    von    Shakespeare  an,    vornehmlich    ein    individualisierender 
Dichter   ist.     Dem    individualisierenden  Dichter  lebt  die  ganze  Natur. 
Sie  kann  mit  ihm  in  Verkehr  treten,  und  zwar  nicht  nur  so,  dafs  er 
ihr  seine  eigenen  Stimmungen,  Empfindungen  und  Gedanken  supponiert, 
sondern  sie  tritt  ihm  in  allen  ihren  äufseren  Gestalten  selbständig  gegen- 
über,   teilt   ihm    ihr   Inneres  mit  und  empfangt  von  ihm  die  mannig-- 
fachsten  Aufserungen  seines  Seelenlebens.     In  der  deutschen  Litteratur 
sind  Goethe,  Lenau,  Heine,  in  der  englischen  Shakespeare,  Wordsworth, 
Shelley,    Keats    die    Dichter,    bei    denen  die   innige  Wechselwirkung 
zwischen  Aufsen-  und  Innenwelt  auf  der  Basis  der  alldurchdringenden 
und  umfassenden  Sympathie  am  vollständigsten  zum  Ausdruck  kommt. 
Diese  Sympathie  also,   die  den  Dichter  in  den  Stand  setzt,  seine  Ge- 
danken mit  der  äufseren  Natur  —  mit  der  Weltseele  —  auszutauschen, 
bildet    die   bewegende  Kraft    des    individualisierenden  Prinzips  in  der 
Poesie.     Wie  tauchte  diese  Sympathie  in  der  Weltlitteratur  auf?    Das 
schöne  Werk  Bieses    über    das  Naturgefiihl  zeigt,  wie  dieses  Gefühl 
sich   allmählich    entwickelte,    und  weist  auf  die  krankhafte  Sehnsucht 
nach  einem  einfacheren  und  besseren  Leben  in  verschiedenen  Perioden 
der  Weltgeschichte  hin,  wo  die  verfeinerte  Kultur  zu  einer  Entartung 
gefuhrt   hatte,    die  jedenfalls   einen    bedeutenden  Faktor  in  der  Aus- 
bildung   eines    Gefühls    des    Einsseins   mit    der  Natur  bildete.     Aber 
diese   krankhafte    Sehnsucht    allein    hätte  niemals  ausgereicht  eine  so 
innige  Sympathie  zwischen  Aufsen-  und  Innenwelt  zu  stände  zu  bringen, 
wie  wir  sie  in  der  modernen  Poesie  beobachten.    Sie  mufste  zuerst  mit 
einem   kräftigeren    Element    eine  Verbindung  eingehen,  und  zwar  mit 
dem  komischen.     Wie  bei  dem  Engländer  Richardson  im  vorigen  Jahr- 
hundert die  Sentimentalität  als  eine  litterarische  Erscheinung  auftauchte, 
um  sich  bei  Sterne  mit  der  Komik  zu  dem  litterarischen  Begriff  Humor 
zu  verbinden,  so  erleichterte  in  den  früheren  Jahrhunderten  jede  Periode 
der  Sehnsucht,  des  Unbefriedigtseins  mit  dem  Bestehenden,  das  Auf- 
treten   des    Komischen    als    gleichberechtigtes  Element  in  der  Poesie. 
Es   ist   hauptsächlich    der   Einwirkung  des  Komischen  zuzuschreiben, 
namentlich   nachdem    es  sich  bei  Shakespeare  zum  Humor  entwickelt 
hatte,    dafs    die  moderne  Poesie  die  allgemeine,   allumfassende  Liebe, 
Sympathie  und  das  Verständnis  für  alle  Naturerscheinungen  so  herrlich 
ausgebildet  hat. 

Um  einen  Ausdruck  Vischers  zu  gebrauchen,  kann  man  die  antike 
Weltanschauung  als  eine  ungebrochene  bezeichnen,  indem  das  Schöne, 


Humor  und  Humore.  8 


das  Erhabene,  das  Komische  getrennt  und  unabhängig  von  einander 
dastehen.  Das  Plastische  bleibt,  das  passendste  Ausdrucksmittel  für 
diese  Weltanschauung,  der  die  Tiefe  des  Gemüts  fehlt,  die  nur  infolge 
eines  inneren  Ringens  des  Individuums  mit  sich  selbst  sich  auftun 
kann.  Dieser  innere  Kampf  aber  steht  einem  Jeden  bevor,  der  sich 
die  echte  Humanität  erringen  will,  denn  dieser  Kampf  heifst  die  Bil- 
dung. Sehr  treffend  sagt  Vischer  I,  211:  «Der  Mensch  mufs  erst 
werden,  was  er  ist;  nur  durch  Bildung  langt  er  bei  seiner  wahren 
Natur  an".  Und  weiter:  „Humanität  ist  erst  die  späte  Frucht  der  Bil- 
dung, die  zur  Natur  zurückkehren  darf,  weil  sie  sie  nicht  mehr  zu 
furchten  hat".  Jeder  Mensch,  der  zu  seiner  vollen  Entwickelung  ge- 
langt ist,  mufs  diesen  inneren  Kampf  durchgekämpft  haben.  Freilich 
erst  spät,  denn  „die  jugendliche  Fülle  des  sinnlichen  Wohlseins  läfst 
das  Bewufstsein  der  allgemeinen  sittlichen  Unreinheit  und  des  allge- 
meinen  Übels  nicht  als  Quelle  des  inneren  Kampfes  einbrechen,  oder 
wenigstens  nicht  über  den  ersten  Ansatz  hinauskommen".  Der  naive 
Humor  (oder  die  Laune),  der  dieser  Stufe  menschlicher  Entwickelung 
eigen  ist,  zeigt  nur  oberflächliche  Teilnahme  an  den  Gegensätzen  des 
Lebens  und  kann  auch  nur  eine  oberflächliche  Befreiung  gewähren. 
„Der  naive  Humor  oder  die  Laune  ist  der  Humor  ohne  Tiefe  des 
Kampfes".  (Vischer  I,  460).  Die  tiefere  Teilnahme  an  den  Gegen- 
sätzen des  Lebens  bringt  den  inneren  Kampf  hervor,  dessen  Ausdruck 
der  gebrochene  Humor  ist,  der  dann  schliefslich  durch  die  Versöh- 
nung der  in  dem  Individuum  erlebten  Gegensätze  zum  freien  Humor*) 
wird.  Vischers  drei  Stufen  des  Humors  entsprechen  also  genau  den 
drei  Stufen  der  menschlichen  Entwickelung.  In  der  ungebrochenen 
(oder  naiven)  Weltanschauung  der  Jugend  tritt  er  dem  Tragischen 
zuerst  selbständig  und  unabhängig  als  naiver  Humor  oder  I^aune 
gegenüber.  Aber  schon  in  dieser  naiven  oder  ungebrochenen  Periode 
bereitet  er  durch  den  tiefen  Anteil,  den  er  den  Dichter  an  seinen 
Schöpfungen  zu  nehmen  zwingt,  den  inneren  Kampf  vor.  Denn  gerade 
durch  diesen  Anteil  müssen  notwendigerweise  die  tragische  und  die 
humoristische  Anschauungsweise  auf  einander  prallen.  Auf  diesen  An- 
prall erfolgt  die  Versöhnung,  die  den  Humor  seinen  Kreislauf  voll- 
enden lässt. 


*)  Vischer  sagt  (I,  460):  Es  bleibt  immer  ein  glücklicher  Zufall,  der  das  Wort  so 
befestigt  hat  (i.  e.  Humor  als  Flüssigkeit);  deuu  was  einst  von  der  humorvoll-patholo- 
gischen Erklärung  des  Charakters  im  Ernst  gemeint  war,  erinnert  jetzt  bildlich  an  die 
geistige  Flüssigkeit  des  Komischen,  worin  alles  Feste  sich  auflöst. 

1* 


Robert  Boyie. 


Diese  allgemeinen  Betrachtungen  (die  auf  Vischer  fiiüsen),  finden 
ihre  Bestätigung  in  der  Art  und  Weise,  wie  das  Komische  allmählich 
in  die  Weltlitteratur  eindrang  und  sich  zu  den  drei  Arten  des  Humors 
entwickelte. 

a)  Das  Komische  füllte  die  Pausen  der  tragischen  Handlung  aus. 
b)  Es  drang  in  die  Handlung  ein,  wie  bei  dem  Dramatiker  John  Lyly 
in  der  Form  einer  Nebenhandlung,  die  die  Haupthandlung  parodierte 
(nach  spanischem  Vorbilde),  c)  Es  mischte  sich  in  die  Haupthandlung 
Oberall  ein,  wo  die  Spannung  nicht  zu  grofs  war;  aber  die  Träger 
des  komischen  Elements  bleiben  in  einem  Abhängigkeitsverhältnis  von 
den  Trägem  des  ernsten  oder  tragischen  Elements,  d)  Es  &nd  endlich 
eine  Versöhnung  statt  zwischen  den  tragischen  und  komischen  Ele- 
menten, indem  der  Dichter  es  nicht  scheute,  dem  Helden  humoristische 
und  tragische  Züge  zu  verleihen. 

Für  diese  beiden  letzten  Stufen  der  Entwickelung  des  Humors 
bietet  Shakespeare  das  klarste  Bild,  weshalb  dieser  Dichter  in  der 
folgenden  Skizze  der  Entwickelung  des  Humors  aus  den  Humoren 
einen  so  hervorragenden  Platz  einninunt. 


Die  Litteratur  des  Mittelalters  war  lange,  und  namentlich  in  den 
beiden  Jahrhunderten  ihrer  Bifite,  dem  12.  und  13.,  fast  noch  mehr 
als  die  der  Alten  eine  Litteratur  für  wenige.  Ihre  hervorragendsten 
Dichter  gehörten  der  Klasse  des  Adels  an  und  ihre  Kunst  war  eine 
höfische;  in  einer  glänzenden  Umgebung,  in  einer  verfeinerten  Luft 
lebte  und  atmete  sie.  Die  Stoffe,  welche  sie  behandelte,  nahm  sie  aus 
Legenden  oder  legendenhaften  Sagenkreisen,  die  sich  um  historische 
Personen,  wie  Karl  den  Grofsen  oder  Alexander  gebildet  hatten.  Noch 
mehr  aber  liebte  sie  sich  mit  den  Taten  Siegfiieds,  Arthurs  und  Diet- 
richs von  Bern  zu  befassen,  die  der  Fantasie  einen  weitern  Spielraum 
gestatteten.  Solchem  Boden  fehlten  die  Elemente,  welche  dem  Humor 
hätten  förderlich  sein  können.  Man  mag  die  höfische  Dichtung  dieser 
Zeit  durchsuchen  so  viel  man  will,  man  wird  in  ihren  Epen  mit  Ausnahme 
Wolframs  auf  kein  grünes  erfiischendes  Plätzchen  stofsen,  wo  man  sich 
von  den  weitschweifigen  Berichten  über  Turniere,  Kämpfe  mit  Riesen 
und  Drachen  und  von  all'  diesem  Beiwerk  mittelalteriger  Romantik 
humorvoll  erholen  könnte.  Erst  in  den  beiden  letzten  Jahrhunderten 
des  Mittelalters,  dem  14.  und  15.  wurde  der  Geist  der  Litteratur  ein 
anderer.  Die  Städte,  besonders  in  England  und  Deutschland,  befi-eiten 
sich  immer  mehr  von  dem  Drucke,    welchen  die  Raubritter  bis  dahin 


Humor  und  Humore. 


auf  sie  ausgeübt  hatten,  die  Bürger  fingen  an,  sich  auch  an  litterari- 
schen Dingen  zu  beteiligen,  und  an  der  Stelle  der  Minnesänger,  die 
ehedem  von  Hof  zu  Hof  gewandert  waren,  traten  die  Meistersänger. 
Damit  war  eine  Veränderung  in  der  Wahl  der  Dichtungsstoffe  ver- 
bunden; man  nahm  dieselben  mehr  aus  der  Gegenwart,  nicht  nur  aus 
sagenhafter  Vergangenheit,  und  ebenso  wurde  die  Behandlung  eine 
andere.  In  England  bezeichnet  diesen  Übergang  vor  allem  Chaucer, 
welcher  der  neuen  Sprache,  die  in  den  Städten,  als  den  Vermittlerinnen 
zwischen  dem  angelsächsischen  Landvolke  und  den  normannischen 
Baronen  sich  gebildet  hatte,  zuerst  das  Recht  einer  litterarischen 
Sprache  erwarb.  Bei  Chaucer  finden  wir  die  naive  Anschauungsweise 
der  Alten  auf  das  Schönste  mit  einem  ihm  eigentümlichen  Humor  ge- 
mischt« Er  ist  mit  einem  jener  warmen  Frühlingstage  zu  vergleichen, 
die  uns  einen  Vorschmack  des  kommenden  Sommers  geben,  und  die 
wir  um  so  mehr  geniefsen,  je  rauhere  Tage  ihnen  oft  noch  folgen. 
Er  bildet  unter  seinen  Zeitgenossen  auch  darin  eine  Ausnahme  von 
der  Regel,  dafs  sein  Hmnor  so  durchaus  harmlos  ist:  kein  Tröpfchen 
Galle  darin.  Denn  zu  seiner  Zeit,  wie  untert  seinen  Nachfolgern, 
kleidete  sich  das  humoristische  Element  meist  in  eine  rauhere  Form. 
Wir  können  die  Zunahme  desselben  an  demjenigen  Zweige  der  Litteratur 
am  besten  beobachten,  der  vorzugsweise  in  den  Städten  zu  bedeut- 
samer Wichtigkeit  gelangte:  dem  Drama.  Die  Mysterien  und  Morali- 
täten  gingen  in  England  nach  und  nach  ganz  in  die  Hände  der  Laien 
über,  namentlich  in  die  der  Innungen  und  Zünfte.  Wie  die  Kunst 
dieser  Zeit  überhaupt,  so  trugen  auch  diese  Spiele  einen  durchaus 
realistischen  Charakter.  Gesellschaftliche  Mifsbräuche  und  moralische 
Fehler  wurden  ungeniert  in  die  biblische  Geschichte  hineingetragen 
und  biblische  Personen  damit  behängt.  Das  ganze  Zeitalter  nahm  eine 
satirische  Richtung*),  wie  sich  klar  aus  der  allgemeinen  Beliebtheit 
erkennen  läfst,  deren  sich  Werke  wie  Sebastian  Brants  NarrenschifF, 
Mumers  Narrenbeschwörung,  Hans  Sachs'  Narrenspiele  (Narrenschnei- 
den) u.  s.  w.  zu  erfreuen  hatten.  Mit  dem  Teufel  zusammen  wurde 
der  Narr  eine  stehende  Person  in  diesen  Spielen,  aber  selbst  die 
biblischen  Personen  wurden  in  freiester  Weise  und  komisch  behandelt. 
Noah  erhält  von  seiner  Frau,  die  an  das  Kommen  der  Sintflut  nicht 
glauben    will,    eine   tüchtige    Ohrfeige.      Josef**)   wird    als    ein  alter 

*)  Siehe  Geigers  Vierteljahrsschrift  f&r  die  Kultur  und  Litteratur  der  Renaissance 
Bd.  I  S.  163. 

**)  Meyer,  Geistliches  Schauspiel  und  kirchliche  Kunst.    Gei^^ers  VierteljahrsschrifU 


Robert  Boyle. 


grämlicher  Gesell  dargestellt,  der  nicht  ganz  frei  von  einer  kleinen 
Schwäche  für  die  Flasche  ist.  In  den  englischen  Spielen  jener  Zeit, 
welche  auf  uns  gekommen  sind,  ist  der  Teufel  gewöhnlich  als  Narr 
oder  Clown  dargestellt,  der  von  dem  Laster,  dem  Vice,  mit  seinem 
Latten-Dolch,  (wie  Shakespeare  sagt),  durchgeprügelt  wird.  So  grober 
Art  war  die  Komik,  mit  der  unsere  Vorväter  ihren  Sinn  für  Humor 
befriedigten.  Sie  tritt  so  offen  nur  im  Drama  zu  Tage.  Epische  Ge- 
dichte oder  Prosabearbeitungen  derselben  Stoffe  enthalten  diese  komi- 
schen Zutaten  nicht.  Im  Drama  aber  finden  sie  ihren  Platz  in  den 
Episoden,  welche  die  Pausen  der  Haupdiandlung  ausfüllen.  Diese 
Zwischenspiele  wurden  dann  als  Nebenhandlung  in  das  Drama  des 
i6.  und  17.  Jahrhunderts  aufgenommen  und  treten  da  (übrigens  wie 
im  spanischen  Drama)  als  komische  Parodie  der  Haupthandlung  auf, 
wie  dies  bei  den  rohen  realistischen  Vorgängern  der  Fall  gewesen 
war.  Bis  zu  einer  späten  Periode  des  16.  Jahrhunderts  begnügten 
sich  die  Zuschauer  mit  den  rohen  Späfsen,  welche  ihnen  der  Hans- 
wurst in  der  Gestalt  des  Teufels  oder  des  Vice  vormachte.  Aber 
als  die  Sitten  sich  verfeinerten,  fingen  auch  die  Theaterschreiber  an, 
die  kleineren  Abweichungen  von  dem  allgemeinen  gesellschaftlichen 
Mafsstab  zum  Gegenstande  ihrer  Späfse  zu  machen.  Die  Wurzel,  aus 
welcher  diese  wie  jene  Belustigung  entsprang,  das  Vergnügen,  über 
die  Unvollkommenheiten  anderer  zu  spotten,  blieb  dieselbe,  sie  hatte 
nur  an  Umfang  gewonnen.  Nicht  blofs  körperliche  Mängel  und  aus- 
gesprochene Albernheiten,  sondern  jede  geringe  Abweichung  von  der 
hergebrachten  Sitte  in  Kleidung,  Benehmen  und  Sprache  wurde  lächer- 
lich gemacht*). 

Solche  Abweichungen  wurden  gegen  das  Ende  des  16.  Jahrhunderts 
mit  dem  Namen  „Humore"  bezeichnet.  Eigentlich  ist  dieser  Ausdruck 
nur  auf  gewisse  Verhältnisse  anzuwenden,  welche  einen  ausschliefslichen 
Einflufs  auf  die  ganze  geistige  Verfassung  des  Individuums  ausüben, 
aber  er  wurde  in  weiterem  Sinne  auch  für  jede  Besonderheit  gebraucht, 
die  als  eine  Abweichung  von  der  allgemeinen  Regel  gelten  könnte. 
Um  den  vollen  Sinn  des  Ausdrucks  „Humor"    zu    begreifen,    müssen 


*)  Trotz  aller  politischen  Freiheit  giebt  es  kein  Land  auf  der  Welt,  wo  die  Ge- 
sellschaft eine  solche  Macht  ausQbt,  allen  ihren  Mitgliedern  dieselbe  Form  aufzuzwingen 
und  sie  in  Allem,  was  Äufserlichkeiten  anbetrififl,  einander  gänzlich  gleich  zu  machen,  als 
England.  Aus  dem  Drama  ersehen  wir,  dafs  diese  Tyrannei  der  Gesellschaft  im  16.  und 
17.  Jahrhundert  ebenso  mächtig  war  wie  heutzutage,  wo  es  gegen  ein  solches  Urteil  wie 
nthat  IS  not  gentlemanly**,  nthat  is  not  English**,  keine  Appellation  giebt. 


Humor  und  Hamore. 


wir  uns  klar  machen,  was  die  Wissenschaft  jener  Zeit  unter  „Humor^ 
verstand.     Burton  in  seiner  Anatomie  der  Melancholie  sagt: 

„Die  Geister  werden  vom  Blute  im  Herzen  erzeugt  und  darauf 
durch  die  Arterien  den  anderen  Gliedmafsen  mitgeteilt." 

„Pituita  (oder  Phlegma)  ist  eine  kalte  und  zähe  Flüssigkeit  (humor), 
die  in  der  Leber  aus  dem  Chylus  erzeugt  wird.  Sie  dient  dazu,  die 
Gliedmafsen  des  Körpers  zu  nähren  und  anzufeuchten,  die  (ähnlich  der 
Zunge)  in  Bewegung  gesetzt  werden,  damit  sie  nicht  austrocknen." 

y, Cholera  ist  heifs,  trocken  und  bitter;  sie  wird  aus  den  heifseren 
Teilen  des  Chylus  erzeugt  und  zur  Galle  gesammelt.  Sie  unterstutzt 
die  natürliche  Wärme  und  Sinnentätigkeit." 

„Melancholie  ist  kalt,  trocken,  dick,  schwarz  und  sauer;  sie  wird 
mehr  von  den  facalen  Teilen  der  Nahrung  erzeugt  und  von  der  Milz 
fortgestofsen;  sie  dient  den  beiden  andern  heifsen  Humoren  (Blut  und 
Cholera)  als  Zaum." 

„Die  Geister  entstehen  im  Blut;  sie  sind  Werkzeuge  der  Sinne, 
Medien  zwischen  Seele  und  Körper.  Melanchthon  ist  der  Ansicht,  dafs 
der  Erzeugungsort  dieser  Geister  das  Herz  sei.  —  Es  giebt  drei  Arten 
Geister:  natürliche,  vitale  und  animalische.  Die  natürlichen  werden  in 
der  Leber  erzeugt  und  durch  die  Venen  verteilt;  die  vitalen  werden 
aus  den  natürlichen  im  Herzen  erzeugt  und  durch  die  Arterien  verteilt; 
die  animalischen,  welche  aus  den  vitalen  gebildet  werden,  steigen  in 
das  Gehirn.  Sie  werden  durch  die  Nerven  verteilt  und  geben  Sinn 
und  Bewegung." 

„Narren  haben  ein  feuchtes  Gehirn." 

Ein  grofser  Teil  der  englischen  dramatischen  Litteratur  aus  der 
goldenen  Elisabetanischen  Aera  wird  uns  erst  verständlich,  wenn  wir 
uns  in  betreff  des  Humors  auf  den  Standpunkt  jener  Zeit  stellen.  Aus 
Burtons  Worten  ist  ersichtlich,  dafs  diese  Theorie  von  den  Humoren 
nicht  allein  in  den  medizinischen  Systemen  jener  Zeit,  sondern  auch 
in  den  gesellschaftlichen  Beziehungen  eine  grofse  Rolle  mufs  gespielt 
haben.  Je  nachdem  der  Chylus  oder  das  Blut  die  innewohnenden 
Geister  in  gröfserer  oder  geringerer  Menge  ausschied,  mufste  der  eine 
oder  der  andere  Humor  das  Übergewicht  im  Körper  erlangen.  An- 
genommen die  vitalen  gaben  mehr  Feuchtigkeit  her,  als  für  gewöhn- 
lich den  animalischen  zukam,  so  stiegen  sie  mit  diesen  in  das  Gehirn, 
durchfeuchteten  es  und  störten  seine  Funktionen.  Bis  zu  einem  ge- 
wissen Grad  stand  das  Individuum  dann  blofs  unter  dem  Einflufs  eines 
gewissen  Humors,  —  darüber  hinaus  verfiel  es  in  Narrheit«     In  diesem 


K 


8  Robert  Boyle. 


Lichte  wurden  alle  Sonderbarkeiten  eines  Charakters  angesehen  und 
damit  eine  jede  hervorstechende  Eigentümlichkeit  eines  Individuums 
erklärt. 

Der  erste  Dramatiker,  in  dessen  Stücken  die  Humore  eine  wichtige 
Rolle  spielen,  ist  John  Lyly,  dessen  Campaspe  am  i.  Januar  1584 
vor  der  Königin  aufgeführt  wurde.  Lylys  Stücke  haben  alle  eine 
Haupt-  und  eine  Nebenhandlung.  In  der  Haupthandlung  bedient  er 
sich  einer  erhabenen  Sprache,  die  mit  allerlei  affektierten  Gleichnissen 
vollgestopft  ist,  in  der  Nebenhandlung  einer  weniger  stelzenhafteo, 
mit  der  er  sogar  oft  die  Sprache  der  Hauptpersonen  lächerlich  zu 
machen  scheint.  Aber  nicht  blofs  die  Sprache  der  Haupthandlung, 
sondern  diese  selbst  wird  in  der  Nebenhandlung  ins  Burleske  gezogen. 
Das  beste  Beispiel  davon  haben  wir  in  Endimion,  dessen  ideales 
Schmachten  nach  der  göttlich  vollkommenen  Cynthia  in  der  Leiden- 
schaft des  tölpelhaften  Sir  Tophas  für  die  häfsliche  alte  Hexe  Dipsas 
verspottet  wird.  Die  Rhapsodien  des  Helden  für  seine  Göttin  werden 
von  Sir  Tophas  folgendermafsen  parodiert:  „O  was  für  feines,  dünnes 
Haar  Dipsas  hat!  Was  für  eine  schöne  niedrige  Stirn!  Was  für  kleine 
hohle  Augen!  Was  für  dicke,  runde  Lippen!  Wie  harmlos  sie  so 
ohne  Zähne  aussieht!  Und  die  kurzen  fetten  Fingerchen  mit  den 
grofsen  Nägeln  daran,  wie  bei  der  Rohrdommel!  Wie  reizend  ihr  die 
Backen,  pitzengleich,  auf  die  Brust  herabhängen  und  die  Brustwarzen 
bis  auf  den  Gürtel  wie  kleine  Säckchen!  Was  für  eine  kleine  Gestalt 
sie  hat,  und  dabei  doch,  was  für  einen  grofsen  Fufs!"  —  Die  Absicht 
die  Haupthandlung  zu  parodieren,  wird  dadurch  noch  mehr  bestätigt, 
dafs  Sir  Tophas  nach  diesem  Ergüsse  über  die  Reize  seiner  geliebten 
Dipsas  in  Schlummer  sinkt,  ganz  wie  Endimion,  der  vierzig  Jahre 
lang  schläft  und  während  dieser  Zeit  alles  vergifst,  nur  nicht  „die 
göttliche  Cynthia,  der  Zeit,  Glück,  Tod  und  Schicksal  unterworfen 
sind".  Namentlich  die  Gleichnisse,  welche  Lyly  anbringt  und  bei 
denen  im  ernsten  Teile  des  Stückes  die  Glieder  mit  einander  überein- 
stimmen, wie  z.  B.  in  Endimion  III.  4,  wo  Geron  sagt:  „Liebe  ist  ein 
Chamäleon,  das  nur  Luft  in  den  Mund  zieht  und  nur  die  Lungen  im 
Körper  nährt",  —  sind  in  der  Nebenhandlung  lächerlich  ungeschickt 
z.  B.  Endimion  III.  3,  wo  Sir  Tophas  sagt:  „Wie  eine  Schüssel  am 
Feuer  schmilzt,  so  wächst  mein  Witz  durch  Liebe!" 

Manchmal  wird  ein  Wort  in  die  Nebenhandlung  hinübergenommen, 
um  eine  komische  Wirkung  dadurch  zu  erzielen.  So  sagt  Cynthia 
(Endimion    V.  i)     „Ich  will,    mein  guter  Endimion,    nicht   so  stattlich 


Humor  und  Humore. 


sein  und  dir  wohlzutun  verweigern".  In  der  darauf  folgenden  Scene 
antwortet  Sir  Tophas,  als  man  ihn  fragt,  wie  er  sich  fühle:  „Stattlich, 
in  jedem  Gelenk,  was  das  gemeine  Volk  steif  nennt". 

Sowohl  der  Humor  der  Liebe,  als  der  der  Freundschaft  (über- 
triebene sentimentale  Freundschaft  zwischen  jungen  Leuten  war  damals 
Mode),  werden  in  Endimion  in  Handlung  gesetzt,  und  der  letztere 
(der  der  Freundschaft)  trägt  über  den  ersteren  den  Sieg  davon. 

Das  Publikum  mag  an  der  Gesellschaft  des  Sir  Tophas  nicht 
weniger  Vergnügen  empfunden  haben  als  die  boshaften  Pagen:  „O, 
dafs  wir  doch  den  braven  Sir  Tophas  hier  unter  uns  hätten,  den 
lustigen  Herrn!"  In  der  zweiten  Scene  des  zweiten  Aktes  bereden 
die  Pagen  zwei  Kammermädchen  vom  Hofe,  dafs  sie  sich  verliebt  in 
Sir  Tophas  stellen  und  ergötzen  sich  dann  an  dem  Benehmen  des 
nicht  eben  überklugen  Herrn. 

Uns  mag  es  scheinen,  als  ob  dem  Humor  Lylys  der  rechte  Nerv 
fehle,  und  wieder,  als  ob  er  zu  scharf  sei,  aber  in  jenen  Tagen,  wo 
das  Publikum  nur  an  den  grofsen  Unterschied  zwischen  gesunden 
Leuten  und  Narren  gewöhnt  war,  mufs  die  Darstellung  eines  solchen 
Originals  wie  Sir  Tophas  auf  der  Bühne  ganz  ergötzlich  gewirkt  haben. 

Nachdem  Lyly  die  Humore  der  Liebe  und  Freundschaft,  wie  die 
Übertreibungen  in  Sitte  und  Sprache  auf  die  Bühne  gebracht  hatte, 
ermangelten  seine  Nachfolger  nicht,  einen  so  dankbaren  Boden  weiter 
zu  bearbeiten.  Ein  treffendes  Beispiel  liefert  „Liebes  Leid  und  Lust" 
für  den  Einflufs  den  Lyly  sogar  auf  Shakespeare  ausgeübt  hat.  Ein 
Vergleich  zwischen  Armado  und  Sir  Tophas,  zwischen  Motte  und 
Epiton  wird  dies  bei  alle  denen  über  jeden  Zweifel  erheben,  die  sich 
ohne  vorgefafste  Meinung  davon  wollen  überzeugen  lassen,  was 
Shakespeare  Lyly  verdankt.  Lyly  scheint  wie  seine  Pagen,  an  den 
Seltsamkeiten  seiner  Schöpfungen  selbst  das  gröfste  Vergnügen  ge- 
funden zu  haben;  ganz  so  Shakespeare  in  „Liebes  Lust  und  Leid", 
bis  fort  zu  den  Schlufsscenen,  wo  die  Humore  bestraft  werden.  Er 
greift  von  seinen  Personen  nur  einen  Zug  auf  und  behandelt  diesen 
bald  komisch,  bald  macht  er  ihn  lächerlich.  Er  amüsiert  sich  mit 
dem  Könige  von  Navarra  und  seinen  Hofleuten,  mit  der  Prinzessin 
und  ihren  Damen.  Er  lacht  über  die  Zierereien,  den  Bombast  und  die 
Steifheit  des  Holofemes,  Sir  Nathanaels  und  Armados.  Ihm  sind  sie 
Verkörperungen  der  Torheiten  und  Albernheiten,  die  er  in  der  Welt 
um  sich  her  beobachtet  hat.     Er  war,    wie  hinreichend  bekannt,    mit 


10  Robert  Boyle. 


einer  teflweis  vernachlässigten  Erziehung  in  die  Hauptstadt  gekommen« 
Hier  fand  er  die  Bühne  im  Besitze  einer  Clique  studierter  Leute,  von 
denen,  wie  es  scheint,  aufser  Lyly  nur  noch  Marlowe  einen  Einflufs 
auf  ihn  ausgeübt  hat.  Diese  Leute  meinten  ein  Monopol  (ur  die 
Theaterdichtung  zu  haben.  Es  kam  ihnen  gar  nicht  in  den  Sinn,  dafs 
Jemand,  der  nicht,  wie  sie,  eine  Universitätsbildung  genossen  hatte, 
sich  könnte  einfallen  lassen,  mit  ihnen  zu  konkurrieren.  Bezeichnend 
ist,  dafs  Shakespeare  als  Stoff  für  sein  erstes  Lustspiel  den  Humor 
der  Gelehrsamkeit  wählte  und  dafs  er  darin  zeigt,  wie  wenig  die 
Gelehrsamkeit  geeignet  ist  zu  dem  vorzubereiten,  was  das  Leben 
von  uns  verlangt.  Nicht  schlagender  hätte  er  die  Prätensionen  dieser 
studierter  Leute  dartun  können,  die  sich  bis  jetzt  nur  mit  Studien 
befafst  hatten,  die  mit  dem  wirklichen  Leben  gar  nichts  zu  tun  haben. 
Für  ihre  Aufgabe,  das  Leben  auf  der  Bühne  darzustellen,  waren  sie 
so  ungeschickt  wie  der  König  und  seine  Hofleute  zum  Wettkampf 
mit  der  Prinzessin  und  ihren  Damen.  „  Liebeslust  und  Leid"  mufs 
während,  oder  doch  gleich  nach  der  Martin  Mar-Prälaten  Kontroverse 
geschrieben  worden  sein.  Drei  der  besten  Bühnendichter  jener  Zeit 
Lyly,  Nashe,  Greene  nahmen  an  dieser  Kontroverse  die  sich  bald 
zu  einem  heftigen  persönlichen  Angriff  auf  Gabriel  Harvey  zuspitzte, 
der  von  dem  Angegriffenen  heftig  zurückgewiesen  wurde,  hervor- 
ragenden Anteil.  Dies  Turnier  der  witzigsten  Geister  seiner  Zeit,  ge- 
kämpft um  solchen  Preis,  mufste  sich  der  vollen  Beachtung  Shakespeares 
aufdrängen.  Aber  soweit  wir  erkennen  können,  ist  in  seinem  Stücke 
nichts  Persönliches  enthalten.  Wie  Landmann  gezeigt  hat,  darf  selbst 
die  hochtrabende  Sprache  Armados,  wie  man  lange  Zeit  fälschlich 
meinte,  nicht  als  ein  Angriff  auf  Lylys  Euphuismus  betrachtet 
werden.  Alle  Modetorheiten  der  Sprachweise  jener  Zeit,  werden 
uns  von  den  verschiedenen  Personen  vorgeführt.  Es  war  nicht  not- 
wendig den  Euphuismus  besonders  hervorzuheben,  da  er  durch  Philip 
Sidneys  Einflufs  bereits  einer  anderen  Ziererei  Platz  gemacht  hatte, 
die  dann  in  den  Schriften  Gongoras  und  seiner  Nachfolger,  Calderon 
mit  einbegriffen,  ihren  Höhepunkt  erreichte.  Die  Satire  ist  also  ganz 
allgemein  gehalten  und  trifft  sowohl  die  Übertreibungen  der  modischen 
Sprechweisen,  wie  den  Latinismus  der  Gelehrten.  Aber  hauptsächlich 
ist  es  die  blinde  Verehrung  der  Bücher,  gegen  welche  der  junge  Dichter 
die  schärfsten  Pfeile  seines  Witzes  richtet  So  läfst  er  Biron  (Akt  I 
Sc.  i)  sagen: 


Humor  und  Humore.  11 


„Eitel  ist  jede  Lust,  am  meisten  die 
Mit  Mühen  kaufend  nichts  erwirbt  als  Müh; 
So  auch  mühvoll  den  Geist  dem  Buch  zuwenden, 
Suchend  der  Wahrheit  göttlich  Angesicht, 
Indefs  die  Strahlen  schon  das  Auge  blenden: 
Licht,  das  Licht  sucht,  betrügt  das  Licht  um  Licht. 
Und  statt  zu  finden,  wo's  im  Dunkeln  funkelt. 
Erlischt  dein  Licht  und  Nacht  hält  dich  umdunkelt. 
Studiert  vielmehr,  was  euer  Aug'  entzücke. 
Indem  Ihr's  auf  ein  schönres  Auge  wendet. 
Das  blendend,  uns  zugleich  mit  Trost  erquicke 
Und,  raubt  es  Licht,  uns  neue  Sehkraft  spendet. 
Die  Wissenschaft  ist  gleich  dem  Strahl  der  Sonnen, 
Kein  frecher  Blick  darf  ihren  Glanz  ergründen! 
Was  hat  solch^  armer  Grübler  sich  gewonnen 
Als  Satzung,  die  im  fremden  Buch  zu  finden?** 

Unter  diesen  Umständen  ist  es  schwer  zu  glauben,  dafs  dieser 
Protest  gegen  die  Unfehlbarkeit  der  Bücher  nicht  eine  besondere  Be- 
ziehung haben  sollte.  Aus  einem  Drama  jener  Zeit  „die  Rückkehr 
vom  Parnafs",  welches  im  Interesse  der  „Studierten"  geschrieben  ist, 
wissen  wir,  dafs  Shakespeare  von  seinen  Mitschauspielem  als  der 
Führer  der  Opposition  gegen  Jene  angesehen  wurde,  die  sich  das 
Monopol  der  dramatischen  Schriftstellerei  anmafsen  wollten.  Die 
Komödie  war  also  nicht  blofs  gegen  die  allgemeinen  Torheiten  der  Zeit, 
sondern  speziell  gegen  den  Humor  des  Gelehrtentums  gerichtet,  dessen 
Repräsentanten  sich  die  gröfste  Mühe  gaben,  Shakespeare  auf  das 
Feld  zu  verweisen,  welches  ihm  ihrer  Meinung  nach  allein  zustand: 
der  Schauspielerei.  Dafs  trotzdem  in  dem  Stücke  keine  Spur  von 
Bitterkeit  zu  finden  ist,  beweist,  wie  Shakespeare  diese  Feindseligkeit 
gegen  ihn  schon  früh  von  einem  humoristischen  Standpunkte  aus  an- 
sah. Aber  anderseits  zeigt  diese  Komödie  keinen  Fortschritt  über 
Lyly  hinaus;  obgleich  die  Charaktere  unendlich  viel  lebensvoller  und 
energischer  gezeichnet  sind,  sind  sie  doch  nur  der  Belustigung  wegen 
da.  Dies  ist  bis  zum  Schlufs  der  Fall,  und  man  hat  auf  andere, 
davon  unabhängige  Gründe  hin  vermutet,  dafs  die  Scene,  in  welcher 
am  Ende  des  Stücks  die  Humore  durch  Verhängung  eines  Probejahrs 
bestraft  werden,  dem  übrigen  zu  einer  späteren  Zeit  hinzugefügt 
worden  sei. 


12  Robert  Boyle. 


An  der  obenangefuhrten  Stelle  hat  Biron  in  der  Tat  den  weiteren 
Verlauf  der  Handlung  bereits  in  den  Zeilen  vorgezeichnet: 

„Studiert  vielmehr,  was  euer  Aug'  entzücke 
Indem  ihr's  auf  ein  schönres  Auge  wendet". 

Der  Humor  der  Gelehrsamkeit  wird  dem  mächtigeren  Einflufs  der 
Liebe  weichen!  Aber  die  Sprache  des  ganzen  Stücks  zeigt,  dafs  diese 
Liebe  von  derselben  konventionellen  Art  ist,  wie  neun  Zehntel  aller 
Liebespoesie  der  Humanisten  und  der  Renaissance,  ange&ngen  von 
Petrarca,  dem  grofsen  Kunstdestillateur  gemachter  Liebesseufzer.  Diese 
Liebe  ist,  in  der  Sprache  der  Zeit  von  der  wir  reden,  ein  Humor, 
und  trägt  genau  dasselbe  abgenutzte  Kleid  Sidneyscher  Gleichnisse 
und  Sidneyscher  Frostigkeit,  womit  dieser  Dichter  seine  Stella  anbetet. 
Dafs  Shakespeare,  als  er  auf  sein  Werk  zurückschaute,  nachdem  ihm 
die  wahre  Einsicht  in  den  Unterschied  zwischen  wirklicher  Natur  und 
den  auf  diese  gepfropften  Humor  gekommen  war,  die  Scene  hinzu- 
fugte, worin  das  Probejahr  festgesetzt  wird,  um  die  Wahrheit  der 
Liebe  zu  prüfen,  welche  die  Hofleute  zu  fühlen  glauben,  scheint  die 
allematürlichste  Erklärung  dieser  Scene,  die  gar  nicht  in  den  Ton  des 
übrigen  Stückes  pafst. 

Das  andere  der  früheren  Dramen  Shakespeares,  in  welchem  die 
Humore  bei  mangelhafter  Charakterzeichnung  zu  dem  alleinigen  Zweck 
der  Belustigung  auftreten,  ist  der  „Sommernachtstraum".  Nicht  nur 
sind  die  Athener  Handwerker  Verkörperungen  verschiedener  Humore, 
sondern  auch  die  Feenwelt  ist  es. 

Wir  sehen  Oberon  und  Titania  unfähig  anders  zu  handeln,  als 
unter  der  Gewalt  eines  Anstofses,  der  ihrem  ganzen  Tun  und  Lassen 
die  Richtung  giebt;  was  ganz  der  Erklärung  entspricht,  die  Ben  Jonson 
vom  Humor  giebt.  Auch  ist  die  Liebe  der  beiden  Liebespaare  ganz 
von  der  obenerwähnten  Art,  eine  rein  konventionelle,  wie  in  Liebes 
Leid*  und  Lust.  Wir  übersehen  dies  leicht  bei  den  aufserordentlichen 
poetischen  Schönheiten  dieses  Dramas,  aber  wo  es  wahres  Gefühl  zu 
schildern  giebt,  zeigt  sich  der  Dichter  noch  unfähig  in  seinen  Bildern 
und  Gleichnissen  zwischen  dem  Wahren  und  dem  Konventionellen  eine 
richtige  Wahl  zu  treffen.  Akt  I  Sc.  i  sagt  Lysander  zu  Hermia  nach 
den  Worten,  die  ihren  Hoffnungen  ein  Ende  machen  sollen: 

„Nun,  liebes  Herz,  warum  so  blafs  die  Wange? 
Wie  sind  die  Rosen  dort  so  schnell  verwelkt?" 

und  sie  erwidert: 


Humor  und  Humore.  13 


„Vielleicht  weil  Regen  fehlt,  womit  wohl  gar 
Sie  mein  umwölktes  Auge  netzen  könnte" 
ein  Concetto  durchaus  Petrarcas  oder  eines  seiner  schlechtesten  Nach- 
ahmer würdig.     Und  diese  Stelle  steht  nicht  allein.     In  derselben  Scene 
sagt  Helena: 

„Umstürmt  von  seiner  Schwüre  Hagelschauem 
Befand  ich  mich,  eh'  Hermia  er  geseh'n, 
Doch  sollt'  das  bei  der  neuen  Glut  nicht  dauern 
Und  Schloss'  um  Schlosse  sah  ich  rasch  zergehn". 
Solche    Concetti   in    einer    solchen   Situation    anzuwenden,    wäre 
einem  Dichter  unmöglich  gewesen,  der,  wie  er  später  in  Romeo  und 
Julia,  die  Sprache  wahrer  Leidenschaft  von  der  affektierten  zu  imter- 
scheiden  gelernt  hatte.     Die  Liebe  im  „Sommernachtstraum"  ist  ein 
Humor. 

Der  schlechte  Ton,  der  sich  in  die  Dramen  von  etwa  1590 — 1594 
eindringt,  beeinflufste  auch  Shakespeare.  Wir  können  auf  die  näheren 
Umstände  nicht  eingehen,  die  eine  allgemeine  Unruhe  und  Unzufrieden- 
heit in  England  um  diese  Zeit  hervorriefen.  Aber  es  ist  nötig,  die- 
selben im  allgemeinen  anzudeuten.  Die  engherzige  Politik  der  Regierung, 
die  keinen  Krieg  gegen  den  gemeinsamen  Feind  Spanien  fuhren  wollte, 
drängte  die  Unternehmungslust  auf  Seeraub,  Sklavenhandel  u.  s.  w., 
die  ihre  natürlichen  Früchte  in  einer  Verrohung  des  Geschmacks  ein- 
trugen, die  sich  überall  breit  machte.  Die  Einmischung  der  Dramatiker 
in  den  Streit  zwischen  den  Puritanern  und  der  bischöflichen  Partei  gab 
den  Dramen  dieser  Zeit  ein  grobes  Gepräge,  welches  ein  grelles  Licht 
auf  die  Orgie  fallen  läfst,  die  die  Bühne  in  diesen  Jahren  feierte;  Die 
verschiedenen  Schauspielertruppen  Londons  wetteiferten  mit  einander 
dem  rohen  Geschmack  des  Publikums  Nahrung  zu  bieten.  Das  Monopol, 
welches  Shakespeares  Truppe  und  AUeyns  die  alleinige  Berechtigung 
erteilte,  in  London  Schauspiele  aufzuführen,  machte  allmälig  diesem 
Zustande  ein  Ende.  Aber  diese  traurige  Zeit  hat  unverkennbare  Spuren 
einer  Verschlechterung  des  Tones  bei  den  Dramatikern  hinterlassen. 
Selbst  Shakespeare  macht  keine  Ausnahme  von  der  allgemeinen  Regel. 
Diejenigen  seiner  Dramen,  welche  in  diese  Jahre  fallen,  zeigen  be- 
sonders in  der  Behandlung  der  Frauencharaktere  ein  Sinken,  das  nicht 
nur  seinen  späteren,  sondern  selbst  seinen  früheren  Werken  gegenüber 
bemerkbar  ist.  Ich  weise  in  dieser  Hinsicht  besonders  auf  die  „Komödie 
der  Irrungen"  und  auf  „Richard  HI."  hin.  Aber  aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  gehören  in  diese  Periode  auch:  „Ende  gut.  Alles  gut"  in  seiner 


14  Robert  Boyle. 


ersten  Gestalt  (Love*s  Labour*s  Won  =  Belohnte  Liebesmühe),  „Die 
Widerspenstige**  (welche  der  Schreiber  dieses  in  der  Gestalt,  wie  sie 
1594  gedruckt  ist,  Shakespeare  zuschreibt),  ^Die  lustigen  Weiber  von 
Windsor"  in  ihrer  frühesten  Gestalt,  und  ein  Akt  von  Eduard  III- 
der  alle  Zeichen  von  Shakspeares  Hand  trägt.  Denselben  sinnlichen 
Zug,  der  durch  alle  diese  Dramen  geht,  zeigt  auch  Venus  und  Adonis. 
Den  ausgearbeiteten  weiblichen  Charakteren  aller  der  obengenannten 
Dramen  ist  eine  gewisse  Rohheit  der  Idee,  ein  greller  Realismus  eigen, 
denen  man  in  den  andern  Werken  unseres  Dichters  sonst  nirgends 
begegnet.  Die  sinnliche  Liebe  zwischen  Margareta  und  SufFolk  in 
Heinrich  VI.,  das  Fluchen  der  Frauen  in  Richard  III.,  das  Werben 
um  Anna  und  Elisabet  ebendaselbst,  die  zanksüchtige  Adriana  in 
der  Komödie  der  Irrungen,  der  das  Schmähen  ein  Genufs  ist,  die 
Zähmung  desselben  Charakters  unter  dem  Namen  der  Katharina  in 
der  „Widerspenstigen",  stehen  in  Widerspruch  zu  Allem,  was  wir 
sonst  bei  unserem  Dichter  finden. 

Alle  diese  Stücke  wurden  zu  einer  Zeit  geschrieben,  wo  die 
Humore  das  Publikum  noch  nicht  so  lebhaft  interessierten,  als  später. 
Aber  die  Bemühungen  der  Regierung  den  abenteuerlichen  Geist  der 
Nation  zu  unterdrücken,  trugen  nach  und  nach  ihre  Früchte.  Je  mehr 
die  Lust  nach  auswärtigen  Abenteuern  abnahm,  oder  je  schwieriger 
es  wurde  dieselbe  zu  befriedigen,  um  desto  begieriger  warfen  sich 
die  Geister  auf  allerlei  Abenteuerlichkeiten  daheim.  Die  erste 
dieser  Art,  welche  uns  auffallt  ist  eine  übertriebene,  sentimentale 
Freundschaft  zwischen  Männern,  von  der  wir  bereits  Spuren  in  Lylys 
Endimion  fanden,  die  aber  erst  in  Shakespeares  Sonetten  und  in 
seinen  beiden  Veronesern  klar  zu  Tage  tritt.  Dafs  dieöe  Komödie 
mit  dem  gerade  zu  jener  Zeit  herrschenden  Humor  der  Freundschaft 
in  nächster  Verbindung  steht,  geht  aus  der  ganzen  Komposition  her- 
vor. Der  Episode  von  Proteus  und  Julia,  welche  der  Dichter  aus 
der  „Story  of  Felismena"  nahm,  dichtete  er  Valentins  Freundschaft 
für  Proteus  hinzu.  Wenn  man  die  Geschichte,  welche  der  Dichter  in 
den  Sonetten  uns  von  sich  selbst  erzählt,  mit  diesem  Drama  vergleicht, 
und  die  Häufigkeit  solcher  zärtlichen  Beziehungen  zwischen  Männern, 
wie  sie  damals  bestanden,  in  Betracht  zieht,  so  wird  die  Vermutung 
nicht  zu  kühn  erscheinen,  dafs  der  Dichter  der  beiden  Veroneser 
selbst  unter  dem  Einflufs  des  Humors  stand,  den  er  schilderte;  ja 
noch  mehr,  dafs  er  absichtlich  seiner  Quelle  den  Kampf  zwischen 
Freundschaft  und  Liebe  unterschob,  weil  ihn  dieser  Kampf,  wie  er 
in   den  Sonetten    geschildert   wird,    persönlich    in  Mitleidenschaft   ge- 


Humor  und  Humore.  15 


gezogen  hatte.  Dieser  Kampf  endet  in  dem  Stücke,  wie  in  den  So- 
netten damit,  dafs  die  Freundschaft  über  die  Liebe  siegt,  was  in  dem 
Drama  einen  sehr  kahlen  und  unbefriedigenden  Schlufs  herbeiführt, 
wenn  auch  das  Opfer  nicht  gebracht  wird.  Denselben  Kampf  von 
dem  der  Dichter  gefühlt  haben  mag,  dafs  er  ihn  in  diesem  Drama 
auf  eine  wenig  befriedigende  Weise  zu  Ende  gefuhrt  habe,  nahm  er 
dann  im  Kaufmann  von  Venedig  von  neuem  auf,  wo  indessen  das 
Opfer,  welches  Bassanio  zu  bringen  sich  bereit  erklärt,  einen  würdigen 
und  genügenden  Zweck  hat,  da  das  Leben  des  Freundes  dadurch 
gerettet  werden  soll.  Doch  in  keinem  der  Dramen  jener  Zeit  ist  der 
so  oft  berührte  Humor  der  Freundschaft  so  gründlich  behandelt 
worden,  als  in  den  beiden  Veronesern.  In  den  Sonetten  sehen  wir 
einen  neuen  Humor  aufdämmern,  den  der  Melancholie,  welcher  am 
vollständigsten  in  den  'beiden  historischen  Dramen  König  Johann  und 
Richard  ü.  zur  Darstellung  kommt,  aber  von  dem  sich  Spuren  auch 
im  Kaufmann  von  Venedig  und  in  Romeo  und  Julia  finden. 

Der  ganze  Charakter  Richard's  II.  ist,  um  in  der  Sprache  jener 
Zeit  zu  reden,  ein  Humor.  Die  Lust,  mit  welcher  er  sich  seinem 
Grame  hingiebt,  ist  dafür  ein  Beweis.  Von  jedem  Impuls  läfst  er 
sich  hin  und  her  treiben,  ganz  wie  Jonson  den  Humor  definiert.  Con- 
stanze in  König  Johann  ist  von  derselben  Art.  König  Philip  wirft 
ihr  vor  Akt  III.  Sc.  4: 

„Ihr  liebt  den  Gram  so  sehr  als  eurer  Kind". 

Ein  Beweis,  wenn  es  dessen  bedürfte,  dafs  der  Dichter  nun  die  wahre 
Natur  des  Humors  erkannt  hatte.  Gleich  im  Anfang  des  IV.  Aktes 
finden  wir  eine  dahingehende  Bemerkung  derselben  Art,  welche  uns 
die  vorherrschende  Modetorheit  des  melancholischen  Humors  zu  jenen 
Zeiten  bestätigt: 

„Doch  weifs  ich  noch,  als  ich  in  Frankreich  war. 
Gab's  junge  Herren,  so  traurig  wie  die  Nacht, 
Zum  Spafse  blofs." 

Aber  diese  beiden  Dramen  sind  späteren  Datums  als  Romeo 
und  Julia  und  wenigstens  ist  König  Johann  nicht  vor  1596  gedichtet, 
dem  Jahre,  wo  des  Dichters  einziger  Sohn  starb,  ein  Umstand,  der 
nicht  ohne  Einflufs  auf  den  reichen  Ergufs  des  Grames  gewesen  sein 
wird,  den  wir  in  diesem  Drama  finden.  In  Romeo  und  Julia  ist  eine 
zur  Melancholie  neigende  Liebe  geschildert,  die  sich  aber  von  der 
übermäfsigen  Hingabe  an  den  Gram  in  den  beiden  obenerwähnten 
historischen  Dramen  dadurch  unterscheidet,  das  sich  diese  Melancholie 
auf  nichts  gründet,  sondern  nur  in  der  Einbildung  besteht.     Die  kon- 


16  Robert  Boyle. 


ventionelle  Liebespoesie  jener  Zeit  verlangte  es,  dafs  jeder  junge 
Mann  seine  Herrin  hatte,  der  er  den  Tribut  seiner  künstlichen  Seufzer 
zu  Füfsen  legte.  In  den  Werken^  die  auf  uns  gekommen  sind,  finden 
wir  viele  Beispiele,  wie  der  Verehrer  einer  hartherzigen  Geliebten 
in  dem  Gedanken  seines  unseligen  Geschickes  wahrhaft  schwelgt. 
Solch  ein  Liebender  ist  Romeo  in  Akt  I  Sc.  i,  wo  wir  zum  ersten- 
male  seine  Bekanntschaft  machen.  Vergleiche  als  Beweis  dafür  von 
V.  125  an,  seine  Liebe  zur  Einsamkeit,  das  Verschweigen  seiner 
unglücklichen  Liebe  gegen  Jedermann,  sein  Zurückziehen  in  sein 
Kämmerlein,  das  er  tagüber  verfinstert,  seine  Tränen  und  Seufeer 
und  alle  die  Mittel  und  Wege,  durch  welche  die  Opfer  dieses  Humors 
sich  und  andere  von  der  Wirklichkeit  ihrer  Gefühle  überzeugen 
möchten.  Vergleiche  auch  die  weithergeholten  Büder  und  Gleichnisse 
deren  sich  Romeo  bedient,  die  zierlichen  Ausdrücke,  die  gesuchten 
Antithesen,  mit  denen  er  dem  Benvolio  (von  V.  177  an)  seine  Liebe 
schildert,  wie:  schwermütiger  Leichtsinn,  ernste  Tändelei,  bleierne 
Schwingen,  lichter  Rauch,  kaltes  Feuer  und  kranke  Gesundheit.  Kein 
Wunder,  dafs  er  die  Liebe  für  „einen  Rauch,  den  Seufzerdämpf  er- 
zeugen", erklärt.  In  Sc.  4  V.  96 — 108  giebt  Mercutio  als  scharfer 
Beobachter,  seine  Ansicht  über  die  Unwahrheit  der  Leidenschaft  ab, 
welche  Romeo  sich  einredet,  und  Akt  U  Sc.  i  (nachdem  Romeo  Julia 
gesehen  hat),  fahrt  er  in  dem  Tone  wohlgemeinten  Spottes  fort: 

„Romeo! 

Was?  Grillen!  Toller!  Leidenschaft!  Verliebter! 

Erscheine  du,  gestaltet  wie  ein  Seufzer! 

Sprich'  nur  ein  Reimchen,  so  genügt  mir's  schon, 

Ein  „Ach**  nur  jammVe,  paare  „Lieb'"  und  „Triebe"". 

Nichts  konnte  die  Gewalt,  mit  der  sich  Romeo  in  Gefühle  künstlich 
hineingearbeitet  hatte,  drastischer  bezeichnen,  als  dieser  Spott  Mercutios. 
Aber  Romeos  eigene  Sprache  nach  seiner  Begegnung  mit  Julia  (Garten- 
Scene  IL  2.)  zeigt  sofort,  wie  verschieden  die  wirkliche  Leidenschaft, 
die  er  jetzt  fühlt,  von  der  ist,  welche  er  bis  dahin  zu  fühlen  glaubte. 
Noch  immer  ist  Übertreibung  und  Unnatur  genug  in  seinen  Reden, 
z.  B.  wenn  er  sagt: 

„Ein  Paar  der  schönsten  Stern'  am  ganzen  Himmel. 
Wird  ausgesandt  und  bittet  Juliens  Augen 
.    In  ihren  Kreisen  unterdefs  zu  funkeln". 
Aber  es  ist  eine  Übertreibung  und  Uberkraft,  wie  sie  dem  Ausdrucke 


Humor  und  Humore.  17 


eines  heftigen  Gefühls  eigen  sind.     Noch  vieles  darin  ist  nicht  abge- 
klärt, doch  ist  nichts  Gemachtes,  Erkünsteltes,   Geistreich  seinsollendes 
darin.     Durch  diese  veränderte  Sprache  Romeos  und  durch  Mercutios 
Spott  zeigt   uns  der  Dichter,   dafs    er    die    wahre  Natur    des  Humors 
erkannt  hat.     Diese  seine  neue  Auffassung  desselben  weicht  von  der 
seiner  Zeit  gänzlich  ab  und  stellt  sie  in  eine  Reihe  mit  der  von  Dickens, 
welcher  uns  von  den    unsterblichen  Gamaschen  seines  Pickwicks  aus 
durch  die    oberflächlichen  Details,    welche    der    flüchtige    Beobachter 
allein    bemerkt,    wie    durch    eine    umhüllende    Kruste     hindurch    in 
die    innerste    Natur   seines   Helden    schauen   läfst.      Shakespeare    be- 
trachtete die  Humore  im   Lichte  der  Masern  oder  des   Keuchhustens, 
als    Kinderkrankheiten    und    notwendige    Phasen    in    der    Entwicke- 
lung  des  Menschen,    die    durchgemacht    werden   müssen.     Wie  diese 
wichtige  physische   Krisen    im   Wachstum   des  Kindes  sind,    so  sind 
die  Humore  psychische  Krisen,  die  dem  jungen  Menschen  nicht  erspart 
bleiben  können.     Die  Erkenntnis  der  wahren  Natur  unter  der  Maske, 
hinter  der  wir  Alle,  bewufst  oder  unbewufst,  uns  verstecken,  „die  wir 
nicht   unsere  Herzen    in    der  Hand    tragen,    damit   die  Krähen    daran 
picken**  ist  das  wichtigste  Element  der  humoristischen  Auffassung  eines 
Charakters.     Dickens  bleibt  im  ganzen  der  humoristischen  Auffassung 
seiner  Figuren  bis  ans  Ende  seiner  Laufbahn  treu,  aber  Shakespeare 
verwirft  sie  vom  Anfang  der  Hamlet-Periode  an*).     In  seinen  beiden 
letzten  Perioden  treten  die  Humore  bei  ihm  nur  soweit  hervor,  als  die 
Repräsentanten    derselben    Narren    und    Rüpel    sind.      Während    der 
zweiten  Periode  dagegen  zeigen    alle   seine  Stücke    eine  entschieden 
humoristische  Auffassung.   Im  Kaufmann  von  Venedig  finden  wir  in  der 
Eröffnungsscene  Spuren  von  Melancholie  bei  Antonio,  die  auf  Romeo, 
John  und  Richard  II.  weisen.     Diese   Melancholie   verbindet    sich  mit 
dem  Humor  der  Freundschaft  durch  eine  gewisse  Eifersucht,  die  wir 
an    Antonio    wahrnehmen.      Bassanios   Herz,    welches    ihm   bis  jetzt 
allein  gehörte,  hat  sich  einer  unbekannten  Nebenbuhlerin  zugewendet, 
und   die  Ahnung   von    dem  Verlust    dieser  Freundschaft    stimmt   ihn 
traurig.     Dafs  Bassanio  humoristisch  angelegt  werden  mufste,  war  für 
die  Folge  nötig,    um    begreiflich    zu    machen,    weshalb   er    bald   den 
eigennützigen  Regungen  folgen  zu  wollen  vorgiebt,  die  ihn  zu  Belmont 
ziehen,  bald  in  entzückte  Ausrufungen   über  Portias   goldene  Locken 


*)  Mit  Ausnahme  von  Hamlet  selbst,  der,  wie  Vischer  zeiget,  als  Humorist  aufge- 
falst  wird. 

ZtMhr.  t  Tgl.  Utt.-GeMh.    N.  P.  VIII.  2 


18  Robert  Boyle. 


ausbricht.     Er  kennt  die  Bitterkeit  der  Gefühle,  welche  Antonios  Geist 
belagern,  und  sucht  sie  zu  verscheuchen,   ohne  jedoch  verhindern  zu 
können,  dafs  er   die  eigenen    verborgenen  Gefühle    dadurch    verrate. 
Aber  die   vollendetste   humoristische  Figur,    welche  Shakespeare  uns 
geschaffen  hat,  die,   welche  am  meisten    mit  dem  Begriflf  Humor,  wie 
wir  ihn  jetzt  fassen,  übereinstimmt,  ist  Falstaff.     Das  vollständige  Sich- 
einsfuhlen    des    Dichters    mit   seiner  Schöpfung    hat    ihn  befähigt    die 
Schranken    von  Jahrhunderten   zu    überspringen    und   sich  jenen  um- 
fassenden Geist  allgemein-menschlicher  Sympathie  anzueignen,  der  der 
neueren  Zeit  eigen  ist.     Er  zeigt  uns  von  der  Gemeinheit,  der  Selbst- 
sucht  und    der  Feigheit,    die    hier    mit    der    glänzenden  Rüstung  des 
Witzes  und  Humors  ausgestattet  sind,    nur  so  viel,  als  für  die  humo- 
ristische Idee  notwendig   ist.     In    dieser  Hinsicht   ist  der  FalstaflF  des 
Heinrich  IV.    das    Produkt    eines    reiferen  Gemüts,    als    der   verliebte 
Ritter  der  munteren  Weibern    von  Windsor.     Jener   ist  nicht,    wie  er 
selbst  sagt,  „blofs  selbst  witzig"  sondern  auch  „Veranlassung  der  Witze 
anderer**;    er  ist    echt   humoristisch    durch    seine   Teilnahme    für    den 
Prinzen  und  die  übrige  Umgebung.     Er  hat    den  Heinz   in  sein  Herz 
geschlossen  und  liebt  ihn,  soweit  eine  solche  Natur  lieben  kann.     Er 
benutzt  aber  seine  glänzende  Begabung  dazu,  seine  Umgebung  daran 
zu  verhindern  einen  Blick  in  sein  Innerstes  zu  werfen.    Aber  anderer- 
seits: „Falstaff  mufs  mitten  in  seinen  Schlechtigkeiten  in  jedem  Zuge  die 
Laune  zeigen,  sich  in  jedem  Augenblick  durch  ein  Hineinsehen  in  sich 
zu  absolvieren"   (Vischer  I,  S.  347).     Das  Interesse,  welches  der  Prinz 
für  ihn    bekundet,    ist    dasselbe  welches    wir    einem   psychologischen 
Rätsel   entgegenbringen  und    dieses  einzige  Band  der  Sympathie  zer- 
reifst, sobald  das  Leben  seine  ernsten  Forderungen  stellt.     Somit  ist 
das   Zerreifsen    dieses   Bandes    symbolisch   für   die    Verwerfung    der 
humoristischen  Charakterdarstellung,  seitens  des  Dichters,  wie  wir  sie 
schon  von  Hamlet    an  beobachten.     Aber  ehe    dieser  Umschwung  in 
der  Darstellungsweise    des  Dichters    sich    vollzog,    lieferte    er   uns   in 
Was  ihr  wollt,  Viel  Lärmen  um  Nichts,  und  Wie  es  euch  gefällt,  eine 
Reihe  der  abgerundetsten  humoristischen  Typen,  die  überhaupt  in  der 
Litteratur  existieren.     Auf  dieselben    einzugehen    ist   hier  unmöglich. 
Wir   haben    den  Dichter   bis    auf  den   Punkt   begleitet,    wo    er    den 
Schwerpunkt  seiner  dramatischen  Wirkung  auf  das  Auskämpfen  gegen- 
sätzlicher Leidenschaften  in  einer  und  derselben  Seele  verlegt.     Wäh- 
rend seiner  i.  und  2.  Periode,  wo  er  seine  Wirkungen  durch  Reibung 
der  widerstrebenden  Naturen  an  einander  zu  erreichen  suchte,  war  die 


s 


Humor  und  Humore.  19 


humoristische  CharakteraufTassung  seiner  Darstellungsweise  vollständig 
angemessen.  Als  er  mit  den  ernstern  und  dunklern  Problemen  des 
Lebens  rang,  entsprach  sie  nicht  mehr  der  neuen  Stufe  der  Entwicke- 
lung  seiner  Kunst,  und  wurde  verworfen.  Sehen  wir  jetzt,  wie  der 
andere  grofse  Humorist,  Ben  Jonson,  im  Vergleich  zu  ihm  steht.  Es 
ist,  als  ob  man  aus  dem  lichten  Sonnenschein  in  ein  dunkles  Gewölbe 
träte,  wenn  man  Shakespeares  reifere  humoristische  Schöpfungen  mit 
den  engbegrenzten  Jonsons  vergleicht,  wie  bedeutend  letztere  auch 
sein  mögen.  In  Übereinstimmung  mit  der  ihm  angeborenen  Lehrhaftig- 
keit  fühlt  sich  Jonson,  als  der  humoristische  Dichter  des  Zeitalters 
(wie  er  allgemein  genannt  wurde),  verbunden,  uns  zu  zeigen  was 
Humor  ist.  Dies  tut  er  in  der  Person  des  Asper  (er  selbst)  in 
„Jedermann  aufser  seinem  Humor^: 

Das  Wesen  des  Humors  erklärt  sich  so: 

Er  hat  die  Flüssigkeit  von  Luft  und  Wasser, 

Denn  so  wie  diesen  beiden  eignet  ihm 

Die  Feuchtigkeit,  dazu  die  Flüssigkeit 

Dies  zu  beweisen  fallt  nicht  eben  schwer  1 

Giefs'  Wasser  aus  und  sieh*  es  näfst  und  fliefst, 

Desgleichen  auch  die  Luft;  stofs*  in  ein  Hom, 

So  strömet  sie  heraus  und  hinterläfst 

Etwas  darin  wie  Tau,  woraus  wir  schliefsen, 

Dafs  alles  das,  was  nafs  und  flüssig  ist 

Und  in  sich  selber  keinen  Halt  besitzt, 

Humor  ist,  —  also  in  dem  Menschenkörper: 

Melancholia,  Phlegma,  Blut  und  Galle, 

Weil  stets  im  Flufs  sie  sind,  bald  hier  bald  dort 

Und  die  wir  dieserhalb  Humore  nennen. 

Doch  als  Metapher  wenden  wir  den  Namen 

Nun  auch  in  einem  weiteren  Sinne  an. 

Wenn  Jemand  eine  Eigenschaft  besitzt. 

Und  zwar  in  solchem  Grade,  dafs  sie  all* 

Sein  Streben  wie  sein  Denken  und  sein  Wollen 

Nach  einem  Punkt  hinzieht  und  flüssig  macht. 

So  sagen  wir  von  ihm  n*s  ist  sein  Humor!*' 

In  diesem  Sinne  also  verstand  Jonson  das  Wort.  Wie  bereits  er- 
wähnt, wurde  es  aber  in  der  gewöhnlichen  Sprache  der  Zeit  nicht 
blois  so  verstanden,  sondern  jede  Übertreibung  in  der  Kleidung,  jede 


80  Robert  Boyle. 


affektierte  Sprechweise,  jede  Auffälligkeit  im  Betragen  wurde  damit 
bezeichnet.  Jonsons  Definition  stimmt,  wie  wir  sehen,  mit  der  Burtons 
überein,  dafs  ein  Humor,  aus  dem  im  abnormalen  Zustande  befindlichen 
Organe  aufsteige,  der  alle  geistigen  Kräfte,  alle  Gefühle  und  Leiden- 
schaften nach  einer  einzigen  Richtung  dränge  und  so  den  Menschen 
einseitig  und  unfähig  mache,  ihm  Widerstand  zu  leisten,  wie  das  Wort, 
„der  keinen  Halt  besitzt",  es  ausdrückt.  Das  betreffende  Individuum 
hat  alle  Gewalt  über  sich  verloren,  seine  ganze  geistige  Entwicklung 
ist  gestört.  In  seiner  ersten  Komödie,  „Jedermann  in  seinem  Humor", 
hat  Jonson  erklärt  den  wahren  Zweck  der  Komödie  im  Auge  behalten 
zu  wollen: 

„Die  über  Menschentorheit  herzlich  lacht 
Nichts  mit  Verbrechen  sich  zu  schaffen  macht". 
Aber  er  verquickte  diesen  künstlerischen  Zweck  mit  einem  didak- 
tischen und  verfiel  in  einen  Ton  des  Moralisierens  von  der  Bühne 
herab,  der  ihm  in  Verbindung  mit  seiner  Selbstverherrlichung  und 
seiner  Streidust  viele  Feinde  zuzog.  Seine  2.  Komödie  „Jeder- 
mann aufser  seinem  Humor"  schrieb  er,  um  dadurch  darzutun,  dafs 
jeder  Humor  durch  sein  eignes  Ubermafs  zu  heilen  sei.  Aber  die 
Zänkereien  zwischen  ihm  und  der  Gruppe  von  Dichtern,  an  deren 
Spitze  Marston  und  Dekker  standen,  hatten  die  Wirkung,  dafs  sie  ihn 
veranlafsten,  seine  Farben  immer  dicker  aufzutragen.  Die  häfslichsten 
Laster  menschlicher  Natur  malte  er  ohne  mildernde  Züge.  Sein  „Vol- 
pone"  (1607)  zeigt,  dafs  er  bald  vergessen  hatte  über  menschliche 
Torheiten  zu  lachen,  dagegen  sich  wohl  mit  Verbrechen  zu  schaffen 
machte.  Sein  „Alchemist"  und  sein  „Gefoppter  Teufel"  (The  Devil 
is  an  Ass)  sind  Gemälde  hoffnungsloser  Verderbtheit  und  Torheit. 
Bei  solcher  Auffassung  des  Humors,  verbünden  mit  der,  sich  selbst 
auferlegten  Pflicht  von  der  Bühne  herab  Moral  zu  predigen,  war  es 
nicht  zu  erwarten,  dafs  Jonson,  der  gleich  anfangs  einen  falschen  Weg 
eingeschlagen  hatte,  sich  von  der  Idee  der  Humore  bis  zu  der  des 
Humors  erheben  würde.  Die  Macht,  welche  dies  in  Shakespeares 
Fall  zu  Wege  gebracht  hatte,  und  die  das  allein  bewirken  konnte, 
eine  innerliche  Sympathie  mit  seinen  eigenen  Schöpfungen,  stand  ihm 
nicht  zu  Gebote.  Er  setzte  seine  ganze  Kraft  in  das  Ausmalen  der 
von  ihm  entworfenen  Gemälde  menschlicher  Schwächen  und  Schlechtig- 
keiten, mit  der  redlichen  Absicht,  die  Menschen  durch  den  Anblick 
ihrer  eigenen  Sünden  mit  Abscheu  zu  erfüllen,  und  er  selbst  fühlt 
gegen    seine    Schöpfungen,    die   dazu   dienen  sollen,  die  Laster  seiner 


Humor  und  Humore.  81 


Zeit  zu  Strafen,  etwas  von  diesem  Abscheu.  Was  Jonson  auf  diese 
Weise  nicht  gelang,  gelang  eben  so  wenig  seinen  Zeitgenossen.  Die- 
jenigen von  ihnen,  die  seinen  Fufstapfen  folgen  wollten,  und  denen 
seine  streng  moralische  Absicht  fehlte,  schufen  Sittengemälde,  aber 
schilderten  nicht  Humore.  Die  Saite,  welche  Shakespeare  angeschlagen 
hatte,  verstummte  für  lange  Zeit. 

Die  in  der  englischen  Litteratur  häufig  vorkommenden  Ausdrücke, 
„Metaphysical  school",  „Classical  school",  weisen  auf  die  stetig  zu- 
nehmende Herrschaft  der  neuen  Richtung  in  der  Naturwissenschaft  und 
Philosophie,  die  schliefslich  das  Gefühlsleben  als  unberechtigten  Bestand- 
teil aus  der  Poesie  ausschied,  z.  B.  die  deistische  Philosophie.  Die 
kalte  Verstandespoesie  Drydens,  und  noch  mehr  Popes,  war  das  un- 
vermeidliche Resultat  einer  einseitigen  philosophischen  Richtung.  Bei 
den  Elisabetanern  war  die  Philosophie  noch  von  der  Religion  unzer- 
trennlich, aber  ihre  Nachfolger  arbeiteten  immer  eifriger  an  der 
Trennung  der  wissenschaftlichen  Forschung  und  des  religiösen  Glaubens. 
Die  neue  Schule  in  der  Naturwissenschaft  verlangte  vor  allem  genaue 
Sinnenbeobachtung.  Die  Weltordnung,  lehrte  sie,  existire  ohne 
Wunder  und  Willkür.  Darauf  gründete  Locke  (1632 — 1704)  sein 
philosophisches  System,  indem  er  die  angeborenen  Ideen  verneint  und 
alle  Erkenntnis  unmittelbar  oder  mittelbar  aus  den  Sinneneindrücken 
entstehen  läfst.  Shaftesbury  (1671— 1713)  schreitet  weiter  in  Lockes 
Fufstapfen  und  stellt  den  Kultus  des  Schönen  als  eigentliche  Lebens- 
aufgabe auf  Von  ihm  rührt  das  Goethesche  Wort  in  Wilhelm  Meister 
her,  jeder  Mensch  habe  die  Aufgabe,  der  Künstler  seines  eigenen 
Lebens  zu  werden.  Zur  Tugend  und  höchsten  Glückseligkeit  kommt 
nach  ihm,  wer  sich  zum  schönen  harmonischen  Menschen  ausbildet. 
Die  neue  Philosophie  nahm  an,  es  gäbe  eine  Natur-  oder  Urreligion, 
die,  im  Laufe  der  Zeit  verdunkelt,  von  Christus  wiederbelebt  wäre. 
Von  Neuem  durch  die  wiedereinbrechende  Finsternis  getrübt,  werde 
sie  nun  von  der  Philosophie  wiederhergestellt.  So  entstand  der 
Deismus. 

Dieses  System  führte  mit  Notwendigkeit  zu  einer  trockenen  Mo- 
ralphilosophie. Von  Lord  Chesterfield  zu  den  feinsten  Lebensmaximen 
zugespitzt,  wurde  dieselbe  von  französischen  Gedanken-Kolporteurs 
über  die  Welt  verbreitet.  Die  grofse  Schwäche  dieser  Philosophie 
war,  dafs  sie  das  Wesen  aller  Erkenntnis  zu  einseitig  auf  den  Ver- 
stand setzte.  Die  Forderungen  der  fühlenden  Seele  blieben  unbefriedigt. 
So  sammelte  sich  allmählich  eine  Menge  KrankheitsstofF  in  der  Litte- 


M  Robert  Boyle. 


ratur,  die  sich  um  1740  herum  plötzlich  Bahn  brach  in  solchen  Werken 
wie  Richardsons  Pamela,  Youngs  Nachtgedanken  (1742 — 1744)  und 
den  schwermütigen  Liedern,  die  Macpherson,  zwanzig  Jahre  später, 
Ossian  andichtete.  In  Frankreich  bemächtigte  sich  Rousseau  dieses 
neuen  Genres.  In  Deutschland  drohte  es,  bei  der  Vorliebe  dieses 
Volkes  sich  dem  Seelenleben  zuzuwenden,  alles  mit  seinen  trüben 
Fluten  zu  verdecken.  Auch  der  junge  Goethe  mufste  die  Krankheit 
durchmachen,  die  ihre  Spuren  im  Werther  hinterlassen  hat.  Dieses 
neue  Genre,  das  sentimentale,  knüpft  sich  in  der  englischen  Litteratur 
an  zwei  Namen,  Richardson  und  Sterne.  Richardson  ist  der  eigent- 
liche Schöpfer  des  englischen  Romans,  der  die  Nachfolge  des  Elisa- 
betanischen  Dramas  antrat,  und  sich  wie  dieses  die  Aufgabe  stellte 
den  Ideen  und  Stimmungen,  die  die  menschliche  Gesellschaft  bewegten, 
den  Spiegel  vorzuhalten.  Addison  und  Steele  hatten  einzelne  humo- 
ristische Typen  aus  der  Gesellschaft  geschildert,  aber  Richardsons 
Pamela  ist  der  erste  gelungene  Versuch  die  einzelnen  Figuren  um 
einen  Centralpunkt  zu  gruppieren.  Trotz  eines  tiefen  Einblicks  in 
die  Geheimnisse  des  Menschenherzens  bleibt  Richardson  durch  seinen 
Mangel  an  Humor  auffallend  trocken.  Diesen  Umstand  benutzte  Fiel- 
ding um  den  weinerlichen  Ton  des  neuen  Werkes  in  Joseph  Andrews 
(1742)  auszulachen.  Aber  nicht  einmal  sein  homerisches  Gelächter 
konnte  den  Ausdruck  einer  krankhaften  Stimmung  aufhalten,  die  sich 
so  lange  angesammelt  hatte.  Immerhin  bildet  Fieldings  Tom  Jones 
mit  seinem  erfrischenden,  kräftigen,  wenn  auch  etwas  derben  Humor, 
eine  grüne  Insel  inmitten  der  trüben,  gelben  Fluten  des  Stromes  der 
sentimentalen  Litteratur.  Sterne  in  seinem  Tristram  Shandy  und  der 
Empfindsamen  Reise  (1759 — 1768)  bildet  in  England  den  Gipfel- 
und  Wendepunkt  der  sentimentalen  Richtung.  Goldsmith  und  die 
späteren  Vertreter  des  Romans,  zeigen  uns,  dafs  mit  Sterne  die  Krank- 
heit eine  günstige  Wendung  genommen  hatte. 

Sterne  verbindet  die  Sentimentalität  Richardsons  mit  einem  ihm 
eigenen  Humor,  der  nicht  frei  von  Effekthascherei  ist.  Man  hat  bei 
ihm,  wie  bei  Heine,  die  unbehagliche  Empfindung,  als  ob  er  ein 
frivoles  Spiel  mit  den  Gefühlen,  die  er  erregt,  treibe.  Er  weckt  nur 
allzu  oft  unser  Interesse,  fordert  unsere  Teilnahme  für  eine  ver- 
schleierte Gestalt,  und,  wenn  er  den  Schleier  zurückschlägt,  sehen 
wir  eine  häfsliche,  höhnische,  grinsende  Fratze.  Aber  trotz  unseres 
Unwillens  über  seine  tollen  Sprünge  und  seine  Effekthascherei,  fesselt 
er  uns  durch  seine  tiefe  Weltkenntnis,  seine  schöne  Darstellungsgabe, 


Humor  und  Humore.  28 


und,  in  seinen  ungetrübten  Augenblicken,  durch  seine  Herrschaft  über 
die  Gefühle.  Durch  die  Verbindung  des  Humors  mit  dem  Sentimen- 
talen hatte  Sterne  in  dieser  Weise  eine  neue  litterarische  Art  —  den 
humoristischen  Roman  —  geschaffen.  Dieser  befreite  die  englische 
Litteratur  von  dem  Krankheitsstoff,  der  sich  angesammelt  hatte.  In 
Deutschland  aber  war  die  Herrschaft  des  Weltschmerzes  eine  weit 
ausgedehntere  und  tiefergreifende,  als  die  des  Sentimentalen  in 
England.  Daher  übte  auch  die  Verbindung  des  Weltschmerzes  mit 
dem  Humor,  wie  wir  sie  bei  Jean  Paul  finden,  einen  viel  nachhaltigeren 
Einflufs  auf  die  deutsche  Litteratur,  als  Sterne  auf  die  englische,  aus. 

Die  weltschmerzliche  Stimmung  bemächtigte  sich  des  heuen  engli- 
schen Genres  mit  grofser  Begierde,  und  unter  Hippel  und  Jean  Paul 
wurde  sie  weiter  ausgebildet  und  vertieft. 

Da  es  dem  Schreiber  dieser  Zeilen  unmöglich  ist  die  Entwickelung 
des  Humors  in  der  deutschen  Litteratur  auch  nur  skizzenhaft  darzu- 
stellen, möge  es  ihm  erlaubt  sein,  mit  seinem  unmafsgeblichen  Urteil 
über  Jean  Paul,  der  ja  die  letzte  und  reifste  Phase  in  der  Entwicke- 
lung des  Humors  darstellt,  zu  schliefsen. 

Jean  Paul  ist,  soweit  einem  Nicht-Deutschen  ein  Urteil  möglich, 
weit  wahrer  und  tiefer  wie  Sterne.  Er  übertrifft  ihn  an  Geisteskraft, 
an  Ernst  der  Überzeugung  und  an  Hoheit  des  sittlichen  Strebens. 
Sternes  ganzes  Wesen  ist  von  dem  giftigen  Hauch  einer  ungesunden 
Zeit  durchdrungen.  Jean  Paul  ist  ein  echter  Dichter  mit  einer  blühen- 
den Fantasie,  verbunden  mit  einem  warmen  Gemüt.  Aber  er  hat 
nicht  die  Welt-  und  Menschenkenntnis,  die  Sterne  besitzt,  und  kommt 
ihm  an  Darstellungstalent  nicht  gleich.  Auch  scheint  sein  Humor  nicht 
so  kernig  zu  sein  wie  der  Sternes,  ja  man  findet  oft  sogar  etwas 
weiches,  weibisches  darin.  Wenn  dieses  einerseits  ein  Nachteil  ist,  hat  er, 
meiner  Ansicht  nach,  auch  andererseits  viel  dazu  beigetragen,  den 
Humor  seiner  Nachfolger  humaner  zu  gestalten,  indem  er  ihn  mit  der 
allgemeinen  Menschenliebe  beseelte,  die  unseren  englischen  Humoristen 
des  i8.  Jahrhunderts  unbekannt  war. 


Für  die  vorliegende  Arbeit  habe  ich  einen  ungedruckten  Vortrag 
über  „Humor  und  Humoristen"  von  J.  A.  Gelbcke,  sowie  Lewes' 
„Spanish  Drama**  und  einen  Aufsatz  von  Ebert  benutzt. 

St.  Petersburg. 


•••- 


Nochmals  Penthesilea*). 

Von 
Hubert  Roetteken. 


Die  Vierteljahrschrift  für  Litteraturgeschichte  brachte  im  Schlufsheft 
ihres  sechsten  Bandes  einen  Aufsatz  von  Niejahr,  in  dessen  drittem 
Teile  der  Verfasser  nachzuweisen  sucht,  dafs  Kleist  in  einer  älteren 
Ausarbeitung  seiner  Penthesilea  der  gewöhnlichen  Version  der  Sage 
mit  dem  Tode  der  Amazone  durch  die  Hand  des  Achilles  gefolgt 
sei;  erst  später  habe  der  Dichter  sich  an  die  andere  Version  gehalten. 
Diese  andere  Version  beherrsche  die  Scenen  14  bis  zum  Schlufs,  wo- 
gegen die  früheren  Scenen  vielleicht  sämtlich  dem  älteren  Entwürfe 
angehören.  Freilich  seien  Scene  9 — 13  umgearbeitet,  um  den  An- 
schlufs  des  folgenden  zu  ermöglichen,  aber  nicht  alle  Widersprüche 
mit  der  zweiten  Hälfte  des  Stückes,  nicht  alle  Spuren  der  ursprüng- 
lichen Absicht  seien  herausgebracht.  Ausschlaggebend  für  die  Frage 
seien  der  achte  und  neunte  Auftritt. 

Im  achten  Auftritt  erfahren  wir  durch  Botenbericht  einer  Obersten, 
dafs  Penthesilea  vom  Speere  des  Achill  getroffen  das  Bewufstsein 
verloren  hat,  ferner  dafs  Achilles  von  Liebe  zu  ihr  ergriffen  ist  und 
sie  ins  Leben  zurückgelockt  hat;  dann  aber  ist  sie  ihm  entrissen  und 
in  die  hinteren  Reihen  des  Heeres  geführt,  wo  sie  sich  erholt,  während 
er  unbewaffnet  ihr  zu  folgen  sucht.  Im  neunten  Auftritt  kommt 
Penthesilea  selbst  auf  die  Bühne,  matt,  energielos,  und  bald  „Irrgeschwätz 
von  bleichen  Lippen  sendend";  schliefslich  fallt  sie  wieder  in  Ohnmacht. 
Achilles  tritt  auf  und  schützt  sie  vor  der  Rache  der  vorüberstürmenden 
Griechen.  Niejahr  meint  nun,  Penthesilea  sei  offenbar  in  dem  Kampfe 
mit  Achilles    tötlich  getroffen,    so  dafs    also    der    ganze  Hergang  im 


*)  Vgl.  Bd.  VII  S.  3  8  f. 


Nochmals  Penthesilea.  85 


wesentlichen  mit  der  bekannten  Sagenversion  übereinstimmte  und  eben 
nur  noch  der  Tod  der  Amazone  fehlte. 

Es  kommt  also  darauf  an,  ob  die  Verwundung  Penthesileas,  von 
der  wir  im  Auftritt  8  hören,  wirklich  als  tötlich  zu  betrachten  ist 
Niejahr  stellt  die  allgemeine  Reflexion  an,  die  Aufnahme  jener  in  Poesie 
und  Bild  so  mannigfach  verherrlichten  Scene  habe  nur  Sinn  gehabt, 
wenn  sie  auch  die  in  der  Sage  ihr  angewiesene  Stellung  behauptete. 
Ich  mufs  gestehen,  dafs  dieses  für  mich  nicht  die  geringste  Über- 
zeugungskraft hat.  Wenn  etwa  Kleist  aus  irgend  welchen  Gründen 
eine  Liebe  des  Achilles  zur  Penthesilea  willkommen  war,  so  bot  die 
Scene  das  bequemste  Mittel,  sie  entstehen  zu  lassen;  und  auf  dieses 
gegebene  Mittel  zu  verzichten  nur  aus  dem  Grunde,  weÜ  das  Publikum 
einen  anderen  Ausgang  der  Scene  erwartete,  dazu  war  Kleist  wohl 
schwerlich  der  Mann.  Er  hat  ja  doch  schliefslich  sein  Stück  so  ge- 
endet, wie  es  jetzt  vorliegt,  und  wie  es  den  gewöhnlichen  Anschauungen 
über  den  Ausgang  der  Penthesileaepisode  widerspricht! 

Niejahr  meint,  auch  der  Wortlaut  der  betreffenden  Stelle  in  dem 
Bericht  der  Obersten  (1122 — 1142)  spreche  für  eine  tötliche  Verwun- 
dung. In  der  Tat  sagt  die  Oberste,  Penthesilea  sei  im  Kampfe  ge- 
fallen*). Aber  als  Kleist  im  Phöbus  eine  Reihe  von  Fragmenten  des 
Dramas  mitteilte,  führte  er  die  neunte  Scene  mit  den  Worten  ein: 
Penthesilea  kann  ihres  Gegners  nicht  mächtig  werden.  Sie  ist  im 
Kampfe  mit  dem  Achill  gefallen,  man  hat  sie  aus  seinen  Händen 
gerettet  u.  s.  w.  Man  kann  unmöglich  annehmen,  dafs  Kleist  hier 
beim  Niederschreiben  dieser  offenbar  speziell  für  die  fragmentarische 
Veröffentlichung  verfafsten  Notiz  so  sehr  in  den  Bann  seines  früheren 
Planes  oder  des  Wortlautes  von  Vers  1 1 1 7  zurückgefallen  sein  sollte, 
um  etwas  zu  schreiben,  was  mit  gleichzeitig  im  selben  Heft  veröffent- 
lichten Scenen  im  Widerspruch  stände,  und  da  das  Heft  auch  Scenen 
aus  dem  zweiten  TeÜ  bringt,  so  kann  „gefallen"  hier  nur  soviel 
heifsen,  als  „niedergeworfen,  besiegt"  —  jedenfalls  ohne  tötliche  Ver- 
wundung. Diese  allgemeinere  Bedeutung  ist  dann  natürlich  auch  für 
Vers  II 17  möglich.  —  Ferner  kommt  in  Betracht  Vers  1127:  sie  sinkt, 
die  Todumschattete,  vom  Pferde.  Aber  todumschattet  kann  in  ge- 
hobener und  namentlich  in  Kleists  oft  superlativischer  Sprache  wohl 
jeder  heifsen,  der  das  Bewufstsein  verliert,  wofür  mir  freilich  ein  Beleg 


*)  Vers  II 17,  also  aufserhalb  der  von  Niejahr  hervorgehobenen  Stelle.     Doch  ist 
es  wohl  nicht  überflüssig,  auch  diesen  Ausdruck  zu  berücksichtigen. 


96  Hubert  Roetteken. 


nicht  zur  Hand  ist«  Immerhin  fuhrt  es  wenigstens  in  dieselbe  Sfäre, 
wenn  der  durch  Penthesileas  Blick  erschütterte  Achilles  „ein  Todes- 
schatten^  genannt  wird.  —  Dafs  Achilles  bei  dieser  Gelegenheit  aus- 
ruft: was  für  ein  Blick  der  Sterbenden  traf  mich!  kann  auch  nichts  be- 
weisen, da  Achilles  in  dem  Augenblick  und  noch  dazu  in  seiner  Er* 
regimg  gar  nicht  imstande  ist  festzustellen,  wie  es  mit  Penthesilea 
steht.  Er  sieht  sie  hinsinken  und  das  Bewufstsein  verlieren,  da  mag 
er  glauben,  sie  sterbe.  —  Der  Ausdruck  endlich  „mit  zerrissener  Brust" 
ist  viel  zu  allgemein,  als  dafs  man  daraus  Schlüsse  auf  eine  tötliche 
Verwundung  ziehen  könnte. 

Ich  finde  also  in  dem  Botenbericht  der  Obersten  nichts,  wodurch 
Niejahrs  Ansicht  bewiesen  würde ;  dagegen  spricht  mit  voller  Bestimmt- 
heit gegen  diese  Ansicht  der  Vers  1125;  Die  Lanzen,  schwächer  als 
die  Brüste,  splittern.  Es  ist  wohl  klar,  dafs  die  Lanzen  nur  dann 
„schwächer  als  die  Brüste"  genannt  werden  können,  wenn  sie  die 
Brüste  nicht  durchbohren,  sondern  vom  Brustpanzer  gehemmt  werden. 
Dabei  mag  der  Panzer  bersten  und  die  durchdringende  Lanzenspitze 
vielleicht  die  Brust  oberflächlich  ritzen  oder  es  mögen  auch  durch  den 
berstenden  Panzer  selbst  Abschürfungen  erfolgen:  ein  tieferes  Ein- 
dringen der  Lanzenspitze,  wie  es  zu  tötlicher  oder  auch  nur  schwerer 
Verwundung  nötig  wäre,  ist  jedenfalls  durch  den  Wortlaut  des  Verses 
ausgeschlossen.  Am  meisten  leidet  Penthesilea  dann  durch  den  starken 
Stols,  der  sie  trifft  und  durch  den  wohl  eine  Quetschung  des  Busens 
bewirkt  wird;  dazu  kommt  noch  der  Sturz  vom  Pferde,  und  beides 
reicht  vollkommen  aus,  um  Penthesileas  kurze  Ohnmacht  zu  erklären. 

Mit  dieser  Auffassung,  welche  durch  Vers  1125  nötig  gemacht 
wird  und  welcher  die  vorhin  erörterten  Ausdrücke  keine  Schwierig- 
keiten in  den  Weg  stellen,  stimmen  die  übrigen  Angaben  der  achten 
Scene  aufs  beste  überein.  Penthesilea  wird  den  hinteren  Reihen  zu- 
geführt „röchelnd,  mit  zerrissener  Brust,  das  Haar  verstört  vom  Scheitel 
niederflatternd"  —  aber  mit  keinem  Worte  erwähnt  die  Oberste,  dafs 
die  Königin  auch  von  Blut  überströmt  gewesen  sei.  Ebenso  ist  nicht 
davon  die  Rede,  dafs  Penthesilea  verbunden  worden  sei,  es  heifst 
nur,  dafs  sie  sich  erholt  habe  —  offenbar  von  den  ersten  Folgen 
des  Stofses  und  Sturzes. 

Aus  der  neunten  Scene  hebt  Verfasser  besonders  die  Verse 
1296  — 1337  hervor.  Prothoe  drängt  die  Königin  zur  Flucht  und 
erwidert  auf  deren  Frage  nach  dem  wohin,  Penthesilea  möge  nach 
Pharsos   gehen,    wo   sie   das  jetzt   zerstreute  Amazonenheer   wieder 


Nochmals  Penthesflea.  97 


gesammelt  finden  werde:  dorthin  habe  sie,  Prothoe,  es  gewiesen. 
Penthesilea  könne  dann  dort  ruhen  und  am  folgenden  Tage  den  Kampf 
erneuern.  Niejahr  meint  nun,  hier  werde  von  Pharsos  als  einem  für 
den  Verlauf  des  Krieges  besonders  wichtigen  Ort  gesprochen,  und 
doch  komme  eine  Beziehung  auf  ihn  in  dem  ganzen  Stück  sonst  nicht 
vor.  Femer  findet  er  einen  Widerspruch  zwischen  der  Angabe  der 
Prothoe,  sie  habe  das  ganze  Heer  nach  Pharsos  gewiesen,  und  dem 
Inhalt  der  folgenden  Auftritte,  wo  die  Amazonen,  und  nicht  nur  ein 
kleineres  Gefolge,  wieder  in  der  Nähe  der  Penthesilea  gedacht  werden 
müfsten.  Hieraus  schliefst  er,  dafs  die  Stelle  ursprünglich  für  einen 
anderen  Zusammenhang  bestimmt  gewesen  sei;  S.  545  weist  er  sie 
ausdrücklich  dem  früheren  Entwurf  zu,  dem  die  Wiederbefreiung  der 
Königin  durch  die  Amazonen  fremd  gewesen  sei. 

Die  Verse  sind  ja  nun  aber  völlig  unvereinbar  mit  der  Annahme 
einer  vorhergegangenen  schweren  oder  gar  tötlichen  Verwundung  der 
Penthesilea.  Nur  eine  Nacht,  meint  Prothoe,  soll  Penthesilea  ruhen 
und  ihrer  „Wunden"  pflegen,  am  folgenden  Morgen  wird  sie  wieder 
kampffähig  sein.  Die  Verse  machen  durchaus  den  Eindruck,  dafs  sie 
Prothoes  wirkliche  Meinung  enthalten  und  nicht  etwa  blofs  gesprochen 
werden,  um  Penthesilea  zu  trösten  und  ihr  Mut  zuzusprechen;  und  sie 
wären  auch  sehr  wenig  geeignet  dazu.  Kein  halbwegs  verständiger 
Mensch  wird  so  etwas  zu  einem  durch  einen  Lanzenstofs  schwer  Ver- 
wundeten sagen,  denn  dieser  wird  doch  seine  eigene  Wunde  soweit 
beurteilen  können,  um  zu  wissen,  dafs  er  am  folgenden  Tage  und 
wahrscheinlich  für  viele  Tage  kampfunfähig  sein  wird,  und  er  wird 
solche  Worte,  wie  Prothoe  sie  spricht,  als  törichtes  Gerede  abweisen. 
Ich  betrachte  also  als  sicher,  dafs  nach  Prothoes  wohl  mafsgebender 
Ansicht  Penthesileas  Wunden  leicht  sind  und  die  ganzen  störenden 
Folgen  ihres  Unfalles  durch  die  Ruhe  einer  Nacht  sich  beseitigen 
lassen.  Niejahrs  erstem  Entwurf  können  daher  die  Verse  nicht  an- 
gehört haben. 

Was  die  Schwierigkeit  mit  Pharsos  anlangt,  so  mufs  hier  zunächst 
die  Fassung  von  M.  verglichen  werden,  wo  Prothoes  Angabe,  sie 
habe  das  Heer  nach  Pharsos  gewiesen,  fehlt.  Prothoe  sucht,  über- 
einstimmend mit  der  späteren  Fassung,  Penthesilea  zur  Flucht  zu  be- 
wegen und  nennt  als  Ziel  der  Flucht  Thermidora,  wo  Penthesilea 
ruhen  und  des  Heers  zerstreute  Splitter  sammeln  könne.  Offenbar 
läfst  Kleist  den  Ort  nennen,  weil  die  Aufforderung,  an  einen  bestimmten 
Ort  zu  gehen  und  dort  bestimmte  Tätigkeiten  vorzunehmen,    eindring- 


88  Hubert  Roetteken. 


lieber  ist  als  die  allgemeine  Ermahnung,  zu  fliehen,  und  als  er  den 
Namen  niederschrieb  mag  er  flüchtig  an  einen  Ort  gedacht  haben,  der 
zum  Sammeln  des  Heeres  besonders  günstig  gelegen  und  den  Amazonen 
etwa  von  einem  früheren  Nachtquartier  oder  auch  nur  vom  Durchzug 
her  bekannt  sei.  Als  natürlicher  Sammelpunkt  erscheint  Thermidora 
dann  auch  in  M.  42  b  (Zolling  S.  354),  wo  die  von  Diomedes  be- 
drohten Amazonen  fliehen  und  eine  Heerfuhrerin  die  Losung  ausgebt: 
Zu  Thermidora  sammeln  wir  uns  wieder.  Erst  bei  der  Druckfassung 
hat  dann  Kleist  die  Aufforderung  der  Heerfuhrerin  gestrichen  und  die 
Weisung  des  Prothoe  erdichtet  —  aus  welchen  Gründen  will  ich  nicht 
versuchen  zu  erraten. 

Niejahrs  Bedenken,  dafs  Pharsos  von  Prothoe  als  ein  für  den 
Verlauf  des  Krieges  besonders  wichtiger  Ort  genannt  werde,  während 
sonst  niemals  im  Stück  von  ihm  die  Rede  sei,  erledigt  sich  danach 
wohl  von  selbst:  Kleist  hat  ihn  sicher  nicht  als  irgendwie  wichtig  be- 
trachtet. Auch  der  von  Niejahr  gerügte  Widerspruch  zwischen  Pro- 
thoes  Aufserung  und  der  Anwesenheit  der  Amazonen  in  den  folgenden 
Scenen  ist  in  M.  sicher  nicht  vorhanden,  denn  hier  wird  erst  in 
der  zwölften  Scene  den  dort  anwesenden  Amazonen  die  Weisung  ge- 
geben, sich  in  Thermidora  zu  sammeln*). 

Aufserdem  aber  irrt  Niejahr,  wenn  er  meint,  es  seien  in  den  auf 
Scene  IX  folgenden  Auftritten  „die  Amazonen  und  nicht  blofs  ein 
kleineres  Gefolge"  wieder  in  der  Nähe  der  Penthesilea  zu  denken. 
Ein  kleineres  Gefolge  ist  es  freilich  nicht,  aber  das  ganze  Heer  der 
Amazonen  ist  es  auch  nicht,  wie  aus  der  einleitenden  Regiebemerkung 
zur  zehnten  Scene  deutlich  hervorgeht:  Kleist  spricht  da  ausdrücklich 
von  einer  auftretenden  Schar  von  Amazonen,  während  er,  wo  er  das 
ganze  Heer  meint,  auch  den  entsprechenden  Ausdruck  braucht:  ver- 
gleiche die  einleitenden  Bemerkungen  zur  vierten  Scene  (das  Heer  der 
Griechen),  zur  fünften  Scene  (das  Amazonenheer),  zur  zwölften  Scene 
(Ulysses  mit  dem  Heere),  zur  siebzehnten  und  achtzehnten  Scene.  Die 
Amazonenschar  des  zehnten  Auftritts  wird  nun  auch  schon  an  früheren 
Stellen  vorausgesetzt.  Eine  nicht  unbeträchtliche  Schar  mufs  es  doch 
sein,  die  den  Achilles  so  lange  aufhält,  dafs  die  neunte  Scene  möglich 
wird,  und  auch  schon  in  dem  Botenbericht  der  Obersten  giebt 
wenigstens   M.    ausdrücklich    an,    Achilles    folge    der    Königin    „der 


*)  Auch  die  Weisung  der  Prothoe  ist  abrjg:e]is  mit  dem  folgenden  vereinbar,  was 
hier  auf  sich  beruhen  möge. 


Nochmals  Penthesilea.  29 


Jungfraun  dichte  Schar  durchstrebend".  Wenn  nun  in  demselben 
Botenbericht  die  Oberste  sagt,  das  ganze  Heer  sei  zerstreut,  wenn 
später  Prothoe  gleichfalls  von  dem  zerstreuten  Heere  spricht  (des 
Heers  zerstreute  Splitter,  M.)  so  kann  das,  wie  die  Sache  liegt, 
nichts  anderes  heifsen  als  dafs  beim  oder  bald  nach  dem  Sturz  der 
Penthesilea  ein  Teil  der  Amazonen  die  Flucht  ergriflfen  hat,  eben  jene 
Schar  aber  Stand  hält,  vielleicht  auch  nicht  in  bester  Ordnung,  aber 
doch  kämpfend  und  nur  Schritt  nach  Schritt  zurückweichend.  Auch 
wenn  das  Heer  sich  in  solchem  Zustande  befindet,  kann  man  sagen, 
es  sei  zerstreut'*'),  und  irgend  welche  Schwierigkeiten  sind  dann  nicht 
vorhanden. 

Wie  sich  nun  Kleist  das  Wiedersammeln  dieses  Heeres  gedacht 
hat,  hat  er  uns  nicht  deutlich  gesagt  und  es  ist  überhaupt  nicht  aus- 
zumachen, wie  weit  er  sich  das  ausgemalt  hat.  Vorstellen  kann  man 
es  sich  jedenfalls  recht  wohl,  und  zwar  müfste  man  etwa  folgendes 
annehmen:  Die  Amazonen,  die  zuerst  flohen,  sind  nicht  bis  nach 
Thermidora-Pharsos  geeilt,  sondern  haben  sich  auf  einem  entfernteren 
Teil  des  Schlachtfeldes  gesammelt.  Die  Oberpriesterin,  Asteria  und 
andere  Führerinnen  mögen  hier  gewirkt  haben;  begünstigt  mufste  das 
Unternehmen  dadurch  werden,  dafs  nicht  nur  Achilles,  sondern  auch 
Diomedes  und  Ulysses  sich  wie  es  scheint  nur  um  Penthesilea  selbst 
kümmerten.  So  hat  vielleicht  die  in  der  zwölften  Scene  auseinander- 
stiebende Amazonenschar  schon  wieder  gesammelte  Heeresmassen  ge- 
troffen, die  sie  aufnehmen  konnten.  Meroe  übernimmt  dann  wohl  die 
Führung  und,  in  der  achtzehnten  Scene  kann  das  „Heer"  der  Ama- 
zonen wieder  auftreten.  So  ist  die  Wiederbefreiung  der  Penthesilea 
mit  den  Versen  1296  ff.  vollkommen  vereinbar.  —  Zum  Kampfe  mögen 
die  letzten  Reserven  herangezogen  imd  auch  die  Wachen  der  Ge- 
fangenen soweit  vermindert  sein,  dafs  diese  zu  entfliehen  vermochten 
und  die  Oberpriesterin  der  Penthesilea  2327  mit  Recht  vorwerfen 
kann,  um  ihretwillen  seien  die  Gefangenen  eingebüfst.  So  würde  sich 
auch  Niejahrs  Bedenken  erledigen,  dafs  die  Gefangenen  erst  bei  dem 
Siege  der  Amazonen  entkommen  sind  und  nicht  schon  bei  ihrer 
Niederlage. 

*)  Kleist  lälst  den  Ausdruck  sogar  noch  3409  brauchen,  wo  also  das  «Heer**  der 
Amazonen  wieder  aufgetreten  ist  und  Penthesilea  befreit  hat:  Wir  sind  zerstreut,  ge- 
schwächt. —  So  würde  aus  dem  blofsen  Ausdruck  „zerstreut**  noch  nicht  einmal  folgen, 
dafs  ein  gröiserer  Teil  des  Heeres  geflohen  wäre;  aber  dais  dieses  anzunehmen  ist,  geht 
daraus  hervor,  dafs  eben  im  zehnten  Auftritt  nur  eine  Schar  von  Amazonen  auftritt. 


80  Hubert  Roetteken. 


Die  vorstehenden  Ausfuhrungen  waren  veranlafst  durch  Niejahrs 
Bemerkungen  über  einige  Verse  der  neunten  Scene  und  wir  müssen 
bei  dieser  Scene  noch  etwas  länger  verweilen.  Sie  bringt  keinen 
dramatischen  Fortschritt  sondern  ist  reine  Situationsscene,  nur  dazu 
da,  Penthesileas  Zustand  nach  der  Besiegung  zu  schildern,  und  zwar 
fast  ausschliefslich  ihren  Gemütszustand:  von  ihrem  körperlichen  Zu- 
stand erfahren  wir  direkt  sehr  wenig  und  nichts  irgend  bestimmtes. 
Die  Regiebemerkung  im  Phöbus  nennt  sie  bleich,  zum  Versinken 
matt;  in  der  Druckfassung  wird  sie  von  zwei  Amazonen  gefuhrt  und 
spricht  mit  schwacher  Stimme.  Aber  so  kraftlos  ist  sie  doch  nicht, 
dafs  sie  nicht  die  Rosenkränze  zerhauen  könnte,  und  wenn  sie  nachher 
behauptet,  nicht  stehen  zu  können,  (soll  das  Gebein  mir  brechen?)  so 
beruht  dieses  Gefühl  körperlicher  Schwäche  schwerlich  allein  öder  auch 
nur  überwiegend  auf  wirklich  körperlicher  Ermüdung,  sondern  ist  zum 
g^ofsen  Teil  durch  ihren  geistigen  Zustand  bedingt.  Ebenso  ist  es 
bei  den  Schmerzen  von  1291  zum  mindesten  ungewifs,  ob  sie,  soweit 
sie  vom  Körper  ausgehen,  ausreichen  würden,  um  Penthesileas  Tränen 
fliefsen  zu  machen,  und  ob  nicht  diese  Tränen  zum  gröfsten  Teil  auf 
die  Rechnung  seelischer  Schmerzen  kommen.  Sonst  spricht  Penthe- 
silea  noch  von  ihrer  zerschmetterten  Brust  und  Prothoe  deutet  Bluts- 
tropfen an  1 313.  In  den  späteren  Scenen,  um  auch  das  gleich  zu  er- 
wähnen, spricht  Prothoe  von  Penthesileas  zerissener  Brust  und  ihren 
verwundeten  Gliedern;  alles  das  giebt  zur  Beurteilung  der  Frage  nach 
der  Art  ihrer  Verwundung  keine  Anhaltspunkte.  —  In  psychischer 
Hinsicht  sehen  wir  Penthesilea  zuerst  beherrscht  von  einer  Erreg^ung, 
in  der  ein  heftiger  Schmerz  sich  durch  Zomausbrüche  und  wilde 
Klagen  Luft  zu  machen  sucht:  unterbrochen  durch  einen  kurzen  Ver- 
such, sich  gewaltsam  zu  fassen,  hören  wir  sie  leidenschaftliche  Befehle 
zur  Vernichtung  des  Achilles  ausstoßen,  über  dessen  Feindseligkeit 
klagen,  die  Voreiligkeit,  mit  der  das  Rosenfest  gerüstet  wurde,  ver- 
fluchen, und  dem  ganzen  Frühling,  der  ganzen  Welt  den  Untergang 
wünschen.  Mit  dem  jammernden  Ausruf  „O  Aphrodite"  bricht  sie 
zusammen,  matt  bis  in  den  Tod,  bereit  zu  sterben,  bereit  diesen  Leib, 
der  den  Geliebten  nicht  reizte,  zum  Frafs  den  Hunden  und  Vögeln 
hingeben  zu  lassen.  Indem  sie  sich  so  gegen  ihren  eigenen  Leib 
wendet,  dann  gegen  den  Schmuck  der  ihr  nichts  genützt  hat,  gegen 
die  Dienerinnen,  die  ihr  beim  schmücken  mit  ihrer  Schönheit  ge- 
schmeichelt haben,  erhitzt  sie  sich  noch  einmal  zu  leidenschaftlichen 
Worten  und  Verwünschungen,  um  dann  in  jenen  Zustand  der  Mattig- 


Nochmals  Penthesflea.  81 


keit  zurückzufallen :  sie  klagt  nicht  mehr,  aber  es  ist  ihr  auch  alles  gleich- 
gültig, keine  Vorstellung  hat  mehr  den  Wert  eines  Motivs  für  sie. 
Sie  fragt  wohl,  was  sie  tun  müfste,  wenn  sie  noch  fliehen  wollte,  aber 
als  die  Antwort  erfolgt,  ist  sie  doch  nicht  fähig,  einen  Entschlufs  zu 
fassen,  und  während  Prothoe  noch  weiter  spricht  bleibt  ihr  Blick  an 
der  Sonne  hängen,  auf  die  er  zufallig  gelenkt  wurde,  und  sie  meint 
in  ihr  den  unerreichbaren  Geliebten  wiederzuerkennen.  Im  folgenden 
giebt  die  Regiebemerkung  an,  dafs  Penthesilea  sich  sammle,  und  sie 
fragt  dann  nach  dem  Wege;  aber  es  handelt  sich  nicht  um  ein  wirk- 
liches Aufraffen  und  volle  Klarheit,  sondern  sie  folgt  nur  endlich 
mechanisch  der  im  vorhergehenden  mehrfach  wiederholten  AuflForderung 
der  Prothoe  mitzukommen.  Die  Verwechselung  der  Sonne  mit  dem 
Geliebten  bleibt  dabei  bestehen,  und  bald  umdunkelt  sich  Penthesileas 
Bewufstsein  immer  mehr:  sie  möchte  den  Ida  auf  den  Ossa  stellen, 
sie  will  sich  in  den  Flufs  stürzen,  wo  sie  das  Spiegelbild  der  Sonne 
sieht,  und  endlich  sinkt  sie  bewufstlos  in  Prothoes  Arm. 

Es  fragt  sich  nun,  wie  Kleist  sich  diesen  Zustand  verursacht 
dachte.  Offenbar  spielt  die  Verwundung  kaum  eine  Rolle  dabei. 
Prothoe  lä&t  es  zwar  1482  unentschieden,  ob  die  Ohnmacht  durch 
den  Schmerz  der  verwundeten  Glieder  oder  den  der  verletzten  Seele 
herbeigeführt  wurde,  aber  es  ist  doch  in  der  neunten  Scene  von  den 
Verletzungen  zu  wenig  die  Rede,  als  dafs  man  einen  besonderen  Ein- 
flufs  von  ihnen  annehmen  sollte.  Überdies  läfst  sich  die  Ohnmacht 
von  den  vorhergehenden  Zuständen  der  Willenlosigkeit  und  des  „Irr- 
geschwätzes** nicht  trennen,  und  dafs  Kleist  diese  durch  leichte  Ver- 
wundungen sich  herbeigeführt  gedacht  hätte,  ist  doch  sehr  unwahr- 
scheinlich. Für  Penthesileas  geistigen  Zustand  macht  Prothoe  zuerst 
den  Sturz  verantwortlich,  11 95,  aber  nachher  weifs  sie  Penthesileas 
Unfähigkeit,  sich  zur  Flucht  aufzuraffen,  anders  zu  erklären: 

Des  Lebens  höchstes  Gut  erstrebte  sie, 

Sie  streift*,  ergriff  es  schon:  die  Hand  versagt  ihr, 

Nach  einem  andern  noch  sich  auszustrecken. 
Und  damit  stimmt  Penthesileas  eigene  Aufserung: 

Wenn  es  mir  möglich  war!    Wenn  ichs  vermöchte  I 

Das  Aufserste,  was  Menschenkräfte  leisten, 

Hab'  ich  getan.  Unmögliches  versucht,  •  .  . 

Mein  Alles  hab*  ich  an  den  Wurf  gesetzt; 

Der  Würfel,  der  entscheidet  liegt,  er  liegt; 

Begreifen  mufs  ichs  und  dafs  ich  verlor. 


82  Hubert  Roetteken. 


Das  ist  offenbar  die  Hauptsache:  die  verzweiflungsvolle  Gewifs- 
heit,  dafs  sie  das  höchste  Ziel  nicht  erreichen  kann,  dafs  ihr  Leben 
keinen  Inhalt  mehr  hat,  die  bringt  Penthesilea  von  Sinnen,  und  dem 
Sturze  kann  Kleist  höchstens  die  Wirkung  zugeschrieben  haben,  dais 
er  Penthesileas  physische  und  geistige  Kraft  überhaupt  schwächt  und 
somit  die  verheerende  Wirkung  ihrer  seelischen  Schmerzen  erleichtert 

Gehen  wir  nun  zur  Betrachtung  der  vierzehnten  und  fünfzehnten 
Scene  über.  Der  Anstofs,  den  Niejahr  daran  nimmt,  dafs  Penthesilea 
plötzlich  wie  von  Lebenskraft  und  Lebensmut  überschäume  und  von 
ihrer  Verwundung  im  folgenden  nicht  mehr  die  Rede  sei*),  ist  wohl 
durch  die  bisherigen  Ausfuhrungen  beseitigt:  Penthesilea  war  eben 
nicht  schwer  verwundet  und  wenn  an  ihrer  Mattigkeit  hauptsächlich 
ihr  seelischer  Schmerz  Schuld  war,  so  versteht  es  sich  von  selbst, 
dafs  dieser  Zustand,  soweit  er  seelisch  bedingt  war,  einfach  aufhören 
mufste,  sobald  der  Schmerz  sich  in  Freude  verwandelte;  und  etwaige 
noch  vorhandene  körperliche  Beschwerden  konnten  durch  die  Freude 
übertäubt  werden. 

Einen  zweiten  Widerspruch  zwischen  unseren  Scenen  und  dem 
vorhergehenden  findet  Niejahr  darin,  dafs  Penthesilea  ihre  Besiegung 
durch  Achilles  in  der  vierzehnten  Scene  für  einen  Traum  hält,  während 
sie  doch  in  der  neunten  Scene  bei  völligem  Bewufstsein  über  den 
Hergang  aufgeklärt  erscheint.  Darauf  ist  zu  erwidern,  dafs  Kleist 
zwischen  diesen  beiden  Tatsachen  keinen  Widerspruch  gefunden 
sondern  ihr  Nebeneinanderbestehen  für  möglich  gehalten  hat.  Als 
er  die  vierzehnte  Scene  schrieb,  hat  er  ausdrücklich  auf  die  neunte 
Bezug  genommen,  wie  sich  deutlich  aus  Vers  1718  bis  1720  ergiebt: 

(Penthesilea  erblickt  Rosen  auf  dem  Boden) 
Sieh!   Kelche  finden,  und  wie  duftende. 
Auf  diesem  Platz  sichl  —  Ach  mein  böser  Traum! 
War  denn  der  Diana  Oberpriesterin  hier? 

■ 

Die  Worte  können  sich  nur  auf  Vers  12 12  flf.  beziehen,  wo  Pen- 
thesilea an  derselben  Stelle  von  der  Oberpriesterin  sich  sagen  lassen 
mufste,  dafs  sie  ja  selbst  das  Rosenfest  angeordnet  habe,  und  wo  sie 
die  Rosenkränze  zerhauen  hat.  Kleist  hat  also  angenommen,  dafs 
Penthesilea   von   der   ganzen  neunten  Scene  nur  ganz  dunkle  Erinne- 


*)  Niejahr  meint,  2821  werde  die  Wuode  noch  einmal  erwähnt,  der  Vers  sei 
aber  offenbar  erst  später  mg^esetzt.  Mir  scheint,  dafs  es  sich  da  nicht  um  die  alte, 
sondern  eine  irgendwie  neu  zugezogene  Wunde  handelt. 


Nodunals  Penthedlea.  S8 


ningen  habe,  Erinnerungen,  die  sie  bei  ihrem  Auftauchen  bereit  ist, 
gleichfalls  für  Bestandteile  ihres  Traumes  zu  halten*).  Ein  solcher 
Hergang  wäre  vielleicht  auch  nicht  unmöglich:  Penthesileas  geistiger 
Zustand  in  der  neunten  Scene  ist  wohl  geeignet,  das  Entstehen  deut- 
licher Erinnerungsbilder  zu  erschweren  und  dazu  kommt,  dafs  man 
nach  dem  Erwachen  aus  einer  Ohnmacht  überhaupt  mangelhaft  orientiert 
ist.  Doch  ob  wirklich  mögUch  oder  nicht:  Kleist  jedenfalls  hat  einen 
solchen  Verlauf  für  möglich  gehalten  und  es  ist  durch  nichts  zu  ent- 
scheiden, ob  er  von  der  Voraussetzung  dieser  Möglichkeit  bereits  bei 
der  Aufstellung  seines  ersten  Planes  ausging,  oder  ob  sie  ihm  erst 
später,  bei  dem  Zusammenfugen  ursprünglich  nicht  zusammengehöriger 
Scenen  nahegelegt  wurde. 

Ferner  nimmt  Niejahr  daran  Anstofs,  dafs  Achilles  1774  die  ihn 
bekränzende  PenthesQea  fragt,  wer  sie  sei,  während  er  doch  schon 
früher  Gelegenheit  hatte,  ihren  Namen  zu  erfahren,  überhaupt  ganz 
genau  wissen  müfste  wen  er  vor  sich  hat.  —  Penthesilea  ist  den 
Griechen  von  vorneherein  unbegreiflich  gewesen.  Sie  kennen  die 
Sitte  des  Amazonenstaates  nicht  und  sie  vermögen  sich  keinen  ver- 
nünftigen Grund  zu  denken,  der  Penthesilea  veranlassen  könnte,  gegen 
Griechen  und  Trojaner  gleichmäfsig  zu  kämpfen.  Aber  mag  der  kluge 
Odysseus  diese  Unbegreifiichkeit  ausfuhrlich  erörtern,  Achilles  selbst 
hat  sich  schwerlich  darüber  den  Kopf  zerbrochen;  wenigstens  hören  wir  in 
der  vierten  Scene  nichts  darüber  aus  seinem  Munde.  Er  ist  ein  Mann, 
der  sich  nur  um  das  kümmert,  was  ihn  selbst  ganz  direkt  berührt, 
und  so  hält  er  sich  auch  in  diesem  Falle  an  das,  was  ihn  persönlich 
angeht:  an  Penthesileas  spezielle  Feindschaft  gegen  ihn.  Denn  das 
nimmt  sowohl  Diomedes  (161)  als  auch  Achilles  selbst  (595)  an,  dafs 
Penthesilea  gerade  ihn  in  der  Schlacht  sucht  und  zwar  mit  der  Ab- 
sicht ihn  zu  töten.  So  also  hat  Achilles  Penthesilea  bisher  gekannt: 
als  eine  wilde  Kriegerin,  die  ihm  nach  dem  Leben  trachtet  und  die 
auch  er  häuptlings  durch  die  Strafsen  schleifen  möchte.  Aber  diese 
Penthesilea  ist  seit  der  achten  Scene  verschwunden  und  an  ihrer  Stelle 
steht  ein  herrliches  Weib,  das  er  liebt  und  das  ihn  liebt.  Schon  die 
veränderte  Stellung,    die    sie   in    seinem  Gefühlsleben  jetzt  einnimmt, 


*)  Allerdings  passen  diese  Bestandteile  nicht  zu  der  Gestalt  des  Traumes,  wie  sie 
ihn  1556  ff.  erzählt;  aber  man  könnte  ja  annehmen,  dafs  Penthesilea  1718  ihre  Erinne- 
rung stillschweigend  korrigiert,  oder  auch  dafs  sie  in  ihrer  Freude  keine  Zeit  und  Lust 
hat,  über  ihren  Traum  weiter  nachsugrfibeln. 

ZtMhr.  t  TgL  LiU..GeKb.    N.  P.  Till.  3 


M  Hnbcrt  Roelteken. 


mufs  sie  ihm  in  neuem,  ungewohntem  Lichte  erscheinen  lassen  und 
ebenso  fremdartig  mufs  ihn  ihr  verändertes  Benehmen  berühren,  die 
weichen  Laute  der  Zärtlichkeit,  die  Liebkosungen,  die  an  die  Stelle 
der  Geschosse  getreten  sind«  Dazu  kommt,  dais  jetzt,  wo  ihm  ein 
persönliches  Gefühl  für  PenthesÜea  erwacht  ist,  doch  auch  ihm  die 
Frage  nahe  tritt,  warum  sie  so  plötzlich  unbeleidigt  in  den  Streit  vor 
Trqja  falle,  femer  wie  denn  dieses  herrliche  Weib  dazu  komme,  die 
Waffen  zu  fuhren,  und  zwar,  was  freilicli  nicht  ausdrücklich  gesagt 
ist,  speziell  gegen  die,  die  es  doch  liebt  Endlich  wirkt  das  neue  und 
seltsame  der  Situatioxi:  die  Bekränzung  mit  Rosen,  die  Hymne.  Kurz- 
um, wenn  schon  986  ein  griechischer  Ge&ngener  sagt:  war  je  ein 
Traum  so  bunt,  als  was  hier  wahr  ist?  so  begreift  man  noch  vielmehr, 
dafs  Achilles  hier  allmählich  in  die  Stimmung  kommt,  die  sich  nach- 
her während  Penthesileas  Erzählung  in  einem  zerstreuten  Lächeln  und 
den  Worten  verrät:  ich  dachte  eben,  ob  Du  mir  aus  dem  Monde 
niederstiegst.  Diese  Stimmung  klingt  schon  1809  ^^'  Penthesilea  ist 
ihm  ein  Rätsel,  wie  eine  Erscheinung  aus  einer  anderen  Welt,  um- 
woben von  geheimnisvollem,  traumhaftem  Duft  Das  was  er  wei(s, 
nämlich  dafs  er  einer  gewissen  Königin  Penthesilea  gegenübersteht, 
giebt  ihm  natürlich  keine  Lösung  des  Rätsels  und  so  fragt  er  denn, 
nicht  nach  ihrem  Namen,  sondern  nach  ihrem  Wesen.  Die  ersten 
drei  Verse  seiner  Rede  sagen  das  deutlich: 

O  Du,  die  eine  Glanzerscheinung  mir, 
'Als  hätte  sich  das  Ätherreich  eröffnet, 
Herabstiegst,  Unbegreifliche,  wer  bist  Du? 
Und  wenn  Achilles  fortfahrt: 

Wie  nenn'  ich  Dich,  wenn  meine  eigne  Seele 
Sich,  die  entzückte,  fragt,  wem  sie  gehört? 
so  fasse  ich  auch  dieses  nicht  als  eine  Erkundigung  nach  dem  blofsen 
Namen  auf:  Achilles  will  Penthesilea  nennen  mit  dem  Worte,  das  ihm 
die  Lösung  des  Rätsels  giebt,  das  ihm  das  ganze  Bild  der  Königin, 
wie  es  in  seiner  Fantasie  und  Stimmung  jetzt  lebt,  erklärt,  sym- 
bolisiert*).    Penthesilea  nennt  ihm  nach  einigen  anderen  Bemerkungen 

*)  Es  entsprechen  sich  deutlich  die  Verse  1808  und  181 2: 
Penthesilea:    Ich  bins  —  Du  Jungfer  Kriegsgott,  dem  Du  angehörst I 

x8o8    Wenn  man  im  Volk  Dich  frag^  so  nennst  Du  mich. 
Achilles  .  .  . 

i8ia:    Wie  nenn  ich  Dich,  wenn  meine  eigne  Seele 
Sich,  die  entzückte  fragt,  wem  sie  gehört? 


Nochmals  Penthesilea.  d5 


schliefsiich  auch  ihren  Namen  und  Achilles  spricht  diesen  nach  in 
einer  Weise,  da(s  es  auf  den  ersten  Blick  allerdings  so  aussieht,  als 
hörte  er  ihn  nun  zum  erstenmal.  Aber  auch  hier  wird  eine  andere 
Auffassung  durch  die  ganze  Stimmung  des  Achilles  nahegelegt:  auch 
der  Name  erscheint  ihm  neu.  Es  sind  dieselben  Laute,  die  er  früher 
gehört  hat,  aber  sie  waren  fiiiher  verbunden  mit  Vorstellungen  von 
Kampf  und  Blut:  jetzt  hat  das  Wort  andere  Obertöne  erhalten  und 
so  klingt  es  dem  Achilles  lieblich  und  lockend.  Mit  inniger  Betonung 
spricht  er  es  der  Geliebten  nach  und  versenkt  sich  in  den  Wohllaut 
dieser  Silben. 

Noch  nach  einer  anderen  Richtung  hin  hat  Niejahr  die  flinfzehnte 
Scene  erörtert.  Er  meint,  die  Ruhe,  ja  Harmlosigkeit,  mit  der  wir 
den  Achilles  der  weit  ausholenden  Erzählung  vom  Frauenstaate  lauschen 
sehen,  habe  innerhalb  der  gegebenen  Situation  etwas  Undramatisches, 
wenn  nicht  Unwahrscheinliches;  man  müsse  demnach  annehmen,  dafs 
die  in  Rede  stehende  Erzählung  für  sich,  ohne  unmittelbare  Rücksicht 
auf  die  umgebende  Situation  ausgearbeitet  und  dann  als  letztes  ein- 
heitliches Glied  in  die  Kette  des  schon  abgeschlossenen  Ganzen  ein- 
gefugt wurde.  Ich  kann  nun  zunächst  eine  Unwahrscheinlichkeit  in 
dem  Verhalten  des  Achilles  durchaus  nicht  finden.  Dieser  Achilles, 
dem  über  Penthesilea  der  ganze  Hellenenstreit  vor  Troja  so  voll- 
kommen gleichgültig  geworden  ist,  wie  er  es  2518  ff.  mit  den  dras- 
tischsten Worten  sagt  und  wie  es  sich  auch  schon  vorher  (612)  zeigt, 
der  wird,  wenn  er  nun  seine  Penthesilea  hat,  sich  auch  um  den  ganzen 
Amazonenkampf  nicht  weiter  kümmern,  sondern  sich  mit  der  Geliebten 
beschäftigen.  Nur  eine  vor  Augen  liegende  Gefahr,  dafs  Penthesilea 
ihm  wieder  entrissen  werden  könnte,  würde  ihn  veranlassen,  sie  seinen 
Begleitern  zu  übergeben  und  sich  weiter  am  Kampfe  zu  beteiligen, 
aber  eine  solche  liegt  ja  nicht  vor:  das  Heer  der  Amazonen  scheint 
völlig  auseinandergeworfen  und  die  geschlagenen  werden  von  Odysseus 
und  Diomedes  verfolgt  —  was  will  Achilles  mehr?  Er  mag  sich  da 
auf  dem  Schlachtfelde  ebenso  sicher  fühlen,  als  wenn  er  im  Griechen- 
lager wäre.  Und  die  Reflexion,  dafs  ja  möglicherweise  die  Amazonen 
sich  doch  noch  wieder  sammeln  könnten  und  dafs  es  mithin  klüger 
wäre,    sich   vorläufig  an  der  Verfolgung  der  fliehenden  zu  beteiligen. 

Bei  der  eben  gegebenen  Auffassung  kann  man  dieses  so  erklären,  dafs  zwar  zur 
Antwort  auf  die  Frage  des  Volkes  der  Name  Penthesilea  genügt,  nicht  aber  zur  Antwort 
auf  die  Frage  der  eigenen  Seele.  Doch  will  ich  hierauf  kein  Gewicht  legen,  da  auch 
eine  andere  Deutung  mögUch  wäre. 

8' 


86  Hubert  Roetteken. 


diese  Reflexion  könnte  einem  sehr  vorsichtigen  und  alles  erwägenden 
Manne  ja  wohl  kommen,  aber  sicher  nicht  einem  Achilles,  wie  Kleist 
den  Charakter  gezeichnet  hat. 

Dafs  die  lange  Erzählung  etwas  undramatisches  hat,  gebe  ich  zu; 
aber  läfst  sich  daraus,  würde  sich  selbst  aus  einer  leichten  psycho- 
logischen UnWahrscheinlichkeit  die  Folgerung  ziehen  lassen,  die  Niejahr 
daraus  zieht?  Ich  konnte  mich  bisher  darauf  beschränken,  nachzu- 
weisen, dafs  Niejahr  mit  Unrecht  Widerspräche  annimmt,  sei  es  nun, 
dafs  seine  Interpretation  sich  als  unrichtig  herausstellte,  oder  dafs  sich 
ergab,  dafs  das,  was  er  als  einen  Widerspruch  betrachtet,  in  den 
Augen  des  Dichters  keiner  war;  ich  mufs  nun  aber  auch  dem  Obersatz 
widersprechen,  der  seiner  ganzen  Beweisführung  zu  Grunde  liegt, 
nämlich  der  Annahme,  dafs  der  Dichter  nur  bei  unterbrochenem,  stück- 
weisem  arbeiten,  oder  bei  nachträglichen  Änderungen  oder  Einschfiben 
oder  bei  Ablösung  eines  Planes  durch  einen  anderen  Unebenheiten 
und  Widersprüche  (wirkliche,  die  auch  für  ihn  solche  wären,  wenn  er 
sie  bemerkte)  in  seine  Dichtung  hineinbringen  könne.  Dieser  Obersatz 
ist,  so  allgemein  ausgesprochen,  gründlich  falsch.  Zwei  Fragen  sind 
hier  gesondert  zu  behandeln;  einmal:  giebt  es  Veranlassungen,  welche 
dem  Dichter  auch  bei  ununterbrochener  Arbeit  plötzlich  Annahmen 
nahe  legen  können,  die  mit  früher  gemachten  nicht  übereinstimmen, 
oder  ihn  locken  können,  eine  einzelne  Scene  weiter  auszufuhren,  als 
der  Komposition  zuträglich  ist?*)  Und  zweitens:  ist  es  möglich,  dafs 
diese  Veranlassungen  und  Lockungen  nicht  durch  die  Gefahr  des 
Widerspruches  u.  s.  w.  paralysiert  werden,  sondern  sich  in  Taten  um- 
setzen? Legt  man  sich  diese  Fragen  einzeln  vor,  so  sieht  man  leicht 
ein,  dafs  man  sie  beide  bejahen  mufs. 

Was  die  erste  anlangt,  so  ist  zunächst  bekannt,  dafs  der  Dichter, 
auch  wenn  er  sich  einen  genauen  Plan  gemacht  hat,  doch  durch  die 
Detailarbeit  öfters  dahin  belehrt  wird,  dafs  es  an  irgend  einer  Stelle 
so,  wie  er  ursprünglich  wollte,  nicht  geht,  und  dafs  er  es  also  da 
anders  machen  mufs,  wodurch  Unebenheiten  entstehen  können.  Man 
kann  dabei  noch  allenfalls  von  einer  Änderung  des  Planes  sprechen, 
wenn  man  sich  nur  gegenwärtig  hält,  dafs  die  Änderung  während 
ununterbrochener  Arbeit  erfolgt.  —  Ferner:  es  kann  sich  bei  der 
Ausarbeitung  plötzUch  ein  poetisches  Motiv  ergeben,  an  das  der  Dichter 

*)  Ich  greife  diese  beiden  Punkte  heraus,  weil  sie  gerade  für  Niejabrs  Aufsatz  in 
Betracht  kommen;  sonst  könnte  man  auch  noch  anderes  erwähnen. 


Nochmals  PenthesUea.  37 


vorher  nicht  gedacht  hat,  das  sich  nun  aber  als  äufserst  dankbar  er- 
weist und  den  Dichter  lockt,  —  obgleich  es  vielleicht  mit  irgendwo 
vorher  gegebenen  Notizen  nicht  übereinstimmt  und  vielleicht  auch  für 
den  Zusammenhang  nicht  ganz  pafst;  oder  es  kann  sich  auch  um  ein 
wohl  von  vorne  herein  gesehenes  Motiv  handeln,  das  sich  aber  bei 
der  Arbeit  als  viel  dankbarer  erweist,  als  der  Dichter  angenommen 
hatte.  So  kann  eine  hübsche  Dialogpointe  plötzlich  aufblitzen,  die  mit 
früherem  nicht  recht  vertraglich  ist,  es  kann  aber  auch  Penthesileas 
Erzählung  vom  Amazonenstaat  einen  Reiz  gewinnen,  der  zu  breiter 
Ausgestaltung  lockt.  —  Weiter;  Ein  bestimmter  Verlauf  einer  Sache, 
eine  bestimmte  Beschaffenheit  eines  Gegenstandes  kann  sich  dem 
Dichter  in  einem  gegebenen  Moment  als  normal,  natürlich,  selbstver- 
ständlich aufdrängen,  während  er  vielleicht  vorher  eine  widersprechende 
Bemerkung  gemacht  hat.  Den  Widerspruch  im  Don  Quixote,  wo 
Sancho  Pansa  in  einem  Kapitel  seines  Esels  beraubt  wird,  in  einem 
späteren  ihn  wieder  erhält,  in  einem  zwischen  beiden  gelegenen  aber 
auf  ihm  reitet,  hat  Heinzel*)  gewifs  mit  Recht  erklärt  aus  der  Gewohn- 
heit der  Fantasie,  Sancho  Pansa  und  seinen  Esel  zusammenzudenken. 
Hier  ist  also  diese  Vorstellungskombination  selbstverständlich  geworden 
durch  die  Gewohnheit;  ebensogut  aber  kann  von  der  gegenwärtigen 
Situation  aus  der  Schein  der  Selbstverständlichkeit,  des  natürlichen 
und  normalen  entstehen.  Die  Stimmung  einer  bestimmten  Scene 
kann  dem  Dichter  die  Dinge  in  einem  eigenen  Lichte  zeigen,  das 
ihm  nun  so  vertraut  vorkommt,  als  hätte  er  sie  immer  so  ge- 
sehen, was  vielleicht  in  Wirklichkeit  gar  nicht  der  Fall  ist.  Wenn 
er  also  etwa  eine  heftige  Streitscene  zwischen  zwei  Männern  schil- 
dert und  sich  dabei  in  den  tiefen  Gegensatz  zwischen  den  Cha- 
rakteren versenkt,  so  kann  es  ihm  vorkommen,  als  müfsten  diese 
Männer  schon  immer  Todfeinde  gewesen  sein  und  sich  demgemäfs 
behandelt  haben,  und  eine  darauf  bezügliche  Bemerkung  kann  ihm 
in  die  Feder  fliefsen  wollen,  obgleich  er  vielleicht  vorher  ein  gemüt- 
liches Gespräch  zwischen  beiden  erwähnt  oder  selbst  geschildert  hat  **)• 


*)  Anzeiger  für  deutsches  Altertum  X.  S.  236. 
**)  Wenn  in  dem  obenangegebenen  Beispiel  einer  der  Streitenden  selbst  behauptet, 
er  habe  den  andern  inmier  gehalst,  während  sich  aus  seinem  vorhergehenden  Benehmen 
die  Unrichtigkeit  dieser  Angabe  ersehen  lälst,  so  kann  das  eine  vom  Dichter  gewollte 
Erinnerungsteuschung  der  betreffenden  Person  sein.  Für  solche  Erinneningsteuschungen 
der  Personen  finden  sich  bei  Kleist  interessante  Beispiele.  Am  klarsten  ist  die  Geschichte 
von  der  Katze  und  der  Ananas  in  der  Familie  Schroffenstein.     In  den  meisten  Personen 


38  Hubert  Roettekea. 


Und    SO    giebt    es    noch    manche    Motive,     die    zu    Widersprüchen 


dieses  Dramas  lebt  ein  furchtbares  Mifstrauea,  Yon  dem  aus  sie  jeden  Zufall  so  umdeuten, 
unbewufst  natürlich,  dafs  er  ihnen  als  Ausfluis  und  Beweis  einer  bösen  Absicht  der 
Gegenpartei  erscheint.  Da  hat  nun  einmal  die  friedliebende  Prau  Eustache  in  bester 
Absicht  dem  kranken  Sylvester  ein  Fläschchen  mit  Ananas  geschickt;  Sylvesters  Frau 
aber,   die  mifstrauische  Gertrude,  weÜs  nach  zwei  Jahren  davon  folgendes  su  erzählen: 

1157  Ich  bat  dich,  unter  falschem  Vorwand,  nicht 
Von  dem  Geschenke  zu  geniefsen,  setzte 
Dir  selbst  ein  Fläschchen  vor  aus  eignem  Vorrat 
Mit  eingemachtem  Pfirsich  —  aber  du 
Bestandst  darauf,  verschmähtest  meinen  Pfirsich, 
Nahmst  von  der  Ananas,  und  plötzlich  folgte 
Ein  heftiges  Erbrechen  — 

So  hat  Gertrude  den  Vorgang  im  Gedächtnis;  in  Wirklichkeit  hat  aber,  wie  Sylvester 
angiebt  und  Agnes  bestätigt,  die  Katze  die  Ananas  gegessen,  ohne  dais  sie  Schaden 
davon  gehabt  hätte,  während  Sylvester  nun  auf  den  Pfirsich  angewiesen  war  und  von 
diesem  Erbrechen  bekommen  hat.  Bei  Gertrude  ist  die  Erinnerung  an  diese  Dinge 
verfälscht  in  die  Vorstellung  eines  Herganges,  wie  er  von  ihrem  Miistrauen  aus  betrachtet, 
ganz  natürlich,  ganz  normal  gewesen  wäre:  Ein  Fläschchen  ist  von  den  Feinden  ge- 
kommen, Sylvester  hat  darauf  etwas  gegessen  und  ist  unwohl  geworden,  also  ist  das 
feindliche  Fläschchen  daran  Schuld.  Und  das  glaubt  sie  natürlich  im  vollsten  Ernst.  — 
Ein  schönes  Beispiel  bietet  auch  Toni  in  der  «Verlobung  in  St  Domingo**,  wie  sie,  nach- 
dem sie  Gustavs  Liebe  genossen  hat,  plötzlich  erklärt,  die  Unmenschlichkeiten,  an  denen 
sie  bisher  gezwungen  habe  Teil  nehmen  müssen,  hätten  längst  ihr  innerstes  Gefühl  em- 
pört —  während  von  solcher  Empörung  in  der  ganzen  Art,  wie  sie  Gustav  zuert  entgegen- 
tritt, nichts  zu  spüren  ist.  Vielleicht  findet  sich  einmal  Jemand,  der  aus  diesem  „Wider^ 
Spruch**  einen  ^ersten  Plan*"  der  Novelle  konstruiert!  —  Hübsch  ist  in  unserem  Drama 
1760  ff.,  wo  Penthesilea  zu  Achilles  sagt: 

Zwar  gern  mit  diesem  Arm  hier  traf  ich  Dich, 

Doch  als  Du  niedersankst,  beneidete 

Hier  diese  Brust  den  Staub,  der  Dich  empfing. 

Penthesilea  glaubt,  was  man  ihr  gesagt  hat,  nämlich  dafs  Achilles  gleichzeitig  mit  ihr 
niedergesunken  sei,  aber  jedenfalls  müfste  sie  wissen,  dafe  sie  sofort  bewufstlos  wurde, 
den  Fall  nicht  selbst  gesehen  und  den  Staub  nicht  beneidet  hat.  Was  sie  schildert  ist 
der  normale  Verlauf  ihres  Sieges  über  Achilles,  so  wie  sie  ihn  sich  wohl  oft  ausgemalt 
hat,  und  dieser  tritt  ihr  ohne  weiteres  an  die  Stelle  ihres  Erinnerungsbildes.  —  Etwas 
anders  liegt  der  Fall  nach  dem  Tode  des  Achilles.  Hier  ist  das  Erinnerungsbild  völlig 
geschwunden  und  an  die  leere  Stelle  tritt  ihr  der  normale  Verlauf  eines  siegreichen 
Kampfes  gegen  Achilles  mit  den  gewohnten  Motiven,  wobei  sie  denn  freilich  vor  der 
Unbegreiflichkeit  steht,  dafs  die  Sache  ein  solches  Ende  genommen  hat 

Diese  Fälle  möchte  ich  als  vom  Dichter  beabsichtigte  Erlnnerungsteuschungen  der 
Personen  auffassen.  Ebenso  können  auch  andersartige  £ilsche  Auffassungen  der  Personer 
vorkommen,  die  vom  Dichter  beabsichtigt  sind  und  nicht  als  seine  Auffassungen  betrachtet 
werden  dürfen.  So  erwähnt  Scherer,  es  könne  etwa  eine  Botschaft  überbracht  werden, 
die  zu  den  Annahmen  nicht  völlig  stimme,  weil  der  Dichter  sich  sage,  dafs  ein  beteiligten 


Nochmala  Penthesilea.  39 


treiben  können;  Heinzel*)  erwähnt  noch  Einmischung  der  An- 
schauungen des  Dichters  in  die  Reden  seiner  Personen  und  Be- 
nutzung mehrerer  Quellen,  es  können  aber  auch  zufallige  Assoziatio- 
nen in  Betracht  kommen,   bequemes   passen  irgend  eines  Gedankens 

Zuschauer  von  der  tragisch  erregten  Fantasie  zu  Übertreibungen  hingerissen  werde. 
Scherer  scheint  solche  und  ähnliche  Dinge  für  aulserordenttich  selten  zu  halten,  was 
sehr  merkwürdig  wäre,  da  sie  im  Leben  unendlich  oft  vorkommen.  Mir  scheint,  wir 
müssen  im  Kunstwerk  überall  mit  der  Möglichkeit  irgendwie  falscher  Annahmen,  Auf- 
fassungen u.  s.  w.  der  Personen  rechnen.  So  haben  z.  B.,  wie  ich  glaube,  im  Prinzen  von  Hom- 
burg HohenzoUem  und  der  Prinz  eine  falsche  Ansicht  über  den  Grund,  aus  dem  der 
Kurfürst  zur  Vollstreckung  des  Urteils  entschlossen  scheint.  Ich  habe  dieses  schon  in 
meinen  Bemerkungen  in  der  Zeltschrift  für  deutseben  Unterricht  FV.  S.  446  ausgeführt, 
und  Niejahr  hätte  sich  in  seinem  Aufsatz  über  den  Prinzen  von  Homburg  mit  dieser 
Möglichkeit  auseinandersetzen  müssen.  Ich  will  übrigens  bemerken,  dafs  ich  manches  in 
den  eben  citierten  „ Bemerkungen**  heute  anders  anfassen  würde. 

Nicht  immer  kann  man  entscheiden,  ob  eine  bestimmte  mit  anderen  Angaben  nicht 
vereinbare  Äufserung  einer  Person  aus  deren  besonderer  Auffassung  erklärt  werden  muls, 
oder  nicht;  z.  B.  von  dem  Widerspruch  zwischen  Penthesilea  19 18  und  37  einerseits  und 
2050  andrerseits  ist  es  nicht  klar,  ob  er  von  Penthesilea  oder  vom  Dichter  begangen 
wird.  1918  nennt  Penthesilea  den  Kaukasus  fruchtumblQht,  1927  spricht  sie  von  den 
reichen  Feldern  der  Amazonen  —  dagegen  2050  sagt  sie,  die  schneebedeckten  Berge 
geben  der  Nahrung  nicht  zu  viel.  Diese  Verschiedenheit  könnte  aus  der  Verschiedenheit 
der  Themata,  über  die  Penthesilea  spricht,  erklärt  werden:  2050,  bei  einem  einfachen 
Bericht,  könnte  sie  die  faktisch  zutreffenden  Ausdrücke  brauchen,  dagegen  an  der  früheren 
Stelle,  wo  sie  erzählt,  dafs  der  Feind  ins  Land  gefallen  sei,  übertreibende  Worte  an- 
wenden —  Felder,  die  der  Feind  beraubt,  sind  ja  für  den  der  sie  besitzt,  stets  „reich**. 
Es  könnte  aber  auch  sein,  dafs  Kleist,  indem  er  sich  ganz  in  die  Erzählung  vertiefte, 
sich  völlig  mit  Penthesilea  identifizierte,  ganz  unwillkürlich,  als  ob  er  vom  eigenen  Vater- 
lande spräche,  durch  die  eben  erörterten  Gründe  an  der  ersten  Stelle  zu  den  volleren 
Ausdrücken  geführt  wurde;  möglich  auch,  dafs  ihm  Vers  2048  die  Erwähnung  der  Mög- 
lichkeit, der  Gott  könne  die  Einwilligung  zum  Kriegszug  versagen,  in  die  Feder  gelaufen 
war  und  sich  ihm  von  hier  aus  der  Kaukasus  plötzlich  darstellte  als  ein  weniger  frucht- 
bares Gebirge,  eine  Vorstellung,  bei  der  das  gelegentliche  Versagen  der  Einwilligung 
motiviert  erschien  —  es  kann  aber  auch  eine  ganz  zufällige  gar  nicht  mehr  nachzukon- 
sUiiirende  Association  einmal  diese,  einmal  jene  Vorstellung  ihm  erweckt  haben.  — 
Penthesilea  bietet  noch  manche  Unebenheiten,  die  erörtert  werden  könnten,  doch  will 
ich  damit  abbrechen.  Widersprüche  aus  einer  Reihe  von  Kunstdichtungen,  auch  aus 
Kleist,  haben  Jellinek  und  Kraus  in  der  Zeitschr.  für  die  öst.  Gymn.  1893  S-  ^73  ^* 
zusammengestellt,  wobei  sie  freilich  auf  die  psychologische  Erklärung  der  Widersprüche 
wenig  eingegangen  sind.  Dickens  fehlt  in  ihrer  Sammlung:  er  ist  aber  recht  lehrreich, 
weU  bei  ihm  die  Dinge  öfters  je  nach  der  augenblicklichen  Stimmung  ein  ganz  ver- 
schiedenes Aussehen  haben,  wodurch  in  einzelnen  Fällen  recht  starke  Widersprüche  ent- 
stehen. Julian  Schmidt  hat  das  in  einem  mir  augenblicklich  nicht  zugänglichen  Aufsatz 
über  den  Dichter  g^t  auseinandergesetzt.  Einer  der  ärgsten  Widersprüche,  der  den 
ganzen  Verlauf  der  Handlung  bestimmt,  findet  sich  in  Thackerays  nNewcomea**. 
*)  a.  a.  O.  XV.  S.  176. 


40  Hubert  Roetteken. 


oder  einer  Annahme  in  den  augenblicklichen  Zusammenhang,  selbst 
das  passen  irgend  eines  Ausdrucks  in  den  Vers  und  noch  manches 
andere. 

Was  die  zweite  Frage  (vgl.  S.  36!)  anlangt,  so  macht  Heinzel  zu- 
nächst darauf  aufmerksam,  dafs  des  Dichters  Vorstellungen  über  manche 
Einzelheiten  von  Hause  aus  nicht  klar  gewesen  zu  sein  brauchen.  Es  ver- 
steht sich  ja  von  selbst,  dafs  auch  der  sorgfaltigste  Plan  nicht  alles  und 
jedes  bis  ins  einzelne  hinein  festsetzen  kann,  sonst  wäre  er  ja  selbst 
die  Ausfuhrung.  Ja,  mehr  als  die  Ausfuhrung,  denn  er  müfste  ein 
detailliertes  Bild  der  ganzen  Welt  enthalten,  in  der  die  Dichtung  spielen 
soll  —  ein  Bild,  in  dem  jede  Einzelheit  auf  ihre  Vereinbarkeit  mit  allen 
anderen  geprüft  wäre.  —  Dieser  Gesichtspunkt  kommt  namentlich  in 
Betracht,  wo  die  Widersprüche  versteckter  liegen,  also  nicht  direkt 
zwischen  dem  Wortlaut  mehrerer  Angaben  stattfinden,  sondern  sich 
erst  unserer  Reflexion  ergeben,  wenn  wir  aus  den  einzelnen  Angaben 
Folgerungen  ziehen  u.  s.  w.  So  weit  der  ganz  direkte  Wordaut  einer 
Angabe  reicht,  legt  sie  die  Ansicht  des  Dichters  über  den  bestimmten 
Punkt  zunächst  einmal  fest,  und  wenn  später  eine  widersprechende 
kommt,  so  wird  ihre  Entstehung  zwar  dadurch  erleichtert,  dafs  der 
Dichter  über  die  betreffende  Sache  sich  nicht  vorher  ein  sorgfaltig 
durchgedachtes  System  zurechtgemacht  hat,  immerhin  mufs  aber  doch 
erklärt  werden,  wie  sie  nach  der  vorhergegangenen  widersprechenden 
Angabe  gemacht  werden  konnte.  Heinzel  macht  darauf  aufmerksam, 
dafs  der  Dichter  das  früher  Geschriebene  vergessen  kann,  und  das 
wird  natürlich  um  so  leichter  geschehen,  je  flüchtiger  hingeworfen  die 
frühere  Bemerkung  ist,  je  isolierter  sie  steht.  Ich  möchte  aber  hier 
doch  zwei  verschiedene  Fälle  unterscheiden.  Einmal  kann  es  sich  um 
ein  wirkliches  einfaches  Vergessen  handeln,  d.  h.  die  Erinnerung  an 
die  betreffende  Angabe  ist  dem  Gedächtnis  spontan  entfallen,  wobei 
es  übrigens  nicht  ausgeschlossen  ist,  dafs  sie  später  zurückkehrt:  so 
ist  es  in  dem  Fall  des  Don  Quixote,  bei  dem  noch  das  zu  bemerken 
ist,  dafs  der  Dichter;  als  er  später  im  Einverständnis  mit  der  ersten 
Angabe  den  Sancho  ohne  Esel  vorführte,  offenbar  wieder  die  da- 
zwischen gegebene  abweichende  Angabe  vergessen  hatte.  Zweitens 
aber,  und  dieser  Fall  scheint  mir  sehr  wichtig,  weil  er  viel  leichter 
als  das  einfache  Vergessen  auch  dann  eintreten  kann,  wenn  es  sich 
um  wichtigere  Dinge  handelt,  wenn  die  erste  Angabe  vor  nur  kurzer 
Zeit  gemacht  wurde,  oder  wenn  sie  in  einem  Plane  ausdrücklich  vor- 
gesehen war:    die  gegenwärtige  Situation  nimmt  das  Bewufstsein  des 


Nochmals  Penthesilea.  41 


Dichters  so  ausschliefslich  in  Anspruch,  dafs  keine  anderen  Vor- 
stellungen sich  darin  geltend  machen  können.  Dieser  Fall  wird  leicht 
eintreten,  wenn  ein  poetisches  Motiv  plötzlich  dem  Dichter  seine  ganze 
Schönheit  enthüllt  oder  auch  wenn  er  von  der  Stimmung  einer  Scene  aus 
die  Dinge  in  anderem  Lichte  sieht;  wie  früher:  in  beiden  Fällen  kann  seine 
Aufmerksamkeit  so  sehr  von  jene  Schönheit  oder  Stimmung  gefesselt 
sein,  dafs  Erinnerungen  an  früher  gemachte  Angaben  nicht  zur  Geltung 
kommen.  Oder  sie  kommen  ihm  auch  vielleicht  flüchtig  zum  Bewufstsein, 
aber  die  Stimmung  drängt,  die  Worte  wollen  aus  der  Feder,  und  da 
stellt  vielleicht  ein  nicht  recht  klar  gedachter  vermittelnder  Gedanke 
sich  ein,  sodafs  der  Dichter  das  Gefühl  hat,  die  beiden  Angaben 
könnten  wohl  neben  einander  bestehen,  während  der  kühl  analysierende 
Kritiker  ihre  Unvereinbarkeit  erkennt. 

Mir  scheint,  bei  solchen  Zerleg^ngsarbeiten  wird  häufig  ein  Fehler 
begangen:  der  Kritiker  betrachtet  die  psychischen  Vorgänge,  die 
sich  bei  ihm  in  seiner  ganz  ruhigen  auf  Kritik  gerichteten  momen- 
tanen Geistesverfassung  abspielen,  zu  sehr  als  Norm,  er  mifst  an 
ihnen  die  Aufserungen  des  Dichters,  und  verlangt,  dem  Dichter 
hätten  im  Moment  heifsen  Schaffens  dieselben  Associationen  kommen, 
dieselben  Widersprüche  auffallen  müssen,  wie  ihm  selbst,  der 
das  Buch  in  gröfster  Ruhe  um  und  um  blättert  und  besonders 
auf  diese  Dinge  achtet.  Das  ist  natürlich  so  falsch  wie  möglich,  es 
kommt  vielmehr  darauf  an,  wie  das  alles  sich  bei  der  Individualität 
des  Dichters  gestalten  mufste.  Und  Individualität  bedeutet  in  diesem 
Falle  nicht  nur  die  bleibenden  Grundzüge,  sondern  auch  die  momentane 
Stimmung,  Richtung  der  Aufmerksamkeit  u.  s.  w.  Spricht  man  das 
so  theoretisch  aus,  so  erscheint  es  als  selbstverständlich,  aber  in  Praxi 
scheint  mir  gegen  diese  Regel  oft  gefehlt  zu  werden.  Und  selbst, 
noch  schlimmer,  von  den  Personen  verlangt  man  bisweilen  eine  kühle 
Besonnenheit  und  Umsicht,  wie  man  sie  eben  selber  hat,  wenn  man 
die  betreffende  Situation  gedruckt  vor  sich  sieht. 

Völlig  gerecht  werden  kann  m'an  der  Individualität  des  Dichters 
und  der  Personen  nur  mit  einer  gründlichen  psychologischen  Durch- 
bildung. Dafs  eine  solche,  dafs  eine  intensive  Beschäftigung  mit  der 
Psychologie  für  uns  ganz  unerläfslich  sei,  ist  ja  schon  mehrfach  aus- 
gesprochen, wird  aber  noch  nicht  in  dem  Grade  anerkannt,  wie  es 
nötig    wäre.     Die  Sache    liegt    nicht   so,    wie  Schröer*)  meint,    dafs 


*)  Englische  Studien  XVI,  384. 


4S  Hubert  Roetteken. 


psychologische  Kenntnisse  für  den  Litterarhistoriker  nWichtig*^,  eben 
nur  wichtig  seien;  sondern  sie  sind  schlechterdings  unentbehrlich, 
sind  das  Handwerkzeug,  das  wir  keinen  Augenblick  bei  Seite  legen 
können.  In  Wirklichkeit  arbeitet  jeder  Litterarhistoriker,  auch  wenn 
er  nichts  davon  wissen  will,  doch  überall  mit  psychologischen  Vor- 
aussetzungen, sobald  er  über  ein  rein  äufserliches  Aufzählen  der  Er- 
eignisse hinausgeht;  jedes  Urteil  über  die  Wirkung  eines  Ereignisses 
auf  einen  Menschen  oder  über  die  Entstehung  einer  Dichtung  u.  s.  w. 
ruht  auf  bestimmten  Annahmen  über  die  Natur  der  bei  solchen  Ge- 
legenheiten sich  vollziehenden  psychischen  Prozesse,  nur  dafs  diese 
Annahmen  meist  nicht  ausdrücklich  ausgesprochen  und  geprüft  werden. 
Aber  darum  sind  sie  nicht  weniger  vorhanden,  und  vor  allem,  darum 
sind  sie  nicht  besser. 

Nun  hat  ja  allerdings  Schröer  gesagt,  was  man  far  die  Litteratur- 
wissenschaft  an  Psychologie  brauche,  lerne  sich  bald,  vielleicht  noch 
bälder  als  das,  was  man  für  die  Sprachwissenschaft  an  Sprach- 
physiologie brauche.  Mir  scheinen  indessen  die  litteraturpsychologi- 
schen  Probleme  ganz  aufserordentlich  viel  komplizierter  als  die  sprach- 
physiologischen, und  jedenfalls,  meine  eigene  Erfahrung  widerspricht 
Schröers  Meinung.  Ich  habe  mich  ziemlich  viel  mit  psychologischen 
Studien  abgegeben,  habe  aber  durchaus  nicht  das  Gefühl,  es  darin 
herrlich  weit  gebracht  zu  haben  und  genug  davon  zu  wissen.  Doch  dieses 
mag  an  mir  liegen  und  ein  anderer  kann  vielleicht  mit  der  Zeit  und 
Mühe,  die  ich  auf  diese  Dinge  verwendet  habe,  sich  eine  wirklich 
ausreichende  psychologische  Bildung  aneignen.  Jedenfalls  aber,  eine 
ziemlich  grofse  Menge  von  Zeit  und  Mühe  wird  er  verwenden  müssen: 
mit  dem  Durcharbeiten  irgend  eines  Handbuches  ist  es  nicht  getan, 
sondern  man  mufs  die  Speziallitteratur  zur  Hand  nehmen,  ja  noch 
mehr,  man  mufs  sich  mit  der  wissenschaftlichen  psychologischen 
Analyse  soweit  vertraut  machen,  dafs  man  selbst  auf  diesem  Gebiet 
arbeiten  kann.  Die  Handbücher,  besonders  die  neueren,  geben  fast 
nur  die  Grundbegriffe  und  auch  die  Spezialarbeiten  drehen  sich  mehr 
um  diese,  als  um  die  Analyse  der  komplizierten  Erscheinungen,  die 
uns  überall  begegnen.  Vor  allem  aber,  die  psychologische  Litteratur 
kann  ja  gar  nicht  alle  die  verschiedenen  Bilder  erörtern,  die  uns  be- 
gegnen. Die  Biographien  der  Menschen  sind  selbst  Quellen  psycho- 
logischer Forschung  und  wir  müssen  soweit  vertraut  sein  mit  der 
psychologischen  Betrachtungsweise,  dafs  wir  aus  diesen  Quellen 
schöpfen    können,    das    wir   auch   uns  bis  dahin  unbekannte  Kompli- 


Nochmals  Penthesilea.  43 


kadoQen  von  Erscheinungen  richtig  aufzulösen  lernen.  Auf  dem 
Wege  des  Autodidaktentums  sich  das  nötige  anzueignen,  ist  jedenfalls 
ziemlich  mühsam.  Uns,  denen  während  der  Studienzeit  niemand  gesagt 
hat,  dais  wir  Psychologie  brauchen  könnten,  bleibt  freilich  nur  dieser 
Weg  übrig,  aber  ich  meine,  unseren  Schalem  sollten  wir  die  Sache 
erleichtem  und  sie  anregen,  sich  zu  rechter  Zeit,  auf  der  Universität, 
recht  gründlich  mit  diesen  Dingen  zu  beschäftigen  und  nicht  nur  ein 
Kolleg  zu  hören,  sondern  auch  psychologische  Übungen  mitzumachen, 
wo  solche  gehalten  werden,  und  sich  in  die  Litteratur  einzuarbeiten. 
Die  psychiatrische  Klinik,  die  Wetz  vorgeschlagen  hat,  würde  ich 
nicht  gerade  für  nötig  halten:  wo  aber  etwa  ein  etwas  populäreres 
Kolleg  über  Psychiatrie  gelesen  wird,  da  wird  der  künftige  Litterar- 
historiker  es  gewifs  mit  dem  gröfsten  Nutzen  hören.  Kenntnisnahme 
psychiatrischer  Litteratur  mufs  sich  anschliefsen. 

Der  Wert  psychiatrischer  Studien  ist  zunächst  ein  pädagogischer. 
Im  Gegensatze  zu  den  Handbüchern  der  Psychologie  gehen  psychia- 
trische Arbeiten  viel  mehr  ein  auf  den  einzelnen  konkreten  FaU,  be- 
handeln den  Zusammenhang  der  verschiedenen  Einzelheiten  in  dem- 
selben Krankheitsbilde  oder  analysieren  direkt  die  einzelnen  Krankheits- 
geschichten, wie  z.  B.  äufserst  lehrreich  Robert  Sommer  in  seiner  jüngst 
erschienenen  Diagnostik  der  Geisteskrankheiten.  Solche  einzelnen  Fälle 
haben  ja  auch  wir  stets  vor  uns  und  wir  können  für  unsere  Analysen 
bei  den  Psychiatern  Methode  lernen  —  natürlich  nicht  bei  allen. 

Einen  zweiten  wichtigen  Punkt  hebt  Ziehen*)  mit  folgenden  Worten 
hervor:  Wie  eine  Karrikatur  einen  einzelnen  Charakterzug  klarer  her- 
vortreten läfst,  so  zeigt  die  Geisteskrankheit  uns  bald  diesen,  bald 
jenen  Zug  des  psychischen  Lebens  in  besonders  instruktiver  Schärfe, 
gewissermafsen  aus  dem  Wirrsal  der  übrigen  psychischen  Erscheinungen 
herausgelöst. 

Von  direkten  Kenntnissen  ist  uns  am  wertvollsten  die  Kenntnis 
der  Zustände,  die  nicht  allzuweit  von  der  Grenze  des  Normalen  ab- 
liegen*).     Die   eigentlichen   schweren   Psychosen    zu   diagnostizieren 

*)  Leitfaden  der  physiologischen  Psychologiei  Vorwort. 

*)  Noch  wichtiger  wäre  es  ftr  uns,  wenn  es  eine  gute  zusammenfassende  Arbeit 
gäbe  Aber  die  Grenzzustände  des  Normalen.  Es  mfliste  z.  B.  behandelt  sein,  wie  sich 
die  Menschen  psychisch  unter  dem  Einfluis  eines  starken  Affekts  benehmen,  wie  es  da- 
nach, z.  B.  nach  einem  heftigen  Zomesausbruch,  mit  der  Erinnerungsfähigkeit  aussieht, 
0.  8.  w.;  femer,  mit  welchen  Modifikadonen  sich  die  psychischen  Vorgänge  bei  einem 
stark  nervösen  Menschen  abspielen,  der  aber  doch  noch  nicht  als  anormal  zu  bezeichnen 
ist,  u.  s.  w.  Ober  solche  Dinge  findet  man,  soweit  mir  bekannt,  nur  zerstreut  eine  oder 
die  andere  Angabe. 


44  Hubert  Roetteken. 


haben  wir  kaum  Veranlassung:  an  welcher  speziellen  Geisteskrankheit 
Hölderlin  gelitten  hat,  ist  ziemlich  gleichgültig,  denn  als  er  daran  litt, 
war  es  mit  seiner  Poesie  auch  so  ziemlich  vorbei,  und  soweit  sind 
wir  noch  nicht,  dafs  wir  aus  seiner  Geisteskrankheit  über  seine  psy- 
chische Konstitution  in  normalen  Zeiten  Dinge  schliefsen  konnten,  die 
wir  nicht  auch  sonst  schon  wüfsten.  Noch  gleichgültiger  scheint  es 
mir,  ob  Shakespeare  im  Lear  oder  Ibsen  in  den  Gespenstern  eine 
bestimmte  Krankheitsform  wiedergegeben  und  ob  sie  sie  genau  richtig 
wiedergegeben  haben,  hier  genügt  es  wohl  zu  wissen,  dafs  der  Dichter 
mit  Bewufstsein  anormales  Seelenleben  schildern  wollte  und  im  übrigen 
handelt  es  sich  darum,  ob  er  es  glaubhaft  und  ästhetisch  wirksam 
geschildert  hat  — 

Indessen,  kehren  wir  nach  dieser  Abschweifung  zu  unserem  Thema 
zurück  und  beleuchten  wir  die  Frage  noch  von  einer  anderen  Seite: 
was  gewinnt  man  denn,  wenn  man  bei  Widersprüchen  immer  gleich 
verschiedene  Pläne  annimmt? 

Dafs  der  Dichter  in  den  verschiedenen  Plänen  verschiedene  An- 
gaben macht,  ist  allerdings  leicht  begreiflich,  aber  er  fügt  nun  doch 
schliefslich  die  Stücke,  die  aus  verschiedenen  Plänen  stammen,  zu 
einem  Ganzen  zusammen  und  so  steht  man  auch  hier  vor  der  Frage: 
wie  ist  es  möglich,  dafs  er  widersprechendes,  nicht  zusammenpassen- 
des stehen  läfst?  Es  kann  sein,  dafs  der  Dichter  die  Unmöglichkeit 
einsieht,  volle  Übereinstimmung  herzustellen,  nun  aber  doch  das 
frühere  nicht  verwerfen  will,  sich  vielleicht  auch  durch  fragmentarische 
Veröffentlichung  gebunden  fühlt,  und  so  das  spätere  notdürftig  an 
das  frühere  anleimt,  indem  er  sich  damit  tröstet,  dafs  es  allenfalls  so 
gehe  und  dafs  das  Publikum  es  nicht  so  genau  nehmen  werde;  viel- 
leicht hat  er  sich  in  das  schwer  änderbare  schliefslich  auch  in  dem 
Sinne  hineingelesen,  dafs  es  ihm  passend  erscheint,  ein  Fall,  der 
indessen  nur  dann  eine  gröfsere  Wahrscheinlichkeit  besitzt,  wenn  das 
alte  schon  vor  längerer  Zeit  geschrieben  ist,  so  dafs  der  Dichter 
nicht  mehr  genau  in  der  Erinnerung  hat,  was  er  mit  jedem  Worte 
hat  sagen  wollen.  —  Eine  poetisch  geglückte  Scene,  die  nicht  gerade 
im  Widerspruch  steht  zu  dem  neuen,  wohl  aber  dafür  überflüssig  ist, 
wird  immer  die  gröfste  Chance  haben,  dennoch  aufgenommen  zu 
werden.  Kleine  Widersprüche  werden  leicht  übersehen  werden,  denn 
darauf  wird  der  Dichter  seine  Aufmerksamkeit  wohl  nicht  gerade 
richten  und  aufdrängen  werden  sie  sich  ihm  auch  nicht  leicht,  schon  des- 
halb nicht,  weil  das  was  wir  geschrieben  haben  uns  beim  wiederlesen 


Nochmals  Penthesilea.  45 


sofort  einen  vertrauten  Eindruck  macht  und  daher  leicht  richtig  scheint 
—  wenn  wir  es  eben  nicht  ausdrücklich  kontrollieren.  Schliefslich, 
wenn  der  Dichter  bei  der  Zusammenfugung  anfangt  einzelnes  umzu- 
arbeiten  oder  überhaupt  wenn  er  spätere  Änderungen  vornimmt,  so 
wird  es  ihm  leichter  als  bei  ununterbrochener  Arbeit  passieren  können, 
da&  er  Dinge  sagt,  die  mit  anderen  Stellen  der  Dichtung  nicht  über- 
einstimmen. Das  alles  gebe  ich  zu;  erstens  aber  wird  es  wohl  nur 
selten  möglich  sein,  nachzuweisen,  dafs  die  Unebenheiten  wirklich 
aus  der  Verschmelzung  verschiedener  Pläne  oder  aus  späteren  Über- 
arbeitungen stammen  müssen  und  nicht  durch  die  anderen  von  mir 
erörterten  Gründe  und  Möglichkeiten  erklärt  werden  können,  und 
zweitens  steht  dem  allen  nun  folgendes  gegenüber:  wenn  der  Dichter 
für  sein  Werk  Scenen  aus  einem  anderen  Plane  verwendet,  so  hat  er, 
wenigstens  wenn  jene  Scenen  vor  verhältnismäfsig  kurzer  Zeit  ge- 
schrieben wurden,  ein  gedächtnismäfsiges  Wissen  darüber,  da&  sie 
aus  einem  anderen  Plane  stammten,  ursprünglich  eine  andere  Bedeu- 
tung hatten,  und  dieses  Wissen  müfste  seine  Aufmerksamkeit  steigern, 
müiste  ihn  veranlassen,  die  Scenen  eigens  darauf  durchzusehen,  ob 
nichts  in  ihnen  vorkommt,  was  der  späteren  Auffassung  widerspricht; 
man  mufs  ferner  annehmen,  dafs  er  unter  diesen  Umständen  wenigstens 
Widersprüche  die  die  Hauptsache  treffen  auch  sehen  und  dann  auch 
korrigieren  wird,  zum  mindesten  so,  dafs  nicht  mehr  der  direkte  Wort- 
laut widerspricht,  wenn  auch  vielleicht  die  ganze  Stimmung  der  Scene 
sich  nicht  ändern  läfst  und  der  Dichter  sich  hier,  statt  die  Scene 
völlig  neu  zu  schreiben,  mit  dem  oben  angegebenen  Gedanken 
tröstet.  Ich  habe  oben  darauf  Wert  gelegt,  dafs  Kleist  in  der  vier- 
zehnten Scene  auf  die  neunte  Bezug  nimmt,  so  die  Vereinbarkeit  der 
beiden  Scenen  ausdrücklich  behauptet  und  übrigens  auch  angiebt, 
wie  er  sich  diese  Vereinbarkeit  denkt;  in  ganz  schweren  Fällen  aber 
bedürfen  wir  einer  solchen  Erklärung  des  Dichters  gar  nicht.  Hätte 
Kleist  ursprünglich  die  achte  Scene  von  dem  Gedanken  aus  geschrieben, 
dafe  darin  eine  tötliche  Verwundung  der  Penthesilea  berichtet  werden 
sollte,  so  ist  es  doch  anzunehmen,  dafs  er  bei  Änderung  seines  Planes 
aus  der  Scene  alles  getilgt  hätte,  was  an  die  tötliche  Verwundung 
erinnerte  und  dafs  er  dabei  eher  zu  streng  als  zu  lax  vorgegangen 
wäre,  eben  weil  ihm  ja  die  ursprüngliche  Beziehung  der  Worte  be- 
kannt war;  keinesfalls  kann  man  glauben,  dafs  er  leicht  zu  ändernde 
Worte  wie  „totmnschattef*  stehen  gelassen  hätte,  wenn  ihm  diese 
Worte  nicht  völlig  passend   zur  Schilderung   einer  blofsen  Ohnmacht 


46  Hubert  Roetteken. 


erschienen  wären  —  d.  h.,  wenn  er  sie  nicht  auch  von  vorne  herein 
zur  Schilderung  einer  solchen  hätte  brauchen  können. 

Sieht  ein  Dichter,  der  in  einem  Zuge  geschrieben  hat,  sein  Werk 
nach  der  Vollendung  durch,  so  hat  er  nicht  sehr  viel  Aussicht,  etwa 
vorhandene  Unebenheiten  zu  sehen.  Abgesehen  von  der  oben  er- 
wähnten Macht  des  einmal  geschriebenen,  abgesehen  davon,  dals  die 
Schärfiing  der  Aufmerksamkeit  durch  das  Bewufstsein,  nach  verschie- 
denen Plänen  gearbeitet  zu  haben,  fehlt,  wird  das  Erkennen  der 
Fehler  dadurch  erschwert,  dals  im  Dichter,  während  er  die  Stelle 
liest,  auch  die  Motive  wieder  wirksam  werden,  die  ihn  ursprünglich 
zu  dem  Fehler  hintrieben  und  ihn  ermöglichten.  Auch  bei  der  Durch- 
sicht wird  der  Dichter  leicht  wieder  von  der  Schönheit  oder  dem 
Stimmungsgehalt  einer  Scene  so  gepackt  werden,  dafs  er  die  Fehler 
übersehen  kann. 

Überall  kommt  es  an  auf  die  Eigenart  des  Falles  und  auf  die 
Individualität  des  Dichters.  Dafs  Widersprüche  bei  Dingen,  für  die 
der  Dichter  sich  nicht  speziell  interessiert,  leichter  vorkommen  und 
stehen  bleiben  können,  als  bei  solchen,  die  im  Mittelpunkte  des  Kunst- 
jwerkes  stehen,  ist  selbstverständlich,  und  ebenso  selbstverständlich 
ist  es,  dafs  die  Dichter  in  dieser  Beziehung  verschieden  sind,  dafs 
einer  mehr  Übersicht  hat,  ab  der  andere.  Was  haben  wir  nun  hier 
von  Kleist  zu  erwarten?  Dafs  er  hochgradig  zerstreut  war,  ist  be- 
kannt, und  zur  weiteren  Illustration  können  uns  seine  Menschen 
dienen,  die  ja  so  oft  nichts  als  das  eine  nur  denken  und  gegen  alles 
andere  blind  sind.  Sollten  sich  Spuren  dieser  Zerstreutheit  nicht  auch 
einmal  in  der  Konpiposition  seiner  Werke  finden?  Ich  wenigstens 
würde,  auch  wenn  das  Verhalten  des  AchiUes  während  Penthesileas 
Erzählung  psychologisch  nicht  ganz  wahrscheinlich  wäre,  mich  damit 
begnügen  diese  Tatsache  festzustellen  und  zu  untersuchen,  was  wohl 
Kleist  an  dieser  Scene  so  sehr  gefallen  hat,  aber  ich  würde  nicht 
das  geringste  weiter  daraus  zu  schliefsen  wagen.  Die  Tatsache 
selbst  kann  man  freilich  auch  so  ausdrücken,  da£s  man  sagt,  der 
Dichter  habe  die  betreffende  Stelle  ohne  genügende  Rücksicht  auf 
die  Umgebung  geschrieben;  nur  mufs  man  sich  immer  gegenwärtig 
halten,  dafs  dieser  Mangel  an  Rücksicht  eben  nicht  nur  möglich  ist, 
wenn  die  Stelle  für  sich  geschrieben  und  dann  in  das  schon  abge- 
schlossene Ganze  eingefugt  ist.  —  Um  noch  einen  Einzelfall  zu  er- 
wähnen: auch  wenn  Achilles  sich  in  der  fünfzehnten  Scene  ganz  aus- 
drücklich nach  dem  Namen  der  Amazone  erkundigte,  würde  ich  immer 


Nochmals  PenthesUea.  47 


noch  an  die  Möglichkeit  denken,  dafs  Kleist,  ganz  erfüllt  davon,  wie 
fremd  und  seltsam  dem  Achilles  Penthesilea  und  ihr  ganzes  Tun  er- 
scheint, nun  das  Gefühl  gehabt  hätte,  als  müfste  ihm  wohl  auch  der 
Name  unbekannt  sein,  was  ja  an  sich  bei  der  plötzlich  in  den  Dar- 
danerstreit  hereinschneienden  Königin  keine  ganz  unwahrscheinliche 
Voraussetzung  gewesen  wäre;  dafs  ferner  in  der  durch  die  Scene  so 
stark  beschäftigten  Seele  des  Dichters  Erinnerungen  an  die  früheren 
nicht  wohl  mit  jener  Voraussetzung  vereinbaren  Angaben  sich  nicht 
hätten  geltend  machen  können.  So  ganz  unglaubhaft  wäre  ein  solcher 
Hergang  doch  wohl  nicht.  — 

Niejahr  meint,  nach  dem  ursprünglichen  Entwurf  sollte  Penthesilea 
in  dem  Konflikt  zwischen  Neigung  und  Pflicht  zu  Grunde  gehen;  mir 
will  scheinen,  als  ob  der  Konflikt,  den  er  da  konstruiert,  gar  zu  abstrakt 
wäre  um  einen  Kleist  zu  reizen.  Auf  der  einen  Seite  stände  das  Gesetz 
des  Frauenstaates,  das  Kleist  nach  seinen  ganzen  Anschauungen  über 
das  Verhältnis  zwischen  Mann  und  Weib  höchst  töricht  und  ver- 
werflich erscheinen  mufste,  und  auf  der  anderen  Seite  eine  Person, 
welche  sich  von  diesem  Gesetze  nicht  nach  einer  Richtung  hin  ent- 
fernt, die  dem  Dichter  sympathisch  wäre,  sondern  welche  ebenso  wie  * 
die  anderen  Amazonen  sich  den  Geliebten  im  Kampfe  fangen' und  ihn 
mit  sich  fuhren  will,  und  die  nur  darin  vom  Gesetz  abweicht,  dafs  sie 
einen  bestimmten  Gegner  sich  sucht.  Auf  einer  dem  Dichter  durch- 
aus unsympathischen  Grundlage  würde  der  Konflikt  sich  also  um 
eine  im  Verhältnis  zur  Bedeutung  jener  Grundlage  durchaus  neben- 
sächliche Bestimmung  drehen,  und  dafs  Kleist  ein  soldier  Konflikt  zur 
Ausgestaltung  gereizt  hätte,  ist  mir  sehr  unwahrscheinlich.  Wie  die 
Sache  jetzt  liegt,  wendet  sich  Penthesilea  nach  jener  Seite,  die  dem 
Dichter  sympathisch  ist:  wie  sie  2298  ihre  Befreiung  verflucht  und 
deutlich  genug  zu  erkennen  giebt,  dafs  sie  auch  als  Gefangene  dem 
Geliebten  zu  folgen  schliefslich  zufrieden  gewesen  wäre,  da  steht  sie 
auf  dem  Standpunkt,  wie  Kleists  andere  liebende  Frauen.  Und  ich 
finde  auch  das  folgende  nicht  so  tadelnswert  Penthesüeas  Schuld, 
wenn  man  das  böse  Wort  einmal  gebrauchen  will,  liegt  nicht  darin, 
dafs  sie  vom  Gesetz  der  Frauen  abgewichen  ist,  sondern  darin,  dafs 
sie  ihm  jemals  gehorcht  hat,  oder  wenn  man  will,  darin,  dafs  sie 
noch  in  der  siebenzehnten  Scene  sich  nicht  genug  von  ihm  los- 
gerissen hat  um  dem  Achilles  einfach  zu  folgen.  An  diese  Schuld 
knüpft  die  Herausforderung  des  Achilles  an,  diese  Schuld,  die  ja 
auch  die  Übung  im  Waffenhandwerk  bedingte,    ermöglicht   die  Ka- 


48  Hubert  Roettekeü. 


tastrophe,  für  sie  büfst  Penthesilea  noch  nachdem  sie,  eben  zu  spät, 
sich  innerlich  von  den  verhängnisvollen  Anschauungen  gelöst  hat 
Da  scheint  mir  doch  ein  guter  und  erschütternder  Zusammenhang 
vorhanden  zu  sein.  Welch  eine  Tragik  liegt  darin,  dafs  Penthe^ea, 
.die  eben  noch  dem  Achilles  nicht  folgen  wollte,  also  an  den  Sitten 
des  Frauenstaates  festhielt,  nun  durch  eine  Herausforderung,  die  jene 
Sitten  ganz  berücksichtigt,  von  ihnen  aus  betrachtet  gar  nichts  auf- 
falliges enthält,  aufs  tiefste  getroffen  und  zum  Untergange  fort- 
gerissen wird! 

Niejahr  hat  auch  die  Auftritte  vor  der  achten  Scene  berück- 
sichtigt und  nachzuweisen  gesucht,  dafs  Scene  2 — 4  erst  später  ein- 
gefugt seien.  Seine  Gründe  haben  mich  nicht  überzeugt,  da  die  Sache 
indessen  von  keiner  Wichtigkeit  ist,  verzichte  ich  darauf,  hier  noch- 
mals ins  Einzelne  zu  gehen. 

Besser  gelungen  als  der  dritte  Abschnitt  von  Niejahrs  Arbeit 
scheinen  mir  die  beiden  ersten;  doch  kann  ich  auch  hier  nicht  allem 
zustimmen  und  wenigstens  auf  zwei  Punkte  will  ich  noch  kurz  ein- 
gehen. Daraus,  dafs  Kleist  vier  Hundenamen  aus  der  Aktäonsage 
nahm,  schliefst  Niejahr,  er  habe  überhaupt  die  Meute  daher  genommen; 
ebensogut  ist  es  aber  möglich,  dafs  er  von  vorne  herein  das  Ama- 
zonenheer mit  Hunden  ausstattete,  wie  er  ihm  ja  sonst  allen  mög- 
lichen orientalischen  Kriegspomp  beigab,  im  Phöbus  sogar  Rhino- 
ceros  und  Schakaln.  Beteiligte  er  nun  die  Hunde  an  der  Katastrophe, 
so  konnte  ihm  von  hier  aus  die  Aktäonsage  einfallen  und  er  konnte 
einige  Namen  daher  nehmen,  da  ihm  die  selbsterfundenen  nicht  reichten. 
Über  eine  dritte  Möglichkeit  vergl.  die  letzte  Anmerkung.  —  Ebenso 
unsicher  ist  die  Sache  bei  dem  Einflufs  des  Botenberichtes  über 
Pentheus  Tod  aus  den  „Bakchen^.  Niejahr  giebt  zu,  das  Motiv  sei 
vielleicht  einer  schon  in  Kleist  schlummernden  Idee  blitzartig  entgegen- 
gekommen, er  meint  aber  doch,  Kleist  hätte  nur  durch  Zufall  darauf 
stoisen  können  und  es  habe  ihm  dann  die  ganze  Katastrophe  geliefert: 
in  dem  Stoffe  der  Penthesilea  sei,  selbst  den  ganzen  übrigen  Verlauf 
der  Handlung  vorausgesetzt,  dieser  Akt  eines  grausigen  Wutanfalls 
noch  keineswegs  gegeben.  Dem  gegenüber  glaube  ich  nun  aller- 
dings durch  meinen  Aufsatz  im  vorigen  Bande  dieser  Zeitschrift  nach- 
gewiesen zu  haben,  dafs  wir  nach  der  Herausforderung  des  Achilles 
durchaus  irgend  eine  extreme  Tat  der  Rache  zu  erwarten  haben,  eine 
Tat  ungefähr  äquivalent  der  Bärenepisode  in  der  Herrmannsschlacht; 


Nochmals  Penthesüea.  49 


der  Unterschied  zwischen  beiden  erklärt  sich  zur  Genüge  aus  dem 
heftigen  Charakter  der  Penthesilea,  sowie  daraus,  dafs  sie  vermöge 
ihrer  kriegerischen  Erziehung  und  Übung  und  vermöge  der  ganzen 
Veranlassung  und  Gelegenheit  selbst  eingreifen  kann*).  Als  der 
Dichter  die  Herausforderung  des  Achilles  feststellte,  wird  ihm  gleich- 
zeitig auch  deren  notwendige  Folge,  eine  eigenhändige  Rache  in 
extremer  Form,  vorgeschwebt  haben.  Dafs  Fenthesilea  den  Achilles 
nun  gerade  beifst**),  das  lag  ja  allerdings  nicht  in  der  Natur  der 
Sache,  aber  gerade  in  diesem  Punkt  war  ja  auch  die  Pentheusscene 
nicht  vorbildlich.  Hat  Kleist  ohne  ihren  Einflufs  die  übrige  Hand- 
lung festgestellt,  dann  hat  die  Scene  ihm  nichts  weiter  gegeben  als 
einige  nebensächliche  Einzelheiten  und  etwa  die  Färbung,  den  Ton 
des  ganzen  Berichts. 

Eine  andere  Frage  wäre  es,  ob  vielleicht  die  Scene  dem  Dichter 
in  sehr  frühem  Stadium  seiner  Arbeit  vor  die  Augen  kam  und  ihm 
einen  gewaltigen  Eindruck  machte,  dann  mit  hineingeriet  in  das  ganze 
Wogen  von  Vorstellungen  und  Stimmungen,  aus  dem  sich  schliefslich 
das   poetische    Kunstwerk   heraus    kristallisiert,    hier   leise   hinlockte 


*)  Die  Ähnlichkeit  der  Penthesilea  mit  der  Thusnelda  ist  auch  Niejahr  nicht  ent- 
g^angen,  a.  a.  O.  VI  S.  429.  Aber  er  nimmt  an,  auch  bei  Thusnelda  habe  Kleist  eine 
so  krasse  Ausführung  der  Rache  ursprünglich  nicht  beabsichtigt.  «Offenbar**,  sagt 
Niejahr  und  beruft  sich  dabei  auf  die  dritte  Scene  des  dritten  Aktes.  Ich  habe  in  dieser 
Scene  nichts  gefunden,  was  für  Ntejahrs  Ansicht  geltend  gemacht  werden  könnte. 

**)  Wie  Kleist  auf  das  Motiv  des  beifsens  gekommen  ist,  läfst  sich  mit  Sicherheit 
nicht  feststellen.  Psychologischer  Zusammenhang  des  Motivs  mit  der  Vorstellung  der 
Meute  ist  wahrscheinlich,  aber  welches  ist  das  frühere?  Dafs  der  Mensch  im  heftigsten 
Zorne  seine  natürlichen  Waffen  anwendet,  Fäuste,  Zähne,  Nägel,  ist  psychologisch  leicht 
begreiflich  und  konnte  für  Kleist  bestimmend  sein:  Fäuste  und  Nägel  waren  aus  ästhe- 
tischen Gründen  nicht  wohl  verwendbar  und  so  wären  die  Zähne  übriggeblieben. 
Möglich,  dafs  dann  von  der  Vorstellung  der  beifsenden  Penthesilea  aus  dem  Dichter  der 
Gedanke  an  eine  Meute  und  weiter  an  die  Aktäonsage  kam.  Es  kann  aber  auch  um- 
gekehrt gewesen  sein.  Wenn  Kleist  die  Hunde  ursprünglich  dem  Heere  folgen  liefs  und 
sie  dann  auch  an  der  Katastrophe  beteiligte,  so  sah  er  in  seiner  Fantasie  Penthesilea 
mit  zornigen  Mienen  inmitten  der  zähnefletschenden  Hunde  auf  den  Achilles  losstürzen. 
Leicht  konnte  da  von  dem  physiognomischen  Eindruck  der  Hundegesichter  sich  etwas 
übertragen  auf  das  Gesicht  der  Penthesilea,  sodafs  nun  auch  diese  dem  Dichter  erschien 
mit  gehobener  Oberlippe,  zum  Bisse  fertig.  Und  da  konnte  ihm  eben  einfsiUen,  sie  auch 
wirklich  beifsen  zu  lassen.  Zwischen  diesen  beiden  Möglichkeiten  wüfste  ich  keine 
Entscheidung  zu  treffen,  und  ich  will  übrigens  auch  nicht  einmal  behaupten,  dafs  es  die 
einzigen  Möglichkeiten  sind. 

Ztachr.  f.  Tgl.  Litt-G«acb.    N,  F.  Vül.  4 


60  Hubert  Roetteken. 


nach  einer  ähnlichen  Katastrophe  und  so  einen  gewissen  Einflufs  auf 
die  Gestaltung  des  ganzen  Stoffes  ausübte.  Das  wäre  möglich;  aber 
selbst  wenn  wir  sicher  wüfsten,  dafs  für  Kleist  in  den  ersten  Stadien 
seiner  Arbeit  die  Scene  eindrucksvoll  gewesen  wäre,  so  hätten  wir 
ja  doch  kein  Mittel  auch  nur  mit  dem  geringsten  Anspruch  auf  Wahr- 
scheinlichkeit abzuschätzen,  wie  grofs  der  Einflufs  dieser  Einzelheit 
war.  Nur  dafs  er  sehr  bedeutend  schwerlich  gewesen  ist,  möchte  ich 
auf  alle  Fälle  annehmen. 


Würzburg. 


-•••- 


Die  ossianischen  Heldenlieder. 


Von 
Ludwig:  Chr.  Stern. 


I. 

ES  sind  nun  130  Jahre,  seit  der  Name  „Ossian"  zu  uns  herüberdrang. 
Alles  Verdienst,  die  Welt  mit  den  Dichtungen  des  Sohnes  Fingais 
bekannt  gemacht  zu  haben,  gehört  James  Macpherson,  einem  jungen 
Theologen  aus  den  schottischen  Hochlanden,  der  1760  in  Edinburg 
unter  dem  Schutze  des  berühmten  Kunstrichters  Hugh  Blair  zwei  Lieder, 
dann  aber  15  und  in  zweiter  Auflage  16  „Fragmente",  wie  das  all- 
gemeine Urteil  lautete,  kostbare  Perlen  lyrisch-epischer  Poesie,  aus 
dem  „Galischen"  oder  „Ersischen"  ins  Englische  übersetzt,  herausgab. 
Mehr  davon,  sei  es  aus  Handschriften  oder  aus  dem  Munde  der  cel- 
tischen  Bewohner  des  schottischen  Gebirgs  und  der  westlichen  Inseln, 
zu  sammeln  und  aus  der  wenig  bekannten  Sprache  zu  übertragen^ 
schien  vielen  geboten.  Und  der  ehrenvollen  Bitte  genügte  der  talent- 
volle Jüngling  vollauf,  indem  er  schon  1762  mit  einem  regelrechten 
Epos  „Fingal"  und  1763  mit  einem  ganz  ähnlichen  Werke  „Temora" 
überraschte  —  beide  sowie  eine  Anzahl  beigegebener  kleiner  Gedichte 
eingestandenermafsen  Werke  Ossians,  des  Sohnes  Fingais,  eines  Königs 
von  Morven  im  alten  Schottland,  der  im  3.  Jahrhundert  blühte,  und 
aus  der  gälischen  Sprache  getreu  übersetzt.  Dem  letztgenannten  Buche 
war  selbst  eine  Probe  des  Urtextes,  das  7.  Buch  von  „Temora",  bei- 
gefugt —  zur  Befriedigung    neugieriger   Zweifler. 

Es  ist  hinlänglich  bekannt,  welches  Aufsehen  die  „Gedichte  Ossians"  in 
ganz  Europa  erregten.  Von  dem  Vorhandensein  einer  so  alten,  so  edlen 
und  so  gefühlvollen  Poesie  in  jenem  versteckten  Winkel  des  Erdteils  hatte 
niemand  eine  Ahnung  gehabt.  Die  Wehmut,  the  joy  of  grief,  die  durch 
diese  Gedichte  geht,  stimmte  so  recht  zu  der  empfindsamen  Geistes- 

4* 


52  Ludwig  Chr.  Stern. 


Strömung,  die  um  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  die  Oberhand 
gewann.  Die  Eigentümlichkeit  der  poetischen  Prosa  in  ihrer  knappen, 
der  englischen  Sprache  so  gemäfsen,  bilderreichen  Redeweise  be- 
zauberte viele.  Weithin  erfafste  die  Harfe  des  celtischen  Homer  die 
Geister  und  hielt  sie  lange  in  „süfsem  Glück*'  gefangen. 

« 

„Aber  warum  so  traurig,  Fingais  Sohn? 

warum  wölkt  sich  deine  Seele  ein? 

Die  Führer  andrer  Zeiten  sind  geschieden; 

sie  gingen  hinweg  mit  ihrem  Ruhm. 

Die  Söhne  künftger  Jahre  werden  scheiden; 

ein  ander  Geschlecht  kommt  auf. 

Das  Volk  ist  gleich  den  Wogen  des  Meeres, 

dem  Laube  des  waldigen  Morvens  gleich; 

Das  schwindet  im  rauschenden  Windeshauch 

und  andre  Blätter  erheben  ihr  grünes  Haupt. 

War  deine  Schönheit  dauernd,  o  Ryno? 

bestand  des  streitgebomen  Oscars  Kraft? 

Fingal  selbst  ging  hinweg, 

und  die  Halle  der  Väter  vergafs  auch  seinen  Tritt. 

Und  solltest  du  rückbleiben,  alter  Barde, 

wenn  die  Helden  sanken  hin?  — 

Aber  es  bleibt  mein  Ruhm! 

Er  wächst  wie  die  Eich*  auf  Morven: 

sie  hebt  ihr  breites  Haupt  dem  Sturm 

und  jauchzt  im  Laufe  des  Winds"*), 

Es  fehlte  aber  nicht  an  Kritikern,  die  eine  unbedingte  Anerkennung 
der  ossianischen  Poesie  verweigerten.  Die  Gedichte  gefallen  sich  all- 
zusehr in  düsterer  Schwermut;  ein  grauer,  trauriger  Himmel  ist  über 
eine  zwar  gewaltige,  aber  ode  Landschaft  ausgebreitet.  Es  ist  all- 
zuviel Einförmigkeit  in  den  Ansichten  der  Natur,  die  der  „Nebeldichter " 
entrollt,  so  dafs  man  sie  nicht  übel  mit  den  wechselnden  Bildern  in 
einem  Kaleidoskop  oder  mit  künstlichen  Mosaikmustern  verglichen  hat. 
Während  die  Gedichte  „Ossians"  das  Unmögliche  und  das  Gering- 
fugige,  an  der  sich  die  Einbildungskraft  der  Volkspoesie  behagt,  zu 
beseitigen  suchen,  fuhren  sie  eine  Empfindsamkeit  und  eine  Grofs- 
artigkeit  ein,  die  der  Sage  der  Heldenzeit  noch  weniger  zukommt. 
Die  Erfindung  ist  durchweg  arm,  die  Ausführung  vage.  Die  Dich- 
tungen haben  etwas  jugendlich  Unreifes,  der  Mangel  an  Abwechselung 
und  an  bestimmten  Einzelheiten  verrät  die  Unwissenheit  des  Ver- 
fassers.    Kühn  wie  sie  sind,  halten  die  Bilder  in  der  Sprache  mitunter 


*)  Vergl.  Herders  Werke  i6,  327;  Übersetzung  aus  „Berrathon". 


Die  ossianischen  Heldenlieder.    I.  68 

eine  Prüfung  keineswegs  aus;  zahlreich  sind  die  Seltsamkeiten  des 
Wortgebrauchs;  der  Ausdruck  gerät  von  stets  Erhabenen  oft  ins 
Lächerliche*).  Dazu  wimmelt  es  von  Anklängen  an  Homer,  Milton, 
die  hebräischen  Propheten  und  andere  Dichter,  worauf  naiv  genug 
Macpherson  selbst  aufmerksam  machte,  was  aber  nachdrücklicher  und 
vollständiger  die  scharfen  Streitschriften  des  belesenen  Malcolm  Laing 
(1762  —  18 19)  dargetan  haben.  Das  ganze  Puerile  der  ossianischen 
Poesie  hatte  schon  1770  Voltaire  gekennzeichnet,  indem  er  spottete, 
Virgil  zu  dichten  sei  schwer,  Ossian  leicht**). 

Aber  noch  in  andrer  Hinsicht  wurden  die  ossianischen  Gedichte 
beanstandet.  Sie  sind  nämlich  auf  die  verkehrte  Theorie  gegründet, 
nach  der  die  celtischen  Bergschotten  Abkömmlinge  der  alten  Caledonier 
wären,  die  die  Römer  unter  Caracalla  208  n.  Chr.  bekämpft  haben 
sollen.  Diese  irrige  Ansicht  hatte  1 739  David  Malcolm  verfochten  und 
damit  dem  Heimatsgefuhl  seiner  Landsleute  nicht  wenig  geschmeichelt. 
Er  ist  „der  hochberühmte  Autor  Mac-Comb",  auf  den  sich  AI. Macdonald 
in  seinem  schönen  Gedichte  auf  die  gälische  Sprache  beruft.  Nach 
Macpherson  war  Fingal  König  eines  alten  Fabelreiches  Morven  in 
der  Grafschaft  Argyle  in  Schottland,  das  in  sonstigen  Überlieferungen, 
namentlich  in  denen  Irlands,  des  Mutterlandes  der  schottischen  Galen 
und  des  Hauptsitzes  der  celtischen  Rasse  bis  auf  den  heutigen  Tag, 
gänzlich  unbekannt  ist.  Von  dem  Volke  der  Gelten,  das  einst  aus 
der  indogermanischen  Urheimat  nach  dem  fernen  Westen  zog  und 
von  allen  am  weitesten  vordrang,  haben,  aufser  den  Galliern  im  alten 
Frankreich,  zwei  Stämme  die  Jahrhunderte  überdauert  —  die  Kymrier 
in  Wales,  Cornwallis  und  der  Bretagne,  zu  denen  auch  wohl  das 
untergegangene  Volk  der  Picten  gehörte,  (nach  einer  Eigentümlichkeit 
ihres  Dialekts  von  Professor  Rhys  die  P-Celten  genannt),  und  die 
Goidelen  (Galen)  oder  Scoten  (die  C-Celten),  die  Irland  und  die  west- 
lichen Inseln  einnahmen.  Schon  Beda  überliefert  in  seiner  Kirchen- 
geschichte, dafs  ein  irischer  Stamm  in  Ulster,  die  Dalreudini  oder 
Däil-Riada,  um  500  n.  Chr.  nach  Argyle  nördlich  von  Firth  of  Clyde 
ausgewandert  ist  und  so  die  gälische  oder  scotische  Nation  nach 
Caledonien  verpflanzt  hat.    Sie  haben  dem  Lande  nicht  nur  den  Namen 


*)  Es  beiist  2.  B.  ^thou  dweller  of  battle**  oder  „dweller  of  my  thoughts"  (Temora 
P-  '43)»  dann  auch  „a  white-bosomed  dweller  betwecn  my  anns**  (p.  120).  1785  wurde 
der  Stil  „Ossians**  im  Edinburgh  Magazine  grausam  parodiert. 

••)  Oeuvres   compl^tes,  edition  Garnier  frkrea  17,  236,     Auch  W.  Shaw,  Inquiry 
'7^')  P*  5^>  verspottet  das  Mechanische  in  der  ossianischen  DichtungsweisQ. 


64  Ludwig  Chr.  Stern. 


(Scotenland),  sondern  auch  60  Könige,  von  Fergus  dem  Sohne  Eres 
bis  zu  Alexander  III.  1286,  gegeben.  Aber  in  Irland  gelangte  die 
Bildung  der  Scoten  zur  eigentlichen  Entfaltung  und  diese  hat  seit 
alter  Zeit  nach  den  Ländern  gälischer  Zunge  hingewirkt,  d.  h.  nach 
der  Insel  Man  und  nach  West-Schotdand  (Alba)  mit  den  Hebriden 
(Innse  Gall,  „die  Inseln  der  Fremden*',  nämlich  der  Norweger).  Die 
gälische  Sprache  der  Bergschotten  und  der  Inselbewohner  (heute  ge- 
wöhnlich „Gälisch"  schlechthin  genannt)  ist,  ebenso  wie  das  Manx, 
nur  eine  Mundart  der  irischen  und  hiefs  daher  englisch  erse*).  Obwohl 
sich  diese  Dialekte  in  der  Neuzeit  weiter  getrennt  haben,  so  ist  ihre 
Litteratur  in  der  frühern  doch  nur  eine,  und  was  an  Sagen  der  alten 
Zeit  erhalten  ist,  hat  meist  in  dem  Mutterlande  seinen  Ursprung  ge- 
habt. Fingal  ist  in  dieser  gemeinsamen  Sage  ein  wohlbekannter  Held, 
aber  er  heifst  Finn  oder  Fionn  und  ist  Befehlshaber  des  Krieger- 
stammes der  Fiannen  oder  Fenier  unter  dem  Oberkönige  Irlands 
Cormac  in  der  Mitte  des  3.  Jahrhunderts.  Oschin,  Oscar,  Goll  gehören 
nach  der  irischen  Sage  freilich  zu  diesen  Kriegern;  aber  Cuchulinn, 
dem  Finn  bei  Macpherson  Hülfe  leistet,  lebte  um  Christi  Geburt  zur 
Zeit  des  Königs  Conchobar  von  Ulster.  Derdri,  die  Frau  des 
letztern,  wird  bei  „Ossian",  der  sie  Darthula  nennt,  eine  Zeitgenossin 
Fingais  und  von  dem  eifersüchtigen  Cairbre,  d.  i.  Cormacs  Nachfolger, 
getötet  —  und  so  ist  der  Geschichtsverdrehung  kein  Ende**).  Ebenso 
schlecht  ist  es  mit  der  Geographie  in  den  Gedichten  „Ossians" 
bestellt:  Macpherson  giebt  nur  klingende  Namen  ohne  alle  Bedeutung, 
wie  er  denn  überhaupt  den  Schauplatz  der  Handlung  fast  immer  nach 
Schottland  verlegt.  Dergleichen  kann  in  neuem  Dichtungen,  die  den 
Zusammenhang  mit  der  Überlieferung  verloren  haben,  vorkommen, 
aber  nicht  in  so  alten  Denkmälern,  wie  sie  die  „Gedichte  Ossians** 
angeblich  waren. 

Solchen  Einwürfen  zum  Trotz  wollte  Macpherson  die  „Gedichte 
Ossians"  in  gälischer  Sprache  gesammelt  haben  (ob  und  wie  weit  aus 
Handschriften  wurde  nie  klar);  er  wollte  sie  übersetzt,  ja  wörtlich 
übersetzt  haben  und  bemerkte  immer  wieder,  wie  erstaunlich  ausdrucks- 
voll sein  Original  an  dieser  oder  jener  Stelle  sei  (z.  B.  Temora  p.  92  = 


*)  So  schon  bei  Will.  Dunbar  um  1500:  erische  3,  41,  ersehe  i,  53  und  erschry  2,  69 
(=  Irishry).  Da  auch  die  irische  Sprache  ^gälisch**  heifst,  so  gebrauche  ich  nalbanogällsch'* 
gelegentlich  für  den  schottischen  Dialekt. 

**)  Vergl.  D^Arbois  de  Jubainville,  La  litterature  ancienne  de  Tlrlande  et  TOssian 
de  Macpherson,  In  der  Blblioth^ue  de  PEcole  des  Chartes  XLI.  x88o,  p.  475—87. 


Die  ossianischen  Heldenlieder.    I.  55 

galisch  5,  307  ff.)  oder  dafs  irgend  eine  Stelle  in  Musik  gesetzt  sei,  die 
wenige  ohne  Tränen  anhören  könnten  (z.  B.  Cath-Loda  i,  108  ff.).  In 
seinen  einleitenden  und  erläuternden  Beigaben  hob  er  das  hohe  Alter 
und  die  Vortrefflichkeit  seiner  „Gedichte  Ossians"  gegen  die  läppischen 
Volkslieder,  die  in  Irland  unter  seinem  Namen  gingen,  fortwährend 
hervor  und  verhöhnte  den  gelehrten  Roderick  OTlaherty  und 
Dr.  Geoffirey  Keating,  den  Livius  der  Irländer,  —  er,  der  in  der 
Bibliothek  zu  Oxford  nicht  fähig  war,  auch  nur  eine  Zeile  eines  wenige 
Jahrhunderte  alten  gälischen  Manuskripts  zu  verstehen.  Unerhört  war 
diese  Kühnheit,  womit  er  allein  das  ganze  Alt-Irland  herausforderte. 

Nun  war  nicht  zu  verwundern,  dafs  der  bescheidene  Zweifel,  der 
zuerst  hier  und  dort  gegen  die  Echtheit  der  „Gedichte  Ossians"  laut 
geworden  war,  bald  zur  schroffen  Verneinung  und  die  gleichmütige 
Zurückhaltung,  die  viele  beobachtet  hatten,  in  der  Folge  zur  heftigen 
Anklage  wurde.  David  Hume  forderte  schon  1763  eine  genaue 
Untersuchung,  Ein  Irländer  (vielleicht  der  Abbe  Connery)  legte  1 764 
im  Journal  des  S9avants  alle  Bedenken  gegen  die  Echtheit  dar.  Der 
gelehrte  Charles  O'Conor  von  Belanagare  unterzog  die  Gedichte  1766 
einer  herben  Kritik  und  Samuel  Johnson,  der  Lexikograph,  sprach 
ihnen  1775  jede  Authenticität  ab:  nach  ihm  habe  Macpherson  nur 
Namen,  Erzählungen  und  einzelne  Stellen  aus  gälischen  Liedern  gehabt 
und  damit  seine  eigenen  Poesien  verquickt,  um  sie  dann  als  die 
Gedichte  „Ossians"  auszugeben.  Der  offen  des  Betrugs  bezichtigte 
Dichter,  nach  dem  Zeugnisse  eines  Menschenkenners  wie  Hume,  ein 
seltsamer  imd  heteroklilischer  Sterblicher,  als  welchen  er  keinen  per- 
versem und  unliebenswürdigern  Menschen  kennen  gelernt  habe, 
steigerte  durch  sein  Benehmen  die  Erbitterung  der  Gegner  und  tat 
nichts,  um  die  Aufklärung  zu  gewähren,  die  man  so  dringend  verlangte. 

Es  hatten  sich  seine  Landsleute  der  Frage  bemächtigt,  in  der  sie 
ihre  eigene  Ehre  beteiUgt  wähnten,  und  wetteiferten  die  Echtheit  der 
„Gedichte  Ossians"  (was  doch  vor  andern  ihrem  Urheber  zugekommen 
wäre)  zu  erweisen*).    Sie  bezeugten,  dafs  Fingal  und  die  Fiannen  seit 


*)  Von  den  Verteidigern  „Ossians**  seien  hier  genannt:  H.  Blair  1763,  M.  Cesa- 
rotti  1763,  J.  Wodrow  1771,  J.  G.  SuUer  1771,  Whitaker  1773,  Th.  Warton  1774, 
H.  Home  Lord  Kaimes  1775,  W.  Shaw  1778,  D.  Macnicol  1779,  M.  Dorat  1780,  J.  Smith 
1780,  J.  Clark  1782,  J.  L.  Buchanan  1793.  94,  L.  W.  Flügge  1796,  AI,  Campbell 
1797,  C.  H.  Schundenius  1799,  J.  Macdonald  1802.  1806,  J.  Gurlitt  1803,  Mrs.  Grant- 
Laggan  1803,  Arch.  Macdonald  1805,  P.  Graham  1807,  Sir  John  Sinclair  1807,  J.  Grant 
1814,  £.  Maclachlan  181 8«  H.  und  J.  Maccallum  1816,  AI.  Macdonald  1820,  H.  Campbell 


66  Ludwig  Chr.  Stern. 


Jahrhunderten  in  Schottland  wohlbekannt  seien  und  dafs  heroische 
Gedichte  wie  die  macphersonschen  unter  ihnen  seit  unvordenklicher 
Zeit  vom  Vater  auf  den  Sohn  überliefert  fortlebten.  Aber  die  pein- 
lich beschworenen  Aussagen  kamen  über  Allgemeinheiten  nicht  hin- 
aus; statt  klare  und,  wie  der  Fall  lag,  philologische  Beweise  zu  lie- 
fern, erschöpfte  man  sich  in  nutzlosem  Hin-  und  Herreden.  Keiner  ver- 
mochte ein  einzelnes  Volkslied  nachzuweisen,  das  sich  mit  einem  der 
von  Macpherson  „wörtlich  übersetzten"  wörtlich  deckte.  Nicht  selten 
wurden  verlorene  Handschriften  angeführt,  bald  in  Folio  und  bald  in 
Quarto,  die  man  vor  einer  Reihe  von  Jahren  in  der  Hand  dieses  oder  jenes 
gesehen  habe  und  die  (soweit  man  sich  erinnere)  die  ossianischen  Ge- 
dichte enthalten  hätten;  wenn  man  aber  solchen  Spuren  nachging,  so 
ergab  sich,  dafs  diese  unschätzbaren  Manuskripte  unlängst  in  den 
Ofen  gewandert  oder  zu  Kleidermafsen  verschnitten  worden  waren. 
Mehr  als  einige  allgemeine  Beziehungen  der  „Gedichte  Ossians"  zu 
den  handschriftlich  oder  mündlich  überlieferten  Heldengedichten  konnte 
auch  ein  ziemlich  unparteiischer,  aber  im  Urteile  schwacher  Bericht 
nicht  feststellen,  den  Henry  Mackenzie  auf  Grund  ihres  reichen  Mate- 
rials der  Highland  Society  of  Scotland  in  Edinburg  in  dem  „Report 
of  the  committee  appointed  to  inquire  into  the  nature  and  authenticity 
of  the  poems  of  Ossian"  1805  erstattete,  noch  vermochte  er  die  Geg- 
ner zum  Schweigen  zu  bringen**). 

Heute  begreift    sichs  schwer,    wie    man  über  eine  Frage  wie  die 
ossianische  so  endlos    hin  und    herstreiten  konnte.     Es  ist  doch  klar, 


1822,  J.  Logan  1831,  J.  Reid  1832,  P.  Macgregor  1841,  Giemen  1854,  Oswald  1857, 
Tb.  Maclauchlan  1857,  P.  Macnaughton  186 1,  D.  Campbell  1862,  J.  F.  Campbell  1862, 
W.  F.  Skene  1862,  E.  Waag  1863,  Th.  Pattison  1866,  Archib.  Macneil  1868,  A.  Ebrard 
1868.  70,  Arch.  Clerk  1870,  P.  H.  Waddell  1875.  78,  J.  St.  Blackie  1876,  C.  S.  Jerram 
1876,  D.  Mackinnon  1877,  Shairp  1880,  Ch.  Stewart  1884,  AI.  Macbain  1884.  Die 
zahlreichen  Übersetzer  ^Ossians"^,  die  eo  ipso  von  der  Echtheit  überzeugt  zu  sein  scheinen, 
habe  ich  hier  nicht  aufgeführt. 

**)  Der  Zweifel  an  der  Echtheit  der  „Gedichte  Ossians**  tritt  schon  im  Journal  des 
S^avants  1762,  nov.  p.  724  flf.  entgegen;  es  folgten  der  Kritiker  von  1764  und  F.  Warner, 
Ch.  O'Conor  1766.  75,  S.  Johnson  1775,  Sir  James  Foulis,  W.  Shaw  1781 — 84,  M.  Laing 
1800.  1805,  Th  OTlanagan  1808,  Fink  181 1,  Ch  O'Conor  d.  J.  1814,  Edw.  Davies 
1825,  W.  H.  Drummond  1831,  Edw.  O'Reilly  1831,  Talvj  (Therese  Ad.  L.  v.  Jacob) 
1840,  O.  Connellan  1860,  E  O'Curry  i86a,  die  „Times"  1869,  W.  M.  Hennessy  1871, 
J.  F.  Campbell  1872,  St.  H.  O'Grady  1880,  AI.  Macbain  1886.  87,  H.  Maclean  1887, 
Prof  Mackinnon  1890,  Alfr.  Nutt  1890,  H.  D'Arbois  de  Jubainville  1892.  Hier  wie  oben 
sind  nur  die  wichtigsten  Namen  gegeben,  denn  eine  vollständige  Ossianische  Bibliographie 
würde  ein  Buch  bilden. 


Die  osslanischen  Heldenlieder.     I.  67 


dafs  sie  nicht  aus  allgemeinen  litterarischen  Erwägungen  entschieden 
werden  konnte,  dafs  vielmehr  die  Kenntnis  der  irisch-gälischen  Sprache 
und  Poesie  die  notwendige  Grundlage  eines  kompetenten  Urteils  sein 
mufste.  Hier  kam  es  mehr  auf  die  Form  als  auf  die  Sache  an.  Es 
war  doch  unumgänglich  nötig  die  gälischen  Originale  der  macpher- 
sonschen  Gedichte  zu  prüfen.  Aus  dem  gälischen  7.  Buche  von 
„Temora",  das  dem  Englischen  wörtlich  entspricht^  üefs  sich  der  apo- 
kryphe Charakter  der  Dichtungen,  so  sehr  auch  die  Sprache  dieses 
Stückes  die  Sprachkundigen  stutzig  machen  mufste,  nicht  überzeugend 
nachweisen.  Denn  gedruckte  albano-gälische  Litteratur  gab  es  in  der 
Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  wenig*),  und  wer  hätte  denn,  ohne 
Kenntnis  wenigstens  der  allgemeinen  Geschichte  der  gälischen  Sprache, 
die  selbst  aus  dem  Werke  des  hochverdienten  Ed.  Lluyd  nicht  zu 
gewinnen  war,  ohne  Grammatik,  ohne  Wörterbuch  der  gälischen 
Sprache  Schottlands,  behaupten  können,  dafs  eine  Sprachform  wie 
diese  in  früheren  Jahrhunderten  nicht  möglich  gewesen  wäre?**)  Frei- 
lich mufsten  das  Geheimnis  und  die  Unklarheit,  womit  Macpherson 
die  gälischen  „Originale"  von  Anfang  an  umgab,  das  Vertrauen  selbst 
der  Unbefangensten  und  Wohlwollendsten  erschüttern***).  Er  hat 
diese  viel  begehrten  Sprachdenkmäler  (die  er  einmal  6  Wochen  lang 
bei  einem  Buchhändler  wollte  ausgestellt  haben,  allerdings  ohne  dafs 
sie  jemand  der  Besichtigung  gewürdigt  hätte)  dem  Publikum  unter 
Vorwänden  verweigert.     So    ganz    einwandsfrei  müssen    sie  nicht  ge- 


*)  Die  von  der  Synode  von  Argyle  übersetzten  ersten  50  Psalmen,  Glasgow  1659, 
sind  das  erste  schottisch-gälische  Buch,   doch  hat  es*  noch  vielfach  irische  Färbung. 

**)  AI.  Stewart,  der  Grammatiker  des  Albanogälischen  (1801),  hält  tatsächlich  seinen 
modernen  Dialect  für  ursprünglicher  als  das  uralte  Irische.  S.  Elements  of  Gaelic 
Grammar  ^  p.  88. 

***)  Schon  über  die  „Fragmente**  heilst  es  im  Gentleman*s  Magazine  XXX.  1760, 
p.  409:  ^As  the  original  Erse  is  intended  to  be  printed,  wtth  some  fiiture  edition  of 
them,  it  will  irrefragably  prove  their  authenticity,  which  might  otherwise  be  reasonably 
doubted*.  Und  im  Januar  1761  schreibt  Macpherson  an  Maclagan,  dais  ihm  dn  gälisches 
Ef>os  über  Fingal  in  die  Hände  gefallen  sei:  „I  have  some  thoughts  of  Publishing  the 
original,  if  it  will  not  clog  the  work  too  much**.  (Report,  app.  p.  155).  Vor  der  ersten 
Ausgabe  des  Fingal  1763  bemerkt  er:  „There  is  a  design  on  foot  to  print  the  Originals, 
as  soon  as  the  translator  shall  have  time  to  transcribe  them  for  the  press;  and  if  this 
publication  shall  not  take  place,  copies  will  then  be  deposited  in  one  of  the  public 
libraries,  to  prevent  so  ancient  a  monument  of  genius  from  being  lost**.  1763  brachte 
als  gälisches  Specimen  das  7.  Buch  „Temoras"'  zugleich  mit  der  Erklärung,  dais  weitere 
Proben  unnötig  seien,  da  die  Originale  lange  genug  ausgelegen  hätten.  Ursprünglich 
hatte  Jdacpherson  beabsichtigt  das  Gälische  mit  griechischen  Buchstaben  zu  drucken. 


58  Ludwig  Chr.  Stern. 


wesen  sein,  denn  noch  1784  erklärte  er  einer  Gesellschaft,  die  sich 
patriotischerweise  zur  Deckung  der  Druckkosten  erbot,  er  beab- 
sichtige sie  noch  erst  zu  ordnen.  Darüber  starb  er  1796.  Mit  den 
Mitteln  zur  Drucklegung  hinterliefs  er  ein  Manuskript,  über  dessen  Be- 
schaffenheit nichts  bekannt  ist,  da  es  die  ernannten  Herausgeber  von 
Th.  Rofs  durchkorrigieren  und  umschreiben  liefsen  und  nicht  etwa  in 
einer  öffentlichen  Bibliothek  niederlegten,  sondern  alsbald  vernichteten. 
Rob.  Macfarlane  machte  eine  lateinische  Übersetzung  dazu.  Über 
diesen  Arbeiten  vergingen  Jahre.  Endlich  1807  kamen  die  gälischen 
Gedichte  „Ossians^  an  die  Öffentlichkeit,  44  Jahre  nach  den  englischen. 
Diese  Prachtausgabe  der  Originale  enthält  etwa  zwei  Drittel  des 
Englischen;  die  11  Gedichte  von  den  22  englischen,  für  die  auch  jetzt 
noch  kein  Urtext  geboten  wurde,  dürfte  man  wohl  unbedenklich  als 
hors  concours  für  die  Echtheit  betrachten.  Aber  auch  die  gälischen 
„Originale"  mit  den  mancherlei  Widersprüchen,  die  sie  in  sich  tragen, 
werden  keineswegs  zu  einer  Ehrenrettung  des  englischen  „Über- 
setzers** ;  sie  bestätigen  lediglich  das  Urteil  seiner  berufensten  Kritiker. 
Der  Zweifel  wird  zur  Gewifsheit. 

Für  die  Geschichte  der  Entstehung  der  gälischen  „Originale"  sind 
zunächst  einige  Bruchstücke  daraus,  die  man  früher  in  die  Öffentlich- 
keit geworfen  hatte,  von  grofser  Wichtigkeit. 

Das  erste  gälische  Bruchstück,  von  dem  wir  wissen,  ist  ein  Stück 
aus  Fingal  (3,  302— -403.  497 — 514  der  späteren  Ausgabe),  das  man 
dem  Rev.  Mac  Iver  von  Lochaish  (f  1790)  verdankt.  Es  wurde 
erst  1814  von  J.  Grant,  Origfin  and  descent  of  the  Gael  p.  423  ff.,  ver- 
öffentlicht und  ist  von  dem  „Original"  von  1807  gänzlich  verschieden. 
Die  Episode  ist  ein  unvollkommener  Entwurf  der  entsprechenden 
Stelle  in  Macphersons  Fingal  von  1762,  mufs  aber  schon  aus  den 
Jahren  1760  oder  1761  stammen,  da  der  in  diesem  Fragmente  vor- 
kommende Garbh  von  Macpherson  1762  Swaran  genannt  wurde; 
neben  Fionn  kommt  auch  die  Form  Fionnghael  d.  i.  Fingal  vor.  Mac 
Iver  war  vermutlich  ein  Freimd  und  Helfer  Macphersons. 

Das  zweite  gälische  Originalfragment  ging  um  1 762  von  Lauchlan 
Macpherson  von  Strathmashie  (f  1767)  aus,  einem  mittelmäfsigen  gäli- 
schen Dichter.  Diese  Probe,  den  Kampf  Golls  und  Swarans  im 
Fingal  4,  259 — 76  enthaltend,  teilte  ein  unbesonnener  Freund  1799 
an  die  Highland  Society  mit  (Report  p.  32).  Nicht  eine  Zeile  dieses 
Textes,  dessen  Echtheit  schon  Edw.  O'Reilly  (Essay  p.  245)  ange- 
zweifelt hat  (Suaran  und  die  Haide  von  Gormal  sind  macphersonisch), 


Die  ossianischen  Heldenlieder.     I.  59 

Stimmt  mit  dem  gälischen  „Ossian"  von  1807  überein.  Es  ist  wahr- 
scheinlich, dafs  Macpherson-Strathmashie  der  Verfasser  auch  des  andern 
jfälischen  Stückes  ist,  das  nach  seiner  Mitteilung  an  A.  Gallie  im 
Report  p.  143  veröflFentlicht  worden  ist:  A  mhacain  cheann  |  Nan  cursan 
srann  |  Ard-leumnach  righ  nan  sleagh  |  u.  s.  w.*).  Dies  Gedicht  ist 
von  Macpherson  im  Fingal  (p.  56  ed.  1762  ==  4,  299 — 310)  als  „Schlacht- 
gesang Ullins"  ziemlich  wörtlich  übersetzt:  „Son  of  the  chief  of  generous 
steeds!  high-bounding  king  of  spearsi"  u.  s.  w.  Worte  wie  ,,Lamh 
threun  's  gach  cas"  scheinen  in  „Strong  arm  in  every  perilous  toil"  in 
der  Tat  wörtlich  übertragen  zu  sein  und  sind  schwerlich  umgekehrt 
aus  dem  Englischen  genommen.  Eine  abweichende  Rezension  giebt, 
angeblich  nach  mündlicher  Überlieferung,  Don.  Campbell,  Treatise  on 
the  language,  poetry,  and  music  of  the  Highland  clans,  Edinburgh  1862, 
p.  122;  sie  ist  aber  nicht  authentischer  als  die  im  gälischen  „Ossian^ 
von  1807  gebotene  Übersetzung  aus  dem  Englischen,  die  zwar  gleich- 
falls einige  Reminiscenzen  an  das  wirkliche  Original  im  Report  hat, 
aber  sonst  durchweg  davon  verschieden  ist.  Alte  Poesie  ist  dieses 
Lied  keinesfalls;  denn  das  Versmafs  und  selbst  einzelne  Ausdrücke 
sind  der  Totenklage  auf  Rob  Roy  Macgregor  entlehnt:  „Sar  mharcach 
nach  fann  |  Air  cursain  nan  srann,  |  Srein  mhaiseach  na'n  ceann  b'e 
t'aidhear  e".  (Stewart,  Collection  p.  301 ;  Menzies,  Comhchruinneacha 
p.  256).  Einer  unverbürgten  Überlieferung  zufolge  wäre  Macpherson- 
Strathmashie  auch  der  Übersetzer  des  gälischen  7.  Buches  von  Temora 
von  1763.  Bemerkt  sei  nur,  dafs  er  sich  einst  mit  seinem  Zeugnisse 
zu  Gunsten  der  Echtheit  des  macphersonischen  „Ossian"  vorgedrängt 
und  ihn  „erstaunlich  wörtlich"  übersetzt  gefunden  hatte. 

Der  dritte  Versuch  den  gälischen  „Ossian"  unter  das  Volk  zu 
bringen  war  der  „Traum  Malvinas",  eine  nicht  sonderliche  Übersetzung 
des  Eingangs  von  „Croma"  nach  der  editio  princeps,  1778  von  W.  Shaw, 
der  damals  an  die  Echtheit  glaubte,  in  seiner  Analysis  of  the  Galic 
language  p.  157  veröffentlicht,  später  mehrfach  verbessert  und  ver- 
ändert, namentlich  auch  im  „Ossian"  von  1807^  wo  sogar  Toscar,  ein 
Unname,  den  man  früher  vermieden  hatte,  statt  Oscar  eintritt. 

Den  vierten  Versuch  bilden  Fingais  Worte  an  Oscar  (Fingal  3, 
426  fr.),  die  1786  Gillies  veröffentlichte  (Cb.  157  a,  auch  im  Report, 
app.  p.  225).     Von    diesem  Texte   weicht    der   von    1807  Wort  für 


*)  Vgl.  Armstrong,  Dictionary  p.  LXVII;  Logan  in  Mackenzies  BeauUes  of  gaelic 
poetry  p.  LH;  L.  Macbean,  Songs  of  the  Gael  No.  16. 


60  Ludwig  Chr.  Stern. 


Wort  ab,  ebenso  ein  „Rat  an  Oscar"  (Cb.  i6i),  den  vermutlich 
D.  Kennedy  gedichtet  hat.  Es  ist  aber  auch  eine  ältere  Über- 
setzung des  Stückes  nebst  der  darauf  folgenden  Geschichte  der  Fainea- 
soUis  in  Macphersons  hinterlassenen  Papieren  aufgefunden  und,  was 
die  spätem  Herausgeber  des  gälischen  „Ossian"  (E.  Maclachlan, 
Th.  Maclauchlan  und  Arch.  Clerk)  gar  nicht  bemerkt  haben,  in  der 
Society's  edition  von  1807  im  Nachtrage  3,  486  abgedruckt  worden. 
Gillies'  und  Kennedys  Texte,  beide  Texte  in  der  Ausgabe  —  alle 
sind  verschieden. 

Der  fünfte  Versuch  ist  der  kleine  Hymnus  an  die  Sonne  in 
„Carricthura**,  mit  unvollkommener  Assonierung  zuerst  1801  bei  Irvine 
nachweisbar,  1804  zuerst  von  AI.  und  D.  Stewart  in  ihrer  Collection 
of  the  Highland  bards  p.  592  gedruckt  und  in  den  verschiedenen 
Texten,  auch  dem  von  1807,  nicht  sehr  verschieden.  Aber  dafs  die 
Sonne,  die  im  Gälischen  wie  im  Deutschen  weiblichen  Geschlechts 
ist,  hier  als  „son  of  the  sky"  angeredet  wird,  bildet  allein  schon  ein 
ernstes  Hindernis  diesen  gälischen  Text  für  das  Ursprüngliche  zu 
halten.  Hymnen  an  die  Sonne,  den  Mond  und  die  Sterne  giebt  es 
in  der  gälischen  Litteratur  aufserhalb  Macphersons  überhaupt  nicht. 

Der  sechste  Versuch  ist  der  längere  Hymnus  an  die  Sonne  im 
„Carthon"  334  ff.,  der  auch  nicht  vor  den  Stewarts  1804  gedruckt  ist 
und  im  „Ossian"  von  1807  fehlt,  obwohl  doch  Macpherson  selbst 
schon  1771  in  seinem  Werke  Introduction  to  the  history  of  Great 
Britain  p.  160  zu  einer  törichten  Etymologie  des  Wortes  grüzH 
(Sonne)  das  , Original"  des  Hymnus  citiert  hat  —  ganz  abweichend 
von  der  spätem  Übersetzung  von  1804. 

Der  letzte  Versuch  das  Original  „Ossians"  zu  verbreiten  vor  der 
endlichen  Veröffentlichung  der  Ausgabe  von  1807  ist  das  Gedicht 
„Conlath  und  Cuthona",  das  Irvine  um  1801  hatte  und  das  die  Stewarts 
1804  etwas  verbessert  abdruckten.  Es  ist  ein  Text  in  sehr  unbeholfener 
Sprache,  dem  revidierten  englischen  von  1773  entsprechend;  in  der 
gälischen  Ausgabe  von  1807  ist  Rossens  bessernde  Hand  zu  erkennen. 
Jemand,  der  im  Celtic  Magazine  2,  336  flF.  dies  Poem  in  gereimte 
Verse  bringt,  meint  das  Gälische  sei  älter  als  das  Englische  oder 
Macpherson  der  eingefleischteste  Betrüger  und  der  unverschämteste 
und  geflissentlichste  Lügenfabrikant,  der  je  eine  Feder  in  die  Hand 
genommen  habe. 

Auch  von  dem  gröfsten  Teile  der  macphersonschen  „Darthula" 
haben  die  Stewarts  1804  eine  abgerundete  Übersetzung  in  Versen  ver- 


Die  ossianischen  Heldenlieder.     I.  61 

offentlicht;  aber  dies  Gedicht  gehört  nicht  zu  denen,  wovon  1807  ^^ 
Originale  brachte*).  Hier  hat  sich  ein  Sprachkundiger  das  Vergnügen 
gemacht  das  Stück  ins  Gälische  zu  übertragen,  wie  noch  1876  Donald 
Macpherson  eine  schöne  gälische  Übersetzung  der  „Lieder  von  Selma" 
herausgab  (im  Gaidheal  5,  81  flf.),  die  in  den  Originalen  von  1807 
gleichfalls  fehlen. 

Diese  Ausgabe,  im  Namen  der  Highland  Society  in  gutem  Glauben 
von  Sir  John  Sinclair  geleitet,  ist  erst  die  eigentliche  Vollendung  des 
1760  Begonnenen  und  so  beharrlich  fortgesetzten  Unternehmens.  Nun 
weifs  ja  jeder  Sachkundige,  dafs  es  derartige  Epen  und  sentimentalen 
Gedichte  in  alt-,  mittel-  und  neugälischer  Sprache  sonst  nicht  giebt. 
Dagegen  finden  sich  kleinere  Lieder  über  die  ossianischen  Sagen,  teils 
in  Handschriften  und  teils  im  Munde  des  Volkes,  nicht  nur  in  Irland, 
sondern  auch  in  Schottland  und  auf  den  westlichen  Inseln.  Macpherson 
kannte  sie  sehr  wohl  und  hat  einzelne  Stellen  wörtlich  daraus  über- 
setzt. Es  ist  nicht  hübsch  von  ihm,  dafs  er  diese  seine  Quellen  ver- 
leugnet, und  höchst  unbedacht,  dafs  er  dieselben  Balladen  bei  den 
L-landem  als  trivial  und  von  seinem  „Ossian^  gänzlich  verschieden 
verspottet.  Indem  gälischen  „Ossian"  von  1807  stimmt  nun,  wie  zuerst 
John  Francis  Campbell  1872  gezeigt  hat  (wenn  ich  eine  einzige  Zeile 
ausnehme),  nicht  ein  Vers  zu  dem  ursprünglichen  Balladentexte,  selbst 
wenn  er  wörtlich  aus  dem  Gälischen  ins  Englische  übersetzt  war. 
Wenn  in  der  Ballade  über  Oscars  Tod  Fingal  über  der  Leiche  seines 
Enkelsohnes  ausruft: 

Gu  la  Bkratk  chan  eirick  Osgar! 
nNimmermehr  wird  Oscar  aufstehnl**  — 

SO  hat  ja  auch  Macpherson  in  seinem  „Temora": 


♦)  In  dem  Gedichte  der  Brüder  Stewart,  collection  p.  562  ff.,  das  AI.  Carmichael 
in  den  Transactions  Gael.  vSoc.  Jnverness  15,  206—15  wieder  abgedruckt  und  Übersetzt 
hat,  ist  die  Ballade  von  Derdri  mit  Macphersons  Darthula  in  eins  zusammengearbeitet, 
mehr  als  die  Hälfte  ist  unmittelbar  aus  diesem  Übertragen.  Es  entspricht  nämlich 
Strophe  3  c — 6  Macphersons  ^Nathos  is  on  the  deep"  bis  „who  is  it  but  Darthula,  the 
first  of  Erin*s  maids?"  (p.  156  f.  ed.  1762);  femer  ist  Str.  11-20  gleich  Macphersons 
„But  the  winds  deceive  thee,  o  Darthula  I**  bis  «The  winds  have  deceived  tby  sails** 
(p*  '^Sl  ^^\  endlich  entspricht  Str.  29—65,  die  lange  Geschichte  von  einem  fabelhaften 
Vater  Darthulas  namens  Colla,  Macphersons  ^These  are  not  the  rocks  of  Nathos"  bis 
zu  den  Worten  „His  soul  may  come  to  Usnoth,  and  sadden  his  soul  in  the  hall** 
(p.  158—164).  Dafs  das  Gälische  nicht  etwa  das  Original  ist,  folgt  schon  daraus,  dafs 
es  vor  dem  Buche  der  Stewarts  gänzlich  unbekannt  war  und  sonst  nirgends  nachweis- 
bar ist. 


6S  Ludwig  Chr.  Stern. 


But  nevermore  shalJ  Oscar  risel 

Aber  im  gälischen  „Ossian^  von  1807  heifst  es  an  der  Steile  (Temora 
i|  297)- 

Chan  eirich  Oscar  dann  a  ekaoidhl  — 

was  den  Sinn,  aber  nicht  die  Ausdrucksweise  der  Ballade  wiedergiebt. 
Ebenso  in  zahllosen  andern  Fällen  und  es  wäre  wahrlich  Zeitvergeudung, 
wollte  man  sie  alle  zusammensuchen.  So  unähnlich  ist  dieser  gäUsche 
„Ossian*'  der  Volkspoesie,  dafs  alle  Anstrengungen,  die  man  zu  seiner 
Verbreitung  unter  den  Bergschotten  gemacht  hat  (1818  wurde  eine 
starke  Auflage  gratis  verteilt,  1857  erschien  eine  wohlfeile  Taschen- 
ausgabe), nicht  den  geringsten  Erfolg  gehabt  haben.  Daher  ist  er  in 
den  Hochlanden  und  auf  den  Inseln  gänzlich  unbekannt,  während  der 
gemeine  Mann  in  jenen  Gegenden  an  dem  geliebten  „alten  Zeug'  der 
ossianischen  Balladen  mit  rührender  Zähigkeit  festhält.  Die  nähere 
Prüfung  des  Textes  des  gälischen  „Ossian"  läfst  nicht  den  geringsten 
Zweifel  bestehen,  dafs  er  aus  dem  englischen  Originale  übersetzt  ist. 
Das  Gälische  von  1807^  war  wie  die  frühem  Versuche  lediglich  dazu 
bestimmt  die  Welt  über  die  Tatsache  zu  täuschen,  dafs  die  „Gedichte 
Ossians"  Macphersons  eigenes  Werk  sind.  Mit  dieser  Fälschung  der 
„Originale"  war  der  ungeheuere  Betrug  vollendet;  eine  Beschönigung 
der  gemeinen  Tat,  eine  Entschuldigung  der  verlogenen  Geschwätzigkeit, 
womit  sie  verübt  wurde,  sind  nun  nicht  mehr  zulässig. 

Man  kennt  natürlich  nicht  den  genauen  Hergang  bei  der  An- 
fertigung des  gälischen  „Ossian";  aber  man  hat  das  Zeugnis  des 
Kapitäns  AI.  Morison,  dafs  Macpherson  Gehülfen  bei  dieser  Arbeit 
hatte,  und  einige  davon  haben  wir  bereits  kennen  gelernt.  Er  selbst 
besafs  zwar  einige  Übung  in  der  Umgangssprache,  aber  sonst  eine 
sehr  mangelhafte  Kenntnis  des  Gälischen.  Über  die  Mafsen  langweilig 
mufs  für  ihn  die  Aufgabe  gewesen,  seine  voluminösen  Jugendgedichte 
in  eine  Sprache  zu  übersetzen,  die  er  nicht  beherrschte ;  er  gebrauchte 
Jahrzehnte  dazu.  An  dem  gälischen  „Ossian"  setzt  nichts  so  sehr  in 
Verwunderung  als  die  WörtUchkeit  der  Übersetzung  und  ihre  Form- 
losigkeit. Aber  ihr  Charakter  ist  ungleich,  wie  sie  denn  auch  zu  ver- 
schiedenen Zeiten  entstanden  ist  —  meist  wohl  sehr  lange  nach  der 
Veröffentlichung  der  englischen  Originale.  So  hat  denn  Macpherson 
ganz  vergessen,  dafs  er  die  Stelle  Temora  8,  383 — 85  bereits  1763 
aus  dem  „Originale"  in  einer  Note  (Temora  p.  150)  mitgeteilt  hatte, 
aber  gänzlich  verschieden  von  dem  Texte  von  1807.  In  demselben 
Temora  (p.  12  ed.  princ.)    macht    er  eine  sprachliche  Anmerkung  zu 


Die  osdaniscken  Heldenlieder.     I.  63 

eiaem  Worte  (hundreds),  das  sich  schliefslich  im  Gälischen  von  1807 
(Temora  i,  240)  g^r  nicht  vorfindet.  Ebenso  verhält  es  sich  mit  dem 
„restless  wanderet"  (Carthon  p.  130),  der  nach  einer  Note  im  Original 
durch  scuia  ausgedrückt  sein  soll,  was  aber  im  Gälischen  von  1807 
(Carthon  iii)  gar  nicht  vorkommt  Es  ist  denn  auch  nachweislich 
meist  nach  der  revidierten  englischen  Ausgabe  von  1773  übersetzt 
worden,  z.  B.  Carricthura,  Conlath,  Temora  (vergl.  i,  46.  155.  173. 
198.  461)  u.  s.  w.  Auch  die  Sprache  ist  in  den  Teirten  nicht  gleich- 
mafsig;  namentlich  unterscheidet  sich  das  7.  Buch  von  „Temora^,  das 
schon  1763  entstanden  ist,  obschon  kein  Meisterstück,  merklich  von 
allen  übrigen  Teilen  der  Übersetzung. 

Die  Veröffentlichung  eines  so  umfangreichen  Textes  in  einer 
Sprache,  deren  Litteratur  noch  wenig  bekannt  war,  mufs  an  sich  ge- 
wiis  als  ein  fordersames  Unternehmen  gelten ;  aber  leider  ist  er  keine 
Quelle  guter  Sprache,  und  es  ist  bedauerlich,  dafs  die  albanogfälischen 
Lexikographen  einen  grofsen  Teil  ihrer  Belege  diesem  fehlerhaften 
und  ungälischen  „Ossian^  entnommen  haben.  The  „Ossianic  or  pure 
Gaelic*'  nennt  ein  Gramatiker  diesen  von  aller  gälischen  Sprache  seltsam 
abweichenden  Jargon,  den  ein  Bergschotte  nicht  versteht;  in  Deutsch* 
land  wurde  ihm  als  „Mittelgälisch"  sogar  eine  gelehrte  Beschreibung 
zu  Teil  und  noch  1876  brach  Prof  Blackie  eine  Lanze  dafür.  Und 
doch  bildet  die  Sprache  dieses  gälischen  „Ossian"  allein  einen  aus- 
reichenden Grund  ihn  für  eine  Fälschung  zu  erklären.  Der  Text  ist 
unendlich  arm  an  idiomatischen  Wendungen,  an  denen  die  gälische 
Sprache  so  reich  ist,  und  strotzt  von  Anglizismen,  die  ein  Bergschotte 
nur  begehen  kann,  wenn  er  seine  Sprache  halb  vergessen  hat.  Die 
Verschiedenheit  der  beiden  Sprachen  verträgt  eine  so  wörtliche  Über- 
setzung nicht  wie  die  hier  zugemutete.  Was  soll  man  sich  z.  B.  denken 
unter  garm  astar  nan  speur  „die  blaue  Reise  der  Himmel**  (Carric- 
thura i),  für  thy  blue  course  in  heaven?  Nur  zu  oft  ist  das  Englische 
Wort  für  Wort  übersetzt.  Daher  klagt  denn  der  letzte  Zurück- 
übersetzer dieses  gälischen  „Ossian",  Arch.  Clark  (der  zweite  war 
Chr.  W.  Ahlwardt),  in  seiner  armseligen  Prachtausgabe  unablässig 
über  die  Dunkelheit  des  Ausdrucks.  Donald  Campbell,  Treatise 
p.  71  ff.,  hat  fast  einen  ganzen  Gesang  durchkorrigiert  um  ihm  ein 
Ansehen  zu  geben  und  Hector  Maclean  ging  mit  der  ossianischen 
Verhunzung  seiner  Muttersprache  scharf  ins  Gericht.  Vor  einigen 
Jahren  hat  AI.  Macbain,  im  Celtic  Magazine  12,  249  ff.,  den  Gegenstand 
mit  philologischem  Verständnis  erörtert. 


64  Ludwig  Chr.  Stern. 


Die  alleryulgärstea  und  verderbtesten  Formen  der  gälischen  Um- 
gangssprache finden  sich  in  diesem  ^Ossian"".  Da  liest  man  na  bardan 
(Temora  i{  456.  649)  statt  na  bäird,  measg  nam  ntna  (Fingal  i,  211) 
statt  nam  ban,  nan  eacha  srann  (Temora  3,  120),  cu  als  Genitivus  Sing. 
(6,  296),  nicht  nur  chunna  ntü  (i,  96),  sondern  sogar  chunnatn  (Fingal 
3,  428,  Carricthura  69)  und  chualam  (Carricthura  168,  Croma  7)  u. 
4ergl.  m.  Der  seltsame  Mangel  an  den  nötigsten  Partikeln,  wie  dem 
Artikel,  den  Pronomina  u.  a.,  macht  den  Stil  überaus  holperig.  EHe 
Präpositionen  werden  falsch  gebraucht,  wie  wenn  do  gesagt  wird, 
wo  es  go  (englisch  td)  heifsen  mufs;  das^^  des  Adverbs  fehlt  häufiger 
als  dafs  es  sich  findet.  An  lann  o  Luno  „das  Schwert  von  Luno"^ 
(Temora  6,  2)  läfst  voraussetzen,  dafs  Luno  eine  Örtlichkeit  ist*);  cur 
cheud  (Carthon^^  76)  ist  englisch  at  first,  aber  nicht  gälisch;  atr  uair 
(Cathloda  i,  161  etc.),  das  „manchmal"*  heifsen  soll,  ist  ebenso  wie 
air  am  (Temora  8,  20)  falsch  für  air  uairibh  (Temora  3,  297)  u.  s.  w. 
Der  Genitiv  der  Beschreibung,  wie  in  Diarmaid  an  äigh  „Dermid  des 
Kampfes^,  Donnachadh  nan  öran  „der  Lieder-Duncan",  Glascho  nan 
sraidean  „das  strafsenreiche  Glasgow",  Osgar  nan  geur  lann  „Oscar 
von  den  scharfen  Klingen",  eine  der  Schönheiten  des  gälischen  Stiles, 
wird  im  „Ossian"  so  mifsbraucht,  dafs  er  unerträglich  und  nicht  selten 
ganz  unverständlich  wird.  So  in  ciochan  nam  beus  (Golnadona  10) 
oder  broilleach  nam  beus  (ib.  145)  „die  Brust  der  (guten)  Sitten" 
statt  „der  keusche  Busen".  Ohne  Aufhören  wird  gegen  alle  Syntax 
verstofsen.  Inversionen  sind  so  häufig,  als  ob  die  Sprache  über  die 
Stellung  der  Wörter  im  Satze  gar  keine  Regeln  anerkennte;  zwischen 
Verb  und  Nominativ  stellt  sich  ein  Adverbiale  oder  sogar  ein  Accu- 
sativ;  der  Genitiv  wird  von  seinem  Regens  fortwährend  durch  Zwischen- 
sätze getrennt!  Das  Adjectiv  steht  nach,  wo  es  vor,  und  steht  vor 
seinem  Substantive,  wo  es  ihm  folgen  sollte,  z.  B.  fuil  shär  (Golnadona 
149)  für  sär-fhuil  (ib.  6),  ög  Oscar  (Temora  i,  327),  borb  Starn  (Fingal 
3,  117),  gorm-shüileach  ög  (Temora  8,  75),  nam  bän-bhroilleach  öigh 
(7,  322),  nan  gorm-chruaidh  laoch  (Carricthura  34),  nan  cruadalach 
ghniomh  (Carthon  43)  —  und  dergleichen  hundert  und  tausendmal. 

Auch  aus  einer  lexikalischen  Betrachtung  gewinnen  wir  keinen 
bessern    Begriff  von  diesem  ossianischen  Gälisch.     Wie  seltsam,  dafs 


*)  Für  das  richtige  mac  an  Luinn  MLonssohn**  d.  i.  Fiogals  Schwert  (Temora  6,  254. 
Carricthura  398)  steht  einmal  lann  Luinne  (8,  306)  und  einmal  findet  sich  der  Unsinn: 
e  *tarruing  garbh  Luno  nan  lann  (3,  8). 


Die  ossianischen  Heldenlieder.    I.  65 

das  Wörtchen  agus  „und",  das  ein  normaler  Text  neben  ts  fast  Zeile 
für  Zeile  bietet,  hier  (aufser  in  Temora  7,  164.  233.  283.  400)  nur 
einige  wenige  Male  vorkommt  (Carricthura  4  im  Hymnus,  Carthon  60, 
Fingal  5,  44)  und  dafs  ata  fiir  das  abgekürzte  ta,  tha  überhaupt  nur 
Temora  7,  28  erscheint!  Substantiva  werden  als  Adjectiva  oder  als 
Verba  und  Adjectiva  als  Substantiva  gebraucht.  So  manche  Wörter 
kehren  bis  zum  Uberdrufs  wieder,  z.  B,  die  Substantiva  feum,  cruach, 
cam,  cedj  cmaidh^  die  Adjectiva  dar,  faon,  die  Verba  tadh,  taont, 
aom  —  und  wie  das  letztgenannte  in  Bedeutungen,  die  sie  durchaus 
nicht  haben  imd  die  nur  aus  dem  Englischen  erklärlich  werden.  Wer 
erriete,  was  der  Gallimatias  mhosgail  osna  nam  beus  o  'ürla  (Croma  151) 
bedeuten  sollte,  wenn  nicht  das  englische  Original  „his  sigh  arose" 
es  vermuten  liefse  und  ein  sonst  vorkommendes  osna  o  urlar  mo  chleibh 
das  Mifsverständnis  weiter  aufklärte?  Seltsam  ist  auch  das  Wort  trian 
„em  Drittel",  das  so  viel  wie  „etwas,  einiges"  bedeuten  soll*),  und 
der  Lieblingsausdruck  gu  ml  in  der  Bedeutung  „gänzlich"  **),  o  aots 
(Carricthura  32)  statt  des  sonst  so  gern  gebrauchten  o  shean  (of  old)***) 
u.  a«  m.  Wie  reich  an  englischen  Lehnwörtern  der  gälische  „Ossian" 
ist,  hat  Hennessy  in  der  Academy  1871,  p.  390b  hervorgehoben;  sie 
beweisen  allein  schon,  wie  modern  die  Sprache  ist. 

Die  gälische  Übersetzung  ist,  wie  bemerkt,  nicht  gleichmäfsig  und 
nicht  einheitlich  in  sich  selbst.  Um  nur  ein  Beispiel  anzuführen,  wird 
jenes  macphersonsche  „the  joy  of  grief",  so  oft  es  vorkommt  (Fingal 
ii  568.  5,  440.  Temora  7,  404.  Carricthura  35.  Croma  50),  fast  jedes- 
mal anders  übersetzt.  Ohne  Form  und  ohne  Sorgfalt  ist  das  Ganze. 
Sollten  diese  als  Verse  gezählten  Zeilen  des  gälischen  „Ossian",  die 
hier  und  dort  Endreime  aufweisen,  eine  poetische  Form  haben,  so 
wäre  sie  höchst  kläglich  neben  der  Vollendung  und  dem  Wohl- 
laut, die  den  gälischen  Gedichten,  selbst  noch  des  18.  Jahrhunderts, 
sonst   eigen   sind.     Keine   feste   Silbenzahl,    keine  Allitteration,  keine 


*)  Conlath  91,  Comala  230,  Calthon  119.  373,  Temora  1,  354.  7x8.  3,  399.  3,  74, 
101.  350.  460.  48a  4,  137.  438.  5,  158.  389.  334.  348.  6,  115.  138.  155.  310.  8,  53.  76. 
384.  413.  489.  494  —  aber  nicht  im  Temora  7I 

*•)  Cathloda  3,  83,  Carricthura  136,  Calthon  306,  Fingal  3,  154;  Temora  8,  303. 
303.  414.  533.  Anders  gebraucht  AI.  Macdonald  den  Ausdruck:  Ailleagan  glan  ür. 
A  dhallas  ruisg  gu*n  cül  (ed.  1874,  p.  9). 

•^  Fingal  1,  517.  577.  6,  59.  3,  314.  Temora  3,  376.  437.  5,  79.  Cathloda  1,  353. 
363.  3,  51.  190.  Der  anglisierende  Ausdruck  kommt  jedoch  auch  sonst  vor,  2.  B.  bei 
W.  Rofe:  's  labhair  an  t-ursgeul  o  shean. 

Ztadi.  t  TgL  Litt-GMch.    N.  P.  THI.  5 


€6  Ludwig:  Chr.  Stern. 


Assonanz,  keine  Reime  !•)  Der  allgemeine  Charakter  aber  dieser  mehr  als 
loooo  „Verse"  ist  eherntönende,  sinnleere  Phrase.  Einige  Stücke, 
wie  Fingal  und  Oinamorul,  haben  anscheinend  gründlichere  Durchsicht 
erfahren.  Überhaupt  kommen  wohl  hier  und  dort  schöne  Stellen  und 
unter  hunderten  von  schlechten  Versen  wohl  auch  tadellose  vor  — 
aber  apparent  rari  nantes  in  gurgite  vasto. 

Die  sorglose  Leichtfertigkeit,  womit  der  gälische  „Ossian"  sklavisch 
aus  dem  Englischen  übersetzt  ist,  tritt  endlich  für  jeden  Laien  noch 
handgreiflicher  in  den  Eigennamen  zu  Tage.  Diese  erscheinen  durch- 
weg in  einer  Form,  die  der  englischen,  nach  der  Aussprache  ge- 
modelten entspricht,  die  aber  mit  der  richtigen  gesehen  Form  in  den 
Balladen  und  wo  sie  sonst  vorkommen  nicht  zusammentrifft.  Gleich 
der  Name  Fingal,  d.  i.  Fionn  gaidheal  „Finn  der  Gäle*,  unter  dem 
der  Held  seit  alter  Zeit  bei  den  Niederschotten  bekannt  gewesen  ist, 
mit  dem  er  aber  bei  den  gälisch  Redenden  erklärlicherweise  äufserst 
selten  bezeichnet  wird,  ist  1807  zu  Ftonnghal  und  später  sogar  zu 
Fionngheal  geworden,  während  Macpherson  1763  (Temora  p.  229) 
noch  richtiger  Fionnghael  geschrieben  hatte**).  Die  ursprüngliche 
Form  Fionn  {mittelirisch  Finn)  kommt  im  gälischen  „Ossian"  sehr 
selten  vor  (Comala  134.  137,  Fingal  3,  335).  Goll,  der  stärkste  Recke 
unter  den  Fiannen,  wird  im  Englischen  zu  Gaul  und  demnach  im 
„Ossian"  von  1807  ^^  GalL  Held  Faolan,  nach  der  Aussprache  im 
englischen  „Ossian"  Fillan  geschrieben,  wird  im  Gälischen  zu  FiUean; 
nur  Temora  7,  20  steht  richtig  Faolan.  lollan  wird  zu  UUin,  Dearg 
(Dargo)  zu  Deargo  (Galthon  1 74),  dann  Uisneach  (the  sons  of  Usnoth) 
zu  dann  Usnoth  (Temora  i,  567);    Hidallan    im  Englischen,    was  zu 


*)  Der  hochverdiente  H.  Ebel  hat  sich  täuschen  lassen,  indem  er  in  der  zweiten 
Ausgabe  der  Grammatica  celtica  von  Caspar  Zeu&  p.  956  f.  den  Versbau  des  gälischen 
nOssian*  ernstlich  erörtert. 

**)  Die  Form  Fionn  ghäel  (auch  Stewart,  collection  p.  555)  ist  insofern  inkorrekt, 
als  die  Apposition  (gael  oder  gaidheal)  keine  Aspiration  haben  darf.  Die  richtige  Er- 
klärung des  Namens  Fingal,  der  zuerst  im  „Bruce"  von  John  Barbour  vorkommt,  geben 
beiläufig  Drummond,  Essay  p.  142,  und  Ch.  Stewart,  Killin  collection  of  Gaelic  Songs 
p.  83;  Hill,  Ancient  Erse  poems  p.  6,  schrieb  Fion  na  Ga£l.  Schon  1689  war  in  Dublin 
eine  Travestie  erschienen  The  Irish  Hudibras  or  the  Fingalian  Prince,  in  der  Ossian 
als  Barde  der  dänischen  Riesen  in  Irland  auftritt.  (Ulster  Journal  VI.  1858,  p.  315). 
Dieses  Fingalian  kommt  von  Fionn-ghall  „weifser  Fremdling"  d.  i.  Norweger,  das  ge- 
legentlich mit  dem  Namen  des  Fiannenfuhrers  verwechselt  worden  ist;  z.  B.  a  shiiochd 
riogh  Fionnaghaidhill,  R.  Macdonald,  collection*  p.  1 14,  statt  Fionna-ghall;  vei^l.  Mackenzie, 
Beauties  of  gaelic  poetry  p.  38.  77.  214. 


Die  ossianischen  Heldenlieder.     I.  67 

Hideaüan  im  Gälischen  wird,  soll  wohl  Sithallan  (Cb.  58  a)  sein,  was 
Fingal  i,  439  Sithaluinn  geschrieben  wird  —  der  zahlreichen  will- 
kürlich, namentlich  mit  Rücksicht  auf  den  Wohllaut  gebildeten  Personen- 
namen (wie  z.  B.  Malvina)  hier  gar  nicht  zu  gedenken. 

Ist  es  denn  möglich,  so  fragen  wir,  dafs  in  diesem  gälischen 
„Ossian"  nicht  ein  einziges  Mal  der  allbekannte  Name  der  Truppen 
Finns^Jiann  oder  fetnn,  „Fianiien"  vorkommt?*)  Möglich  war  das,  weil 
Macpherson  nicht  genug  von  der  gälischen  Sprache  und  Poesie  ge- 
kannt, in  seinen  Gedichten  überhaupt  den  Boden  der  alten  Sage  ver- 
lassen und  seine  Helden  in  das  Reich  der  eignen  Einbildung  versetzt 
hat.  Seine  meisten  Ortsnamen  sind  fantastisch  und  kommen  sonst 
nirgends  vor,  die  wirklichen  erscheinen  sonst  unter  anderer  Form, 
Es  wurde  schon  bemerkt,  dafs  „Morven"  (d.  i.  Mör-bheann  „grofser 
Berg")  ein  Phantasiegebilde  ist;  die  Apologisten  Macphersons  pflegen 
es  für  Moraim  (Cb.  i86b)  zu  nehmen,  d.  i.  Morvern  am  Sund  von 
Mull  in  Argyle,  als  ob  das  so  selbstverständlich  wäre.  Den  Königs- 
palast ^Selma"  oder  Seallamath  (d.  h.  Belvedere)  hat  Macpherson 
selbst  erfunden;  nach  den  Gelehrten  wäre  es  aber  die  Stätte  des 
alten  Berigonium  bei  Ardmucknish,  nördlich  von  Loch  Etive.  Der 
alte  irische  Königssitz  Temair  oder  Teamhair  (eig.  Wall  oder  Bal- 
kon) in  der  Provinz  Meath,  den  O'Flaherty,  Ogygia  p.  186,  Temoria 
nennt  und  den  eine  alte  Überlieferung  im  Dinnshenchas  als  Teae 
mumm  deutet**),  hat  wunderliche  Entstellung  erfahren.  Nach  der 
gewöhnlichen  Aussprache  des  casus  obliquus  Teanthrach,  Teanihra 
wird  der  Name  Taura,  Tewra  oder  Tura,  in  Irland  aber  Tara  ge- 
schrieben. Macpherson  gebraucht  Temora  und  Tura  neben  einander 
(z.  B.  Temora  p.  165  =  i,  100.  104),  ohne  natürlich  zu  ahnen,  dafs 
das  eine  und  das  andere  Formen  desselben  Wortes  sind.  Der 
gälische  „Ossian"  von  1807  erkühnt  sich  TYghmara  zu  schreiben, 
offenbar  in  der  Meinung,  dafs  das  so  viel  'wie  „grofses  Haus"  be- 
deuten könne,  während  Macpherson  1 763  den  Namen  ebenso  unmög- 
lich als  Ti*-mor-ri'  „Haus  des  grofsen  Königs"  verdolmetscht  hatte 
(Temora  p.  179)***).     Dafe  er  aus  Olnecmacht,  dem  alten  Namen  der 


*)  Fiann,  Genitiv  fdnne,  heifst  „die  Truppe",  der  Plural  fianna  „die  Truppen* 
oder  „die  Soldaten* ;  gewöhnlich  werden  Finns  Truppen  darunter  verstanden  und  in 
neuerer  Zeit  be2eichnen  sich  gern  die  Gelten  Irlands  so  (the  Fenians). 

**)  Vergl.  Wh.  Stokes  in  Folk-lore  3,  470.     Revue  celtique  15,  277. 
♦**)  John  Smith,  Seandäna  p.  43,  hat  diesen  kostbaren  Vers: 

An  Seallama,  *n  Taura  no  *n  Tigh-m6r-ri* 

chan^eil  slige,  no  oran,  no  clarsach.  ^^ 


68  Ludwig  Chr.  Stern. 


Provinz  Connacht,  Alnecma  (Temora  2,  287)  und  aus  Sorcha,  d.  L 
das  Lichdand,  das  Land  der  Seligen,  ein  Land  „Sora^  in  Skandinavien 
macht,  ist  nicht  zu  verwundern.  Doch  genug  von  dem  gälischen 
„Ossian"!  Wäre  er  von  je  fleifsiger  gelesen,  so  würde  er  gewifs 
nicht  so  oft  gepriesen  worden  sein. 

Die  Absicht  des  Betrugs  bestand  bei  Macpherson  von  Anfang  an, 
seit  der  Zeit  wo  ihn  einflufsreiche  Gönner  Vertrauens  würdigten.  Die 
zwei  Proben  im  Gentleman*s  Magazine  XXX.  287  f.*)  und  die  Frag- 
ments von  1760,  in  denen  „Oscian"  schon  die  Hauptrolle  spielt**), 
sind  womöglich  noch  ruchloser  als  die  Poems.  Nur  zweien  von  den 
„Fragmenten"  (No.  6  und  14)  liegen  Balladen  zu  Grunde,  d.  h.  wenige 
Zeilen  aus  solchen,  alles  Übrige  ist  sentimentale  Phantasie.  Wie  sagt 
er  doch  in  der  Vorrede  der  „Fragmente**?  „The  translation  is  ex- 
tremely  literal.  Even  the  arrangement  of  the  words  in  the  original 
has  been  imitated."  Wie  in  der  Vorrede  zu  seiner  Introduction  1771? 
„An  enemy  to  fiction  himself,  he  imposes  none  upon  the  world**. 
Und  in  diesem  selben  Werke  hat  er  p.  168  gälische  Verse  gefälscht 
und  p.  1 80  flf.  eine  nirgends  existierende  Erzählung  über  das  celtische 
Paradies  „übersetzt".  Er  ist  überall  derselbe;  sein  ganzes  litterarisches 
Leben  füllt  der  Betrug  aus.  Macpherson  ward  zum  Lügner,  weil  ihm 
der  Schein,  als  habe  er  etwas  Uraltes,  Bewundrungfswürdiges,  allen 
Entgangenes  aufgefunden  und  zu  Ehren  gebracht,  mehr  galt  als  die 
Wahrheit,  dafs  er  weiter  nichts  hatte  als  die  wohlbekannten  Volks- 
lieder, deren  er  sich  schämte  und  die  den  Freunden  seiner  Muse 
freilich  als  „armselige  Schatten"  erschienen.  Zwar  hat  sich  Th.  de 
la  Villemarque  in  seinem  Barzaz-Breiz,  dessen  Unechtheit  heute  aufser 
Zweifel  steht,  mit  den  Volksliedern  der  Bretonen  gleichfalls  unver- 
antwortliche Freiheiten  genommen,  aber  der  Betrug  Macphersons  ist 
in  seinen  Einzelheiten  häfslicher.  Er  hat  wohl  ein  weniges  von  der 
Art  der  gälischen  Poesie  in  sich  aufgenommen,  aber  es  so  mit  un- 
gesunder Sentimentalität  und  biblischer  Salbung  vermengt,  dafs  es 
kaum  noch  bemerkbar  wird.    So  bleibt  denn  nur  die  Anregung  übrig, 

«In  Selma  [der  macphersonschen  Erfindung],  in  Taura  [oder  Tura,  eigentlich  Teamair] 
oder  in  Tigh-mor-righ  [oder  Temoria,  eigentlich  Teamair]  ist  nicht  Muschelschale  oder 
Lied  oder  Harfe". 

*)  Das  eine  Lied  „Autumn   is  dark  on  the  mountains*"    ist  später  in  Carricthura, 
das  andere  «The  wind  and  raln  are  over**  in  die  Songs  of  Selma  aufgenommen. 

**)  Von  den  „Fragmenten**    sind    4  später  in  Carricthura,    5   in  Pingal,    2    in  die 
Songs  of  Selma  aufgenommen,  5  endlich  sonst  unbenutzt  geblieben. 


Die  ossianischen  Heldenlieder.     I.  69 

die  er  zum  Studium  der  gälischen  Sprache  gegeben  hat;  dies  Ver- 
dienst kann  ihm  nicht  geschmälert  werden. 

Man  kann  heute,  sagte  J.  Hardiman  schon  1831,  auf  diese  unge- 
heuerliche Fälschung,  die  allerdings  einem  durch  litterarischen  Betrug 
berüchtigten  Zeitalter  angehört,  nicht  zurückblicken,  ohne  sich  über 
die  vollendete  Kühnheit  des  Fälschers,  die  Betörung  seiner  gelehrten 
Verteidiger  und  die  nationale  Leichtgläubigkeit  und  Unwissenheit 
eines  ganzen  Volkes  zu  erstaunen.  In  Schottland  hat  es  freilich 
länger  gedauert,  ehe  die  Wahrheit  obsiegte.  Dafs  sie  in  Deutschland 
schon  überall  durchgedrungen  wäre,  wird  niemand  behaupten  wollen, 
der  sich  auf  diesem  Gebiete  der  Litteraturgeschichte  umgesehen  hat. 
Wir  vertrauen  deshalb,  dafs  die  obige  Darlegung  nicht  überflüssig 
erscheinen  wird*). 

Wir  können  vom  Pseudoossian  nicht  Abschied  nehmen  ohne 
einiger  Geistesverwandten  zu  gedenken,  die  das  Beispiel  des  heillosen 
Mannes  zu  ähnlicher  Tat  verleitet  hat. 

Der  erste  dieser  Ossianiden  ist  ein  gewisser  John  Clark,  der 
1778  ein  Bändchen  Gedichte  in  englischer  Prosa  als  die  Werke 
caledonischer  Barden  herausgab  —  fade  Nachahmungen,  die  Mac- 
pherson  im  weinerlich  Sentimentalen  noch  überbieten  und  nur  den 
Urteilslosen  täuschen  können.  Von  den  •  zwei  ersten  Teilen  des 
„Mordubh",  des  ersten  dieser  epischen  Gedichte,  lieferte  Gillies  1786 
die  gälische  Übersetzung,  von  der  der  Anfang  in  D.  Macleods  Orain, 
181 1,   p.  257  flf.    wieder    abgedruckt   ist;    vollständig    erschienen    die 


*)  Beispielshalber  Qberrascht  es  mich,  dais  Sidney  Lees  Dictionary  of  National 
Biography,  vol.  XXXV.  1893  s.  v.  Macpherson,  schlecht  unterrichteten  Gewährsmännern 
folgend,  schreibt:  „It  is  therefore  clear  that  the  general  Charge  of  forgery,  in  the  form 
in  which  it  was  made  by  Johnson,  was  unjustifiable**.  Johnsons  Meinung  ist  durchaus 
die  richtige.  Doch  wir  haben  viele  Gelehrte  in  ihrem  Urteil  schwankend  gesehen,  so 
unsem  eignen  Jacob  Grlnmi  (Kleinere  Schriften  2,  79).  Auch  Celtlsten  haben  sich  nicht 
immer  mit  der  hier  nötigen  Entschiedenheit  ausgesprochen;  so  H.  Ebel  im  Litterarischen 
Centralblatt  1870  p.  835;  H.  Gaidoz  in  der  Revue  celtique  i,  483;  E.  Windisch,  Über 
Keltische  Sprachen  in  Ersch  und  Grubers  Encyklopädie  (1884)  p.  160.  Manchen  Ge- 
lehrten ist's  wie  W.  Shaw  im  vorigen  Jahrhundert  ergangen ,  der  aus  einem  Gläubigen 
zu  einem  Ungläubigen  wurde.  So  namentlich  auch  Thom.  Maclauchlan  (Gaelic  Soc. 
lovemess  7,  304.  9,  127);  man  vergleiche  femer  J.  F.  Campbell,  Tales  of  the  West- 
Highlands  vol.  IV.  1863  mit  seinem  Leabhar  na  feinne  1873;  weiter  Gael.  Soc.  Invemess 
1^  95  (•  (18^4)  ™i^  ^^y  301  (1886)  und  Celtic  Magazine  13,  145  flf.  (1887);  endlich  An 
Gaidheal  6,  6$  (1877)  mit  Chambers  Encyclopaedia  (1891). 


70  Ludwig  Chr.  Stern. 


763  reimlosen  Verse  erst  1821*).  Während  diese  Übersetzung  dem 
englischen  Original  wörtlich  entspricht,  sind  die  wirklichen  Über- 
setzungen Clarks  aus  dem  Gälischen,  wie  AI.  Macdonalds  „Sommer^ 
und  „der  Wunsch  des  alten  Barden",  ein  zuerst  von  R.  Macdonald 
1778  veröflFentllchtes  und  vielleicht  von  ihm,  der  die  Spur  des  Vaters 
verloren  hatte,  verfafstes  Gedicht**),  ungeniefsbare  Paraphrasen. 

Der  zweite  der  Ossianiden  ist,  wie  man  mit  Bedauern  sagen  mufs, 
ein  durch  seine  Bemühungen  um  die  Befestigung  der  albanogälischen 
Schriftsprache  nicht  unverdienter  Mann,  John  Smith  von  Campelton 
(f  1807),  der  1780  in  englischem  und  1787  in  gälischem  Gewände 
14  ossianische  Gedichte  in  teils  gereimten,  teils  reimlosen  Versen, 
„for  the  most  part  taken  down  from  oral  recitation",  veröffentlichte. 
Auch  diese  Seandana,  allerdings  in  verständlicher  Sprache  geschrieben, 
übermacphersonieren  Macpherson,  und  die  Dreistigkeit,  womit  hier 
die  Fälschung  bei  einem  Geistlichen  auftritt,  mufs  sehr  befremden. 
Es  hat  auch  Smith  nicht  gefallen,  obwohl  es  ihm  noch  ein  Jahr  vor 
seinem  Tode  von  P.  Graham  nahegelegt  wurde,  oflFen  einzugestehen, 
dafs  er  die  „alten  Lieder",  die  ihm  übrigens  weder  Ruhm  noch  Geld 
einbrachten,  selbst  verfafst  habe. 

Der  dritte  Fälscher  ist  der  Baron  Edmund  de  Harold,  ein  in 
kurpfalzischen  Diensten  stehender  Irländer,  der  1775  Macphersons 
Gedichte  verdeutschte  und  1787  eine  Sammlung  von  17  Fälschungen 
auf  eigene  Faust  veröffentlichte.     Er  war   sich    der  Verwerflichkeit 


•)  Nicht  der  geringste  Zweifel  kann  über  diese  Fälschung  bestehen.  Die  Stelle 
Mordubh  316  lautet  im  Gälischen  der  Ausgabe  ganz  anders  als  sie  nach  einer  An- 
merkung in  Clarks  ^ Übersetzung"*  p.  54  lauten  sollte.  Mordubh  102:  *s  cuim  am  bi 
Mordal  air  dheireadh?  ist  macphersonisch:  „and  why  should  Ogar  be  the  last?**  (Fingal 
4,  61).  Mordubh  iii:  Corbhui  bu  bheag  diu  hat  sein  Vorbild  in  Macphersons  „Conan 
of  small  renown**  (Fingal  6,  399),  und  dieses  beruht  wieder  auf  Ausdrücken  wie  fa 
claon  ghniomh,  Ch.  Brookes  Relics  '  p.  404,  oder  bu  chaoil  gniomh,  Cb.  t^  a,  in  den 
Balladen.  De6greine  bedeutet  auch  im  Mordubh  467  nSonnenstrahl**  wie  bei  Mac- 
pherson; auch  „das  enge  Haus**  kommt  471  vor. 

"**)  Obwohl  die  Albanogälen  das  Gedicht  rühmen,  so  verleugnet  es  doch  den 
macphersonschen  Geist  nicht,  namentlich  in  diesen  Ausdrücken:  ged  sheinneadh  täisg 
Str.  13,  Gormheall  15,  a  chaoidh  nach  pill  o*n  leabaidh  chaoil  %\  (vergl.  damit  leabaidh 
de  'n  gcre  bhidh  cumhang,  Hardiman  i,  94),  fosglaibhs*  thalla  Oisein  *s  Dhaoil  36 
(vergl.  Temora  2,  550),  teach  nam  bärd  air  Ardbheinn  und  mo  shlige  37.  Sligc 
creachainn  oder  creachag  „die  Muschelschale**,  aus  der  die  ossianischen  Helden  trinken, 
war  früher  allerdings  das  Trinkgeföfs  in  den  schottischen  Hochlanden  (vergl.  Smith, 
Seandana  p.  27;  AI.  Macdonald,  Poems  p.  51)  und  noch  bei  den  allerneuesten  Dichtem 
(wie  Mary  Macpherson  und  John  Macfadyan)  spielt  sie  eine  Rolle. 


Die  ossianischen  Heldenlieder.     II.  71 

seiner  Tat  wohl  bewufst,  wie  aus  einem  Briefe  vom  5.  Dezember  1775 
an  Herder  in  dessen  Nachlafs  zu  ersehen  ist,  in  dem  er  die  Unechtheit 
der  macphersonschen  Gedichte  höchst  klar  entwickelt  „No  one  ad- 
mires  him  more  than  I  do",  schreibt  er,  „but  I  admire  truth  more 
than  him".  Das  hatte  ihn  aber  nicht  gehindert,  unter  dem  20.  August 
desselben  Jahres  ein  eigenes  macphersonsches  Gedicht  an  Herder  zu 
senden  mit  der  Versicherung:  „Fve  translated  the  song  from  the 
Celtic  into  English*)". 

Der  vierte  Fälscher  nach  „Ossian"  ist  der  Rev.  Maccallum  von 
Arisaig,  der  1821  nicht  nur  den  vollständigen  „Mordubh**,  sondern 
auch  ein  Gedicht  „Goliath''  von  einem  alten  Dichter  „Fonar"  gälisch 
herausgab;  beide  sind  in  J.  Mackenzies  Beauties  of  gaelic  poetry 
1840  wieder  abgedruckt.  „Goliath"  ist  ein  macphersonsches  Mach- 
werk von  504  reimlosen  Versen  und  von  dem  Herausgeber  selbst 
verfertigt,  nach  dem  Geständnis  in  der  zweiten  Auflage  von  1842, 
wo  er  sich  herbeiliefs  „die  Täuschung  zu  beseitigen". 

So  sehr  hatte  das  macphersonsche  Übel  in  der  Heimat  des 
Dichters  um  sich  gegriffen,  dafs  sich  einige  nicht  enthielten  auch  die 
gesunde  Volkspoesie  mit  sentimentalen  Beigaben  zu  versetzen.  Es 
ist  daher  geboten,  die  gälischen  Balladentexte  nach  1 763  mit  kritischem 
Auge  zu  mustern  und  von  ungehörigen  Zusätzen  zu  säubern.  Selbst 
in  Irland  mufste  man  Schlimmes  erfahren.  Hier  wurde  alles  dage- 
wesene durch  Theophilus  OTlanagan  übertroffen,  der  in  der  Einöde 
des  Berges  Callan  in  der  Grafschaft  Cläre  einen  Stein  mit  verwitterter 
Ogam-Inschrift  auffand.  Diese  erwies  sich  als  die  Grabschrift  Conans, 
eines  Helden  der  in  den  ossianischen  Volksliedern  eine  ergötzliche 
Rolle  spielt,  und  der  glückliche  Finder  brachte  einige  angeblich  einer 
alten  Handschrift  entnommene,  in  Wahrheit  aber  von  ihm  selbst  oder 
von  J.  Lloyd  oder  von  M.  Comyn  verfafste  Verse  vor,  die  Conans 
Todesart  und  sein  Grab  bezeichnen  und  auch  der  Inschrift  gedenken. 
Die  gelehrte  Abhandlung  OPlanagans  steht  in  den  Akten  der  König- 
lichen Irischen  Akademie  vom  Jahre  1787**). 

IL 

Während  sich  die  Dichtungen  Macphersons  eines  Beifalls  ohne 
Gleichen  zu  erfreuen  hatten,  wurden  die  Volkslieder,  auf  die  er  sie 


*)  Rud.  Haym,  Herder  nach  seinem  Leben  und  seinen  Werken  II,  606 — 609. 
**)  Eine  Ehrenrettung  O'Planagans  hat  Sam.  Ferguson  versucht;  s.  Proceedings  of 
the  Royal  Irish  Academy  II.  1  (1879),  pp.  160.  265.  315. 


79  Ludwig  Chr.  Stern. 


gegründet,  kaum  beachtet,  obschon  sie  doch  in  der  Frage,  ob  die 
„Gedichte  Ossians"  echt  oder  unecht  sind,  ein  hauptsächliches  Beweis- 
mittel bilden.  Diese  ossianischen  Balladen  sind  ohne  Ausnahme  neu- 
irische oder  neugälische  Poesieen,  aber  sie  sind  aus  den  uralten 
Sagen  Irlands  hervorgegangen.  Um  zu  einem  Verständnis  ihrer  Ent- 
wickelung  zu  gelangen,  mufs  man  auf  die  ältere,  die  mittelirische 
Litteratur  zurückgehen,  die  in  ihrem  Ungeheuern  Umfange  einen 
seltenen  Reichtum  an  Sagen  und  Dichtungen  besitzt. 

Die  Sagenwelt,  in  der  die  gälischen  Stämme  leben,  umfafst  drei 
Cyklen:  die  Geschichte  der  noch  als  Erdgeister  oder  Elfen  fort- 
dauernden Tuatha  De  Danann  oder  den  mythologischen  Cyklus  (dieser 
kommt  in  der  gegenwärtigen  Untersuchung  nicht  in  Betracht);  die 
Heldentaten  Cuchulinns  unter  dem  Könige  Conchobar  von  Ulster,  der 
in  der  Zeit  um  Christi  Geburt  gelebt  haben  soll;  und  endlich  die 
Taten  und  Abenteuer  des  Soldatenkönigs  Finn  Mac  Cumaill  und  seiner 
Truppen  unter  dem  Oberkönige  Cormac  im  dritten  Jahrhundert. 
Uralt  vsind  diese  Sagen,  doch  darf  nicht  unerwähnt  bleiben,  dafs  man 
nicht  nur  in  Frage  gestellt  hat,  ob  Cuchidinn  fortissimus  heros  Scotorum 
wirklich  gelebt  hat,  sondern  dafs  Prof.  Zimmer  auch  die  Sagengestalt 
Finns  für  die  irische  Ausbildung  eines  norwegischen  Häupdings,  des 
Caittil  Find  (d.  h.  des  weifsen,  hvidi,  Cathal)  im  9.  Jahrhundert, 
von  dem  die  irischen  Annalen  erzählen,  erklärt  hat.  Auch  die  Namen 
Ossin  und  Oscar  sind  nach  demselben  Gelehrten  aus  dem  Altnordischen 

zu  deuten:    Asvin  und  Asgeirr*). 

Die  Sagen  von  Cuchulinn  fallen  in  die  Zeit  um  Christi  Geburt, 
als,  nach  der  Aufstellung  der  irischen  Geschichtskundigen  (seanachaidh), 
Eochaidh  Feidlech  Oberkönig  Irlands  war,  derselbe  der  das  Reich  in 
gesonderte  Provinzen  geteilt  haben  soll.  Unter  den  Königen  seiner 
Zeit  ragt  Conchobar  Mac  Nessa  hervor,  der  über  Ulster  herrschte  und 
in  seinem  Palaste  Craeb  ruad  „dem  Roten  Zweige"  in  seiner  Residenz 
Emain  eine  glänzende  Schar  von  Rittern  (curaidh)  um  sich  versammelt 


*)  Vergl.  Zeitschrift  für  deutsches  Altertum  35,  141.  254;  Götting^.  Gel.  Anzeigten  1891, 
p.  186;  Academy  1891.  I,  284;  Revue  celtique  12,  295  ff.;  auch  Skene^  Celtic  Scot- 
land  I,  312.  Dofs  Goll  Mac  Moma  und  Finn  Mac  Cumaill  Anführer  fremder  Söldner  in 
Irland  und  dals  die  Fiannen  Wikinger  gewesen  seien,  suchte  1858  H.  F.  Höre  zu  er- 
weisen. S.  Ulster  Journal  of  Archaeology  6,  294  ff.  Nicht  unmöglich,  dafs  «fiann**, 
dessen  nomen  unitatis  „f^innidh"*  lautet,  ein  Lehnwort  ist  (nach  Zimmer  wäre  es  altnordisch 
„fiandr**  Feind)  und  dafs  die  damit  bezeichneten  Krieger  einem  fremden  Stamme  ange- 
hörten.   Adhuc  sub  judice  lis  est. 


Die  ossianischen  Heldenlieder.     EI.  73 

hatte,  unter  ihnen  Conall  Cernach,  Laegaire  Buadach,  Fergus  Mac 
Roig  und  vor  allem  Cuchulaind  oder  Cuchullin  den  Sohn  Subaltams.  - 
Unter  den  vielen  mittelirischen  Erzählungen  über  diese  Helden,  die  in 
den  alten  Codices,  wie  dem  Lebor  na  huidre  „dem  Buche  der  dunkel- 
grauen Kuh(haut)"  (ii.  Jahrh.),  dem  Buche  von  Leinster  (12.  Jahrb.), 
dem  Buche  von  Ballymote  (1390),  dem  Gelben  Buche  von  Lecan 
(1391),  dem  Buche  des  Mac  Firbis  von  Lecan  (1416),  dem  Buche  von 
Lismore  (15.  Jahrh.)  u.  a.  spätem  aufbewahrt  werden,  ist  die  be- 
rühmteste die  in  den  beiden  ältesten  Handschriften  enthaltene  Tain 
bö  Chuailgne  „der  Raub  der  Rinder  von  Cooley"*).  In  dieser  irischen 
„Uias"^  in  Prosa  mit  eingelegten  Gedichten  wird  ein  Krieg  der  Helden 
von  Ulster  gegen  die  Männer  von  Connacht  geschildert,  über  die 
Ailill  mit  Medb,  einer  Tochter  des  Oberkönigs  Eochaidh,  herrschte; 
Cuchulinn  ist  der  Achilleus  dieser  Dichtung.  Die  Iren  haben  die 
Täin  bis  in  neuere  Zeiten  gelesen,  aber  in  einem  wesentlich  ver- 
änderten Texte:  die  alten  Gedichte  sind  daraus  entfernt,  die  veralteten 
Wörter  sind  gröfstenteils  durch  üblichere  ersetzt,  die  altertümlichen 
Formen  in  die  neuen  umgewandelt.  Und  was  endlich  im  Munde  des 
Volks  aus  dem  alten  Werke  geworden  ist,  zeigt  die  Torachd  na  taine 
„die  Verfolgung  des  Viehraubs",  die  AI.  Carmichael  auf  der  Insel 
Uist  aufgenommen  und  1873  veröflFentlicht  hat**).  Aus  den  sehr 
zahlreichen  Erzählungen  dieses  Sagenkreises  hat  sich  noch  manches 
andere  erhalten,  namentlich  sind  mehrere  Balladen  darauf  gegründet. 
Während  die  Erzählungen  von  den  Rittern  des  „Roten  Zweiges" 
dem  Norden  Irlands,  d.  h.  Ulster  und  Connacht,  angehören,  ist  die 
Sage  von  Finn  und  denFiannen  ursprünglich  im  Süden,  in  Leinster 
und  Munster,  zu  Hause.  Diese  ist  in  den  alten  Handschriften  spär- 
licher bedacht,  aber  sie  ist  bis  in  die  Neuzeit  fortgebildet.  Im  3.  Jahr- 
hundert unserer  Zeitrechnung,  heifst  es,  bestand  unter  dem  Ober- 
könige Cormac  Langbart  (Ulf  hada),  dem  Sohne  Arts  und  Enkel  Conus 
von  den  hundert  Schlachten  (cetcathach),  und  unter  seinem  Nachfolger 
Cairbre    Lifechair    die    Kriegerkaste    der    Fiannen,    eine    Miliz    oder 


*)  Analysiert  sind  beide  Rezensionen  von  H.  Zimmer  in   der  Zeitschrift  für  ver- 
g:leichende  Sprachforschim^  28,  442 — 75. 

•*)  Gael.  Soc.  Invemess  2,  25  ff.,  übersetzt  im  Celtic  Magfazlne  13,  321  ff.  351  ff.; 
eine  andre  Version  von  der  Insel  Eigg  steht  im  Celt  Mag.  13,  514 — 16.  Auch  Mac- 
pherson  erwähnt  die  Erzählung  Tora  na-tana  „a  dispute  about  possession*,  angeblich 
eine  Expedition  CuchuUins  gegen  die  Firbolg  oder  Belgae  of  Britain  behandelnd  (Fingal 
p.  144  ed.  1763). 


74  Ludwig  Chr.  Stern. 


Stehende  Truppe,  in  Irland.  Sie  war  in  3  oder  gewöhnlicher  in 
7  Regimenter  (catha)  mit  Befehlshabern  über  9,  50  und  icx)  Mann 
eingeteilt;  nach  andern  hatte  sie  150  Offiziere  mit  je  3  mal  9  Mann. 
Strengen  Anforderungen  mufste  genügen,  wer  in  die  Truppe  auf- 
genommen zu  werden  wünschte.  Indem  er  sich  von  seinen  Ange- 
hörigen gewissermafsen  lossagte,  kam  das  Recht  ihn  zu  sühnen  (eric) 
nur  seinen  Kameraden  zu.  Er  mufste  Dichtergabe  besitzen  und  mit 
den  zwölf  Büchern  der  Poesie  nach  den  Regeln  der  Oberbarden 
(oUam)  vertraut  sein.  Nur  mit  einem  armlangen  Haselstocke  und 
einem  Schilde  versehen  in  einer  Erdhöhle  stehend,  mufste  er  sich  von 
neun  Kriegern  aus  einer  Entfernung  von  neun  Ackerreihen  (imaire) 
gleichzeitig  mit  Speeren  bewerfen  lassen,  und  wenn  er  diese  Prüfung 
nicht  unverletzt  bestand,  ward  er  zurückgewiesen.  Mit  aufgestecktem 
Haupthaar  mufste  er,  nur  mit  eines  Baumes  Breite  Vorsprung  vor 
einer  Kriegerschar,  die  ihn  verfolgte,  durch  einen  Wald  laufen;  er 
durfte  sich  weder  einholen  oder  sein  Haar  fallen  lassen,  noch  durfte 
die  Waflfe  in  seiner  Hand  zittern  oder  ein  dürrer  Ast  unter  seinen 
Füfsen  brechen.  Auch  mufste  er  einen  Zweig  überspringen,  der  ihm 
bis  an  die  Stirn  reichte,  und  sich  unter  einem  andern  bücken,  der 
nicht  höher  als  sein  Knie  war.  Dazu  mufste  er  ohne  zu  zittern  einen 
Speer  mit  steifem  Arme  halten  und  im  Laufe  mit  dem  Nagel  einen 
Dorn  aus  seinem  Fufse  ziehen  können.  Er  wurde  aufserdem  zur 
Tapferkeit  gegen  Feinde,  zum  ritterlichen  Sinn  gegen  Frauen  und  zur 
Mildtätigkeit  gegen  Arme  verpflichtet.  Endlich  mufste  er  dem  Ober- 
könige huldigen  und  dem  Oberbefehlshaber  Treue  geloben.  In 
Friedenszeiten  hatten  die  Fiannen  die  öflfentliche  Sicherheit  zu  schützen, 
das  Recht  des  Herrschers  zu  wahren  und  die  Häfen  gegen  Fremde 
zu  bewachen.  Sie  empfingen  keinen  Sold;  nur  im  Winter  (von  samh- 
ain  oder  Allerheiligen,  d.  i.  dem  i.  November)  wurden  sie  in  Quartiere 
gelegt.  Im  Sommer  aber  (von  beltine  oder  dem  Osterfeuer,  d.  i. 
dem  I.  Mai),  wo  sie  sich  durch  Jagd  und  Fischfang  erhielten,  lebten 
sie  unter  fi-eiem  Himmel,  schliefen  auf  einem  dreifachen  Lager  von 
Zweigen,  Moos  und  Binsen  imd  bereiteten  Abends  ihre  Mahlzeit,  indem 
sie  das  Fleisch  am  Feuer  rösteten  oder  zwischen  heifsen  Steinen 
schmorten.  Die  Spuren  ihrer  Feuer  (fualachta  na  bhfiann)  findet  der 
Bauer  noch  heutiges  Tages  in  tiefen  Erdschichten.  So  berichten  die 
irischen  Geschichtsschreiber  über  die  Fiannen*). 

*)  Vergl.  Wh.  Stokes,  The  book  of  Lismore  p.  XL;  O'Grady,  Silva  gadelica 
p.  92.  258;  G.  Keating,  The  history  of  Ireland  traaslated  by  J.  O'Mahony  p.  345—50; 
O^Curry,  Manners  and  Customs  of  the  andent  Irish  2,  379  ff. 


Die  ossianischen  Heldenlieder.    TL,  75 

Ni  cbanamaois-ne  an  iUann  go,  Lug  nicht  sprachen  die  Plannen, 
br^ag  leö  nior  samhlaidh  riamh;  Noch  war  Trug  bei  ihnen  Qblich; 

le  firinne  is  le  neart  ar  l^h  Stark  von  Händen  und  wahrhaftig, 

do  thigmis  slan  o  gach  gliadh.  Kamen  heil  wir  aus  den  Kämpfen*). 

Der  Generalissimus  dieser  ausgezeichneten  Truppe,  rigfheinnid 
„Kriegerkönig"  genannt**),  war  unter  dem  Oberkönige  Cormac  Finn 
oder  Find  (neuirisch  Fionn  geschrieben).  Er  war  der  Sohn  Cumalls 
(Cumhall,  Cuwal)  des  Sohnes  Trenmors,  der  unter  Conn  von  den 
hundert  Schlachten  dieselbe  Würde  innegehabt  hatte  und  in  der 
Schlacht  von  Cnucha  durch  GoU  Mac  Morna  getötet  wurde,  und  der 
Mume  Munchaem,  einer  Tochter  des  Druiden  Taig  (Tadg),  von  der 
er  seine  Burg  Alwin  (Almu,  Almhain,  heute  Allen)  in  der  Grafschaft 
Kildare  in  Leinster  erbte***).  Schon  die  älteste  Überlieferung,  in 
Cormacs  Glossar  s.  v.  orcc  treith,  kennt  Finn  Mac  Cumaill  als  den 
grofsen  Jäger,  dessen  Macht  sich  über  ganz  Irland  erstreckte.  Damit 
hängt  es  auch  zusammen,  wenn  er  das  Ehrenamt  eines  amhusgüla 
am,  eines  Oberjägermeisters  des  Oberkönigs,  versieht  (Silva  gad. 
p.  90).  Aber  die  Sage  hat  ihn  als  einen  Kriegerkönig  mit  allen 
Vollkommenheiten  ausgestattet:  er  war  nicht  nur  Feldherr  des  Heeres 
und  Haupt  seines  Stammes,  sondern  auch  Weiser,  Dichter  und  Prophet, 
wie  es  in  einem  alten  Poem  heifst: 

Ba  rf,  ba  fÜd,  ba  fiU, 
ba  triath  co  m^t  mör-ffaine, 
ar  fisid  *s  ar  ndrdi  's  ar  fäid, 
ba  bind  lind  cach  ni  dordid. 

Die  vortrefflichsten  Helden  in  seinem  Heere  waren  Cailte  der 
Sohn  Ronans,  seiner  Tante  Eithne  einer  Tochter  Tadgs  Sohn,  Dermid 
der  Sohn  O'Duibhnes,  Mac  Lugach  seiner  Schwester  Sohn,  seine 
Söhne  Fergus,  Oisin  und  dessen  Sohn  Oscar.  Sie  gehören  mit  Finn 
dem    Stamme    Baisgne    an.     Mit    diesem  verbündet   war   der   Stamm 


*)  Joum.  Kilkenny  Archaeol.  Soc.  I.  1849 — 51,  p.  333;  Transactions  of  the  Ossianic 
Society  4,  52.  84. 

**)  GewJssermalsen  der  siebente  König  in  Irland  (neben  dem  Oberkönige  und  den 
Konigen  der  5  Fünfteile),  Silva  gadelica  p.  258. 

^*)  Nach  einem  Gedichte  in  dem  Giefsener  irischen  Manaksripte  Daniel  DriscoUs 
Bl.  52  b:  „Fiarfraios  Padraig  Mhacha**,  das  auch  im  Duanaire  Fhinn  vorkommt,  stanunte 
Finn  von  dem  Ulsterhäuptlinge  Deaghaidh,  der  von  den  Clanna  Rughraidhe  vertrieben 
war  und  sich  in  Sfld-Munster  niedergelassen  hatte;  sein  Enkel  war  der  berühmte  Curi 
Mac  Daire  und  dessen  Bruder  Baisgne,  der  Ahnherr  Finns.  Auf  denselben  Deaghaidh 
flihrt  auch  ein  anderer  Stammbaum  in  einer  Erzählung  derselben  Handschrift  (Bl.  19  a) 
zurück  (vergl.  Silva  gad.  p.  a8o). 


76  Ludwig  Chr.  Stern. 


Moma  unter  seinem  Haupte  GoU,  dem  stärksten  Helden  unter  den 
Plannen,  der  ehemals  die  Fiannen  von  Connacht  gefuhrt  hatte;  sein 
Bruder  war  Garadh  Schwarzknie  (glundubh)  und  sein  Stammesgenosse 
Conan,  der  unter  den  Fiannen  die  Rolle  des  Thersites  hat,  wie  vor 
ihm  Brichni  imter  Konig  Conchobar.  Nicht  wenige  Erzählungen 
handeln  von  den  Fiannen  und  ihren  Abenteuern;  aber  die  meisten 
sind  in  neuirischer  Sprache  abgefafst*). 

Die  Macht  der  Fiannen  und  der  Druck,  den  sie  durch  die  Wahr- 
nehmung ihrer  Jagd-  und  andern  Vorrechte  ausübten,  soll  den  Be- 
wohnern Irlands  so  unerträglich  geworden  sein,  dafs  Cormacs  Nach- 
folger Cairbre  sie  des  Landes  verweisen  wollte.  Nach  einer  Erzäh- 
lung wäre  der  allgemeine  Unwille  zum  Ausbruche  gekommen,  als  sie 
gegen  Cairbres  Tochter  das  Herrenrecht  geltend  machen  wollten, 
(Oss.  I,  134  flf.).  Der  Oberkönig  zog  gegen  sie  zu  Felde  und  ver- 
nichtete sie  vollständig  bei  Gabor  oder  Gaura,  283  nach  Chr.  Geb., 
oder  nach  andern  in  zwei  Schlachten,  bei  Gaura  und  bei  Ollarba 
(Silva  gad.  p.  118).  Von  den  wenigen  die  übrig  blieben,  sollen 
Oisin  und  Cailte  alle  andern  überlebt  haben,  nach  der  Sage  bis  zur 
Zeit  des  heiligen  Patrick,  des  Apostels  der  Irländer,  der  im  J.  431 
ins  Land  kam.  Es  giebt  einen  mittelirischen  Traktat,  den  Agallamh 
na  senorach  „das  Gespräch  mit  den  Alten",  der  auf  dieser  Sage  be- 
ruht, indem  jene  beiden  Greise  den  Heiligen  auf  seinen  Wanderungen 
durch  Irland  begleiten  und  ihn  von  der  Heldenzeit  unterhalten,  wäh- 
rend Patricks  Schreiber  Brocän  ihre  Erzählungen  aufzeichnet**). 

Es  finden  sich  in  der  mittelirischen  Litteratur  auch  einzelne  Ge- 
dichte, die  den  Helden  der  Fiannen  beigelegt  werden.     Freilich  sind 


*)  Die  älteste  Erzählung  betritt  die  Jugendtaten  Finns  (ed.  O'Donovan,  Oss.  4,  a88fil ; 
ed.  Dav.  Comyn,  Dublin  188 1,  ed.  K.  Meyer^  Rev.  celt.  5,  197  ff.);  zwei  kleine  £nah> 
langen  edierte  aus  dem  alten  Stowe -Ms.  992  K.  Meyer,  Rev.  celt.  14,  341  ff.  Die  von 
demselben  Gelehrten  herausgegebene  Schlacht  von  Ventry  (Oxford  1885)  trägt  schon 
neuirischen  Charakter.  Andere  neuirische  Erzählungen  aus  dem  ossianischen  Sagenkreise 
sind  bekannt  gemacht  von  N.  O'Kearney,  St.  H.  0*Srady,  J.  0*Daly  (Selfinstruction  1871, 
p.  41  =  Silva  p.  289),  P.  W.  Joyce,  J.  F.  Campbell  (Cb.  88),  W.  A.  Craigie  (Scottish 
Review  24,  270)  u.  a. 

**)  Der  Agallamh  ist  aus  dem  Buche  von  Lismore  ediert  und  übersetzt  von  St. 
H.  0*Grady,  Silva  gadellca  p.  94 — 233.  Vorher  waren  drei  Gedichte  daraus  veröffent- 
licht von  O'Conor,  Scriptores  I.,  Epistola  p.  123  (=  Silva  p.  149,  in  neuerer  Rezension 
von  O'Kearney,  Oss.  1,  33);  von  0*Curry,  Materials  p.  594  (=  Silva  p.  11 1);  von 
J.  O'Daly,  Oss.  4,  280  (=  Silva  p.  105).  Zwei  Stücke  daraus  hatte  H.  Zimmer  über- 
setzt in  der  Zeitschrift  für  deutsches  Altertum  33,  268  ff. 


D]e  ossianischen  Heldenlieder.    II.  77 

sie  nicht  aus  ihrer  Zeit  (so  ake  Denkmäler  irischer  Sprache  giebt  es 
überhaupt  nicht),  aber  einige  reichen  immerhin  bis  an  die  altirische 
Sprachgrenze.  Vor  allen  ist  Finn  Mac  Cumaill  selbst  als  Dichter  be- 
rühmt;  aufser  einem  Fragmente  im  Lebor  na  huidre  iib  20  und  den 
Gedichten  im  Buche  von  Leinster  (192a  34.  62.  193a  34.  204a  32. 
297  b  61.  298  b  34)  gehören  ihm  das  Frühlingslied  Cettemain  com 
(Revue  celtique  5,  201)  und  das  Sommerlied  Tantc-som  slan  soer 
in  der  oxforder  Handschrift  Rawlinson  B.  502^  Bl.  59  b  (Göttinger  Gel. 
Anzeigen  1887  P-  ^85);  dazu  zwei  Gedichte  im  Buche  von  Lecan 
(O'Curry,  Manuscript  materials  p.  303),  endlich  im  Agallamh  ein  Lehr- 
gedicht an  Mac  Lugach,  eine  Prophezeiung  u.  a.  (Silva  gad.  p.  107. 
230)-  Andere  Gedichte  werden  CaUte  Mac  Ronaln  zugeschrieben, 
aufser  denen  im  Agallamh  namentlich  eins  im  Buche  von  Leinster 
208  a  24,  worin  der  Langlebige  den  Schwund  seiner  Kraft  und  seiner 
Schnelligkeit  beklagt. 

Als  den  einsam  überlebenden-  Helden  lernen  wir  auch  Oisin 
den  Sohn  Finns  aus  einem  alten  Gedichte  kennen,  das  Kuno  Meyer 
aus  einer  Handschrift  des  14.  Jahrh.,  Ms.  Stowe  992,  ans  Licht  ge- 
zogen hat  (Revue  celtique  6,  186).  Der  Dichter  klagt  darin  im  Tone 
so  mancher  spätem  Lieder,  die  seinen  Namen  tragen: 

Meine  Hände  sind  verdorrt,  Lang  mein  Tag,  das  Leben  trübl 

Meine  Taten  sind  erstickt.  Einstmals  war  ich  frohgesinnt. 

Flut  drang  vor  und  kam  ans  Land  Stattlich  war  der  Unsem  Schar, 

Und  ertränkte  meine  Kraft.  Hatte  Frauen,  die  voll  Huld  (?). 

Dank  bring  Ich  dem  Schöpfer  dar,  Zag  nicht  geh  ich  aus  der  Welt, 

Der  Gewinn  und  Freude  gab.  Meine  Laufbahn  ist  zu  End. 

Merkwürdig  ist  ein  andres  Gedicht  Oisins  (im  Buche  von  Leinster 
154  a  44),  da  es  sich  auf  die  erwähnte  Schlacht  von  Gaura  bezieht, 
in  der  sich  sein  Sohn  Oscar  und  der  König  Cairbre  gegenseitig 
töteten*). 

Schrift  auf  Stein  und  Stein  auf  Grab,  Söhne,  kQhn  gewaltig,  sie, 

Wo  die  Mannen  schritten  einst,  Fanden  ihren  Tod  im  Streit; 

Brins  Prinx  auf  weifsem  Rofs  Kurz  vor  ihrem  Waffengang 

Ward  mit  schlankem  Speer  verletzt.  Mehr  als  lebend  waren  tot. 

Cairbre  tat  den  bdsen  Wurf,  Ich  war  selber  in  dem  Kampf, 

Hoch  zu  Rosse,  gut  im  Kampf;  SQdlich  dort  von  Gabors  Grün 

Kurz  eh*  beide  sie  erlahmt.  Schlug  ich  zweimal  fünfzig  Mann, 

Schlug  er  Oscars  Rechte  ab.  Es  erschlug  sie  meine  Hand.  .  .  . 


*)  Vergl.£.  Whidisch,  Irische  Texte  p.  157  ffi;  O'Grady,  Silva  gad.,  transl.  p.  475, 52 1; 
D'Arbois  de  Jubainville,  L*^pop^e  celtique  en  Irlande  i,  391. 


78  Ludwig  Chr.  Stern. 


Oscar  tat  den  grolsen  Wurf,  Schrift  ist  auf  dem  Steine  hier, 

Wütend  kühn,  dem  Löwen  gleich,  Um  den  mancher  Arme  fiel; 

Tötete  Cairbre,  Enkel  Conus,  Lebte  Finn,  an  Taten  reich, 

Dem  sich  Kriegstat  unterwarf*).  Lang  gedächte  man  der  Schrift. 

Der  Urtext  ist  mit  AUitteration  und  Assonanz  versehen;  das  erste 
Wort  ist  wie  gewöhnlich  auch  das  letzte  des  Gedichtes.  Ein  ebenso 
altertümliches  Lied  Ossins  (LL.  208  a  7  =  E.  Windisch,  Texte  p.  162) 
behandelt  eine  Jagd  auf  ein  Wildschwein.  Jünger  scheint  ein  von 
Wh.  Stokes  aus  dem  Buche  von  Leinster  206  b  ediertes  Gedicht  zu 
sein,  als  dessen  Verfasser  sich  Ossin  mit  dem  Beinamen  „Der  blinde 
Guaire"  nennt;  es  behandelt  ein  Abenteuer  Finns  mit  Gespenstern**). 
Weniger  altertümlich  sind  auch  manche  andere  mittelirischen  Gedichte 
über  einzelne  Taten  und  Erlebnisse  der  Fiannen,  wie  das  Gedicht 
Dam  thrir  tancatar  ille  (LL.  207  b  5),  das  einen  Kriegszug  der  Fiannen 
gegen  norwegische  Seeräuber  beschreibt.  Ein  anderes  Tipra  Sen- 
gamma  fo  shnas  (LL.  197  a  =  BB.  377a  50)  über  ein  Abenteuer 
Oisins  wird  dessen  Bruder  Fergus  Finnbel  („Blondbart"  oder,  wie 
O'Grady  will,  „Wahrmund"),  der  geradezu  als  fili-Fhinn  „der  Dichter 
Finns"  bezeichnet  wird.  Dies  Gedicht  gehört  dem  mehrfach  erhaltenen 
topographischen  Werke  Dindshenchas  „Heimatkunde"  an,  wie  auch 
einige  andere,  die  Namen  von  Örtlichkeiten  auf  fiannische  Helden 
zurückfuhren  und  die  Veranlassung  ihrer  Benennung  erzählen,  nament- 
lich Ath-liag  (LL.  163b  =  BB.  394b),  Cnamross  (LL.  195a  =  BB.  367b), 
Snäm-dä-en  (LL.  203  a  2;  vergl.  Revue  celtique  13,  3  f.)» 

Die  hier  erwähnten  ossianischen  Gedichte  sind  die  ältesten,  die 
es  giebt;  sie  gehören  dem  11.  und  12.  Jahrhundert  an,  einige  wenige 
mögen  noch  älter  sein.  Als  der  eigentliche  Dichter  der  Fiannen  gilt 
in  der  alten  Sage  der  redegewandte  und  sangeskundige  Fergus,  ob- 
wohl auch  andern  Helden  hin  und  wieder  Gedichte  beigelegt  werden. 
Aber  die  spätere  Sage,  wie  sie  in  neuirischer  und  neugälischer  Sprache 
zum  Ausdruck  gelangt  ist,  hat  sich  Oschins  als  des  letzten  der 
Fiannen  bemächtigt  und  ihn  zum  Dichter  erkoren,  der  die  Taten 
seines  jagdfrohen  und  kriegerischen  Stammes  in  Liedern  gefeiert 
habe'*'**).     Nicht  dafs  er  in  Wirklichkeit  eine  der  ihm  zugeschriebenen 


*)  D.  h.  die,  welche  Kriegstaten  vollbrachten,  unterwarfen  sich  ihm. 
**)  Eine  Erzählung  in  Prosa  fiber  denselben  Gegenstand  ist  in  der  Revue  celtique 
»3»  5  ft  ediert. 

***)  Der  Name  des  Dichters  lautet  in  der  ältesten  Zeit  Ossin  oder  Oisin  (LL.  154  a. 
197  b.  203  b.  ao8a.  BB.  377  a).  Die  letztere  im  Irischen  gewöhnliche  Form  trägt  im 
Süden  auf  der  zweiten  Silbe  den  Ton,    so  dals   man  selbst  Isheen  umschrieben  findet. 


Die  ossianischen  Heldenlieder.     IL  79 


Balladen  verfasst  hätte,  sondern  er  ist  eine  poetische  Figur  geworden. 
Nach  der  neuern  Sage,  die  Mich.  Comyn  in  einem  bekannten  irischen 
Gedichte  behandelt,  hat  Oschin  auch  seinen  Freund  Cailte  überlebt  und 
eine  Fahrt  ins  „Land  der  Jugend**  gemacht  und  so  nach  seiner  Rück- 
kehr, steinalt  und  traurig,  die  Zeit  des  heiligen  Patrick  erlebt*). 
Daher  sind  viele  der  neuen  Balladen,  die  seit  dem  Ende  des  15.  Jahr- 
hunderts im  Munde  des  Volks  und  schrifdich  überliefert  sind,  an 
diesen  Glaubensboten  gerichtet  oder  bestehen  in  Zwiegesprächen 
zwischen  ihm  und  Oschin.  Der  alte  Krieger  soll  selbst  schliefslich  die 
neue  Lehre  angenommen  und  sich  zum  Christentum  bekehrt  haben**). 
Das  ist  die  ossianische  Sage  der  gälischen  Heldenlieder.  Ihre 
Heimat  ist  Irland,  aber  sie  hat  sich  nicht  nur  nach  West-Schottland 
und  den  Hebriden,  sondern  auch  nach  der  Insel  Man  ausgebreitet***). 
Wir  wollen  es  hier  in  der  Hauptsache  nur  mit  den  schottisch- 
gälischen  Heldenliedern  zu  tun  haben,  die  in  Inhalt,  Form  und  Sprache 
freilich  beständig  an  die  irischen  Vorbilder  erinnern,  namentlich  manche 
sprachliche  Eigentümlichkeit  aufweisen,  die  dem  heutigen  Albano- 
gälischen  fremd  geworden  ist.  Sie  verhalten  sich  zu  den  irischen  Bal- 
laden etwa  wie  die  portugiesischen  Romanzen  zu  den  spanischen,  die 
gleichfalls    oft   desselben  Ursprungs  sindf).     Des  Wunderbaren    und 


Die  Bedeutung  des  Namens,  wenn  er  eine  hat,  ist  „der  kleine  Hirsch**.  Im  Norden 
Irlands  werden  solche  Bildungen  mit  Betonung  des  Stammvokals  gesprochen,  also  Oschin. 
Die  Galen  Schottlands  sind  aber  noch  weiter  gegangen  und  haben  dem  Namen  ihre 
Dinimutivendung  an  (statt  in)  gegeben:  Oisean  d.  i.  Oschan,  was  Macpherson  mit  seiner 
Schreibung  Oscian,  Ossian  ausdrückt. 

*)  Nach  einem  irischen  Gedichte  in  der  Gielsener  Handschrift  D.  Driscolls  (Bl.  54b) 
erreichten  die  berühmtesten  Plannen  alle  sehr  hohe  Jahre,  die  denen  der  jüdischen 
Patriarchen  wenig  nachgeben.     Da  heifst  es: 

Dobhi  saoghal  Oisin  mic  Fhinn  Oisin,  Finns  Sohn,  war  im  Leben 

tri  cead  bliaghun  go  haoibhinn,  Glücklich  dreimal  hundert  Jahre, 

seachd  mbliaghna  deag  fa  dho,  Dazu  zweimal  siebzehn  Jahre, 

mi  seachdmhuin  agus  aon  lo.  Einen  Mond  und  Tag  und  Woche. 

**)  Der  Zuname  des  heiligen  Patrick  des  Sohnes  des  Calpumius  Mete  Calpuim  oder 
Mac  Chalfruinn  (Hardiman  3,  386)  wurde  zunächst  zu  Mac  Alprainn  (Saltair  2364, 
S9va  g^d.  p.  95)  oder  Mac  Arpluin  (Oss.  i,  96)  oder  Mac  Arphluin  (4,  3a),  dann  bei 
den  Schotten  zu  dem  heimatlicher  klingenden  Mac  Alpin. 

***)  Auch  im  Manx  gab  es  Lieder  von  Osshin  mac  Owm,  wie  Vallancey,  Vindi- 
cation  of  the  andent  history  of  Ireland,  Dublin  1789,  p.  551,  und  O'Conor  (Dean's  book 
p.  LXXXIV)  berichten  —  leider  ohne  Probe. 

f )  Man  vergleiche  z.  B.  die  spanische  Romanze  „Oh  Valencia,  oh  Valencia,  de  mal 
fiiego  seas  quemadal"  (Wolf  und  Hofmann  i,  176)  mit  der  portugiesischen  „Ai  Valen9a, 
gaai  Valenpa,  de  fogo  sejas  queimadal"  (Harding  z,  8). 


80  Ludwig  Chr.  Stern. 


Unmöglichen  haben  diese  der  Neuzeit  angehörenden  Gedichte  nicht 
weniger  als  die  mittelirischen  Erzählungen,  aber  sie  haben  nicht  die 
gleiche  Korrektheit  in  den  Umständen  der  Schilderung  und  der  Hand- 
lung, sowie  in  den  historischen  und  geographischen  Namen.  Da  die 
Helden  Gestalten  der  irischen,  in  einer  alten  und  grofsen  Litteratur 
erhaltenen  Sage  sind  und  der  Schauplatz  der  Begebenheit  regelmäfsig 
in  Irland  liegt,  so  befindet  sich  besonders  die  schottische  Überlieferung 
in  fortwährender  Gefahr  des  MiTsverständnisses  und  der  Entstellung. 
So  begegnet  es  ihr,  dafs  sie  Conchobar  und  Conall,  Emain  und  Tara 
verwechselt  und  für  Almhain,  d.  i.  Allen  in  der  Grafschaft  Kildare,  das 
ähnlich  klingende  und  bekanntere  Albain  d.  i.  Schottland  einsetzt.  So 
verlieren  die  Balladen  die  Stellung  ganz  aus  den  Augen,  die  Finn 
Mac  Cumaill  unter  dem  Oberkönige  Irlands  einnahm  und  nennen  ihn 
schlechthin  einen  König  Innisfails  oder  Irlands;  ja,  einige  Male  ver- 
gessen sie  ganz,  dafs  Finn  in  Irland  und  nicht  in  Schottland  lebte,  läist 
doch  sogar  ein  echter  Dichter  wie  Duncan  Mac  Intyre  (poems  p.  204) 
den  Dudelsack  in  Finns,  Golls  und  Garahs  Halle  ertönen.  Die  Bal- 
laden aus  dem  älteren  Sagenkreise  werden  schliefslich  gleichfalls  dem 
Dichter  Oschin  beigelegt;  Namen  aus  dem  Kreise  Cuchulinns  geraten 
in  den  ossianschen,  und  solche  aus  diesem  in  jenen;  doch  vermischen 
die  Balladen  im  allgemeinen  nicht  auch  die  Handlungen  der  beiden 
Epochen,  wie  es  in  den  Gedichten  Macphersons  geschehen  ist.  Die 
Ursprünglichkeit  und  der  Verfall  der  Sage  bilden  neben  der  gröfsern 
oder  geringern  Reinheit  der  Sprache  die  sichersten  Merkmale  für  das 
Alter  dieser  Dichtungen. 

Ihre  Enstehung  reicht,  wie  bemerkt,  in  das  1 5.  Jahrhundert  zurück. 
Die  ältesten  sind  in  dem  sogenannten  Dean's  book  erhalten,  einer 
Sammlung  von  neuirischen  oder  gälischen  Gedichten,  die  der  Dechant 
von  Lismore,  einer  zur  Grafschaft  Argyle  gehörigen  Insel,  James  Mac- 
gregor und  sein  Bruder  Duncan  um  151 2  machten.  Ossianische  Lieder 
(worunter  wir  also  die  aus  dem  Sagenkreise  nicht  nur  Finns,  sondern 
auch  Cuchulinns  verstehen)  sind  29  darunter.  Mehrere  werden  aus- 
drücklich schottischen  Dichtem  jener  Zeit  beigelegt,  so  „Conlaoch"  dem 
Gillie  Callum  Mac  an  OUav,  „Fröch"  dem  Keich  O'Cloan,  „Dermids 
Tod"  und  „die  Schlacht  von  Gaura"  dem  Allan  Mac  Rorie;  die  Ver- 
fasser anderer  Gedichte  kennt  man  nicht:  dazu  gehören  „Maihre",  „die 
grofse  Jagd",  „die  schönste  Musik",  „die  treulosen  Frauen",  „das  Lob 
Golls",  „das  Lob  Finns",  „Oschins  Klage"  und  „Oschins  Gebet"  in 
einer  altem  Form.     Das  wichtige  Buch  wurde  1862  von  Thomas  Mac- 


Die  ossianischen  Heldenlieder.  IL  81 

lauchlan  (1816 — 86)  und  1892  aufs  neue  aus  dem  Nachlasse  des  vor- 
treflflichen  Alex.  Cameron  (1827 — 88)  herausgegeben.  Die  Arbeit  war 
schwierig,  denn  der  Dechant  hat  seine  Sprache,  die  schon  einige  alba- 
nogäüsche  Abweichungen  von  der  irischen  zeigt,  nicht  etymologisch, 
sondern  nach  der  von  der  Schrift  ziemlich  weit  entfernten  Aussprache, 
noch  dazu  recht  regellos,  phonetisch  geschrieben.  Den  kursiven  Text 
der  Handschrift  richtig  zu  lesen  und  ihn  in  die  heutige  Orthographie 
richtig  zu  umschreiben  ist  noch  nicht  durchweg  gelungen,  obschon 
der  zweite  Herausgeber  die  Aufgabe  aufs  erfreulichste  gefordert  hat. 
Eme  über  alle  Zweifel  erhabene  Reproduktion  des  ehrwürdigen  Codex 
bleibt  noch  ein  Desideratum. 

Als  die  Zweitälteste  Sammlung  ossianischer  Gedichte  darf  eine 
im  Franziskanerkloster  zu  Dublin  aufbewahrte  hier  nicht  übergangen 
werden,  obschon  sie  eine  rein  irische  ist:  Duanaire  Fhinn  d.  h.  das 
„Liederbuch  Finns"  aus  dem  Jahre  1627,  auf  das  Prof.  Zimmer  auf- 
merksam gemacht  hat*).  Die  ersten  56  von  den  69  Liedern,  die  es 
enthalt,  gehören  zu  den  ältesten  Poesieen  der  Art;  von  den  Gedichten 
ist  etwa  ein  Dutzend  in  Drucken  nachweisbar,  darunter  „Derg"  und 
„Ergan**,  „Oschins  Klage",  ^Oschins  Gebet**,  Oscars  Schlachtgesang 
(Oss.  I,  156),  „GoUs  Totenklage"  (Cameron  i,  365)  u.a.  Diese  Hand- 
schrift ist  gewifs  das  Beste  aus  der  Fülle  der  fiannischen  Gedichte  und 
Erzählungen  in  irischer  Sprache,  deren  Text  Prof  O'Curry  auf  3000 
Druckseiten  in  quarto  berechnet.  Gedruckt  ist  von  dem  in  zahlreichen 
jungem  irischen  Handschriften  erhaltenen  Liederschatze  wenig.  Einiges 
edierten  1786  J.  Walker,  1789  Charl.  Brooke  (f  1793),  1790  S.  O'Hal- 
loran,  1792  Ch.  Wilson,  1808  Theoph.  0*Flanagan,  1831  J.  Hardiman, 
und  dann,  in  den  Verhandlungen  der  ossianischen  Gesellschaft  zu 
Dublin,  1854  sechs  Gedichte  N.  O'Kearney,  1857  ^^^^  St.  H.  0*Grady, 
1859  sechs  und  1861  ebensoviel  J.  O'Daly.  Nicht  eben  glücklich  sind 
die  16  Gedichte  ausgewählt,  die  J.  H.  Simpson,  Poems  of  Ossin,  bard 
of  Erin,  London  1857,  in  Prosa  übersetzte.  Drummond  traf  zwar  in 
seinen  Ancient  Irish  minstrelsy  1852  eine  bessere  Auswahl,  aber  seine 
Paraphrasen  in  Versen  geben  keinen  richtigem  BegriflF  von  der  Urschrift 
als  vor  ihm  die  Nachahmungen  Mifs  Brookes. 

Die  Galen  Schottlands  sind  nicht  so  reich  an  ossianischen  Dichtungen 
und  besitzen  aufser  dem  Buche  des  Dechanten  keine  alte  Handschrift 


*)  Göttinger  Gelehrte  Anzeigen  1887,  p.  173  ff. 
Ztschr.  t  vgl  Ut-Geach.    N.  P.  VIII.  g 


89  Ludwig  Chr.  Stern. 


davon'*');  aber  sie  haben  sich  im  vorigen  Jahrhundert  um  die  Auf- 
Zeichnung  des  Überlieferten  mit  löblichem  Eifer  bemüht.  Das  Wichtigste, 
was  darin  geleistet  ist,  überblickt  man  ziemlich  vollständig  in  dem  Leabhar 
na  feinne  „dem  Fiannenbuche**  [Cb.]  von  J.  F.  Campbell  von  Islay 
(1821 — 85),  der  schon  1864  im  3.  Bande  seiner  Tales  of  the  West 
Highlands  6  ossianische  Balladen  veröffentlicht  und  erkannt  hatte,  wie 
notwendig  zur  Herstellung  korrekter  Lesarten  die  Hinzuziehung  mehrerer 
Exemplare  ist.  Lange  blieb  dieses  wertvolle  Werk  so  gut  wie  un- 
beachtet und  erfuhr  erst  1892  aus  Alexander  Camerons  Nachlafs 
ansehnliche  Ergänzungen.  Zu  den  54000  Zeilen  gälischer  Poesie  in 
Campbells  Leabhar  na  feinne  und  zu  den  16000  Versen,  die  Camerons 
Reliquiae  celticae  enthalten  mögen,  kommen  noch  manche  kleinere 
Publikationen  zur  ossianischen  Balladendichtung  in  Schottland,  so  dais 
das  gedruckte  Material,  das  dem  Forscher  zur  Prüfung  und  Sichtung 
vorliegt  und  von  dem  ich  nun  einen  kurzen  Bericht  gebe,  keineswegs 
gering  ist. 

Die  erste  albanogälische  Sammlung  ossianischer  Gedichte  machte 
um  1 740  nach  mündlichem  Vortrage  der  Rev.  Alex.  Pope  in  Caithness. 
Es  sind  zehn  Lieder  in  phonetischer  Schreibung  und  im  Text  mitunter 
durchaus  nicht  vorzüglich,  wie  denn  z.  B.  einmal  Cuchulinn,  ^^er  Sohn 
Semos"  (mac  Seimh  Sualtach  oder  mac  Sheimhe,  Cb.  222)  zu  einem 
Zeitgenossen  Finns  gemacht  wird.  Drei  von  diesen  Liedern  hat  später 
der  Rev.  Sage  von  KJldonan  in  korrektere  Form  imischrieben 
(Cam.  I,  393  ff.).  Wertvoller  ist  die  Sammlung  Jeromy  Stones,  eines 
Schulmeisters  in  Dunkeid  (f  1756),  des  ersten,  der  eine  gälische 
Ballade  („Fröch")  englisch  nachgedichtet  hat,  „from  the  Irish",  wie 
er  sagt  (Scots  Magazine  XVIII.  1756,  p.  15  ff.)  Seine  zehn  Lieder 
sind  in  der  Form  ziemlich  korrekt,  einige  Jahre  vor  Fingal  und  Te- 
mora  aufgezeichnet  und  schon  aus  diesem  Grunde  beachtenswert;  sie 
wurden  1889  von  Prof.  Mackinnon  abgedruckt  (Gael.  Soc.  Invemess 
14,  314  ff.);  einige  davon  waren  1762  von  dem  Rev.  Macdiarmaid  in 
seine  handschrifthche  Sammlung  aufgenommen. 

Es  ist  wahrscheinlich,  dafs  Macpherson  durch  Stones  Nachbildung 
auf  die  gälischen  Volkspoesieen  aufmerksam  geworden  ist;  nach  dem 
Erscheinen   der  „Gedichte  Ossians"  ward    eine    allgemeine  Teilnahme 


*)  Die   Edinburger  Manuskripte  36.  38.  48.  54.  6a  und  65,    aus  denen  Cameron 

einiges   in    den   Reliquiae  celticae  veröffentlicht,  sind  eher  irisch  als  albanogällsch.     Die 

Handschrift   von    Fernaig  (c.   1693)    bietet    nur    ein   ossianisches  Lied  (Rel.  celt.  3,  89; 
cf-  2,  333  und  Cb.   106). 


Die  ossiaoischen  Heldenlieder.  11.  8B 


dafür  rege.  Den  ersten  gedruckten  Beitrag  zur  Kenntnis  der  ossia- 
nischen  Ballade  lieferte  jedoch  erst  1782—83  der  Engländer  Thom. 
Ford  Hill  im  Gentleman's  Magazine  Vol.  LII.  und  LIII.,  dann  in  be- 
sonderer Ausgabe  1784  (wieder  abgedruckt  im  Gaidheal  6,  iipflF. 
und  besonders,  Edinburg  1878).  Seine  Texte  von  6  Balladen  sind 
zwar  recht  fehlerhaft  geschrieben,  auch  ist  die  beigefügte  Übersetzung 
oft  unrichtig;  aber  die  Ehrenhaftigkeit  des  Sammlers  und  sein  un- 
eigennütziger Drang  in  der  Streitfrage  zur  Wahrheit  zu  gelangen  ver- 
dienen das  schönste  Lob.  Nach  ihm  gab  der  irische  Bischof  von 
Qonfert  M.  Young  1787  in  den  Abhandlungen  der  Dublin  er  Akademie 
mit  einigen  Bruchstücken  Mac  Arthurs  7  Lieder  heraus.  Seine  Texte 
sind  zwar  fehlerhaft  wie  alle  übrigen  in  den  Hochlanden  aufgezeichneten, 
doch  nicht  ohne  Wert,  und  seine  Übersetzung  (als  „Neuaufgefundene 
Gedichte  Ossians^  schon  1792  ins  Deutsche  übertragen)  im  allge- 
meinen nicht  schlecht. 

Von  allen  Sammlungen  ossianischer  Balladen,  die  man  im  vorigen 
Jahrhundert  in  Schotdand  gemacht  hat,  liefert  die  des  Rev.  Donald 
Macnicol  (f  1802)  das  beste  Bild  von  der  schottischen  Überlieferung 
dieser  Poesie.  Es  sind  30  Lieder,  aufser  den  Hillschen  Balladen  im 
Gentleman's  Magazine  Abschriften  von  Texten,  die  in  den  Hochlanden 
von  Hand  zu  Hand  gegeben  wurden,  darunter  auch  die  von  Stone 
gesammelten  mit  geringen  Abweichungen.  Seltsamerweise  war  Macnicol 
ein  Verteidiger  des  Macphersonschen  „Ossian^,  daher  unter  seine 
Texte  einige  gälische  Übersetzungen  dieses  englischen  Originals  ge- 
mischt sind.  Einen  geglättetem  und  in  der  Schreibung  korrektem 
Text  bieten  Archibald  Fletchers  Balladen  aus  dem  Jahre  1801, 
21  Stück  die  zum  Teil  auf  denen  Macnicols  beruhen.  Mit  Fletchers 
Namen  sind  sie  nur  zufallig  verbunden;  denn  es  wird  nur  gesagt 
(Report,  appendix  p.  270),  dafs  dieser  schriftunkundige  Rhapsode  alle 
diese  Lieder  vor  etwa  50  Jahren  gelernt  habe  und  sie  zu  recitieren 
pflege.  Macnicol  kommt  als  Sammler  am  nächsten  der  Rev.  James 
Madagan  von  Blair-Athole,  ein  hervorragender  Kenner  der  gälischen 
Poesie  und  selbst  ein  Dichter,  dem  auch  Macpherson  einige  Balladen 
verdankte  und  in  dessen  umfangreichem  Nachlasse  sich  gute  Texte 
von  25  ossianischen  Heldenliedern  gefunden  haben.  Nur  15  Gedichte, 
aber  diese  in  sprachlich  verbesserter  Form,  bietet  der  Lexikograph 
Peter  Macfarlane,  dem  Macnicols  und  Maclagans  Texte  vorlagen. 

Einige  Sammlungen  ossianischer  Gedichte,  die  im  Norden  Schott- 
lands, in  Sutherland    und    Caithness,    entstanden   sind,    zeichnen   sich 

6* 


84  Ludwig  Chr.  Stern. 


durch  die  Ursprünglichkeit  der  unmittelbaren  mündlichen  Überlieferung 
aus.  Es  sind  aufser  der  schon  erwähnten  des  Rev.  Pope  die  8  Bal- 
laden des  Rev.  Sage  von  Kildonan  (1802);  10  Balladen  von  Sir 
George  Mackenzie,  freilich  nicht  im  besten  Zustande  überliefert;  9  Ge- 
dichte von  John  Macdonald  von  Ferintosh  (f  1849),  von  denen  nach 
Campbells  erster  Ausgabe  AI.  Cameron  (Gael.  Soc.  Invern.  13,  270  ff.) 
einen  berichtigten  Abdruck  lieferte;  endlich  einige  Lieder,  die  James 
Cumming  1856  von  Janet  Sutherland  in  Caithness  aufnahm.  Das 
korrekt  geschriebene  Manuskript  kam  in  Th.  Maclauchlans  Besitz  und 
ist  von  Campbell  ediert  worden.  Die  nicht  sehr  reichhaltige  Samm- 
lung, die  Macdonald  von  Staffa  auf  der  Insel  Mull  1801 — 3  machte, 
hat  gleichfalls  manches  Eigentümliche. 

Bei  weitem  der  beste  Kenner  der  ossianischen  Poesie  in  Schott- 
land war  im  vorigen  Jahrhundert  Duncan  Kennedy,  ein  Schulmeister 
in  Kilmelford,  dem  das  Gälische  Muttersprache  war.  Er  machte  zwei 
handschriftliche  Sammlungen  von  Balladen  zwischen  1774  und  1783. 
Die  erste  Reihe  von  29  Liedern  würde  eine  nicht  üble  Edition  dieser 
Gedichte  sein,  wenn  Kennedy  den  Stoff,  den  er  mündlich  und  auch 
wohl  schrifdich  empfangen  hatte,  nicht  mehr  als  billig  überarbeitet 
und  die  Lücken  durch  eigene  Poesie  ausgefüllt  hätte.  In  der  Folge 
sich  gänzlich  in  den  macphersonschen  Geschmack  verirrend,  hat  der 
begabte  Mann  eine  zweite  Sammlung  von  30  Liedern  zusammen- 
geschrieben, worin  er  die  früher  aufgezeichneten  Balladen  durchgehends 
veränderte,  schwierige  Wörter  durch  verständlichere  ersetzte  und  nicht 
wenig,  meist  Macphersonsches,  hinzudichtete;  einige  Gedichte  sind, 
bis  auf  die  Sage,  auf  die  sie  gegründet  sind,  ganz  und  gar  sein 
Eigentum.  So  hat  Kennedy  das  Verdienst,  das  man  seinem  Fleifse 
und  seiner  sprachlichen  Korrektheit  gern  zuerkennen  möchte,  selbst 
beträchtlich  geschmälert.  Campbell  dankt  man  den  vollständigen  Ab- 
druck dieser  beiden  Sammlungen,  aus  denen  schon  Donald  Smith  in 
dem  mehrerwähnten  Report,  in  seinem  ossianischen  Cento  aus  ver- 
schiedenen Sammlungen,  einiges  mitgeteilt  hatte,  ohne  kritisches 
Verständnis  und  ohne  Unterscheidung. 

Die  Texte  von  20  ossianischen  Balladen  in  der  von  dem  Buch- 
händler J.  Gillies  in  Perth  1786  veranstalteten  Sammlung  gälischer 
Gedichte  sind  verhältnismäfsig  sorgfältig  ediert,  doch  haben  auch  sie 
eine  Überarbeitung  erfahren  und  hier  und  dort  eine  Zutat  nach  mac- 
phersonschem  Geschmack.  Dieses  Werk,  das  schon  Young  vor  sich 
hatte,  wurde  in  den  Hochlanden  einst  viel  gelesen   und  ist  daher  auf 


Die  ossianjschen  Heldenlieder.  II.  85 

die  Sammlungen,  die  man  nach  jener  Zeit  gemacht  hat,  meist  von 
Einflufs  gewesen;  so  namentlich  auf  die  des  Rev.  Alex.  Irvine  um 
1801;  dessen  40  Lieder  schon  den  Verfall  des  Textes  erkennen  lassen 
und  von  macphersonschen  Zutaten  nicht  frei  sind.  Noch  mehr  gilt 
dies  von  den  17  Liedern,  die  aus  dem  Nachlasse  Alex.  Campbells  in 
Portree  (auf  der  Insel  Skye)  von  AI.  Cameron  veröffentlicht  worden 
sind;  es  sind  sogar  lange  macphersonsche  Poeme  darunter.  Recht 
brauchbar  sind  die  Texte  von  12  Gedichten,  die  P.  Turner  gesammelt 
hat  (Reliquiae  celticae  2,  360  ff.).  Was  die  Gedichtsammlung  der 
beiden  Stewart  1804  Ossianisches  mitgeteilt  hat,  ist  ebenso  wie  „die 
ossianischen  Gedichte"  der  Brüder  Maccallum  1816,  die  von  Thom. 
Rofs  unterstützt  wurden,  durch  macphersonsches  Beiwerk  mit  Fleifs 
übel  entstellt.  Die  neuern  Balladentexte,  wie  die  von  J.  F.  Campbell 
aus  eignen  Sammlungen  mitgeteilten  und  die  allerneuesten  von 
John  Gregorson  Campbell  in  Tiree  (f  1891)  im  4.  Bande  der  Waifs 
and  Strays  of  Celtic  Tradition  1891  veröffentlichten,  beweisen, 
dafs  die  Tradition  der  ossianischen  Poesieen  in  Schottland  im  Ab- 
sterben begriffen  ist*). 

Es  ist  gar  nicht  zweifelhaft,  dafs  von  ossianischen  Balladen  vormals 
viel  mehr  in  Schottland  und  auf  den  Inseln  zu  finden  war.  Der 
geringen  Kunst,  die  sie  besafsen,  entkleidet,  sind  manche  in  die 
Volksmärchen  (ursgeul,  mittelirisch  airscel)  übergegangen,  deren  Zahl 
sehr  grofs  ist  und  denen  ein  längeres  Leben  beschieden  zu  sein 
scheint**). 

Man  kann  die  allgemeine  Bemerkung  nicht  unterdrücken,  dafs 
die  in  Schottland  gesammelten  Balladen  in  der  Form  meist  sehr 
mangelhaft  sind;  in  dieser  Beziehung  sind  ihnen  die  irischen  Texte 
weit  überlegen.  In  der  ziemlich  schwierigen  Orthographie  des 
Gälischen  sind  die  schottischen  Schreiber  fast  ohne  Ausnahme  wenig 
bewandert.  Daher  wimmeln  denn  die  Drucke,  die  ich  aufgezählt 
habe,  von  Druck-,  Schreib-,  Lese-  und  Hörfehlern  jeder  Art  und  die 
sprachliche  Reinigung  dieser  korrupten  Texte  ist  die  erste  Bedingung 


*)  Obwohl  das  wichtigfste  Material,  das  die  schottische  Überlieferung  zur 
ossianischen  Poesie  liefert,  nunmehr  tatsächlich  vorliegt,  so  sind  doch  einzelne  ^-amm- 
lungen  immer  noch  unediert  Ich  nenne  die  Namen  Malcolm  Macdonald,  Macdonald  von 
Brakisch,  General  Mackay,  Sir  John  Sinclair  und  Stewart  von  Craignish. 

**)  Bekannt  sind  die  Sammlungen  von  J.  F.  Campbell  1860 — 62,  Lord  Archibald 
Campbell  1889,  D.  Mac  Innes  1890  und  J.  Mac  Dougall  1891.  Viele  sonstige  gälische 
Märchen  sind  in  die  Zeitschriften  zerstreut. 


86  Ludwig  Chr.  Stern. 


ZU  ihrem  Verständnis.  In  dieser  philologischen  Arbeit  ist  Alexander 
Cameron  mit  der  sorgfaltigen  Edition  einiger  Balladen  rühmlich  vor- 
angegangen. Ihm  folgte  Hektor  Maclean  in  seinen  Ultonian  Hero- 
ballads,  Glasgow  1892,  mit  6  Balladen  des  älteren  Sagenkreises.  An 
einer  kritischen  Ausgabe  der  ossianischen  Balladen,  sollte  die  gälische 
Sprache  noch  einige  Menschenalter  dauern,  wäre  viel  gelegen.  Die 
zahllose  Menge  der  Varianten,  die  Verderbtheit  der  Texte  und  die 
Unsicherheit  der  Sprachformen  machen  die  Aufgabe  freilich  zu  einer 
schwierigen*). 


*)  In  dem  im  nächsten  Hefte  folgenden  Abschnitte  werde  ich  Proben  aus  einer 
Rezension  der  wichtigsten  ossianischen  Heldenlieder  albanogälischen  Dialekts  geben, 
die  ich  auf  Grund  der  gedruckten  Texte  hergestellt  habe. 

(Fortsetzung  folgt.) 

Berlin. 


-•••- 


NEUE  MITTEILUNGEN. 


.•••. 


Lessings  Anmerkungen   zu   den  Fabeln  des  Aesop. 


Von 
Richard  Förster. 


Als  Reiske  mit  seiner  Frau  im  August  des  Jahres  1771  bei  Lessing 
in  Wolfenbüttel  zum  Besuch  war,  kam  die  Rede  auch  auf  den 
Augsburger  Codex  unedierter  Fabeln  des  Aesop,  auf  welchen  Heusinger 
in  der  Vorrede  seiner  Ausgabe  der  Fabeln  die  Aufmerksamkeit  ge- 
lenkt hatte.  Da  Reiske  Beziehungen  zu  Augsburg  hatte,  seine  Frau 
aber  ein  Vergnügen  darin  fand  Lessing  einen  Gefallen  zu  erweisen, 
so  versprach  Reiske  sich  die  Handschrift  kommen  und  —  er  selbst 
war  damals  schon  recht  augenleidend  —  durch  seine  Frau  abschreiben 
zu  lassen.  Und  so  sah  sich  Lessing  nach  Beseitigung  einiger  Hemmnisse, 
über  welche  ein  Brief  Reiskes  an  ihn  aus  dem  Mai  1772  (Redlich, 
Briefe  an  Lessing  No.  326)  berichtet,  noch  in  demselben  Jahre  1772 
im  Besitz  der  Abschrift  und  stattete  den  Dank  für  die  Liebenswürdigkeit 
der  Frau  Reiske  mit  dem  bekannten  Komplimente  in  der  Abhandlung 
über  „Romulus  und  Rimicius"  (Zur  Geschichte  und  Litteratur.  Aus 
den  Schätzen  der  herzoglichen  Bibliothek  zu  Wolfenbüttel.  Erster 
Beitrag,  Braunschweig  1773)  ab:  „Endlich  bin  ich  so  glücklich  ge- 
wesen, eine  Abschrift  von  besagtem  Augsburgischen  Codex  zu  er- 
halten, aus  der  ich  sehe,  dafs  er  alle  meine  Erwartung  übertrifft. 
Diese  Abschrift  ist  von  der  Hand  der  Madame  Reiske,  die  sich  damit 
um  die  griechische  Literatur  unendlich  verdienter  wird  gemacht  haben 
als  eine  Madame  Dacier  mit  allen  französischen  Uebersetzungen,  wenn 
man  künftig  einmal  den  Aesop  einzig  so  lesen  wird,  wie  man  ihn  ohne 
ihr  Zuthun  vielleicht  noch  lange  nicht,  vielleicht  auch  wohl  nie  gelesen 
hätte**.  (Hempel  XI,  2,  939). 

Nun    sind   zwar   bisher  keine  Proben  der  Beschäftigung  Lessings 
mit   dieser    Fabelsammlung  der  Augsburger  Handschrift  zu  Tage  ge- 


88  Richard  Förster. 


treten,  aber  dafs  er  Aufzeichnungen  zu  ihr  hinterlassen  hatte,  wufste 
man  aus  der  Bemerkung  seines  Bruders  Karl  (Gotthold  Ephraim  Lessings 
Vermischte  Schriften.  Zweyter  Theil.  Berlin  1784  S.  226):  „Aufeer 
diesem  was  hier  vom  Aesop  vorkömmt,  hat  mein  Bruder  einen  Heft 
von  drey  Bogen  in  Oktav:  Erklärungen  über  den  Aesop,  nach- 
gelassen, die  mit  denen,  welche  er  dem  griechischen  Manuscripte  bey- 
gefugt,  dessen  er  in  seinem  ersten  Beytrage  zur  Geschichte  und  Litteratur 
aus  den  Schätzen  der  herzoglichen  Bibliothek  zu  Wolfenbüttel  No.  2 
S.  72.  gedenket,  schon  einen  ziemlichen  Commentar  ausmachen;  sie 
sind  aber  nur  in  deutscher  Sprache  geschrieben."  Und  das  von  dem- 
selben herausgegebene  „Leben  Lessings  nebst  seinem  noch  übrigen 
litterarischen  Nachlasse,  dritter  Theil,  Berlin  1795**,  enthielt  die  An- 
kündigung der  Herausgabe  der  Sammlung  der  Aesopfabeln  mit  Lessings 
Anmerkungen.  Denn  Fülleborn,  welchem  Karl  Lessing  die  Heraus- 
gabe dieses  Teiles  des  Nachlasses  übertragen  hatte,  schreibt  im  Vor- 
worte S.  XIX:  „Das  philologische  Publicum  hat  noch  einen  wichtigen 
Beytrag  zur  alten  Literatur  aus  Lessings  Nachlasse  zu  hoffen,  eine 
Handschrift  der  Aesopischen  Fabeln,  von  der  Madame  Reiske  abge- 
schrieben, und  von  Lessing  mit  einigen  Anmerkungen  begleitet,  welche 
ein  gelehrter  Philolog  überarbeiten  wird".  Aber  der  wesentliche  Teil 
dieses  Versprechens  ist  bis  heut  unerfüllt  geblieben.  Zwar  gab  Johann 
Gottlob  Schneider,  welcher  mit  Karl  Lessing  kurz  vor  dessen  Tode 
in  Breslau  bekannt  geworden  war  und  von  ihm  die  Abschrift  der 
Frau  Reiske  mit  den  Anmerkungen  Lessings  zum  Geschenk  erhalten 
hatte*),  den  griechischen  Text  heraus:  MTBOI  AllälUllOl.  Fabulae 
Aesopiae  e  codice  Augustano  nunc  primum  editae,  Vratislaviae  1812, 
aber  ohne  die  Anmerkungen.  Nur  selten  nahm  er  kurz  auf  ein  Urteil 
oder  eine  Textverbesserung  Lessings  Bezug.  Am  unbegreiflichsten  ist, 
dafs  auch  er,  obwohl  er  sowohl  Reiskes  als  seiner  Frau  Handschrift 
kannte,  Reiske  für  den  Schreiber  hielt  und  diesem  Textverbesserungen 
zuschrieb,  welche  seine  Frau  gemacht  hatte.  Seitdem  ist,  so  viel  ich 
weifs,  von  der  ganzen  Arbeit  keine  Rede  gewesen. 

Um  so  gröfser  war  meine  Freude,  als  es  mir  jüngst  glückte,  die 
Anmerkungen  mit  der  Abschrift  wiederzufinden  und  zwar  in  einer 
Handschrift  der  Breslauer  Universitätsbibliothek  —  IV  Qu.  104  b  ~, 
welche  auf  dem  Einbände  die  Aufschrift  trägt:  Schneideri  CoUectanea 
ad  Aesopi  fabulas. 

Es  ist  ein  aus  80  Blättern  bestehender  Quartband.  Sowohl  auf  der 
Innenseite  des  Deckels  als  auf  dem  ersten  Blatte  stehen  Eintragungen 
von  Karl  Lessings  Hand  über  Ausgaben  der  äsopischen  Fabeln  von 
lirnesti,  Leipzig  1781  an  bis  zum  Leipziger  Drucke  der  Ausgabe  del 
Furia's  von  18 10,  dazwischen  auch  die  Bemerkung: 


*)  Dadurch  erweist  sich  die  Angabe  des  Rezensenten  des  dritten  Teiles  von 
Lessings  Leben  in  der  Allgemeinen  Literatur-Zeitung  März  1796  N.  98  Sp.  780,  dafs 
Frau  Reiske  die  Abschrift  dem  Hofrat  Eschenburg  geschenkt  habe,  als  ebenso  irrig  wie 
die  Behauptung,  dafs  Reiske  selbst  die  Abschrift  gemacht  habe. 


Lessing^s  Anmerkungen  zu  den  Fabeln  des  Aesop.  89 


Siehe  des  D.  Reiske  Brief  vom  13  Febr.  1773  fast  zu 
Ende  an  meinen  Bruder. 

Auf  Blatt  2  steht  von  Lessings  Hand: 

Ein  älterer  u.  besserer 

Aesop 

als  der  gewöhnliche  des  Planudes 

aus 
einer  Augsburgischen  Handschrift 

gezogen*) 
von  Mad.  Reiske. 

Mit  Blatt  3  beginnt  die  Abschrift  der  Frau  Reiske,  deren  Über- 
schrift lautet:    Aesopi  fabulae  e  codice  Augustano  p.  80.  N.  3.*) 

fißi^oi  Tou  ahwTTou:  xaxä  <:o^eu)v.  Sie  schliefst  auf  fol.  78  v  mit  den 
Worten  od  dolax;  ^pij  igtv  fueaitat  (=  p.  1 15,  20  der  Ausgabe  Schneiders). 
Blatt  79  und  80  sind  leer. 

Lessing  selbst  ist  an  eine  Paginierung  der  Abschrift  gegangen, 
indem  er  mit  roter  Tinte  die  Blattzahlen  in  die  rechte  obere  Ecke 
setzte  (im  folgenden  Abdruck  durch  kleinere  unterstrichene  Schrift 
hervorgehoben),  kam  aber  nicht  über  Blatt  28  hinaus.  Die  An- 
merkungen hören  noch  eher,  bei  Fabel  138,  welche  auf  Blatt  25  ^  steht, 
auf.  Mit  roter  Tinte  (im  Druck  wie  vorstehend  angedeutet)  schrieb 
er  auch  im  Anfange  vor  einzelne  Fabeln  die  Zahlen,  welche  sie  in 
der  planudeischen  Sammlung  haben  und  mit  drei  Sternen  bezeichnete 
er  die  bisher  unbekannten  Fabeln.  Mit  roter  Tinte  machte  er  endlich 
auch  einige  Textverbesserungen  (im  Druck  durch  gesperrte  Schrift 
hervorgehoben)  am  Rande  der  Abschrift.  Aber  die  eigentlichen  An- 
merkungen schrieb  er  mit  schwarzer  Tinte  auf  besondre  Blätter, 
mit  denen  er   die  Abschrift  durchschiefsen  liefs. 

Diese  Anmerkungen  bezeichnen  regelmäfsig  die  Nummern,  unter 
denen  sich  die  betreffenden  Fabeln  in  den  Sammlungen  des  sogenannten 
Planudes  und  Nevelets  befinden,  und  erörtern  sodann  in  erster  Linie 
die  Vorzüge  ^),  seltner  die  Mängel,  welche  die  Fassungen  der  Fabeln 
in  der  Augsburger  Sammlung  vor  denen  der  andern  Sammlungen 
haben*),  oder  besprechen  das  Alter  und  die  Quellen,  sowie  die  Nach- 


')  Das  gezogen  ist  von  späterer  (wol  nicht  Karl  Lessings,  sondern  des  in  Aus- 
sicht genommenen  Editors)  Hand  in  genommen  geändert. 

^  p.  80  N.  3  ist  die  Augsburger  Signatur  des  Codex,  des  jetzigen  Monacensis 
gr.  564  (fol.  295  sq.),  welche  von  den  paginae  des  Index  manuscriptorum  Bibliothecae 
Aag^ustanae  von  Reiser  (Augsburg  1675)  hergenommen  ist. 

')  Hervorzuheben  ist  die  Bemerkung  zu  Fabel  19,  dafs  sich  der  Vorzug  der 
Augsburger  Sammlung  vor  der  „gemeinen**  in  „dergleichen  eigenthümlichen  und  Kern- 
Worten",  wie  TxAfta  äufeere. 

*)  Lessings  Urteil  Ober  den  Vorzug  der  Augsburger  Sammlung  vor  den  übrigen 
wird  allem  Anschein   nach  auch  in  Zukunft  in  Geltung  bleiben. 


90  Richard  Förster. 


ahmungen  der  Fabeln*),  die  Anordnung  der  Sammlungen*),  oder  wägen 
die  Lesarten  ab  und  geben,  teilweis  sehr  schöne,  Textv^erbesserungen. 
Bisweilen  (zu  Fabel  67,  74,  88)  nehmen  sie  auch  auf  die  Randbe- 
merkungen von  Frau  Reiske,  welche  eine  Auslassung  im  Texte  der 
Handschrift  konstatieren  oder  eine  Änderung  vorschlagen,  bestätigend 
oder  bestreitend  Rücksicht. 

Bei  weitem  der  gröfste  Teil  der  Anmerkungen  ist  offenbar  un- 
mittelbar nach  Empfang  der  Abschrift,  kurz  vorher  ehe  er  sein  Urteil 
über  den  Wert  der  Sammlung  in  den  »Beiträgen*  drucken  liefs,  also 
noch  im  Jahre  1772  niedergeschrieben.  So  erklärt  sich,  dafs  Lessing 
zu  Fabel  118  (vgl.  zu  Fabel  3)  zwar  auch  den  ßbq  Aladumi}  dtiert, 
aber  nur  in  der  sogenannten  planudeischen  Rezension,  nicht  in  der 
Fassung,  welche  er  im  Februar  des  Jahres  1773  durch  eine  Abschrift 
der  Frau  Reiske  kennen  lernte.  Doch  fehlt  es  nicht  an  nachträglichen 
Zusätzen,  welche  erst  fortgesetzte  Lektüre  oder  die  inzwischen  er- 
langte Kenntnis  der  Lesarten  einer  zweiten  Handschrift  brachte. 
Letztere  bezeichnet  er  durch  C.  W.,  und  sowohl  die  Reihenfolge  der 
Fabeln  als  auch  die  Lesarten,  welche  er  anmerkt,  lassen  keinen 
Zweifel,  dafs  dies  der  Codex  der  Wiener  Hof bibliothek  phil,  graec. 
CLXXVin  (fol.  311  sq.)  gewesen  ist'),  wenn  ich  auch  nicht  zu  sagen 
vermag,  ob  Lessing  diesen  Codex  im  Jahre  1775  selbst  in  Wien  einsah 
oder  durch  einen  Andern  Mitteilungen  über  ihn  empfing. 

Bisweilen  tritt  eine  inhaltliche  Berührung  zwischen  diesen  An- 
merkungen und  jenen  hervor,  welche  sich  in  dem  von  Lessing  ange- 
legten grofsen  ,Kollektaneum*  finden  und  aus  diesem  von  Eschenburg 
hervorgezogen  worden  sind.  Ich  halte  die  Zusammenstellung  der 
folgenden  für  lehrreich*): 

Es  lautet  die  Anmerkung 

in  unsrer  Handschrift  im  ,Kollektaneum* 

(£schenburg  I,  452;  Hempel  XI,  3,   1007). 

Fabel  9  =  Fabel  IV. 

Die  vierte  unter  den  Planudeischen.    Der  Im  Griechischen  wird   diese  Fabel   auf 

Umstand,  dafs  hier  der  Fuchs  in  den  Brunnen  zweierlei  Art  *)  erzählt.   Das  eine  MaP)  näm- 

fällt,    anstatt   dafs   er  mit  dem  Bock*)  zu-  lieh    springt    der  Fuchs    nicht  mit  in   den 

gleich    herabsteigt,    wie   in   dem  gemeinen  Brunnen  hinab,  sondern   kommt  nur  dazu, 

Texte,  ist  sehr  wichtig.    Denn  nur  dadurch  als    der    Bock    sich    vergebens    herauszu- 

wird    der    Fuchs    nicht   selbst    des   Tadels  kommen    bemüht.     Und    so    ist   die  Fabel 


')  In  dieser  Hinsicht  ist  besonders  die  Bemerkung  zu  Fabel  109  und  135,  dals  die 
Fabeln  Lokroans  aus  dem  Griechischen  übersetzt  seien,  bemerkenswert.  Über  „Pilpay* 
vgl.  die  Anmerkung  zu  Fabel  35. 

')  Hervorzuheben  ist  der  aus  einem  falschen  Epimythion  zu  Fabel  110  gezogene 
Schlufs,  dafs  Planudes  eine  Sammlung  wie  die  Augsburger  vor  sich  gehabt  habe. 

•)  Hierüber,  wie  über  manche  andere  mehr  für  die  Textkritik  der  Fabeln  wichtige 
Einzelheiten  handle  ich  ausführlicher  In  einem  Aufsatze  des  50.  Bandes  des  Rheinischen 
Museums  für  Philologie  S.  66  ff. 

*)  Übereinstimmung  ist  auch  zwischen  unserer  Anmerkung  zu  Fabel  27  und  der  in 
den  Breslauer  Papieren  „Über  den  Phaeder"  (Hempel  XI,  2,  1018  zu  Phaedr.  I,  7,  2). 

»)  Die  Handschrift  hat:  Fuchs. 

«)  [Ed.  Nevel.  4  und  284.] 

»)  [Nevel.  284.] 


Lessing^s  Anmerkungen  zu  den  Fabeln  des  Aesop. 


91 


wfirdig,  mit  dem  er  den  Bock  verlacht. 
Oder  konte  er  es  im  voraus  schon  ganz 
gewils  wilsen,  daüs  sich  der'  leichtgläubige 
Bock  so  wfirde  hintergehen  lassen. 


Zu  Fabel  90 

Die  91  ste  unter  den  Pianudeischen.  Ich 
bin  noch  nicht  recht  gewifs,  worauf  es  bey 
dieser  Fabel  eigentlich  ankörnt.  Etwa 
darauf,  dais  Merkur  dem  Tiresiasi)  beide- 
mal Erscheinungen  nante,  woraus  für  den 
gegenwärtigen  Fall  nichts  zu  schlieisen; 
und  das  zweytemal  gar  eine  Krähe  xopütyrj 
anzeigte,  von  welcher  ein  jeder  wuüste,  dafs 
sie  ditovurfii^  oöx  fyet,  wie  auch  in  der  98ten 
Pianudeischen  Fabel  ausdrücklich  gesagt 
wird?  Schlois  er  also  daraus,  dafs  der 
Man,  dessen  Augen  er  sich  itzt  bediente, 
ihn  nur  zum  besten  habe,  u,  wohl  selbst 
der  Dieb  seyn  möge. 

Zu  Fabel  108 

a)  Daför  stehet  in  dem  gemeinen  Texte 
ohne  allen  Verstand  dta  tou  5)[XotA,  Die  be- 
wuiste  Verbesserung  dieser  Stelle. 


einfacher  und  besser.  Der  Umstand  zwar, 
dads  der  Fuchs  über  die  Homer  des  Bocks 
herausspringt,  ist  sinnreich;  allein  er  macht 
den  Fuchs  einer  gleichen  Unvorsichtig- 
keit schuldig.  Denn  wulste  es  auch  der 
Fuchs  schon  ganz  gewifs,  dals  der  Bock 
so  dumm  sein  und  sich  dazu  bequemen 
würde? 

Fabel  XCI  (Eschenburg  I,   471;    Hempel 
a.  a.  O.  loxo). 

Ich  möchte  wohl  wissen,  wie  die  Aus- 
leger diese  Fabel  mit  der  98sten  und  99Sten 
verglichen,  wo  von  der  xopwvr^  ausdrück- 
lich gesagt  wird:  ouovujfiov  oux  e^SL  Wer 
diese  Schwierigkeit  nicht  aufzulösen  weiüs, 
versteht  die  ganze  Fabel  nicht. 

Sie  mufs  aber  so  aufgelöst  werden,  dafs 
Tiresias  den  Mercur  eben  daran  er- 
kannte, dafs  er  ihm  schon  zum  zweiten 
Mal  einen  unrechten  Vogel  nannte,  aus 
dem  nichts  zu  schlieisen  war. 


Fabel  CIV    (Eschenburg  I,   472;     Hempel 
a.  a.  O.  loii). 

Anstatt  dta  xou  d)[Xou,  muis  man  lesen : 
dta  TOU  d^^oü,  d.  i.  durch  die  Lippen. 
Und  nunmehr  erst  kömmt  in  die  ganze 
Fabel  ein  Verstand.  6  d^^o^  aber  heilst 
eigentlich:  littus,  ripa;  im  figürlichen  Ver- 
stände aber  bedeutetes  auch  die  Lippen, 
so  wie  auch  to  x^do^  labium  und  ripa  be- 
deutet '). 

Man  sieht,  dafs  unsre  Anmerkungen  später  sind  als  die  der  Kollek- 
taneen,  was  zu  dem  Ergebnis  der  Ermittlungen  über  die  Zeit  der 
letzteren  durchaus  stimmt').  Mit  der  „bewufeten  Verbesserung"  zu 
Fabel  108  hat  er  offenbar  die  der  KoUektaneen  Stä  zoo  o^&ou  im  Sinne*). 
Als  er  den  Eintrag  der  KoUektaneen  zu  Fabel  IV  machte,  kannte  er 
noch  nicht  die  Fassung  der  Augsburger  Sammlung,  sondern  nur  die 
dieser  ähnliche  bei  Nevelet  284.  Als  er  unsre  Anmerkung  zu  Fabel  90 
schrieb,  war  er  in  der  Lösung  der  Schwierigkeit  weniger  sicher'). 

Der  Hauptreiz  der  Anmerkungen  liegt  meiner  Ansicht  nach  darin, 
dafe  sie  uns  Lessing  unmittelbar  bei  der  Arbeit  zeigen  und  noch  nicht 
eine  für  die  Veröffentlichung  bestimmte  Form  erhalten  haben.  Sie 
sind,  wie  die  vielfach  flüchtige  Schrift  zeigt,  rasch  niedergeschrieben. 
Es  fehlt  daher  nicht  an  Versehen.  Ich  habe  diese  im  Text  ver- 
bessert,   die  Lesart   der  Handschrift  jedoch   angemerkt.     Im  übrigen 

*)  pie  Hdr.  hat:  Thiresias.] 

*)  [Vgl.  KoUektaneen  I,  332  f.] 

»)  Vgl.  Eschenburg  I  S.  XIV. 

4)  Auf  das  Richtige  ^  tou  dp^ou  ist  er  nicht  gekommen. 

')  Vgl.  meinen  Aufsatz  im  Rheinischen  Museum  Bd.  50  S.  75. 


92  Richard  Förster. 


habe  ich  möglichst  genauen  Anschlufs  an  die  Handschrift  erstrebt. 
Meine  eignen,  sich  nur  auf  das  Notwendigste  erstreckenden  Anmer- 
kungen habe  ich,  ebenso  wie  die  von  der  jetzigen  Bibliotheksver- 
waltung auf  den  Blättern  der  Anmerkungen  gesetzten  Seitenzahlen  in 
eckige  Klammern  gesetzt.  Den  Worten  des  griechischen  Textes,  auf 
welche  sich  Lessings  Anmerkungen  beziehen,  habe  ich  Seiten-  und 
Zeilenzahl  der  Ausgabe  Schneiders  beigefügt.  Das  von  Lessing  Unter- 
strichene ist  kursiv  gedruckt 


Breslau. 


Ein  älterer  und  besserer 

Aesop 

als  der  gewöhnliche  des  Planudes 

aus 
einer  Augsburgischen  Handschrift 

gezogen ") 
von  Mad.  Reiske. 

1*.    (i.)  C.  W.  n  [fol.  B.] 

]^  Aus  dieser  Fabel,  welche  ebenfalls  die  erste  unter  den  sogenanten 
Pianudeischen  ist,  hat  Phädrus  (I.  28)')  auf  alle  Weise  eine  schlechtere 
gemacht:  eine  schlechtere  in  Ansehung  der  Erdichtung;  eine  schlech- 
tere in  Ansehung  der  Lehre.  In  dem  Griechischen  ist  die  Erdichtung 
wunderbar  u.  wahrscheinlich.  In  der  Lateinischen  fallt  das  Wunder- 
bare ganz  weg:  es  wäre  denn,  dafs  man  den  Fuchs  bewundem  wollte, 
welcher  das  Herz  hat,  von  einem  Altar  einen  Brand  zu  stehlen;  denn 
ganz  etwas  anderes  ist  doch  noch  imer,  wenn  ein  Adler  ein  Stück 
Eingeweide  von  dem  rauchenden  Altare  höhlt,  als  woran  ihn  auch  wohl 
schwerlich  die  Opfernden,  des  Omens  wegen,  würden  verhindert  haben. 
Und  nun  die  Moral!  Dort  wird  Selbstrache  gelehrt  und  angepriesen; 
und  hier  sieht  man  die  Vorsicht  selbst,  auf  ihre  eigene  Weise,  den 
Uebelthäter*)  bestrafen.  + 

f  Es  soll  aber  diese  Fabel  nicht  von  dem  Aesopus,  sondern  älter 
als  Aesopus,  u.  eine  Erfindung  des  Archilochus  *)  seyn,  ob  sie  schon 
Aristophanes  lOpvtmv  v.  652)*)  ojq  h  Älawnou  kayotQ  anführet.  Dieses 
sagt  der  Scholiast  des  Aristophanes,  u.  Apostolius  in  der  Vorrede 
zu  seinen  Sprichwörtern'). 

*)  [Von  späterer  Hand  (vgl.  S.  89  A.  1)  verbessert  in  ggnommsn.'] 
')  [d.  h.    die  erste  unter    den    iälschlich  sogenannten  Pianudeischen  der  editio  Ac- 
cursiana.] 


8  ist  aus  9  korrigirt.] 

Hdr.:  übeiihäier\ 

^Bergk  Poet.  lyr.  graec.  ed  quart.  Archil.  fr.  86  und  89.] 

'5  ist  aus  3  korrigirt.] 


•) 

^)  [Paroemiogr.   graec.  t.  II.  p.  336  ed.  Leutsch.] 


Lessings  Anmerkung^en  zu  den  Fabeln  des  Aesop.  93 

W  [Zu  S.  I  Z.  II  iTTi  T^c  <ip^^Q]  Dafs  iTre  bey  dem  nehmlichen 
Verbo  einmal  den  Dativum  u.  einmal  den  Genitivum  in  der  nehmlichen 
Beziehung  regiret,  ist  verdächtig.  Hier  also  möchte  der  gewöhnliche 
Text  doch  wohl  der  bessere  sein,  welcher*)  dafür  iTft  zw  r^g  äfxovrjQ 
inopip  lieset. 

(b)  [Zu  S.  2  Z.  5  xav  zij]^  t(ov  ijdtxrjiiivwv  ixf>6a(oai  xAXaaa/  dt'  daäii^stav^ 
Der  gewöhnliche  Text  hat  x^u  rijv  ix  twv  ijdücfjpivwyf  ipoywm  rtfimpiav^  wo 
das  kx  von  ipuyoioi  sehr  unschicklich  getrent  ist. 

2.  [fol.  la] 
n*    Unter    den  Neveletschen    Fabeln    die    207 te    und   bey    dem 

Aphthonius  die  i9te.  La  Fontaine  (II  16)^)  und  Desbillons  (I  3)*) 
die  sie  neuerer  Zeit  nacherzählt,  sind  dem  trockenen  Aphthonius  mehr 
gefolgt,  als  dafs  sie  von  dem  naiven  Schlufse,  welchen  sie  hier  hat, 
hätten  Gebrauch  machen  wollen. 

[Zu  S.  2  Z.  9  d.Tz6  TtvoQ  liilrtjX^Q  Tcirpag]  (a)  Der  gewöhnliche  Text 
hat  ganz  unrecht  dafür  inh  Denn  xazaiträq  im  devolans  in,  flog  herab 
auf  widerspricht  sich  ja  wohl  zusammen.  Auch  zeigt  die  Nachahmung 
der  Dohle*),  dafs  unser  dni  das  richtige'*)  ist;  als  die*)  das  Herab- 
schiessen  fiExä  TtokXoü  ßoH^oo  für  alles  hielt,  was  zu  der  Sache  gehöre. 

[Zu  S.  2  Z.  12  ifJtJrapivTwv*  S'adT(py).  *Dieses  ifmapivrwv  läfst 
sich  verth  eidigen.  Sollte  es  aber  wohl  nicht  vielleicht  besser  ifuzla- 
xivTwv  3'  äoToo  heissen.  So  wie  es  in  der  i84ten  Fabel®)  beym  Ne- 
velet  in  einem  ähnlichen  Falle  gebraucht  wird? 

[Zu  S.  2  Z.  13  fiaXiotQ  am  Rande  der  Abschrift  fol.  1]  1.  /idXXotQ, 

[Zu  S.  2  Z.  21  ^Ji]  (b)  Besser  wohl  6q^),  wie  der  gewöhnliche 
Text  hat. 

[Zu  afuUa  ebenda  am  Rande  der  Abschrift  fol.  1]  i/ünXX^. 

[Zu  S.  2  Z.  22.]  (c)  Hingegen  ist  dieses  ifTt  aufifopatQ  izpoarzqxat 
yiXcinay  gewinnt  über  das  Unglück  noch  hinzu  besser  als  das  iv  zalq 
aofüfopcuQ  xTqizai  des  gemeinen  Textes. 

3.  (2.)  C.  W.  2. 

I11-*  Die  2te  unter  den  Flanudeischen.  Ein  Jupiter,  welcher  sich 
vergifst,  sollte  kaum  eine  des  Aesopus  würdige  Erfindung  zu  seyn 
scheinen,  wenn  wir  nicht  gewifs  wüfsten,  dafs  sie  schon  in  den  ältesten 
Zeiten  unter  seinem  Namen  bekant  gewesen;  indem  Aristophanes 
ausdrücklich    darauf  anspielt.     {ElpijVfj  v.  126)*®).     In    dem  Leben  des 


1)  [Hdr.:  welche] 

')  [Fables  mises  en  vers  par  J.  de  La  Fontaine,  livre  II  fab.  16:  Le  Corbeau  vou- 
lant  imiter  Paigle.] 

>)  [Franc.  Josepbi  Desbillons  soc.  Jesu  Fabulae  Aesopiae  Hb.  I  fab.  III:  Aquila, 
Corvus  et  Pastor.] 

*)  [Der  Dohle  steht  über  dem  durchstrichenen :  des  Ra6en\ 

»j  [Hdr.:  richtiger] 

•)  [Hdr.:  der] 

"")  [Diese  Anmerkung  ist  nachträglich  hinzugefügt.] 

B)  [S.  339  Z.  I    rwv  xepärüfv  aubtfj^  ifxTdaxivrwv  toi^  xXddot^,] 

*)  [Lessing  hat  den  Fehler  aus  der  Neveletiana  herübergenommen. J 


94  Richard  Förster. 


Aesopus  wird  gesagt,  dass  er  sie  den  Delphiern  erzählt  habe,  als  sie 
ihn  mit  Gewalt  aus  einem  kleinen  Tempel  des  Apollo  gerissen,  in 
welchen  er  seine  Zuflucht  genomen  hatte'). 

[Zu  S.  3  Z.  7  olxiniv.]  (a)  Oder  vielmehr  Jx^nyv,  wie  der  gemeine 
Text  hat.  OlxitTjv  köiite  recht  seyn,  wenn  der  Hase  zu  dem  Käfer  in 
irgend  eine  Höhle  seine  Zuflucht  genomen  hätte,  dafs  ihn  dieser  für 
seinen  Hausgenossen  ausgeben  köhen,  welches  aber  hier  nicht  gesagt 
wird,  wohl  aber  in  dem  gemeinen  Texte:  rcphq  xokrjv  Kav^dpou  xarifufty 
so  dafs  dort  gerade  obdrnvy  so  wie  hier  Ixinjy  besser  seyn  würde. 

[Zu  S.  3  Z.  20  iXa&ev  dnoppiiftoQi]  (b)  Hier  scheinet  td  dtä  rod  dezou 
und  vielleicht  ein  noch  Mehreres  zu  fehlen,  wie  Jupiter  dem  Adler 
nicht  anders  helffen  köiien,  als  dafs  er  die  Zeit  seines  Brütens  verlege, 
weil  der  Käfer  sich  nicht  versöhnen  ^)  lassen  wollen.  Denn  der  Sprung 
sogleich  auf  das  folgende  ist  zu  unverständlich. 

4.  (3.)  C.  w.  a 

1V-*  Die  3te  unter  den  Pianudeischen.  Sie  scheinet  aus  der  Fabel 
des  Hesiodus  (A/>.  v.  200)^  entstanden  zu  seyn,  deren  allzugemeine 
Moral  man  in  diese  bestirntere  umgeändert. 

5.  (4.)  C.  W. 

V'*  Die  294 te  unter  den  neuem*)  Neveletschen,  fast  mit  allen 
den  nehmlichen  Worten. 

[Zu  S.  4  Z.  16  üv  3vW  /iSvov  eo^e.]  (a)  Muss  Jjv  heissen. 
[Zu  S.  4  Z.  20  fJUJOjpuKQ  id(b)  {^Xeuz.l  ^  Wie  dieses  ^d  hier  her- 
ein gekomen,  verstehe  ich  nicht. 

6.  [fol.  2  a] 
VI.*     Die  i53te  unter    den  Neveletschen;    aber   hier  bey  weitem 

schöner  u.  besser  erzählt.  Der  Hirt  ist  dort  ein  gar  zu  grosser  Narr, 
dafs  er  seine  Ziegen  gänzlich  verhungern  läfst.  Auch  die  Lehre, 
die  hier  aus  der  Antwort  der  wüden  Ziegen  selbst  flieist,  ist  triflBtiger. 

7. 

VII.*  Unter  den  Neveletschen  die  i55Ste,  mit  denselben  Worten. 
Nur  dafs  der  Anfang  dort  sehr  verwirrt  also  lautet:  AUoopoQ  dxooaoQ 
iv  um  duXai^j  ojq  inauXae  Kpvetq  uotroum  u.  s.  w.  ^'EnoüXat  üpvetQ  hat 
keinen  Verstand.  Vermuthlich  ist  also  dolaia  das  Glossema  von 
enaüktg,  oder  dieses  von  jenem  gewesen,  und  es  hat  geheissen,  wie 
hier  ATXoopoQ  dxouaoQ  ojg  iv  rtui  doXaujf.  oder  h  rtvt  inauXet  SpvetQ  voaooat. 

Diese  Fabel   findet   sich  auch    unter  den  Arabischen  Fabeln  des 


*)  [Pabulae  var.  auct.  ed.  Ncvel.  Francofurti  1660  p.  78,  14  sq.  =  Fabulae  Ro- 
manenses  graece  conscriptae  ed.  Eberhard  I  p.  301,  12  —  303,  x6.  Vg^l.  Vita  Aesopi 
ed.  Westermann  p.  54,  30  —  p.  56,  6.] 

•)  [Hdr.:  versohnen\ 

•)   [Werke  und  Tage  201 — aia.] 

^)  [Nevelet  bat  die  Zahl  der  bisdahin  bekannten  Fabeln  verdoppelt.] 


Lessings  Anmerkung^en  zu  deo  Fabeln  des  Aesop.  % 


Locman  (Edit.  Leidae  1615  p.  42)*),  wo  aber  die  Katze,  oder  wie  es 
mit  Beybehaltung  des  Arabischen  Wortes  dort  heifst,  der  Furo*), 
welches  ein  Iltis  seyn  zu  sollen  scheinet,  sich  nicht  in  einen  Arzt, 
sondern  in  einen  Pfau  verkleidet,  induta  pelle  pavonis'). 

8.  _/_♦  [fol.  2  b] 
Vlll'*     Diese  Fabel   ist  unserer  Handschrift   ganz   eigen,  und   ich 

glaube  nicht,  dafs  man  sie  sonst  irgends  wird  gelesen  haben.  Frey- 
lich aber  gehört  sie  mehr  unter  die  Schnaken  und  Possen  des 
Aesopus,   als  dafs  sie  eine  eigentliche  moralische  Fabel  seyn  sollte. 

Doch  ^)  nun  finde  ich,  dafs  Hudson  diese  Fabel  aus  einem  Ms. 
GaU.  herausgegeben;  u.  ist  sie  bey  ihm  die  3i2te.  In*)  dem  Haupt- 
mahschen  Abdrucke  p.  248®).  Allein  der  Hudsonsche  Text  kan 
doch  wenigstens  aus  unserm  sehr  verbessert  werden.  Z.  E.  fiir 
röv    Sk    3ta    ßooXoiJLevov    lieset    Hudson    ganz    ohne    Verstand    twv    Sk 

Sogar  Aristoteles  hat  sie  schon  Meteorolog.  XI. '')  als  wirklich  vom 
Aesop  angeführt. 

9.  12.  C.  W.  4. 

IX-*  Die  vierte  unter  den  Pianudeischen.  Der  Umstand,  dafs 
hier  der  Fuchs  in  den  Bniiien  fallt,  anstatt  dafs  er  mit  dem  Bock^) 
zugleich  herabsteigt,  wie  in  dem  gemeinen  Texte,  ist  sehr  wichtig. 
Denn  nur  dadurch  wird  der  Fuchs  nicht  selbst  des  Tadels  würdig, 
mit  dem  er  den  Bock  verlacht.  Oder  kohte  er  es  im  voraus  schon 
ganz  gewifs  wifsen,  dafs  sich  der  leichtgläubige  Bock  so  würde  hinter- 
gehen lassen*). 

10.  (13.  C.  W.)  5.  [fol.  3a] 
X'*    IMe  5te  unter  den  Pianudeischen.     Erst  i^ezapa^f^rj,  hernach 

ifoß^ÖTj:  dieses  ist  befser  als  in  dem  gemeinen  Texte. 

11.  m 

XL*     Die  i30te  unter  den  Pianudeischen'®). 

[Zu  S.  8  Z.  4  adiT^Tix^g  i/z7recf)0Q(^~\  (^  Für   adXijTtxfjQ  i(xTtetpoQ   hat 


')  [Locmani  sapientis  fabulae  et  selecta  quaedam  Arabum  adagia  cum  interpretatione 
ladna  et  notis  Thomae  Erpenii,  Leidae  161 5.] 

')  [iUr  FUro  übergesetzt  über  ein  durchstrichenes :  die  Furones,  Letzterer 
Plural  steht  in  der  lateinischen  Uebersetzung  Locmans.] 

*)  [Brpeoius:  indutaque  pelle  pavonis  venerunt  (furones)  eas  (gallinas)  visitatum.] 

'*)  [Diese  Anmerkung  ist  nachträglich  hinzugefügt.] 

•)  [Hdr.  Ifk] 

*)  \_Mu^wy  AlatoTteuav  auvayaty:^.  Pabularum  Aesopicarum  collectio.  Exemplar 
Oxoniense  (Hudsonianum)  de  anno  1718  emendavit  lo.  Gottfr.  Hauptmann,   Lipsiae  1741.] 

"*)  [Lqssing  hat  das  Citat  der  Hauptmannschen  Ausgabe  entnommen.  Gemeint  ist 
Meteorol.  11.,  3  p.  356*»   u  sq.  ed.  Berol.] 

8)  [Hdr.:  J^ks] 

')  [Vgl.  Leasings  Kollektaneen  zur  Literatur,  herausg.  von  Eschenburg.  Bd.  I 
S.  453  und  oben  S.  90.] 

>•)  [Hdr.:  Planuedische»]^ 


96  Richard  Förster. 


der  gemeine  Text  höchst  abgeschmackt*),  und  zum  Nachtheil  der 
ganzen  Fabel,  äiis'jrcx^g  aTretpoQ,  Denn  das  war  dieser  Fischer  doch 
gar  nicht,  wie  man  aus  dem  Ende  sieht.  Sondern  er  war  nur  aufser 
seiner  Kunst  auch  ein  Liebhaber  der  Flöte.  AiOjp  äXtsög  o/jloü  xai  adlfiv 
i7rt(:dfLSvoQ  wie  es  Aphthonius*)  ausdrückt. 

12.  [fol.  3b] 
^[^    Die  i62te  unter  den  Neveletschen  bis    auf  einige    Kleinig- 
keiten mit  den  nehmlichen  Worten. 

13.  (7.)  C.  W.  13. 

XIll^  Die  ißte  der  Pianudeischen;  geht  auch  nur  in  Kleinig- 
keiten von  dem  gemeinen  Texte  ab. 

14.  A 

^1^-*     Auch  diese  Fabel  erscheinet  hier  zuerst. 

15.  [fol.  4  a] 
XV*     Die  i59te  unter  den  Neveletschen. 

[Zu  S.  10  Z.  6  dvaSsvdpädoi^^']  (a)  dvadevdpoQ,  vitis  arbustiva*).  Dieses 
Wort,  welches  der  gemeine  Text  nicht  hat,  bezeichnet  doch  gewifser- 
massen  einen  zur  Sache  noth wendigen  Umstand,  weil  an  ihren  blossen 
Stöcken  die  Trauben  nicht  so  hoch  zu  hängen  pflegen,  dass  sie  ein 
Fuchs  nicht  sollte  erspringen  köiien. 

16.  (5.)  C.  W.  6. 

XVt*  Die  6te  unter  den  Pianudeischen.  Sie  ist  vielleicht  das 
ältere  Vorbild  von  der  Fabel,  der  Wolf  und  das  Lam,  wenigstens 
auf  alle  weise  die  schönere  Fabel.  Denn  was  brauchte  der  Wolf  /Met' 
sdX/tyoü  ahlag  das  Lam  zu  fressen?  Weit  nöthiger  hat  das  die  Katze 
gegen  den  Hahn,  da  sie  beide  häufsliche  Thiere  sind,  und  zusamen 
in  Frieden  leben  mufsten. 

[Zu  S.  10  Z.  24  df^opfiäg]  äfop/iij  Ausflucht,  von  Sppn]' 

17.  (14.)  C.  W.  r 

XVII»*  Die  7te  unter  den  Pianudeischen;  meist  mit  den  nehmlichen 
Worten. 

18.  [fol.  4b] 
XVIIL*     Die    i24te    unter    den    Pianudeischen,    mit   geringer  Ver- 
schiedenheit; z.  E.  dafs  der  kleine  Fisch  dort  eine  IpapiQ  heifst,  welches 
Wort  beynahe   unser  Sckmerlt  seyn  könnte;  u.  hier  eine  MatvtQ  heilst. 

19.  (15.)  C.  W 

XIX^*)     Die  achte  unter  den  Pianudeischen*). 

[Zu  S.  12  Z.  7]  id)i/ia^  zh  xdrm  tou  TmdoQ.     Hesychius*).     An   der- 
^)  [Hdr.  abgesckmaki] 


Fabel  33  p.  347  ed.  Nevel.] 

'Aus  Scapula,  Lezicon  Graecolatinum  s.  v.  dMpou,'] 

Vgl.  Kollektaneen  I,  453  ff.] 

Hdr.:  Plaudeischen] 


•)  [Lex.  s.  V.] 


Lessings  Anmerkungen  zu  den  Fabeln  des  Aesop.  97 

gleichen  eigenthümlichen  u.  Kernworten  fehlt  es  dem  gemeinen  Texte 
last  iiner,  welcher  hier  schlechtweg  roug  iiSdaQ  hat 

20.  (ii.)  C.  W. 

XX.*  Die  9te  unter  den  Pianudeischen*).  In'^)  dieser  Fabel  kan 
ich  den  Punkt,  worauf  es  eigentlich  ankörnt  noch  nicht  finden.  In  dem 
gemeinen  Texte  heifst  der  Schlufs,  wq  ix  naXatwv  i-cwv  ei  yeyonvaatdvoq^), 

21.  (8.)  C.  W.  Lfol-5^] 
XXL*    Die  i7te  unter  den  Planudischen. 

22. 

XXIL**)  Die  i27te  unter  den  Planudischen,  wo  nicht  besser  doch 
gedrungner  hier  erzählt. 

23.     (6.)  C.  W. 

XXIII.*     EHe  zehnte  unter  den  Planudischen'). 

[Zu  S.  14  Z.  3  6tT«daW(9f>(a).]  (a)  Sollte  es  nicht  vielmehr  heissen 
nbdaatp  als  äxt^daaml  Denn  ein  wildes  konte  der  Man  doch  nicht 
sogleich  unter  den  Hähnen  gehn  lassen. 

rtbaaaib  hat  auch  wirklich  der  C.  W.*). 

24. 

XXIV.*    Die  i6ite  unter  den  Neveletschen.  [fol.  5  b] 

[Zu  S.  14  Z.  18  ?v  TW«  8poo(^  xo£>laj/£ait(a).]  (a)  In  dem  gemeinen 
Texte  heifst  es  km  xivoq  dpub^  xodwfiara^  offenbar  schlechter. 

[Zu  S.  15  Z.  4  &flüwer(b).]  Diese  Lehre,  welche  auch  der  gemeine 
Text  mit  den  nehmlichen  Worten  hat,  ist  offenbar  die  falsche;  nijcht 
die,  um  deren  willen  diese  Fabel  mit  diesen  Umständen  ersonen 
worden.  Der  sogenaiite '')  Gabrias  ®)  hat  dafür  eine  ganz  andere,  die 
mir  passender  zu  seyn  scheint;  nur  Schade,  dafs  ich  sie  nicht  so  recht 
verstehe,  nehmlich:  Tä  dUdpta  ndH^rj  C^/^/ag  ?öag  ^tpaTzeiovrar.  oder  wie 
das  noch  dunklere")  Lateinische  des  Nevelet  heifst  Perniciosae  ad- 
fectiones  aequas  poenas  demerentur. 

25.    (10.)  C.  W 

XXV.*  Die  86 te  unter  den  Pianudeischen,  fast  mit  den  nehmlichen 
Worten.  Diese  Fabel,  aber  mit  wunderbaren  orientalischen  Erweite- 
rungen, findet  sich  auch  beym  Pilpay  ^®). 


»)  [Hdr.:  Plaudeischen\ 

«)  IHdr.:  Im\ 

*)  [Vgl.  Kollektaneen  I,  455  ff.] 

*)  (Hdr.:  XX*] 

>)  [Hdr. :  Plaudischen,    Vgl.  Kollektaneen  I,  458  f.] 

^    Diese  Zeile  ist  nachträglich  hhizugefQgt] 

^)  [übergesetzt  Qber  ein  durchstrichenes :  y^j^A^] 

^  [In  der  Neveletschen  Ausgabe,  Francofurti  1660  p.  382.  Vgl.  Babrii  iab.  86 
reo.  Eberhard.] 

•)  [Hdr.:  dunkelet^ 

'*)  [Les  fables  de  Pilpay,  philosophe  Indien,  Paris  1702  p.  117  sq.:  Fable  De  TAnge 
Dominateur  de  la  mer,  et  de  deux  Oiseaux  appelez  Titavi.  Vgl.  „Zur  Geschichte  der 
Aesopischen  Fabel**  Hempel  XI,  2,  1023.] 

ZtMhr.  £  Tgl.  Litt^GeKb.    N.  F.  VIII.  7 


98  Richard  Förster. 


26.  (9.)  C.  W.  [fol.  6a] 
XXVI*    Die  87te  unter  den  Pianudeischen.     Diese  Fabel  ist  zwar 

gewifs  nicht  vom  Aesop ;  aber  doch  zuverlässig  aus  den  ältesten  Zeiten, 
in  welchen  zu  Athen  die  Redner  die  sich  zu  Demagogen  aufwarffen 
alles  vermochten.  Auf  sie  spielt  Aristophanes  entweder  an,  oder  sie 
ist  aus  seinen  Worten  genomenf 

f  Die  Worte  des  Aristophanes^)  führet  Hudson*)  an;  aber  ohne 
zu  sagen,  wo  sie  stehen: 

Onep  yap  ol  toq  iyj^ikstQ  {^rjp€t}fjLevot^  idTcovi^aQ^ 
Ozav  fisv  i]  Xlfivrj  xaraarg,  Xafißdvoümv  oiidip, 
Eäv  de  äv(o  rt  xai  xdno  zov  ßopßopov  xoxwaiv 
Atpooat  —  — 

[Zu  S.  15  S.  26  xdX^py^)  Xiäou  eruTüTe  rh  Zdwpi^J]  W  d.  i.  Nachdem 
er  den  Flufs  von  einer  Seite  zur  andern  mit  seinem  Netze  überspant 
hatte,  band  er  einen  Stein  an  einen  Strick  u.  schlug  damit  das  Wasser. 
So  klingt  es  hier  sehr  verständlich.  Anstatt  dafs  der  gemeine  Text 
dafür  lieset:  xai  tö  peupa  TtepdaßwVy  kxaripcDi^ev  xakwdtip  npoodijaoLZ  Xt^ov 
u.  Nevelet*)  übersetzt:  et  fluxu  comprehenso,  utrimque  funi  alligato 
lapide.  Das  kxavepwdev  gehört  zu  psüpuy  welches  er  von  einer  Seite 
zur  andern  überspahte,  u.  nicht  zu  xdi^, 

27.  (16.)  C.  W. 

XXVIL*  Die  iite  unter  den  Pianudeischen.  Fast  eben  dieselben 
Worte.  Nur  dafs  dort  anstatt  der  Werkstädte  eines  Bildners,  ^ldc:otj^ 
die  Wohnung  eines  Schauspielers  steht,  uTcoxpirdb^')]  u.  dafs  was  hier 
rpajiodmv  Tzpoömnov  heifst,  dort  xo^aXrj  poppoXoxtou  genannt  wird. 

Im'')  Griechischen  klingt  die  Antwort  des  Fuchses  weit  natürlicher, 
als  im  Lateinischen:  quanta  species,  cerebrum  non  habet  ^).  Denn  da 
iirx£f>aXov,  das  Gehirn,  eigentlich  weiter  nichts  heifst,  als  das,  was  in 
dem  Kopfe  ist:  so  sagt  er  auch  eigentlich  weiter  nichts  als:  Was  für 
ein  Kopf,  und  nichts  darin. 

28.  tt 

XXyilL*  Die  i8te  unter  den  Pianudeischen.  Wie  unendlich  besser 
ist  diese  Fabel  hier,  als  dort.  Man  kan  sicher  behaupten,  dafs  sie 
hier  allein  in  ihrer  wahren  Gestalt  erscheint.  Dort  sind  die  Götter  viel 
zu  grausam  gegen  den  armen  kranken  Man,  der  ihnen  in  der  Krank- 
heit mehr  verspricht  als  er  halten  kaä.  Sich  an  ihm  zu  rächen, 
ßouXS/jLevoi  adrhy  äuuuaaÖac^  schicken  sie  ihm  den  Traum.  Hier  aber 
wollen    sie    ihn    blos  mit   gleicher   Münze   bezahlen,   ßouXS/aepoi   duToy 

»)  [Ritter  864  flf.     Vgl.  Wolken  559.] 

*)  [In  den  Annotationes  quaedam  et  yariae  lectiones  seiner  unter  dem  Namen  Mariani 
Oxford  17x8  veröffentlichten  Ausgabe  £u  Fabel  87.] 
•)  [Hdr.:   TteTtovi^ai] 

*)  Dieses  Komma  tilgte  Lessing  mit  roter  Tinte  und  setzte  es  hinter  >l/i9ov.] 
»)  [p.  159  fab.  87.] 
«)  [Vgl.  Kollektaneen  I,  459.] 

^  [Vgl.  dazu:  Ueber  den  Phaeder,  Hempel  XI,  2,  10 18.] 
8)  [Phaedr.  fab.  I,  7,  2.] 


Lessings  Anmerkungen  zu  den  Fabeln  des  Aesop.  99 


duTißofJxoX^oai.  Dieses  Wort  hat  Scapula*)  wenigstens  nicht;  es  ist  aber 
von  ßoDxoXiio^  welches  soviel  als  demulceo,  delinio  heifst.  Dort  wird 
er  wirklich  unglücklich  u.  die  Seeräuber  verkauffen  ihn.  Hier  löset 
er  sich  von  den  Seeräubern,  und  findet  die  Tausende,  die  ihm  ge- 
träumt haben;  nur  dafs  es  Spa^fiai  waren. 

29. 

XXIX.*    Die  12  te  unter  den  Pianudeischen.  [fol.  6^] 

[Zu  S.  17  Z.  8  ipiraCSfievogW-l  (a)  Welcher  ein  Haus  suchte,  eines 
Hauses  bedurfte,  de  domo  laborans.  Dieses  ist  weit  schicklicher  als 
das  im  tiuoq  dtx&v  datag.  Und  eben,  weil  der  Kohlbrener  eines  Hauses 
bedurfte,  wollte  er  sich  bey  dem  Walker  einmiethen.  Er  wollte  nicht 
den  Walker,  sondern  der  Walker  sollte  ihn  aufnehmen.  Wenn  beides 
hier  auch  schon  auf  eines  hinauskomt,  so  ist  es  doch  wohl  der  Ein- 
träglichkeit der  einen  u.  der  andern  Handthierung  gemässer,  dafs  der 
Walker  ein  eignes  Haus  hat,  als  der  Kohlbrener. 

30.     18.  C.  W. 

XXX.*  Die  25ote  unter  den  Neveletschen;  fast  mit  eben  denselben 
Worten,  bis  auf  die  Lehre. 

[Zu  S.  17  Z.  24  trjuifsauapjxouovW.]  (a)  Nevelet  las:  mjvtvaoT7]x6TQ}v^\ 
und  Hudson  lies  dafür  drucken  auvvevaoa'pjxSnüv.  Welches  von  den 
dreyen  ist  das  rechte? 

31. 

XXXI.*    Die  i65te  unter  den  Neveletschen;  simpel  u.  schön  erzählt. 

[Zu  S.  18  Z.  8  dterihi  ex  noze  nphq  aMju  7rap£}iyeTo{^).]  (a)  Hier  ist 
alles  gut  und  verständlich.  Die  ältere  schämt  sich,  dafs  ihr  Liebhaber 
der  Jüngeren  gleicher  seyn  soll,  dtdou/iivrj  veanipip  adrTJQ  irXrjatdUittv^ 
nehmlich  zhv  ävdpa^  illum  propius  ad  juniorem  accedere,  und  darum 
suchte  sie  ihn  ihr  selbst  näher  zu  bringen,  dceriXet  et  ttote  TtpoQ  dmiju 
Trapefivero  nehmlich  dvijp,  und  rifs  ihm  deswegen  die  schwarzen  Haare 
aus.  Hieraus  aber  ist  in  dem  gemeinen  Texte  geworden:  xai  ij  pkv 
^oßeßjjxüta^  didoo/jivTj  vecozipav  nkrjota^ew  dietiXet,  xai  etnoTe  nphq  dozhy 
TcapeytvBTo  u.  s.  w.  Sie  schämte  sich  dafs  die  jüngere  beständig  bey 
ihm  war.  Darüber  hätte  sie  sich  nicht  schämen  sondern  ärgern 
müssen.  Sie  schämte  sich,  dafs  |  [fol.  7»]  er  jener  näher  kam,  ähnlicher 
war,  als  ihr.  Wenn  ich  ja  in  unserm  Texte  etwas  ändern  dürfte,  so 
wäre  es,  dafs  ich  anstatt  dtdnupivrj  veanipcp  adrTJq  TükrjaidCecv  lieber  lesen 
möchte  veairipcp  dordv  rckrjaidZecv. 

Z2. 

XXXII.*^)  Die  lößte  unter  den  Neveletschen,  bis  auf  einige  Kleinig- 
keiten völlig  einerley.     Vor*)  i/«c  steht  dort  dpdxmv. 

*)  [Scapula,  Lexicon  Graecolatinum  s.  v.  xdlov!] 

^  [Nur  aus  Versehen  statt  cüvytvüLuayTixdrwv,    wie  seine  Uebersetzung  ex  connau- 
fragis  unus  zeigt.]        ' 
•)  [Hdr.:  XCT*] 
*)  [Vor  statt  für,  wie  2u  Fabel  130.] 


100  Richard  Förster. 


33. 

^^^*'^*     Unter  den  Pianudeischen  die  i4te. 

[Zu  S.  19  Z.  2  ;r£vTÄ?y^c{a).]  (a)  Was  TrivzaßXoQ  hier  solle,  u.  wie 
ein  Ttivra^XoQ  zugleich  kn  dvav^pia  (ßuecdiC^^/ievoQ  sein  köne,  kan  ich  nicht 
begreiffen.  Auch  fehlt  in  dem  gemeinen  Texte  dieses  ganze  Ein- 
schiebsel, u.  es  heifst*)  blos  dvr^p  ng  äirodr^fjyjaaQ,  — 

[Zu  S.  19  Z.  13  i]  3C  ipyiov  Tcsipai^),]  (b)  d.  i.  Thaten,  von  welchen 
man  sogleich  auf  der  Stelle  eine  Probe,  Tcelpa^  ablegen  kan.  Tcecpa 
ist  so  viel  als  dTrodei^eQ.  Daher  glaube  ich  auch,  dafs  in  dem  gemeinen 
Texte,  wo  dafür  stehet  iäv  fjoj  7rp6^etpoQ  ^  to5  TtpdjumroQ  anödet^  die 
Negation  pij  besser  wegbleiben  kan. 

34.     19.  C.  W. 

XXXIV*    Die  i5te  unter  den  Pianudeischen. 

36.  [fol.7b] 

XXXV.*  Die  i26te  unter  den  Pianudeischen,  um  wenig  oder  nichts 
verschieden. 

36.     20.  C.  W. 

XXXVL*     Die  i6te  unter  den  Pianudeischen. 

[Zu  S.  20  Z.  24  ejret  fiBzä  j^eipaQj  Jj  äm^oov  Jj  (i(f>ü]^ov(^J\  (a)  ^  wpoj^ov 
ist  offenbar  das  Glossema  von  ärrpouv  und  muls  ganz  weg. 
C.  W.  hat  auch  blos  ä^u^ov^). 

37. 

XXXVIL*     Die  i64te  unter  den  Neveletschen. 

[Zu  S.  21  Z.  8  TnjpoQiß,),^  (a)  Dieses  Wort,  welches  der  gemeine 
Text  nicht  hat,  ist  viel  werth  u.  in  ihm  allein  beruhet  die  ganze 
Kraft  der  Fabel.  Nevelet  fand  dafür  in  s.  Manuscripte  dvijp  iipoaiHi-  \ 
ai^eiQ  [foL  8a],  em  Man  gewohnt  war.  Mehr  aber,  weil  die  Wort- 
fügung dieses  Wort  nicht  dulden  wollte,  als  weil  er  empfunden 
hätte,  dafs  sonst  noch  etwas  der  Fabel  abginge:  wollte  er  dafür  ge- 
lesen wissen:  dw^p  itpitj^s,  «c  oder  dv^p  nozi  nc').  Und  so  würden 
nun  freylich  die  Worte  ziemlich  zusainenhängen:  aber  was  wäre  es 
denn  auch  besondres,  dafs  der  Man  das  konte.  Was  er  nicht  fühlen 
kohte,  das*)  sagten  ihm  ja  die  Augen.  Also  hatte  ich  schon,  ehe  ich 
noch  von  der  Lesart  unsers  Manuscripts  wufste,  geschlossen,  dafs 
der  Man  ein  Blinder  müfse  gewesen  seyn,  wenn*)  die  Sache  etwas 
besondres  seyn  sollen,  und  sonach  geschlossen,  dafs  man  für  dvi^p 
TTpogef^cffdetQ  lesen  müsse  dvijp  nwpÖQ  rtg.    Dafs  aber  unser  Ms.  für  Toopög, 

SpÖQ  lieset,   kömt  auf  eines  hinaus,   denn  eigentlich  heifst  zwar  nrjpbQ 
ofs    verstümelt    überhaupt     mutüus,    captus   parte    aliqua   corporis 


Hdr.:  kei/s] 

Diese  Zeile  ist  nachträglich  hinzugefügt.] 

Kotae  in  fabulas  Aesopi  in  der  Ausgabe  Francofurti  1660  p.  635.] 

Hdr:  da/s] 

Hdr.:  wen\ 


Lessings  Anmerkungen  zu  den  Fabeln  des  Aesop.  101 

h  xazd  Tt  fiipoQ  zoo  atcüfiarog  ßeßXofjifiivoQ^),  Doch  heifst  es  auch  insbesondre 
oculis  captus.  Wie  denn  auch  Hesychius  TnjpSv  durch  t(>v  navTanam 
(xTj  bptmna  erklärt. 

[Zu  S.  21  Z.  12  wvög(b).]  (b)  Ob  man  aber  für  dieses  xövoc  nicht 
lieber  lesen  mufste  Xuxou^\  Denn  ein  junger  Wolf  war  es  doch.  Und 
wenn  der  Blinde  geglaubt  hätte  dafs  es  auch  ein  Hund  sein  könte,  so 
hätte  er  ja  so  schlechtweg  nicht  sagen  köhen,  dafs  es  doch  gewifs 
ein  Thier  wäre,  welches  man  nicht  sicher  unter  die  Schafe  bringen 
köne. 

38.  ♦_» 

XXXVIIL*  Auch  dieses  ist  eine  unbekante  und  noch  nirgends  ge- 
druckte FabeL 

39. 

XXXIX.*     Die  290  te  unter  den  Neveletschen,  aber  anders  erzählt. 

40.  (21)  C.  W.  [fol.  8  b] 
XL.*     Die  löpte  unter  den  Neveletschen,  fast  mit  den  nehmlichen 

Worten. 

41.  (17.)  C.  W. 

XLL*     Die  i6ote  beym  Nevelet. 

[Zu  S.  23  Z.  9  Iva  kaßofiivrj  (»).]  (a)  Dieses  iva  kaßofiivrj^  hat  der 
gemeine  Text,  zum  Nachtheil  des  Verstandes,  in  dvaXaßofdvrj  zusamen- 
gezogen. 

[Zu  S.  23  Z.  II  itpbQ  ncuZo)  am  Rande  fol.  ?]    1.    npoanaHiw   una 

voce. 

42. 

XLIL*  Die  22  te  unter  den  Pianudeischen,  und  dort  fast  besser 
erzählt,  als  hier. 

43.  22.  C.  W. 

XLIU.*  Diese  nehmliche  Fabel  körnt  zweymal  unter  den  Planu- 
deischen  vor:  Nummer  19  und  147.  Am  meisten  aber  stimt  unser 
Text  mit  der  letzten  Erzälilung  überein. 

44.  23.  C.  W.  [fol.  9  a] 
XLIV*    Die  170  unter  den  Neveletschen;  fast  mit  den  nehmlichen 

Worten. 

[Zu  S.  24  Z.  15  edij^etmi]  itr^ßeta  Einfalt. 

45. 

XLV.^  Die  I7ite  unter  den  Neveletschen,  wo  mehr  als  eines  aus 
unserm^  Texte  verbefsert  werden  kan.      Denn   wenn   es   dort  ä$oveg 


•)  [Die  griechischen  Worte  stehen  über  den  lateinischen.  Vgl.  Schol.  2,  II.  ß^  599 
und  Scapula,  Lexicon  Graecolatinum  s.  v.] 

*)  [Halm  fab.  Aesopi  57  hat  Lessings  Verbesserung  mit  Recht  in  den  Text  auf- 
genommen.j 

')  Hdr.:  UMSe»\ 


102  Richard  Förster. 


rpiCouTeg  im  Nominative,  anstatt  der  zwey  Genitivorum  heifst,  so  weifs 
man  nicht,  wer  den  andern  anredet,  ob  die  Achsen  die  Ochsen  oder 
die  Ochsen  die  Achsen.  Und  wenn  dort  der  Pluralis  d$oveQ  steht,  so 
kan  das  folgende  au  nicht  Statt  haben  —  doch  ich  sehe  nun,  dafs 
auch  Nevelet  *)  beide  Fehler  schon  eingesehen,  u.  so  verbessert  hat,  wie 
unser  Ms.  es  bestätiget. 

46. 

XLVI.*  Diese  Fabel,  welche  schon')  Plutarchf  nach  seiner  Weise 
erzählt,  hat  Hudson  aus  zwey  Manuscripten  in  Frankreich  nach  ver- 
schiedenen Lesarten  edirt.  S.  Hauptmans  Ausgabe  S.  243.  Unser 
Text  gehet  den  Worten  nach  von  beyden  Hudsonschen  ab  u.  ist 
des  Schlusses  wegen,  wie  die  Soiie  allmälich  ihre  Kräfte  äussert,  bis 
sich  der  Wanderer  auszieht  u.  badet,  schöner. 

f  In  seinen  Ehestandslehren'),  (/«//««  Tcapajye^fxaTa^)^  wo  er  sag^ 
dafs  eben  so  von  den  Weibern  nichts  mit  Sturm,  wohl  aber  alles  mit 
Gelindigkeit  und  Güte  zu  erhalten  stehe. 

47.  [fol.  9  a] 
^^Z?-.*     DiG  266  te  unter  den  Neveletschen. 

[Zu  S.  26  Z.  14  dniyi^TjTai  (a).]  (a)  Oder  doch  wohl  mit  dem  g-e- 
meinen  Texte  besser  a^^ezat^  weil  es  besser  auf  die  Fabel  passt. 
Hingegen  scheint  mir  unser  dno-avetv  difj  dem  änatT7j(^7j  dort  vorzuziehn. 

48.  24.  C.  W. 

XLVIIL*  Die  77 te  unter  den  Pianudeischen.  Dort  heifst  der 
Vogel  BoözahQ.  Da  aber  Heusinger '^)  in  seinem  Indice  sagt:  vox 
suspecta,  nee  alibi  lecta:  so  dürfte  es  wohl  schwer  auszumachen  seyn, 
ob  ßoozahQ  oder  ßwzaXtq  richtiger  ist.  Es  scheint  eine  Wachtel  bedeuten 
zu  sollen,  und  nicht  eine  Amsel,  merula,  wie  es  Camerarius  über- 
setzt hat. 

C.  W.  lieset:  BozdXyjv  dm  reuoq  i^upidoQ  xpefxofiivyjv  eJdeu  vuxrpcg^). 

49. 

XLIX*     Die  i3ite  unter  den  Pianudeischen. 

50.  [fol.  10a] 

L.*  Die  i72te  unter  den  Neveletschen,  fast  durchaus  mit  den 
nehmlichen  Worten. 

Zu  S.  28  Z.  8  xard  Trdura  xdv  rijv  ipuatv  dlXd^oxn.^  rbu  ynov  zp67Co\f  od 

fieraUdaffourn  (a).]     (a)    Dieses  kehrt    der  gemeine  Text    um,    u.  sagt: 

xav  zbv  rpoTTov  dlXd^ioatVy  rijxf  <p6<Tiv  od  peraßakkoomv.  Ich  weis  noch 
nicht,  welches  besser  ist. 


') 


"Notae  in  fabulas  Aesopi  p.  633.] 


')  [Hdr.:  son] 


Hdr.:  Estehandslekren\ 

[Coniug.  Praecept.   12  p.  139  D  =  Fab.  Aes.  fab.  82  b  ed.  Halm.] 
*)  [Fabulae    Aesopicae    gfraecae    quae  Maxiino  Planudi    tribuuntur    ed.    Heusinger, 
Isenaci  et  Lipsiae  1741,  wiederholt  1756,  im  Index  s.  v.  BooTaXtx:?^ 
*)  [Diese  Zeile  ist  nachträglich  hinzugefügt.] 


Lessings  Aomerkungen  zu  den  Fabeln  des  Aesop.  103 

51. 

LI*    Die  i42te  unter  den  Pianudeischen. 

[Zu  S.  28  Z.  15  noLpaxoipavTOQ  (a).]  (^  Vielleicht  besser  TzpoKiiipavToc^y 
indem,  sie  heraus  guckte.  Doch^)  in  der  28ten  Pianudeischen  Fabel 
(in  dieser  Sammlung  der  Boten)  wird  TtapaxuilfaQ  von  einer  Maus,  die 
aus  ihrem  Loche  guckt,  vollkomen  eben  so  gebraucht. 

52. 

m.*    Die  24te')  unter  den  Pianudeischen. 

53.  [fol.  10b] 
mi-*     Unter  den  Neveletschen  die  i74te. 

[Zu  S.  29  Z.  36  e&xaTaYd}vi<:oQ  (a).J  (a)  Dieses  Wort,  leicht  zu  über- 
winden, ist  weit  besser,  als  das  ioxata<pp6viro(;  leicht  zu  verachten, 
welches  der  gemeine  Text  dafür  hat.  Unser  rdatjz  ist  auch  wenigstens 
eben  so  gut,  als  das  dortige  Aac«<nc»  denn  auch  das  simplex  wird  für 
factio  gebraucht. 

54.  _ 

LIV*  Die  78 te  unter  den  Pianudeischen,  vollkomen  mit  den 
nehmlichen  Worten;  aufser  dafs  Nevelet  für  ö5;rrc£')  drucken  lassen 
(üTvza  und  Heusinger  ^ttt«. 

55.  28.  C.  W. 

I^^*    Die  79 te  der  Pianudeischen. 

[Zu  S.  30  Z.  9  npo(^  dXexTpüoywviaQ.']  (a)  Dieses  npo^  welches  vor 
dem  Hahnengeschrey  heissen  würde,  kah  nicht  recht  seyn.  Denn  als- 
dah  hätte  ja  der  Hahn  nicht  Schuld  gehabt.  Besser  also  mit  dem 
gemeinen  Texte  gelesen,  npög:  welcher  auch  für  dhxrpuoycjvtaQ,  dXe- 
xTpoovonf  f^dg,  so  wie  unten  für  dXexrpüovcDv  ^cjvijUy  dX,  &pav  hat. 

56.  29.  C.  W. 

LVL*     Die  80  te  Fabel  unter  den  Pianudeischen.  [fol.  11»] 

[Zu  S.  30  Z.  23  xatvoTopiitsavxt(^^  im\  f  xaivoTopijaauTeQ  würde  auf 
die  Ankläger  der  Hexe  gehen.  Es  muls  aber  oflfenbar  auf  die  Hexe 
selbst  gehen  u.  also  heissen  xatvoTopTjaau*).  Und  zwar  mufs  das  Koma 
darnach  wegfallen;  denn  das  xaivowjjrjaav  gehöret  zu  im  rä  de?a,  und 
sie  wird  als  res  divinas  inovantem  angeklagt,  welches  bey  den  Alten 
ein  grofses  Verbrechen  war 

[Zu  S.  31  Z.  3  ToüT{p  T(p  XSytp —  5  d7reXi'jc^£Tat^.'\  (a)  Dieses  intfiö- 
btov  ist  schlechter,  als  das  in  dem  gemeinen  Texte.  Denn  das  heifst 
den  Fall  der  Fabel  auf  den  Fall  der  Fabel  anwenden.  Dort  hingegen 
wird  richtiger  in  dem  einzelnen  Falle  einer  viel  versprechenden  Hexe 


*)  [Die  Worte  doch  —  gebraucht  sind  nachträglich  hinzugefügt.] 
^    Vielmehr  die  aste.] 
^    So  hat  die  Abschrift  der  Frau  Reiske.] 

^)  [Verschrieben  hier  und  in  der  folgenden  Zeile  für  xao^rofATjüaaav^  was  Schneider 
in  den  Text  gesetzt  hat.] 


104  Richard  Förster. 


die  Eitelkeit  aller  derer  gezeigt,  die  grosse  Dinge  versprechen  u.  kleine 
nicht  leisten  könen 

iTTwSij.  incantamentum 

ßcoTTopiCo}  victum  paro.  Scapula')  fuhrt  blos  ßtonopc^ixog  aus  dem 
Eusebius^  an 

nXduoQ  fraudulentus. 

57. 

LVIL*  Die  2ite  unter  den  Pianudeischen.  Es  körnt  aber  unser 
Text  weniger  mit  diesem,  als  mit  einem  andern  Texte  überein,  den 
Hudson  zugleich  aus  einem  Oxfordschen  Manuscript  hat  abdrucken 
lassen'). 

58. 

LVIIL*     Die  24te  unter  den  Pianudeischen. 

[Zu  S.  32  Z.  3  nkeiimiW]  (a)  Dieses  kah  nicht  recht  seyn,  [fol.  IIb] 
da  kmäofiio)  den  Genitivum  erfordert.  Es  mufs  also  wohl  geheissen 
haben  3ti  ol  vwv  ävbp(07:w\fy  8tä  TreptTzorepav  nXetSvcov  imf^upouvreQ.  Oder 
vielmehr  —  denn  was  ist  nXeove^ia  TreptTrArepa?  Kan  TrepiTrozepa  nicht 
das  Glossema  von  TtAeiova  seyn,  oder  dieses  von  jenem?  —  diä  ttäeou- 
B^iav  TtepiTTOTspwv  enSopoüvzeQ, 

59.  25.  C.  W.  / 
LIX.*     Die  Site  unter  den  Pianudeischen. 

60.  26.  C.  W» 

LX.*  Diese  nehmliche  Fabel  körnt  zweymal  unter  den  Planudei- 
schen  vor,  Nummer  20.  und  146  mit  welcher  letztern  unser  Text  fast 
wörtlich  übereinkömt. 

[Zu  S.  32  Z.  16  TTJQ  0800 Wi\  (a)  r^Q  odou  läfst  der  gemeine 
Text  nach  xotto)^  weg.  Es  ist  aber  so  besser.  Denn  er  warf  nicht 
sowohl  die  Last  wegen  der  Last,  als  wegen  der  Beschwerlichkeit  des 
Weges  ab. 

[Zu  S.  32  Z.  20  (b).]  (b)  Dieses  itavecv  Sk  00  i^eXco  ist  höchst  über- 
flüssig; und  der  gemeine  Text  ist  darin  viel  besser,  dafs  er  es  nicht  hat. 

61.  27.  C.  W. 

LXl.»     Die  82  te  unter  den  Pianudeischen. 

[Zu  S.  33  Z.  I  äu  ^äp  6  xatpdg  fiszaXkd^  zijv  fumv,  xal  eIq  äXkaQ 
Xpotaq  poj^f^rjpaQ  i$avaXa}{^7],  od  r^v  y^)^  dkXä  zijv  zo^Tjy  pip^  (*)]  (a)  Hier 
scheint  mir  der  gemeine  Text  besser  zu  seyn.  Denn  die  Natur  der 
Zeit,  und  die  Farben  der  Zeit,  ist  ein  wenig  Unsin. 

e^vaXiopai.  penitus  resolvor,  evanesco*), 

62. 

LXII.*     Die  i73te  unter  den  Neveletschen. 

^)  [Lexicon  Graecolatinum  s.  v.  7it$/>o?.] 


Euseb.  praep.  ev.  I,  5,  7.] 
Pag.  17  fab.  21.] 


*)  [Aus  Scapula,  Lexicon  Graecolatinum  s.  t.  Xuw.'] 


Lessings  Anmerkungen  zu  den  Fabeln  des  Aesop.  105 

63. 

LXIII.*«)     Die  i8ite  unter  den  Neveletschen.  [fol.  12»] 

[Zu  S.  33  Z.  21  /i^(a)]  (a)  Dieses  /iij  ist  sehr  wichtig.  Sie  hörten 
nicht  zu,  und  eben  darum  straft  sie  Demades  mit  dieser  Fabel.  Es 
ist^  unbegreiflich,  wie  der  gemeine  Text  dieses  //^  gar  nicht  haben, 
auch  kein  Ausleger  darauf  verfallen  könen,  dafs  es  hier  schlechter- 
dings nothwendig  sey. 

64. 

LXIV.*     Die  25te  unter  den  Pianudeischen. 

[Zu  S.  34  Z.  14  y;r^(a)  tiov]  (a)  TrdvTwv^  welches  der  gemeine  Text 
hat,  ist  hier  nothwendig  einzurücken. 

[Zu  S.  34  Z.  16  de?,eaCo/ii]^{^]  (b)  Dieses  SeXeaCofiiuTj  illecta  {dehap^ 
esca)  gefallt  mir  hier  nicht  recht. 

65. 

LXV*  Die  253 te  unter  den  Neveletschen ;  fast  durchaus  dieselben 
Worte. 

66.  (30.)  C.  W. 

LXVI.*     Die  26  te  unter  den  Pianudeischen.  [fol.  12  b] 

[Zu  S.  35  Z.  12  xai  dij  rou  npioTouip)  TrepKTTratröiuzoQ]  (a)  Dieses  mufs 
auf  den  Koch  oder  Fleischer  gehen,  bey  welchem  die  Jünglinge  um 
Fleisch  handelten;  dessen  Erwähnung  in  dem  Vorhergehenden  also 
fehlt.     Oder  soll  für  TrpwTou  blos  (layeipoo  stehen? 

C.  W.')  lieset  auch  wirklich  fiayetpoo 

neptoTtdü)  h.  1.  avoco 

67.  (31.)  C.  W. 

I^VIL*     Die  83  te  unter  den  Pianudeischen. 

sie  sie 

[Zu  S.  36  Z.  2  dtwxopevog,  eXeye.  xäxetvoQ  S  fxij  eopwvy  e<p7j.  äX}^ 
dmXioAaQ  elneu  (a)  wozu  Frau  Reiske  am  Rande  (fol.  13)  bemerkt  hat: 
„hier  mufs  entweder  etwas  falsch  geschrieben  seyn,  oder  etwas  fehlen. 
Doch  ist  im  Mst.  keine  Lücke.**]  (a)  Hier  ist  der  Text  allerdings  ver- 
stümelt,  und  nach  iie'jre  fehlt  dnoXwkafieVj  das  übrige  aber  deucht  mich 
ist  am  besten  so  zu  heilen,  wenn  l<p7j  ausgestrichen,  u.  gelesen  wird 
xdxeivoQ  6  fjLTj   e'jpcovj  dXX  dirohoXaQy  elnev.    alter  vero,  imo  periisti,   dixit. 

68.  (32.)  C.  W. 

L5VIIL*     Die  27te  unter  den  Pianudeischen. 

[Zu  S.  36  Z.  15  xazadoerat  ro  axdipoQ  npiorov  xiv8uvvjov'^  —    [fol.  13a] 

Oder  nicht  vielmehr  xaradiea&at^i  und  xfv^wveye«?*) 

[Zu  S.  36  Z.  17  odxixi  *]  ^  Dieses  tu  ist  besser,  als  It«  in  dem 
gemeinen  Texte. 


Hdr.:  LX*] 

ist  fehlt  in  der  Hdr.] 

'Diese  Zeile  Ist  nachträglich  hinzugefügt.] 

Das  et  ist  aus  7^  verbessert  oder  umgekehrt.] 


106  Richard  Förster. 


69.     (33)  C  W. 

LXIX.»    Die  84  te  unter  den  Pianudeischen. 

70. 

LXX*  Die  i43te  der  Pianudeischen.  Die  Eiche  ist  dort  ein 
Oelbaum. 

[Zu  S.  37  Z.  II  «ö^iocW]  (*)  Das  kari')  nicht  seyn;  die  Eiche  u.  das 
Rohr  könen  nicht  irtpi  Iö^6oq  gestritten  haben,  d.  i.  wer  von  ihnen 
beyden  der  stärkere  sey.  Sondern  sie  müssen  Trept  Iffj^ooq  xat  ^ou^iag^ 
welches  letztere  Wort  der  gemeine  Text  sehr  wohl  beyfugt,  gestritten 
haben.  '//mjj[ta  nehmUch  hier  für  Sanftmuth  und  Nachgeben  genomen. 
Ob  nehmlich  das  eine,  oder  das  andere  besser  sey. 

71. 

5^??:* ')  Die  22ote  unter  den  Neveletschen.  Dafs  unser  Text  einige 
Tautologien  mehr  hat,  die  Unentschlossenheit  des  Finders  auszudrücken^ 
als  der  gemeine  Text,  will  ich  ihm  eben  für  keine  Schönheit  anrechnen 
lassen.  Übrigens  •)  bestätiget  er  einige  der  Verbesserungen  des  Nevdet 
vollkomen. 

[Zu  S.  38  Z.  7  fO];(d)/7]u;  dfitfi-^Tougi^)  ohizag  deupo  xn/juaov  [fol.  13b] 
Xaßeiv]  (a)  Warum  hier  die  ohizai^  äptfi-qroi  inimitabües  heissen  sollen, 
ist  schwer  abzusehn.  Ohnzweifel*  ist  also  die  Lesart  des  gemeinen 
Textes  äTteyu  touq  ohiraq,  ich  will  gehen  und;  u.  das  übrige  lese  ich 
dann  ohirag  deupo  xo/jlI<jwi^^)^  meine  Hausgenossen  herbeyholen,  Xaßetv 
dipeiXovTaq  zfj  nokoitki/j^el  doppa^^iav,  welche  mir  durch  ihre  Menge  beystehn 
sollen;  wenn  man  anders  aoppa^^iav  Xapßavttv  sagt. 

72.     29.  C.  W. 

LXXIL^     Die  i8ote  unter  den  Neveletschen. 

[Zu  S.  38  Z.  15  xwßioQ  (a)]  (a)  Der  Fisch,  welcher  hier  xiüßibQ 
heifst,  heifst  in  dem  gemeinen  Texte,  beym  Nevelet  xdpoq  u.  beim 
Hudson  axdpoQ, 

[Zu  S.  38  Z.  19  Xdßiorai  steht  am  Rande  fol.  1^:]  1.  Xdßwvrai. 

78. 

jLXXni*     Die  85  te  unter  den  Pianudeischen. 

[Zu  S.  38  Z.  33  psXiaaoöpyhv  steht  am  Rande  fol.  1^:]  1    oopytlov. 

[Zu  S.  38  Z.  23  pezeXi^wv  ixeivouf^  dnovzoQJl  (a)  Wer?  Sollte  es 
also  wohl  nicht  heissen  A7c  peXiaaoüpYeUv  ziq  pezeX&wv  pBXiaaoupxoi)  dTrovzoq} 

Oder  simpler  u.  besser  lug  fiEXiaaoipyoüj  was  man  nun  darunter 
verstehen  will:  So  wie  in  der  goten  Fabel  des  Planudes  (in  dieser 
Sammlung  die  89  te)  elq  d^aXpazonoiou  in  statuarii  domum.  Und  alsdann 
ist  ixiivoü  hinlänglich. 


«)  [Hdr.:  kan] 

*)  [Hdr.:  LXX] 

3)  [Hdr.:  UMgens] 

^)  [So  schon  mit  Recht  Nevelet  in  den  Notae  p.  639.] 


Lessings  Anmerkungen  zu  den  Fabeln  des  Aesop.  107 

74. 

I^XXIY.*    Die  88  te  der  Pianudeischen. 

[Zu  S.  39  Z.  i8  sq.  de^^fh  äk  ^taadfievoQ  aÖTov^  olo/ievoQ  ävÖpcDTüov 
sie 
shat  (a)  e^aaxe  xdi  (piXov  aurbv  xai  oovijdTj  feuiffi^aty  wozu  Frau  Reiske 
am  Rande  [fol.  14]  bemerkt  hat:  „hier  fehlt  ohne  Zweifel  etwas;  im 
Manuscripte  ist  aber  keine  Lücke."]  W  Allerdings  fehlt  hier  eine 
ganze  Stelle,  welche  der  gemeine  Text  so  ausdrückt:  dTreXäcov  duecj^e 
dcoxofu^cDv  ixrJ  rr^v  /epffoy.  ^Üq  8k  xaxa  xhv  Ustpaiä  iyiveTOj  rb  tüjv  Adrjvauov 
iTüiusuov^  iTTüv&äueTo  zoo  mi^f^xoo,  ic  rb  yivoQ  ec^v  'AörjväioQ.  Tau  de  etmvroQ, 
xai  XofiTTpwv  iuTau&a  Tszuj^ivat  ptviwv,  inavr^pezo,  ii  xai  zhv  üetpatä  im(:azau 
^TizoXaßwv  de  6  mÖi^xoqy  Trepc  dvi^pwTioü  dozbv  Aeyetv,  lipyjy  xai  pdXa  ipiXov 
elvat  aozip  xat  u.  s.  w. 

75. 

LXXY  *  Die  i84te  unter  den  Neveletschen;  fast  durchaus  die 
nehmlichen  Worte. 

[Zu  S.  40  Z.  1 1  xazä  nokb  adzou  npoelj^e.  (a)  pe)[pi  fiku  obv  u.  s.  w.] 
(a)  Hier  fehlt  also  sehr  wohl  das  unnütze  Einschiebsel,  welches  der 
gemeine  Text  beym  Nevelet  hat,  u.  welches  schon  Hudson  ausgelassen. 

76. 

LXXVI.*     Die  63  te  unter  den  Pianudeischen. 

[Zu  S.  41  Z.  5  xazrjiK^dpjaavW]  (a)  xazeu(:o/iw  hat  hier  seine 
eigentliche  Bedeutung:  d.  i.  sie  sehen  nnd  treffen  ihn.  Aus  der 
figürlichen  [fol.  14 ^J  Bedeutung,  errathen,  ist  daher  ohne  Zweifel 
die  Lesart  des  gemeinen  Textes  entstanden:  zoozoo  ^o^aadpevot,  dozrjq 
xarezo^euaav,  d.  i.  sie  merkten  das  (nehmlich  dafs  der  Hirsch  nur  ein 
Auge  habe)  und  erschossen  es.  Ob  die  in  dem  Schiffe  das  merkten, 
oder  nicht 

77. 

LXXVII.*     Die  64  te  unter  den  Pianudeischen. 

78. 

LXXYIII.*     Die  65  te  unter  den  Pianudeischen. 

[Zu  S.  42  Z.  I  q[>afe'iaa\  Dieses  (^patpelaa  will  mir  hier  nicht  ge- 
fallen.    Sollte  es  nicht  etwa  heissen  XaSooaa. 

79.») 

LXXIX.*     Die  272 te  unter  den  Neveletschen. 

sie 
[Zu  xadä  i$  dnpoadox7jzoü\  xa9ä  s.  xa&dnep  veluti  ac.  [fol.  15a] 

80. 

LXXX.*    Die  28 te  unter  den  Pianudeischen. 

[Zu  S.  42  Z.  14  xazä  zwv  önwv  l^yv«y(a).l  (a)  Sie  begaben  sich  in 
ihre  Locher;  als  dafs  sie  in  dem  gemeinen  Texte  zu  einander  sagen: 

')  [In  Schneiders  Ausgabe  p.  42  nicht  mit  abgedruckt.] 


108  Richard  Förster. 


ItTjxiTt  xaviü  xaTiX9o)fi£v:  wir  wollen  nicht  mehr  herunter  körnen.  Denn 
warum  konte  denn  die  Katze  zu  ihnen  nicht  heraufkomen?  Es  streitet 
dieses  auch  sogar  dort  mit  dem  folgenden,  da  es  von  der  Katze  wie 
hier  heifst,  dafs  sie  für  nöthig  befunden,  die  Mäuse  dt  imvoioQ  4T0f>tC^/ji£WfQ 
ixxaUaaai^at  herauszulocken^). 

81. 

LXXXI.*     Die  88  te  unter  den  Pianudeischen. 

[Zu  S.  42  S.  25  ix^oSiuTi  steht  am  Rande  (fol.  IÖ)]  1.  ?>evrr>c 

82. 

LXXXII*     Die  29 te  unter  den  Pianudeischen. 

[Zu  S.  43  Z.  15  Xaj^elvi^).]  (a)  Oder  vielmehr  ^«/eTv,  [fol.  15^] 
von   lay/dvco  adipiscor. 

[Zu  S.  43  Z.  19  Toia6r7j\f  vjpj\f(}^)  ^x^ov.']  (b)  Der  gemeine  Text  hat 
dafiir  fxwpiau;  und  das  dürfte  auch  wohl  das  bessere  seyn. 

83. 

LXXXIIL*     Die  66  te  unter  den  Pianudeischen. 

[Zu  S.  44  Z.  6  dvaTTrepcji^elg]  dvaTüTepow,  ich  mache  Flügel,  Muth. 

84.  ♦% 

LXXXIV\*     Diese  Fabel  kömt  sonst  nirgends  vor. 

[Zu  S.  44  Z.  21  poTraXotg]  /fOTraioVj  clava. 

86. 

LXXXV.*     Die  201  te  unter  den  Neveletschen. 

[Zu  S.  45  Z.  17  w^eXoUawW,^  (a)  Der  gemeine  Text  hat  [fol.  16»] 
eine  ganz  andere  Moral,  die  zu  dieser  Fabel  gar  nicht  pafst.  Diese 
hingegen  pafst  vollkomen:  gegen  Freunde  nehmlich,  von  denen  man 
nichts  hat,  als  was  man  mit  dem  Maule  bey  ihnen  davon  bringen  kah. 

86. 

LXXXVL*  Die  i79te  unter  den  Neveletschen;  aber  mit  einer 
andern  Wendung,  durch  welche  die  überflüssige  Ziege,  und  der  hier 
nicht  zu  vermuthende  Fuchs  aus  dem  Spiele  bleibt. 

87. 

LXXXVII*     Die  203  te  unter  den  Neveletschen. 

[Zu  S.  46  Z.  5  fiopaivü}.]  Der  gemeine  Text  hat  für  unser  fiopaivo}^ 
popffivwyi,  und  die  Lexica')  haben  po^ptviov  aus  dem  Aristophanes. 

88. 

LXXXVIIIL*  Die  i36te  unter  den  Pianudeischen.  Was  in  dem  ge- 
meinen Texte  ein  Huhn  ist,  ist  hier  eine  Gans.  Und  der  Umstand, 
welcher  unserer  Handschrift  eigen  ist,  dafs  Merkur  einem  seiner  eifrigen 
Verehrer  [fol.  16  b]  eine  solche  Gans  geschenkt,  ist  nicht  ohne. 


*)  [Hdr.:  kerrausguiocken.^ 

')  [So  Scapula,  Lexicon  Graecolatinum  s.  v.  fiupro^^ 


Lesslogs  Anmerkungen  zu  den  Fabeln  des  Aesop.  109 


[Zu  S.  46  Z.  17  e&uaev  a^Jr^vCa).]  (a)  Das  mufs  doch  noth wendig 
äüzbv  heissen.  Denn  hier  ist  es  ja  pjv^  nicht  SpviQ.  Und  jenes  ist,  so 
viel  ich  weis,  nur  ein  Masculinum,  und  auch  in  dem  vorhergehenden 
bereits  als  ein  Masculinum  gebraucht*). 

Was  nun  gar  die  Worte  0  pjy  oudku  dfie/Jjaaq  hier  heissen  sollen, 
verstehe  ich  nicht.  Auch  nicht  was  es  helffen  würde,  wenn  man 
iiekXijffaQ  dafür  läse*).  Eher  könte  ich  noch  jene  erklären:  Obschon  die 
Gans  nichts  vernachlässigte,  d.  i.  täglich  ihr  goldenes  Ey  legte. 

89. 

LXXXIX.*    Die  90 te  unter  den  Pianudeischen'). 

[Zu  S.  47  Z.  9  Ttzpi  noX6S\  —  oder  TroiXou. 

[Zu  S.  47  Z.  12  npoai^xev  steht  am  Rande  fol.  17]  |  rjv. 

90. 

XC*  Die  91  te  unter  den  Pianudeischen*).  Ich  bin  noch  nicht 
recht  gewifs,  worauf  es  bey  dieser  Fabel  eigentlich  ankörnt.  Etwa 
darauf,  dafs  Merkur  dem  Tiresias*)  beidem^  Erscheinungen  nante, 
woraus  für  den  gegenwärtigen  Fall  nichts  zu  schliefsen ;  und  das  zweyte- 
mal  gar  eine  Krähe  xopwvrj  anzeigte,  von  welcher  ein  jeder  wufste*), 
dafs  sie  olmvioixhv  oox  h/etj  wie  auch  in  der  98ten  Pianudeischen  Fabel 
ausdrücklich  gesagt  wird?  Schlofs  er  also  daraus,  dafs  der  Man,  dessen 
Augen  er  sich  itzt  bediente,  ihn  nur  zum  besten  habe,  u.  wohl  selbst 
der  Dieb  seyn  möge. 

91. 

XCI.»     Die  iSSte  unter  den  Neveletschen.  [fol.  17  a] 

Zu  S.  48  Z.  21  Iv^abeurrjö]  —  die  gemeine  Lesart  ist  htzdarjQ. 

Zu  S.  48  Z.  26  dXXä  xcu  j<Jov^]  *  In  dem  gemeinen  Texte  wirft 
sie  den  Fröschen  blos  vor,  dafs  sie  ihr  nicht  geholflfen:  hier  aber,  dafs 
sie  ihr  nicht  allein  nicht  geholffen,  sondern  auch  noch  dazu  gesungen. 
Ich  zweifle  aber  ob'')  dieser®)  letzte  Umstand  viel  taugt,  und  echt  ist. 

92. 

XCIL*     Die  2 löte  unter  den  Neveletschen. 

[Zu  S.  49  Z.  n  rj  fdruTj  TipoadTjaaiW]  (a)  vfj  <pdrvrj  irpnadrj'  [fol.  17^] 
öatf  an  die  Krippe  binden,  ist  wohl  zu  gelind.  Der  gemeine  Text  hat, 
äva^ayetv  TrpoQ  rou  TTukojya  xat  tout<jj  fJr^ffat.  Welches  Nevelet  übersetzt 
in  pistrinum  abduci.     Aber  Tzukwu  heifs  doch  nur  atrium*). 


«)  [Hdr. :  geiracki.] 

•)  [Frau  Reiske  hatte  am  Rande  ihrer  Abschrift  (fol.  H)  die  —  durchaus  richtige  —  Ver- 
mutung notirt:  1.  fi£Xkriüa<;!\  * 
*)  [Vgl.  Laokoon  Cap.  VH  Anm.  5.     Kollektaneen  I,  469.] 

)  \yz^'  Kollektaneen  I,  471  und  dazu  meinen  Aufsatz  im  Rhein.  Mus.  Bd.  50  S.  75.] 
»)  [Hdr.:  Tkiresias] 
^  [Hdr.:  wüste] 
»)  [Hdr.:  oder] 
»)  [Hdr.:  diese] 
*}  [Scapula,  Lexicon  Graecolatinum  s.  v.  mXr^.] 


r 

110  Richard  Förster. 


[Zu  S.  49  Z.  13  7ref6xa(nv\]  *  Die  Moral  in  dem  gemeinen  Texte 
ist  ganz  falsch.   Diese  ist  besser  aber  doch  auch  nicht  die  ganz  adäquate. 

98. 

XCIII.*  Die  92  te  unter  den  Pianudeischen,  wo  die  in  unserm  Texte 
verstümelte  Stelle  allerdings  richtiger  und  besser  lautet. 

94. 

XCIV.*    Die  iSjte  unter  den  Neveletschen *). 

Unser  Anfang  ist  weit  schöner  als  der  gemeine  Text.  Sie  bat 
alle  Werkzeuge  um  ein  ipavov,  und  bekam  von  jedem  etwas.  Nur  als 
sie  zur  Feile  kam  — 

ipavov  heifst  überhaupt  eine  Beystetier,  und  es  brauchte  eben 
nichts  zu  essen  zu  seyn. 

[Zu  S.  50  Z.  6  inoh  steht  am  Rande  fol.  18]  |  p, 

95. 

XCV."^  Die  269te  unter  den  Neveletschen  mit  den  nehmlichen 
Worten. 

96. 

XCVI.*     Die  93  te  unter  den  Pianudeischen.  [fol.  18»] 

[Zu  S.  51  Z.  12  ä.Trrj'j^^oi}\  -  ATrej^^dyjj, 

97. 

XCVIL*     Die  i86te  unter  den  Neveletschen;  eben  dieselben  Worte. 

98. 

XCVIII*     Die  94 te  unter  den  Pianudeischen. 

[Zu  S.  52  Z.  2  "EptfOQ  üOTtprjaaol  Es  ist  wohl  das  ungewöhnlichere, 
dafs  ipKpoQ  in  dem  gemeinen  Texte  ein  Femininum  ist. 

[Zu  S.  52  Z.  5  ddS^ioqW]  (^)  Der  gemeine  Text  hat  dafür  dayc^Äc; 
ich  weifs  nicht  ob  besser. 

[Zu  S.  52  Z.  9  paxeXXdpiovi^^  (b)  befser,  als  fxdyetpou^  wie  er  sich 
dort  nent. 

99. 

XCIX/*     Die  151  te  unter  den  Neveletschen.  [fol.  18^] 

[Zu  S.  52  Z.  24  h  Xo-jfOQ  SrjXol  —  ol  xacpol*.^  *  Die  Moral  des  ge- 
meinen Textes  TrpÖQ  ävdpa  äla^poxepd^  xai  w  itsTov  ntpuppo)^oij\fza  ist  ganz 
unrecht,  wenigstens  viel  zu  weitläufüg:  ob  aber  auch  unsre  die  völlig 
adäquate  ist? 

100. 

C*     Die  i93te  unter  den  Neveletschen. 

[Zu  S.  53  Z.  7  xipaq  ^ivra^  ^  xipaai  pyj  dtwa  mufs  dieses  ja  wohl 
offenbar  heissen.     So  wie  auch  das  folgende  wu  ruTcrety  nicht  so  gut 


I)  [Hdr.:  Neoeüischen.] 


Lessings  Anmerkung^en  zu  den  Fabeln  des  Aesop.  11 1 

ist  als  *)  das  gemeine  ttoü  WTcret^  ob  es  sich  gleichwohl  noch  entschuldigen 
liefs,  Ufn  des^)  Siossens  wahrzunehmen, 

[Zu  S.  53  Z.  lo  f>avepoüvreQ  et  n  Ixa^oQ  xarä  vo5v  ^X^^'~^  —  Dieses 
ist  offenbar  allein  die  wahre  Lesart,  wofür  der  gemeine  Text  ganz 
ohne  Verstand  lieset  ipavtpmv  Sk  et  n  ixa(:ov  wu  /elav  s^e^  quorum  re- 
cessus  habent  et  latibula.  Die  vorgeschlagenen  Verbesserungen  des 
Nevelet*)  taugen  auch  alle  nichts.  Am  allerseltsamsten  *)  aber  ist  es, 
dafs  Hudson*)  aus  /elav  /peiav  gemacht. 

101. 

CI*     Die  191  te  unter  den  Neveletschen. 

102. 

CII*    Die  i85te  unter  den  Neveletschen.  [fol.  19»] 

[Zu  S.  54  Z.  1 1  (Je?f  steht  am  Rande  fol.  19]  |  ou. 

[Zu  S.  54  Z.  II  8i^e)^  dpo^avTtQ  (mr/iaeov  Troc^aouat,^  *  Dieses  ist 
ohnstreitig'')  wohl  die  rechte  Lesart.  Er  sollte  ihnen  zeigen,  wo  sie 
sich  eine  Höhle  ausgraben  köiiten;  und  nicht,  wie  der  gemeine  Text 
hat  69eu  nXiov  dvrjamatUy  wo  es  ihnen  am  meisten  helffen  köhte.  Denn 
wie  pafste  denn  hierauf  der  endliche  Bescheid  der  Erde?  Wohl  aber 
pafst  er  auf  eine  Höhle.  Sie  mögen  so  viel  Erde  ausgraben  als  sie 
wollen,  so  sollen  sie  mir  sie  doch  mit  Seufzen  und  Klagen  wieder- 
geben müssen.  Was  thut  man  auch  anders,  wenn  man  eine  Höhle 
gräbt,  als  dafs  man  hier  der  Erde  etwas  nimt,  was  man  ihr  doch 
anderwerts  wiedergeben  mufs.     Und  so  pafst  nun  auch  die  Moral. 

103. 

CIIL*     Die  ipote®)  unter  den  Neveletschen. 

104. 

Ory*     Die  i97te  unter  den  Neveletschen. 

[Zu  S.  55  Z.  5  Stizpißs*,']  ^  Dieser  ganze  schöne  Anfang,  auf  welches 
es  doch  in  der  Fabel  sehr  mit  ankörnt,  fehlt  in  dem  gemeinen  Texte. 
Wie  denn  dort  überhaupt  von  dieser  ganzen  schönen  Fabel  kaum  der 
Schatten  geblieben  ist. 

Die  Moral  des  gemeinen  Textes  ist  nun  vollends  ganz  unsinig, 
obgleich  auch  unsre  nur  einen  Theil  der  Fabel  erschöpft. 

105. 

CV^    Die  io5te  unter  den  Pianudeischen.  [fol.  19l>] 


•) 


"Hdr.:  as] 

lldr.:  tUn] 

Üebersetzung  Nevelets  p.  345.] 

In  den  Notae  p.  636.] 

Hdr.:  allerseltsam\ 

In  der  Ozforder  Ausgabe  Hudsons  steht   zwar  x^^^    ^^^   ^^  ^  XP^*"^  ^^' 
lan^e,  zeigt  seine  Uebersetzung  palamque  fieret  quod  cuique  opus  sit] 
')  [Hdr.:  onksirnHg\ 
•)  [Hdr.:  tp6\ 


112  Richard  Förster. 


106. 

CVI/^     Die  iSpte  unter  den  Neveletschen. 

[Zu  S.  56  Z.  15  ee  ri/v  t6][7jv  fJtzraXkdJzaoa  fiereßdkXtTO,  (a)  xcä  rijv  ffo/.] 
(a)  Dafür  hatte  Nevelet  drucken  lassen  et  rrjy  (l^opj)^  [israiJid^aöa  xai  XTjy 
Yha^p6TifjTa  fiereßäUsro,  Dafs  für  .^^/^y  schicklicher  hier  zu  lesen  sey 
Tupjv,  hat  er  in  seinen  Noten  ^)  gesagt,  u.  Hudson  hat  To^yjv  in  den 
Text  genoräen.  Ob  aber  aus  dem  gemeinen  Texte  ttju  '^^ua^porjjza  in 
unsern')  Text  aufzunehmen?  Nothwendig  ist  es  nicht:  und  j'Xta^poTTjQ 
tenacitas')  dürfte  schwerlich  für  die  füchsische  Eigenschaft  das  rechte 
Wort  seyn.  Wie  wenn  man*),  um  das  ipfJ/rjv  des  gemeinen  Textes 
auch  zu  retten,  lesen  wollte  ie  ttjv  to^tjv  fiBTakXdSaaa  xai  zijv  ^opjif}  oder 
ipiawl  **) 

[Zu  S.  56  Z.  21  Jiji'fvCb).]  (b)  Dieses  oipv^  heifst  in  dem  gemeinen*) 
Texte  weit  besser  raftv. 

107. 

Cyil*     Diese  Fabel  ist  noch  nirgends  gedruckt.  [foL  20 »] 

108. 

CVIll*     Die  io4te  unter  den  Pianudeischen. 

sie 

[Zu  S.  57  Z.  13  dta  rac  ^X^^^-^  ^^  Dafür  stehet  in  dem  gemeinen 
Texte  ohne  allen  Verstand  8ia  xoo  o)^Ioü,  Die  bewufste  Verbesserung 
dieser  Stelle'). 

109.  V 

CIX.*  Auch  diese  Fabel  ist  griechisch  noch  nie  gedruckt.  Gleich- 
wohl findet  sie  sich  unter  den  Arabischen  Fabeln  des  Ivokman,  (Edit. 
Leidae  161 5.  p.  20)®)  und  dieses  ist  ein  Beweis,  dafs  auch  die  andern 
Lokmanschen  Fabeln,  die  unter  den  itzt  bekaiiten  Griechischen 
Fabeln  nicht  befindlich,  denoch  aus  dem  Griechischen  köhen  ge- 
nomen  seyn®). 

110. 

CX.*     Die  i94te  unter  den  Neveletschen. 

[Zu  S.  58  Z.  16  "0  XAroq  —  vhv  Tp^Ttoi^*)  ♦  Anstatt  dieser  [fol.  20  b] 
gehörigen  Moral  hat  der  gemeine  Text  eine  ganz  andere;  und  was 
sehr  merkwürdig  ist,  die  Moral  der  gerade  vorher  gehenden  Fabel. 
Woraus  also  erhellet,  dafs  Planudes  seine  Sainlung  wenn  nicht  aus 
diesem,  doch  einem  andern  ebenso  geordneten  Ms  müsse  gezogen  haben. 


i)  [p.  626] 

')  [H 


Hdr.:  unser] 
s)  [Hdr.:  tenaciius] 
«)  [man  fehlt  in  der  Hdr.] 
')  [oder  ^puütv?  ist  nachträglich  hinzugefügt.] 
•)  [Hdr.:  gemein\ 

^)  [dta  TOü  ^t9o</ Kollektaneen  I,  472  vgl.  S.  233  ff.    Schneider  hat  die  letztere  An- 
merkung Lessings  mlsverstanden,  dafür  aber  das  richtige  ikä  roo  äp^oo  gefunden.] 
B)  [Homo  et  Idolum.] 
•)  [Vgl.  zu  Fabel  7  und  135.) 


Lessings  AnmerkungeD  zu  den  Fabeln  des  Aesop.  113 

111. 
CXI.*  «) 

[Zu  S.  58  Z.  22  ißa6fiaffEv(}d]  (a)  Dafür  möchte  das  gemeine 
hoAavtCev  doch  wohl  besser  seyn. 

Zu  S.  58  Z.  23  7ca/>^  dv  —  äj-etW.]  (b)  Dieses  Ttap'  8v  —  äyet  fehlt 
dem  gemeinen  Texte  zum  grofsen  Nachtheil  des  Verstandes. 

Zu  S.  59  Z.  4  iTcAveegiC').]  (c)  d.  i.  wenn  du  damals  gearbeitet  hättest. 
Dieses  ist  weit  besser  als  das  gemeine  STü^vetQ  wenn  du  mich  gelobt 
hättest. 

112. 

CXII.*^    Die  30  te  unter  den  Pianudeischen. 

113. 

CXIU*    Die  3ite  unter  den  Pianudeischen.  [fol.  21»] 

[Zu  S.  59  Z.  23  ixxoficCofiiv^  nu)  rwv  olxelwv*.]  *  Dieses  sollte  ja 
wohl  vielmehr  heissen  ixxofjuCo/iivotJ  nv^  twv  obceicov^)  als  einer  von 
seinen  Anverwandten  oder  Bekamen  zu  Grabe  getragen  wurde.  In 
dem  gemeinen  Texte  hat  eben  der  Arzt,  welcher  den  späten  Rath 
giebt,  den  Verstorbnen  auch  in  der  Cur  gehabt.  Aber  das  ist  ganz 
unschicklich. 

[Zu  S.  60  Z.  4  ](pi]  wbg  f^üofjQ,]  -  SoUte  es  nicht  vielmehr  heissen 

114. 

^^V'*    Die  32  te  unter  den  Pianudeischen. 

115. 

CXy/*     Die  95  te  unter  den  Pianudeischen. 

116. 
CXVI.* 

[Zu  S.  61  Z.  14  inof9a^iCour£g\]  ^  Besser  als  das  [fol,  21^] 
f9o]fouvTe^  Denn  das  Camel  beneidete  dem  Stiere  die  Hörner  eben 
nicht;  es  wollte  sie  nur  auch  haben. 

117. 

CXVIl.*     Die  33  te  unter  den  Pianudeischen. 

[Zu  S.  61  Z.  18  iu  icßüTj  yeu6fievou(9).']  (a)  Dieses  ist  gar  nicht  wahr, 
u.  dürfte  also  leicht  aus  dem  iv  XifivatQ  dtaaw/ievov  y  wie  der  gemeine 
Text  lieset,  entstanden  seyn. 

118. 

^?7?J-!  Diese  nehmliche  Fabel,  aber  mit  andern  Worten,  kömt 
nicht  unter  den  Fabeln  vor;  aber  wohl  in  dem  Leben  des  Aesopus, 
wo  dieser  seinen  Herren  den  Xanthus  mit  der  Auflösung  der  Frage 


>)  [s=  Nevel.  fab.  248.] 

•)  [Diese  Verbesserung,    ebensowie    die    folg^ende   wH^  ^üoc^^   hat  Schneider,   ohne 
Lessing  zu  nennen,  in  den  Text  aufgenommen.] 

Ztachr.  f.  TgL  Litt.-GeK:b.    N.  P.  VIU.  8 


114  Richard  Förster. 


vertritt,  die  dort  ein  Gärtner  thut,  anstatt  dafs  sie  hier  an  den  Gärtner 
gethan  wird.     (Pag,  27.  Edit  Nevel.  *)) 

119. 

Cxix.*     Die  67  te  unter  den  Pianudeischen. 

[Zu  S.  62  Z.  19  dXX  EycoYe  ä$ta*  .  ,  .  niTrovf^a^).^  *  hier  kah  wohl 
nichts  fehlen.  Aber  was  die  folgenden  (tou  und  tre  sollen,  verstehe 
ich  nicht.  Der  Verstand  ist  gut  u.  richtig,  wenn  man  sie  gerade 
wegstreicht. 

120. 

CXX*    Die  96 te  unter  den  Pianudeischen.  [fol.  22»] 

[Zu  S.  63  Z.  2  aiiooaoQ  (a).]  (a)  Dieses  Beywort  verdiente  dieser 
Virtuose  gleichwohl  nicht,  eben  so  wenig  als  das  dfuijQy  welches  ihm 
der  gemeine  Text  giebt.  Denn  sein  Fehler  war  doch  nur  der,  dafe 
er  in  einem  engen  Zimer  blos  zu  singen  gewohnt  war,  wo  durch  den 
Widerhall  der  Wände  die  Stime  vermehrt  wird,  so  dafs  er  sich 
fff63pa  hjipcavoQ  valde  canonis,  stark  genug  von  Stime  zu  seyn  glaubte, 
um  sich  auf  einem  offenen  Theater  hören  zu  lassen.  In  der  Appli- 
cation der  Fabel  wird  auch  gar  nicht  angenomen,  dafs  die  Rhetores, 
die  sich  nur  in  den  Schulen  geübt,  in  ihrer  Kunst  und  den  Musen 
ganz  fremd  sind:  genug,  dafs  es  ganz  etwas  anders  ist  in  der  Schule 
etwas  vorstellen,  u.  zu  Verwaltung  der  öffentlichen  Geschäfte  tauglich 
seyn.  Wie  also  wenn  das  d<por^Q  eigentlich  geheissen  ufwvog,  u.  dieses 
äf(üm<:  blos  dem  eufxovoQ  entgegengesetzt  wäre. 

[Zu  S.  63  Z.  8  iva^oXeig  steht  am  Rande  fol.  22:]     l.  iv  (Tj(oXacQ. 

121. 

C^XI*    Die  97 te  unter  den  Pianudeischen. 

[Zu  S.  63  Z.  19  if  ere/>ö>i/.^]  *  Dieses  i$  kripwv  ist  ein  sehr  un- 
nöthiger  Zusatz. 

122. 

CXXII.»     Die  205  te  unter  den  Neveletschen. 

[Zu  S.  64  Z.  I  dfiftyyovTegi^,]  W  Sie  wufsten  nicht  was  sie  daraus 
nehmen')  sollten*).     Besser  als  das  gemeine  dp^oouvTeg. 

123.  [fol.  22  b] 

CXXIII*  Die  208 te  unter  den  Neveletschen,  fast  mit  den  nehmli- 
chen  Worten,  bis  auf  den  Schlufs. 

124. 

???I^i!     Die  98  te  unter  den  Pianudeischen. 


»)  [=  Fabul.  Rom.  ed.  Eberhard  p.  248,  8  sq.  Vgl.  Vita  Aesopi  ed.  Westenn. 
p.  21,  24  sq.] 

*)  [Dieses  7re7n>t/t9a  hat  Schneider  fälschlich  weggelassen  und  Fragezeichen  hinter 
ä^ta  gesetzt.] 

8)  [Hdr.:  neAn  (?)] 

*)  [Hdr.:  so/Ae.\ 


Lessings  Anmerkungen  zu  den  Fabeln  des  Aesop.  115 


[Zu  S.  65  Z.  5  eiQ  Ttg]  -  ecQ  uq:  ist  nicht  eins  genug? 

125. 

CXXV.*     Die  204te  unter  den  Neveletschen. 

[Zu  S.  65  Z.  13  7teiteipof}_  steht  am  Rande  fol.  23:]  q 
uAüvl^oQ^)^  grossus,  ficus  imatura. 

126.  [fol.  23^1 

CXXVI*.     Die  99te    unter    den  Planudeischen.     In    dem    gemeinen 

Texte  opfert  die  Krähe  der  Minerva,    welches  nicht  übel  ist;    anstatt 

dafs  hier  gar  nicht  gesagt  wird,  wem  sie  opfert.    Auch  scheinet*)  mir 

hier  das  datfiwv  eine  späte  Mönchsänderung  zu  seyn. 

127. 

CXXVIL*     Die  loote  unter  den  Planudeischen. 

[Zu  S.  66  Z.  7  dno&vijxetv  steht  am  Rande  fol.  23.-]  |  a 

[Zu  S.  66  Z.  1 1  mi\  —  Das  xcu  ist  überflüssig.] 

128. 

CXXVIIL*     Die  loite  unter  den  Planudeischen. 

129.  [fol.  23  bl 

CXXIX*     Die  206 te  unter  den  Neveletschen.     Wenn  diese  Fabel 

von  dem  Aesop  ist,    so  war    die  Fabel  des  Menenius  Agrippa  wohl 

aus  ihr  genomen. 

130. 

CXXX*  Die  io2te  unter  den  Planudeischen.  Mit  den  nehmlichen 
Worten,  bis  auf  Kleinigkeiten. 

[Zu  S.  67  Z.   19  xai  aoycTjpiaq  c:tprjaaQ,\   —  Vor*)  xai  awrrjptaQ  hat 

der  gemeine  Text  besser  r^g  Cß'TC- 

131. 

CXXXI.*     Die  2i5te  des  Nevelet. 

132. 

CXXXII.*  Die  2i3te  der  Neveletschen.  Der  An&ng  des  gemeinen 
Textes  ist  aus  diesem  zu  verbessern,  da  des  Nevelet*)  Verbesserung, 
die  Hudson  in  den  Text  genommen,  nur  so  so  ist. 

133. 

CXXXIII.»    Die  35  te  unter  den  Planudeischen.  [fol.  24»] 

134. 

CXXXIV.*     Die  2iite  unter  den  Neveletschen. 

135.       •*_♦ 

CXXXV.*     Auch  diese   Fabel   ist   noch   nicht  griechisch  gedruckt. 


') 
^ 
») 
*) 


Aus  Scapula,  Lexlcon  Graccolatlnum  s.  v.] 

'Hdr.:  semet] 

Statt  für.    Vgl.  zu  Fabel  32.] 

Votae  p.  638.] 

8* 


116  Paul  Bahlmann. 


Sie  körnt  aber  ebenfalls  unter  Lokmans  Fabeln  vor,  u.  ist  ein 
zwey ter  *)  Beweifs,  dafs  allem  Ansehn  nach  diese  Arabischen  *)  Fabeln 
alle  aus  dem  Griechischen  übersetzt  sind.  (p.  40.)') 

136.  [fol.  24bl 

CXXXVI.*  Die  2i7te  unter  den  Neveletschen,  wo  aber  die  Moral 
ganz  anders  ist,  und  ohne  Zweifel  besser  seyn  würde*)  wenn  sie  nicht 
verstümelt  wäre.  Nehmlich  "Ün  rotjQ  ioxakselQ'^)  xae  ddo^ouq  xai  fia;(o(zivoi}g 
TupävuofjQ  iUy/6t  h  koyoQ.  Sic  inglorios  et  infames  homines  et  pugnantes 
tyrahos  indicat  fabula.  In  den  Noten  ^j  sagt  Nevelet:  Verbotenus  inter- 
pretati  sumus  corruptum  hoc  irt/iu^iov.  Allein  iuxahetQ  durch  in- 
glorios übersetzen,  heifst  doch  wohl  nicht  wörtlich  übersetzen.  Hudson 
änderte  dieses  also  in  dx?.e£7Q.  Da'')  ist  aber  auch  seine  Kunst  hier 
alle,  und  die  Lehre  bleibt  wie  sie  war*).  Mit  einem  einzigen  Buch- 
staben denke  ich,  ist  ihr  zu  helfFen;  man  lese  nehmlich  nur  für  zupdvifouQ^ 
TopdvvoiQ^).  Also  gegen  unberühmte  schlechte  Leute,  die  mit  mächtigen 
Tyranen  hadern  wollen,  die  nicht  einmal  wissen,  dafs  sie  existiren. 

137. 

CXXXVII.*     Die  57te  unter  den  Flanudeischen. 

138. 

cxxxvm* 

«>« 


Des  Petrus  Tritonius  Versus  memoriales. 

Von 
Paul  Bahlmann. 


Dem  aus  Brixen  im  Etschlande  (Athesia)  gebürtigen  Petrus  Tritonius*) 
war,  nachdem  er  in  Padua  humanistische  Studien  gemacht  und  den 
Grad  eines  Magisters  der  freien  Künste  erworben,  in  seiner  Vaterstadt 


*)  [Vgl.  zu  Fabel   109.] 

«)  [Hdr.;  Araiische] 

*)  [Dieses  p,  40  bezieht  sich  auf  die  Ausgabe:  Locmani  fabulae  cum  Interpret. 
Erpenü,  Leidae  161 5,  wo  p.  40  die  Fabel  mit  der  Ueberschrift  Canis  et  Lepus  steht.] 

*)  [In  der  Hdr.  fehlt  wurde\ 

*)  [Hier  und  im  folgenden  verschrieben  statt  zuxXBEit;^  was  Nevelet  fälschlich  statt 
dotl^uz  bietet] 


') 
') 
«) 
') 


p.  628] 

Hdr.:  Das\ 

Die  Hdr.  hat,  allerdings  etwas  unleserlich:  wakr?^ 

Auch    Vermutung    Heusingers    und    als    solche    von    Ernesti   in   seiner  Ausgabe 


(Leipzig   1781  p.   160)  in  den  Text  gesetzt.] 

*)  Über  ihn  s.  A.  W.  Ambros,    Gesch.  der  Musik.     Breslau   1868   III,  376  und  378; 
J.  v.  Aschbach,    Gesch.    der  Wiener  Universität.     Wien  1877  II,  80,  249—452  und  437. 


Des  Petnis  Tritonius  Versus  memoriales.  117 

die  Leitung  einer  lateinischen  Schule  übertragen  worden.  Da  er  aber 
nicht  nur  für  einen  in  den  klassischen  Schriftstellern  belesenen  Ge- 
lehrten, sondern  auch  für  einen  ausgezeichneten  Musiker  galt,  berief 
ihn  Conrad  Celtes  nach  Wien,  wo  er  Mitglied  der  gelehrten  Donau- 
Gesellschaft  wurde  und  den  Unterricht  im  Gesang  und  in  der  Instru- 
mentalmusik im  Dichterkollegium  leitete.  Hier  vollendete  er  auch  sein 
bekanntes,  1507  von  Erhard  Oglin  in  Augsburg  zweimal  gedrucktes 
Werk  „Melopoiae  sive  Harmoniae  tetracenticae  super  XXII  genera 
carminum  heroicorum,  elegiacorum,  lyricorum  et  ecclesiasticorum  hym- 
norum  .  .  .  secundum  naturam  et  tempora  syllabarum  et  pedum  com- 
positae  et  regulatae",  den  ältesten  Notentypendruck  Deutschlands.  Als 
nach  Celtes  Tode  (f  1508)  das  Collegium  Poetarum  einging,  kehrte 
Tritonius  in  sein  Vaterland  zurück  und  übernahm  die  lateinische  Schule 
in  Bozen.  Wann  und  wie  er  sein  Leben  beschlossen,  vermag  ich  nicht 
anzugeben;  ganz  zufallig  aber  fand  ich  in  einem  Sammelbande  der 
Königlichen  Hof-  und  Staats-Bibliothek  zu  München  ein  bisher  unbe- 
achtet gebliebenes  Produkt  seiner  späteren  litterarischen  Tätigkeit, 
nämlich  „Versus  quidam,  quibus  tenera  pueronun  memoria  potissimum 
exercenda  est.  [Am  Ende:]  Josephus  Pyribullius  Suocii  imprimebat 
mense  Junio  MDXXI.  8  Bll..  8»." 

Der  erste  Teil  dieser  Schrift  enthält  folgende  Gedichte: 

Petri  Tritonii  Athesini 
decatostichon,  quo  Spiritus  sancti  gratia  invocatur. 

Spiritus  alme,  veni,  septeno  numine  reple 
Corda,  quibus  mentem  fidam  tribuisti,  ut  amoris 
Igne  tui  flagrent!    Linguis  qui  consociasti 
Gentes  diversis,  facis  has  coalescere  sancte. 
Emitte  almum  pneuma  tuum  ad  mentes  recreandas, 
Ut  per  idem  terrae  facies  hUaris  renovetur! 
Omnipotens  aeterne  deus,  qui  corde  fideli 
Credentes  digito  illustrante  tuo  docuisti, 
Quaesumus,  ut  nobis  tribuas  in  spiritu  eodem 
Solati  ac  laeti  sapiamus  recta  et  honesta. 

Eiusdem  decalogi  praecepta  in  singulis  decem  hexametris. 

Aetemum  venerare  deum,  solum  hunc  et  adora. 
Nee  frustra  assumas  eins  nomen  benedictum. 
Sabbatha  non  violes,  opus  omne  in  eis  requiescat. 
Assiduo  cultu  observes  et  amore  parentes. 
Nee  manibus  laedas  nee  lingua  hominem  neque  mente. 
.  Coniugium  sanctum  inviolatum  semper  habeto. 
Non  fraudes  quemquam,  furtum  fugias  quoque  pravum. 
Testis  mendosus,  reprobus  malus  esse  caveto. 
Coniugis  alterius  species  non  sollicitet  te. 
Nee  bona  cuiusvis  animus  sibimet  tuus  optet. 


118  Paul  Bahlmann. 


Eiusdem  carmeii)  dominicain  orationem  complectens. 
Summe  pater  noster,  coelorum  qui  regis  arcem, 
Nomen  grande  tuum  in  nobis  bene  sanctificetur, 
Adveniatque  tuum  regnum,  fiatque  voluntas 
Sancta  tua,  ut  coelo  sie  omnigena  quoque  terra. 
Tuque  hodie  panem  nobis  da  quotidianum; 
Debita  te  precibus  pulsamus  nostra  remittas, 
Sicut  cuncta  remittimus  bis,  qui  nos  male  laedunt. 
Ut  non  tentemur,  petimus,  mala  cuncta  repelle. 

Eiusdem    tetrastichon,    angelicam    salutationem 

comprehendens. 

Semper  ave,  Maria  alma,  dei  solamine  plena, 
Nam  dominus  tecum!    Benedicta  inter  mulieres, 
Estque  tui  fructus  benedictus  ventris  Jesus. 
Hunc  ores,  animos  nostros  sapientia  adumbret. 

Eiusdem  ogdostichon,  altam  salutationem  Mariae  continens. 

Salve  Regina  et  mater  clementiae  et  omnis 
Vitae  dulcedo,  nostra  et  spes  unica  salve! 
Ad  te  clamamus,  quos  trusit  in  exilium  Eva. 
Te  suspiria  nostra  gemunt  valle  hac  lacrymarum, 
Ergo  vocata  ad  nos  converte  oculos  miserantes 
Atque  tui  fructum  benedictum  ventris,  Jesum, 
Mox  ostende  tuis  post  exilium  hoc  gemebundum, 
O  pia,  o  Clemens,  o  dulcis  virgo  Maria! 

Dieselben  sind  von  dem  Verfasser  ,,Amando  Tritonio  Brixinensi, 
filio  suo  omnium  amantissimo^,  mit  den  Worten  zugeeignet:  Quamquam 
te,  fili  Amande,  superis  bene  faventibus  in  prosa  oratione  pro  virili 
instituere  non  negligemus,  decalogi  tamen  legem,  preces  dominicas 
ac  reliqua  bis  haud  dissimilia  tibi  in  carmine  tradere  malumus  multas 
ob  causas,  tibi  imperceptibiles  modo,  ideo  hie  non  enumeratas.  Tui 
itaque  erit  ofiBcii,  amatissime  Amande,  te  una  cum  Vito  fraterculo 
tuo  his  ad  cunas  exercere.  Vale  deumque  time  ac  parentes  reverere! 
Hallae  Oeni,  calendis  Januarü.     Anno  a  Christo  nato  MDXIII. 

Der  zweite  Teil  enthält  aus  des  Tritonius  Feder  nur  die  nach- 
stehende Widmung: 

Petrus  Tritonius  Athesinus 

Vito  Laeto  Tritonio  Serentino,  filio  suo, 

paterno  ex  affectu  salutem  dicit. 

Posteaquam  Amandus,  frater  tuus,  naturae,  quae  ingeniis  plerumque 
infesta  est  praecocibus,  nonum  nondum  attingens  annum  et  ipse  debitum 
persolvit,  ego  te,  vivacissime  Vite  ac  laetissime  mi  Laete,  cum  iam 
in  traditis  a  me  vobis  crepundiis  luseris  abunde  nee  iam  ampUus 
pueriliter  ludas,  sed  serio  rem  tractes,  volui  nunc  aliena  quaepiam 
superaddere:  nempe  Erasmi  Roterodami,  eius  viri,   quem  me  semper 


Des  Petrus  Tritonius  Versus  memoriales.  119 

audis  dicere  Magnum,  eius,  inquam,  institutum  christianum.  Catonis 
item  (ut  vocant)  disticha  ob  memoriae  teneritatem  paucula  quidem, 
quae  moribus  eiusce  aetatulae  tuae  eximie  conducere  visa  sunt,  non 
quo  reliqua  te  contemnere  iubeam,  verum  solidiori  memoriae  adepto 
habitu  ipsa  sing^a,  si  me  diligis,  una  cum  Erasmi  scholiis  ad  unguem 
velim  ediscas.  Haec  interim,  quo  commodius  tu  una  cum  tuis  ingenuis 
contribulibus  tractare  queas,  in  enchiridii  formam  hanc  redegi  ac  pro 
instantis  felicis  anni  strena  vobis  offero.  Vale,  fili  carissime,  cum 
dictis  tuis  condiscipulis,  literisque  et  bonis  moribus  ac  inprimis  pietate 
proficite.  Ex  ludo  nostro  literario  Suocii,  calendis  Januarii  MDXX. 
Dann  folgen  „Christiani  hominis  institutum  Erasmi  Roterodami"*) 
und  „Catonis  disticha  quaedam",  und  zwar  sind  von  letzteren  ab- 
gedruckt**): 

Lib.      I:  Dist   1—3,  10,   14,  15,  17,  21,  30,  34,  36,  38. 
„       n:  Dist.  I,  4,  7,  II,  15,   16,  21,  24,  25,  30. 
„      m:  Dist.  2,  5,  7,  13,  17,  19,  22. 
„     IV:  Dist.  6,  7,  13,  15,  19—21,  23,  26,  27,  29,  34,  48. 

Den  Schlufs  bildet  ein  Distichon  des  noch  nicht  zehnjährigen  Vitus 
Laetus  Tritonius  an  seinen  Vater: 

O  genitor  care  atque  indulgentissime,  amoris 
In  me  fortia  erunt  haec  monumenta  tui. 

Ahnliche  versus  memoriales,  welche  wie  die  genannten  zugleich 
den  Zweck  verfolgten,  die  religiöse  Ausbildung  der  Jugend  zu  fördern, 
sollen  damals  mehrfach  gedruckt  sein;  leider  aber  hat  dieser  Zweig 
der  neulateinischen  Dichtung  einen  Bearbeiter  noch  nicht  gefunden. 

Münster  i.  W. 


*)  Erasmus  sagt  in  der  vom  i.  Axxg.  151 4  datierten  Widmung  der  Disticha  Catonis 
«Addimns  .  .  .  hominis  Christiani  institutum,  quod  nos  carmine  dilucido  magis  quam 
elaborato  sumus  interpretati,  conscriptum  antea  sermone  Britannico  a  Joanne  Coleto 
[-f-  15 19],  quo  yiro  non  aliud  habet  mea  quidem  sententia  florentissimum  Anglorum 
Imperium  vel  magis  pium,  vel  qui  Christum  verius  sapiat**. 

In  der  Bibliotheca  Erasmiana.  S^r.  I.  Gand  1 893  pag.  1 1 3  f.  sind  46  Ausgaben  des 
^Institutum  hom.  Christ.**  verzeichnet;  denselben  seien  aufser  des  Tritonius  Ausgabe  noch 
3  Drucke  aus  den  Beständen  der  Kgl.  Paul.  Bibliothek  zu  Münster  hinzugefügt:  Coloniae, 
Eucharius,  1528;  Daventriae,  Alb.  Pafraet,  1548;  Coloniae,  Quentel,  s.  a. 

^*)  s.  Catonis  Philosophi  liber,  post  Jos.  Scaligerum  vulgo  dictus  „Dionysü  Catonis 
disticha  de  moribus  ad  filium**.    Recensuit  Ferd.  Hauthal.     Berolini  1869. 


-•••- 


120  Hetorich  von  WHslocki, 


Tschuvaschisches  zur  vergleichenden  Volkspoesie. 

Von 
Heinrich  von  Wlislocki. 


In  der  ungarischen  Zeitschrift  „Nyelvtudomänyi  Közlemenyek"  (= 
Sprachwissenschaftliche  Mitteilungen  24.  Bd.  1887;  S,  11  ff.)  teilt 
der  ungarische  Sibirienreisende  Bernh.  Munkacsi  drei  Proben  aus  der 
Volkspoesie  der  Tschuvaschen  mit,  die  von  vergleichendem  Standpunkt 
ein  Interesse  für  uns  haben.  In  deutscher  Übertragung  lautet  das 
erste  Stück  (Originaltext  a.  a.  O.  S.  11)  also: 

Vetter  Fuchs. 

Lebte  einmal  ein  alter  Mann  und  eine  alte  Frau.  In  der  Nähe 
einer  Felsenschlucht  hatten  diese  eine  Scheuer,  und  in  der  Scheuer 
einen  grofsen  Korb  voll  Weizen.  Zu  derselben  Zeit  schlössen  ein 
Fuchs  und  ein  Kranich  Freundschaft.  Sie  gruben  sich  für  den  Winter 
eine  Höhle,  und  wohnten  darin  beide.  Nachdem  sie  lange  mit  ein- 
ander gelebt,  sprach  der  Fuchs  zum  Kranich:  „Such'  und  bring'  mir 
etwas  Esbares,  denn  ich  will  was  essen!"  Der  Kranich  wufste,  dafs 
der  Alte  und  sein  Weib  in  der  Scheune  Weizen  haben  und  er  begann 
den  Weizen  zu  verschleppen.  Schön  langsam  hatte  er  die  Hälfte  des 
Weizens  verschleppt.  Während  er  mit  dem  Weizen  davonflog,  schlug 
er  stets  dieselbe  Richtung  ein  und  liefs  dabei  stets  etwas  vom  Weizen 
auf  die  Erde  fallen.  Der  Alte  und  sein  Weib  bemerkten,  dafe  jemand 
ihren  Weizen  verschleppe,  und  stellten  sich  auf  die  Lauer.  Der  Alte 
bemerkte  nun,  dafs  der  Kranich  den  Weizen  stehle  und  ging  ihm  auf  der 
Spur  der  auf  der  Erde  befindlichen  Weizenkörnern  nach.  So  gelangte  er 
zur  Höhle.  Er  begann  nun  zu  graben;  und  als  er  also  grabend  die 
Tiere  mit  der  Schaufel  schon  beinahe  erreicht  hatte,  sprach  erschreckt 
der  Kranich  also  zum  Fuchse:  „Vetter  Fuchs,  was  beginnen  wir  nun?  er 
hat  uns  ja  beinahe  schon  erreicht!"  Der  Fuchs  versetzte:  „Wir  stellen  uns 
beide  tot!"  Als  sie  der  Alte  erreicht  hatte,  ergriff  er  den  Kranich;  der 
Kranich  stellte  sich  tot.  Der  Alte  drehte  ihn  hin  und  her,  besah  ihn  sich 
von  allen  Seiten  und  schleuderte  ihn  dann  weg.  Als  er  ihn  fortgeschleu- 
dert hatte,  erhob  sich  der  Kranich  und  flog  schreiend  davon.  Der 
Alte  begann  ihn  zu  jagen;  inzwischen  kroch  der  Fuchs  aus  der  Höhle 
heraus  und  lief  davon.  Der  Alte  ergriff  nun  sein  Grabscheit  und 
ging  heim. 

Der  Fuchs  lief  nicht  weit,  am  Rande  der  Strafse  legte  er  sich 
nieder.     Zur  selben  Zeit  fuhr    ein  alter  Mann    auf  einem    mit  Fischen 


Tschuvaschisches  zur  verg^leichenden  Volkspoesie.  121 


bdadenen  Wagen  die  Strafse  einher.  Der  Alte  erblickte  den  Fuchs 
und  dachte  bei  sich:  „Der  kommt  mir  eben  recht;  ich  werde  mir 
daheim  aus  seinem  Felle  eine  Mütze  machen!"  Er  warf  den  Fuchs 
auf  den  mit  Fischen  beladenen  Wagen.  Der  Fuchs  bifs  ein  Loch  in 
den  Wagenkorb  und  schlich  sich  dann  vom  Fuhrwerk  herab.  Durch 
das  Loch  fielen  die  Fische  bis  auf  den  letzten  aus  dem  Wagen  auf 
die  Strafse.  Als  der  Alte  zu  Hause  angelangte,  hatte  seine  Frau 
eben  ein  grofses  Feuer  angemacht.  Der  Alte  spannte  nicht  einmal 
sein  Rofs  aus,  sondern  trat  eilig  in  die  Stube  und  sprach:  „Ich  habe 
einen  Fuchs  gebracht,  aus  dem  ich  mir  eine  neue  Mütze  machen 
werde!"  Er  nahm  nun  seine  Mütze  vom  Haupte  und  warf  sie  ins 
Feuer.  Dann  ging  er  hinaus  und  spannte  sein  Rofs  aus;  dann  deckte 
er  seinen  Wagen  auf  und  blickte  hinein;  da  war  aber  weder  ein 
Fuchs,  noch  ein  Fisch  zu  sehen.  Der  Alte  eilte  nun  in  die  Stube, 
um  seine  Mütze  dem  Feuer  zu  entreifsen,  aber  nicht  einmal  die  Asche 
derselben  war  zu  finden.  Der  Alte  schlug  sich  an  die  Stiefelröhren, 
setzte  sich  nieder  und  begann  zu  weinen;  mit  dem  nicht  genug,  auch 
seine  Frau  schalt  ihn  aus. 

Der  Fuchs  klaubte  die  Fische  alle  auf,  trug  sie  in  eine  Schlucht, 
wo  er  sie  vergnügt  afs.  Da  kam  ein  Wolf  heran.  „Vetter  Fuchs, 
was  ifst  du?  gib  mir  auch  einen,  damit  ich  ihn  koste?"  sagte  der 
Wolf.  Der  Fuchs  gab  ihm  einen  Fisch.  „Ei,  der  ist  wohlschmeckend! 
gib  mir  noch  einen!"  sagte  der  Wolf.  „Ich  habe  wenige;  geh'  und 
fenge  dir!"  versetzte  der  Fuchs.  „Wo  und  wie  hast  du  sie  gefangen, 
erkläre  es  mir!"  sprach  der  Wolf.  Der  Fuchs  sagte  ihm :  „Da  drüben 
ist  ein  Loch;  steck'  deinen  Schwanz  hinein  und  sitze  ruhig;  je  mehr 
es  dich  am  Schwänze  zerrt,  desto  tiefer  stecke  ihn  hinein!"  Der  Wolf 
ging  von  dannen  und  setzte  sich  ans  Loch;  bald  fühlte  er  ein  Zerren 
und  steckte  noch  tiefer  seinen  Schwanz  ins  Loch  hinein.  Während 
er  so  safs,  fror  ihm  der  Schwanz  fest  ins  Eis  hinein.  Der  Wolf 
konnte  sich  nicht  von  der  Stelle  rühren.  Da  kam  eine  Frau  mit  einer 
Axt  und  einem  Krug  zum  Loche,  um  Wasser  zu  schöpfen.  Der 
Wolf  konnte  sich  nicht  losreifsen.  Indessen  afs  der  Fuchs  vergnügt 
seine  Fische  und  lachte.  Die  Frau  erschlug  mit  der  Axt  den  Wolf 
und  schleppte  ihn  nach  Hause.  Also  betrog  der  Fuchs  die  beiden 
Alten  und  den  Wolf.  .... 

Dies  Märchen  beweist  aufs  Neue,  dafs  „Reineke  Fuchs"  über  die 
ganze  Welt  verbreitet  ist.  Das  zweite  und  dritte  Stück  (Originaltext 
a.  a.  O.  S.  17  und  19)  gehört  zu  den  sog.  „Kettenliedern",  wie  solche 
bei  zahlreichen  Völkern  bekannt  sind  (vergl.  J.  V.  Zingerle,  Das 
deutsche  Kinderspiel  im  Mittelalter,  2.  Aufl.  Innsbruck  1873  S.  61  ff.). 
Das  zweite  Stück  lautet  deutsch  also: 

Orea,  qua,  spricht  die  Ente! 
Wohin  gehst  du  Ente? 
Nach  Choramal  geh'  ich. 
Was  machst  du  in  Choramal? 


128  Heinrich  von  Wlislocki. 


Habe  dort  mein  Nestchen. 
Was  hast  du  im  Nestchen? 
Hab'  im  Nest  ein  Eichen. 
Was  hast  du  im  Eichen? 
Hab'  im  Ei  ein  Röfslein. 
Ich  ergrifFs,  besah  es,  — 
Eine  Blässe  hatt'  es,  — 
Und  ich  ritt  ins  Dörflein; 
Bellten  laut  die  Hunde; 
Kamen  hin  die  Maide, 
Die  rotwangigen  Maide; 
Und  ich  küfst'  die  schönste. 
„Sag'  es  keinem  Menschen!** 
Ging  ins  weifse  Häuschen, 
In  dem  Haus  ein  Tischchen, 
Auf  dem  Tisch  ein  Näpfchen, 
In  dem  Napf  ein  Fischchen. 
Um  den  Fisch  zu  fangen. 
Braucht  man  auch  ein  Netz; 
Um  ein  Netz  zu  machen. 
Braucht  man  einen  Schmied; 
Um  den  Schmied  zu  speisen, 
Braucht  man  Kuchen,  Mehl; 
Um  den  Kuchen  zu  backen, 
Braucht  man  eine  Maid; 
Um  die  Maid  zu  lehren. 
Braucht  man  Gottes  Gnad'; 
Um  die  Maid  zu  ermuntern. 
Braucht  man  eine  Gert'; 
Um  die  Gert'  zu  flechten. 
Braucht  man  Silberhacken; 
Um  die  Hacken  zu  schmieden. 
Braucht  man  recht  viel  Silber; 
Um  das  Silber  zu  bringen. 
Braucht  man  starke  Rosse; 
Um  die  Rosse  zu  futtern. 
Braucht  man  Heu  und  Hafer! 

Das  dritte  Stück  lautet; 

Braust  der  Hochwald,  braust  der  Hochwald! 
Warum  braust  er  immerfort? 
„Mufs  alljährlich  Aeste  treiben!"  sagt  er. 

Braust  das  Röhricht,  braust  das  Röhricht! 
Warum  braust  es  immerfort? 

„Mufs  alljährlich  Knoten  treiben!**  sagt  es. 


Tschuvaschisches  zur  vergleichenden  Volkspoesie.  128 

Braust  die  Volkschaft,  braust  die  Volkschaft! 
Wanim  braust  sie  immerfort? 
„Mufs  alljährlich  mich  vermehren!^  sagt  sie. 

Schwarzes  Rofs  gab  mir  mein  Vater. 
Als  ich  dachte:  ich  besteigt  besteig'  es,  — 
Ward's  ein  grofser  Eichenstrunk. 

Weifse  Kuh  gab  mir  mein  Vater. 
Als  ich  dachte:  ja,  ich  melk',  ich  melk'  sie  — 
Ward  sie  grofser  Birkenstrunk. 

Rotes  Lamm  gab  mir  mein  Vater. 
Als  ich  dachte:  ja,  ich  scheer',  ich  scheer'  es,  — 
Ward's  ein  morscher  Tannenstrunk. 

Einen  Gürtel  gab  der  Vater. 
Als  ich  dachte:  ja,  ich  gürte,  gürt'  mich,  — 
Ward  er  rasch  ein  Lindenblatt. 

Schönes  Sammtkleid  gab  der  Vater. 
Als  ich  dacht':  ich  zieh'  es,  ja  ich  zieh's  an,  — 
Ward  es  rasch  ein  Ahornblatt. 

Ofen-Pest. 


-.»*- 


VERMISCHTES. 


-•••- 


Eine  Quelle   zu  Shaksperes   Love's  Labour's   lost. 


Von 
Max  Koch. 


In  Steinhausens  Zeitschrift  für  Kulturgeschichte  hat  Jak.  Caro  vor 
kurzem  höchst  interessante  Vermutungen  über  die  Vorbilder,  die 
Shakspere  für  seine  Komödie  „Love's  Labour's  lost"  vor  Augen 
standen,  aufgestellt  (N.  F.  I,  387 f.).  Er  meint,  man  habe  gerade  für 
dieses  Stück  keine  litterarische  Quelle  finden  können,  „eben  weil  seine 
Quelle  die  Wirklichkeit,  die  angeschaute  Erfahrung,  die  zeitgenössische 
Geschichte  ist".  In  der  Werbung  des  Königs  Ferdinand  von 
Navarra  spiegle  sich  die  erfolglose  Werbung  des  Prinzen  Franz  von 
Anjou  um  die  Königin  Elisabet  wieder.  Ich  will  dieser  ansprechenden  Hy- 
pothese keineswegs  entgegentreten,  sondern  nur  für  die  von  Shakspere 
beliebte  Einkleidung  auf  eine  litterarische  QueUe,  die  freilich  auch 
wieder  auf  ein  geschichtliches  Ereignis  zurückgeht,  aufmerksam  machen. 
Sie  ist  so  naheliegend,  dafs  ihre  bisherige  fast  völlige  Nichtachtung*) 
Wunder  nehmen  mufs. 

Die  französische  Prinzessin  kommt  bekanntlich,  um  das  von  ihrem 
Vater  verpfändete  Aquitanien  einzulösen.  Nun  erzählt  Lord  Bacon  in 
seiner  Geschichte  der  Regierung  König  Heinrichs  VII.:  „It  was  a 
kind  of  preparative  to  a  peace.  Instantly  in  the  neck  of  this,  as  the 
king  (Henry  VII.)  had  laid  it,  came  news  that  Ferdinande  and 
Isabella,  sovereigns  of  Spain,  had  concluded  a  peace  with  king  Charles, 
and  that  Charles  had  restored  unto  them  the  counties  of  Russignon 


*)  Von  der  deutschen  Shaksperelitteratur  erlaubte  ich  dies  selbst  behaupten  zu 
können.  Dafs  auch  in  England  noch  nicht  auf  diesen  Zusammenhang  hingewiesen 
wurde,  hat  mir  Robert  Boyle,  der  mich  durch  seine  Zustimmung  erfreute,  versichert. 
Nun  belehrt  mich  aber  soeben  nachträglich  noch  Caro,  dafs  bereits  Gervinus  in  der 
3.  Aufl.  seines  Shaksperes  (die  mir  allein  zugängliche  2.  enthält  keinen  Vermerk)  auf  das 
Zusammentreffen  hingewiesen  habe,  das  er  selbst  durch  Hunter  kennen  gelernt  habe. 


Eine  Quelle  zu  Shaksperes  Love's  Labour^s  lost.  125 

and  Perpignian,  which  formerly  were  mortgaged  by  John,  king  of 
Arragon,  Ferdinando*s  father,  unto  France  for  three  hundred  thousand 
crowns,  which  debt  was  also  upon  this  peace  by  Charles  clearly 
released";  vgl.  Shakspere  II,   i,  V.  i2^{. 

Selbstverständlich  kann  Shakspere  für  dieses,  seiner  ersten  Pe- 
riode angehörige  Lustspiel  nicht  aus  dem  Geschichtswerke  geschöpft 
haben,  das  Bacon  erst  auf  Verlangen  König  Jakobs  I.  geschrieben 
hat.  Für  die  Gläubigen  des  Baconschwindels  ist  mein  Hinweis  also 
kaum  verwertbar.  Es  würde  aber  die  Aufgabe  sein,  festzustellen,  ob 
die  Shakspere  zugänglichen  Geschichtsquellen  bereits  diese  Notiz 
Bacons  enthalten,  denn  ein  Zusammenhang  zwischen  dieser  geschicht- 
lichen Nachricht  und  der  Auslösung  des  verpfändeten  Aquitanien  im 
Lustspiele  scheint  mir  in  der  Tat  vorhanden  zu  sein.  Mir  selbst  ist 
Holinshed  leider  nicht  zugänglich. 

Breslau. 


Zur  Entstehungszeit  zweier  Faustmonologe. 


Von 
Max  Koch. 


Eine  Anfrage  über  die  Entstehungszeit  des  Monologs  in  „Wald  und 
Höhle",  die  Ferdinand  Cohn  an  mich  richtete,  giebt  mir  die  äufsere 
Veranlassung  zum  Aussprechen  einer  seit  langem  gehegten  und  wieder- 
holt neu  geprüften  Überzeugung.  Auch  Richard  Meyer  hat  in  seiner 
preisgekrönten  Goethebiographie  die  Angabe  von  Düntzer  und  Schröer 
vertreten,  der  zu  Folge  die  Scene  gleichzeitig  mit  der  Hexenküche 
(im  Frühjahre)  1788  im  Garten  der  Villa  Borghese  entstanden  sei. 
Schon  V.  Loeper  hatte  (S,  IX.)  eigens  hervorgehoben,  dafs  nur  die  Ent- 
stehung der  Hexenküche  allein  für  Rom  erweislich  sei.  Der  Monolog 
dagegen  trage  nach  Form  und  Inhalt  ein  Gepräge,  das  ihn  dem  ersten 
Jahre  in  der  Heimat,  der  Zeit  der  Ausarbeitung  des  Tasso  zuweise. 
Bayard  Taylor  fand  hinwiederum  den  ersten  Anstofs  zu  dieser 
Scene  im  sechsten  Buche  von  „Dichtung  und  Wahrheit"  (Hempel  XXI, 
10)  verzeichnet.  Zum  Vergleiche  regt  das  dort  von  Goethe  ent- 
worfene Bild  in  der  Tat  an;  als  Entstehungszeit  für  den  Monolog 
können  diese  Jugendjahre  selbstverständlich  nicht  in  Betracht  kommen. 


126  Max  Koch. 


Fast  ebenso  unmöglich  erscheint  mir  aber  die  Entstehung  dieser  echt 
nordischen  Waldscene  in  Italien.  Zwar  bat  Goethe  auch  einmal  Rufe 
und  Hexen  als  Merkmale  des  Nordens  bezeichnet;  wie  er  jedoch 
trotzdem  an  klassischer  Stätte  zur  Hexenküche  angeregt  wurde,  hat 
er  selbst  erzählt.  Wir  befinden  uns  dabei  in  einem  geschlossenen 
Räume,  dessen  abenteuerliche  Ausstattung  mitsamt  der  alten  Vettel 
und  ihren  Haustieren  wir  uns  ebenso  gut  in  einer  italienischen  wie  in 
einer  niederländischen  oder  thüringischen  Hütte  denken  können.  Der 
Spott  gegen  die  Trinitätslehre  und  das  Lx)tto  zeigen  noch  dazu  von 
unmittelbar  römischen  Eindrücken.  Der  Monolog  fuhrt  uns  ganz 
anders  in  eine  durchaus  nordische  Waldlandschaft.  Ich  weifs  recht 
gut,  wie  leicht  das  Gefühl  hier  irreführt.  Felix  Mendelssohn  be- 
hauptete, bei  Neapel  das  Lokal  gefunden  zu  haben,  das  Goethes 
Gedicht  „Der  Wanderer**  schildert,  und  doch  stand  das  Gedicht  schon 
im  Göttinger  Musenalmanach  für  1774  gedruckt.  Jene  lächerliche 
Mode  vollends,  welche  sich  mit  den  Taschenspieler-  Kunststückchen 
brüstet,  aus  dem  Vorkommen  der  gleichen  Bilder  und  Worte  Ein- 
flüsse und  Entstehungszeit  beweisen  zu  wollen,  kann  niemand  schärfer 
als  ich  selbst  verurteilen.  Trotz  aller  der  zur  Vorsicht  mahnenden 
Bedenken  glaube  ich  den  Monolog,  wenigstens  teilweise,  den  Jahren 
1783/84  zuweisen  zu  müssen,  weil  keine  andere  Zeit  uns  die  Stim- 
mung der  ersten  Monologhälfte,  V.  3217 — 39,  so  völlig  als  Goethes 
eigenste  Stimmung  und  Gemütslage  erkennen  läfst. 

Wald  und  Sturm,  die  stürzende  Riesenfichte  fuhren  uns,  ähnlich 
der  Schilderung  in  der  „Walpurgisnacht"  V.  3441  f.,  die  ausgeprägte 
nordische  Landschaft  vor.  Ich  erinnere  daran,  wie  Viktor  Hehn  in 
seinem  Buche  über  Italien  den  Gegensatz  italienischer  und  schweize- 
rischer Gebirgslandschaft  ausgeführt  hat  Wenn  so  manche  Deutsche 
gerade  in  Italien  mit  sehnsüchtiger  Liebe  an  die  heimatlichen  Wälder 
zurückdenken,  so  wird  doch  niemand  solche  Empfindung  dem  Dichter 
zuschreiben  wollen,  der  sich  glücklich  pries,  den  Nebeln  und  der 
Haft  des  nordischen  Thüringerwaldes  entflohen  zu  sein.  Wenn  er  in 
Italien  und  seinem  dortigen  Naturgenusse  an  ihn  zurückdachte,  so  ge- 
schah es  in  einer  Stimmung,  aus  der  heraus  unmöglich  jene  grofs- 
artige  Waldscenerie,  an  der  wir  den  Erd-  und  Waldgeruch  noch 
empfinden,  geschaffen  werden  konnte.  Ihre  Entstehung  in  Italien 
halte  ich  für  unmöglich,  und  in  die  unzufriedene,  zerrissene  Zeit  un- 
mittelbar nach  der  Rückkehr  möchte  ich  ihre  Entstehung  erst  recht 
nicht  versetzen.  Die  nordische  Natur  schien  dem  aus  dem  formen- 
und  farbenreichen  Süden  Zurückgekehrten  wohl  kaum  zu  solch  dichte- 
rischen Erfassen  anmutend  in  den  Tagen,  da  er  Tassos  Schmerzen 
im  Renaissancegarten  zu  Belriguardo  dichtete.  Versetzen  wir  uns 
dagegen  in  die  Jahre  1783/84,  da  Goethe  von  allen  Höhen  dieser 
Felsen,  die  er  im  Thüringer  Walde  bestieg,  sich  „zurück  nach  der 
Wohnung  meiner  Besten  gesehnt"  hatte  (Briefe  Nr.  1859).  So  wie 
Faust  in  „Wald  und  Höhle"  fühlte  er  sich  selbst  alleins  mit  der 
Natur,  als  er  im  Herbste  1784  auf  der  geognostischen  Harzreise  sich 


Zur  Entstehungszeit  zweier  Faustmonologe.  127 

einsamer  Betrachtung  in  den  Wäldern  überliefs,  „oben  auf  den  Sand- 
brinken  beim  Eingang  einer  Höhle  die  linke  Seite  anstehender  Granit, 
die  rechte  schwarzgraulich  Gestein".  Damals  genofs  er  in  vollen 
Zügen  das  „überirdische  Vergnügen  in  Nacht  und  Tau  auf  den  Ge- 
birgen liegen,  der  Erde  Mark  mit  Ahnungsdrang  durchwühlen".  In 
die  tiefste  Brust  der  Natur  tat  er,  wie  in  den  Busen  eines  Freundes 
einen  Blick,  als  er  am  i8.  Januar  1784  die  Abhandlung  über  den 
Granit,  den  „ältesten,  unerschütterlichsten  Sohn  der  Natur"  diktierte. 
„Man  wird  mir  gerne  zugeben,  dafs  alle  natürlichen  Dinge  in  einem 
gewissen  Zusammenhange  stehen  („meine  Brüder  im  stillen  Busch,  in 
Luft  und  Wasser"),  dafe  der  forschende  Geist  sich  nicht  gerne  von 
etwas  Erreichbarem  ausschliefsen  läfst  („nicht  kalt  staunenden  Be- 
such .  .  .  vergönnest  mir").  Ja  man  gönne  mir,  der  ich  durch  die  Ab- 
wechselungen der  menschlichen  Gesinnungen,  durch  die  schnellen 
Bewegungen  derselben  in  mir  selbst  und  in  andern  manches  gelitten 
habe  und  leide,  die  erhabene  Ruhe  („Kraft  zu  fühlen  und  geniefsen", 
„lindern  der  Betrachtung  strenge  Lust"),  die  jene  einsame  stumme  Nähe 
der  grofsen,  leise  sprechenden  Natur  gewährt,  und  wer  davon  eine 
Ahnung  hat  („Ja  würdest  du  es  ahnen  können"),  folge  mir." 

Wenn  Meyer  die  wahrscheinliche  aber  auch  nicht  positiv  erweis- 
liche Behauptung  Erich  Schmidts  wiederholt,  dafs  zwischen  1776  und 
1786  nichts  am  Faust  geschrieben  worden  sei,  so  nimmt  doch  gerade 
Schmidt  („Goethes  Faust"  3.  Aufl.  S.  LI)  an  der  Uneinheitlichkeit 
unserer  Scene  Anstofs.  Seit  der  Entdeckung  der  Göchhausenschen 
Abschrift  wissen  wir,  dafs  ein  sonst  an  ganz  anderer  Stelle  stehender 
Gefuhlsausbruch  Fausts,  V.  3342 — 3369,  mit  diesem  im  Urfaust  fehlen- 
den Monologe,  mit  dem  er  von  Hause  aus  also  nichts  zu  tun  hatte, 
verbunden  worden  ist.  Aber  auch  der  erste  Teil  des  Monologes  ist 
mit  dem  zweiten  nicht  verzahnt.  Im  Gegenteil  spricht  sich  in  ihm 
eine  vollständige  Befriedigung  aus,  zu  der  eher  unerwartet  die  ein- 
schränkende Antithese  mit  V.  3240  hinzutritt.  Ähnlich  wie  der  Ter- 
zinenmonolog  im  11.  Teile  ist  auch  der  Blankversmonolog  im  L  Teile 
—  beide  heben  sich  durch  eine  in  der  ganzen  Dichtung  sonst  nicht 
wiederkehrende  Form  von  dem  sie  umschliefsenden  Rahmen  ab  — 
selbständig  entstanden. 

Nehmen  wir  die  erste  Hälfte  des  Höhlenmonologes  allein,  so 
können  wir  darin  einen  unmittelbaren  lyrischen  Gefuhlsausdruck  des 
Dichters  finden,  der  in  der  Abhandlung  „über  den  Granit"  über  sein 
Naturerfassen  psychologischen  Aufschlufs  gab.  Nehmen  wir  den 
zweiten  Teil  hinzu,  so  hat  Goethe  Gestalt  und  Lage  seines  Lieblings- 
helden gewählt,  um  wie  so  oft  im  Spiegel  der  Dichtung  eignes  befrie- 
digendes Streben  und  eigene  Herzensunruhe  auszusprechen. 

Ach  so  drückt  mein  Schicksal  mich 
Dafs  ich  nach  dem  unmöglichen  strebe. 
Lieber  Engel,  für  den  ich  nicht  lebe. 
Zwischen  den  Gebirgen  leb  ich  für  dich. 


128  Max  Koch. 


So  hatte  er  einige  Jahre  früher  an  Frau  v.  Stein  geschrieben. 
Jetzt  wieder  zwischen  den  Gebirgen  in  fortgeschrittener  Naturerkenntnis 
lebend  quält  ihn  doch  wie  früher  und  später  das  schwankende  V^er- 
hältnis  zur  Freundin,  ein  wildes  Feuer  nach  jenem  schönen  Bilde. 
Die  eigene  Lage  und  Stimmung  wird  mit  der  nötigen  Veränderung 
auf  Faust  übertragen,  wie  schon  so  manche  wechselnde  Stimmung 
und  Lage  in  diese  weitgedehnte  und  dehnbare  Dichtungsmasse  Auf^ 
nähme  gefunden  hatte  und  noch  finden  sollte.  Die  Frage  nach  dem 
„erhabnen  Geist"  (Erdgeist  oder  Gott)  würde  bei  dieser  Darlegung 
der  Entstehungsgeschichte  wohl  im  Sinne  W.  von  Biedermanns,  des 
trefflichen,  an  Verdienst  und  Ehren  reichen  Goethe-  und  Fauster- 
klärers  entschieden  werden  müssen.  Der  bibelfeste  Dichter  konnte 
auch  für  sich  selbst  die  Erscheinung  des  Herrn  im  Feuer  (II.  Mos.  3,  2) 
als  Gleichnis  anwenden,  wie  er  sie  noch  den  Pfarrer  in  seinem  Epos 
gebrauchen  läfst.  Gerade  die  fromme  Stimmung,  welche  die  erste 
Monologhälfte  durchdringt,  hatte  Goethe  weder  in  Italien  noch  nach 
seiner  Rückkehr  erfüllt.  Sie  war  in  den  Jahren  1 783/84  in  ihm  lebendig. 
Nicht  nur  die  Briefe  an  Frau  v.  Stein,  auch  andere  Briefe  aus  jener 
Zeit  zeigen  die  nah  verwandte  Grundstimmung.  Mit  dem  Spinoza- 
studium eben  jener  Zeit  erscheint  der  Monolog  untrennbar  verbunden. 

Fafst  man  ihn  als  ein  persönlich  Ijrrisches  Bekenntnis,  das  nur 
die  Einkleidung  der  Faustdichtung  entnimmt,  so  wird  auch  das  von 
der  Form  hergenommene  Bedenken  —  Blankverse  vor  der  römischen 
Fassung  der  Iphigenie  —  hinfallig.  Goethe  hat  vor  der  Iphigenie 
kein  ganzes  Drama  in  Blankversen  geschrieben,  wohl  aber  schon  in 
Leipzig  den  fünften  Aufzug  seines  „Nebukadnezar".  Wieland  hatte  1777 
in  seinem  „Geron"  ein  Muster  in  der  epischen  Behandlung  des  Blank- 
verses gegeben,  das  Goethe  so  gut  die  Benutzung  dieser  Form  wie 
die  Oberonstanzen  ihre  Nachahmung  in  den  „Geheimnissen"  nahe 
bringen  konnte,  wenn  es  einer  solchen  Anregung  überhaupt  bedurfte. 
Gerade  aus  der  gesonderten  Entstehung  dieses  Monologs,  der  stilles 
Einspinnen  neuer  Gedankenfaden  („stilles  Fortspinnen  der  Gedanken- 
faden" gesteht  Schmidt  für  jene  Zeit  zu),  nicht  ernstes  Aufnehmen 
der  Fragmente  bedeutet,  wird  die  Ergreifung  des  Blankverses  erklärlich. 
Eine  Stütze  für  meine  ganze  Hypothese,  der  gemäfs  ein  vor  der 
italienischen  Reise  aus  individuellster  Stimmung  entflossener  Monolog 
für  die  Ausgabe  des  Fragmentes  in  die  Faustdichtung  eingereiht  wurde 
(später  wurde  der  ursprünglich  fremde  Bestandteil  an  eine  dem  Dichter 
passender  erscheinende  Stelle  verlegt),  eine  Stütze  für  die  immerhin 
gewagte  Annahme  finde  ich  in  der  Geschichte  des  Terzinenmonologs. 

Freilich  hat  v.  Loeper  aus  sprachlichen  Bedenken  daran  festge- 
halten, dafs  der  Terzinenmonolog  erst  um  1826  geschrieben  worden 
sei,  und  auch  Meyer  erklärt  seine  gleichzeitige  Entstehung  mit  den 
Terzinen  auf  Schillers  Schädel  für  wahrscheinlich.  Ich  habe  im  Gegen- 
teil geglaubt,  dafs  das  sprachliche  Bedenken  jetzt,  da  wir  Goethes 
Helena  von  1800  kennen,  kaum  mehr  in  Betracht  komme.  Ich  schliefse 
mich  völlig  der  von  Hermann  Henkel  in  Schnorrs  Archiv  (VIII,   164) 


Zur  Entstehungszeit  zweier  Faustmonologe.  129 

verfochtenen  Ansicht  an,  dafs  diese  Terzinen  1798  entstanden  seien. 
Goethes  Geständnis,  dafs  er  ohne  die  frischen  Eindrücke  jener  wun- 
dervollen Natur,  wie  sie  ihm  auf  seiner  dritten  Schweizerreise  Aug* 
und  Seele  füllten,  den  Inhalt-  der  Terzinen  gar  nicht  hätte  denken 
können  (v.  Biedermanns  Gesprächsammlung  VI,  134),  erscheint  fast 
wie  eine  Berichtigung  von  Eckermanns  Worten  („aus  der  Erinnerung 
jener  Natureindrücke  des  Vierwaldstätter  Sees  entstanden").  Bringt 
msfi  die  Briefe  an  und  von  Schiller  (21.  und  23.  Februar  1798)  damit 
in  Zusammenhang,  so  wird  die  Ausmünzung  des  auf  der  Reise  ein- 
gesammelten Goldes  für  jene  Zeit  höchst  wahrscheinlich.  Schlegel 
hatte  im  „Prometheus"  nicht  mehr  unvollkommene  Terzinen  mit  Hin- 
weglassung  des  übergreifenden  Mittelreimes  wie  in  seiner  Danteüber- 
tragung, sondern  streng  gebaute  geschrieben.  Goethe  hatte  einstens 
nach  Wielands  Vorgange  sich  mit  Verbesserung  der  Stanzenform  be- 
fafst,  wie  er  etwas  später  Sonette  und  auch  im  Drama  vierfufsige 
Trochäen  nach  dem  Vorbilde  seiner  Jüngern  romantischen  Bewunderer 
baute.  So  mochte  es  ihn  reizen,  auch  die  von  Schlegel  eingeführte 
Form  zu  benutzen  und  dabei  ihre  von  ihm  selbst  und  Schiller  gerügte 
Ruhelosigkeit  und  Einförmigkeit  zu  überwinden.  Vergleicht  man  Schle- 
gels „Prometheus"  und  den  Faustmonolog,  so  tritt  schon  äufserlich 
in  den  Absätzen  dies  Bestreben  Goethes  hervor.  Schlegel  wechselt 
zwischen  männlichen  und  weiblichen  Reimen,  Goethe  verwendet  im 
Monolog  wie  „bei  Betrachtung  von  Schillers  Schädel"  nur  weibliche. 
Dafs  dieser  Terzinenarbeit  im  Tagebuch  1 798  nicht  gedacht  ist,  schliefst 
die  Ansetzung  der  Arbeit  für  jene  Zeit  nicht  aus.  Ich  habe  schon 
einmal  nachgewiesen  (Hochstiftsberichte  X,  477),  dafs  ein  Schweigen 
der  Tagebücher  uns  noch  nicht  berechtigt,  in  jedem  Falle  daraus 
negative  Schlüsse  zu  ziehen.  Der  jetzt  zugängliche  Text  in  den  Tage- 
büchern (II,  148),  wie  er  im  September  1797  ^"  Schaff  hausen  nieder- 
geschrieben wurde,  weicht  von  Eckermanns  Bearbeitung  der  dritten 
Schweizerreise  an  dieser  Stelle  nur  ganz  unbedeutend  ab.  Der  innige 
Zusammenhang  der  Schilderung  im  Tagebuch  mit  jener  in  den  Terzinen 
erscheint  mir  aber  beweiskräftig  dafür,  dafs  kein  Jahrzehnte  langer 
Zwischenraum  beide  trennen  könne.  Die  Grundidee  dagegen,  dafs  ein 
höchster  Augenblick  rasch  vorüber  gehe,  wir  gar  nicht  imstande 
seien  ein  ersehntes  Höchstes  zu  ertragen,  wie  dies  Faust  auch  bei  der 
Erscheinung  des  beschwornen  Erdgeistes  erfahren  hat,  kehrt  bei  Goethe 
in  den  verschiedensten  Zeiten  wieder.  Aufser  an  den  von  Schröer  an- 
geführten Stellen  noch  in  einem  Briefe  vom  25.  Januar  1788,  in  der 
Beschreibung  des  römischen  Karnevals  („Bemerken  wir,  dafs  die  leb- 
haftesten und  höchsten  Vergnügen  wie  die  vorbei  fliegenden  Pferde 
nur  einen  Augenblick  uns  erscheinen,  uns  rühren  und  kaum  eine  Spur 
in  der  Seele  zurücklassen"),  in  den  Divanversen  „Aber  stieg  der  Feuer- 
kreis vollendet",  im  Maskenzug  von  181 8  („Im  lichten  Abglanz  ehren- 
voll zu  wandeln")*). 


*)  wie  Schröer  beim  Regenbogen  V.  4722  auf  Schillers  ^Huldigung  der  KQnste* 
Ztachr.  t  Tgl.  Litt-Getch.    N.  P.  Till.  9 


180  Max  Koch. 


Unbemerkt  ist,  so  viel  ich  weifs,  bis  jetzt  geblieben,  dafs  das 
Gleichnis  selbst  einem  von  Dante  gebrauchten  entspricht.  Schlegel  hatte 
diesen,  den  17.  Gesang  der  Büfsungswelt,  nicht  übersetzt.  Die  ersten  elf 
Verse  „Denk  Leser,  wenn  dich  Nebel  je  umstrickte  Auf  Alpenhöhen** 
malen  ein  ähnliches  Bild  aus  wie  Faust  V.  4686  f. ;  zum  Flammenüber- 
mafs  V.  4708  vgl.  Dante  V.  52: 

Wie  von  der  Sonne  die  den  Blick  beschwert, 
Durch  zu  viel  Licht  ihr  eignes  Bild  bedeckend, 
Ward  von  dem  Glänze  meine  Kraft  verzehrt. 
Da  Streckfufs'  Übersetzung  des  Fegefeuers  1825  erschienen  ist,  könnten 
die  Anhänger  der  späteren  Entstehungszeit  des  Monologes  daraus  eine 
Stütze  fiir  ihre  Ansicht  gestalten;  aber  ebenso  gut  mag  das  Erscheinen 
der  Schlegelschen  Bruchstücke  1794/97  Goethe    bewogen  haben,  den 
ihn    seit    längerer    Zeit    bereits    im    Original    bekannten    italienischen 
Dichter  bei  der  sorgfaltigen  Vorbereitung  zu    seiner  geplanten  neuen 
italienischen  Reise  vorzunehmen,    wenn    man  überhaupt    an  eine  Ent- 
lehnung statt  an  dn  ZusammentreflFen  glauben  will. 

Ein  Monolog  Fausts  nach  den  ironischen  Anträgen  der  Geister 
war  bereits  in  dem  Schema  vorgesehen,  das  die  Weimarer  Ausgabe 
als  „Skizze  der  Urgestalt"  bezeichnet.  Dafs  aber  der  Terzinenmonolog 
von  Anfang  an  als  eine  Rede  Fausts  zur  Welt  gekommen  ist,  halte  ich 
keineswegs  für  zweifellos.  So  wie  er  jetzt  dasteht,  könnte  er  ganz  gut 
Goethes  Gedichten  eingereiht  sein,  ohne  dafs  irgend  jemand  eine  Be- 
ziehung auf  Faust  herausfinden  würde.  Nicht  ein  Vers,  nicht  eine 
Wendung  macht  ihn  zum  besonderen  Eigentum  Fausts.  Gerade  dieser 
Mangel  an  individuellen  Beziehungen,  an  jedem  Hinweise  auf  Fausts 
Erlebnisse  (man  wird  „diese  Nacht"  nicht  etwa  auf  die  Erlebnisse  in 
Gretchens  Kerker,  seit  denen  längere  Zeit  vergangen  ist,  deuten  wollen) 
hat  ja  die  Verwunderung  und  den  Unwillen  mancher  Kritiker  hervor- 
gerufen. Wie  anders  ist  Fausts  Monolog  im  Anfang  des  vierten  Auf- 
zugs sorgfältig  mit  dem  vorausgehenden  verbunden.  Hier  dagegen 
könnte  eine  peinlich  genaue  Kritik  eher  einen  Widerspruch  heraus- 
finden zwischen  der  geforderten  Scenerie,  „anmutige  Gegend"  und 
Fausts  Schilderung  einer  keineswegs  gefallig  anmutigen,  sondern  erhaben 
gewaltigen  Gebirgslandschaft  (Riesengipfel,  Abgrund,  Wassersturze). 
Zwischen  dem  Geistergesang  und  der  Kaiserpfalz  fuhrt  das  spätere 
Schema  an:  „Faust,  Mephistopheles,  Notiz  von  des  Kaisers  Wunsche, 
Streit".  Obwohl  Goethe  die  Ausfüllung  dieser  Lücke  so  nötig  fand, 
dafs  noch  später  Eckermann  mit  eigenen  Versen  den  Rifs  zu  ver- 
decken suchte,  wollte  sich  ihm  die  Stimmung  nicht  finden.  Unter 
diesen  Umständen  würde  sich  die  Benützung  der  ursprünglich  selb- 
ständig gedichteten  Terzinen  als  glückliches  Auskunftsmittel  wenigstens 

verwiesen  hat,  so  bringt  V.  4697  die  Verse  im  ,TelI«  1444  f.  „Bei  diesem  Licht  das 
uns  zuerst  begrüfst"  in  Erinnerung.  Schiller  hatte  den  Naturvorgang  übrigens  schon  in 
einer  weggelassenen  Strophe  der  „Künstler"  („Wie  mit  Glanz  sich  die  Gewölke  malen^) 
zum  Gleichnis  benutzt.  V.  4693  erinnert  an  die  3.  Strophe  von  Goethes  eigener  „Zu- 
eignung*. 


Zur  £ntstehiingszeit  zweier  Faustmonolog^e.  131 

für  den  Monolog  dargeboten  haben.  War  eine  Verzahnung  mit  der 
Fausthandlung  auch  in  der  geschlossenen  Terzinenform  nicht  mehr  an- 
zubringen, so  entsprach  das  Ganze  doch  dem  Gange  der  Faustdich- 
tung. Wenn  der  Gebrauch  von  Trimetern  und  Alexandrinern  in  den 
folgenden  Akten  seine  Begründung  in  sich  trägt,  so  ist  ein  innerer 
Grund,  weshalb  sich  Faust  hier  der  italienischen  Form  bedient,  wohl 
unerfindlich.  Goethe  hatte  eben  ohne  den  Gedanken  solch  späterer 
Einfügung  in  ein  gröfseres  Ganzes  1798  die  frischen  Eindrücke  der 
Schweizerreise  in  der  durch  Schlegel  ihm  nahe  gebrachten  Form 
poetisch  festhalten  wollen.  Dafs  eine  derartige  Einreihung  einer  ur- 
sprünglich selbständigen  Schöpfung  in  einen  weit  gespannten  Dich- 
tungsrahmen bei  Goethe  kein  vereinzelter  Vorgang  wäre,  ist  nicht 
nur  durch  das  (ungefähr  gleichzeitige)  Verfahren  bei  den  „Wanderjahren" 
zu  belegen.  So  wurde  einstmals  der  Monolog  Prometheus  dem  gleich- 
namigen Drama  angehängt,  Proserpina  „freventlich"  dem  Triumph  der 
Empfindsamkeit  eingeschaltet. 

Ich  weifs  selbst  recht  gut,  dafs  ich  mit  dem  allen  keine  zwingenden 
Beweise  erbracht,  sondern  nur  das  Danaidenfafs  der  Hypothesen  be- 
reichert habe.  Aber  meine  Annahme  einer  Entstehung  des  Wald-  und 
Hohlenmonologes  für  1 783/84,  des  Terzinenmonologs  für  1 798  scheint 
mir  immerhin  die  besser  begründete,  und  die  künstlerische  Einheit  der 
Faustdichtung,  wie  Veit  Valentin  sie  in  so  schöner  und  verdienst- 
voller Weise  dargelegt  hat,  wird  auch  durch  die  Annahme  einer 
selbständig  getrennten  Entstehung  der  Monologe  nicht  angeg^fFen. 

Breslau. 


-•••- 


I 


9* 


BESPRECHUNGEN. 


-•••- 


Ein  russisches.  Werk  Ober  die  Anfänge  der  humanistischen  Litteraiur, 

In  den  letzten  Jahren  sind  von  russischen  Gelehrten  mehrere  wert- 
volle Beiträge  zur  Geschichte  der  Frühzeit  des  Humanismus  veröffentlicht 
worden.  Der  Aufsatz  Uspenskijs  über  die  theologische  und  philo- 
sophische Bewegung  in  Byzanz  im  14.  Jahrhundert*)  verbreitet  ein 
neues  Licht  über  die  litterarische  Bedeutung  Barlaams,  durch  welchen 
bekanntlich  Petrarca  zuerst  mit  der  griechischen  Kultur  in  Verbindung 
gebracht  wurde.  Von  Wesselofskijs  Boccaccio  soll  hier  nicht  ausfuhr- 
licher geredet  werden,  da  dies  nach  Form  und  Inhalt  gleich  ausge- 
zeichnete Werk  gewifs  früher  oder  später  durch  eine  Übersetzung  all- 
gemein zugänglich  gemacht  werden  wird.  Dagegen  wird  den  deutschen 
Lesern  von  Interesse  sein,  näheres  über  das  Werk  Korelins  zu  erfahren, 
welches  eine  umfassende  Darstellung  der  gesamten  Geschichte  der 
Frühzeit  des  italienischen  Humanismus  enthält**). 

Korelin  eröffnet  sein  Werk  mit  einer  ausführlichen,  vielleicht  zu 
ausfuhrlichen  Übersicht  über  die  Leistungen  der  bisherigen  Forscher 
auf  diesem  Gebiete  (S.  i — 175).  Sodann  behandelt  er  in  Kapitel  I 
(S.  175 — 417)  Petrarca,  in  Kapitel  II  (S.  417 — 577)  Boccaccio,  um  endlich 
im  dritten  und  wertvollsten  Kapitel  (S.  577—1004)  zu  den  Zeitgenossen, 
Schülern  und  frühesten  Nachfolgern  der  ersten  Humanisten  überzugehen. 
Hier  betrachtet  er  die  Verbreitung  des  Humanismus  über  die  einzelnen 
Städte  und  Landschaften  Italiens,  indem  er  neben  den  grofsen  Centren 
auch  kleinere  und  abgelegenere  Orte  berücksichtigt,  in  denen  die 
neuen  Bildungselemente  sich  mit  der  überlieferten  mittelalterlichen 
Kultur  in  der  mannigfaltigsten  Weise  vermischen.  Eröffnet  wird  diese 
Übersicht  mit  einer  Betrachtung  der  für  Petrarcas  Bestrebungen  empfang- 
lichen Persönlichkeiten  in  Avignon.  In  diesem  ganzen  Abschnitt  sind 
die  seit  der  letzten  Auflage  des  Voigtschen  Werkes  erschienenen 
Quellenpublikationen  sorgfaltig,  wenn  auch  nicht  durchaus  vollständig 
verwertet,  besondern  Wert  erhält  jedoch  die  Darstellung  des  Verfassers 
durch  die  Heranziehung  neuen  handschriftlichen  Materials  aus  den 
Bibliotheken  zu  Rom,  Florenz,  Mailand  und  Paris.  Dies  neue  Material 
ist  namentlich  dem  zweiten  Abschnitt  zu  Gute  gekommen,  wo  neben 
andern  bei  der  Curie  angestellten  Humanisten  auch  Leonardo  Bruni 
besprochen  wird.     Wir  finden  hier  umfangreiche  Auszüge  —  zum  Teil 

*)  ^Srl*  Journal  des  russischen  Ministeriums  für  Volksauf klärung,  Januar  1892. 
**)  Michael  Korelin,  der  ältere  italienische  Humanismus.    Eine  kritische  Untersuchung 
VIII.  u.   1087  SS.;  72  SS.  Anhang  und  Indices.     Moskau  1892  (a.  u.  d.  T.:  Wissenschaft-^ 
liehe  Denkschriften  der  Moskauer  Kaiserlichen  Universität,  Stück  XIV  u.  XV).  j 


Besprechungen.  183 


im  lateinischen  Originaltext  —  aus  dessen  ungedruckten  Schriften  ,de 
institutione  adolescentium*  und  ,nobilitatis  contentio*,  einem  Gesprächs- 
spiel, das  interessante  Berührungspunkte  mit  anderen  Werken  der 
damaligen  Litteratur,  z.  B.  mit  Albertis  Philodoxeos  darbietet.  Ebenso 
sind  Auszüge  mitgeteilt  aus  dem,  ,Isagogicon'  aus  der  Schrift  ,de  mi- 
litia*,  und  aus  den  homerischen  Reden;  der  bei  Vogt  II  193  erwähnte 
Abdruck  dieser  Reden  ist,  wie  es  scheint,  dem  Verfasser  unbekannt 
geblieben.  Unter  den  Florentinern,  die  an  Petrarcas  Bestrebungen 
Teil  nahmen,  wird  natürlich  auch  Simonides-Nelli  besprochen,  wobei 
der  Verfasser  sehr  entschieden  gegen  das  geringschätzige  Urteil 
Körtings  polemisiert.  Doch  sind  die  inzwischen  von  Cochin  heraus- 
gegebenen Briefe  Nellis  an  Petrarca  nur  geeignet,  das  Urteil  Körtings 
zu  bestätigen;  es  zeigt  sich  hier  recht  deutlich,  wie  die  Freundschaft, 
um  mit  Voigt  zu  reden,  für  Petrarca  nur  ein  Apparat  war,  dessen  er 
zum  Aufbau  seines  philosophischen  Trones  bedurfte.  Ein  wertvolle 
Ergänzung  erhält  jedoch  die  Darstellung  Voigts  durch  die  Mit- 
teilungen des  Verfassers  über  Salutati.  Er  bespricht  dessen  unedierte 
Prosaabhandlung  ,de  fato  et  fortunaS  die  von  Voigt  mit  dem  Gedicht 
Salutatos  an  Alegretti  verwechselt  wurde  und  —  mit  Beifügung  aus- 
fuhrlicher Proben,  —  die  Schrift  ,de  seculo  et  religione*,  die  dem 
Comaldulenser  Hieronymus  de  Ucano  gewidmet  und  durchaus  in 
mönchischem  Geiste  gehalten  ist.  So  wird  die  Parabel  von  den  aus- 
gestreuten Saatkörnern,  von  denen  einige  dreifsigfache,  einige  sechzig- 
fache, einige  hundertfaltige  Frucht  tragen,  mit  mittelalterlich-ascetischer 
Nutzanwendung  auf  die  Laien,  die  Weltgeistlichen  und  die  Kloster- 
geistlichen bezogen.  Im  Tractatus  de  Tyranno  hat  Salutato  die  Frage 
vom  Tyrannenmord,  wie  sich  aus  den  Mitteilungen  des  Verfassers 
ergiebt,  in  bejahendem  Sinne  entschieden,  die  Tat  des  Brutus  und 
Cassius  läfst  Salutato  jedoch  unter  Berufung  auf  das  Urteil  Dantes 
nicht  als  einen  berechtigten  Tyrannenmord  gelten. 

Vor  allem  aber  bringt  der  Verfasser  neue  Nachrichten  über 
Giovanni  Convertino  von  Ravenna,  den  Schüler  Petrarcas,  dessen 
Gestalt  lange  Zeit  hindurch  in  Dunkel  gehüllt  war  und  den  die  meisten 
bisherigen  Geschichtsschreiber  der  Renaissance  mit  seinem  Zeit- 
genossen und  Landsmann  Giovanni  Malpaghini  verwechselten.  Erst  in 
neuester  Zeit  wurde  durch  die  Untersuchungen  Sabbadinis  und  Klettes 
etwas  mehr  Klarheit  über  seine  Persönlichkeit  verbreitet.  Auf- 
fallend ist  es  indes,  dafs  dem  Verfasser  die  wichtigen  Mitteilun- 
gen über  Convertinos  Leben  unbekannt  geblieben  sind,  die  Racki 
in  Bd.  74  der  Abhandlungen  der  südslavischen  Akademie  (1885) 
auf  Grund  einer  in  Agram  befindlichen  Briefsammlung*)  gegeben 
hat,  Korelin  hätte  daraus  seine  Darstellung  in  mehreren  wichtigen 
Punkten  ergänzen  können,  namentlich  auch  in  Bezug  auf  Giovannis 
Aufenthalt  in  Ragusa,  wohin  er  nach  einem  von  Raöki  veröffentlichten 
Aktenstück  i.  J.  1384  als  städtischer  Notarius  berufen  wurde.  Aus 
Giovannis  Geschichte    von  Ragusa  bringt  K.  zwei  Stücke  in  extenso 

*)  Eine  Besprechung  der  in  dieser  Abhandlung  abgedruckten  Stellen  aus  Con- 
vertinos Briefen  gab  Lehnerdt  im  Programm  des  Kneiphöfischen  Stadtgymnasiums  zu 
Königsberg  1893. 


Id4  Besprechungen. 


zum  Abdruck,  eines  über  die  Stadtverfassung,  eines  über  Francesco 
Carrara.  Noch  interessanter  sind  die  Mitteilungen  aus  anderen  un- 
gedruckten Werken  Giovannis.  So  aus  der  ,Dragmatologia  de  eligibüi 
vitae  genereS  einem  Dialog  zwischen  einem  Venetianer  und  einem 
Paduaner,  hauptsächlich  politischen  Inhalts,  in  welchem  der  Vorzug 
der  Monarchie  vor  der  Republik  dargetan  werden  soll.  Ferner  aus  dem 
Liber  memorandarum  rerum,  einer  Nachahmung  des  gleichnamigen 
Petrarcaschen  Werkes,  es  ist  vor  allem  dadurch  wichtig,  dafs  der  Ver- 
fasser als  Beispiele  fiir  die  verschiedenen  Tugenden  und  Laster  Be- 
gebenheiten aus  der  nächsten  Vergangenheit  erzählt.  Für  deutsche  Leser 
ist  vor  allem  eine  Geschichte  von  Interesse,  die  Convertino  —  vermut- 
lich auf  Grund  einer  Erzählung  Petrarcas  —  von  dem  Bischof  Johann 
Ocko  von  Olmütz,  einem  der  Gönner  des  Humanismus  in  der  Um- 
gebung Kaiser  Karls  IV.  berichtet.  Ich  lasse  die  Stelle  wörtlich 
folgen:  Is,  cum  vocem  latinum  [lies:  latinam]  penitus  ignoraret,  accepta 
commediarum  Dantis  praedicatione,  quantus  videlicet  in  volumine  tum 
poeticae,  tum  historiarum,  tum  denique  omnis  eloquii  ac  divinarum 
humanarumque  thesaurus  scientiarum  conderetur,  naturam  vicit,  im- 
peravit  ingenio,  os  linguamque  cohercuit,  ut  sermone  quamquam 
thusco  liber  existat,  voces  nihilominus  italas  proferre,  intelligere, 
sensum  explicare,  memorare  contenta  studii  ardore  condisceret  —  prodi- 
giosus  labor  hominis  inauditaque  prorsus  industria,  qui  extra  lectionem 
Dantis,  omnis  penitus  expers  idiomatis  latii  versus  tamen  auctoris  in- 
violata  latini  vulgaris  integritate  exprimeret  significatumque  verborum  ore 
germanico  inofFensa  veritate  historiarum  audientibus  aperiret,  praebuit 
rarum  stupendumque  miraculum,  cum  alia  [lies:  alias]  latine  verbum 
nuUum  exprimere  nosset,  in  poetae  carminibus  latinum  germane  facile 
interpretari  didicisse.  Wir  hätten  also  hier  das  erste  Zeugnis  für  das 
Studium  Dantes  diesseits  der  Alpen.  In  seiner  Geschichte  des  Padua- 
nischen  Herrschergeschlechts  der  Carrara  weifs  Convertino  allerlei 
fabelhafte  Geschichten  vom  Ursprung  dieses  Geschlechts  zu  erzählen, 
dessen  Stammvater  Landolfo  die  Kaiserstochter  Elisabet  entfuhrt 
haben  soll.  Merkwürdig  sind  in  dieser  Schrift  die  patriotischen 
Klagen  Convertinos  über  die  Zerrissenheit  seines  Vaterlandes,  dem 
er  wenigstens  den  Grad  von  Einheit  wünscht,  dessen  sich  Deutsch- 
land erfreue.  Im  Gespräch  zwischen  der  Spinne  und  dem  Podagra 
behandelt  Convertino  einen  weit  verbreiteten  Fabelstoff;  auch  erzählt 
er  hier,  dafs  er  ursprünglich  die  Absicht  hatte,  Mediziner  zu  werden 
und  dann  erst  den  Beruf  eines  Poeten  und  Paedagogulus  ergriff. 
Über  alle  diese  Schriften  berichtet  Korelin  nach  der  Pariser  Hand- 
schrift 6494,  nur  fiir  die  Geschichte  des  Hauses  Carrara  ist  der  Am- 
brosianus 93  zu  Grunde  gelegt. 

Wie  man  sieht,  ist  das  Buch  reich  an  neuen  Mitteilungen  und 
neuen  Beobachtungen.  Man  könnte  indes  daran  aussetzen,  dafs  der 
Verfasser  die  mit  dem  Humanismus  verwandten  Bestrebungen  in  der 
Zeit  unmittelbar  vor  Petrarca  zu  wenig  berücksichtigt.  Bei  der  An- 
ordnung des  Stoffes  treten  infolge  der  einseitigen  Hervorkehning 
des    lokalen  Prinzips    allerdings    manche  Tatsachen  in   eine  neue  Be- 


Besprechungen.  135 


leuchtung,  andere  kommen  aber  nicht  gebührend  zur  Geltung.  In 
der  umsichtigen  und  gleichmäfsigen  Verwertung  aller  mafsgebenden 
Gesichtspunkte  steht  Voigt  unerreicht  da,  dem  der  Verfasser  in  seiner 
litterarischen  Übersicht  nicht  vollkommen  gerecht  wird. 

Krakau.  Wilhelm  Creizenach. 


-••• 


Gerntan  Classics  edited  wüh  engltsh  notes  by  C.  A.  BUCHHEIM, 
Phtl.  Doc,  K  C,  P.  vol.  XI  Halnts  Griseldis.  Oxford,  atihe 
Clarendon  Press  18^4.     LV,  1^4  ^'  ^^'  <^- 

„Wer  den  Dichter  will  verstehen 
Mufs  in  Dichters  Lande  gehen" 

ist  ein  sehr  guter,  beherzigenswerter  Rat,  läfst  sich  aber  nicht  immer 
und  nicht  leicht  befolgen.  Dem  Einen  fehlt  es  an  Zeit,  dem  Andern 
an  Geld,  um  in  das  Land  des  Dichters  zu  gehen,  und  wer  beides  hat, 
dem  fehlt  mitunter  die  Kenntnis  von  dessen  Sprache.  Und  dafs  diese 
Kenntnis  allein  nicht  genügt,  das  sagen  ja  die  Verse  unseres  grofsen 
Dichters.  Jedenfalls  wird  sich  der,  welcher  seinem  Volke  die  Kenntnis 
eines  fremden  grofsen  Dichters  durch  Übersetzungen  vermittelt,  einiges 
Verdienst  erwerben  —  jederzeit  um  sein  Volk,  mitunter  auch  um  den 
Dichter.  Aber  nicht  ganz  mit  Unrecht  sagen  die  Italiener:  traduttore 
—  txaditore.  Das  Beste  und  Individuellste  des  Dichters  geht  oft  auf 
diesem  Wege  verloren,  und  das  Gehen  in  Dichters  Land  ersetzt  das 
Übersetzen  schon  gar  nicht. 

Bessere  und  gründlichere  Kenntnis  des  Dichters  in  der  Fremde  ver- 
mittelt Derjenige,  der  seine  Werke  in  der  Originalsprache  dem  fremden 
Volke  zugänglich  macht,  der  sie  mit  einem  Apparate  ausrüstet,  der  es 
dem  Fremden  ermöglicht  auch  bei  nur  geringer  Kenntnis  der  Original- 
sprache ein  Werk  der  Dichtkunst  zu  geniefsen  und  gründlich  zu  ver- 
stehen. Ein  solcher  rüstiger,  alle  Anerkennung  verdienender  Ver- 
mittler des  geistigen  Verkehrs  zweier  hochcivilisierter  stammverwandter 
Völker  ist  Professor  C.  A.  Buchheim,  ein  in  London  lebender  Deutscher, 
dessen  Ausgaben  deutscher  Klassiker  mit  Einleitungen,  sprachlichen 
und  sachlichen  Erklärungen  in  englischer  Sprache  den  Engländern 
die  genufsreiche  Lektüre  der  Meisterwerke  unserer  Dichter  im  Original 
erleichtern.  So  hat  er  Werke  von  Lessing,  Goethe,  Schiller  und  Heine 
herausgegeben  und  in  seinen  Einleitungen  auch  das  Gebiet  der  ver- 
gleichenden Litteraturgeschichte  betreten,  a 

Besonders  ist  dies  bei  der  jetzt  erschienenen  Griseldis  von 
Friedrich  Halm  (Freiherr  von  Münch-Bellinghausen)  geschehen,  deren 
seit  Jahrhunderten  umlaufende  zahlreiche  Versionen  eine  vergleichende 
Untersuchung  gewissermafsen  aufdrängen. 

Aufser  einer  recht  guten  kurzen  Biographie  des  Dichters*)  schickt 

'^)  Die  Jahreszahl    1855   auf  Seite  XV  ist   ein  Druckfehler;   es  soll    1835  heifsen. 


136  Besprechungen. 


Buchheim  seiner  Ausgabe  eine  Abhandlung  uhhr  die  Legende  von 
Griseldis  und  ihre  litterarische  Bearbeitung  sowie  eine  kritische  Analyse 
des  Dramas  voran  und  läfst  auf  ^4  Seiten  sprachliche  Erläuterungen 
folgen. 

Für  den  litterargeschichtlichen  Teil  hat  er,  wie  er  angiebt,  die 
Arbeiten  von  Köhler,  Westenholz  und  dem  Schreiber  dieser  Zeilen 
benützt,  aber  auch  manches  aus  eigener  Forschung  hinzugegeben. 
Doch  scheint  ihm  leider  die  in  diesen  Blättern  (Neue  Folge  II.  11 1  — 114) 
enthaltene  gründliche  Recension  der  Westenholzschen  Schrift  durch 
Freiherrn  von  Biedermann  entgangen  zu  sein.  Auch  wäre  zu  unter- 
suchen gewesen,  ob  Halm  nicht  aufser  der  bekannten  Griseldis-Novelle 
Boccaccios  auch  die  von  Bernabö  da  Genova  (Decam.  II.  9)  benutzt 
hat.  Wie  der  Genuese  ergeht  sich  Percival  (Akt  I.  3)  in  ungemessenem 
Lob  seines  Weibes  und  läfst  sich  dann  zur  gefährlichen,  sündigen 
Wette  fortreifsen,  im  Vertrauen  auf  die  grenzenlose  Geduld  und 
Demut  der  Gattin,  gerade  wie  Bernabö  im  Vertrauen  auf  ihre  uner- 
schütterliche Treue  die  Wette  eingeht.  Auch  die  Leiden  der  ver- 
stofsenen  Frau  erinnern  ein  wenig  an  die  der  Griseldis. 

Und  da  von  der  Treue  und  Liebe  verstofsener  Frauen  die  Rede 
ist,  mag  hier  auch  eine  Erzählung  aus  dem  „Midrasch"  (mittelalter- 
licher, viele  Legenden  enthaltender  hebräischer  Kommentar  zum  Hohen- 
liede)  erwähnt  werden:  Ein  Mann  verstofst  seine  Frau,  gestattet  ihr 
aber  das  Kostbarste  aus  seinem  Hause  mitzunehmen.  Nachdem  er 
eingeschlafen  läfst  sie  ihn  durch  ihre  Dienerinnen  in  das  Haus  ihres 
Vaters  tragen.  Als  er  erwacht  und  „wo  bin  ich?"  fragt,  antwortet 
die  Frau:  „Im  Hause  meines  Vaters;  du  hast  mir  ja  gestattet  das  Kost- 
barste aus  deinem  Hause  mitzunehmen  und  ich  habe  in  der  Welt 
nichts  Kostbareres  als  dich".  Die  beiden  gingen  hierauf  zum  Rabbi 
Simon  ben  Jochai,  der  für  sie  zu  Gott  betete.  Sie  versöhnten  sich 
und  ihre  bis  dahin  unfruchtbare  Ehe  ward  mit  Kindern  gesegnet.  Fast 
wörtlich  finden  wir  diese  an  die  Weiber  von  Weinsberg  erinnernde 
Anekdote  in  der  russischen  Erzählung  von  „Semiletka"  (W.  R.  S.  Ral- 
ston Russian  folk-tales,  London  1873  S.  31)  und  in  der  damit  ver- 
wandten ungarischen  „Az  aranyeke"  (Ethnologische  Mitteilungen  aus 
Ungarn,  Budapest  1 889  I.  Heft  3  S.  365).  In  der  ungarischen  und 
russischen  Erzählung  schläft  der  Mann  nicht  von  selbst  ein,  sondern 
wird  von  der  Frau  trunken  gemacht,  ebenso  wie  in  dem  deutschen 
Märchen  ähnlichen  Inhalts  („Die  kluge  Bauerntochter",  bei  Grimm  K. 
und  H.  M.  No.  94  und  IIL  1 70).  In  diesen  drei  Versionen  ist  es,  wie 
in  der  Griseldis,  eine  Bauerntochter,  die  von  einem  sehr  vornehmen 
Manne  (König  in  der  deutschen  und  ungarischen,  Wojewode  in  der 
russischen)  geheiratet  wird. 

In  der  biographischen  Skizze  Halms  erwähnt  Buchheim  auch  der 
oft  citierten,  wie  er  sagt,  beinahe  zum  Volkslied  gewordenen  Definition 
der  Liebe  im  „Sohn  der  Wildnis". 

„Zwei  Seelen  und  ein  Gedanke, 
Zwei  Herzen  und  ein  Schlag". 


Besprechungen.  187 


„Wer  hätte  über  diese  Verse  nicht  schon  gelächelt?"  fragt  der 
bekannte  Kritiker  Ludwig  Speidel,  giebt  aber  zu,  dafs  sie  auf  der 
Bühne  doch  noch  immer  ihre  frische  Wirkung  tun.  Ich  will  über  den 
poetischen  Wert  dieser  Verse  und  den  Eindruck,  den  sie  machen,  nicht 
streiten,  kann  aber  in  der  Zeitschrift  für  vergleichende  Litteraturge- 
schichte  die  Bemerkung  nicht  unterlassen,  dafs  der  darin  ausgedrückte 
Gedanke  viel  älter  als  Halm  ist.    In  Guarinis  Pastor  fido  (I.  5)  heifst  es: 

„  .  .  .  ed  in  due  petti 
Stringer  un  core,  en  due  voleri  un  alma" 

und  in  Tassos  Aminta  (Intermedio  II): 

„Per  cui  regge  due  corpi  un  core,  un'  alma**. 

Und  lange  vorher  hatte  schon  Aristoteles  die  Freundschaft  defi- 
niert als  Mta  ipüXTj  860  awfiaatu  kvotxooaa,  (Bei  Diogenes  Laertius  V. 
cap.  I  §  11). 

Halm  hat  nur  statt  der  zwei  Körper  zwei  Seelen  gesetzt,  aus  den 
zwei  Busen  mit  einem  Herzen,  zwei  Herzen  mit  einem  Schlag  gemacht. 

Ich  habe  mit  dieser  Abschweifung  den  der  Besprechung  eines 
Werkchens  von  geringem  Umfange  gebührenden  Raum  schon  über- 
schritten und  nehme  daher  von  dem  kleinen  elegant  ausgestatteten 
Büchlein  Abschied,  mit  dem  Wunsche  Herr  Buchheim  möge  sein  ver- 
dienstvolles Unternehmen  eifrig  fortfuhren,  den  Engländern  zur  Freude, 
den  deutschen  Dichtern  zur  Ehre. 

Wien.  Marcus  Landau. 


-••»- 


FÜRST,  RUDOLF:  Atigusi  Gotüieb  Meißner,  eine  Darstellung  seines 
Lebens  und  seiner  Schriften  mit  Qtiellenuntersuchungen.  Stutt- 
gart, Goschen,  18^4.    XV,  j^ö  S.  <J*. 

Die  litterargeschichtliche  Betrachtung  mufs,  wenn  sie  methodisch 
richtig  handeln  will,  ihr  Augenmerk  wie  auf  die  grofsen  unvergäng- 
lichen Sterne  am  litterarischen  Himmel,  so  auch  auf  die  Grofsen  dritter 
und  vierter  Ordnung  richten,  deren  Wirkung  und  Schätzung,  weil  sie 
mehr  in  die  Breite  ging,  uns  litterarische  Strömungen  und  die  Ge- 
schichte des  litterarischen  Geschmackes  weit  besser  zu  veranschaulichen 
imstande  sind.  ^  Zu  hüten  hat  sich  der  Forscher  auf  diesen  Gebieten 
vor  allem  vor  Überschätzung  seines  Gegenstandes  und  vor  zu  ausge- 
dehnter Mitteilung  all  der  kleinen  und  kleinlichen  Untersuchungen,  die 
er  zur  Gewinnung  seiner  Ergebnisse  hatte  anstellen  müssen.  Zwei 
Wege  sind  bei  solchen  Arbeiten  möglich:  entweder  der  bedeutendste 
Ertrag  einer  solchen  eingehenden  Beschäftigung  mit  einem  derartigen 
Schriftsteller  wird  in  Form  eines  kurzen  anregenden  Essays  vorgelegt, 
wofür   wir   vorzügliche    Muster  haben,   oder  der  Autor  erscheint  mit 


138  Besprechungen. 


dem  ganzen  schweren  Rüstzeug  seiner  Einzeluntersuchungen  und  ver- 
langt von  uns  nicht,  aafs  wir  den  Ertrag  seiner  Bemühungen  in  an- 
genehmer Form  als  dauernden  Besitz  in  uns  aufnehmen,  sondern  dafs 
wir  ihn  auf  seinem  viel  verschlungenen  Wege  begleiten,  gesetzt  auch 
derselbe  führe  durch  recht  öde  Strecken,  wo  nichts  uns  für  die  auf- 
gewandte Mühe  entschädigt.  Ich  möchte  prinzipiell  jene  erste  essay- 
istische Behandlungsart  solcher  Dinge  als  die  empfehlenswertere  und 
unter  allen  Umständen  vorzuziehende  bezeichnen;  der  Verfasser  der 
vorliegenden  Erstlingsschrift,  ein  junger  Litterarhistoriker  aus  Sauers 
Schule,  hat  die  zweite  vorgezogen.  Seine  Arbeit  ist,  von  diesem 
prinzipiellen  Bedenken  abgesehen,  eindringlich,  fleifsig  und  in  jeder 
Rücksicht  tüchtig. 

August  Gottlieb  Meifsners  vielgelesene  Schriften  haben  vor  einem 
höheren  Urteil  auch  schon  seiner  Zeit  die  Probe  nicht  bestehen  können: 
die  Xeniendichter  fielen  über  ihn  her,  Tieck  ironisierte  ihn  als  Mühl- 
knecht im  Zerbino;  ein  so  feiner  Stilist  wie  Georg  Forster  nannte  ihn 
in  einer  Reihe  mit  den  „Schmierern"  Campe,  Salzmann,  Becker  (Brief- 
wechsel I,  849).  Wenn  man  eins  der  kleinen  Bändchen  zur  Hand 
nimmt,  die  so  viele  joHs  riens  enthalten,  kann  man  das  wohl  ver- 
stehen. Um  so  mehr  müssen  wir  Fürst  dankbar  sein,  dafs  er  uns 
eine  genaue  Darstellung  seines  I^ebens  und  seiner  Schriften  gegeben 
hat,  zu  der  er  das  gesamte  Material  durchgearbeitet  hat.  Auf  die 
Geschichte  des  Lebens,  das  nach  beendigter  Universitätszeit  in  drei 
Etappen  (Dresden,  Prag,  Fulda)  verläuft,  folgt  eine  ansprechende 
persönliche  und  litterarische  Charakteristik;  dann  werden  die  Schriften 
Meifsners  (Romane  und  Biographien,  kleine  Prosaerzählungen,  Dra- 
matisches, Fabeln,  Gedichte)  einzeln  und  mit  Sorgfalt  besprochen; 
den  Schlufs  bÜdet  ein  Abschnitt  über  Meifsners  Sprache  und  An- 
merkungen, welche  Nachweise  und  Exkurse  enthalten.  Meifsner  er- 
scheint im  ganzen  als  ein  Schriftsteller,  „der  mit  Musäus  und  Müller 
aus  Itzehoe  in  die  Nicolaischen  Kreise  gehört,  auf  den  aber  eine  Reihe 
von  Einflüssen,  wie  die  der  Stürmer  und  Orig^nalgenies,  der  Göttinger 
und  Wielands  hervorragend  eingewirkt  haben"  (S.  98).  Alle  seine 
Produktionen  sind  nach  Quellen  gearbeitet,  mit  deren  Feststellung 
sich  Fürst  besonders  eingehend  beschäftigt;  sehr  treffend  sagt  er 
einmal:  „in  der  Vermittlung  der  Quellen  liegt  der  Hauptwert  der 
Meifsnerschen  Poesie"  (S.  282).  Besonders  möchte  ich  hier  hinweisen 
auf  die  Quellenuntersuchungen,  die  Meifsners  Verhältnis  zu  den  Er- 
zählern Amaud  und  St.  Florian  sowie  zu  Destouches  und  Moliere 
klarlegen.  Fürst  zeigt  fiir  solche  vergleichend-litterarhistorische  Auf- 
gaben besonderes  Geschick  und  man  darf  hoffen,  dafs  er  diesem  Ge- 
biete von  Problemen  auch  weiterhin  einen  Teil  seiner  Kraft  widmen 
möchte.  Zu  Ausstellungen  bieten  seine  diesbezüglichen  Kapitel  nirgends 
Veranlassung.  Störend  sind  manche  sehr  auffällige  Provinzialismen 
in  der  Sprache  des  Verfassers. 

Ein  paar  Einzelbemerkungen  seien  mir  noch  gestattet.  Seite  34. 
Über  Meifsners  Beziehungen  zu  den  Dresdner  Bibliothekaren  Canzler 
und  Dasdorf  berichtet    ausfuhrlich  Georg  Forster  in  einem  Briefe  an 


Besprechungen.  139 


seinen  Schwiegervater  Heyne  vom  i8.  Juli  1784  (Archiv  für  neuere 
Sprachen  91,  158).  Ist  der  in  Forsters  Briefen  an  Soemmerring  S.  37 
erwähnte  Meifsner  unser  Dichter?  —  Seite  48.  50.  73.  Über  die 
Prager  Universität  und  die  damaligen  Professoren,  besonders  Ungar, 
Royko,  Seibt,  ist  zu  vergleichen  Forsters  Briefwechsel  i,  406.  411.  — 
Seite  214  konnte  bei  Gelegenheit  von  Meifsners  Sophonisbe  auf  Gustav 
Freytags  schöne  Besprechung  dieses  Stoffes  verwiesen  werden  (Ge- 
sammelte Aufsätze  2,  285)  und  auf  Zeitschrift,  N.  F.  I,  471.  — 
Seite  311.  Bei  Wendungen  wie  „in  Strom"  liegt  nicht  Auslassung 
des  Artikels  vor,  sondern  dialektische  Zusammenziehung  (in  aus  in'n). 
—  Seite  318.  319.  Nicht  fehlerhaft,  wie  Fürst  falschlich  meint,  ist  der 
schwache  Plursd  „Kieseln"  und  „schweigen"  im  Sinne  von  „zum  Schweigen 
bringen":  jener  kommt  dialektisch  vor;  dieses  fand  ich  bei  Forster, 
Schlegel  und  andern.  —  Der  Sekretär  des  Königs  Gustaf  von  Schweden 
war  der  Dichter  Adlerbeeth  (Seite  1 7  und  348  steht  falschlich  Adlerbert) ; 
eine  bekannte  Schrift  Hamanns  wird  Seite  309  als  „Kreuzzüge  der 
Philosophie"  citiert. 

Weimar.  Albert  Leitzmann. 


C  G.  BÜTITNER  (f):  Lieder  und  Geschichten  der  Suaheli  Übersetzt 
und  eingeleitet  XVI,  202  S.  4  M,  —  Anthologie  aus  der  Sua- 
heHlitteratur  (Gedichte  und  Geschichten  der  Suaheli),  Gesammelt 
und  iibersetzt.  188  und  202  S,  <J*.  18  M.  Berlin,  Verlag  von 
Emil  Felber^  18^4. 

Dafs  die  gewöhnlichen  Vorstellungen  oftmals  den  Tatsachen  gar 
wenig  entsprechen,  zeigt  sich  ganz  besonders  bei  afrikanischen  Dingen. 
Für  die  Einbildung  ist  Afrika  ein  Land  in  dem  Milch  und  Honig  fliefst, 
das  auch  ohne  Säen  eine  reiche  Ernte  bietet.  Dazu  kommt  dann  der 
Glaube,  dafs  Neger  wenig  besser  sind  als  dem  Untergang  bestimmtes 
Vieh,  eine  von  der  Wahrheit  weit  abirrende  Meinung.  Zu  diesen  Vor- 
stellungen gehört  auch  die,  dafs  die  Eingebornen  Ostafrikas  keine 
eigene  Litteratur  besitzen.  Wie  wenig  dieser  Glaube  zutrifft,  zeigen 
die  beiden  vorliegenden  Bände. 

Immer  wieder  und  wieder  geschieht  es,  dafs  ein  Reisender,  der 
sich  einige  Monate  in  Afrika  herumgetrieben  hat,  nach  seiner  Heim- 
kehr ein  Buch  schreibt,  indem  er  sich  für  ganz  befähigt  hält  ein  ver- 
allgemeinerndes Urteil  zu  fallen  über  Gewohnheiten  und  Sitten,  Glauben 
und  Religionslosigkeit  von  Völkern,  von  deren  Sprache  er  nichts  ver- 
steht, auf  die  er  wie  auf  eine  untergeordnete,  kaum  menschliche  Herde 
herabgesehen  hat.  Dem  gegenüber  gewährt  es  eine  wahre  Erquickung, 
auf  Arbeiten  wie  die  des  (inzwischen  leider  verstorbenen)  Dr.  Büttner 
zu  stofsen,    die    wohl    für    die    grofse  Mehrzahl  der  erstaunten  Leser 


140  Besprechungen. 


als  neue  Tatsache  den  Beweis  erbringen,  dafs  die  Afrikaner  Gemüt 
und  religiöse  Anschauungen  besitzen,  dafs  sie  in  theosophischen  Be- 
strebungen gar  nicht  so  weit  hinter  andern  orientalischen  Stämmen 
zurückbleiben.  Es  ist  nachgerade  eine  selbstverständliche  Wahrheit 
zu  behaupten,  dafs  wir  die  Afrikaner  nicht  civilisieren  können,  ehe 
wir  nicht  einen  Einblick  in  ihre  geistige  Eigenart  gewonnen  haben. 
Bücher  wie  die  beiden  vorliegenden  sind  ein  grofses  wertvolles  Hilfs- 
mittel für  die  Reisenden  und  Forscher*),  die  Missionäre,  ja  auch  selbst 
für  die  Politiker.  Ihnen  allen  empfehlen  wir  diese  Bände  nicht  blofs 
als  interessante  Unterhaltung,  sondern  zum  sorgsamen  Studium,  denn 
aus  ihnen  können  sie  mehr  lernen,  als  aus  den  meisten  Reiseberichten, 
von  denen  einer  nach  dem  andern  jetzt  den  Büchermarkt  füllt. 

Büttner,  der  als  Lehrer  für  afrikanische  Sprachen  am  orientalischen 
Seminar  in  Berlin  wirkte,  zeigte  in  seinem  Bestreben,  unverfälschte  Bei- 
spiele der  Suahelilitteratur  zu  gewinnen,  vorzügliche  Begabung;  er 
war  berechtigt,  denen  Vorwürfe  zu  machen,  welche  alles  nur  durch 
europäische  Brillen  sahen.  Gewifs  haben  arabische  Einflüsse  viele 
einheimisch-afrikanische  Vorstellungen  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
beeinflufst  und  gefärbt;  aber  Büttner  hat  auch  die  unberührten  Ansichten, 
Gefühle,  Gedanken  der  Eingebomen  selbst  zur  Geltung  gebracht.  Welche 
Tiefe  des  Gedankens  und  Stärke  der  religiösen  Empfindung  durch- 
flutet „das  Lied  von  der  Barmherzigkeit".  Der  vollkommenste  Glaube, 
Resignation  und  feste  Zuversicht  auf  ein  künftiges  Leben  kommen  da 
zum  Ausdruck.  Höchst  merkwürdig  sind  die  Paragraphen  112,  141, 
175/6,  242.  Die  Vorstellung  von  Schutzengeln  tritt  in  §.  230  plötzlich 
hervor.  Die  Stellung  des  Weibes  ist  treffend  gekennzeichnet  mit: 
Unterwerfung  und  Hingebung  (§.  117— 120),  und  der  gleiche  Grund- 
ton  ist  in  den  „Sitten  der  Sansibarleute"  erkennbar.  Liest  man  das 
an  schönen  Einzelheiten  überreiche  „Lied  von  der  Himmelfahrt  Mu- 
hammeds",  so  möchte  man  sich  fast  erstaunt  fragen,  ob  Dante  damit 
bekannt  gewesen  sei.  §.  5,  42,  83 — 89  bringen  uns  biblische  Ge- 
schichten lebhaft  in  Erinnerung.  Die  ruhige  Zuversicht  in  „der  An- 
fang des  Wiedersehens  am  Tage  nach  der  Auferstehung"  (§.  75)  ist 
eigener  Beachtung  wert,  und  die  uralte  Frage,  „wo  wird  man  sich 
zusammen  finden,  sage  wo  ist  es?"  zeigt,  dafs  in  Ostafrika  Fragen 
den  Mensch  bewegen,  an  deren  Lösung  auch  das  Gehirn  der  euro- 
päischen Geistesriesen  sich  vergeblich  abquälte. 

Wer  kann  ohne  Teilnahme  oder  ohne  reiche  Belehrung  über 
afrikanischen  Charakter  die  Geschichte  Amurs  bin  Nasur  und  seiner 
Reise  nach  Berlin  lesen?  Wie  vereinen  sich  da  Scharfsinn  und  ungetrübte 
Beobachtung.  Referent  vermag  dies  zu  beurteilen  und  zu  schätzen, 
da  er  die  Wagandas,   die  nach  London   gekommen  waren,    nicht  nur 


*)  Wir  dürfen  wohl  daran  erinnern,  dafs  der  geehrte  Verfasser  dieses  Referats, 
Dr.  Felkin,  als  einer  der  ersten  Europäer  mehrere  Jahre  am  Hofe  des  Königs  von  Uganda 
weilte;  vgl.  Wilson  und  Felkin  ^Uganda  und  der  ägyptische  Sudan*,  Stuttgart  1883. 
In  der  Zeitschrift  für  vergleichende  Litteraturgeschichte  I,  303  und  N.  F.  I,  443  hat 
Dr  Felkin  aus  seinen  an  Ort  und  Stelle  aufgezeichneten  Sammlungen  „Fabeln,  Sagen 
und  Märchen  aus  dem  Innern  Afrikas**  mitgeteilt.  (Anm,  d.  Gbers.) 


Besprechungen.  141 


gesehen  hat,  sondern  auch  Beobachtungen  anstellte  über  die  Art  und 
Weise,  in  der  sie  sich  über  alle  ungewohnten  Dinge  freuten  und  doch 
bei  all  ihrer  Verwunderung  eine  ernsthafte  Haltung  wahrten,  so  dafs, 
wer  sie  nicht  kannte,  glauben  mufste,  dafs  nichts  auf  sie  Eindruck 
mache.  Büttner  hat  ganz  Recht,  wenn  er  Amurs  bin  Nasur  Geschichte 
als  besonders  wertvolles  Vorbild  für  Reisende  empfiehlt,  aus  dem  sie 
lernen  können,  wie  man  Europa  den  Eingebomen  verständlich  und 
eindringlich  schildern  könne.  Jeder,  der  sich  einmal  abgemüht  hat, 
einer  Zuhörerschaft  von  Eingebornen  Europa  zu  schildern,  wird  die 
ungeheure  Schwierigkeit  gefühlt  haben,  die  richtigen  Ausdrücke  zu 
finden,  Ausdrücke  zu  vermeiden,  welche  dem  Sinn  und  dem  Sprach- 
geist der  Eingebomen  ferne  liegen. 

Von  den  kürzeren  Geschichten  bringt  „Woher  die  Schätze  in  der 
Erde  stammen"  biblische  Erzählungen  ins  Gedächtnis;  das  gleiche  gilt 
von  „Alibeg  Kaschkaschi",  „Geschichten  von  Abunawas",  „Fräulein 
Matlai  Shems"  und  „Wert  der  Frauen",  obgleich  ihr  Stil  vielleicht 
noch  mehr  als  chaldäisch  zu  bezeichnen  wäre.  Einige  von  den  Gebeten 
in  Büttners  Sammlung  erinnern  an  babylonische  Hymnen   auf  Ichtar. 

„Eine  Frau  mit  hundert  Kindern"  und  „der  Fuchs  und  das  Wiesel" 
sind  in  anderer  Gewandung  uns  allen  vertraut;  mit  einiger  Veränderung 
kommen  sie  auch  in  Mittelafrika  und  am  weifsen  Nil  vor  (vgl.  Zeit- 
schrift I,  312).  Am  meisten  das  Gepräge  ursprünglicher  Eigenart 
tragen  wohl  die  Geschichten,  die  vom  Ursprung  der  Dinge  handeln, 
wie  die  „Geschichte  vom  Chewa-Fisch",  „der  Ursprung  der  Bananen", 
„Geschichte  vom  Delfin"  und  „Ursache  von  Ebbe  und  Flut".  Diese 
letzte  naturgeschichtliche  Studie  ist  vorzüglich;  sie  zeigt  so  recht,  wie 
das  Volk  Naturgeheimnisse  zu  erfassen  bestrebt  ist,  auch  wie  es, 
wenn  die  Lösung  nicht  gelingen  will,  sich  zum  höchsten  Wesen 
zurückwendet  und,  wie  auch  andere  pflegen,  ausruft,  „Gott  weifs  es 
am  allerbesten".  Dafs  die  Eingebornen  Witz  besitzen,  wird  deutlich 
genug;  mitunter  verstehen  sie  auch  sarkastisch  zu  sein.  Sie  lieben 
Rätsel  und  ihre  Poesie  ist  reich  und  ausgezeichnet  an  Rhythmus 
und  Reim. 

Dr.  Büttners  Übersetzung  ist  vortrefflich  und  verdient  höchste 
Anerkennung,  denn  Suaheli  in  lesbarem  deutsch  wieder  zu  geben,  ist 
nichts  weniger  als  eine  leichte  Aufgabe.  Der  Nutzen  dieser  beiden 
Bände  ist  ein  aufsergewöhnlich  grofser,  und  die  Schuld  würde  nur 
an  den  Lesern  liegen,  wenn  die  Schlufsworte  der  Vorrede  nicht  in 
Erfüllung  gingen:  „Möge  dieses  Buch  recht  vielen  einen  tiefen  Ein- 
blick in  das  Herz  unserer  Schwarzen  gewähren  und  unsere  Hoffnung 
immer  mehr  befestigen,  dafs  die  Arbeit,  die  wir  an  ihnen  tun,  sie  zu 
christianisieren  und  zu  civilisieren ,  nicht  ungeeigneten  Boden  finden 
wird". 

Edinburg.  Robert  W.  Felkin. 


-•••- 


Kurze  Anzeigen. 


Ce  n^est  pas  la  premi^re  fois  qu^un  professear  dont  Tenseignement  n*a  pour  objet 
ni  1a  langue  ni  la  litt^rature  allemande,  prend  le  sujet  de  sa  these  en  Allemagfne  et  le 
traite  en  maitre.  Cest  „Henri  de  Kleist,  sa  yie  et  ses  oeuvres",  (Paris,  Hachette, 
1894,  XI  424  p.  gr.  8*.),  qui  a  valu  ä  M.  Raymond  Bonafous,  professeur  de 
rh^torique  au  lyc^e  de  Marseille,  le  grade  de  docteur  avec  une  mention  honorable« 
L*ouvrage  se  compose  de  deux  parties.  Dans  173  pages  la  vie  si  accidentee  de  Kleist 
est  racontee  dans  tous  les  d^tails  qui  ont  eu  de  Tinfluence  sur  ses  Oeuvres.  Le  poete 
vint  plusieurs  fois  en  France,  d'abord  en  iSox  pour  visiter  Paris,  ensuite  en  1807,  pour 
6tre  enferm^  comme  prisonnier  de  guerre  au  fort  de  Joux.  II  a  du  bien  comprendre  la 
lang^ue  fran9aise;  sa  traduction,  une  traduction  libre  et  originale,  de  TAmphitryon  de 
Moliere,  semble  le  prouver.  Les  deux  tiers  environ  du  volume  sont  consacres  ä  Tanalyse 
et  ä  Texamen  des  oeuvres  de  Kleist.  M.  Bonafous  est  au  courant  de  presque  tous  les 
travaux  qui  ont  paru  sur  son  auteur  (cf.  Zeitschrift  I,  273;  N.  F.  I,  301  ;  VII,  28;  VIII, 
2 4 f.);  il  les  a  lus  avec  attention,  mais  il  a  luaussises  Berits  dans  le  texte;  il  nous  donne 
des  jugements  personnels.  Tr^  instruit  dans  les  litt^ratures  anciennes  et  modernes,  U 
fait  des  rapprochements  du  plus  haut  interet  entre  Kleist  d*un  cote,  les  Grecs,  les 
Romains,  les  Italiens,  les  Anglais  et  les  Fran^ais  de  Pautre.  Son  livre  contribuera  ä 
attirer  de  plus  en  plus  Pattention  en  France  sur  un  po^te  qui  avait  ^te  injustement 
dedaign6,  et  peut-^tre  aussi  ä  arr^ter  un  engouement  momentan^  que  pourrait  suivre  un 
nouvel  oubli.  Les  choses  ^tant  remises  au  point,  la  justice  rendue  aura  des  effets 
durables.  En  fait  de  documents  M.  Bonafous  ne  prctend  pas  avoir  fait  des  decouvertes. 
A  nous  Fran9ais  son  livre  n*en  apprend  pas  moins  beaucoup  de  choses.  Aux  Alle- 
msmds  il  en  apprendra  sflrement  une,  et  celle-lä  leur  fera  un  nouveau  plaisir:  c^est 
qu'en  France  il  a  paru  une  oeuvre  de  plus,  savante,  bien  pens^  et  bien  ^crite,  sur 
Phistoire  de  leur  littdrature. 

Poitiers.  Jacques  Parmentier. 

Von  der  seit  langem  angekündigten  „Bibliothek  älterer  deutscher  Über- 
setzungen** ist  nun  (Weimar,  Verlag  von  £mil  Felber  1894)  der  erste  Band  erschienen; 
die  schöne  Magelone,  aus  dem  Französischen  übersetzt  von  Veit  Warbeck  1527.  Nach 
der  (bisher  unbekannten  Gothaer)  Originalhandschrift  herausgegeben  von  Joh.  Bolte. 
Über  den  französischen  Mageloneroman  und  seine  Verbreitung  hat  M.  Landau  bereits 
V,  420  f.  eingehend  gehandelt ;  auf  Boltes  reichhaltig  interessante  Einleitung  sei  hier  nur 
vorläufig  hingewiesen.  Als  sorgfältigen  Herausgeber  und  trefiflichen  Erläuterer  älterer 
Übersetzungen  hat  sich  Bolte  hier  auf  deutsch-französischem  Gebiete  bewährt,  wie  auf 
deutsch-englischem  in  seinem  Neudrucke  von  L.  Tiecks  Verdeutschung  des  „Mucedorus* 
(Berlin,  Verlag  von  W.  Gronau  1893.  XXXIX,  67).  —  Für  die  im  vorigen  Bande  Vn, 
349  von  Steinhausen  behandelten  französischen  Litteratur-  und  Kultureinflüsse  in  Deutsch- 
land haben  wir  im  51.  Hefte  der  ^Deutschen  Litteraturdenkmale  des  18.  und 
19.  Jahrhunderts**  (Stuttgart.  G.  J.  Göschensche  Verlagsbuchhandlung  1894)  den  Neu- 
druck eines  besonders  wichtigen,  bisher  schwer  zugänglichen  Dokumentes  erhalten: 
„Christian  Thomasius  von  Nachahmung  der  Franzosen**.  Mit  diesem  Hefte  begannt 
eine  neue  billigere  Serie  der  von  SeuflFert  x88i  gegründeten  „Deutschen  Litteratur- 
denkmale des  18.  Jahrhunderts",  nachdem  das  Schluisheft  der  alten  Reihe,  No.  49/50 
noch  den  erwünschten  Neudruck  der  Göttinger  Musenalmanache,  von  K.  Redlich 
musterhaft  besorgt,  eröffnet  hat. 

In  der  Besprechung  von  M,  Osboms  „Teufellitteratur  des  16.  Jahrhunderts*  VII, 
483  hat  A.  Tille  unter  den  Nachfolgern  Luthers  auf  diesem  Gebiete  an  erster  Stelle 
Andreas  Musculus  genannt.  Seine  wichtige  und  für  viele  vorbildliche  Mahnschrift 
„Vom  Hosenteufel  (isss)"*  hat  M.  Osborn  nun  mit  einer  kulturgeschichtlich  höchst 
interessanten  Einleitung  als  Heft  125  der  „Neudrucke  deutscher  Litteraturwerke 
des  16.  und  17.  Jahrhunderts*  (Halle  a.  S.,  Max  Niemeyer  1894)  herausgegeben.  In 
gleichem  Verlage  sind  zwei  für  Kultur-  und  Sprachgeschichte  wichtige  Arbeiten,  die 
sich  gegenseitig  ergänzen,  zum  Halleschen  Universitätsjubiliäum  erschienen:  Der  von 
Konr.  Burdach  besorgte  Neudruck  von  Augustins  „Idiotikon  der  Burschensprache*  von 
1795  und  der  MS^<lcntenlieder**  von  1781  unter  dem  Titel  „Studentensprache  und 
Studentenlied  in  Halle  vor  hundert  Jahren**  und  eine  Skizze  der  geschichtlichen  Ent- 
wickelung  der  Halleschen  Studentensprache  und  ihrer  Bildungsgesetze  von  John  Meier, 
als  „Hallische  Studentensprache**. 

*— 


Die  ossianischen  Heldenlieder. 


Von 
Ludwig  Chr.  Stern. 


m*). 

Die  ossianische  Poesie  war  unter  den  gälischen  Stämmen  zu  allen 
Zeiten  wahrhaft  volkstümlich;  schon  auf  den  alten  Volksfesten,  wie 
dem  Jahrmarkte  zu  Carman,  bildeten  nach  einem  mittelirischen  Ge- 
dichte im  Dindshenchas  „die  Heldentaten  Finns,  ein  Stoff  ohne  Be- 
schränkung'^ neben  andern  Erzählungen  die  Unterhaltung  der  Menge**). 
So  sehr  beschäftigten  die  Sagenhelden  die  Einbildung  des  Volks,  dafs 
man  in  allen  Ländern  gälischer  Zunge  topographischen  Namen,  die 
ihnen  entlehnt  sind,  begegnet.  Wenn  man  kühne  Bildungen  der  Land- 
schaft einen  „Finnssitz"  oder  ein  „Bett  Dermids  und  Grainnes"  nannte, 
so  hatte  man  die  Vorstellung  von  gewaltigen  Riesen,  die  vormals  da 
gehaust  hätten.  Schon  im  Agallamh  erscheinen  Oisin  und  Cailte  dem 
heiligen  Patrick  und  seinen  Zeitgenossen  als  Riesen  (Silva  gad.  p.  95 f.); 
als  einen  Riesen  bezeichnen  den  Finn  Mac  Cuwal  auch  Will.  Dunbar 
und  Hector  Boethius  (Scotorum  histOria,  Paris  1574,  Bl.  128  b);  ebenso 
Will.  Buchanan,  der  1723  die  ihn  verherrlichenden  „divers  rüde  rhymes" 
erwähnt***).  Besonders  die  berufsmäfsigen  Barden  waren  in  frühem 
Zeiten  die  Fortpflanzer  der  Heldensagen,  und  so  sehr  blühte  ihre 
Kunst  im  16.  Jahrh.,  dafs  sie  dem  Bischof  der  Inseln  J.  Carswell  als 
ein  Übel  erschienen;  er  klagt  in  der  Vorrede  seines  Gebetbuches, 
Edinburg  1567,  des  ersten  Druckes  in  gälischer  oder  vielmehr  irischer 


*)  Vgl  S.  51  f. 

**)  Fianruth  Find,  fath  cen  dochta,  O^Curry,  Mannera  3,  54a,  Cf.  Saltair  735.  6687. 
FiUrc  132. 

***)  In  der  albanogälischen  Sprache  werden  unter  fiantan  (einer  von  dem  Dativus 
Plur.  fiantaibh  von  fiann  abgeleiteten  Form)  „Riesen**  verstanden,  so  von  M.  Martin, 
The  westem  Islands  of  Scotland,  London  1703,  p.  153,  der  fienty  schreibt  (d.  i. 
fianf^j/lhj    R.   Macdonald,  CoUection  '  p.  131). 

Ztschr.  t  TfL  Ltt.-Gc«cb.    N.  F.  Till.  jq 


144  Ludwig  Chr.  Stern. 


Sprache  in  Schottland,  folgendermafsen:  ^Grofs  ist  die  Blindheit  und 
die  Finsternis  der  Sunde  und  der  Unwissenheit  und  des  Verstandes 
bei  Lehrern  und  Schriftstellern  und  Pflegern  der  gälischen  Sprache, 
dafs  sie  lieber  und  gewöhnlicher  die  eitlen,  schädlichen,  lügenhaften 
weltlichen  Märchen  über  die  Tuatha-De-Danann,  die  Söhne  Miledhs, 
die  Ritter  (d.  h.  des  Königs  Conchobar),  Finn  Mac  Cumhaill  mit  seinen 
Fiannen  und  viele  andere,  die  ich  hier  nicht  aufzähle  und  bespreche, 
pflegen,  erhalten  und  fördern,  um  sich  den  schnöden  Lohn  der  Welt 
zu  verdienen,  als  dafs  sie  die  treuen  Worte  Gottes  und  die  voll- 
kommenen Wege  der  Wahrheit  beschrieben,  lehrten  und  pflegten. 
Denn  die  Welt  liebt  die  Lüge  mehr  als  die  Wahrheit,  wodurch  be- 
wiesen wird,  was  ich  sage,  dafs  weltliche  Männer  die  Lüge  zu  er- 
kaufen bereit  sind,  aber  die  Wahrheit  nicht  umsonst  hören  woUen". 

EKe  ossianische  Sage  haftete  tief  im  Gedächtnisse  und  die  Über- 
lieferung der  Balladen  ist  bis  in  unser  Jahrhundert  fortgesetzt  worden, 
wo  immer  Galen  zur  Erholung  und  zum  Zeitvertreib,  zur  Geselligkeit 
oder  zur  Leichenfeier  zusammenkamen;  oftmals  wurde  in  die  Wette 
recitiert.  So  war  es  in  Irland  und  ebenso  in  Schottland  und  auf  den 
Inseln.  Eugene  O'Curry,  der  ausgezeichnete  irische  Altertumsforscher, 
erzählt  aus  seiner  frühesten  Jugend,  wie  ein  gewisser  O'Brien,  ein 
Schulmeister  mit  weitvernehmbarer  Stimme,  oftmals  mit  einigen  Freunden 
auf  den  unteren  Shannon  hinausgefahren  sei  und  sie  dort  beim  Whiskey 
durch  das  Absingen  ossianischer  Lieder  unterhalten  habe.  J.  F.  Camp- 
bell schildert  die  Zuhörerschaft,  die  ein  gälischer  Rhapsode  an  einem 
Herbstabende  1860  auf  der  Insel  Barra,  einer  der  äufsem  Hebriden, 
um  sich  versammelt  hatte.  „Eine  Frau'*,  sagt  er,  „war  in  einem 
Winkel  der  Hütte  mit  Weben  beschäftigt,  eine  andere  kämmte  Wolle 
und  ein  Mädchen  spann  geschickt  mit  einer  aus  einem  rohen  gabel- 
förmigen Birkenzweige  hergestellten  Kunkel  und  mit  einer  Spindel« 
die  wenig  mehr  als  ein  Kienspan  war.  Am  Feuer  safs  ein  freund- 
liches schwarzhaariges  Mädchen,  dessen  klare  dunkle  Augen  durch 
den  Torfiauch  glänzten.  Altere  Männer  und  junge  Bursche,  kurz 
vorher  von  ihren  Fischerausfahrten  zurückgekehrt,  safsen  auf  Bänken 
an  den  Wänden  und  hörten  rauchend  zu.  Ein  gewisser  AI.  Macdonald 
hatte  auf  einem  niedrigen  Stuhle  in  der  Mitte  Platz  genommen  und 
deklamierte  seine  Lieder,  die  man  mit  angemessenen  Bemerkungen 
und  Ausrufen  des  Beifalls  oder  der  Teilnahme  begleitete.  ,Oh!  Oh! 
—  Ach!  wie  traurig!'  riefen  die  Frauen  aus,  als  die  tragische  Märe 
von  Dermid  dem  Sohne  Oduhnes  vorgetragen  wurde." 


Die  ossianischen  Heldenlieder.     IH. 


146 


Die  äufsere  Form  dieser  Balladen,  von  deren  Melodieen  Sir  John 
Sinclair  und  E.  Bunting  Proben  gegeben  haben,  ist  einfach.  Die 
Strophe  besteht,  wie  in  der  älteren  irischen  Poesie  Oberhaupt,  aus 
vier  sinneinheitlichen  Versen  von  7  oder  mitunter  8  Silben,  die  ur- 
sprunglich und  in  der  mittelirischen  Litteratur  bestandig  nur  gezählt, 
nicht  auch  gemessen  oder  gewogen  werden.  Die  alte  Poesie  hat 
auch  Allitteration,  die  neuere  nur  noch  Assonanz,  eine  unvollkommene 
Art  des  Reims,  die  in  der  Gleichheit  des  Vokals  besteht.  Die  Asso- 
nanz oder  der  gleiche  Vokal  tritt  mitunter  am  Ende  des  ersten  und 
zweiten,  sowie  am  Ende  des  dritten  und  vierten  Verses  ein.  So  z.  B. 
im  Dean's  book: 


Mor  an  oochd  mo  chumha  fein, 
a  Thailginn  atha  dorn*  reir, 
ri  smuaintiiin  a*  chatha  chroaldh 
thugamar  is  Cairbre  crann-ruaidh. 


Grois  ist  heute  Nacht  mein  Leid, 
Talgin,  der  mir  wohlgeneigt  I 
Denk  ich  an  die  rauhe  Schlacht 
Gegen  Cairbre  den  Rotschai^*). 


Aber  in  den  meisten  Gedichten,  wo  der  zweite  Vers  mit  dem 
vierten  assoniert,  kehrt  der  Endvokal  des  ersten  und  dritten  auch 
innerhalb  des  zweiten,  beziehungsweise  vierten,  wieder.     Z.  B. 


Ard  a  shleagh  mar  chrann  sinil, 
binne  na  teud  cinil  a  ghutb; 
sn^mhaiche  do  b*fhearr  na  Fraoch 
cha  do  shin  a  thaobh  ri  srath. 


Hoch  sein  Speer  wie  Schiffes  Mast, 
Harfengleich  klang  die  Stimme. 
Wenn  sich  Pröch   im  Strom  gestreckt, 
Gabs  keinen  heisren  Schwlnmier.     < 


Diese  Form  der  Assonanz  ist  bei  den  neuern  gälischen  Dichtern 
die  gewöhnliche;  sie  vernachlässigen  nie  den  Binnen-  oder  Mittelreim**). 
Die  Volkslieder  jedoch  haben  durch  die  Überlieferung  vielfach  ge- 
litten, namentlich  die  albanogälischen,  so  dafs  viele  Strophen  nur 
dürftig  oder  gar  nicht  assonieren. 

Ein  kürzerer  Vers  wird  in  den  Volksballaden  selten  angewandt; 
so  in  einem  Liede  des  Dichters  Fergus: 


Innis  dhui'nn,  a  Fhearghuis, 
fhilidh  fdnne  ElreannI 
cionnas  tharladh  dhuinn 
an  cath  Ghabhra  nam  beumann. 


Der  Fiannen  Erins 
Sänger,  Fergus  I  sag, 
Wie  es  uns  ergangen 
Bei  Gaura  in  der  Schlacht. 


*)  D.  h.  der  den  roten  Speerscbaft  hat.  Talgin  ist  ein  Beiname  des  heiligen  Patrick. 
*^  Ähnliche  Caesurreime  hat  die  mittelhochdeutsche  Poesie,  vergl.  Germania  la, 
139  fil,  mehr  noch  die  mittellateinische.  Die  irischen  Metra,  deren  eines  (Rannaigecht 
mhdr)  der  zweiten  Versform  der  gälischen  Volkslieder  zu  Grunde  liegt,  haben  sich  aus 
den  gereimten  Hexametern  entwickelt,  namentlich  aus  den  Caudatis,  Leoninis,  Citocadis. 
Vergl.  W.  Meyer,  Sitzungsberichte  der  Münchener  Akademie  3,  70 ff.  (1875)  und 
1882,  I,  p.  41  ff. 

.      10* 


146  Ludwig  Chr.  Stern. 


Noch  kürzere  Verse,  von  4  Silben,  hat  das  Lob  Golls:*) 

Ard  aignedh  Ghaill,  Hochherzig  Goll, 

fear  cogaidh  Phino,  Pinns  Widerpart, 

laoch  leobhar  lonn,  Kräftig  und  kühn, 

'fhoghail  nach  tlom.  Im  Kriege  nicht  zag. 

Obwohl  die  ossianischen  Heldenlieder,  wovon  sich  in  Schottland 
etwa  ein  halbes  Hundert  nachweisen  läfst,  in  manchen  Schriften  be- 
sprochen und  in  verschiedenen  Fassungen  ediert  sind,  so  sind  sie  im 
allgemeinen  doch  nur  den  mit  der  gälischen  Litteratur  Vertrauten 
bekannt  geworden;  denn  nur  ein  Teil  davon  ist  ins  Englische  über- 
setzt. Einige  Angaben  über  ihren  Inhalt,  einige  Proben  dieser  Poesie 
dürften  daher  selbst  dem  Freunde  der  allgemeinen  Litteratur  willkommen 
und  gleichsam  als  Belege  hier  notwendig  sein.  Kampf  denn  und  Krieg 
sind  der  Gegenstand  der  allermeisten  ossianischen  Balladen,  gefahr- 
volle Züge  und  Abenteuer,  Anfechtung  durch  Zauberer  und  Hexen 
und  nicht  zum  mindesten  das  Waidwerk.  Wenige  Gedichte  gewähren 
einen  Einblick  in  das  häusliche  Leben  der  Helden,  denen  die  Sage 
ja  überhaupt  ein  unstätes  Wanderleben  zuschreibt.  Dagegen  erzählen 
die  Balladen  den  Tod  der  hervorragendesten  Kämpen,  den  Untergang 
des  ganzen  Stammes  und  das  freudlose  Alter  Oschins,  der  alle  über- 
lebt und  die  Dahingeschiedenen  besingt**). 

Ehe  wir  die  eigentlich  ossianischen  Balladen  betrachten,  müssen 
wir  einiger  aus  dem  Sagenkreise  des  Königs  Conchobar  von  Ulster 
gedenken,  da  Macpherson  auch  diese  für  seinen  „Ossian"  benutzt  hat, 
unbekümmert  um  den  Anachronismus,  den  er  damit  beging.  Die 
Ballade  von  „Fröch  dem  Drachentöter",  deren  gälischer  Text  im 
wesentlichen  der  des  Dean's  book  geblieben  ist  und  von  der  J.  Stone 
1756  eine  langatmige  Paraphrase  in  zehnzeiligen  Strophen  veröflFent- 
lichte,  beruht  auf  einer  alten  Erzählung  im  Buche  von  Leinster,  p.  250a, 
die  jedoch  nicht  den  von  dem  Balladendichter  beliebten  tragischen 
Ausgang  hat.  Von  den  sonstigen  schon  im  Dean's  book  aufge- 
zeichneten ultonischen  Balladen,  „Cuchulinns  Vogelfang",  .„Die  Kopfe" 


*)  Dies  Lied  scheint  Macpherson  in  Fingal  IV  (p.  56  ed.  1762)  im  Sinne  gelegen 
zu  haben,  wo  er  von  seinem  Schlachtgesang  Ullins  sagt:  „It  runs  down  like  a  torrent, 
and  consists  almost  entirely  of  epithets**. 

**)  Aus  deih  Sagenkreise  des  Königs  Arthur  findet  sich  eine  Ballade,  die  an  den 
Traum  Maxen  Wledigs  im  Mabinogi  erinnert;  sie  liegt  in  7  Recensionen  vor:  in  Sinclairs 
Clarsach  na  coille,  Glasgow  1881,  p.  263 — 65,  in  Campbeils  Leabhar  na  feinne  p.  208, 
in  Gaelic  Soc.  Invemess  9,  67  jQf.;  und  in  AI.  Camerons  Reliquiae  celticae  i,  368. 


Die  ossianischen  Heldenlieder.  III.  147 

und  „Conlaech",  darf  die  letzte  hier  nicht  übergangen  werden,  da  sie 
in  jeder  Beziehung   wichtig   ist.     Sie  beruht  auf  der  alten  Erzählung 
„Aiged  Enfir  Aifi**  im  Gelben  Buche  von  Lecan  und  auf  dem  Toch- 
marc  Emere  (übersetzt  von  K.  Meyer  im  Archaeological  Review  i ,  302). 
Darnach   lernt    der   berühmte   Cuchulinn   die  Waffenkunst  von    einer 
Heroine  Sgathach  auf  der  Insel  Skye;    Mutter  und  Tochter  verlieben 
sich  in  den  Helden,  der  dann  an  einem  Kriegszuge  der  erstern  gegen 
die  Fürstin  Aife  teilnimmt.     Nachdem  Cuchullin  diese  besiegt  hat,   er- 
hört sie  seine  Bitten  und  gebiert  nach  seiner  Heimkehr  nach  Erin  den 
Conla.     Diesem   soll    der  Vater  selbst  bestimmt  haben,    dafs  er  sich 
niemand    zu    erkennen    gebe,    niemand    ausweiche  und  keinen  Kampf 
ausschlage.     Nach   der  Ballade  ist  es  aber  die  Mutter,    die  dem  aus- 
ziehenden Conlaech*)  die  Verschweigung   seines  Namens    und  seiner 
Herkunft  auferlegt  hat.    In  Erin  übertrifft  er  durch  Kraft  und  Tüchtig- 
keit alle  Helden  und  besiegt  die  Besten.    Selbst  sein  Vater  Cuchulinn, 
der  ihn  nicht  erkennt,  vermag  ihm  in  den  gewöhnlichen  Waffengängen 
nichts   anzuhaben,    aber  er  überwindet  ihn  endlich  mit  dem  gai-bolga 
(Balggeer),    dessen  Kenntnis    er   von    ihm  voraus  hatte,    und  ist  tief 
bekümmert,  als  er  aus  dem  Munde  des  Sterbenden  vernimmt  und  an 
einem   einst  Aife  geschenkten  Ringe,    den  er  vorweist,    erkennt,    dafs 
er  seinen  eigenen  Sohn  erschlagen  hat.    Ich  halte  es  nicht  für  erweis- 
bar, dafs  unser  uraltes  Hildebrandslied,  wie  H.  D'Arbois  de  Jubainville 
annimmt**),  eine  Umdichtung  der  celtischen  Sage   sei;    eher  möchten 
sich    in  der  Jüngern  Form   des  germanischen  Gedichtes  Anklänge  an 
diese    wieder    finden,    obschon  sie  nicht  den  tragischen  Ausgang  der 
irischen    hat.     Da  sagt  der  Alte  zum  Sohne:    „Nun  sage  du  mir,   viel 
Junger,  den  Streich  lehrte  dich  ein  Weib".     Auch  das  „incident**   des 
Ringes    ist    durchaus    irisch    und    kommt    z.  B.   in    der  Schlacht    von 
Magh-Rath    ed.   O'Donovan    p.   72    vor;    in    der  jungem    deutschen 
Ballade    giebt    sich  Hildebrand    seiner  Frau  durch  einen  Ring  zu  er- 
kennen,   den    er   in  den  Becher  fallen  läfst.     Macpherson  hat  nun  in 
seinem    „Carthon"    ganz    allgemeine    Beziehungen    zu    der    gälischen 
Ballade;  unter  andern  Entstellungen  gestattet  er  sich  die,  dafs  bei  ihm 
der  Vater   seinen  Namen  verhehlt,    seine  Personen  beruhen  auf  freier 


*)  Aus  dem  altern  Conla  ist  die  Form  Conlaech,  Conlaoch  hervorgegangen,  nicht 
Conmaol,  wie  im  Journal  des  S^vants  1764  p.  851  steht. 

**)  L'^op^e  celtique  en  Ir lande  i,  p.  XXXIII  fif.  (1893). 


148  Ludwig:  Cbr.  Seen. 


Erfindung*),  und  in  einer  Anmerkung  zum  Death  of  Cuchullin 
beschreibt  er  Conloch  als  einen  guten  Schützen,  „for  his  dexterity 
in  handling  the  javelin"".     Er  stellt  eben  alles  auf  den  Kopf. 

Wie  wenig  Macpherson  von  einem  gälischen  Texte  verstand,  be- 
weist noch  deutlicher  die  von  ihm  benutzte  Ballade  „Garw  und 
Cuchulinn**,  deren  Schwierigkeit  er  allerdings  in  dnem  Briefe  an 
Madagan  1761  zugesteht  (Report,  .app.  p.  154).  Dieses  vermutlidi 
dem  17.  Jahrhundert  angehörige  albanogälische  Gedicht  beschreibt, 
wie  Garw  der  Sohn  Starns  mit  starker  Flotte  in  Erin  landet  um  sich 
das  Land  zu  unterwerfen.  Obwohl  vom  Könige  Conchar  (der  Text 
hat  irrtümlich  ConaU  mit  der  falschen,  freilich  schon  im  Dean*s  bock 
begej^nenden  Filiation  Mac  Eidirsgeoil)  in  Tara  (es  soUte  in  Emain 
heifsen)  mit  Gastfreundschaft  aufgenommen,  besteht  er  auf  seinem 
feindlichen  Plane  und  hat,  von  einem  Verräter  namens  Brichni  (dem 
berühmten  Thersites  der  Sage  von  Ulster)  unterstützt,  schon  fünfzig 
Königssöhne  als  Geiseln  ausgewählt,  als  ihm  Cuchullin  entgegentritt 
und  ihn  nach  langwierigem  Kampfe  tötet. 

,Birich,  a  righ**)  na  Teamhra!  «Aufl  erheb  dich,  König  TarasI 
Chi  mi  *n  loingeas  dolabhradh,  Zahllos  viele  Schiffe  seh  ichl 

lomlän  nan  cuan  clannach  Auf  dem  wogenreichen  Meere 

do  longaibh  nan  allmharach.*  —  Wimmelts  von  den  Schiffen  der  Frem- 

den!« — 

,*S  breugach  thu,  dhorsair  gu  buadh***),  ^l^i^S^cn  sprichst  du,  guter  Pförtner, 
*s  breugach  thu  M  diu  *s  g^ch  aon  uair!  Heute  lügenhaft  wie  immer  I 

's  e  th*ann  loingeas  mor  nam  Magh  Denn  vom  Magh-Land  ists  die  Flotte, 

*s  e  teachd  chugainn  d*ar  cobhair/  Welche  uns  cur  Hfllfe  herankommt.* 

Diese  Worte,  die  später  für  den  Anfang  des  „Fingal"  benutzt  sind, 
giebt  Macpherson  in  den  Fragments' No.  14  so  wieder:  »Rise,  Cuchulaid, 

*)  Cuchulinn  wird  bei  Macpherson  cu  Clessammor  (was  sich  in  den  apokryphen 
Gedichten  Kennedys  und  Smiths  wiederfindet),  vermutlich  nach  dem  Cü  nan  cleas  (Cucbulimi 
der  Fechtkfinste)  in  der  Ballade.  Während  Conlaechs  oder  Carthons  Mutter  bei  ihm  Moina 
heilst,  wird  im  Pingal  (p.  18  ed.  1763)  die  in  the  Isle  of  Mist  (d.  i.  Eilean  a*  che6  oder 
Skye)  zurückgelassene  Mutter  Conlaechs  ganz  willkfirlich  Brag^la  genannt. 

**)  var.  a  chu,  daher  Macphersons  Cuchulaid,    wie  er  für  sein  späteres  Cuchullin 
schreibt;  der  Name  lautet  richtig  Cuchulaind  oder  Cuchulainn. 

***)  Die  Texte  geben  gu  muadh,  was  ftr  irisch  go  mbuadh  steht.  In  H.  Macleans 
Texte  in  den  Ultonian  Hero-ballads  sind  einzelne  Stellen  nicht  befriedigend,  z.  B.  Str.  3 
gun  ealla  statt  gun  fheall,  Str.  5  gun  fhail  statt  gun  fhoill  «ohne  Verrat**,  Str.  7  sonn 
catha  na  claoin  Teamhrach  heifst:  «der  Schlachtheld  des  schrägen  Tara*  (vergl.  Teagasc 
flatha  Str.  15},  Str.  12  dronnadh  cheud  statt  pronn  cheud  „ein  Mahl  ftlr  Hundert*,  gun 
uirich  statt  gun  fhuireach,  Esraidh  statt  Basruaidh  u.  a.  m. 


Die  ossianischeii  Heldenlieder,     m. 


14^ 


rise!  I  see  the  ships  of  GarvQ,  Many  are  the  foe,  Cuchulaid;  many 
the  sons  of  Lochlyn.  —  Moran!  thou  ever  tremblest;  thy  fears  increase 
the  foe.  They  are  the  ships  of  the  Desert  of  hills  arrived  to  assist 
Cuchulaid^.  Garw  der  Sohn  Stams,  den  Macpherson  später  Swaran 
nannte,  ist  übrigens  eine  durchaus  fabelhafte  Persönlichkeit,  entstanden 
aus  der  Sage  von  den  ältesten  Kolonisten  Irlands.  Schon  im  Buche 
von  Leinster  p.  127a  heifst  es:  co  tancatar  clanna  Stairn  assin  Greü 
uathfmur  aegairb,  dafs  die  Söhne  Stams  aus  dem  schrecklichen  rauhen 
Graecia  gekommen  seien*);  und  es  ist  sehr  merkwürdig,  dafs  die 
Ballade  fast  die  nämlichen  Worte  bewahrt  hat: 


Ma*s  e  *n  Garbh  mac  Stairn  a  th*ann 
o*n  Ghreig  uamharraidh  ro-ghairg, 
bheir  e  Ids  ar  geill  thair  moir 
a  dh'aindeoin  fhear  nam  fiann. 


»Wenn  es  Garw  der  Sohn  des  Stam  ist. 
Von  den  schrecklich  wilden  Gräken, 
Bringt  er  Qbers  Meer  die  Geiseln 
Den  Fiannenmannen  zum  Trotze**. 


Noch  eine  andere  Stelle  erinnert  an  so  alte  Texte: 


Pearghus  mac  Rossa  mac  Raigh, 
*n  laoch  a  b'airde  dh'  fhearaibh  Pail, 
cha  b*airde  Fearghus  astigh 
na  *n  Garbh  mac  Stairn  *na  shuidhe. 


Fergus,  Roihs  und  Rossas  Spröfsling 
(Von  den  Männern  Fails  der  längste), 
Er  selbst  safs  bei  Tisch  nicht  höher, 
Als  nun  Starns  Sohn,  Garw,  kam  zu  sitzen. 


Fergus  war  nämlich  ein  kolossaler  Mann  und  starker  Esser,  wie  der 
von  Prof.  Windisch  (Texte  IL  i,  210)  aus  LL.  io6b  edierte  Text 
lehrt.  Macpherson  kennt  ihn:  „Fergus,  first  in  our  joy  at  the  feasti 
son  of  Rossa!  arm  of  death!"  (Fingal  i,  181).  Auch  Cet  mac  Matach, 
ein  anderer  Ritter  der  Craeb  ruaid,  d.  h.  des  Palastes  vom  Roten 
Zweige**),  kommt  in  der  Ballade  vor;  daneben  aber  auch  Namen  wie 
CaÜte  und  Cormac,  die  dem  Sagenkreise  Finns  angehören.  Mac- 
pherson hatte  die  Ballade  im  Fingal  i,  70 ff.  vor  Augen,  wo  er  fiir 
nuic  nthic  Chairbre  dn  chraotbh  ruaidh  „der  Enkel  Cairbres  vom 
Roten  Zweige"  schreibt:  Cairbar,  from  thy  red  tree  of  Cromlal  — 
für  Aodh  nuic  Gharadh  d  gtUuin  ghil  „Adh  der  Sohn  Garahs  von 
weifsem  Kniee":  Bend  thy  knee,  o  Eth;  für  Camlte  ro-gheal  mac 
Ronain,  Fear-dian  taobk-gheal  „Cailte  Ronans  Sohn  der  glänzende  und 


*)  Ähnlich  im  Buche  von  Fenagh  p.  50:  co  ticc  dann  in  miled  Sdaim  asin  Greg 
uallach  ngairb. 

*♦)  S.  Windisch,  Irische  Texte  p.   100  iBf. 


160  Ludwig  Chr.  Stern. 


Ferdian  von  weifser  Seite"  (oder  glänzendem  Leibe):   Caolt,  Stretch 
thy  side  as  thou  movest  along  the  wistling  heath  of  Mora. 

Ein  gälisches  Gedicht  über  den  Streitwagen  Cuchulinns  mit  den 
beiden  Pferden,  von  dem  J.  Grant,  die  Brüder  Maccallum,  der  Report 
app.  p.  204  fF.  und  J.  Macdonald  (Gael.  Soc.  Invern.  13,  288)  Rezen- 
sionen liefern,  beruht  auf  den  entsprechenden  Stellen  in  mittelirisdien 
Erzählungen*).  Macphersons  Beschreibung  im  Fingal  i,  345  ist  weit 
davon  verschieden;  ebenso  Cuchulinns  Kampf  mit  Ferdia  (im  Fingal 
2,  377)  von  der  gälischen  Erzählung  in  Prosa,  die  ihm  vorlag. 

Die  Ballade  von  Derdri,  der  Gemahlin  oder,  wie  andere  wollen, 
der  Verlobten  des  Königs  Conchobar  (Conchar),  die  von  ihrem  Ge- 
liebten Naischi  und  seinen  Brüdern,  den  drei  Söhnen  Usnechs,  entfuhrt 
wurde,  dann  aber  nach  deren  Ermordung  sich  über  dem  Grabe  der 
Brüder  den  Tod  gab,  beruht  auf  zwei  mittelirischen  Erzählungen,  „der 
Verbannung  der  Söhne  Usnechs"  und  „dem  Tode  der  Söhne  Usnechs". 
Auch  ein  neugälisches  Märchen,  auf  das  schon  in  einem  Gedichte  aus 
dem  Anfange  des  18.  Jahrhunderts  Bezug  genommen  wird  (Sinclair, 
The  gaelic  bards  2,  100),  ist  daraus  hervorgegangen.  Es  wurde  1867 
auf  der  Insel  Barra  aufgenommen  und  darnach  später  veröffentlicht 
(Transact.  Gael.  Soc.  Invern.  i,  45ff.  13,  241  ff.)  —  übrigens  nicht 
ohne  Zutun  von  Buchgelehrsamkeit**).  In  dieser  Überlieferung  heifst 
die  Heldin  Dearduil,  woraus  Macpherson  seine  Darthula  gebildet  hat. 
Die  Ballade  weicht  in  den  Einzelheiten  von  den  verschiedenen  Er- 
zählungen nicht  unbedeutend  ab;  bei  Macpherson  ist  alles  eigene  Er- 


*)  S.  Wiodischs  Texte  p.  310  (==  LU.  133  a);  O'Curry,  Maoners  3,  4*8  {=  LL.  83  a); 
E.  0*RellIy,  Essay  p.  320  (aus  dem  Brisleach  Mhuighe  Mhuirtheimhne).  —  In  dem  Namen 
eines  der  Pferde  im  Fingal  i,  345  Sulin-Sifadda  haben  mehrere  der  Verteidiger  Mac- 
phersons, wie  Mac  Naughton,  Jerram  und  Nicolson  (^Proverbs  p.  141),  den  Beweis  ge- 
sehen, dals  er,  als  er  so  schrieb,  schon  das  Gälische  von  1807:  *s  bu  luath  *shiubbal, 
Sithfada  b*e  *ainm  ^rasch  war  sein  Gang,  Sithfada  war  sein  Name**  vor  sich  gehabt  habe, 
da  der  Name  SuUn-Sifadda  eben  aus  dem  eigentlichen  Namen  Sithfada  (Langschritt)  und 
dem  davorstehenden  Worte  shiubhal  (spr.  hjül)  «sein  Gang**  irrtfimlich  zusammengesetzt 
sei.  Wenig  wahrscheinlich !  Macphersons  Sulin-Sifadda  scheint  vielmehr  aus  saoi-oileanda 
sioth-f  hada  (wohlaufgezogen,  weitspringend)  nach  der  Lesart  im  Report,  app.  p.  304,  ent- 
standen zu  sein.  Der  richtige  Name  des  einen  Pferdes  lautet  auch  Liath-mhaiseach  (im 
Irischen  Liath-macha),  während  das  andere,  von  Macpherson  Dusronnal  (d.  i.  Dubh- 
sröngheal)  genannt,  im  Gälischen  Dubh-sronmhor  oder  Dubh-seimhinn  (im  Dean*s  book 
No.  49  Dow-seywlin)  und  im  Irischen  Dubh-fhaelind  heifst 

**)  Das  zeigt  das  Wort  lingeantach  (Inv.  13,  351),  das  aus  der  fehlerhaften  Lesart 
Alba  cona  lingantaibh  (Rep.  app.  p.  398)  statt  co  n-a  hingantaib  (Irische  Texte  II.  3,  137) 
gebildet  ist. 


Die  ossianischen  Heldenlieder,     in.  151 

fiadung,  sogar  den  Selbstmord  Derdris  hat  er  beseitigt.     Die  Ballade 
erzählt  ihn  so: 

Shin  i  *n  sin  a  taobh  r*a  thaobh  Und  sie  warf  sich  Ober  Naischi, 

agus  chuir  i  beul  r*a  bheul  Ihren  Mund  auf  seinen  heftend, 

is  ghabh  i  *n  sgian  gheur  *na  cridhe  Stiefis  ins  Herz  das  scharfe  Messer 

's  dh*  fhuair  i  *m  b^  gun  aithreachas.  Und  fand  so  den  Tod  ohne  Reue. 

Die   Ballade    ist   in  dem  Buche  Hector  Macleans,  die  Erzählungen  in 
Prosa  in  dem  von  D*Arbois  de  Jubainville  übersetzt  worden. 

Die  hier  besprochenen  Balladen  aus  dem  Sagenkreise  Ulsters  sind 
nicht  eigentlich  ossianische;  aber  wohl  schon  lange  vor  Macpherson 
hatte  man  in  Schottland  vergessen,  dafs  sie  von  einer  Zeit  handeln, 
die  fast  300  Jahre  vor  der  des  Finn  Mac  Cuwal  liegt.  Auch  die 
gälischen  Balladen,  welche  Oschins  Namen  tragen,  leiden  an  starken 
Anachronismen.  So  haben  manche,  die  ich  zuerst  betrachte,  als  ihren 
historischen  Hintergrund  die  Invasion  der  Lochlanner  oder  Norweger, 
die  nationale  Kalamität,  die  Irland  im  9.  bis  11.  Jahrhundert  heim- 
suchte. Eine  der  bekanntesten  Balladen  bezieht  sich  auf  Magnus  Ber- 
faeta  den  Sohn  Olafs  des  Sohnes  Aralts,  den  König  von  Norwegen, 
der  1098  die  westlichen  Inseln  mit  Krieg  überzog*),  dann  in  Ulster 
landete,  Dublin  angriff  und  plünderte  und  nach  Connacht  zog,  bis  er 
auf  einem  Beutezuge  (ar  crech)  1 103  ums  Leben  kam,  worauf  seine 
Flotte  heimkehrte.  Die  in  Irland  und  Schottland  überlieferte  Ballade, 
die  vielleicht  dem  17.  Jahrhundert  angehört,  ist  als  ein  Gedicht  Oschins 
an  den  heiligen  Patrick  gerichtet  und  wird  durch  die  folgenden  Strophen 
eingeleitet: 

A  chleirich  a  chanas  na  sailm,  Pfafife,  o  du  Psalmensänger! 

air  leam  fein  gar  borb  do  chiall;  Roh  ist  dein  Verstand,  so  scheint  mir. 

nach  eisd  thu  tamull  ri  sgeul  Willst  du  meine  MSr  nicht  hören 

air  an  fheinn  nach  fhac  thu  riamh?  —  Von  den  Kriegern,  die  du  nicht  gesehn 

hast?  — 

Air  mo  chubhais-sa,  mhic  Phinn,  Meiner  Treul  Sohn  Finns,  wie  lieb  auch 

ge  binn  leat  teachd  air  an  fheinn,  Dir  der  Sang  von  den  Fiannen, 

fuaim  nan  salm  air  feadh  mo  bheoil  Psalmenklang  aus  meinem  Munde, 

gur  e  sud  is  ceol  domh  fein.  —  Der  erscheint  mir  selbst  musikalisch.  — 

Na  bi  tu  comhadadh  do  shalm  Was!  vergleichst  du  deine  Psalmen 

ri  fiannachd  Eirinn  nan  arm  nochdl  Erins  Heer  von  blanken  Waffen  I 

a  chleirich,  gur  lan  olc  leam  Pfaffe,  kaum  kann  ich  mich  halten 

nach  sgarainn  do  cheann  ri  d^chorp.  — >  Dir  den  Kopf  vom  Rumpfe  zu  hauen!  — 


*)  Die  Skalden  besingen  den  Kriegszug,   s.  Vigfiisson  and  Powell,    Corpus   poe« 
ticom  boreale  3,  244.    Vergl.  auch  Zeitschrift  Hlr  deutsches  Altertum  35,  33. 


163  Ludwig  Chr.  Stern. 


Sin  fui  d^chomraich-sa,  fhir  mhoir,  O  verzeih,  mein  Herr!  voll  Wohllaut 

laoidh  do  bheoil  gur  binn  leam  fein ;  Ist  auch  deines  Mundes  Lied  mir. 

togbliar  leatsa  sealan  ann,  Stimme  es  nur  an  ein  Weilchen! 

bu  bhinn  leam  teachd  alr  an  fheinn.  —  Lieb  sind  mir  Fiannengeschichten.  — 

Nam  biodh  tu,  a  chleirich  chaidh,  Wärst  du,  frommer  Pfiff,  gewesen 

air  an  traigh  tha  siar  fa  dheas  An  der  Küste  nach  Südwesten, 

ag  Eas  Laighean*)  nan  sruth  seimh,  Bd  Es-Laihens  sanften  Fluten, 

air  an  fheinn  bu  mhor  do  mheas.  Würdest  du  die  Fiannen  bewundem. 

Der  Dichter  erzählt,  wie  König  Magnus  von  Lochlan  mit  starker 
Flotte  landet  und  durch  den  Sänger  Fergus,  der  ihm  entgegengeht, 
als  Zeichen  der  Unterwerfung  nichts  Geringeres  als  die  Gattin  des 
Königs  Finn  (Fingal)  und  seinen  Lieblingshund  Bran  fordert**).  Finn 
erwidert: 

Chaoidh  cha  tug^nnse  mo  bhean  Keinem  Manne  unter  der  Sonne 

do  dh'  aon  neach  ata  fo  'n  ghrdn,  Werde  ich  mein  Weib  je  geben, 

*s  cha  mh6  bheir  ml  Bran  gu  brath,  Noch  will  ich  von  Bran  mich  trennen, 

£^s  an  teid  am  bäs  *na  bheul.  Bis  dafs  einst  der  Tod  ihm  ins  Maul  fährt 

Nachdem  die  Heerführer  der  Fiannen  siegesgewifs  die  Bekämpfung 
der  einzelnen  Fürsten  der  Lochlanner  unter  sich  verteilt  haben***), 
sagt  Finn: 

,Beiribh  beannachd  *s  beiribh  buaidh!*  ,Segen  sei  und  Sieg  sei  euer!^ 

thuirt  mac  Cumhaill  nan  gruaidh  deargi  Sagte  Finn  von  roten  Wangen. 

,Maghnus  mac  Mheatha  nan  sluagh  ,Wie  ergrimmt  er  ist,  mit  Magnus, 

coisgear  leam,  ge  mor  a  fhearg.*  Mehas  Sohne,  nehme  ichs  selbst  auf/ 

Am  andern  Morgen  rücken  die  Lochlanner  vor  und  die  Fiannen 
ziehen  ihnen  entgegen. 


*)  Statt  Näs  Laighean,  einem  Orte  in  der  Grafschaft  Kildare  (Oss.  4,  48).  Aus  den 
fehlerhaften  Varianten  Eas  Laoghaire,  Laoire  ist  ^hovR*  und  Macphersons  Battle  of 
Lora  entstanden,  wie  er  ein  anderes  Gedicht  nennt. 

**)  Macpherson  hat  als  Forderung  Swarans  an  Cuchullin:  »Cive  thy  spouse  and 
dog**  (Fingal  3,  183).  —  Tatsächlich  übersandte  Magnus  dem  irischen  König  Murker- 
tach  seine  Schuhe  mit  dem  Geheifs,  da&  der  König  sie  vor  den  Gesandten  auf  seine 
Schultern  lege.     Nach  den  einen  tat  er  es,  nach  den  andern  nicht. 

***)  Von  Macpherson  im  Fingal  4»  382 — 97  ziemlich  getreu  wiedergegeben.  Die 
letzte  Strophe  flbersetzt  er:  ,Blest  and  victorlous  be  my  chiefe,  said  Fingal  of  the 
mildest  look.  Swaran,  king  of  roaring  waves,  thou  art  the  choice  of  FingaK  Verg^l. 
Battle  of  Magh  Leana  ed.  0*Curry  p.  114  f.  —  Der  von  Macpherson  genannte  Connal 
fehlt  in  den  unver^schten  Texten;  eine  ihn  betrefifende  Strophe  ist  aber  in  die  Gllliessche 
Edition  der  Ballade  aufgenommen. 


Die  ossiaiilschen  Heldenlieder,    in. 


158 


Thog  sinn  Dealbh  ghrdne  ri  crann*), 
bcatach  Fhinn  bu  ghzrg  an  treas, 
*s  i  Icimlan  do  cblochaibh  *n  or, 
againne  bu  mbor  a  meas. 


Nun  ward  auf|^ehifst  »die  Sonne**, 
Finns  des  schlachtenrauhen  Banner, 
Voll  von  goldgefafsten  Steinen, 
Hoch  von  uns  in  Ehren  gehalten. 


Die   Fiannen   halten  was   sie   versprochen,    die   Lochlanner   werden 
m  die  Flucht  geschlagen. 


Thachair  mac  Cumhaill  nan  cuach 
agus  Maghnus  nan  mag  aigh 
ri  cheir  an  tuiteam  an  tsluaigh, 
's  a  chleirich,  bu  chruaidh  an  dail. 

Gu*m  bu  sud  an  tuirlin  teann 
mar  dheann  a  bheireadh  da  ord, 
cath  fiiileachdach  an  6k  righ, 
gu*m  bu  ghuineach  brigh  an  colg. 

Air  briseadh  do*n  sgiathaibh  dearg 
's  air  eirigh  d*am  feirg  is  fraoch, 
thilg  lad  an  ainn  sios  gu  lar 
's  chaidh  iad  an  spaim  an  d4  laoch. 

Nuair  a  thoiseach  stri  nan  triath 
's  ann  leinne  bu  chian  an  clos; 
bha  clachan  agus  talamh  trom 
a  mosgladh  fo  bhonn  an  cos. 

Leagadh  righ  Lochlainn  an  aigh 
am  fiadhnuis  chaich  air  an  fhraoch 
's  airsan,  ge  nach  b'onair  righ, 
cbuireadh  ceangal  nan  tri  chaol. 


Da  traf  Cuwals  Sohn  der  Becher 
Magnus  von  den  Ruhmeskämpfen 
Mann  an  Mann  in  dem  Getümmel  — 
PfajQfel  grausig  war  die  Begegnung. 

Dieser  harte  Kampf  erdröhnte 

Wie  das  Krachen  zweier  Hämmer;**) 
Blutig  war  der  Streit  der  Könige, 
Gräislich  ihres  Eifers  Gebahren. 

Als  die  roten  Schilde  brachen, 
Zorn  und  Wut  in  ihnen  aufstieg, 
Warfen  sie  die  Waffen  von  sich. 
Diese  beiden  Helden,  und  rangen. 

Als  der  Streit  der  Fürsten  anhub, 
Wards  uns  lange  still  zu  stehen. 
Aufgewirbelt  wurden  Steine, 
Schweres  Erdreich  unter  den  Füfsen. 

Da  ward  Lochlans  Ruhmeskönig 
Auf  die  Haide  hingeworfen 
Und  ihm  —  für  den  König  schimpflich  — 
Seine  schmalen  Dreie***)  gebunden. 


*)  Dies  ist  die  einzigste  Zeile,  die  im  gälischen  ,Ossian*  von  1807  (Fingal  4,  360) 
mit  der  Ballade  überein  lautet;  nur  wird  bei  Macpherson  und  Oberhaupt  in  neuem 
gälischen  Texten  Fingais  berühmtes  Banner  deo-ghrenu  genannt  (Fingal  i,  647.  i,  339; 
Ob.  7b;  Mac  Intyre  p.  104)  und  irrtümlich  als  sun-beam  erklärt,  in  welcher  Bedeutung 
dann  moderne  Dichter  das  Wort  gebrauchen  (Smith,  Seandäna  p.  41;  Munroe,  An 
tailleagan  p.  41).  Den  richtigen  Namen  hat  das  Dean's  book:  dalwe  zreynith  „das  Bild 
der  Sonne**.  Bei  den  Iren  heifst  das  Banner  auch  geal-grelne  (Brooke,  Rellcs  '  p.  275) 
oder  gal  grehie  (Relics  *  p.  408;  O'Flanagan,  Deirdri  p.  77  —  daher  so  auch  in  Moores 
Irish  melodies)  oder  gath  greine  (O'Flanagan  p.  337)  oder  gile  greine  (Walsh,  Irish 
populär  songs  p.  58;  auch  Cb.  197  a.  107  a). 

**)  Macpherson  hat  diesen  Zweikampf  im  Fingal  p.  63  ed.  1762  =  Fingal  5, 
42 «-62  nachgedichtet:  „There  was  clang  of  armsl  there  every  blow,  like  the  hundred 
hammers  of  the  fumacel  Terrible  is  the  battle  of  the  kings,  and  horrid  the  look  of 
their  eyes  .  .  .  They  fling  their  weapons  down.  Fach  rushes  to  his  hero's  grasp  .  .  . 
Bat  wben  the  pride  of  their  strength  arose,  they  shook  the  hill  with  their  heels*",  etc. 
***)  d.  i.  Hand-,  Fuis-  und  Halsgelenk;  mitunter  werden  f&nf  Schmale  gezählt. 


154 


Ludwig  Chr.  Stern. 


Sin  nuair  labhair  Conan  maol 
mac  Morna^  bha  riaroh  ri  hole: 
,Cumar  rium  Maghnus  nan  lann, 
gu*n  sg;arainn  a  cheann  ri  chorp!* 

fChan  'eil  agam  cairdeas  na  caomh 
riutsa,  Chonain  mhaoil  gun  fhalt; 
o  tharladh  mi  *n  grasalbh  Fhinn, 
*s  annsa  leam  na  bhi  fo  d*smachd.^ 

,0  tharladh  thu  *m  ghrasaibh  fein, 
chan  iomair  mi  beud  air  flath, 
fuasglaidh  mi  thusa  o  m'  fheinn, 
a  lamh  threun  a  chuir  mor  chath. 

/S  gheibh  thu  do  roghainn  arls. 
nuair  a  theid  thu  do  d*thir  fein, 
cairdeas  is  comunn  do  ghnath 
no  do  lamh  a  chur  fo  *n  fheinn.* 

,Cha  chuir  mi  fa  d*  fheinn  mo  lamh, 
'n  cian  a  mhaireas  cail  am  chorp, 
cha  toir  mi  buill*  ad  aghaidh,  Fhinn, 
*s  aithreach  leam  na  rinn  mi  ort.* 


Mornas  Sohn,  der  kahle  Conan, 

Sprach,  ilur  stets  auf  Böses  sinnend: 
, Lasset  mir  den  Schwerter-Magnus, 
Ihm  den  Kopf  vom  Rumpfe  zu  trennen  !*  — 

,Zwischen  uns  ist  keine  Freundschaft, 
Kahler  Conan  ohne  Haare! 
Wohl  mir,  dafs  ich  Finn  zur  Gnade, 
Nicht  in  deine  Macht  bin  gefallen!*  — 

,Da  du  meiner  Gnad  anheimfielst, 
Ob  ich  nicht  am  Fürsten  Frevel, 
Geb  dich  frei  von  den  Fiannen, 
Tapferhand  und  Kämpfer  der  Schlachten! 

, Wähle  jetzo  von  zwei  Dingen: 
In  dein  Land  zurückgekommen, 
Freundschaft  uns  und  Bund  zu  halten 
Oder  den  Fiannen  zu  trotzen.*  — 

,Nie,  so  lange  ich  am  Leben, 
Werd  ich  den  Fiannen  trotzen 
Oder  dich,  o  Finn,  bekämpfen! 
Was  ich  gegen  dich  tat,  gereut  mich.*  — 


Den  von  der  Volkssage  an  diese  Ballade  angeknüpften  Treubruch 
des  Königs  Magnus  (Campbell,  Tales  3,  364  fF.)  hat  Kennedy  seinem 
Texte  in  eigenen  Versen  angehängt.  Es  giebt  aber  eine  besondere 
Ballade  von  einem  Zuge,  den  Finn,  auf  eine  trügerische  Einladung  des 
Königs  Magnus  seine  Tochter  zu  freien,  nach  Lochlan  unternahm.  Nur 
ihre  Tapferkeit  rettete  hier  die  Fiannen  von  dem  Untergange,  der 
ihnen  bereitet  werden  sollte.*)  Für  Macphersons  Erzählung  von  der 
fabelhaften  Agandecca  (im  Fingal  3,  14  ff.)  ist  keine  andere  Unterlage 
nachweisbar.  Die  Ballade,  die  einer  Meerfahrt  nur  in  einer  Strophe 
einer  späten  Recension  (Campbells  P)  gedenkt,  ist  unvollkommen  über- 
liefert und  bezieht  sich  ursprünglich  ohne  Zweifel  nur  auf  einen  Zug 
nach  Leinster  (Laighean  leathan),  nicht  aber  nach  Lochlan. 

Die  sehr  bekannte  Ballade  von  Ergan,  einem  andern  Könige  von 
Lochlan,  der  nach  Irland  kam  um  die  Entfuhrung  seiner  Gemahlin 
durch  einen  der  Fiannen  zu  rächen,  Teanndachd  mhor  na  feinne  „die 
grofse  Bedrängnis  der  Fiannen"*  betitelt,  stammt  spätestens  aus  dem 
Anfange  des  17.  Jahrhunderts**).     Sie  hat  Macpherson    den  Stoff  zu 


*)  Schon    das    Buch    von    Howth    (16.    Jahrh.)   kennt   die  Ballade;  s.  Hanmer's 
Chronicle  p.  31,  ed.  1809. 

**)  Das  Argument  der  irischen  Ballade  hat  W.  Haliday  in  seiner  Grammar  of  the 
gaelic  lang^age  1808,  p.  133,  veröffentlicht. 


1 


Die  ossiaoischeiL  Heldenlieder.    III. 


1&5 


seiner  „Schlacht  von  Lora"  geliefert,  aber  es  ist  nicht  nötig,  die  ober- 
flächliche Art,  in  der  er  sie  benutzt  hat,  im  einzelnen  nachzuweisen, 
da  Frau  Talvj  auf  Grund  der  Youngschen  Übersetzung  ihrer  Zeit  ein 
anschauliches  Bild  davon  gegeben  hat.  Nur  ein  Beispiel  sei  gestattet. 
Unter  den  Geschenken,  die  die  irische  Königstochter  dem  Könige  von 
Lochlan  als  Sfihne  anbietet,  nennt  Macpherson:  „An  hundred  girdles 
shall  also  be  thine,  to  bind  high-bosomed  women;  the  friends  of  the 
births  of  heroes,  and  the  eure  of  the  sons  of  the  toil"  —  in  der 
spätem  Ausgabe  veränderte  er  warnen  in  maids,  gewifs  keine  Ver- 
besserung.  Nicht  den  geringsten  Anhalt  bieten  die  Worte  der  Bal- 
lade für  die  gelehrt  kommentierten    „sanctified  girdles"   Macphersons. 


Gheabhadh  tu  sud  Is  ceud  crios, 
cha  tejd  slios  mu*n  teid  lad  eug, 
chaisgeadh  iad  leathtrom  is  sgios, 
leug  liomhach  nam  bucal  bän. 


Das  sei  dein  und  hundert  Gürte], 
Tod  verhütend,  wo  sie  binden, 
Schwere  auch  und  Müde  hindernd, 
Weifs    von     Schnallen*),     kostbares 

Kleinod. 


Mit  einem  Kriege  gegen  die  Lochlanner  ist  auch  die  Sage  von 
der  Mulertach**)  in  einer  andern,  von  AI.  Cameron  im  Scottish  Celtic 
Review  1885  behandelten,  Ballade  verknüpft.  Vom  Reiche  Lochlan 
kommt  an  die  Küste  Erins  ein  weibliches  Ungetüm,  das  die  Fiannen 
zum  Kampfe  herausfordert.  Finn  besiegt  imd  tötet  das  Scheusal.  Um 
die  Mulertach,  seine  Muhme,  zu  rächen,  kommt  der  König  von  Loch- 
lan mit  starker  Flotte  nach  Erin.  Da  er  die  reichen  Geschenke,  die 
Finn  ihm  bieten  läfst,  ausschlägt,  so  ziehen  ihm  die  Fiannen  mit  ihren 
Bannern  entgegen***).  In  der  Schlacht  bei  Benn-Edir  (d.  i.  dem  Hügel 
von  Howth)  werden  seine  Streitkräfte  gänzlich  vernichtet  und  er  selbst 
durch  Oscar,  Finns  Sohn,  getötet.    Die  Ballade  ist  nicht  sehr  alt  und 


^  bucal,  bucail  ist  das  englische  buckle,  z.  B.  Sinclair,  The  gaelic  bards  i,  153. 
2,  149;  auch  im  Irischen:  bucladha  brög  „Schuhschnallen**,  Hardiman  i,  338;  buclaidhe, 
Merriman  Vs.  371;  buclaoi,  Vs.  391. 

**)  Muileartach  oder  Muireartach  (nur  in  wenigen  Texten  masc.  gen.)  scheint  so 
Tiel  wie  Schreckgespenst  zu  bedeuten;  vergl.  Campbell,  The  Fians  p.  69;  Mackenzie, 
Beauties  p.  a86b;  W.  Ro&,  Poems  p.  33  ed.  1877.  Von  einem  Ungeheuern  Meerwdbe, 
das  an  die  Kflste  Schottlands  gekommen  sei,  berichten  irische  Annalen  um  900;  vergl. 
Stokes,  Book  of  Lismore  p.  XLU.  Von  kriegerischen  Jungfrauen  und  Hexen  wird  auch 
sonst  erzählt;  vergl.  Todd,  Wars  of  theGaedhil  with  the  Call  p.  40;  Silva  gadelica  p.  309. 
***)  Die  Aufzählung  der  Banner  der  fiannischen  Häuptlinge  gehört  nach  der  Reim- 
steUnng  in  diese  Ballade,  nicht  in  Magnus  oder  Ergan. 


156 


Ludwig  Chr.  Stern. 


den  Iren,    wie    es  scheint,    nicht   bekannt.     Auch  Macpherson  hat  sie 
nicht  gekannt  oder  doch  als  zu  barbarisch  bei  Seite  gelassen. 

Häufiger  werden  in  den  ossianischen  Balladen  die  Kämpfe  gegen 
einzelne  gewaltige  Helden  geschildert,  die  an  der  irischen  Küste  er- 
scheinen; meist  aus  Lochlan,  denn  die  Welt  des  Dichters  ist  klein. 
Dahin  gehören  „Derg",  „Conn",  „der  wilde  Maihre**  und  „Illan,  der 
Prinz  von  Hispanien"  u.  a.  Von  diesen  ist  die  Ballade  von  Derg,  dem 
Sohne  Drewils,  der  aus  Lochlan  nach  Irland  kommt  und,  nach  Be- 
siegung von  zweihundert  Kriegern  des  Königs  Cormac  und  ebenso- 
vielen  des  zu  Hülfe  eilenden  Finn,  von  Goll  getötet  wird,  ein  altbe- 
kanntes irisches  Gedicht,  vermutlich  aus  dem  i6.  Jahrhundert*).  Die 
dem  Sänger  Fergus  zugeschriebene  Ballade  hat  eine  gewisse  Korrekt- 
heit in  der  Schilderung  der  Handlung  und  ihrer  Umstände  und 
wird  daher  im  albanogälischen  Sprichwort  als  das  Muster  der  Gat- 
tung bezeichnet  (Nicolson,  Proverbs  p.  189,  414).  Viel  bekannter  in 
Schotdand  ist  eine  schon  von  Young  edierte  Ballade  von  Conn,  dem 
Sohne  Dergs,  die  als  eine  Nachahmung  der  irischen  von  Derg  er- 
scheint und  vielleicht  am  Ende  des  17.  Jahrhunderts  eben  unter  den 
Galen  Schottlands  entstanden  ist.  Sie  wird  Oschin  zugeschrieben  und 
ist  an  Patrick  gerichtet.  Conn,  heifst  es,  ein  noch  gewaltigerer  Held 
als  sein  Vater,  kommt  nach  Irland  um  an  den  Fiannen  seinen  Vater 
zu  rächen.  Der  Sänger  Fergus  geht  ihm  entgegen  um  seine  Absichten 
zu  erkunden.     Der  Held  erwidert: 


,Iiiiiseam-sa  sin  duit  gu  beachd, 
Phearghuis,  agus  buin  e  leat, 
eirig  iD*athar  b*aill  leam  uaibhse, 
o*r  mathalbh  's  oV  mor  uaislibh. 

»Ceann  Phinn  is  a  dhä  mhic  mhoir, 
Ghuill,  ChriomhthaJim  agus  Gharadh, 
*s  cinn  chlann  Morna  gvi  haile 
fhaotainn  an  eirig  aon  duine. 

,No  Eirinn  o  thuinn  gu  tuinn 

a  gheillachdainn  do  in*aon  chuing, 
no  coig  ceud  d*or  fine  *maireach 
gu  comhrag  mear  diobbalach.* 


,Ich  will  dirs  in  Wahrheit  sagen, 
Hör  es,  Pergus,  und  bewahr  es! 
Meinen  Vater  will  ich  rächen 
An  den  Besten  euerer  Edlen. 

,Pinn  und  seine  beiden  Söhne, 
Goll  und  Crihwin  mitsamt  Garah, 
Aller  Kinder  Momas  Köpfe 
Will  ich  für  den  Einen  als  Sühne. 

,£rins  Land  von  Wog  zu  Woge 
Soll  sich  meinem  Joche  fügen 
Oder  Kampf  bis  zur  Vernichtung 
Will  mit  fünfmalhundert  ich  morgen/ 


Fergfus  überbringet  die  ernste  Nachricht,  und  es  heifst: 


*)  La  guerre  ou  la  descente  de  Dearg,  fils  de  DiriC|  roi  de  Lochli^,  im  Journal 
des  S9avants  1 764,  p.  847  f.  erwähnt  Das  Gedicht  ist  von  den  Maccallums  ediert  und 
übersetzt,  aber  durchweg  gefälscht. 


Die  ossianischen  Heldenlieder,    m. 


167 


*S  e  thuirt  coi^  ceod  d*ar  fine: 
,Caisgidh  sinn  a  luath  mhirel* 
Cha  robb  sud  doibb  mar  a  radb 
ri  dol  anns  an  iomarbbaigb. 

Ri  laicslnn  doibb  confbadb  Cbuinn 
mar  onfbadb  mara  le  tuinn 
agus  ^Etlacbd  an  fblr  mboir 
an  coinneamb  athar  a  dbioladb; 

*S  e  tbuirt  Conan  maol  mac  Mom: 
^Leigear  mi  tbuige  cbeud  oirl 
*s  gu*m  buininn  an  ceann  amacb 
do  Chonn  dimeasach  uaibbreacb/ 

»Marbhai^  ort,  a  Chonain  mbaoill 
nach  sguir  thu  do  dMonan  chaoidh? 
cha  bhuineadh  tu  *n  ceann  do  Chonn  (* 
*S  e  thuirt  Osgar  nam  mor  ghlonn. 

Ach  ghluais  Conan  le  mhichefll 
db*  aindeoin  na  feinne  gu  lelr 
an  comhdhaÜ  Chuinn  bhuadbaicb  bhrais 
mar  char-toathal  m*  a  aimhleas. 

Nuair   chonnairc  Conn    bu  chaoia  dealbh 
Conan  a  dol  an  sealbh  arm, 
thug  e  sitheadh  air  an  daoi, 
*s  e  teicheadh  dhachaidh  gu  falbh  uaith. 

*S  iomadb  cnap  is  bailc  is  meall 
bha  *g  atadh  suas  air  dhrocb  ceann 
air  maol  Chonan  gu  reamhar, 
*s  a  choig  caoil  'san  aon  cheangal. 

*S  iomadh  sgread  is  iolach  chruaidh 
bh*  ag  Conan  am  fiadhnuis  an  tsluaigh, 
hu  luaithe  na  fiiaim  tuinn*  a  teachd, 
*s  an  fbiann  uile  'ga  etsdeachd. 

yBeannachd  air  an  laimh  rinn  sinl^ 
*s  e  labhalr  Fionn  a*  chruth  ghil, 
,gu  ma  turus  dhuit  gun  eirigb, 
a  Chonain  dhona  mhichefllidbM 


Unser  riefen  da  f&nfhundert: 
,Werden  seine  Tollheit  zähmen  I* 
Aber  als  es  in  den  Kampf  ging, 
Glichen  sie  nicht  solchem  Gerede. 

Als  sie  Conns  Gebahren  sahen 
Wie  des  Wogenmeeres  Wüten 
Und  den  Groll  des  groisen  Bifannes, 
Der  gewillt  den  Vater  zu  rächen; 

Da  hub  Conan  an,  der  kahle: 
iLaist  zuerst  ihn  mir  begegnen, 
Um  den  Kopf  ihm  abzuhauen, 
Diesem  stolz  vermessenen  Conn  daP 

,Sei  verwünscht,  o  kahler  Conan! 
Läist  du  niemals  dein  Geschwätze? 
Du  wirst  Conn  den  Kopf  nicht  abhaun  P 
So  sprach  Oscar,  mächtig  von  Taten. 

Conan  ging  im  Unverstände. 
Den  Plannen  allen  trotzend. 
Gegen  Sieges-Conn  den  raschen, 
Was  zu  seinem  Unheil  gereichte. 

Als  der  holdgestalte  Conn  sah 
Conan  zu  den  Waffen  greifen, 
Stürzte  er  sich  auf  den  Schwächling, 
Der  vor  ihm  sich  rettend  zurücklief 

Viele  Püffe,  Knüffe,  Hiebe 
Sausten  auf  den  Unglücksschädel; 
Fest  in  eine  Fessel  wurden 
Conan  die  fünf  Schmalen  gebunden. 

Laut  Geschrei  und  gelles  Kreischen 
Kam  da  aus  des  Kahlkopfs  Munde; 
Rascher  war  er  als  die  Sturmflut, 
Die  Plannen  hörten  es  alle. 

,Dank  der  Hand,  die  das  getan  hatl^ 
Sagte  Finn  der  edelschöne, 
,Traun,  ein  schlechtes  Abenteuer, 
Conan,  unverständiger  Schelm  dul* 


Als  es  nun  zum  Kampfe  kommt,  zeigt  sich  Conns  Überlegenheit; 
er  richtet  eine  grofse  Verheerung  unter  den  Fiannen  an,  deren  keiner 
ihm  gewachsen  scheint  In  dieser  Not  bittet  Finn  den  stärksten 
Krieger  vom  Stamme  Morna,  GoU,  den  Kampf  mit  Conn  aulBcunehmen. 


*S  sin  chaidh  GoU  *na  chulaidh  chruaidh 
ann  am  fiadhnuis  a*  mhor  shluaigh, 
*s  gu^m  bu  gheal  's  dearg  gnuis  an  ihir 
*na  tborc  garg  dol  *n  tüs  iorghaill. 


Goll  trat  vor  in  harter  Rüstung 
Vor  die  Front  des  ganzen  Heeres. 
Weils  und  rot  von  Antlitc  schritt  er 
Wie  ein  wilder  Eber  zum  Kampfe. 


158  Ludwig  Chr.  Stern. 


An  da  churaidh  bu  gharbh  dth  Die  zwei  Kämpen,  rauh  im  Grimme, 
chuir  iad  an  tulach  air  bhall-chrith  Machten  rings  den  HQgel  beben 

le  *m  beumannaibh  bu  leoir  meud  Mit  den  überwuchtgen  Streichen; 

*s  bha  *n  fhiann  uile  *g  an  coimhead.  Die  Fiannen  standen  betrachtend. 

Cith  fola  do  chnamhaibh  an  corp,  Feuer  sprfiht  aus  blanken  Wa£fen, 
cith  teine  do  *n  armaibh  nochd,  Blut  strömt  aus  der  Leiber  Wunden, 

cith  cailce  do  *n  sgiathaibh  *n  aigh  Splitter  von  den  Glückesschilden 

dol  siar  anns  na  iarmailtibh.  Fliegen  seitwärts  hoch  in  die  Lüfte. 

Bis  in  die  Nacht  kämpften  sie  so,  und  als  die  Flut  fiel  und  sich  die 
Wolken  senkten,  kamen  Elfen  aus  den  Bergen  sich  verwundernd  und 
sich  ergötzend.  Nach  langem  Kampfe  faUt  endlich  Conn,  aber  Gell 
hat  Wunden  davongetragen,  die  nur  langsam  heilen. 

Gair  eibhinn  gu*n  d'  rinn  an  fhiann  Ein  Triumphgeschrei  erhoben 
nach  d^rinneadh  leo  roimhe  riamh  Wie  noch  niemals  die  Fiannen, 

ri  iaicinn  doibh  GhuUl  mhic  Moma  Als  sie  GoU  Mac-Moma  sahen 

an  uachdar  air  Conn  treun-toireach.  Über  Conn  dem  mächtigen  Recken. 

Naoi  raidhean  do  Gholl  an  aigh  Neun  der  Jahreszeiten  heilte 

*g  a  leigheas  mu'n  robh  e  slan,  Goll,  bis  wieder  er  gesund  ward, 

ag  eisdeachd  ceoil  dh*  oidhch*  *s  do  Im  Tag  und  Nacht  dem  Licde  lauscheod 

*s  a  pronnadh  oir  fo  throm-dhaimh.  Und  mit  Gold  die  Sänger  beschenkend. 

Macpherson  hat  die  eben  besprochenen  beiden  Balladen  nicht 
benutzt,  wohl  aber  „Maihre"  und  „Alan",  die  in  einem  ähnlichen  Ver- 
hältnis zu  einander  stehen.  Maighre-borb,  von  AI.  Cameron  im  Scottish 
Celtic  Review  1882  ediert  und  übersetzt,  ist  ein  altes  Gedicht,  das 
schon  im  Dean's  book  und  auch  im  Irischen  vorkommt.  Als  Finn 
der  Sohn  Cuwals  mit  kleinem  Gefolge  einstmals  bei  Esroy  weilt, 
landet  mit  ihrem  Nachen  eine  edle  Jungfrau,  eine  Tochter  des  Königs 
des  Wogenlandes,  die  ihn  gegen  einen  Ritter  namens  Maihre-borb, 
den  Prinzen  von  Sorcha,  um  Schutz  anfleht.  Ihr  Verfolger  erscheint 
alsbald  zu  Rosse  und  sucht  sie  wegzufuhren,  wird  aber  nach  hartem 
Kampfe  von  Goll  getötet  und  an  der  Stätte,  als  Ehre  des  Königs 
mit  einem  goldenen  Ringe  an  jedem  Finger,  begraben,  während  die 
Maid  ein  Jahr  bei  den  Fiannen  als  Finns  Weib  zurückbleibt.  Mit 
dem  „Lande  unter  Wogen"  (tir  fa  thuinn),  was  neuere  Dichter  für 
die  Niederlande  gebrauchen  (Hardiman  2,  231;  Cb.  i6oa),  wird  ein 
vom  Meere  verschlungenes  Märchenland  bezeichnet  (vergl.  z.  B.  Silva 
gad.  p.  268).  In  derselben  Welt  liegt  das  Land  des  Helden,  Sorcha, 
eigentlich  „das  Lichtland",  eine  Bezeichnung  der  terra  promissionis; 
so  schon  in  mittelirischen  Texten,  z.  B.  Windisch  p.  219;  LL.  77b  19; 
Silva  gad.  p.  269.  300.     Die  Ballade  von  Alan  ist  eine  albanogälische 


Die  ossianischen  Heldenlieder.     III.  169 

Nachahmung  des  Maihre,  etwa  aus  dem  1 7.  Jahrhundert.  Hier  kommt 
eine  schöne  Jungfrau  zu  den  Fiannen  über  die  Ebene,  um  vor  Ulan, 
dem  Sohne  des  Königs  von  Hispanien,  bei  Finn  Schutz  zu  suchen. 
Ihr  Verfolger  erscheint,  greift  die  Fiannen  an  und  tötet  mit  vielen  von 
ihnen  auch  die  Jungfrau,  worauf  er  im  Kampfe  gegen  Oscar,  Oschins 
Sohn,  fallt.  Die  Erzählung  wird  von  Oschin  an  Patrick  den  Sohn 
Alpins  gerichtet.     Der  Anfang  lautet: 

Oisin  uasail,  a  mhic  Fhinn,  £dler  Oschin,  König  Finns  Sohn! 

's  tu  ad  shuidhe  air  'n  tulaich  eibhinn,  Wie  du  auf  dem  Hügel  sitzest, 

a  laoich  mhoir  mhilidh  nach  meata,  Seh  ich  Gram  auf  deinem  Geiste, 

gu*m  faic  mise  bron  air  th'  inntinn.  Unverzagter,  streitbarer  Kämpe!  — 

Cuid  do  dh*  aobhar  mo  bhroin  fein,  Meines  Grames  Grund,  o  Pfaffe? 

a  chleirich,  ma*s  aill  leat,  eisd:  Wenn  es  dir  beliebt,  so  höre, 

chunnairc  mi  uair  teaghlach  Fhinn,  Einst  sah  ich  den  Haushalt  Finns  hier, 

bha  e  mear  mor  meadhrach  eibhinn.  Grofs  und  mächtig,  froh  und  vergnüglich. 

Diese  jüngere  Ballade  hat  Macpherson  in  den  Fragments  von  1 760 
p.  26  £F.  auf  seine  Weise  „übersetzt":  „Son  of  the  noble  Fingal, 
Oscian,  prince  of  men!  What  tears  run  down  the  cheeks  of  age? 
what  shades  the  migthy  soul?"  —  „Memory,  son  of  Alpin,  memory 
wounds  the  aged,  of  former  times  are  my  thoughts;  my  thoughts  are 
of  the  mighty  Fingal".  Im  Fingal  (3.  Buch,  p.  45  ed.  1762)  wurden 
die  beiden  Balladen  zu  der  Geschichte  vom  „Mädchen  von  Craca" 
(wahrscheinlich  statt  Greig,  wie  ein  Text  giebt  —  nicht  creag  statt 
carraig  „Felsen",  wie  J.  Smith  und  AI.  Campbell  meinen)  konfundiert: 
nach  dieser  willkürlichen  Dichtung  tötet  Fingal  Borbar  (Maighre-borb), 
den  Häuptling  von  Sora  (Sorcha)  und  Verfolger  der  FeineasoUis,  die 
zu  Schüfe  ankommt.  Den  Balladen  von  der  verfolgten  Jungfrau  ähn- 
lich ist  die  irische  über  Tailc  Mac  Treoin,  die  zuerst  von  O'Flanagan 
veröflfentlicht  worden  ist,  und  die  Erzählung  über  Bebind  im  Agallamh 
(Silva  p.  211;  Zeitschrift  für  deutsches  Altertum  33,  269  ff.). 

Ich  übergehe  einige  Balladen  über  andere  kriegerische  Abenteuer 
der  Fiannen,  wie  die  Taten  der  Neun  und  der  Sechs,  Dirings*)  Tod 
u.  a.,  von  denen  nur  Recensionen  des  18.  Jahrhunderts  vorliegen. 
Ziemlich  jung  sind  auch  mehrere  Balladen  über  Hexen  und  Zauberer. 
Der  Zauber  Rocs,  eines  boshaften  Läufers  des  Königs  Cormac,  konnte 


*)  Dering  heifst  der  Name  im  Deans  book  26,  14;  Dlorraing  Oss.  2,  120; 
Duibhrinn  Silva  p.  190;  Ddire  Oss.  6,  22;  in  den  neuern  schottischen  Texten  Diurag, 
Diarag  (Cb.  219;  Cam.  i,  398;  Cb.  1x2;  Invern.  13,  297). 

ZUchr.  f.  vgl.  Litt-Gesch.    N.  F.  VUI.  jj 


160  Ludwig:  Chr.  Stern. 


nur  gebrochen  werden,  wenn  man  ihn  im  Laufe  überholte;  Finn  selbst 
erreichte  ihn  bei  Esroy  und  tötete  ihn  (Cb.  64b).  Lon,  der  Schmied 
des  Königs  von  Lochlan  in  Berwe,  ist  der  Wieland  der  gälischen 
Sage:  eine  schon  von  Campbell  in  den  Tales  bekannt  gemachte 
Ballade  erzählt,  wie  der  einfufsige  Lon  einstmals  Finn  und  seine 
sieben  Begleiter  zu  seiner  ablegenen  Schmiede  gefuhrt  und  dort  für 
alle  acht  höchst  vortreffliche  Schwerter  geschmiedet  habe.  Finn  wird 
darauf  durch 's  Loos  bestimmt  ein  menschliches  Wesen  herbeizuholen, 
in  dessen  Blute  sie  gehärtet  werden  sollen.  Er  bringt  die  Mutter  des 
unheimlichen  Künstlers,  der  nicht  zögert  sie  mit  sieben  Klingen  zu 
durchbohren.  Darnach  ersticht  Finn  mit  der  für  ihn  hergestellten 
Waflfe  den  Schmied  selbst  und  härtet  so  sein  eigenes  wunderbares 
Schwert,  das  nichts  zu  schlagen  oder  vom  Fleische  der  Männer  nichts 
übrig  zu  lassen  pflegte  und  als  „Sohn  Lons"  in  der  Sage  hochberühmt 
ist*).  Das  dem  Oschin  beigelegte  Gedicht  ist  nur  in  Schottland 
heimisch  und  nicht  alt. 

Von  den  Jagdballaden,  deren  sich  in  Irland  mehr  als  in  Schott- 
land erhalten  haben,  ist  die  grofse  Jagd  auf  dem  „Berge  der  blonden 
Frauen"  (in  der  Grafschaft  Tipperary),  deren  ältesten  Text  das  Buch 
des  Dechanten  Macgregor  giebt,  die  bekannteste.  Sie  erinnert  an 
an  Bedas  Beschreibung  von  Irland:  Hibemia  dives  lactis  ac  mellis 
insula  .  •  .  cervorum  venatu  insignis. 

Do  leigeamar  tri  mile  cu  Dreimal  tausend  Rüden  lAsten 

a  b'thearr  luth  's  a  bha  garg;  Wir,   die  wild   und  von  den  stärksten; 

mharbh   gach   cu  dhiübh  sin  da  fhiadh  Jeder  streckte  zwei  der  Hirsche, 

seal  fa  *n  deachaidh  an  iall  na  hard.  Eh  man  ihm  die  Koppel  anlegte. 

loghnadh  's  m6  a  chunnacas  riamh  Doch  kein  gröfser  Wunder  sah  man 
no  chuala  fiann  Innse-Pail,  Oder  hörten  Pails  Plannen; 

gu  d^ mharbh  Bran  is  e  *na  chuilein  Bran,  ein  HQndlein  noch,  erlegte 

fiadh  agus  uibhir  ri  cach.  Einen  mehr  als  alle  die  andern. 

Macpherson  kannte  diese  Ballade;  im  Fingal  6,  350  „übersetzt" 
er  die  beiden  Strophen,  von  denen  die  zweite  übrigens  aus  Kennedys 


*)  Vergl.  Nicolson,  Gaelic  proverbs  p.  95.  388;  AI.  Macdonald,  Poems  p.  98; 
Cb.  180,  und  im  Irischen:  Oss.  3,  90;  Texte  IL  2,  144.  Macpherson  hat  ganz  richt%: 
„That  sword  is  by  his  side  which  gives  no  second  wound",  Temora  i,  70,  daneben 
aber  höchst  wunderliche  Angaben  über  „Luno"  in  Temora  p.  120,  ed.  1763.  Es  ist 
übrigens  wahrscheinlich,  dafs  Mac  an  Luin  aus  dem  luin  CeltchaJr,  dem  Speere 
Celtchairs,  eines  Helden  unter  König  Conchobar,  entstanden  ist;  vergl.  Hennessy,  Mesca 
Ulad  p.  Xrv  ff.     Im    Agallamh  heifst  Finns  Seitenschwert  Craebghlasach  (Silva  p.   14a). 


Die  ossianischen  Heldenlieder.    IQ. 


161 


Text  entnommen  ist,  so:  „A  thousand  dogs  fly  oflf  at  once,  gray 
bounding  through  the  heath.  A  deer  feil  by  every  dog,  three  by 
the  white-breasted  Bran".  An  einer  andern  Stelle  erwähnt  er  den- 
selben hairy-footed  Bran  (Temora  6,  296).  Dieser  berühmte  Liebling 
Finns,  dessen  Sieg  über  einen  gewaltigen  „schwarzen  Hund**  aus  Innis- 
torc  (d.  i.  Orkney)  eine  andere,  von  Macdougall  übersetzte,  Ballade 
schildert*),  wurde  von  einem  der  Fiannen  in  einem  Streite  mit  einem 
Riemen  mit  ehernen  Buckeln  erschlagen  und  von  seinem  Herrn  unter 
Tranen  betrauert.     Schon  Hill  hat  das  Gedicht  darüber  mitgeteilt. 


Casa  boidhe  bha  ag  Bran, 
da  shlios  dhubha  is  tan*  geal, 
dniim  uaine  mu*ii  iathadh  an  tsealg, 
dk  chluais  chorracha  chro-dhearg. 

Bu  mhath  e  thabhunn  dobhrain  duinn, 
is  cha  mheas  e  thoirt  eisg  a  habhainn, 
gu^m  bThearr  Bran  a  mharbhadh  bhroc 
na  coin  an  talmhainn  a  thainig. 


Unser  Bran  war  gelb  von  Pfoten, 

Schwarz  von  Seiten,  weils  am  Bauche, 
Bunt  von  Rücken  um  die  Lenden**), 
Spitz  und  blutrot  waren  die  Ohren. 

Gut,  des  Otters  Spur  zu  finden; 

Schlechter  nicht,  den  Fisch  zu  fangen; 
Und  den  Dachs  zu  stellen  besser 
Als  die  Hunde  alle  im  Lande. 


Zu  den  Jüngern,  Schottland  eigentümlichen  Balladen  kann  man 
auch  die  beiden  Abenteuer  Cailtes  des  Sohnes  Ronans  rechnen,  der 
als  der  schneUfüfsigste  aller  Fiannen  gilt.  Das  erste,  eine  Sauhatz 
beschreibend,  hebt  so  an: 


Latha  dhuinne  sealg  nan  Cluanan 
do  dh*  Fhionn  is  do  mhor  shluagh 
db*  eirich  romhainn  air  an  leirg 
aon  mhuc  dhisgeamach  dhonna-dhearg. 

Leig  sinn  ar  sh  lomhainn  deug 
ris  a'  mhuic  agus  ni*m  breug, 
chuir  a*  mhuc  dith  air  ar  conaibh. 
is  dh'  fhag  i  ar  sealg  gun  deanamh. 


Als  einst  Pinn  in  Cluan  birschte. 
Mit  ihm  viele  seiner  Mannen, 
Sah  man  von  der  H^de  kommen 
Eine  rote  hauende  Saue. 

Sechzehn  Koppeln  (ungelogen!) 
Lösten  wir  auf  dieses  Wildschwein, 
Doch  nur  Schaden  brachts  den  Hunden 
Und  das  Jagen  blieb  uns  erfolglos. 


Finn  setzt  auf  die  Erlegung  des  bösen  Ebers  einen  Preis,  „den  er 
niemals  wieder  ausbot**,  eine  Frau  nach  Wahl  von  den  Frauen  der 
Fiannen.  Cailte  holt  die  bezauberte  Bestie  ein,  tötet  sie  mit  Hülfe 
seiner  guten  Fee  und  gewinnt  das  Weib  Finns,  die  kluge  Alwe,  oder 


*)  Von  einem  berühmten  Hunde  des  Königs  der  Norweger  erzählt  ein  Gedicht 
im  LL.  207  b  5:  gegen  den  vermochte  kein  harter  Kampf  etwas,  er  leuchtete  wie  eine 
Fackel  in  der  Nacht  und  verwandelte  in  Meth  oder  Wein  die  Quelle,  in  der  er  sich 
badete.     Vergl.  Silva  p.  206. 

•*)  Text  und  Übersetzung  nicht  sicher;  vergl.  D.  Mac  Intosh,  Proverbs,  1785, 
p.  55;  0*Flanagan,  Deirdri  p.  315;  und  Caraid  nan  Galdheal  ed.  Clerk  p.  347;  Nicolson, 
Proverba  p.  347. 

IX* 


162 


Ludwig  Chr.  Stern. 


Statt  ihrer  ein  grofses  Lösegeld.  (Vergl.  Silva  p.  114.)  Die  andere 
Ballade  von  Cailte  erzählt,  wie  die  Fiannen,  auf  der  Jagd  von  einem 
Unwetter  überrascht,  sich  weit  und  weiter  verirren  und  Cailte  nach 
einem  Wege  ausschicken.  In  einem  einsam  gelegenen  Hause  findet 
er  eine  Königstochter  und  befreit  sie  aus  der  Gewalt  eines  Riesen, 
den  er  nach  hartem  Kampfe  tötet.  (Vergl.  Silva  p.  136,)  Die 
„Todtenklage  um  Derg",  der  nach  der  Sage  von  einem  Eber  getötet 
wird,  seiner  Witwe  in  den  Mund  gelegt,  ist  ein  kurzes  albanogälisches 
Gedicht  nach  der  Art  des  irischen  caoinan  (keening)  aus  dem 
18.  Jahrhundert;  Macpherson  giebt  in  einer  Anmerkung  zu  seinem 
„Calthon  und  Colmal"  (p.  223  f.  ed.  1762)  eine  gänzlich  freie  Para- 
phrase davon,  weshalb  es  hier  nicht  unerwähnt  bleiben  sollte. 

Das  Weib  spielt  in  der  ossianischen  Poesie  im  allgemeinen  keine 
bedeutende  Rolle.  Das  Gedicht  von  Oschins  Brautwerbung,  das 
Macpherson  ausnahmsweise  getreu  verdolmetscht*)  und  sehr  geschickt 
in  seinen  Fingal  4,  13 — 74  verflochten  hat,  ist  in  der  von  Young  ver- 
öffentlichten Form  nicht  alt  und  aus  zwei  nicht  zusammengehörigen 
Stücken  zusammengesetzt;  den  ursprünglichen  Text  bietet  Sage,  auch 
Sir  George  Mackenzie  hat  einige  ältere  Strophen.  Die  alte  Ballade 
vom  Mantel  (Cam.  i,  76.  116)  giebt  keinen  grofsen  Begriflf  von  der 
Ehrbarkeit  der  Frauen  der  fiannischen  Helden;  sie  ist  jedoch  nur 
die  gälische  Fassung  des  Fablel  vom  Mantle  mautaillie.  Ein  Gedicht 
„Sgeul  uaigneach"  im  Buche  des  Dechanten,  das  man  „die  schönste 
Musik"  betiteln  könnte,  gehört  zu  den  besten  ossianischen,  doch  ist 
sein  Verständnis  noch  nicht  durchweg  gesichert.  Während  Conan  seine 
liebste  Musik  im  Würfelspiel  hört,  Oscar  im  blutigen  Kampfe,  Mac 
Luhach  in  der  Jagd,  Finn  im  Flattern  der  Banner  seiner  Krieger  (cf. 
Oss.  2,  136)  und  Oschin  im  Gesänge,  sagt  Dermid,  der  „Frauen- 
Dermid"  genannt: 


,Ceol  is  m6  rugas  da  raoghainn^ 
do  radh  Diarmaid  nan  dearc  mall, 
,a  ro-ghraidh,  cian  ge  beo  dhomhsa 
comhradh  bhan  is  annsa  ann^ 


,Soll  ich  die  Musik  mir  wählen', 
Sagte  Dermid,  sanft  von  Augen. 
,Ist  das  Liebste  mir  im  Leben, 
O  mein  Freund  1  die  Stimme  der  Frauen'. 


Dermid  der  Sohn  Oduhnes  war    nicht    nur    einer    der    tapfersten 
Helden  unter  den  Fiannen,  sondern  auch  der  schönste.     Er  hatte   ein 


*)  Das  Gälische  von  1807,  natürlich  aus  dem  Englischen  übersetzt,  ist  von  dem 
Balladentcxte  gänzlich  verschieden;  z.  B.  wird  Daire  nan  creuchd,  „Durra  of  wounds** 
zu  Dura  nan  lot. 


Die  ossjanischen  Heldenlieder.     III.  163 

Liebesmal  auf  der  Stirn,   bei  dessen  Anblick  jede  Frau  in  Liebe  zu 
dem  Manne  entbrannte.  .  So  verliebte  sich   auch   Grainne,   Finns  Ge- 
mahlin, eine  Tochter  des  Königs  Cormac,  in  den  Helden  und  verleitete 
ihn  mit  ihr  zu  entfliehen.     Ihre  langen   Irrfahrten   bilden  den  Gegen- 
stand  einer  irischen  Erzählung  und  einige   ältere  Verse    darüber    hat 
Kennedy  zu  einer  Ballade  ausgestaltet:     Is  nioch  a  ghoireas  d  chörr 
„Früh  am  Morgen  schreit  der  Kranich*'.    Eine  andere  Ballade  Oschins 
an    Patrick    erzählt,    wie    nur    die    Dazwischenkunft    seiner    Freunde, 
namentlich   Oscars,   Dermid  vor  dem  Tode  schützte,    als  er   einst  im 
Walde   von   Newry    in  einer  Eberesche,    unter    der  Finn   beim  Brett- 
spiel safs,   entdeckt  wurde.     Finn  sinnt  fortwährend   auf  Rache    und 
hinterlistig  lädt    er  Dermid    einst   nach   dem  Berge   Gulbun  zur  Jagd 
auf  einen  bösen  Eber   ein.      Ungeachtet   der  Warnung  Grainnes  folgt 
Dermid  der  Einladung.   Er  besteht  den  Eber,  an  den  sich  die  übrigen 
nicht  heranwagen,   und   erst  als  Finn  ihn  veranlafst  das  tote  Schwein 
auf  dessen    Rücken   schreitend  gegen  die   Borsten  zu  messen,   dringt 
ihm   ein   giftiger  Stachel  in  den  Fufs  und  er  kommt  elendiglich  um, 
da    ihm    sein  Widersacher    einen   Heiltrunk   aus    seinen  Händen    ver- 
weigert.     Die    Ballade    vom  Tode    des    gälischen    Adonis    wird    im 
Deans  book  gegeben,   von  dem  die  spätem  Texte,  wie  auch  der  in 
Campbells  Tales  übersetzte,   beeinflufst  sind;   sie  ist  eine  echt  schot- 
tische*).    Aber    die  Sage  ist  uralt,   denn   schon  im  Lebor  na  huidre 
des   II.  Jahrhunderts  findet  sich  eine  Strophe  aus  einem  Gedichte,   in 
dem  Grainne  ihre   Leidenschaft   für  Dermid    gesteht    (Revue    celtique 
II,   126). 

^Ein  Mann  ist, 

Den  gern  ich  lange  schaute, 

Um  den  die  schöne  Welt  ich  gäbe, 

Ists  auch  Verrat,  hin  ganz  und  g^r". 

Verhängnisvoll  wurde  für  die  Fiannen  eine  alte  Fehde  zwischen 
den  Stämmen  Baischgne  und  Morna.  Nach  einem  Gedicht  in  Dean's 
book  (No.  29),  das  sich  ziemlich  vollständig,  obwohl  etwas  verändert, 
bis  in  unser  Jahrhundert  erlialten  hat,  hatte  Finns  Vater  Cuwal  den 
Stamm  Morna  einst  schwer  verfolgt,  viele  davon  verbannt  und  viele 
erschlagen.    Sie  beschlossen  sich  zu  rächen,  indem  sie  ihn  durch  eine 


*)  Die  Herzöge  von  Argyle  leiten  ihren  Stammbaum  auf  Diarmaid  0*Duibhne 
zurück  und  fuhren  den  Eberkopf  im  Wappen  —  ceann  na  muice  fiadhaiche  a  leag  Diarmad 
'sa  choill  üdlaidh  (Mac  Intyre  p.  125).  Es  handelt  sich  jedoch  um  einen  andern 
0*Duibhne,  wie  Skene,   Celtic  Scotland  3,  459,  zeigt. 


164 


Ludwig  Chr.  Stern. 


Mornierin  betören  liefsen  und  den  Schlafenden  überfielen*).  So  er- 
zählt Garah,  ein  alter  Krieger  vom  Stamme  Moma,  den  Hergang  dem 
Sohne  Cuwals,  der  seinen  Vater  nicht  gekannt  hatte. 


,Thus^  sinn  *n  sin  ruith  nach  robh  mall 
gas  an  tlgh  an  robh  Cumhall, 
chuir  sinn  guin  ghoirt  gach  fear 
ann  an  corp  Chumhaill  d'a  shleagh. 

,Bbeucadh  e  mar  g^m  biodh  mart  ann, 
*s  raoiceadh  e  mar  gu*m  biodh  torc  ann, 
*s  ge  nach  b*onair  e  *mhac  righ, 
bhramadh  Cumhall  mar  ghearran. 

,Sin  agads\  Fhinn  mhlc  Chumhaill, 
beagan  do  sgeulaibh  mu  d*athair 
gun  fhuath,  gun  f halachd  o  shin, 
gun  eisiomail,  gun  urram.*  — 

,Ge  nach  d*rugadh  mise  ann 
ri  linn  Chumhaill  nan  geur  lann, 
an  g^iomh  a  rinn  sibh  gu  taireil 
diolaidh  mis*  orr*  an  aon  la  e.* 


«Und  wir  kamen,  traun  nicht  langsam, 
Brachen  ein  in  Cuwals  Wohnung, 
Schlugen  eine  scharfe  Wunde 
Jeder  mit  dem  Speer  in   den  Körper. 

^Und  er  brüllte  wie  die  Kuh  brüllt 
Und  er  grunxte  wie  ein  Eber 
Und,  nicht  schicklich  für  den  König, 
Cuhl  pepedit  ut  caballus. 

«Hier,  Sohn  Cuwals,  hast  du  etwas 
Von  den  Mähren  deines  Vaters, 
Ohne  Hais  und  ohne  Grollen, 
Ohne  Schöntun,  ohne  Ehrfurcht.**  — 

«War  ich  gleich  noch  ungeboren 
Zur  Zeit  Cuhls  der  scharfen  Klingen, 
Werd  ich  was  ihr  schmachvoll  tatet 
Eines  Tags  an  euch  doch  noch  rächen!' 


Der  Untergang  der  Fiannen  scheint  nach  der  albanogälischen  Sage 
mit  dem  Tode  Dermids  zu  beginnen.  Bald  darauf  erlag  Carril,  der 
jüngste  Sohn  Finns,  dem  stärkern  Goll,  mit  dem  er  bei  einem  Gelage 
imi  den  Heldenanteil  (curadh-mhir)  in  Streit  geraten  war.  Die  eigent- 
liche Ballade  hierüber  wird  von  Stone  und  Macnicol  mitgeteilt;  aber 
bekannter  ist  ein  Gedicht  Kennedys  geworden,  das  im  Report  als 
ein  ossianisches  veröffentlicht,  aber  von  dem  Verfasser  hinterdrein 
als  sein  Eigen  in  Anspruch  genommen  wurde;  „on  honor  .  .  .  entirely 
my  own",  schreibt  er  an  F.  Graham  (Essay  p.  2i8).  Als  Probe  seiner 
Foesie  stehe  hier  der  Anfang; 


An  Tigh-Teamhra  nan  cruit  chiuil 
air  dhuinne  bhi  steach  mu*n  ol, 
dhuisg  an  iomarbbaigh  na  laoich, 
Caireall  caomh  is  Momad  mor. 

Dh'  eirich  gu  spairneachd  na  suinn, 
bu  truime  na  *n  tonn  cuilg  an  cos, 
sroinich  an  cuim  chluinnteadh  cian, 
*s  an  fhiann  gu  cianail  fo  sprochd. 


Taras  Haus  von  klingenden  Harfen 
Hielt  uns  einst  beim  Trünke  versammelt; 
Da  erregte  der  Hader  die  Helden, 
Carril  den  schmucken  und  Momad  den 

grofsen. 

Auf  zum  Ringen  standen  die  Recken, 
Schwerer  von  Fufswucht  als  die  Woge; 
Weithin  hörte  man  sie  ächzen, 
Die  Plannen  waren  bekümmert. 


*)  Nach  einer  Erzählung  im  Lebor  na  huidre  41b    wurde  Cuwal  vielmehr  in  der 
Schlacht  von  Cnucha  von  Goll  getötet,  der  daselbst  ein  Auge  verlor. 


Die  ossianischen  Heldenlieder.    HI. 


166 


Ciachan  agus  talamh  trom 

threachailteadh  1e  'm  bonn  ^san  stri, 

a  cliarachd  re  fad  an  la 

g^n  fhiosciadhiubhb^fheaiT*8a  ghniomh. 


Steine,  schweres  Erdreich  wühlten 
Ihre  Füfse  auf  im  Kampfe. 
Taglang  währte  dieser  Ringkampf, 
Nicht  entscheidend,  wer  da  der  bessre. 


Als  man  am  zweiten  Tage  zu  den  Waffen  greift,  wird  Carril  von 
Goll  erschlagen ;  Finn  betrauert  ihn  und  die  Barden  stimmen  die  Toten- 
klage an.  GoUs  Tod,  der  verschieden  überliefert  wird,  behandelt  eine 
nur  fragmentarisch  erhaltene,  „D^s  Testament  GoUs"  betitelte  Ballade, 
die  Kennedy  gleichfalls  zu  einem  längern  Gedichte  ausgesponnen  hat. 

Garahs  Tod  bildet  den  Gegenstand  einer  Ballade,  von  der  auch 
Macpherson  einige  Kenntnis  hatte  (Temora  p.  36  ed.  1763);  sie  beruht 
auf  einer  Erzählung  im  Agallamh  (Silva  p.  i23).  Als  die  Fiannen 
einst  zur  Jagd  ausziehen,  lassen  sie  den  alten  Garah  als  Wächter  der 
Frauen  in  ihrem  Hause  in  Formaoil  zurück*).  Während  er  im 
Freien  auf  dem  Rasen  schläft,  knüpfen  deren  einige  sein  langes  Haupt- 
haar an  einen  Baum  und  beim  Erwachen  verliert  er  Haar  und  Haut. 
In  seiner  Wut  legt  er  Feuer  an  das  Haus,  so  dafs  alles  und  alle  ver- 
brennen; dann  verbirgt  er  sich  in  einer  Höhle.  Die  durch  das  weithin 
sichtbare  Feuer  erschreckten  Fiannen  eilen  herbei  und  finden  die  Ver- 
wüstung ohne  ihren  Urheber  zu  ahnen.  Finn  ermittelt  durch  seine 
geheimnisvolle  Sehergabe  den  Brandstifter.  Er  gewährt  dem  Schul- 
digen, der  sofort  aufgefunden  wird,  vorschnell  die  Bitte  auf  seinem, 
des  Königs,  Schenkel  mit  seinem  Schwerte,  dem  in  seiner  Wucht  un- 
aufhaltsamen „Lonssohn",  enthauptet  zu  werden  und  wird  selbst 
schwer  verwundet,  als  Oscar  den  Streich  tut.  Der  »curious  catalogue 
of  furniturec,  den  Macpherson  aus  dem  Gedichte  erwähnt,  lautet: 


Ceud  laöch  nach  druideadh  fo  sheandachd, 
^s  ceud  saor  bhean  do  bhantrachd  Fhinn, 
ceud  cuilean  le  coileir  airgid 
dh'  f  h^  sinn  *san  teach,  's  b*f  hada  Ünn. 

Ceud  macan  le*m  broilleach  shide, 
ceud  maighdean  bu  ghrinne  meur, 
*s  ceud  bean  bu  mhuim*  don  mhacraidh, 
*fhuair  urram  an  teach  nan  treun. 


Hundert  Helden,  altersmüde, 
Dazu  hundert  edle  Frauen, 
Hundert  silberbändge  HOndlein 
Liefsen  ach!  zurück  wir  im  Hause. 

Hundert  Knaben,  seidenbrüstig, 

Hundert  Mägdlein,  zart  von  Fingern, 
Hundert  Ammen  für  die  Kinder, 
Die  geehrt  im  Hause  der  Helden. 


*)  Formaoil  soll  in  Leinster    liegen,    s.  Keating,  History  p.  347,    und  Oss.  4,    18. 
Den  Inhalt  des  Gedichts  giebt  schon  das  Buch  von  Howth ;  s.  Hanmer's  Chronicle  p.  62. 


166  Ludwig  Chr.  Stern. 


Ceud  bratach  uaine  dhathach  Hundert  Banner,  bunt  von  Farben, 
*gabbail  gaoith'  ri  gathaibh  chrann,  Die  im  Wind  an  Stangen  flattern; 

ceud  cupan  *s  ceud  fainne  sheunta,  Hundert  Becher,  Zauberringe, 

ceud  dach  cheangailt'  *s  ceud  corn  cam.  Steine  und  gewundene  Homer. 

Ceud  seuchd  *s  ceud  ceann-bheairtbholgach  Hundert  Dolche,  Buckelhelme, 
is  ceud  sgiath  le  *n  comhdach  crann.  Hundert  holzbedeckte  Schilde, 

is  ceud  luireach  bu  loinnreach  Dazu  hundert  blanke  Panzcp 

fo  ur-mhaillibh  orbhuidh*  ann.  Mit  den  neuen  goldigen  Schuppen. 

Die  Ballade  scheint  den  Schauplatz,  das  nicht  näher  bekannte  Haus  For- 
maoil,  nach  Schottland  zu  verlegen,  denn  nur  dadurch  wird  erklärlich,  dafs 
die  Fiannen  über  eine  Meerenge  setzen,  in  der  sie  einen  der  Ihrigen 
verlieren.  „Jeder  sprang  an  seinem  Speere,  Rehs  Sohn  nur  ertrank 
in  dem  Sunde".  Nach  der  Volksetymologie  soll  von  diesem  Mac 
Reatha  „Caol  Reidhinn"  d,  i.  Kyle  Ray  benannt  sein,  eine  Enge,  die 
die  Insel  Skye  von  dem  schottischen  Festlande  trennt. 

Ihren  Höhepunkt  erreicht  die  Tragik  der  OvSsianischen  Dichtung 
in  der  Schlacht  von  Gaura,  die  der  Vernichtung  der  Fiannen  gleichkam. 
Es  giebt  vier  Balladen  über  Oscars  Tod  in  dieser  denkwürdigen  Schlacht. 
Die  erste  „Is  mor  an  nochd  mo  chumha  fein"  wird  schon  im  Dean's 
book  überliefert;  die  andere  „Aithris  duinne,  Fhearghuis"  desgleichen; 
eine  dritte  „Innis  duinn,  a  Oisin"  (Oss.  i,  74)  ist  fast  nur  bei  den  Iren 
nachweisbar;  die  vierte  „Chan  abair  mi,  thriath,  ri  m*cheol"  ist  die 
eigentlich  schottische,  die  Oscar  mehr  in  den  Mittelpunkt  der  Handlung 
stellt.  Manche  Recensionen  der  letztgenannten  haben  aber  einzelne 
Strophen  aus  den  andern  Balladen  in  sie  aufgenommen.  Die  Ballade 
hat  Macpherson  den  Stoff  zum  i.  Buche  seines  Epos  Temora  geliefert, 
das  er  auch  schon  1762  in  seinem  ersten  Bande  (p.  172  ff.)  hatte 
drucken  lassen ;  er  hat  auch  hier  benutzt,  entstellt,  mifsverstanden,  zu- 
gesetzt wie  sonst. 

Während  Finn  auf  einer  Fahrt  nach  Rom  begriffen  ist,  wo  er 
Heilung  der  bei  Garahs  Hinrichtung  empfangenen  Wunde  sucht,  wurde 
die  Macht  der  Fiannen  von  dem  Oberkönige  Cairbre,  der  seinem  Vater 
Cormac  gefolgt  war,  rücksichtslos  eingeschränkt.  Sie  stehen  daher 
unter  der  Führung  Oscars,  des  Sohnes  Oschins,  den  Truppen  des 
Oberkönigs  feindlich  gegenüber.  Doch  wird  Oscar  von  dem  an- 
scheinend versöhnlichen  Cairbre  zu  einem  Gastmahle  geladen;  mit  einer 
Anzahl  Begleiter  folgt  er  der  Einladung. 

Fhuair  sinn  onoir,  fhuair  sinn  miadh,  Ehre  ward  uns  und  Bewirtung 

mar  a  fhuair  sinn  roirohe  riamh,  Wie  nur  jemals  uns  geworden, 

g^n  easbhaidh  air  fion  no  ceol  Nicht  an  Wein  und  nicht  an  Spiele 

re  tri  oidhchibh  is  tri  lo.  Fehlte  es  drei  Tage  und  Nächte. 


Die  ossianischen  Heldenlieder.   III. 


167 


An  oldhche  mu  dheireadh  do'n  ol 
thoirt  an  Cairbre  le  guth  mor: 
,Iomlaid  sleagh*  is  aill  leam  uait, 
Oscair  nan  arm  faobhar-chruaidh^ 

,Ciod  e  *n  iomlaid  sleagh  ^bhiodh  ort, 
a  Chairbre  niaidh  nan  longphort? 
*s  gur  bu  leat  ml  fein  *s  mo  shleagh 
ri  am  chuir  catha  no  comhraigS 

,Cha  b'  uilear  leam  eis  na  cain 
na  aon  send  a  bhiodh  ^nar  tir, 
cha  b'uilear  leam  ri  m'linn  a  bhos 
gach  seud  a  dhMarrainn  gu'm  faighinn*. 

,Chan  ^eil  or  na  earras  gu  fior 
a  dh'iarradh  oirnne  an  righ, 
gun  tair,  gun  tailceas  duinn  deth, 
nach  bu  leats'  a  thighearnas. 

Jomiaid  cinn  gun  iomlaid  croinn 
b*cucorach  sud  iarraidh  oimn, 
's  e  fath  mu*n  iarradh  tu  sin, 
sinn  bhi  gun  fheinn,  gun  athairS 

,Ged  bhiodh  an  fhiann  is  d'athair 

'n  la  a  b'fbearr  'bha  iad  'nam  beatha, 

cha  b'uilear  leamsa  ri  m'linn 

gach  seud  a  dh'iarrainn  gu*m  faighinnS 

,Nam  biodh  an  fhiann  is  m'athair 
*n  la  b*fhearr  bha  iad  'nam  beatha, 
chan  fhaigheadh  thusa,  a  righ, 
leud  do  throidhe  an  Eirinn!^ 


In  der  letzten  Nacht  des  Festes 
Sprach  mit  lauter  Stimme  Cairbre: 
„Oscar,  Held  von  harten  Waflfen, 
Lafe  uns  unsreSpeere vertauschen!" *)  — 

„Wie  willst  du  den  Tausch  der  Speere, 
Roter  Cairbre  von  den  Heeren? 
Oft  war  dein  ich  mit  dem  Speere 
An    dem    Tag   der   Schlacht    und    des 

Kampfes".  — 

, Nicht  zu  viel  ists  des  Tributes, 
Mir  gezollt  in  unsrem  Lande, 
Nicht  zu  viel,  so  wahr  ich  lebe, 
Ist  ein  Kleinod,    das  ich  verlange".  — 

„Weder  Gold  noch  Habe  giebt  es, 
Wahrlich!  forderts  uns  der  König, 
Ohne  Schimpf  und  ohne  Unglimpf, 
Das  nicht  dir  gehörte  zu  Eigen. 

„Tausch  der  Spitzen  statt  des  Schafttauschs 
Ziemt  sich  nicht  von  uns  zu  fordern. 
Weil  wir  fern  von  den  Fiannen**) 
Und  dem  Vater  heischest  du  solches".  — 

„Wären  sie  auch  und  dein  Vater 
Mächtig  wie  sie  je  gewesen. 
Nicht  zu  viel  ist  mir  im  Leben 
Ein  Geschmeide,  das  ich  verlange".  — 

„Wären  sie  mit  meinem  Vater 
Mächtig  wie  sie  vormals  waren, 
Auch  nicht  deines  Fufses  Breite 
Solltest  du  in  Erin  behalten!"  — 


Zornig  trennen  sich  die  beiden  Herrscher.  Oscar  empfangt  düstere 
Weissagungen  über  den  Ausgang  des  folgenden  Tages:  er  hört  das 
Unheil  bedeutende  Krächzen  des  Raben  und  sieht  eine  Hexe,  die 
blutige  Kleider  auswäscht  und  seinen  Tod  vorhersagt.  Es  kommt  bei 
Gaura  zur  Schlacht,  in  der  zwar  Oscar  Wunder  der  Tapferkeit  ver- 
richtet, den  König  Cairbre  und  seinen  Sohn  Art,  der  ihm  auf  dem 
Felde  in  der  Königswürde  folgt,  erschlägt,  aber  selbst  von  Cairbres 
Lanze  tötlich  verwundet  zusammenbricht***).     Der  Dichter  sagt: 


*)  Vergl.  Macpherson:   „I  behold  the  spear  of  Erin  .  .  .  yield  it,    son   of  Ossian, 
yield  it  to  carborne  Cairbar»*.     Temora  i,  213  ff. 

**)  Macpherson  umgekehrt:    „Are  thy  words  so  mighty,  because  Fingal  is  near?"* 
Temora  i,  239. 

***)  Nach  der  Ballade  setzten  Cairbres  Krieger  den  Helm  des  Königs  auf  ein  Feld- 
zeichen, um  die  Täuschung  hervorzubringen  als  lebe  er  noch.     Das  hat  Macpherson  auf 


168 


Ludwig^  Chr.  Stern. 


Do  fhuair  mise  mo  mhac  fein, 
IS  e  *na  luigh'  air  uileann  chle, 
is  e  sileadh  fhola  dheth 
trid  bhloighdibh  a  luirich. 

Chuir  mi  bonn  mo  shleagh'  ri  lar 
is  rinn  mi  os  a  chionn  tamh 
ag  smuaineachadh  le  bron  an  sin, 
dod  a  dheanainn  *na  dhiaidh. 

Dh'  amhairc  an  t-Oscar  ormsa  suas, 
is  dar  leam  bu  mhor  a  chruas, 
shin  e  cbugam  a  dhät  laimh 
chum  eirigh  am  chomhdhail. 

Ghlac  mi  lamha  mo  mhic  fein 
agus  shuidli  mi  fa  na  sgeith; 
o'n  tsuidheadh  sin  iona  gbar 
nior  chuireas  speis  *san  tsaoghal. 

'S  e  thuirt  rium  mo  mhac  feardha, 
is  e  an  deireadh  a  anma: 
,A  bhuidhe  ris  na  duilibh  sin, 
ma  tha  thusa  slan,  a  athar/ 


Hiemach  fand  ich  meinen  Sohn  auf, 
Auf  dem  linken  Arme  liegend, 
Während  ihm  das  Blut  entströmte 
Durch  die  Fugen  seines  Panzers. 

Auf  des  Speeres  Schaft  mich  stützend 
Stand  ich  still  zu  seinen  Häupten, 
Mit  Betrübnis  überdacht  ich, 
Was  nach  seinem  Tode  begannen. 

Da  erblickte  mich  mein  Oscar 

(O  wie  leidend  er  mich  däuchte!); 
Vor  sich  streckte  er  die  Hände, 
Wie  um  sich  zu  mir  zu  erheben. 

Meines  Solmes  Hände  faist  ich, 
Mich  an  seine  Seite  setzend; 
Wie  ich  safe  in  seiner  Nähe, 
Dachte  ich  an  nichts  mehr  auf  Erden. 

Mit  den  letzten  Atemzügen 

Sprach  zu  mir  mein  tapfrer  Sohn  da: 
^Dank  sei  dargebracht  dem  Himmel, 
Dafs  doch  du,  mein  Vater,  gesund  bist." 


Von  dem  unglücklichen  Verlaufe  der  Kämpfe  berichtet  nun  der 
Sänger  Fergus  dem  eben  zurückkehrenden  Finn,  der  an  ihnen  nicht 
teilgenommen  hat. 


,Innis  dhuinn,  a  Fhearghuis, 

fhilidh  feinne  Eireann, 

cionnas  mar  a  tharladh 

'n  cath  Ghabhra  nam  beumann.*  — 
,Ni  math,  a  mhic  Chumhaill, 

mo  sgeul  o  chath  Ghabhra, 

cha  mhair  Osgar  ionmhaiim, 

thug  mor  chosgar  calma. 
,Cha  mhair  seachd  mic  Chaoilte, 

gasraidh  feinne  Almhainn; 

do  thuit  oig  na  feinne 

ann  an  eldeadh  araich. 


^  Melde  uns,  o  Fergus, 

Sänger  der  Plannen ! 

Wies  uns  ging  bei  Gaura 

In  der  Schlacht  der  Streiche?" 
Cuwals  Sohn,  nicht  g^t  ist 

Meine  Mär  von  Gaura. 

Sterben  wird  Lieb-Oscar, 

Der  so  tapfer  kämpfte. 
Tot  sind  Cailtes  Söhne 

Und  die  Mannschaft  Alwins, 

Der  Fiannen  Blüte 

In  der  Kriegesrüstung. 


seine  Weise  benutzt:  „Cairbar  creeps  in  darkness  behind  a  stone**  etc.  Temora  i,  282 ff. 
Nach  der  irischen  Überlieferung  ist  der  Hergang  in  der  Schlacht  von  Gaura  übrigens 
anders  gewesen:  In  proelii  aestu  Carbreus  et  Osgarus  Finnii  ex  Ossino  nepos  manus 
conserunt.  Rex  vulneribus  pertusus  aemulum  prostravit,  sed  pugnae  se  ulterius  immiscens 
a  Simeone  Kirbi  filio  de  Forthartorum  sobole  interemptus  est.  So  OTlaherty,  Ogygia 
p.  341 ;  ebenso  Keating,  History  of  Ireland  p.  361. 


Die  ossianischen  Heldenlieder,  in. 


169 


,Do  mharbhadh  mac  Lughaidh 
na  s^  mic  *s  an  athair, 
do  thuit  oig  na  Halmhainn, 
do  mharbhadh  fiann  Bhreatain. 

,I>o  thuit  mac  righ  Lochlainn 
fa  leinne  bhi  *chonihnadh, 
bu  chridhe  fial  feardha, 
bu  lamh  chalma  *n  comhnaidh.* 

Jnnis  domh,  a  fhilidh, 
mac  mo  mhic  is  m*anam, 
cionnas  a  bha  Osgar 
sgoltadh  nan  catharra?^  — 

,Bu  dheacair  r*a  innseadh, 
do  bu  mhor  an  obair, 
na  robb  marbh  *s  a*  chath  sin, 
thuit  le  armaibh  Osgair. 

,Ni*n  luaithe  eas  aibhne 
no  seabhag  ri  ealtaibh 
no  ruith  bhuinne  srutha 
na  Osgar  *s  a'  chath  sin. 

,Do  bhi  se  mu  dheireadh 
mar  bhUe  ri  treun-ghaoith, 
mar  chrann  os  gach  fiubhaidh, 
*s  a  shuil  air  gach  aon  laoch  . 

,Nior  iompaidh  sinn  Osgar, 
gu  ^n  d^  rainig  righ  Eireann, 
gu  *n  tug  beum  gun  dichioU, 
gur  dhochainn  e  gheur  lann. 

,*S  thuit  Ids  Art  mac  Chairbre 
air  an  dama  buille, 
*s  amhlaidh  a  bhi  am  fear  sin, 
is  a  mhionn  righ  uime. 


Tot  ist  auch  Mac-Luhach 
Und  sechs  Söhne  mit  ihm, 
Und  mit  Alwins  Jugend 
Auch  der  Britten  Streitmacht. 

Lochlans  Prinz  gefallen, 
Der  uns  Hülfe  brachte. 
Männlich,  edlen  Herzens, 
Stets  von  tapfem  Händen.  — 

„Sage  mir,  o  Sänger, 

Wie  war  meines  Sohns  Sohn? 
Wie  mein  Liebling  Oscar, 
Kriegerreihn  durchbrechend  ?** 

Schwer  ists  zu  erzählen, 
Ungeheuer  war  es. 
Wie  viel  Oscars  Waffen 
In  der  Schlacht  erschlagen. 

Rascher  als  ein  Strom£all, 
Als  ein  Spatzenfalke, 
Als  der  Sturz  des  Giefsbachs 
War  im  Kampfe  Oscar. 

Bis  zuletzt  noch  war  er 
Wie  ein  Baum  im  Sturme, 
Alle  Überragend, 
Jeden  Mann  im  Auge*). 

Nicht  war  er  zu  halten. 
Bis  er  Erins  Fürst  traf; 
Scharfes  Schwert  erprobend, 
Führte  wuchtgen  Hieb  er. 

Cairbres  Sohn  auch  schlug  er, 
Art,  mit  zweitem  Streiche. 
So  ergings  dem  Manne, 
Auf  dem  Haupt  die  Krone. 


Finn  spricht  seinem  Enkel  zu,  er  habe  in  früheren  Schlachten  ebenso 
arge  Wunden  davon  getragen**)  und  sei  von  ihm  geheilt  worden; 
der  aber  sieht  sein  Ende  vor  sich.     Da  klagt  Finn: 


*)  Die  letzten  beiden  Zeilen  sind  nach  Kennedys  und  Turners  Text  gegeben,  da 
das  Dean^s  book  nicht  recht  verständlich  ist. 

**)  Er  habe,  heifst  es,  solche  Wunden  gehabt,  dafs  Kraniche  oder  Gänse  oder 
sogar  Hirsche  (Cb.  183  b)  sie  durchschwimmen  konnten.  Oss.  i,  12a  kann  Cailte  die 
Hand  bis  zum  Ellenbogen  durch  Oscars  Wunden  stecken.  Ähnlich  heifst  es  im  Buche 
Ton  Leinster  85  a  13:  »Wenn  Vögel  im  Fluge  durch  menschliche  Körper  zu  gehen 
pflegten,  so  würden  sie  an  dem  Tage  durch  ihre  Leiber  geflogen  sein**,  weil  sie  von 
Wunden  durchlöchert  waren.  In  der  rhetorischen  Hyperbel  sind  die  irischen  Erzähler 
nicht  zu  übertreffen.     Da  heilst  es  von  struppigen  Männern,  ihr  Haar  stehe  so  zu  Berge, 


170 


Ludwig  Chr.  Stern. 


/S  truagh  nach  mise  a  thuit  ann 

an  catb  Ghabhra,  gniomh  nach  gann, 

is  tusa  an  ear  's  an  iar 

bhi  roimh  na  fiannaibh,  Osgair!* 

Ag  eisdeachd  ri  briathraibh  Fhinn 
anam  as  Osgar  gur  ling, 
shin  e  uaithe  a  dhä  laimh 
*s  dhun  a  rosga  bha  ro-mhall. 

^Mo  laogh  fein  thu,  laogh  mo  laoigh, 
leinibh  mo  leinibh  ghil  chaoimh, 
mo  chridhe  Ueumnaich  mar  Ion, 
gu  la  bhrath  chan  cirich  Osgar/ 

'S  ann  an  sin  a  chaoidh  Fionn 
air  an  tulaich  os  ar  clonn, 
shrutb  na  deoir  sios  o  rosgaibh, 
thionndaidh  e  ruinn  a  chulthaobh. 

Thog  sinn  ar  n- Osgar  aluinn 

air  guailibh  *s  air  sieaghaibh  arda; 
thug  sinn  is  iomchair  grinn, 
gus  an  d*rainig  sinn  tigh  Fhinn. 

Donnalaich  nan  con  ri  m'  thaobh, 
agus  buirich  nan  sean  laoch, 
^s  gul  a^  bhannail  Vaoidh  mu  seach, 
gu^m  b'e  sud  a  chraidh  mo  chridhe. 

Cha  chaoineadh  bean  a  mac  fein, 
ni  m6  chaoineadh  a  bhrathair  e, 
a  mheud  *s  a  bha  sinne  'n  sin, 
bha  sinn  uile  caoincadh  Osgair. 


„Achl  dafs  ich  nicht  selbst  gefallen 
In  der  mächtgen  Schlacht  von  Gaura 
Und  dais  du  in  Ost  und  Westen 
Die  Fiannen  führtest,  o  Oscar!"   — 

Als  er  diese  Worte  horte, 
Da  entfloh  die  Seele  Oscars; 
Seine  HSnde  streckte  er  von  sich 
Und  er  schlols  die  müden  Augen. 

„O  mein  Kalb,  mein  liebes  Kälbchen! 
Meines  Kindes  lieb  weifis  Kindlein! 
Wie  die  Amsel  hüpft  mein  Herze  — 
Nie  mehr  wird  mein  Oscar  aufstehn!"*)  — 

Da  erging  sich  Finn  in  Klage 
Auf  dem  Hügel,  der  dort  oben, 
Und  aus  seinen  Augen  flössen 
Tränen,   und  er  wandte  sich  von  uns. 

Oiscar  hoben  wir,  den  schönen, 

Mit  den  Speeren  auf  die  Schultern, 

Trugen  sorgsam  unsre  Bürde, 

Bis  zum  Hause  Finns  wir  gelangten. 

Neben  mir  der  Hunde  Winseln 
Und  der  alten  Krieger  Seufzen 
Und  der  Weiber  Weinen  ringsum  — 
O  wie  das  im  Herzen  mich  quälte!**) 

Ihren  Sohn  beklagt  das  Weib  nicht. 
Noch  der  Mann  den  eignen  Bruder, 
Denn  so  viele  wir  im  Hause 
Klagten  allesamt  wir  um  Oscar***). 


Finn  siechte  nach  der  Schlacht  von  Gaura,  in  der  seine  beste 
Mannschaft  gefallen  war,  hin  und  starb  bald.  Es  g^ebt  keine  ältere 
Ballade  über  seinen  Tod,  der  durch  Verrat  herbeigeführt  sein  sollf). 


dafe,  wenn  man  einen  Scheffel  Äpfel  über  ihrem  Kopfe  ausschüttete,  diese  einzeln  auf- 
gespiefst  würden.  Da  wird  gelacht,  dafs  die  zitternden  Sterne  am  Himmel  ins  Wanken 
geraten.  Da  wird  so  wunderliebliche  Musik  gemacht,  dafs  dreifsig  Mann  vor  Vergnügen 
auf  der  Stelle  sterben,  während  wieder  eine  andere  so  fürchterlich  ist,  dafs  sie  den 
Menschen  die  Haare  ausreifsen  könnte. 

*)  Macpherson:    „The    heart  of  the  aged   beats  over  thee  .  .  .    nevermore  shall 
Oscar  rise!"     Temora  i,  337.  351.     Vergl.  O'Flanagan,  Deirdri  p.  ai6. 

**)  „The  groans  of  aged  Chiefs,  the  howling  of  my  dogs,  the  sudden  bursts  of  the 
song  of  grief,  have  melted  Oscars  soul",  etc.     Temora  i,  367  flf. 

**•)  „No  father  mourned  his  son  slain  in  youth,    no  brother  his  brother  of  love",  etc. 
Temora  i,  357  ff. 

f)  Eine  schottische  Legende  (Cb.  195)  ist  von  der  irischen  (K.  Meyer,  Ventry  p.  75; 
Silva  gad.  p.  89,  vergl.  LL.  31b  43,  131a  26)  sehr  verschieden. 


\ 


Die  ossianischen  Heldenlieder.     DI. 


171 


Aber  im  Buche  des  Dechanten  ist  uns  ein  Gedicht  aufbehalten,  das 
Oschin  in  kindlicher  Liebe  dem  eben  gestorbenen  Vater  gewidmet  hat, 
wie  die  Annahme  ist.     Es  ist  voll  Wohllaut  und  VortrefFlichkeit. 


Se  la  g:us  an  d^ 

bho  nach  faca  me  Fionn, 
chan  f hac  mi  re  m'  re 
s^  a  b*fhaide  liom. 

Mac  nighine  Thaidg, 
righ  nam.fola  trom, 
m*oide  is  mo  thriath, 
mo  chiall  is  mo  chonn. 

Fa  füidh,  fa  flath, 

fa  righ  air  gach  righ, 
Fionn  flath  righ  nam  fiann, 
Fa  triath  air  gach  tir. 

Fa  miol  mor  mara, 
fa  leomhan  air  leirg, 
fa  seabhag  glan  gaoith', 
fa  saoi  air  gach  ceird  .... 

Fa  he  am  miol  mor 

mac  Mbuirne  gach  maigh, 
barr  loinneach  nan  lann, 
an  crann  os  gach  fiodh. 

Fa  chosnaich  nan  gnlomh 
fa  Bhanbha  nam  ban, 
gu*n  tug  am  flath 
tri  cheud  cath  fa  cheann. 

Nior  eur  ni  air  neach 
dhMarrar  bho  Fhionn, 
cha  robh  ach  righ  greine 
righ  riamh  os  a  chionn. 

Nior  fhag  beist  an  loch 
na  arrachd  an  uaimh 
an  Eirinn  nan  naomh 
nar  mharbh  an  saor  shaoidb« 

Ni  hinnsinn  a  ghniomh, 

da  bhidheann  gu  de  brath, 
nior  innseadh  bhuaim 
trian  a  bhuaidh  is  *äigh. 


Sechs  Tage  schon  hab 
Ich  Finn  nicht  gesehn, 
Im  Leben  nicht  sah 
Ich  sechse  so  lang. 

Der  Tochter  Taigs  Sohn, 
Ein  König  des  Kriegs, 
Mein  Pfleger,  mein  Herr, 
Mein  Geist  und  Verstand. 

Ein  Dichter,  ein  Fürst, 
Der  Könige  Haupt, 
Der  Lande  der  Herr, 
Held  Finn  der  Fiann. 

Ein  Wal  in  dem  Meer, 
Ein  Löwe  am  Berg, 
Ein  Falke  im  Sturm, 
Ein  Weiser  der  Kunst. 

Von  Murne  der  Sohn, 
Ein  Riese  im  Feld; 
Es  glänzte  sein  Schwert, 
Es  ragte  sein  Speer*'). 

Gewann  oft  den  Streit 
In  Banba  der  Fraun**); 
Dreihundertmal  schlug 
Die  Schlacht  er  allein. 

Finn  weigerte  nie 
Was  einer  begehrt. 
Der  König  der  Sonne 
Nur  gröfser  als  er. 

Kein  Drache  im  See, 
Kein  Untier  im  Loch 
Im  heiligen  Land, 
Es  erschlug  es  der  Held. 

Nicht  pries  ich  ihn  ganz, 
Ob  ewig  ich  lebt', 
Ein  Drittel  auch  nicht 
Der  Tugend,  des  Ruhms. 


*)  Eigentl.    „Die   glänzende    Spitze    der   Klingen,    der  Schaft  (des  Speers)   über 
jedem  Walde*, 

**)  Banba  ist  ein  Name  fQr  Irland;  die  häufigsten  sonstigen,  aufser  Eri  (Genitiv 
Eireann,  Dat.  und  Accus.  Eirinn,  im  Albanogälischen  in  der  Regel  Eirinn  in  allen  Casus), 
sind  Fodla,  Elga,  Scotia,  Innisfail;  auch  Innis  nan  naomh  „die  Insel  der  Heiligen",  wie 
zwei  Strophen  weiterhin. 


178 


Ludwig^  Chr.  Stern. 


Ach  is  olc  ataim 

an  deidh  Phinn  na  feinne, 
do  chaidh  leis  an  fhlath 
gach  math  bha  *na  dheidh. 

Is  tuirseach  ataim 

an  deidh  chinn  nan  ceud, 
is  me  an  crann  air  chrith, 
is  mo  chiabh  do  m*  fhag^  (?). 

Is  me  a*  chno  chaoch, 

is  me  an  t-each  gnn  sriani 

ochadan  mo  nuarl 

is  me  an  tuath  gun  triath.  etc. 


Wie  ist  mir  so  weh 
Mach  Finn  dem  Fiannl 
Denn  tot  ist  der  Fürst, 
Das  Gute  mit  ihm. 

Wie  bin  ich  voll  Grams 
Nach  der  Hunderte  Haupt, 
Ein  wankender  Baum, 
Der  Locken  beraubt*). 

So  taub  wie  die  Nuls, 
Bin  Pferd  ohne  Zaum, 
Ein  Volk  ich  allein, 
O  Schmerz  I  ohne  Heim. 


„Oschin  nach  den  Fiannen"  (Oisin  an  deidh  na  feinne),  der  ein- 
sam überlebende  Greis,  der  mit  Wehmut  einer  tatenreichen  Ver- 
gangenheit gedenkt,  das  ist  der  Grundton,  auf  den  alle  ossianischen 
Gedichte  gestimmt  sind.  Oschin  soll  nach  dem  Auftreten  des  heiligen 
Patrick  in  Elfin  (einer  Stadt  in  der  Grafschaft  Roscommon),  dem 
Wohnsitze  des  Glaubensboten,  gelebt  und  Not  gelitten  haben;  nach 
der  Sage  wäre  er  bei  dem  Bau  der  Kirchen  Frohndienste  zu  leisten 
gezwungen  gewesen.  Ein  Lied,  in  dem  er  den  Schmerz  seines  freud- 
losen Alters  zum  Ausdruck  bringt,  ist  im  Dean*s  book  sowohl  als  im 
Duanaire  Fhinn  und  sonst  (O'Reilly,  Essay  p.  250)  erhalten. 


Is  fada  'nochd  an  Ailfionn, 
is  fada  leinn  an  oidhche  *n  raoir, 
an  la  *n  diu  ge  fada  dhomb, 
do  bu  leor  fada  an  la  *n  d& 


Lange  währt  die  Nacht  in  Elfin, 

Lang  auch  schien  die  Nacht  uns  gestern. 
Und  wie  lange  heut  der  Tag  ist, 
Lang  genug  auch  währte  er  gestern. 


Die  Sage  erzählt  von  häufigen  Zusammenkünften  Oschins  mit 
dem  heiligen  Patrick.  Dann  pflegte  er  ihn  von  den  Taten  Finns  und 
der  Fiannen  zu  unterhalten  oder  den  frommen  Übungen  seines  Freundes 
beizuwohnen  und  den  Lehren  der  Heilswahrheit  zu  lauschen.  Es  kajn 
zu  mehr  oder  minder  leidenschafdichen  Auseinandersetzungen  zwischen 
dem  Heiligen  und  dem  alten  Heiden,  deren  Abschlufs  „das  Gebet 
Oschins^  bildet.  Die  so  benannte  albanogälische  Ballade,  die  zuerst 
von  Th.  Hill  und  zuletzt  von  AI.  Cameron  im  Scottish  Review  8,  350 flf. 
(1886)  veröffentlicht  wurde,  ist  aus  zwei  altern  Balladen  zusammen- 
gesetzt. Die  eine:  „Innis  duinn,  a  Phadraig",  findet  sich  schon  im 
Dean's   book    No.  7    und    auch   im    Irischen   (Oss.   i,  92 — iio);    die 


*)  Sehr  fraglich,  da  man  nicht  weifs,   wie  die  Worte  des  Originals   «is   me  kewe 
er  naik"  zu  umschreiben  sind. 


Die  ossianischen  Heldenlieder,  m. 


178 


andere:  „A  Oisin,  is  fada  do  shuan",  kommt  im  Duanaire  Fhinn  und 
sonst  vor*).  Doch  ist  die  letztere  bei  den  Iren  in  der  Regel  länger 
und  dient  manchen  andern  Balladen  zur  Einleitung  und  Einkleidung. 
Die  schottische  Recension  beginnt**): 


Innis  sgeul,  a  Phadraig, 
an  onoir  do  leughaidh, 
a  bheil  neamh  gu  haraidh 
ag  mathaibh  feinn*  Eirinn.  ~ 

Bheiritin-sa  mo  dhearbhadh 
dhuit-sa,  Oisin  nan  glonn, 
nach  ^eil  neamh  ag  d*  athair, 
ag  Osgar  no  ag  Goll.  -^ 

*S  oic  an  sgeula  araldh 

th*  agad  dhomhsa,  chleirichl 
com  am  binn-sa  ri  crabhadh, 
mar  *ei1  neamh  ag  feinn  Eirinn?  — 

Oisin,  is  fada  do  shuan, 

eirich  suas  is  eisd  na  sailml 
cbaill  thu  nis  do  luth  ^s  do  rath 
*8  cha  chuir  thu  cath  ri  la  garbh. 


Eines  lais  mich,  Patrick,  wissen, 
Bei  der  Ehre  deiner  Lehre  I 
Haben  die  Fiannen  Erins 
Selber  einen  eigenen  Himmel?  — 

Dessen  will  ich  dich  versichern, 
Oschln,  Mann  von  kühnen  Taten! 
Keinen  Himmel  hat  dein  Vater, 
Weder  er,  noch  Goll  oder  Oscar.  — 

Böse  ist  das  Wort  wahrhaftig, 
Das  du  für  mich  hast,  o  Pfaffe! 
Wenn  sie  keinen  Himmel  haben, 
Warum  sollt  ich  gläubig  denn  werden  ?  — 

Oschin,  lange  währt  dein  Schlummer; 
Wache  auf  und  lausch  den  Psalmen; 
Kraft  und  Glück  hast  du  verloren, 
Kannst    am    rauhen   Tag    nicht    mehr 

kämpfen.  — 


Lange  verschliefst  sich  Oschin,  dem  der  Ruhm  seines  Vaters  und 
seines  Stammes  das  Höchste  ist,  der  Zuspräche  Patricks;  doch  läfst 
er  sich  endlich  überzeugen  und  macht  seinen  Frieden  mit  dem  Himmel. 
Nach  dem  irischen  Texte  (Oss.  4,  60.  224;  Brooke,  Relics  '  414)  sagt 
der  Heilige: 


Leig  thusa  do  bheith  baoth, 
a  mhic  an  righ  a  b*fhearr  cliul 
geill  do'n  t6  doghnidh  gach  feart, 
crom  do  cheann  is  feac  do  ghlun. 


,Lais  von  deinem  Unverstände, 
Sohn  des  hochberühmten  Königs  I 
Unterwirf  dich  Gott  dem  Schöpfer, 
Senk  das  Haupt  und  beuge  die  Kniee! 


♦)  z.  B.  in  der  Giefsener  Handschrift  D.  Driscolls  vom  Jahre  1685,  Bl.  56b— 58a, 
wo  sie  40  Strophen  lang  ist.  In  der  Edinburger  Handschrift  62  (Cam.  i,  164)  werden 
nur  17  Strophen  gegeben. 

•*)  Auf  Toungs  Übersetzung  beruht  die  von  Herder  in  der  Adrastea  gegebene 
(Werke  24,  38  ff.).  Macpherson  kannte  das  Gedicht;  er  sagt  in  seiner  ersten  Dissertation 
(p.  VII.  ed.  I  y62) :  ^It  was  with  one  of  the  Culdees  that  Ossian,  in  his  extreme  old  age, 
is  Said  to  have  disputed  concerning  the  Christian  religion*.  Dieser  Culdee  (d.  h.  ceile 
D^  «Dienstmann  Gottes*")  ist  sein  «lonely  dweller  of  the  rock",  der  famose  Mac  Alpin, 
dessen  eigentlichen  Namen  Macpherson  nicht  kennt:  ^ Tradition  has  not  handed  down 
the  name  of  this  son  of  Alpin.  His  father  was  one  of  FingaFs  principal  bards** 
(Berrathon  p.  258  ed.  1763). 


174 


Ludwig  Chr.  Stern, 


Buail  d^  uchKjs  doirt  do  dheur, 
creid  do*n  t^  tha  os  do  chionn, 
gidh  gur  b'ioghnadh  a  luadh, 
is  e  do  rüg  buaidh  air  Fionn. 


«Schlag  die  Brust,  vergiels  die  Träne, 
Glaub  an  jenen,  der  da  droben! 
Scheints  auch  wunderbar  zu  sagen, 
Er  ists,  der  FQrst  Finn  nun  besiegt  hat^ 


Oschin  fafst  schliefsHch  alles  in  sein  „Gebet"  zusammen,  das  nach 
der  albanogälischen  Recension  so  lautet : 


Comraich  an  da  absdol  dheug 

gabhaidh  mi  dhomh  fein  an  nochd; 

ma  rinn  mise  peacadh  trom, 

biodh  e  *n  luidh  *san  tom  *sa  chnoc! 


Um  den  Schutz  der  zwölf  Apostel 
Flehe  ich  an  diesem  Abend. 
Tat  ich  eine  schwere  SQnde, 
LaOs  sie  ruhn  im  steinigen  Hügel  I 


Der  letzte  Vers  wird  in  den  verschiedenen  Texten  der  Ballade 
verschieden  gegeben.  Die  fortlaufende  Aufführung  und  Erklärung 
solcher  Varianten  zu  den  hier  mitgeteilten  Proben  würde  mehr  Raum 
in  Anspruch  genommen  haben,  als  ihre  Bedeutung  oder  der  Zweck 
dieser  Abhandlung  rechtfertigen  könnten. 

Berlin. 


-•••- 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne, 


Von 
Marcus  Landau. 


I. 

Während  bei  den  meisten  Dramen  das  Aufsuchen  der  ersten  Quellen 
ihrer  Fabel  eine  schwierige,  mitunter  kaum  zu  lösende  Aufgabe 
bildet,  hat  es  der  Forscher  nach  der  Quelle  der  Mariamne-Dramen*) 
verhältnismäfsig  leicht.  Er  findet  sie  ohne  langes  Suchen  einzig  und 
allein  in  den  Werken  des  jüdischen  Geschichtschreibers  Josephus, 
Sohn  des  Matthias,  welcher  im  Mannesalter  den  Familiennamen  Flavius 
annahm.  Im  Jahre  37  n.  Ch.,  also  41  Jahre  nach  dem  Tode  des  Königs 
Herodes  von  Judäa  geboren,  hat  er  seine  Geschichtswerke  erst  im 
Alter  von  mehr  als  dreifsig  Jahren  und  mehr  als  ein  Jahrhundert  nach 
dem  Tode  Mariamnes  geschrieben. 

Giebt  ihm  diese  zeitliche  Entfernung  einigermafsen  Kredit  der  Un- 
parteilichkeit, so  kann  dagegen  sein  Bericht  nicht  den  Wert  des  eines 
Zeitgenossen  haben;  ja  es  ist  sogar  sehr  unwahrscheinlich,  dafs  er  ihn 
aus  dem  Munde  eines  alten  Augenzeugen  oder  Zeitgenossen  direkt 
vernommen  habe. 

Für  die  Geschichte  des  Herodes  und  seiner  Familie  dürfte  eine 
wichtige  Quelle  des  Josephus  wohl  Nikolaus  von  Damaskus  gewesen 
sein,  den  er  selbst  (Streitschrift  gegen  Apion  II.  7)  zu  den  nichtjüdischen 
Schriftstellern  zählt.  Sollte  sich  aber  bei  Nikolaus  (von  dessen  Werken 
nur  Fragmente  erhalten  sind,  in  denen  nichts  von  Mariamne  vorkommt), 


*)  Ich  behalte  den  durch' Voltaire  und  Hebbel  populär  {gewordenen  Namen  Mariamne 
bei,  obwohl  die  Köni^  bei  Josephus  Mariamme  heilst.  Lodovico  Dolce  nennt  sie 
Marianna,  Calderon  Mariene,  Hans  Sachs  Marianna,  Hallmann  schon  Mariamne;  der 
hebräische  Name  war  wohl  Mirjam. 

Zt«chr.  L  TgrL  Litt-GeMb.    N.  P.  Vlll.  |2 


176  Marcus  Landau. 


der  ein  Günstling,  Verteidiger  und  Lobredner  des  Herodes  war,  eine 
solche  für  seinen  Protektor  so  unrühmliche  Erzählung,  wie  die  von 
Mariamne  gefunden  haben?  Freilich  hat  Nikolaus  auch  ein  Drama 
„Die  keusche  Susanna ^  geschrieben*),  und  die  Ähnlichkeit  des  Stoffe 
mag  ihn  vielleicht  bewogen  haben,  im  Gegensatz  dazu  die  Schicksale 
der  minder  unschuldigen  jüdischen  Königin  ausfuhrlich  zu  erzählen 
oder  gar  zu  dramatisieren.  Ich  sage  minder  unschuldig,  denn  Josephus 
beschuldigt  den  Nikolaus,  er  habe  in  seiner  Parteilichkeit  für  Herodes 
um  die  Hinrichtung  der  Mariamne  und  ihrer  Söhne  zu  rechtfertigen, 
sie  der  Unkeuschheit,  die  Söhne  eines  Anschlags  auf  das  Leben  des 
Vaters  bezichtigt,  „Ich  aber",  setzt  er  hinzu,  „der  ich  von  den  has- 
monäischen  Königen  abstamme,  halte  es  für  ungeziemend  Falsches 
von  ihnen  zu  berichten,  und  erzähle  alles  mit  lauterer  Wahrheit  und 
Aufrichtigkeit"  **). 

Sollten  wir  aber  gerade  weil  Josephus  sich  zur  Familie  der 
Hasmonäer  zählte,  also  ein  Verwandter  Mariamnes  war,  trotz  seiner 
Versicherung  nicht  annehmen  dürfen,  dafs  er  für  sie  gegen  Herodes 
parteiisch  war? 

Aber  leider  ist  uns  weder  der  Bericht  des  Nikolaus  noch  ein 
anderer  zeitgenössischer  erhalten.  Josephus  bleibt  für  uns  die  älteste 
Quelle,  und  alle  die,  welche  die  Schicksale  Mariamnes  dramatisierten, 
haben  keine  andere  gekannt. 

n. 

Der  jüdische  Geschichtschreiber  erzählt  von  Mariamne  zweimal: 
In  seiner  Geschichte  des  jüdischen  Krieges  und  in  der  etwas  später 
geschriebenen  Jüdischen  Archäologie.  In  ersterer  berichtet  er,  Herodes 
habe  bald  nachdem  er  König  geworden  (a.  40  v.  Ch.)  die  Mariamme, 
Enkelin  des  Hohepriesters  Hyrkanos  aus  der  Familie  der  Hasmonäer, 
geheiratet,  dann  aber  diesen  Hyrkanos  sowie  den  Aristobulos,  Bruder 


*)  Nikolaus  verteidigte  den  Herodes  wiederholt  bei  Augustus ;  sein  Bruder  Ptolemäus 
gehörte  zu  den  besten  Freunden  des  Herodes.  (Josephus,  Jüdischer  Krieg  I.  24,  2;  2,  3; 
Archäologie  XVI.  9,  4;  10,  8;  XVII.  5,  4;  9,  7;  11,  3.)  Von  dem  Drama  Susanna  be- 
richtet  nur  Eustathius  in  seinem  Kommentar  cum  Geographen  Dionysius.  Vergl.  Recherches 
sur  rhistoire  de  la  vie  et  des  ouvrages  de  Nicolas  de  Damas  par  Mr.  Tabbö  Sevin,  in  den 
M^oires  de  TAcademie  des  inscriptions  T.  VI.  p.  486  und  in  Orellis  Ausgabe  der  Frag- 
mente des  Nicol.  Damasc,  Leipzig  1804  S.  273—91,  sowie  die  in  derselben  Ausgabe 
enthaltenen  ^Testimonia  de  Nicoiao  Damasceno^  und  dessen  Autobiographie. 
**)  Jüdische  Archäologie  XVI.  7,  1. 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.    L  177 

Mariammes,  (um  35  v.  Ch.)  töten  lassen.  Er  liebte  seine  Frau  über 
alle  Mafsen,  sie  aber  hafste  ihn,  warf  ihm  stets  den  Mord  ihrer  Ver- 
wandten vor  und  überhäufte  seine  Schwester  Salome  und  seine  Mutter 
stets  mit  Schmähungen.  Während  Herodes  aus  übergrofser  Liebe 
das  lieblose  und  hochmütige  Benehmen  seiner  Frau  geduldig  ertrug, 
wurzelte  sich  bei  seiner  Schwester  und  Mutter  der  heftigste  Hafs  gegen 
sie  ein,  und  sie  suchten  sie  zu  verderben.  Auf  die  grofse  Eifersucht 
des  Herodes  bauend  beschuldigten  sie  die  Mariamme  der  Unzüchtigkeit 
und  gaben  vor,  sie  habe  ihr  Porträt  dem  als  Lüstling  bekannten  jeder 
Gewalttat  fähigen  römischen  Triumvir  Marcus  Antonius  nach  Ägypten 
gesendet.  Herodes  geriet  auf  diese  Nachricht  in  die  gröfste  Be 
stürzung,  und  da  er  (zum  Antonius  nach  Ägypten)  reisen  mufste, 
fürchtete  er  Frau  und  Leben  zu  verlieren.  Er  vertraute  also  vor  seiner 
Abreise  (34  v.  Ch.)  seine  Frau  dem  Josephus,  Gatten  seiner  Schwester 
Salome,  an  und  gab  ihm  den  geheimen  Auftrag  sie  ums  Leben  zu 
bringen,  wenn  Antonius  ihn  (den  Herodes)  töten  würde.  Josephus 
verriet  der  Mariamme  diesen  geheimen  Auftrag,  nicht  in  böser  Absicht, 
sondern  um  ihr  die  Liebe  des  Königs  zu  beweisen,  der  nicht  einmal 
im  Tode  von  ihr  getrennt  sein  wollte.  Der  Königin  dürfte  aber  dies 
nicht  als  Beweis  besonderer  Liebe  erschienen  sein,  denn  als  Herodes 
nach  setner  glücklichen  Rückkehr  ihr  in  einem  tete-a-tete  die  eifrigsten 
Beteuerungen  seiner  aufserordentlichen  Liebe  gab,  antwortete  sie: 
^Der  Befehl  an  Josephus  mich  zu  töten,  war  ein  schöner  Beweis  deiner 
Liebe!"  Auf  diesen  Vorwurf  geriet  Herodes  in  unsinnige  Wut  und 
erklärte,  wenn  Josephus  sein  Geheimnis  verraten  habe,  so  könne  es 
nur  geschehen  sein,  weil  Mariamme  sich  ihm  hingegeben  habe.  Salome 
benutzte  die  erregte  Stimmung  ihres  Bruders  und  verstärkte  seinen 
Verdacht.  Rasend  vor  Eifersucht  gab  er  den  Befehl  Marianune  und 
Josephus  zu  töten.  Aber  kaum  war  der  Befehl  vollzogen,  als  ihn  die 
heftigste  Reue  erfafste  und  er  sich  vor  Sehnsucht  nach  der  Gattin 
fast  verzehrte.  Ja  er  stellte  sie  sich  noch  als  Lebende  vor,  und  es 
dauerte  lange  Zeit  bis  er  sich  in  die  Tatsache  fand  und  sie  als  Tote 
betrauerte*). 

Die  Söhne  Mariammes,  Alexander  und  Aristobulos,  die  beim  Tode 
ihrer  Mutter  (um  29  v.  Ch.)  noch  Kinder  waren,    erbten   ihren  Hafs 


*)  Jos.  Jüdischer  Krieg  I.  12,  3;  2a,  2-  5.  Ähnlich  erzählt  Suetonius  vom  Kaiser 
Claudius:  «Occisa  Messalina,  paulo  post,  quum  in  triciinio  decubuit,  cur  domina  non 
veniret,  requlsivif*  (Claudius  39).     Hat  vielleicht  Josephus  diese  Anekdote  in  Rom  gehört? 

12* 


178  Marcus  Landau. 


gegen  Herodes,  den  sie  als  ihren  und  der  hasmonäischen  Familie  Feind 
betrachteten.  Sie  äufserten  ziemlich  unvorsichtig  diese  Gesinnungen, 
was  von  ihren  Feinden  und  ihrem  Halbbruder  Antipater,  dem  Sohne 
des  Herodes  von  seiner  ersten  Frau  Doris,  benutzt  wurde  um  sie  der 
Verschwörung  gegen  den  König  anzuklagen.  Nach  langen  Intrig^en 
und  mancherlei  Wechselfallen,  die  Josephus  (Jüd.  Krieg  I.  23,  i  bis  27,  6) 
ausfuhrlich  erzählt,  wurden  sie  zum  Tode  verurteilt  und  (zwischen 
9  und  5  V.  Ch.)  auf  Befehl  des  Herodes  in  Sebaste  erdrosselt*). 
Fünf  Tage  vor  seinem  Tode  (a.  4  v.  Ch.)  liefs  Herodes  auch  seinen 
Sohn  Antipater  hinrichten**). 

In  der  „ Jüdischen  Archäologie"***)  erzählt  Josephus  diese  Vor- 
gänge viel  ausfuhrlicher  und  räumt  der  Alexandra,  Mutter  Mariammes 
und  Aristobuls  eine  viel  bedeutendere  Rolle  ein.  Sie,  die  Tochter  des 
Hyrkanos,  hatte  nicht  lange  nachdem  Herodes  ihre  Tochter  geheiratet 
hatte,  gegen  ihn  zu  Gunsten  ihres  Sohnes  Aristobul  zu  intriguieren 
begonnen  und  sich  bemüht  durch  die  ägyptische  Königin  Kleopatra 
die  Unterstützung  des  Marcus  Antonius  für  ihre  Zwecke  zu  erlangen. 

Als  nun  Quintus  Dellius,  der  Vertraute  des  Antonius,  der  schon 
den  Kuppler  zwischen  ihm  und  Kleopatra  «gemacht  hatte  f),  nach  Judäa 
kam  und  die  aufserordentliche  Schönheit  Mariammes  und  ihres  Bruders 
bemerkte,  riet  er  der  Alexandra  ihre  Porträts  dem  Antonius  zu  schicken, 
bei  dem  sie  dadurch  alles  werde  durchsetzen  können,  mit  dem  Hinter- 
gedanken, dafs  der  römische  Feldherr  auch  die  Originale  verlangen 
werde.  Alexandra  befolgte  den  Rat  und  schickte  die  Bilder.  Dellius 
entwarf  überdies  bei  seiner  Rückkehr  zu  Antonius  diesem  eine  so  ver- 
lockende mündliche  Schilderung  der  Schönheit  der  beiden  jüdischen 
Königskinder,  „die  eher  Spröfslinge  eines  Gottes  als  eines  Menschen 
zu  sein  scheinen",  dafs  dem  Römer,  der  bekanndich  kein  Kostverächter 
war,  der  Mund  zu  wässern  begann.     Da  er  aber  schicklicherweise  von 


*)  Die  Daten  dieser  VoTgSaige  lassen  sich  nicht  g^anz  genau  bestimmen.     Ich  folge 
in  der  Chronologie  des  Herodes  der  Dissertation  De  Herode  magno  Judaeorum  rege  von 
Jacob  van  der  Chijs,  Leyden  1855. 
**)  Jüd.  Krieg  I.  33,  7,  8. 
***)  Archäol.  XV.  2,  5  bis  3,  9. 

t)  Er  riet  ihr,  wie  Plutarch  im  Leben  des  Antonius,  Homer  citierend,  sagt,  wohl- 
geschmückt zum  Römer  nach  Cilicien  zu  gehen 

„Ob  vielleicht  er  begehrte,  von  Lieb*  entbrannt  zu  umarmen 
Ihren  Reiz."  (Dias  XIV.  163). 
Den  Dellius  als  Heiratsagenten  Antons  erwähnt,  auch  Dio  Cassius  IL.  39. 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.    1.  179 


Herodes  die  Zusendung  der  Gattin  nicht  verlangen  konnte,  begnügte 
er  sich  ihn  um  den  jungen  Aristobul  zu  bitten.  Herodes  merkte  die 
Absicht,  äufserte  aber  gegenüber  dem  mächtigen  Römer  nicht  seine 
Verstimmung  und  entschuldigte  sich  mit  der  Ausrede,  die  Entfernung 
des  Aristobul  aus  Judäa  würde  das  Signal  zu  Unruhen  und  Zerrüttung 
im  Lande  geben. 

Antonius  liefs  sich  einstweilen  die  Entschuldigung  gefallen,  und 
Herodes  ernannte  den  Aristobul,  um  seiner  Frau  und  Schwiegermutter 
einige  Genugtuung  zu  gewähren,  zum  Hohepriester.  Die  Aussöhnung 
war  aber  von  beiden  Seiten  keine  aufrichtige.  Herodes  liefe  die 
Alexandra  strenge  bewachen  und  verbot  ihr  den  Palast  zu  verlassen. 
Ihr  Versuch  sich  mit  dem  Sohne  nach  Ägypten  zu  flüchten  mifslang, 
und  der  stets  mifstrauische  Herodes,  der  in  dem  sehr  populären  jungen 
Hohepriester  einen  Prätendenten  auf  die  Königskrone  argwöhnte,  liefs 
ihn  durch  Meuchelmord  aus  dem  Wege  räumen.  Um  den  Tod  ihres 
Sohnes  zu  rächen,  wendete  sich  Alexandra  wieder  durch  Vermitdung 
Kleopatras  an  Antonius,  und  dieser  berief  den  Herodes  zu  sich  nach 
Laodikea  um  ihn  zur  Rechenschaft  zu  ziehen.  Der  Judenkönig  wufste 
welche  Gefahr  ihm  von  dem  Römer  drohte  und  wie  der  Umstand, 
dafs  diesem  die  Schönheit  seiner  Gattin  bekannt  war  die  Lebensgefahr 
noch  erhöhte.  Und  da  er  die  Mariamme  selbst  nach  seinem  Tode 
keinem  Andern  gönnen  wollte,  gab  er  seinem  als  Statthalter  zurück- 
gelassenen Schwager  Joseph  den  bekannten  Befehl,  den  dieser  in  un- 
geschickter Weise  verriet,  wie  bereits  oben  erwähnt  wurde.  Als  sich 
hierauf  das  Gerücht  verbreitete,  Antonius  habe  den  Herodes  töten  lassen, 
glaubte  Alexandra  durch  die  persönliche  Vorstellung  ihrer  Tochter 
bei  Antonius  alles  durchsetzen  zu  können  und  suchte  daher  Joseph 
zu  bewegen,  mit  ihnen  ins  römische  Lager  zu  fliehen.  Bevor  sie  aber 
zur  Ausführung  dieses  Planes  schreiten  konnten,  kam  von  Herodes 
die  Meldung,  dafs  es  ihm  nicht  nur  gelungen  sei  sich  vollständig  zu 
rechtfertigen,  sondern  dafs  er  auch  die  volle  Gunst  des  Antonius  ge- 
wonnen habe.  Als  er  zurückkam,  verrieten  ihm  seine  Schwester  Salome 
und  die  Mutter  die  Anschläge  der  Alexandra.  Erstere,  welche  die 
Mariamme  hafste,  weil  sie  ihr  oft  ihre  niedrige  Geburt  vorwarf,  fugte 
noch  die  Verleumdung  hinzu,  Mariamme  habe  mit  dem  Schwager  Joseph 
zu  vertraulich  gelebt.  Herodes  obwohl  äufserst  eifersüchtig,  glaubte 
aber  mehr  der  Frau,  welche  ihre  Unschuld  beteuerte,  als  der  ver- 
leumdenden Schwester,  und  versicherte  der  Mariamme,  dafs  er  sie  noch 
immer    so    heifs  wie  früher  liebe.     Unter  Tränen  und  Küssen  schlofs 


180  Ifarcos  Landau. 


das  Ehepaar  Frieden,  und  alles  wäre  glücklich  abgelaufen,  wenn  sich 
Mariamme  nicht  hätte  fortreifsen  lassen,  dem  zärtlichen  Gatten  den 
zurückgelassenen  Mordbefehl  vorzuwerfen.  Das  traf  den  Herodes  wie 
ein  Dolchstofs,  denn  er  konnte  sich  den  Verrat  des  Joseph  nur  durch 
dessen  sträfliches  Einverständnis  mit  Mariamme  erklären«  Wütend 
entrifs  er  sich  ihren  Armen,  raufte  sich  das  Haar  aus  und  lief  wie  sinnlos 
im  Palaste  herum.  Dann  liefs  er  die  Alexandra  einsperren,  den  Joseph 
töten,  Mariamme  verschonte  er  aber,  denn  noch  war  seine  Liebe  stärker 
als  seine  Eifersucht. 

Einige  Jahre  später,  nach  dem  Siege  des  Cäsar  Octavianus  über 
Antonius  bei  Actium  (a.  31  v.  Ch.)  hatte  Herodes  als  treuer  Anhänger 
des  Letztem  vom  Sieger  alles  zu  furchten  und  begab  sich  daher 
freiwillig  zu  ihm  um  seine  Verzeihung  zu  erlangen.  Vor  der  Abreise 
liefs  er  den  greisen  Hyrkan,  Vater  der  Alexandra  hinrichten  und  seine 
eigene  Familie  in  festen  Schlössern  unterbringen,  Mariamme  und  ihre 
Mutter  in  Alexandrion,  die  andern  Frauen  in  Masada.  Den  zur  Be- 
wachung Mariammes  zurückgelassenen  Vertrauten,  dem  Schatzmeister 
Joseph  und  dem  Ituräer  Soemus  erteilte  er  den  bekannten  geheimen 
Mordbefehl,  der  diesmal  auch  für  Alexandra  galt.  Während  seiner 
Abwesenheit  gelang  es  der  Mariamme  dem  Soemus  das  Geheimnis 
zu  entlocken,  und  als  Herodes  unversehrt  und  im  vollen  Besitz  der 
Gunöt  Octavians  zurückkehrte  fand  er  bei  der  von  ihm  liebevoll  be- 
grüfsten  Gattin  die  kälteste  Aufnahme.  Wieder  erwachte  seine  Eifer- 
sucht und  wieder  schürten  Salome  und  ihre  Mutter  mit  ihren  Ver- 
leumdungen das  Feuer,  Doch  scheinen  sie  diesmal  die  Wächter 
Mariammes  nicht  angeschuldigt  zu  haben,  denn  als  Herodes  zum  zweiten 
Mal  (um  a.  30  v.  Ch.)  zum  Octavian  reisen  mufste,  vertraute  er  dem 
Soemus  wieder  seine  Frau  an.  Bei  seiner  Rückkehr  wurde  er  von 
dieser  mit  der  denkbar  schlechtesten  Laune  empfangen.  Er,  der  sie 
noch  immer  heifs  liebte  und  sich  wie  der  feurigste  Liebhaber  benahm, 
fand  bei  ihr  nur  Hohn  und.  Verachtung.  Bat  er  sie  um  eine  Liebkosung 
so  wies  sie  ihn  hochmütig  ab  und  warf  ihm  den  Tod  ihres  Grofsvaters 
und  Bruders  vor.  Immer  mehr  nahm  der  Unfrieden  im  Hause  zu, 
bis  endlich  Salome  zu  dem  äufsersten  Mittel  griff.  Ein  von  ihr  ge- 
wonnener Mundschenk  verklagte  Mariamme  bei  Herodes,  dafs  sie  ihn 
bestochen  habe,  um  ihn  zu  vergiften.  Der  König  liefs  dem  vertrauten 
Eunuchen  Mariammes  die  Folter  geben;  der  bekannte  zwar  nichts  von 
einem  Vergiftungsversuch,  sagte  aber  aus,  dafs  Soemus  den  Mord- 
befehl der  Königin  verraten  habcf    Daraus  schlois  nun  wieder  Herodes 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.     I.  181 

auf  ein  sträfliches  Einverständnis  des  Soemus  mit  Mariamme,  liefs 
erstem  töten  und  letztere  Vor  Gericht  stellen.  Da  er  selbst  den  er- 
bittertsten Ankläger  abgab,  so  merkten  die  gefalligen  Richter  seine 
Absicht  und  verurteilten  sie  zum  Tode,  glaubten  aber  er  werde  ihr 
das  Leben  schenken  oder  wenigstens  die  Vollziehung  des  Urteils  auf- 
schieben. Das  pafste  aber  der  Salome  nicht  und  es  gelang  ihr  bei 
Herodes  die  sofortige  Hinrichtung  Mariammes  durchzusetzen.  Die 
Unglückliche  wurde  vor  ihrem  Tode  auch  von  ihrer  eigenen  Mutter 
im  Stiche  gelassen,  die  um  sich  selbst  reinzuwaschen  die  Tochter  als 
Undankbare  und  Schuldige  behandelte  und  mit  den  ärgsten  Schmähungen 
überhäufte.  Mit  Verachtung  und  stolzem  Schweigen  beantwortete 
Mariamme  diese  schmählichen  Anklagen  der  Mutter  und  schritt  stolz 
und  gefafst  zum  Tode*). 

nSo  endete^,  schliefet  Josephus,  „diese  keusche  und  mutige  aber 
stolze  und  wenig  verträgliche  Frau.  Alle  Frauen  ihrer  Zeit  an  Schönheit 
und  Majestät  übertreffend,  glaubte  sie  von  dem  leidenschaftlich  in  sie 
verliebten  Gatten  nichts  zu  befurchten  zu  haben,  und  dies  war  ihr 
Unglück.  So  glaubte  sie  sich  alles  gegen  ihn  erlauben,  ihn  mit  Vor- 
würfen und  Beleidigungen  ungestraft  überhäufen  zu  dürfen,  und  in 
gleicher  Weise  zog  sie  sich  den  Hafs  von  Mutter  und  Schwester  des 
Königs  zu.** 

Nach  ihrem  Tode,  erzählt  Josephus  weiter,  nahm  die  Liebe  des 
Herodes  zu  ihr  noch  zu;  von  Gewissensbissen  gepeinigt  rief  er  be- 
ständig ihren  Namen,  erging  sich  in  eines  Königs  unwürdigen  Klagen 
oder  suchte  sich  durch  Gastmaler  und  Trinkgelage  zu  betäuben.  Er 
vernachlässigte  die  Regierungsangelegenheiten  und  befahl  mitunter 
seinen  Leuten  Mariamme  herbeizurufen,  als  ob  sie  noch  lebte. 

Eine  bald  darauf  ausgebrochene  Epidemie,  welche  viele  Menschen 
hinwegraffte  und  vom  Volke  als  Strafe  Gottes  für  die  ungerechte 
Verurteilung  Mariammes  betrachtet  wut-de,  brachte  den  Herodes  dem 
Wahnsinn  nahe.  Er  zog  sich  in  die  Einsamkeit  zurück,  verfiel  in  eine 
schwere  Krankheit  und  wollte  die  Ratschläge  und  Vorschriften  der 
Ärzte  nicht  befolgen.  Als  er  endlich  genas  ward  er  noch  grausamer 
und  blutdürstiger  als  früher  und  Hinrichtungen  folgten  auf  Hin- 
richtungen**). Auch  seine  Schwiegermutter  Alexandra  fiel  bald  als 
Opfer  ihrer  Intriguen  und  seiner  Tyrannei. 


*)  Jüd.  Archäologie  XV.  6,  i  bis  7,  6. 
♦*)  Jüd.  Arch.  XV.  7,  6—8, 


182  Marcus  Landau. 


Den  Tod  der  Söhne  des  Herodes  erzählt  Josephus  in  der 
Archäologie  ebenfalls  ausfuhrlicher  als  in  der  Geschichte  des  Krieges ; 
doch  brauchen  wir  hier  nicht  weiter  darauf  zurückzukommen. 

Die  mancherlei  UnWahrscheinlichkeiten  und  Widersprüche  in  den 
beiden  Berichten  des  Josephus,  die  zwei-  ja  dreifache  Wiederholung 
und  Ausplauderung  des  Befehls  Mariamme  zu  töten,  das  Streben  in 
der  Archäologie  die  Hauptschuld  der  Alexandra  aufzuladen,  erwecken 
berechtigtes  Mifstrauen  in  seine  Wahrhaftigkeit  und  Unparteilichkeit. 
Aber  wir  haben  hier  keine  historische  Kritik  zu  üben,  es  genügt  uns 
dargelegt  zu  haben  welch  reiches  tatsächliches  und  psychologisches 
Material  der  jüdische  Geschichtschreiber  hier  darbietet,  gleichsam  als 
wollte  er  allen  künftigen  Dichtern  von  Mariamne-Trägödien  die  Mühe 
des  Erfindens  und  Motivierens  erleichtem. 

Ganz  richtig  sagte  der  Herausgeber  von  Tristan  L'Hermite's 
Mariane  im  vorigen  Jahrhundert:  „C'est  lä  (im  Josephus)  que  Tristan, 
par  un  bonheur  qui  n'est  peut-etre  jamais  arrive  qu'ä  lui,  a  trouve 
sa  Tragedie  toute  faite  et  toute  digeree.  L'historien  Ta  conduit,  pour 
ainsi  dire,  pas  ä  pas  et  de  scene  en  scene,  depuis  Texposition  jusqu'ä 
la  catastrophe;  et  le  poete,  en  laissant  toutes  les  choses  qui  servent 
ä  son  action  dans  la  place  oü  Thistoire  les  a  mises,  a  trouve  non- 
seulement  tous  ses  personnages,  leurs  interets,  leurs  caracteres  et  leurs 
mouvemens,  mais,  ce  qu*il  y  a  de  plus  merveilleux,  Teconomie  meme 
du  poeme  et  la  distribution  de  toutes  ses  parties,  selon  les  regles  les 
plus  etroites  d'Aristote  et  du  bon-sens.** 

Neben  dem  Schicksal  der  Mariamne  war  es  noch  eine  andere,  von 
Josephus  nicht  berichtete  Episode  aus  dem  Leben  des  Herodes,  welche 
zu  poetischen  Bearbeitungen  und  Dramatisierungen  Stoff  lieferte.  Es 
ist  die  Erzählung  im  zweiten  Kapitel  des  Matthäus-Evangeliums  von 
der  Tötung  der  Kinder  in  Bethlehem  auf  Befehl  des  Herodes.  Wir 
finden  sie  schon  in  den  ältesten  christlichen  Mysterienstücken  und  dann 
weiter  durch  fast  alle  Jahrhunderte  bis  zur  Neuzeit  dramatisiert,  teils 
selbständig,  teils  in  den  Passionsdramen  eingeschaltet.  Für  uns  können 
hier  selbstverständlich  nur  jene  Bearbeitungen  in  Betracht  kommen, 
welche  mit  den  Dramen  von  Mariamne  verbunden  sind  und  die  wir 
ihres  Orts  erwähnen  werden. 

Die  von  Riccoboni  (Hist.  du  Theatre  italien  I.  119)  erwähnte 
Tragödie  Herodiade  des  Giov.  Battista  Martii  (1594),  die  ich  hier 
nicht  finden  konnte,  dürfte,  sowie  Silvio  Pellicos  gleichnamiges  Drama 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.     I.  183 

(1832),  die  Geschichte  der  aus  dem  Neuen  Testament  bekannten 
Tochter  der  Herodias,  welche  den  Tod  des  Täufers  verursachte  (Matth. 
XrV.  6,  Markus  VI.  22),  behandeln. 

m. 

Als  der  bethlehemidsche  Kindermord  schon  seit  Jahrhunderten  zum 
Besitzstande  des  christlichen  Theaters  gehörte,  wurde  endlich  auch  die 
historisch  besser  beglaubigte,  dramatisch  viel  interessantere  Mariamne- 
Episode  aus  dem  Leben  des  Herodes  auf  die  Bühne  gebracht.  Es 
geschah  dies  in  der  Spätrenaissance,  nicht  lange  nachdem  die  erste 
Ausgabe  des  griechischen  Josephus  (Basel  1544)  erschienen  war. 

Der  unermüdliche  Vielschreiber,  der  Venetianer  LodovicoDolce 
(geb.  1508  f  1566),  den  Tiraboschi  einen  „Historiker,  Redner,  Gram- 
matiker, Rhetor,  Philosoph,  Physiker,  Ethiker,  tragischen,  komischen, 
epischen,  lyrischen  Dichter,  Herausgeber  (alter  Klassiker  im  Verlage 
des  Giolito),  Übersetzer,  Sammler  und  Kommentator"  nennt,  „der  über 
alles  schrieb,  aber  sich  nie  über  die  Mittelmäfsigkeit  erhob"  und  der 
an  Originalwerken  und  Übersetzungen  über  siebzig  Stück  publizierte, 
hat  auch  acht  Tragödien  gedichtet.  Davon  sind  vier  Bearbeitungen 
von  Tragödien  des  Euripides,  zwei  von  solchen  des  Seneca;  für 
seine  Dido  nahm  er  den  Stoif  aus  Virgil,  für  die  Marianna  aus  dem 
Josephus*). 

Und  auch  zu  diesem  Drama  hat  er  den  Seneca  benutzt  und  manche 
Situationen  dem  unter  dessen  Namen  gehenden  Drama  Octavia  nach- 
geahmt. Wie  die  Gattin  Neros  ihrer  Amme  den  Traum  erzählt,  in 
-welchem  ihr  der  von  Nero  getötete  Bruder  Britanniens  erschien  (Akt  I 
115  sq.),  so  erzählt  die  Gattin  des  Herodes  ihrer  Amme  einen  ähnlichen 
Traum.  Wie  Octavia  in  Nero  den  Mörder  von  Vater  und  Bruder 
sieht  und  ihm  den  Tod  wünscht  (I.  240  sq.),  so  wünscht  Marianna 
dem  Mörder  ihres  Bruders  und  Grofsvaters  den  Tod.  Wie  der  Chor 
in    der    Octavia    den   Untergang    des    Hauses    des  Augustus  beklagt 


*)  G.  Tiraboschi,  Storia  della  letteratura  italiana,  Florenz  1805 — 1809,  Tomo  VII 
608,  1016,  1282,  1564,  1581;  Giambattista  Corniani,  I  secoli  della  letteratura  italiana  I. 
493;  J-  ^*  '^^  Graesse,  Lehrbuch  einer  allgemeinen  Literärgeschichte,  Das  sechzehnte 
Jahrhundert  S.  1213.  Über  die  epischen  Dichtungen  Dolces  S.  P.  L.  Ginguen6,  Hist. 
litt^raire  d^Italie,  Paris  1824,  FV.  533 — 39;  V.  3—9;  über  seine  Lustspiele,  ebenda  VI. 
290—93  und  J.  L.  Klein,  Geschichte  des  Dramas  IV.  826—39;  über  die  Tragödie  Dido 
Klein  V.  399 — 408.  Letzterer  nennt  sie  (V.  351)  die  beste  italienische  Didone-Tragedia 
nächst  der  von  Metastasio. 


184  Marcus  Landau. 


(V.  924  sq.),  SO  beklagt  der  Chor  im  fünften  Akt  der  Marianna  den 
Untergang  des  hasmonäischen  Hauses.  Und  wie  die  Amme  Poppäas 
(ohne  Amme  erscheint  keine  vornehme  Frau  in  diesen  Stücken)  ihre 
Befürchtungen  ob  ihres  bösen  Traumes  zu  zerstreuen  sucht  (IV.  740  sq.), 
so  redet  auch  die  Mariannas  ihr  die  Furcht  vor  dem  bösen  Traimie 
aus.  In  der  Marianna  ist  es  aber  die  wahnsinnige  Eifersucht  des 
Herodes,  welche  die  Katastrophe  herbeifuhrt,  während  die  Eifersucht 
Octavias  auf  Poppäa  ganz  wirkungslos  bleibt. 

Trissino  mit  seiner  Sofonisba,  Rucellai  mit  seiner  Rosmunda  hatten 
einen  Fortschritt  angebahnt  als  sie  Stoffe  zu  ihren  Tragödien  nicht 
mehr  aus  der  Sagen-  und  Mythengeschichte  Griechenlands  und  Roms, 
sondern  aus  der  Zeit  des  historischen  Roms  und  der  Völkerwanderung 
nahmen.  In  Form  und  Stil  die  antike  Tragödie  nachahmend  schritt 
Dolce  auf  dieser  Bahn  weiter,  indem  er  seinen  Stoff  nicht  der  biblischen, 
sondern  der  spätjüdischen  Geschichte  entnahm.  Und  mit  glücklichem 
Griff  erfafste  er  daraus  ein  Motiv,  das  an  und  für  sich  interessant  und 
neu  war.  Wieviel  Tragödien  von  Ehebruch,  Gatten-  und  Kindermord, 
von  verratenen  und  mifshandelten  Frauen  das  Altertum  auch  hinter- 
lassen hatte,  eine  Eifersuchtstragödie,  mit  dem  Untergang  einer  ganzen 
Familie  endend,  fand  sich  in  dieser  Hinterlassenschaft  nicht. 

Dolce  war  also  nicht  blofs  der  erste,  der  die  Gattin  des  Herodes 
in  einem  regelrechten  Drama  auf  die  Bühne  brachte,  er  hat  auch  zuerst 
die  Eifersucht  zum  Inhalt  eines  Dramas  gemacht. 

Einem  solchen  Bahnbrecher  darf  man  nicht  nach  dem  beurteilen, 
was  Gröfsere  als  er  im  Laufe  von  drei  Jahrhunderten  auf  seinen  Spuren 
wandelnd  geleistet  haben ;  man  darf  nicht  vergessen,  dafs  die  italienische 
Tragödie  erst  zu  seiner  Zeit  geboren  wurde.  Aber  selbst  mit  manchen 
der  Spätem  darf  er  sich  kühn  vergleichen.  Fehlt  ihm  auch  der 
lyrische  Schwung,  die  überreiche  Fantasie  Calderons,  so  ist  er  dafür 
auch  frei  von  den  oft  barocken  Einfallen,  von  der  schwülstigen  Red- 
seligkeit des  Spaniers.  Und  weit  überragt  er  einen  Hans  Sachs,  einen 
Tristan  THermite,  ja  selbst  Voltaire.  Mit  feinem  Kunstgefuhl  hat  er 
aus  der  Erzählung  des  Josephus  das  Wesentliche  herausgegriffen,  die 
Wiederholungen  und  das  störende  Beiwerk  weggelassen.  Die  Hand- 
lung beginnt  bei  ihm  erst  nach  der  Rückkehr  des  Herodes  von  seiner 
letzten  Reise  zu  Octavianus  Caesar  (Augustus)  und  eilt  dann  unauf- 
haltsam der  Katastrophe  zu.  Freilich  fehlt  es  auch  nicht  an  Naivetaten 
und  Geschmacklosigkeiten,  an  rohen  Gräuelscenen,  im  Stile  der  Seneca- 
Tragödien,    wie    sie  das  sechzehnte  Jahrhundert,  besonders  in  Italien, 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.     I.  185 


auf  der  Bühne  gern  gesehen  hat.  Es  fehlen  nicht  die  unentbehrlichen 
Requisiten  des  klassizistischen  italienischen  Dramas  —  der  treue  Ge- 
heimrat, dessen  Rat  gewöhnlich  nicht  befolgt  wird,  die  Amme,  welcher 
die  wichtigsten  Geheimnisse  anvertraut  werden,  der  vorbedeutende 
böse  Traum  u.  s.  w. 

Auch  mit  den  Prologen,  deren  er  sich  zwei  gönnte,  hat  Dolce  dem 
Geschmacke  seiner  Zeit  den  Tribut  entrichtet. 

Im  ersten  Prolog  spricht  die  Tragödie  Marianna  selbst,  ihren 
Inhalt  in  Kürze  angebend,  knüpft  daran  ein  Lob  auf  Venedig  und 
giebt  den  Ort  der  Handlung  an:  Im  Vordergrunde  ein  Schlofs  unweit 
der  Stadt,  „in  dem  heute  entsetzliche  Mordtaten  geschehen  werden, 
die  einen  Mezentius  zum  Mitleid  bewegen  könnten".  In  der  Feme 
ist  Jerusalem  zu  sehen: 

.  .  .  la  citta,  dovel  figliuol  di  Dio 

AUor  ch'egli  vesti  Tumana  spoglia 

Sparse  ne'  cuor  de'  suoi  piü  cari  eletti 

n  seme  de  la  santa  alma  dottrina, 

Ch'a'  credenti  la  via  del  del  aperse. 
Im  zweiten  Prolog  verkündet  der  Höllenfürst  Pluto  seine  Absicht 
mit  Hilfe  der  Eifersucht  sich  des  Herodes  zu  bemächtigen  und  ihm, 
wie  er  und  alle  Tyrannen  es  verdienen,  die  Hölle  gehörig  heifs  zu 
machen.  Es  ist  die  Zeit  nahe,  meint  er,  da  Gott  in  Menschengestalt 
erscheinen  und  ihm  viele  Tausende  von  Seelen  entraffen  wird,  er 
möchte  daher  so  lange  sein  Geschäft  noch  gut  geht,  so  viel  Seelen 
als  möglich  erobern  und  will  mit  dem  Haus  des  Herodes  beginnen. 
„Eifersucht^  (Gelosia)  erscheint  nun  in  Person  und  übernimmt  freudig 
seine  Aufträge,  schnelle  und  pünktliche  Ausführung  zusichernd,  denn 
sich  in  fremdem  Blut  zu  baden  sei  ihr  Hauptvergnügen.  Pluto  lobt 
seine  nützliche  Dienerin,  auf  die  man  sich  verlassen  könne,  beschlielst 
aber  zu  gröfserer  Sicherheit  höchstpersönlich  in  den  Judenkönig  hinein- 
zufahren und  dessen  Gedanken  und  Handlungen  zu  leiten. 

Damit  verschwindet  der  Gatte  Proserpinas  auf  Nimmerwieder- 
sehen aus  unsern  Augen,  ebenso  wie  Frau  Gelosia.  Was  sie  im 
Verborgenen  wirken,  erfahren  wir  nur  aus  den  Handlungen  der  Ge- 
schöpfe von  Fleisch  und  Blut,  die  im  Drama  auftreten. 

Im  ersten  Akt  finden  wir  Marianna  im  Kastell  Alessandrio  vor 
ihrer  Amme  ihr  Herz  ausschüttend  über  die  Bosheit  und  Hartherzigkeit 
des  Herodes.  Sie  hätte  schon  genug  Ursache  ihn  wegen  der  Er- 
mordung ihres  Grofsvaters   und  Bruders  zu  hassen.     Und  wenn  sich 


186  Marcus  Landau. 


auch  solche  grausame  Taten  mit  der  Herrschsucht  entschuldigen  liefsen, 
was  für  Entschuldigung  hat  er  für  den  mich  betreffenden  unmensch- 
lichen Befehl,  den  er  vor  einigen  Monaten  erteilte.  Warum  soll  ich 
ihn  nicht  hassen  und  mich  rächen?  ist  doch  Rache  das  süfseste  und 
angenehmste  unter  allen  irdischen  Dingen.  Und  überdies  hat  mich 
diese  Nacht  ein  Traum  dazu  ermuntert. 

Die  neugierige  Amme  möchte  sowohl  den  Inhalt  des  Traumes 
als  die  Ursache  ihres  Hasses  wissen,  sucht  aber  schon  im  voraus  den 
Herodes  zu  entschuldigen,  der  ja, die  Gattin  viel  mehr  als  sich  selbst 
liebe.  Endlich  meint  sie,  dafs  Marianna,  die  schon  seit  vielen  Jahren 
seine  Gattin  sei,  etwas  zu  spät  mit  ihren  Klagen  komme,  geschehene 
Dinge  seien  einmal  nicht  zu  ändern  und  das  Beste  wäre  die  bösen 
Gedanken  in  Lethe  zu  versenken. 

Marianna  erzählt  hierauf  ihren  Traum,  in  dem  ihr  Bruder  Aristobul 
erschienen  und  sie  vor  dem  ihr,  ihren  beiden  Söhnen  und  ihrer 
Mutter  drohenden  Tode  gewarnt  habe.  Und  da  die  Amme  nicht  viel 
auf  Träume  geben  will  erzählt  sie  auch  von  dem  Befehl  den  Herodes 
vor  seiner  Abreise  gegeben  habe  sie  zu  töten,  falls  er  durch  Aug^stus 
in  Ägypten  das  Leben  verlieren  sollte.  Deshalb  habe  sie  ihn  als  er 
gestern  wieder  eintraf  trotz  seiner  Zärtlichkeitsbezeigungen  so  schlecht 
aufgenommen,  und  wenn  sie  nur  die  Waffen  zu  fuhren  wüfste,  würde 
sie  seinen  schlechten  durch  den  Traum  angekündigten  Absichten  zuvor- 
kommen. Vergebens  sucht  die  Amme  sie  zu  beruhigen  und  den  Herodes  zu 
entschuldigen.  Marianna  redet  sich  in  immer  gröfsern  Arger  hinein: 
Soll  ich  Unglückliche,  von  königlichem  Blute  stammend  noch  länger 
diesen  ruchlosen  Mörder  und  Usurpator  ertragen?  Soll  ich  mich  von 
ihm  quälen  und  bedrohen  lassen,  geduldig  warten  bis  er  mich  er- 
mordet? Soll  ich  den  Töchtern  des  Belos  (den  Danaiden)  oder  der 
Judith  nachahmen?  Wenn  ich  ihn  aus  Mitleid  nicht  tödte  ziehe  ich 
mir  selbst,  wie  Hypermnestra  den  Tod  zu*). 

In  der  zweiten  Scene  erinnert  der  „Capitano**  Soemo  Marianna 
an  den  Beweis  seiner  Treue  und  Anhänglichkeit,  den  er  ihr  durch 
den  Verrat  von  Herodes'  geheimen  Mordbefehl  gegeben,  erzählt  ihr 
von  dem  Argwohn  den  sie    beim  Herodes    durch   ihr   unfreundliches 


*)  Mir  ist  von  einer  Ermordung  der  Hypermnestra  der  einzigen  Danaide,  die 
ihren  Gatten  verschonte,  nichts  bekannt.  Wenn  aber  Klein  (Gesch.  des  Dramas  V.  380) 
die  mythologischen  Anspielungen  der  Judenkönig^n  einen  Anachronismus  nennt,  so  scheint 
er  nicht  gewufst  zu  haben,  wie  weit  griechische  Bildung  zu  jener  Zeit  unter  den  Juden 
verbreitet  war  und  wie  besonders  Herodes  und  seine  Familie  ganz  gräcisiert  waren. 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Marianine.     I.  187 

Benehmen  erregt  habe  und  wie  er  ihn  beruhigte,  indem  er  erklärte, 
Marianna  sei  ungehalten  weil  er  sie  in  diesem  kleinen  Kastell  einge- 
schlossen halte  und  weil  sie  etwas  von  einem  Liebchen  gehört  hat,  das 
ihm  den  Aufenthalt  in  Ägypten  verschönert  habe.  „Dann  aber  sei 
ihre  Feindin  Salome  gekommen,  habe  sich  mit  Herodes  eingeschlossen 
und  da  ist,  wie  ich  furchte,  nichts  Gutes  für  dich  gebraut  worden. 
Sei  daher  vorsichtig  und  wenn  Herodes  dich  über  die  schlechte  Auf- 
nahme zu  Rede  stellt,  gieb  dieselben  Ursachen  an  wie  ich;  deinetwegen 
nicht  meinetwegen,  denn  ich  bin  schlimmstenfalls  zu  sterben  bereit, 
nicht  blofs  für  dich,  meine  rechtmäfsige  Königin,  auch  für  das  heilige 
Gesetz  imd  die  Ehre**. 

Marianna  ihrerseits  furchtet  auch  nicht  zu  sterben,  wenn  sie  nur 
früher  den  Tod  von  Hyrkan  und  Aristobulo  rächen  könnte;  sie  dankt 
dem  Soemo  für  seine  Treue  und  guten  Willen,  versichert,  dafs  sie 
ihn  nicht  verraten  werde,  will  aber  nichts  von  Heuchelei  und  Ver- 
stellung wissen,  sondern  dem  Herodes  erst  recht  ihre  Verachtung  be- 
zeigen. 

Allein  gelassen  bereut  Soemo  seine  Geschwätzigkeit  und  sieht 
sich  schon  als  Opfer  von  Herodes  mit  Blitzeseile  kommenden  Zorn, 
der  kommt 

Come  dietro  al  balen  seguita  il  tuono, 

E  col  tuon  scocca  la  saelta  ardente. 
Doch  beschliefst  er,  was  auch  kommen  möge,  mutig  zu  ertragen. 
Den  Akt  schliefst  der  Chor  von  Mariannas  Hoffräulein  (damigelle), 
der  als  Muster  von  Dolces  Lyrik  dienen  mag: 

Signor,  ch*ai  padri  nostri, 

Merce  di  tua  bontade, 

Dimostrasti  la  via,  ch*al  ciel  conduce: 

E'n  questi  oscuri  chiostri 

Giustitia  et  honestade 

E  pace  e  union  per  te  riluce: 

II  sol  de  la  tua  luce 

Sgombri  le  nebbie  intomo, 

Che  minacdan  tempesta  horrida  e  greve. 

Sia  qui  la  notte  breve, 

E  tomi  chiaro  e  senza  nube  il  giomo. 

Basti  il  passato  male 

A  la  nostra  Reina, 

Ricevuto  ne  Tavo  e  nel  fratello. 


188  Marcus  Landau. 


E,  se  prego  mortale 

Ti  sospinge  et  inchina 

A  dar  ai  peccator  giusto  flagello, 

II  Re  fiero  e  rubello 

A  le  tue  sante  leggi, 

Signor  punisci  con  supplicio  degno; 

E  torni  questo  Regno 

A  cui  s'aspetta  e  i  cari,  andchi  seggi. 

Tu  liberasti,  o  Dio 

Senza  prindpio  e  fine, 

Prima  e  sola  cagion  d'ogni  cagione, 

Bench*  ei  fosse  restio 

A  le  tue  discipline, 

L'afflitto  popol  tuo  da  Faraone. 

E  chi  sua  speme  pone 

In  tua  pietä  infinita 

Mai  la  tua  santa  man  non  abondona. 

Tu  sei  la  nostra  vita; 

E  vien  da  te  ogni  scettro,  ogni  Corona. 

Vedi  si  come  Herode 

Che'l  freno  usurpa  e  tiene 

De  la  terra  da  te  tanto  diletta, 

De  Taltrui  sangue  gode, 

E  di  tormenti  e  pene, 

Come  di  cibo  suo,  Tanima  alletta. 

Scenda  adunque  con  fretta 

La  tua  giustitia,  padre, 

Sovra  di  lui,  crudel  piü  d'ogni  fera, 

E  la  figlia  e  la  madre 

Difendi,  eterno  Re,  si  che  non  pera. 
Im  zweiten  Akt  verleumdet  Salome  die  Marianna  beim  Herodes« 
dafs  sie  ihn  durch  den  Mundschenk  habe  vergiften  wollen,  ganz  so 
wie  es  Josephus  berichtet ;  hinzugefugt  sind  nur  die  Vorwürfe,  welche 
Salome  ihrem  Bruder  macht,  dafs  er  sich  von  Marianna  und  Alexandra 
regieren  lasse.  Herodes  läfst  den  Mundschenk  rufen,  der  nach  einigem 
scheinbaren  Sträuben  die  Erzählung  Salomes  bestätigt  Das  Verlangen 
des  Herodes  nach  Zeugen  oder  Beweisen  beantwortet  er  schnippisch : 
„Wer  derartiges  plant  müfste  verrückt  sein,  wenn  er  es  öflFentlich  und 
vor    Zeugen    tun    möchte".     Auf  Herodes  weiteres  Drängen  nennt  er 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.     I.  189 

den  Eunuchen  Mariannas  als  den  Aufbewahrer  des  Giftes,  und  da 
Herodes  mifstrauisch  bemerkt,  er  sei  vielleicht  mit  dem  Eunuchen  zum 
Verderben  Mariannas  einverstanden,  erbietet  sich  der  Mundschenk 
seine  Aussage  in  ihrer  Gegenwart  zu  wiederholen.  Die  letzten  Worte 
werden  von  der  eintretenden  Marianna  gehört,  die  nun  recht  schneidig 
zu  wissen  verlangt,  wie  man  in  solcher  Weise  von  ihr  reden  könne. 

Nun  folgt  eine  recht  lebhafte  „g^ofse  Scene": 

Her.:  Ich  möchte  eher  Reich  und  Leben  verlieren,  als  in  die 
traurige  Notwendigkeit  kommen,  dich  eines  Verbrechens  anzuklagen. 

Mar.:  Wenn  es  ein  Verbrechen  ist,  dich  stets  geliebt  zu  haben 
wie  es  der  Gattin  geziemt,  dann  hast  du  Ursache  mich  zu  hassen. 

Her.:  Anstatt  meine  Liebe  so  zu  erwidern  wie  sie  verdiente, 
wolltest  du  mich  töten. 

Mar.:  Wer  ist  so  frech  und  boshaft  mich  dessen  anzuklagen?  Du 
suchst  nur  aus  Grausamkeit  und  um  eine  Andere  zu  heiraten  mich  zu 
töten.     Aber  ich  will  gern  sterben. 

Her.:    Dies  beweist,  dafs  du  dich  schuldig  fühlst. 

Mar.:  Meine  einzige  Schuld  ist  dich  geliebt  zu  haben,  weil  ich 
weifs,  dafs  du  nur  meinen  Körper  geliebt  hast.  Aber  Gott  wird  dich 
strafen. 

Her.:  Du  solltest  mir  dankbar  sein,  dafs  ich  dich  zur  Königin 
gemacht  habe,  ich  hätte  dich  ja  auch  zu  meiner  Konkubine  machen 
können.  Hätte  ich  nur  auf  die  Schönheit  des  Körpers  gesehen,  so 
hätte  ich  in  Judäa  schönere  Frauen  finden  können;  aber  ich  glaubte 
deine  Seele  wäre  eben  so  schön  wie  dein  Körper.  Nun  sehe  ich, 
dafs  ich  mich  getäuscht  habe,  denn  dein  Benehmen  zeigt,  dafs  du  mir 
nach  dem  Lebeh  trachtest. 

Mar. :  (nachdem  sie  ihm  die  Einschliefsung  im  Schlosse  Alexandrion 
vorgeworfen)  Du  liebst  mich  nicht.  Aber  es  fallt  mir  trotzdem  nicht 
ein  dir  nach  dem  Leben  zu  trachten,  wer  mich  dessen  beschuldigt, 
der  lügt.  Aber  das  ganze  ist  nur  deine  Erfindung,  —  Grausamkeit, 
Eifersucht  oder  die  Liebe  zu  einer  Andern  treiben  dich  dazu  .... 
Hier  ist  meine  Brust,  stofse  dein  Schwert  hinein!  Lieber  ist  mir  der 
Tod  als  das  Leben  an  deiner  Seite  —  Mörder  meines  Grofsvaters  und 
meines  Bruders. 

Her.:^  Ich  erstaune  über  deine  Kühnheit.  Wie  kannst  du  leugnen, 
dafs  du  mir  durch  diesen  da  (auf  den  Mundschenk  zeigend)  Gift 
reichen  wolltest? 

Mar.:    Er  lügt. 


190  Marcus  Landau. 


Her.:  (zum  Mundschenk)  Sag'  die  Wahrheit^  ohne  Rücksicht  auf 
diese  Undankbare. 

Mundschenk:    Wozu  wiederholen,   was  sie  so  gut  weifs  wie  ich. 

Mar.:  Du  lügst!  Bist  von  Herodes  angestiftet,  der  mir  das  Leben 
rauben  will,  wie  meinem  Bruder  und  Grofsvater  .... 

Endlich  gesteht  der  in  die  Enge  getriebene  Mundschenk,  dais  er 
von  Salome  angestiftet  worden  sei  Marianna  zu  verderben,  worauf  ihn 
Herodes  ins  Gefängnis  abführen  läfst 

Noch  immer  voll  Argwohn  und  Zweifel  nimmt  der  König  in  der 
nächsten  Scene  den  Eunuchen  vor  und  sucht  ihn  mit  Versprechungen 
und  furchtbaren  Drohungen  —  er  werde  ihn  so  foltern  lassen,  dafs 
er  Jenen  beneiden  wird,  der  für  Phalaris  den  ehernen  Stier  verfertigte 
—  (che  arse  e  muggiö  nel  proprio  tauro)  —  zum  Geständnis  zu  be- 
wegen. Der  Eunuch  beteuert  und  beschwört  die  vollkommene  Un- 
schuld Mariannas,  läfst  sich  aber  zu  der  Aussage  fortreifsen,  dafs  Soemo 
den  geheimen  Auftrag  des  Herodes  an  Marianna  verraten  habe.  Daraus 
schliefst  dieser  auf  ein  sträfliches  Einverständnis  der  Beiden  und  folgert 
weiter:  „Marianna  hafst  mich,  daher  wollte  sie  mich  vergfiften,  die 
erste  Aussage  des  Mundschenk  ist  also  wahr,  trotzdem  er  sie  später 
widerrufen  hat".  Doch  will  er  noch  genauer  untersuchen  und  nichts 
übereilen. 

Der  dritte  Akt  beginnt  mit  einem  Gespräch  zwischen  Marianna 
und  ihrer  Mutter,  die  einander  ihre  Befürchtungen  mitteilen.  Marianna 
erwartet  gefafst  den  Tod,  Alexandra  will  durch  Opfer  und  Ciebete 
das  Unglück  abwenden.  Der  Jungfernchor  ermahnt  Marianna  sich  zu 
verteidigen  und  ihre  Unschuld  darzutun: 

Per  non  gir  con  disnor  a  fiera  morte. 
Che  quando  voi  non  difendiate  il  vero, 
n  mondo  credera  che  siate  stata 
Adultera  e  homicidia. 

In  der  nächsten  Scene  wird  die  Diskussion  zwischen  Herodes  und 
Marianna  in  Gegenwart  des  Geheimrats  (Consigliere)  wieder  auf- 
genommen*). Wir  wissen  nicht:  Hat  Herodes  seinen  schönen  Vorsatz 
nichts  zu  übereilen  aufgegeben  oder  im  Zwischenakt  die  genaue  Unter- 
suchung geführt?  —  genug,  er  erscheint  jetzt  von  Mariannas  Schuld 
überzeugt,    beschimpft    sie,    und   nur    mit  Mühe  gelingt  es  dem  Con- 


*)  Ginguen^  (Hist.  litt.  VI.  8i)  in  seiner  Analyse  von  Dolces  Marianna  macht  aus 
diesem  Consigliere  und  Soemo  eine  Person! 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.     I.  191 

sigliere  einigen  Aufschub  für  sie  zu  erwirken.     Dagegen  will  Herodes 
ohne  Zögern  den  Soemo  bestrafen. 

Wie  der  lupus  in  fabula  erscheint  dieser  sofort,  (wohin  Marianna 
inzwischen  gekommen  erfahren  wir  nicht)  wird  von  Herodes  anfangs 
durch  freundliche  Worte  sicher  gemacht,  dann  heftig  angefahren  und 
mit  dem  Vorwurf,  er  habe  den  geheimen  Befehl  verraten  aufser  Fassung 
gebracht.  Er  verteidigt  sich  ungeschickt,  und  als  ihm  Herodes  vor- 
wirft, er  habe  nach  seinem  Tode  Marianna  heiraten  und  König  werden 
wollen,  weifs  er  nur  seine  Unschuld  zu  beteuern  und,  dafs  er  in  Bezug 
auf  die  Respektierung  djcr  Gattinnen  anderer  es  mit  dem  keuschen 
Joseph  und  mit  Hippolytus  aufnehmen  könne.  Als  Antwort  hierauf 
erklärt  ihm  Herodes,  er  werde  ihn  nicht  foltern  lassen,  da  ja  sein 
Verbrechen  klar  erwiesen  sei,  dagegen  werde  er  ihn  schon  heute  hin- 
richten lassen,  und  zwar  aus  besonderer  Gnade  nicht  mittelst  Steinigung, 
Kreuzigung  oder  Zerreifsung  durch  Hunde,  sondern  durch  einfache 
Enthauptung. 

Nachdem  Soemo  abgeführt  worden,  setzt  der  Consigliere  seine 
Bemühungen  Marianna  zu  retten  fort  und  verteidigt  sie  mit  einem 
argumentum  ad  hominem.  „Was  könnte",  sagt  er,  „Marianna,  die 
nicht  mehr  in  blühender  Jugend  ist,  zum  Ehebruch  verlocken,  und 
gar  noch  mit  Soemo.  Etwa  sein  schönes  Aussehen?  Er  ist  ja  ab- 
gezehrt und  struppig,  sieht  mehr  einem  Wilden  als  einem  zivilisierten 
Menschen  ähnlich  und  ist  beinahe*  ein  Greis.  Es  wäre  lächerlich  der 
Königin  eine  solche  Geschmacksverirrung  zuzutrauen." 

Onde  e  cosa  ridicola  a  pensare 
Ch'ella  avesse  eletto  un  tale  amante. 
„Giebt  es  denn  nicht  genug  schöne  junge  Männer  am  Hofe    und 
vor  allem,  bist  du  nicht  selbst,  o  König,  der  schönste,  liebenswürdigste 
und  majestätischste,  kaum  35  Jahre  zählend"*). 

Als  pessimistischer  Frauenkenner  antwortet  Herodes:  „Deine 
Verteidigung  wäre  vollkommen  überzeugend,  wenn  die  Frauen  stets 
vemunftgemäfs  handeln  möchten.  Aber  kein  Geschöpf  ist  so  leicht- 
sinnig, folgt  so  blind  seinen  Trieben  als  das  Weib.  Und  dann  ver- 
dient Marianna  Strafe  für  den  blofsen  Verdacht.  Es  ist  nicht  genug, 
daüs  ich  nicht  beschädigt  werde,  ich  darf  nicht  einmal  in  den  Verdacht 
geraten  der  Beschädigte  zu  sein". 


*)  Herodes  war  beim  Tode  Mariannas    schon  Qber  die  Vierzig;    aber  warum  soll 
ein  Hofinann  nicht  ein  paar  Jährchen  verschlucken? 

Ztwhr.  1  tkI.  LitL-GMch.    N.  P.  VIII.  ^g 


192  Marcus  Landau. 


ch^a  la  persona  mia 

Non  sol  convien,  che  non  si  faccia  offesa, 
Ma  torre  ogni  cagion,  ch'altri  sospetti*). 

Doch  läfst  er  sich  endlich  bewegen  die  Entscheidung  aber  Marianna 
zu  verschieben. 

Der  Akt  schliefst  mit  einem  schönen  (glücklicherweise  von  Herodes 
nicht  gehörten)  Chorgesang,  in  dem  das  Los  der  Untertanen  eines 
grausamen  gottlosen  Tyrannen  beklagt  und  dessen  Tod  von  Gott 
erfleht  wird. 

Im  Beginne  des  vierten  Akts  berichtet  ein  Bote  ausfuhrlich  über 
die  Hinrichtung  des  Soemo,  was  der  Chor  gebührend  beklagt.  Dann 
kommt  Herodes,  betrachtet  mit  Genugtuung  die  ihm  in  einem  silbernen 
Gefafs  überbrachten  Körperteile  des  Hingerichteten  und  läfst  sich  die 
Hinrichtung  mit  dem  Abhauen  der  Hände  und  dem  Herausreüsen 
des  Herzens  genau  beschreiben. 

Das  Überbringen  und  Betrachten  von  Körperteilen  Hingerichteter 
oder  Ermordeter  gehörte  zum  stehenden  Inventar  der  italienischen 
bluttriefenden  Tragödien  des  sechzehnten  Jahrhunderts.  Dolce  wollte 
sich  diesen  starken  Effekt  nicht  entgehen  lassen,  liefs  aber  seinen 
Hoffräuleinchor  sein  Entsetzen  über  diese  gräuliche  Barbarei  ausdrücken: 

O  cosa  empia  e  inhumana, 

O  spettacolo  horrendo  e  dispietato. 

Herodes  ruft  ihm  dafür  ein  Halts  Maull  zu: 

Voi  non  ardite  di  formar  parole 
E  restatevi  cheto! 

und  äufsert  sein  Bedauern,  dafs  er  den  Soemo  so  gelinde  bestraft 
habe.  Dann  läfst  er  durch  eine  der  Chordamen  Marianna  herbeirufen 
und  sagt  dieser,  ihr  das  silberne  Gefäfs  überreichend,  er  übergebe 
ihr  ein  seltenes  und  kostbares  Geschenk,  wie  es  ihre  seltene  Treue 
verdiene,  es  enthalte  das  was  sie  mehr  als  ihr  Leben  liebte  und  noch 
liebe.     Ihr  die  einzelnen  Stücke  vorweisend  sagt  er:  Da  sind 

Die  Hände  die  so  oft  zu  unsrer  Schmach 
Um  deinen  Nacken  zärtlich  sich  geschlungen, 
Und  dies,  schamloses  Weib,  es  ist  das  Herz 
An  das  so  innig  sich  das  deine  hing. 

*)  Meine   Frau    darf   nicht    einmal    dem   Verdachte  ausg^eset^t   sein,    sagte  Julius 
Caesar  als  er  seine  Gattin  verstiefs.     (Plutarch.) 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.     I.  193 

In  gleicher  Weise  läfst  Dolces  Zeitgenosse  Giraldi  in  seiner  Tragödie 
Orbecche*)  den  König  Sulmone  seiner  Tochter  Haupt  und  Hände 
ihres  Gatten  und  die  Körper  ihrer  ermordeten  Kinder  in  silbernen 
Gefafsen  überreichen.  Man  darf  aber  solche  Gräueltaten  nicht  als 
blofse  monströse  Nachahmung  der  Seneca-Tragödien  betrachten  — 
sie  lassen  sich  bis  zu  Boccaccios  Dekameron,  (Tag  IV.  9)  und  weiter 
zurück,  freilich  nicht  auf  dem  Theater  verfolgen**). 

Wie  Marianna  das  scheufsliche  Geschenk  aufnimmt  kann  man  sich 
denken,  und  brauchen  wir  daher  die  nun  folgende  Zankscene  nicht  wieder- 
zugeben. Sie  schliefst  damit,  dafs  Herodes  seiner  Frau  mitteilt  er  werde 
sie  zum  Beweis  seiner  Liebe  hinrichten  lassen,  damit  sie  bald  mit  ihrem 
geliebten  Soemo  vereinigt  werde.  Die  Überreste  desselben  befiehlt  er 
den  Hunden  vorzuwerfen  und  läfst  Marianna  von  der  Wache  abfuhren. 

In  der  nächsten  —  vierten  —  Scene  erscheinen  die  Amme  und  die 
beiden  Kinder  Mariannas,  Alessandro  und  Aristobulo,  um  sie  zu  ver- 
teidigen und  Letztere  erbieten  sich  trotz  ihrer  jugendlichen  Schwäche 
ritterlich  für  ihre  Unschuld  zu  kämpfen.  Sonderbar  erscheint  es,  wenn 
die  Kinder  die  eheliche  Treue  und  Keuschheit  ihrer  Mutter  beteuern 

Nostra  madre  giammai  non  fece  oltraggio 
AI  letto  marital 

Herodes  will  sie  nicht  als  die  Seinigen  anerkennen  und  sagt  ihr  Be- 
nehmen beweise,  dafs  sie  die  Kinder  Soemos  seien.  Nun  verlieren 
diese  ganz  den  Respekt,  worauf  Herodes  seinen  Soldaten  befiehlt  sie 
lebend  oder  tot  zu  ergreifen.  Der  Chor  schildert  wie  sie  Widerstand 
leisten,  aber  der  Übermacht  erliegen: 

O  crudeltate  immensa: 

Ecco  le  spade  ignude, 

Ecco  come  ambedue 

Si  difendon  da  molti, 

Benchi  inermi  e  garzoni. 

Ma  lassa,  che  valore 

A  troppa  forza  cede. 

Ecco  come  son  cinti  d'ogn*  intorno: 

Et  ecco,  che  son  presi. 

O  lagrimoso  giorno. 


♦)  Ihre  erste  AufiÜhrung  fand  i.  J.   1541  statt  (Klein  V.  324). 
**)  Vergl.  meine  QueUen  des  Dekameron  3.  Aufl.  S.  112 — 115. 

18* 


194  Marcus  Landau. 


Die  Kinder  werden  abgeführt  und  Herodes  giebt  den  Befehl  zuerst 
seine  Schwiegermutter  Alexandra  zu  enthaupten,  dann  die  Kinder 
zu  erdrosseln  und  zuletzt  Marianna  zu  enthaupten. 

In  der  letzten  Scene  dieses  Akts  bemüht  sich  der  ConsigUere 
vergeblich  den  Herodes  zur  Zurücknahme  der  Todesurteile  zu  be- 
wegen. Aber  die  zweite  Scene  des  fünften  Akts  zeigt  uns  schon  den 
Beginn  seiner  Reue.  Er  bekommt  die  Nachricht  dafs  der  Bote,  den 
er  mit  der  Begnadigung  auf  den  Richtplatz  gesendet,  zu  spät  ge- 
kommen ist. 

Nun  beginnen  seine  Klagen  mit  den  Worten  Ugolinos  bei  Dante*), 

Ben  sei  crudele 

Se  non  volgi  la  spada  hör  nel  tuo  petto, 

während  der  Chor  seine  späte  Reue  tadelt. 

Ein  zweiter  Bote  kommt,  berichtet  ausführlich  über  die  Exekution 
und  giebt  wörtlich  die  Reden  der  Hingerichteten  wieder.  Marianna 
hat  vor  dem  Tode  beteuert,  dafs  sie  den  Herodes  stets  wie  es  einer 
keuschen  Gattin  zieme,  innig  geliebt  habe  und  erst  als  sie  seinen 
Befehl  an  Soemo  erfuhr,  sei  ihre  Liebe  in  Hafs  umgewandelt  worden. 

Der  Chor  und  Herodes  begleiten  diese  Erzählung  mit  den  ent- 
sprechenden Klagen.  Letzterer  nimmt  sich  vor,  die  Schwester,  die 
ihn  so  schändlich  betrogen,  streng  zu  bestrafen  und  möchte  sich  den 
Tod  geben,  um  mit  Marianna  vereinigt  zu  werden.  Aber  er  weifs  ja, 
dafs  sie  im  Himmel  ist,  während  er  in  die  Hölle  kommen  wird,  und 
begnügt  sich  die  Anordnungen  für  ihr  Leichenbegängnis  zu  treffen. 
Getreu  seiner  Quelle  läfst  ihn  Dolce  zur  toten  Marianna,  als  ob  sie 
lebte,  reden;  aber  da  er  noch  bei  vollem  Verstände  ist,  sieht  er  selbst 
das  Ungereimte  davon  ein. 

Mit  der  Warnung  sich  vor  Zorn  und  Übereilung  zu  hüten  schliefst 
der  Chor  die  Tragödie. 

Man  kann  sie  unbedingt  zu  den  besten  ihrer  Zeit  und  ihres  Genres 
zählen,  wenn  wir  auch  von  unserm  modernen  Standpunkte  allerlei 
einzuwenden  haben.  Der  Dichter  hat  sich  streng  an  die  drei  Einheiten 
gehalten,  und  die  Einheit  der  Zeit  hinderte  ihn  das  langsame  Wachsen 
von  Herodes  Eifersucht  darzustellen,  zwang  ihn  diesen  fast  straflos 
ausgehen  zu  lassen,  wenn  man  nicht  seine  gleich  nach  dem  Tode 
Mariannas  ausbrechende  Reue  als  genügende  Strafe  betrachten  will. 
Sonst  ist  der  poetischen  Gerechtigkeit  genüge  getan;  keine  der  Haupt- 


•)' Inferno  XXXIO.  40. 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.    I.  195 

^ ^ ■ ^ 

personen  leidet  ganz  unverschuldet:  Marianna  möchte  den  Herodes 
töten,  Soemo  hat  das  ihm  anvertraute  Geheimnis  verraten,  was  auch 
der  Chor  für  strafwürdig  erklärt,  und  selbst  die  Kinder  haben  sich 
durch  das  respektwidrige  Benehmen  gegen  den  Vater  verschuldet. 
Salome  geht  freilich  straflos  aus,  aber  ihre  Strafe  ist  nur  aufgeschoben. 
Und  dann  ist  ihre  Verschuldung  viel  geringer  als  in  der  Erzählung 
des  Josephus;  sie  ist  hier  nur  eine  Nebenperson,  und  man  kann  für 
ihre  Degradierung  dem  Dichter  die  Anerkennung  nicht  versagen. 
Calderon  ging  nur  einen  Schritt  weiter  als  er  sie  ganz  wegliefs. 

Es  ist  daher  leicht  begreiflich,  dafs  Dolces  Drama  bei  seiner  Auf- 
fuhrung in  Venedig  grofsen  Beifall  fand,  selbst  als  es  zum  ersten  Male 
ohne  Musik  und  ohne  jeden  scenischen  Apparat  im  Hause  des 
Sebastiano  Erizzo  in  Gegenwart  von  dreihundert  Edelleuten  aufgeführt 
wurde.  Der  ungeheure  Zulauf  bei  der  zweiten  Aufführung  mit  Musik 
und  schöner  Ausstattung  im  Palaste  des  Herzogs  von  Ferrara  ver- 
ursachte einige  Störung,  aber  die  dritte  Aufführung  hatte  wieder  den- 
selben grofsen  Erfolg  wie  die  erste*). 

IV. 

Unabhängig  von  Dolce  und  wahrscheinlich  noch  früher  als  dieser 
dichtete  Hans  Sachs  im  Jahre  1552  seine  „Tragedia  mit  15  Personen 
zu  agiren,  der  Wütrich  König  Herodes,  wie  der  sein  drey  Sön 
und  sein  Gmahel  umbbracht,  unnd  hat  5  Actus." 

Sachs  folgt  ziemlich  treu  dem  Josephus,  so  dafs  man  sein  Drama 
eine  abgekürzte  Dramatisierung  der  beiden  Berichte  des  jüdischen 
Geschichtschreibers  nennen  könnte.  Nach  einem  vom  „Ernholt"  ge- 
sprochenen Prolog,  in  welchem  der  Inhalt  des  Stücks  in  gröfster  Kürze 
angegeben  und  Josephus  als  dessen  Quelle  genannt  wird,  beginnt 
dieses  selbst  mit  dem  Abschiede  des  Herodes  vor  seiner  letzten  Reise 
zu  Augustus.  Er  setzt  die  „Fürsten"  Josippus  und  Seemus  zu  Regenten 
während  seiner  Abwesenheit  ein  und  sagt  letzterm: 

„Da  hast  ein  besundern  Befelch  geschrieben 
Und  sey  mit  diesen  Sachen  stil!"**) 


*)  So  berichtet  Dolce  selbst  in  dem  an  Antonio  Molino  gerichteten  Widmungs- 
brief vom  35.  Mai  1565,  in  welchem  Jahre  auch  die  erste  Auflage  der  Marianna  erschien. 
(Die  zweite  1593.)  Die  Aufführungen  haben  aber  wohl  einige  Jahre  früher  stattgefunden. 
**)  Ich  folge  der  Orthographie  von  Kellers  Ausgabe  des  Hans  Sachs*  im  136  Bande 
der  Bibliothek  des  litter.  Vereins  in  Stuttgart  (Bd.  XI.  von  Sachs'  Werken),  schreibe 
aber  die  Hauptwörter  zur  Bequemlichkeit  der  Leser  mit  grolsen  Anfangsbuchstaben. 


196  Marcus  Landau. 


Fürst  Seemus  bleibt  aber  nicht  still,  sondern  teilt  gleich  nach  der  Ent- 
fernung des  Herodes  dem  Josippus  den  Befehl  mit,  welcher  ihm  da- 
gegen mitteilt,  dafs  Herodes,  als  er  zu  Antonius  reiste,  ihm  einen 
ähnlichen  Befehl,  „ein  solchen  unschulding  Todt**,  hinterlassen  habe. 
Dann  kommt  die  „Künigin  Marianne"  und  beklagt  sich  bei  den  beide» 
Regenten  über  die  strenge  Bewachung,  der  sie  unterworfen  sei. 

Beide  bey  Tag  und  auch  bei  Nacht 
Wirdt  mit  den  Trabanten  bewacht. 
Sag!  hat  mein  Herr  befohlen  das? 

Josippus  erklärt  diese  Bewachung  und  Beschützung  mit  der  g^ofsen 
Liebe  des  Herodes,  worauf  der  Schwätzer  Seemus  ganz  unnötig  hin- 
zufügt, er  habe  noch  einen  wichtigen  geheimen  Auftrag,  den  sie  nicht 
wissen  dürfe.  Neugierig  gemacht,  fragt  die  Königin,  was  das  für  ein 
Auftrag  sei,  und  Seemus  läfst  sich  ohne  vieles  Zögern  bewegen  ihr 
mitzuteilen,  er  habe  den  Befehl  sie  zu  töten,  falls  Herodes  vom  Kaiser 
getötet  werden  sollte. 

Au£f  das  nit  kumbst  in  die  Handt 
Der  Römer,  das  du  würst  geschendt. 

Zur  Bekräftigung  seiner  Worte  zeigt  er  ihr  den  schriftlichen  Befehl 
vor,  worauf  sie  weinend  abgeht.  Josippus  tadelt  die  Geschwätzigkeit 
seines  Kollegen,  und  dieser  erwidert  gleichmütig,  er  bereue  dies, 
aber  es  sei  nun  einmal  geschehen. 

In  der  nächsten  Scene  entwickelt  Salome  in  einem  Monolog  den 
Plan  ihre  Schwägerin  zu  verderben.  Sie  werde  sie  verleumden,  dafs 
sie  dem  Antonius  ihr  Porträt  geschickt  habe 

In  Liebe  ihn  mit  zu  verstricken, 

und  dafs  sie  mit  Josippus  allzu  vertraulich  verkehrt  habe.  Femer  hat 
sie  den  Mundschenken 

Mit  g^ofsem  Gelt,  Listen  und  Renken 

bewogen,  dem  Herodes  anzuzeigen,  dafs  Marianna  ihn  vergiften  wollte. 
Im   zweiten  Akt   finden    wir    den  zurückgekehrten  Herodes  von 
seiner  Gattin  mit  Zorn  und  Groll  empfangen.     Sie  klagt: 

„Du  tregst  mir  weder  Lieb  noch  Gunst. 
Du  thust  nicht  änderst  nach  mir  fregen 
Denn  von  der  schnöden  Wollust  wegen*), 


*)  „Mai  di  me  non  amaste  altro  che  il  corpo**,  sagt  sie  bei  Dolce, 


Die  Dramen  yon  Herodes  und  Mariamne.    I.  197 


worauf  er  ihr  die  Sendung  ihres  Bildes  an  Antonius  vorwirft.  (Also 
hat  er  schon  hinter  der  Scene  mit  Salome  gesprochen?)  Marianna 
antwortet  mit  dem  Vorwurf,  dafs  er  ihren  Bruder  getötet  und  schon 
zweimal  den  Befehl  sie  zu  töten  gegeben  habe*). 

Herodes  schliefst  daraus,  das  Seemus  „mehr  mit  ihr  ghabt  zu 
schaffen"  und  läfst  den  Fürsten  gleich  zur  Hinrichtung  abfiihren. 

Nun  kommen  Salome  und  der  Mundschenk  und  klagen  Marianna 
des  Vergiftungsversuchs  an,  worauf  der  wütende  Herodes  den  Befehl 
zu  ihrer  Enthauptung  giebt.  Josip^us,  der  einen  schwachen  Versuch 
macht  Aufschub  für  sie  zu  erlangen,  bekommt  von  Herodes  einen 
Verweis  und  Marianna  wird  gebunden  und  abgeführt.  Sie  äufsert 
ihre  Freude  den  „Bluthundt"  losgeworden  zu  sein  und  erklärt  gern 
sterben  zu  wollen.  Ein  kurzes  Gespräch  der  beiden  Trabanten  Thiro 
und  Ewklides,  ungefähr  dem  Chor  entsprechend,  schliefst  die  Scene. 
In  der  nächsten  sehen  wir  Herodes  zu  Tische  gehen  und,  als  sei 
nichts  passirt,  dem  Herold  befehlen  Marianna  herbeizurufen.  Mit 
gebührender  Reverenz  antwortet  der  Herold: 

Grofsmechtiger  König,  die  Künigin 
Die  hat  man  heudt  gefuret  hin 
Nach  eurem  Urteil  sie  gericht, 

was  dem  Grofsmechtigen  unglaublich  vorkommt.  Zuletzt  mufs  er 
aber  daran  glauben  und  schliefst  ganz  wütend  und  reuevoll  den  Akt. 
Der  dritte  Akt  ist  den  Söhnen  Mariannas,  Alexander  und 
Aristobulos  gewidmet,  welche  eben  von  Rom  angekommen,  den  Tod 
ihrer  Mutter  zu  rächen  und  ihre  Verleumder  vor  Gericht  zu  ziehen, 
beschliefsen.  Der  Trabant  Thiro**)  erzählt  ihnen  die  nähern  Um- 
stände ihres  Todes  und  wie  Herodes  vor  Reue  schier  wahnsinnig 
geworden  sei.  Aber  den  Verleumdungen  Salomes  und  des  Ferores 
(Bruders   des  Herodes)   gelingt   es,    unterstützt   von    Antipater,    dem 


*)  Das  muls  sie  im  Josephus  gelesen  haben,  denn  in  der  Tragödie  hat  ihr  Seemus 
nur  von  einem  Befehl  erzählt. 

**)  Dieser  Thiro,  der  in  andern  Mariamne-Tragödlen  nicht  vorkommt,  ist  ein 
Beweis  wie  aufiaierksam  Hans  Sachs  seinen  Josephus,  von  dem  schon  1531  eine  deutsche 
Obersetzung  erschienen  war,  gelesen  hat.  Dieser  erzählt  nämlich  im  Jüdischen  Krieg 
(I.  37,  4)  dafs  ein  alter  Soldat,  namens  Teron  sich  eifrig  der  Söhne  Mariammes  ange- 
nommen und  ihre  Ankläger  Pheroras  und  Salome  vor  Herodes  als  Verleumder  gebrand- 
markt habe.  Dem  braven  Soldaten  ist  aber  seine  Treue  und  Ehrlichkeit  schlecht  be- 
kommen. Und  sollte  hinter  dem  andern  Trabanten  Buclides  nicht  der  Spartaner 
Eurykles  (vergl.  Josephus,  Jüd.  Krieg  I.  36,  i)  stecken? 


198  Blarcus  Landau. 


ältesten  Sohne  des  Königs,  diesen    (im  vierten  Akt)  zur  Verurteilung 
von  Alexander  und  Aristobul  zu  bewegen. 

Im  fünften  Akt,  nach  der  Hinrichtung  der  beiden  Brüder,  kommt 
Antipater  mit  Ferores  überein  den  Herodes  zu  vergiften,  wird  aber 
von  Salome  denunziert  und  auf  Befehl  des  Königs  ins  Gefängnis  ge- 
worfen. Den  übrigen  Inhalt  dieses  Akts  bilden  die  ekelhaft  geschilderte 
Krankheit  des  Herodes,  sein  und  Antipaters  Tod,  ziemlich  getreu 
nach  Josephus.  In  der  letzten  Scene  bringen  die  straflos  ausgegangene 
Salome  und  Josias*)  der  Fürst  das  Testament  des  Herodes.  Der 
Herold  schliefst  das  Stück  mit  der  hausbackenen  Moral:  Ein  König 
soll  sich  vor  Heuchlern  und  Schmeichlern  hüten  und  sein  Urteil  nicht 
übereilen.  Wer  Untreue  und  Verrat  übt  entgeht  nicht  der  gerechten 
Strafe.  (Aber  Salome?)  Eine  Frau,  die  unvorsichtig  in  ihrem  Umgang 
mit  Männern  ist 

Und  auch  mit  Kleydung  sich  auflFmutzt, 

Mit  Worten  ieren  Ehman  trutzt, 

Die  entzündet  iren  Ehman 

Die  EyfFersucht  und  den  Argwan, 

Das  sich  den  für  und  für  thut  mem. 

Ob  sie  geleich  ist  frumb  an  Ehrn, 

So  lest  sich  doch  des  Mans  UnwQlen 

Und  EyfFersucht  nicht  leichtlich  stülen. 

Aufs  dem  volgt  gar  vil  Ungemachs 

In  ehling  Standt,  so  spricht  Hans  Sachs. 
In  einer  besondem  Comoedia  mit  24  Personen  „die  Entpfengnufs 
und  Geburdt  Johannis  und  Christi**  (im  selben  Bande  der  Kellerschen 
Ausgabe)  hat  Hans  Sachs  den  bethlehemitischen  Kindermord  behandelt, 
auf  den  wir  hier  nicht  weiter  einzugehen  brauchen. 

Ebenso  dürfte  das  von  Gottsched**)  angeführte  „Ein  gar  schön 
herrlich  new  Trostspiel  noch  niemals  in  Druck  kommen.  Von  der 
Geburt  Christi  und  Herodis  Bluthundes  ....  durch  M.  Christophorum 
Lasium,  Frankfurt  a.  O.  1 586,  auch  nur  den  Kindermord  behandeln  ***). 


*)  £in  solcher  kommt   im  Personenverzeichiiis    nicht  vor;    es   soll  wohl  Josippus 
heifsen. 

*•)  Nöthiger  Vorrath  I.  122;  II.  257;  I.  237. 
***)  Ein  Christoph  Lasius,   Superintendent    zu    Cottbus    gest.    157a    in  Senftenberg, 
der    aber    nur    theologische    Werke    schrieb,    ist    in    Jöchers    Allg.    Gelehrten    Lexicoa 
(II.  S.  2283)    Leipzig   1750   aufgeführt.    Nach    Goedeke  (Grundrifs    zur    Geschichte   der 
deutschen  Dichtung  2.  Aufl.  II.  393)  ist  er  auch  Verfasser  des  Trostspiels, 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.     I.  199 

V. 

Das  siebzehnte  Jahrhundert  war  reicher  an  Mariamne-Dramen 
als  das  vorhergehende  und  die  nächstfolgenden.  Der  Italiener  Dolce 
war  ein  guter  Kenner  des  Griechischen,  Hans  Sachs  konnte  die 
deutsche  Übersetzung  des  Josephus  benutzen,  den  Franzosen  und 
Spaniern  scheint  der  jüdische  Geschichtschreiber  erst  durch  die  1611 
erschienene  lateinische  Übersetzung  näher  bekannt  geworden  zu  sein. 

Der  erste  der  sich  in  Frankreich  des  lockenden  Stoffs  bemächtigte, 
aber  in  der  Bearbeitung  weit  unter  dem  um  ein  halbes  Jahrhundert 
altern  Italiener  zurückblieb,  war  Alexander  Hardy,  der  einige  Jahre 
vor  Dolces  Tod  geboren  wurde  und  1631  starb*).  Er  hat  mehr  als 
ein  halbes  Tausend  Tragödien,  Tragikomödien  und  Hirtendramen  ge- 
schrieben, von  denen  aber  nur  bei  drei  Dutzend  in  den  Jahren  1623  bis 
i6a8  in  sechs  Bänden  gedruckt  wurden.  Von  diesen  haben  es  jedoch 
nur  die  beiden  ersten  zu  einer  zweiten  beziehungsweise  dritten  Auflage 
gebracht,  und  sind  Hardys  Dramen  daher  so  selten  geworden,  dafs  sich 
Professor  E.  Stengel  durch  den  1884  in  Marburg  besorgten  Neudruck 
den  Dank  aller  Freunde  des  altern  französischen  Theaters  verdiente**). 

Im  Gegensatz  zu  der  in  der  zweiten  Hälfte  des  sechzehnten  Jahr- 
hunderts in  der  französischen  Litteratur  herrschenden  klassizistischen 
Schule  repräsentiert  Hardy  das  mehr  populäre  nationale  Element, 
bildet  aber  auch  schon  den  Übergang  zum  klassischen  französischen 
Theater;  ja  Lombard  (a.  a.  O.  S.  173)  nennt  ihn  geradezu  den  einzigen 
Lehrer  und  das  erste  Vorbild  Corneilles.  Die  Zwischenstellung  zeigt 
sich  auch  in  der  Form  seiner  teils  in  Alexandrinern  teils  in  zehnsilbigen 
Versen  geschriebenen  Dramen,  in  denen  fer  sich  noch  frei  von  den 
Fesseln  der  Einheit  von  Zeit  und  Ort  bewegt,  aber  sich  doch  nicht 
der  schrankenlosen  Fantasie  der  spanischen  Dramatiker  überläfst. 


*)  Nach  der  früher  allgemein  giltigen  Annahme  wurde  er  zwischen  1560  und 
1563  geboren.  E.  Lombard  in  seiner  "Etüde  sur  Alexandtje  Hardy  (Ztschft.  für  neu- 
französische  Sprache  und  Litteratur  von  Körting  und  Koschwitz  I.  164)  möchte  ihn  um 
zehn  Jahre  jünger  machen;  aber  seine  Argumente  scheinen  mir  nicht  auszureichen  um 
das  früher  allgemein  angenommene  Datum  zu  verwerfen. 

**)  Diese  Ausgabe  enthält  33  Stücke  in  fünf  Bänden,  und  Stengel  spricht  in  der 
Vorrede  auch  nur  von  Hardys  fQttf bändigem  Th^ätre.  Es  ist  aber  noch  ein  sechster 
Band,  enthaltend  ,Les  Amours  de  Th^g^ne  et  Chariclee,  divis^  en  VTII  po^mes. 
dramatiques",  erschienen,  so  dafs  man  von  41  erhaltenen  Stücken  Hardys  sprechen  kann. 
(Vcrgl.  übrigens  Stengels  Vorrede  S.  V.)  Eug^e  Rigals  Alexandre  Hardy  et  le  Theätre 
fran9ais  au  commencement  du  XVIIe  si^le,  Paris  1890,  war  mir  nicht  zugänglich. 


800  Marcus  Landau. 


Wenn  er  auch  die  Stoffe  zu  seinen  Dramen  mitunter  aus  den 
Novellen  des  Cervantes  nahm,  so  zeigt  er  doch  sonst,  namentlich  in 
seiner  Mariamne,  keine  Abhängigkeit  von  den  Spaniern  und  ähnelt 
Lope  de  Vega  nur  im  Schnell-  und  Vielschreiben.  Dagegen  scheint 
das  italienische  Drama  nicht  ohne  Einflufs  auf  ihn  gewesen  zu  sein 
und  auch  von  der  antiken  Litteratur  scheint  er  viel  gekannt  zu  haben. 
Um  für  seine  1610,  vielleicht  noch  früher  geschriebene  Mariamne  den 
Josephus  zu  studieren  hat  er  also  wohl  die  lateinische  Übersetzung 
nicht  abzuwarten  gebraucht. 

In  seiner  Jugend  ein  beliebter  populärer  Dichter  sah  er  sich  im 
Alter  vernachlässigt  und  verlassen  und  sein  Stern  war  schon  erblafst 
bevor  noch  der  Corneilles  recht  zu  leuchten  begann*). 

In  der  Mariamne,  welche  von  manchen  für  sein  bestes  Stück 
gehalten  wird,  folgt  er  ziemlich  treu  dem  Josephus,  benützt  einiges 
aus  Dolces  Drama,  erfindet  aber  nichts  Neues  dazu.  Seine  Originalität 
zeigt  er  nur  in  den  Reden,  die  glücklicherweise  nicht  so  lang  sind 
wie  die  der  Spanier,  und  in  der  bald  hochtrabenden  von  mythologischen 
Anspielungen  strotzenden,  bald  rohen,  nach  unsern  Begriffen  un- 
anständigen Sprache,  die  aber  zu  seiner  Zeit  noch  für  recht  anständig 
galt. 

So  sagt  z.  B.  Salome  dem  Mundschenk 

On  purge  beaucoup  mieux  les  corps  ja  disposes, 
Les  remedes  chez  eux  ag^ssent  plus  aisez. 

Herodes  droht  seiner  Gattin: 

„Jete  feray  cracher 

Cette  langue  impudente,  ou  tels  mots  retrancher" ; 

und  schimpft  sie 

„O  peste  abominable!  O  Megere  d'enfer! 

Und  sie  nennt  ihn  wieder  einen  „mastin  carnacier**,  einen 

„Lestrigon  beant  au  camage  affame, 

De  la  fange  venu  d'un  peuple  diffame**, 

einen    „hypocrite    bourreau",    einen    „tigre    plus    felon    que    n'est   la 

felonie".     Ehe  däfs  sie  ihn  um  Gnade  bitte,  wird  Thetis  ihre  gewohnte 

Bitterkeit  verlieren,  Phöbus  seine  Lampe  auslöschen,  wo  er  sie  sonst 


*)  Vergl.  F.  Lotheifseo,  Geschichte   der   französischen  Litteratur   im   XVII.   Jahr- 
hundert I.  S.  397  —  308  und  die  obenerwähnte  Studie  Lombards  S.  161 — 185. 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Marianme.     I.  301 


anzuzünden  pflegte,  Zephyr  nicht  mehr  den  Frühling  begleiten,  sondern 
im  Winter  über  beeiste  Felder  blasen,  die  Raben  das  Kleid  der 
Schwäne  anlegen  u.  s.  w. 

Sehr  schön  ist  dagegen  der  erste  Theil  von  Mariamnes  Gebet 
in  der  ersten  Scene  des  dritten  Akts,  beginnend  mit 

Souverain  Gouverneur  de  TEmpire  du  monde, 

QuI  de  rien  as  construit  les  Cieux,  la  Terre  et  TOnde 

Targe  des  Innocens,  leur  asseure  rempart, 

Je  t'invoque  reduite  au  supreme  hazard". 

Aber  nach  einem  Dutzend  solcher  Verse  sinkt  sie  wieder  zu  einem 
solchen  wie 

je  sers 

D'egoust  aux  voluptez  du  pire  des  pervers 

herab  und  schwatzt,  den  eben  angerufenen  Weltschöpfer  vergessend, 
von  Clotho  und  Pluto. 

Wenn  die  intrigante  böse  Salome  ihren  Bruder  über  den  Tod 
Mariamnes  trösten  will  rät  sie  ihm. 

„Passer  d'oresnavant  Tesponge  sur  sa  perte", 

was  schon  an  das  „Schwamm  darüber"  einer  modernen  Posse  erinnert. 
Von  Charakterzeichnung  und  richtiger  Motivierung  ist  wenig  zu 
merken.  Mariamne  ist  bald  eine  Furie,  bald  eine  fromme  Dulderin, 
bald  das  kokette  Weib,  das  sich  rühmt  (Akt.  ü.  i)  den  Gatten  um 
den  Finger  wickeln  zu  können,  ihn  mit  den  schärfsten  Reden  zur  Wut 
zu  reizen  und  ihn  dann  mit  einigen  falschen  Tränen 

„avec  je  ne  s^ay  quoi  d'  amoureuse  peinture" 

sanft  wie  ein  Lamm  zu  machen. 

In  der  Tat  ist  auch  Herodes  bald  der  grimme  Tyrann,  bald  der 
schmachtende  Liebhaber  mit  den  zwei  Seelen  in  einer  Brust,  und  selbst 
bei  dem  Mundschenk,  dem  Helfershelfer  Salomes,  finden  wir  die 
später  bei  Corneille  so  oft  vorkommenden  „combats  du  coeur". 

Das  Drama  wird,  wie  bei  Dolce,  von  dem  Geist  des  Aristobul 
eröflfnet,  der  aber  nicht  wie  bei  diesem  der  Mariamne  sondern  dem 
Herodes  erscheint;  auch  wird  der  Traum  nicht  erzählt,  sondern  wir 
sehen  selbst  den  Geist  und  hören  seine  68  Verse  lange  Droh-  und 
Strafrede.  Von  den  Personen  Dolces  finden  wir  die  meisten,  selbst- 
verständlich auch  die  unvermeidliche  Amme,  wieder.     Dagegen  fehlen 


802  Marcus  Landau. 


Herodes  Kinder  ganz  und  von  Mariamnes  Mutter  wird  nur  gesprochen. 
Neu  hinzugekommen  ist  nur  des  Herodes  Bruder  Pherore. 

Die  Handlung  nimmt  den  aus  Josephus  bekannten  Verlauf: 
Mariamne  hafst  den  Herodes  wegen  des  Todes  ihres  Vaters  (!)  und 
Bruders,  Salome  und  Pherore  suchen  ihn  gegen  die  Gattin  aufzuhetzen*) 
und  Erstere  überredet  den  Mundschenk  Mariamne  der  beabsichtigten 
Vergiftung  des  Gatten  anzuklagen.  Dieser  zürnt  seiner  Gattin  schon 
ganz  besonders  und  nennt  sie  eine  geschwollene  Schlange,  eine  Tigerin 
mit  Menschenantlitz  weil  sie  es  gewagt 

Dedaigner  mes  faveurs,  mes  flämes  mepriser, 
Le  devoir  d*une  femme  au  mary  refuser. 

Er  nennt  sie  eine  Geifsel  aus  dem  wütenden  Acheron,  eine  wilde 
verderbliche  Löwin,  weil  sie,  von  ihm  zu  einem  Schäferstündchen 
eingeladen,  um  sein  „verliebtes  Gelüste  zu  stillen",  sich  wie  eine  giftige 
Kröte  benahm  und  ihn  mit  Beleidigungen  überhäufte,  so  dafs  er  sie,  seiner- 
seits zornig  geworden,  hinauswarf  und  nahe  daran  war  sie  zu  erwürgen. 
In  dem  seinem  Drama  vorangeschickten  „Argument"  spricht  Hardy 
von  diesem  „refus  qui  se  lit  dans  Josephe,  plus  honneste  ä  taire 
qu'utile  ä  reveler".  Aber  wie  man  sieht  hat  er  ihn  doch  nicht  ver- 
schwiegen. L'Hermite,  der  Nachahmer  Hardys,  hat  diesen  Zwischen- 
fall nur  sehr  flüchtig  angedeutet,  so  dafs  der  Zorn  des  Herodes  in 
der  nächsten  Scene  (IL  5)  ganz  unverständlich  ist.  Der  deutsche 
Hallmann,  von  dem  später  die  Rede  sein  wird,  begnügt  sich  nicht 
diesen  Zwischenfall  von  Herodes  erzählen  zu  lassen,  sondern  bringt 
ihn  auf  die  Bühne.  — 

Dem  ob  des  erhaltenen  Korbes  aufgeregten  und  zornigen  Herodes 
kommt  der  Mundschenk  gerade  recht  mit  der  Anklage,  dafs  Mariamne 
ihn  vergiften  wollte.  Diese,  zur  Verantwortung  herbeigerufen,  wird 
durch  Herodes  Anrede 

„Deloyalle  assassine,  ingrate  et  plus  qu'ingrate" 

nicht  im  geringsten  eingeschüchtert.  Sie  ist  auf  alles  von  ihm  zu 
Erduldende  gefafst,  und  anstatt  sich  zu  verteidigen  wirft  sie  ihm  die 
Ermordung  ihres  Vaters  (sie)  Hyrkan  und  ihres  Bruders  sowie  den 
bei  seiner  Abreise  zu  Antonius  hinterlassenen  Befehl  sie  zu  töten  vor. 


*)  In  der  betreffenden  Scene  (II,  2)  werden  in  Stengels  Ausgabe  auch  die  Verse  39 
bis  48  von  Herodes  gesprochen,  was  nicht*  richtig  ist:  Von  „Volontiers  je  luy  ay 
faussaire  supposez**  an  spricht  Salome. 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.     I.  203 

Herodes  schliefst  daraus  auf  ein  sträfliches  ehebrecherisches  Verhältnis 
zwischen  Mariamne  und  Soesme  und  läfst  diesen  sowie  dessen  vertrauten 
Eunuchen  herbeiholen.  Letzterer,  obwohl  von  Herodes  mit  der  Folter  be- 
droht, weifs  nichts  Schlechtes  von  Mariamne  und  Soesme  auszusagen  und 
wird  den  Henkersknechten  überantwortet,  damit  sie  ihn  „mit  Eisen, 
Feuer,  Wasser  und  andern  Folterqualen"  zum  Geständnis  bringen 
soUen.  Mariamne,  die  ihn  bemitleidet,  wird  von  Herodes  beschimpft, 
der  hierauf  zum  Verhör  Soesmes  schreitet.  Auch  dieser  hat  nichts 
zu  gestehen,  giebt  aber  für  den  Verrat  des  Mordbefehls  ein  sonderbares 
Motiv  an:  Auf  die  Nachricht,  dafs  die  Geschäfte  des  Herodes  bei 
Antonius  schlecht  stünden,  habe  er  sich  damit  bei  Mariamne  ein- 
schmeicheln wollen  um,  wenn  sie  Alleinherrscherin  würde,  nicht  im 
Alter  „den  scheufslichen  Gast  Armut"  in  seinem  Hause  aufnehmen 
zu  müssen.  Im  Übrigen  empfiehlt  er  sich  der  Gnade  des  Herodes  und 
beteuert  Mariamnes  Unschuld,  obwohl  Herodes  ihm  die  angebliche 
Aussage  eines  Zeugen,  Mariamne  habe 

„Permis  Tattouchement,  permis  ce  que  permet 
Celle  qui  son  honneur  publique  en  vent  met", 

vorhält.  Soesme,  wird  hierauf  der  Tortur  überwiesen,  und  Mariamne 
finden  wir  in  der  nächsten  Scene  (TV.  i)  im  Kerker.  Herodes  in 
seinem  Herzenskampfe  zwischen  Rachsucht  und  Liebe,  der  sich  selbst 
wie  ein  Lamm  zwischen  zwei  Wölfen  vorkommt,  läfst  Mariamne  noch- 
mals vor  sich  bringen  und  konfrontiert  sie  mit  dem  Mundschenken,  der 
auf  seiner  ersten  Aussage  beharrt.  Mariamne  will  sich  gar  nicht  ver- 
teidigen, ist  vielmehr  bereit  jedes  Verbrechen  das  man  wolle,  selbst 
den  Muttermord  zu  gestehen,  um  nur  den  Tod  zu  finden  und  den 
verhafsten  Herodes  loszuwerden.  Die  bedingungsweise  Gnade,  die  er 
ihr  anbietet,  weist  sie  zurück  und  wird  auf  seinen  Befehl  abgeführt, 
damit  ihr  binnen  24  Stunden  der  Prozefs  gemacht  werde. 

Von  Prozefs,  Richter  und  Urteil  erfahren  wir  aber  nichts,  und 
schon  in  der  nächsten  Scene  (V.  i)  bringt  ein  Bote  die  Nachricht 
von  der  Hinrichtung  Mariamnes  uud  erzählt  auch  wie  ihre  Mutter 
sie  auf  dem  Wege  zum  SchafFot  wie  eine  wütende  Bacchantin  ange- 
&llen,  als  Schuldige  behandelt  und  in  der  gemeinsten  Weise  beschimpft 
habe.  Mariamne  liefs  sich  durch  diese  Reden  nicht  im  geringsten 
erregen  und  schritt  ruhig  weiter,  als  ob  sie  nichts  gehört  hätte  von  dem 

„Que  suggeroit  la  crainte  ä  sa  mere,  de  peur 
D'encourir  mesme  sort  compagne  du  malheur". 


204  Marcus  Landau. 


L'Hermlte,  der  Nachahmer  Hardys,  hat  dieser  Rede  Alexandras  eine 
mildere  und  feinere  Form  gegeben  und  sie  von  Mariamne  nicht  mit 
Stillschweigen,  sondern  mit  einigen  gut  gewählten  Worten,  beantworten 
lassen. 

Auf  die  Nachricht  vom  Tode  Mariamnes  ergeht  sich  der  bereuende 
Herodes  in  erbärmlichen  Klagen,  nennt  sein  Verfahren  ein  mehr 
lästrygonisches  als  königliches,  fordert  das  Volk  auf  den  Tod  seiner 
Königin  an  den  Mördern,  vor  allem  an  ihn  selbst,  als  den  schuldigsten 
zu  rächen,  rauft  sich  die  Haare  aus  und  macht  einen  Selbstmordversuch. 
Dann  verbannt  er  Salome  und  Pherore  und  befiehlt  im  Palaste  Mariamnen 
einen  Altar  zu  errichten,  an  dem  ihr  als  Göttin  täglich  Weihrauch 
dargebracht  werden  solle.  Er  selbst  werde  sein  ganzea  Leben  der 
Reue  und  dem  Gebete  an  ihrem  Altar  widmen,  bis  sie  ihm,  wie  er 
fest  vertraue,  verziehen  haben  werde. 

So  klingt  das  im  ganzen  rohe  und  frostige  Drama  mit  einem 
versöhnenden  rührenden  Herzenstone  aus. 

VI. 

Den  Spuren  Hardys  folgte  sein  um  ein  Menschenalter  jüngerer 
LandsmannFrancoisTristan  rHermite(i6oi  —  i655),dessenMariane 
im  Jahre  1636  aufgeführt  und  mit  grofsem  Beifalle  aufgenommen 
wurde.  In  demselben  Jahre  wie  Comeilles  Cid  auf  die  Bühne  ge- 
kommen, konnte  sie  diesem  noch  den  Bei&ll  des  Publikums  streitig 
machen ;  aber  mit  einiger  Bescheidenheit  hätte  THermite  mit  den  Worten 
des  Täufers  von  seinem  jüngeren  Kollegen  sagen  können:  Illum  oportet 
crescere  me  autem  minui.  Der  „stärkere"  Dichter  wuchs  mit  den 
Horaces  und  dem  Cinna,  was  THermite  der  Mariane  nachfolgen  liefs 
(La  mort  de  Seneque  1645,  La  mort  de  Crispe  1653  u.  s.  w.)*)  erreicht 
nicht  einmal  diese.  Die  meisten  Geschichtschreiber  der  französischen 
Litteratur  haben  sich  daher  begnügt  mehr  oder  weniger  ausfuhriich 
von  der  Mariane  zu  sprechen  und  von  seinen  andern  Dramen  nur  die 
Titel  anzugeben,  obwohl  auch  sie  noch  mit  Erfolg  aufgeführt  wurden. 

In  seiner  Jugend  hielt  er  sich  einige  Jahre  in  England  auf  und 
hatte  also  Gelegenheit  Shakespearesche  Stücke,  ja  vielleicht  noch  den 
grofsen  Meister  selbst  kenneu  zu  lernen,  aber  in  seiner  Mariane  ist 
nichts  von  solcher  Kenntnis  wahrzunehmen.     Dagegen   unterscheidet 


*)  Vergl.  Ferd.  Lotheifsen  Geschichte  der  französischen  Litteratur  im  XVII.  Jahr- 
hundert, Wien  1879,  n.  120-23. 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.     I.  306 

sich  sein,  den  strengen  Regeln  des  Aristoteles  folgendes  Drama,  von 
den  wie  die  Dolces  unter  dem  Einflüsse  der  Seneca'schen  stehenden 
Tragödien,  dadurch  zu  seinem  Vorteile,  dafs  es  frei  von  Gräuelscenen 
und  Schandtaten  ist.  Auch  die  unvermeidlichen  „Vertrauten^  und 
„Ammen"  fehlen.  Ein  stark  reduziertes  Uberlebsel  der  Letztem  ist 
Marianes  „Dame  d'honneur  et  confidente"*  Dina,  und  der  übliche 
„Bote"  Narbal  (den  wir  als  Narbas  bei  Vohaire  wiederfinden  werden) 
fuhrt  wenigstens  den  Titel  eines  „Officier  du  Palais". 

Die  Sprache  ist  nicht  blofs  „nachlässig  gehandhabt,  oft  geziert  oder 
trivial",  wie  Lotheifsen  sagt,  sondern  mitunter  ganz  schwülstig  marinesk, 
was  nicht  zu  verwundern  ist,  da  ja  zu  jener  Zeit  Marino  in  Frankreich 
als  grofser  Dichter  hoch  gefeiert  wurde.  Ein  Jahrhundert  später 
nannte  ein  Franzose  dieses  „Gemisch  der  erhabensten  und  niedrigsten 
unserm  Ohre  unerträglichen  Ausdrücke"  als  die  einzige  Ursache,  dafs 
man  die  Mariane  nicht  mehr  auf  dem  französischen  Theater  leiden 
könne  und  veranstaltete  daher  eine  gereinigte  Ausgabe.  „Diese 
Arbeit",  sagte  er,  „war  nicht  besonders  schwierig,  da  es  sich  nur 
darum  handelte  150  bis  höchsten  160  Verse  auszuscheiden"*). 

Ob  das  so  gereinigte  Stück  bessern  Erfolg  hatte  weifs  ich  nicht, 
aber  die  Reinigung  war  keine  ganz  vollständige  und  die  sprachlichen 
und  stilistischen  sind  nicht  die  einzigen  Fehler  der  Mariane. 

In  dem  PHermite  nicht  blofs  die  Gräueltaten  sondern  auch  vieles 
andere  aus  dem  Drama  Dolces  und  der  Erzählung  des  Josephus  weg- 
liefs,  hat  er  zugleich  unser  Interesse  an  dem  Stücke  verringert.  Es  ist 
gar  zu  wenig  Handlung  darin  und  dieses  wenige  geht  nach  der  strengen 
klassischen  Regel  hinter  der  Scene  vor  sich. 

Prolog  und  Chöre  sind  ebenfalls  weggelassen.  Aber  so  wie  Dolces 
Drama  beginnt  auch  das  THermites  mit  der  Erzählung  eines  Traums 
in  dem  die  Leiche  des  auf  Befehl  des  Herodes  ersäuften  Aristobul 
erscheint.  Nur  ist  es  hier  nicht  Mariane,  sondern  wie  bei  Hardy, 
Herodes,  welcher  den  schrecklichen  Traum  träumte,  so  dafs  er  laut 
aus  dem  Schlafe  schrie.  Und  es  war,  wie  er  seinem  Bruder  Pherore 
und    seiner  Schwester  Salome,  die  auch  „cette  aventure"  hören  will. 


*)  Diese  Ausgabe  enthält  io  einem  Bändchen  in  la*  Scarrons  Don  Japhet  d'Armenie, 
die  Mariane  und  Chanmftl^  (sie)  Le  Florentin.  Druckort  und  Jahr  ist  nicht  angegeben, 
doch  durfte  sie  jedenfalls  älter  als  die  dritte  Bearbeitung  von  Voltaires  Mariamne  (176a) 
sein.  Ich  glaube,  dafs  es  die  aus  Feindschaft  für  Voltaire  zwischen  1734  und  1731 
entstandene  Umarbeitung  von  J.  B.  Rousseau  ist.  (Vergl.  Voltaires  Leben  und  Werke 
von  Richard  Mahrenholtz,  Oppeln  1885,  I.  72). 


206  Marcus  Landau. 


erzählt,  ein  gar  schrecklicher  Traum:  Er  be&nd  sich  in  einem  düstem 
abgelegenen  Walde,  wo  er  die  klagende  Stimme  Marianes  hörte,  dann 
erblickte  er  einen  blutigen  Teich,  unter  Donner  und  Erdbeben  erschien 
die  Leiche  des  Aristobul,  wie  man  sie  aus  dem  Wasser  gezogen  und 
überhäufte  ihn  mit  Vorwürfen  und  Verwünschungen.  Als  Herodes 
nach  ihr  schlug  traf  er  nur  die  Luft  und  erwachte. 

Wie  die  Amme  bei  Dolce  sucht  hier  Pherore  das  Nichtige  der 
Träume  zu  beweisen  und  hält  seinem  Bruder  eine  lange  psychologisch- 
physiologpische  Vorlesung  darüber. 

Übrigens  hat  der  Traum  hier  eben  so  wenig  Einflufs  auf  den 
Fortgang  der  Handlung  wie  bei  Dolce  und  Hardy.  Herodes  zeigt 
zwar  wenig  Verständnis  für  die  Gelehrsamkeit  seines  Bruders,  vertraut 
aber  auf  seine  Macht,  seine  Tapferkeit,  sein  Glück  und  die  Protektion 
des  Kaisers  Augustus.  Da  alle  Hasmonäer  tot  sind,  furchtet  er  gar 
nichts,  selbst  nicht  die  dreifsig  Legionen  der  Araber,  Parther  und 
Armenier.  Aber,  wenn  er  auch  überall  Glück  habe,  klagt  er,  so 
fehle  es  ihm  in  der  Liebe,  die  „stets  seine  Seele  foltere".  Er  besitze 
wohl  den  Körper  Marianes  und  fühle  das  Klopfen  ihres  Herzens,  aber 
dieses  selbst  besitze  er  nicht*).  „Blinde  Götter!  gebt  mir  etwas 
weniger  Lorbeer  und  mehr  Rosen!"  fleht  er,  sieht  aber  doch  ein, 
dafs  es  keine  Rosen  ohne  Dornen  gebe  und  tröstet  sich  damit, 
dafs  Marianes  Zurückhaltung  nur  Keuschheit,  ihr  Ahnenstolz  wohl- 
berechtigt sei: 

Mille  rois  glorieux  sont  ses  dignes  ancetres 
Et  Ton  peut  la  nommer  la  fille  de  nos  maitres. 

Ja  er  erinnert  sich  sogar,  dafs  sie  ihm  in  schwierigen  Lagen  nützlichen 
Rat  gegeben  habe,  was  wohl  andeute,  dafs  sie  ihn  im  geheimen  liebe. 
Diese  versöhnliche  Stimmung  pafst  den  Geschwistern  des  Herodes 
nicht,  und  sie  beginnen  gleich  gegen  Mariane  zu  hetzen.  Salome  giebt 
eine  Schilderung  der  unglücklichen  Ehe  ihres  Bruders,  woran  nur 
Mariane  die  Schuld  trage  und  Pherore  klagt  sie  geradezu  an,  dais 
sie  gegen  ihn  konspiriere.  „Was  für  Vergnügen  kann  es  dir  gewähren", 
fragt  Salome,  „einen  Felsen  zu  lieben,  von  dem  beständig  Tränenbäche 
fliefsen  und  der  kein  Gefühl  für  deine  Liebe  hat?^  worauf  Herodes  in 
gleichem    Barockstil   antwortet:     „Es   ist    wohl    ein  Felsen,  aber  ein 


*)  Dagegen  sagt  bei  Dolce  Marianna  dem  Herodes:    Mai  di  me  non  amasti  altro 
che  il  corpo. 


Die  Dramen  von  Herodes  und  MaHamne.    t  iOI 

albastemer,  der  einen  Mund  hat  rot  wie  Rubin,  und  den  Glanz  seiner 
Augen  muls  ich  zum  mindesten  den  Diamanten  gleichschätzen: 

Et  Teclat  de  ses  yeux  veut  que  mes  sentimens 
Les  mettent  pour  le  moins  au  rang  des  diamants. 

Dann  sendet  er  den  Soesme  mit  einer  geheimen  Botschaft,  deren 
Inhalt  wir  auch  nicht  erfahren,  an  den  Tränenbäche  vergiefsenden 
Albasterfelsen  und  beauftragt  ihn  jede  Miene  und  jedes  Wort  Marianes 
und  den  Ton  ihrer  Stimme  beim  Empfang  der  Botschaft  genau  zu 
beobachten  und  ihm  dann  darüber  Bericht  zu  erstatten*). 

Im  zweiten  Akt  hören  wir  Mariane  über  Herodes  „das  abscheuliche 
Ungeheuer",  den  Mörder  ihrer  Angehörigen  klagen,  deren  blutende 
Körper  sie  wachend  und  träumend  vor  Augen  habe  und  die  ihr 
vorwerfen 

Qu*  avec  leur  bourreau  je  dors  toutes  les  nuits. 

Vergebens  mahnt  sie  Dina  zur  Vorsicht  und  Verstellung,  vergebens 
warnt  sie  vor  den  überall  lauernden,  von  Salome  besoldeten  Horchern 
und  Spähern,  Mariane  spricht  immer  lauter  und  zorniger  und  fuhrt 
als  Beweis  von  Herodes  Schlechtigkeit  den  (uns  schon  bekannten) 
vor  seiner  Abreise  nach  Rhodus  dem  Soesme  gegebenen  Befehl  sie 
zu  töten  an. 

Da  ruft  die  Hofdame:  Tout  est  perdu,  Salome  nous  ecoutel 
Die  Königin  macht  sich  aber  nichts  daraus  und  ladet  Salome  höhnisch 
ein  nur  näher  zu  treten,  damit  sie  besser  hören  könne.  Es  folgt  nun 
ein  scharfes  Zungengefecht  zwischen  den  Schwägerinnen,  bis  die  stolze 
Königin  sich  entfernt,  worauf  die  bisher  freundlich  heuchlerische  Salome 
in  einem  Monolog  ihren  Plan  entwickelt  Mariane  zu  verderben,  indem 
sie  sie  durch  den  Oberstschenkenmeister  der  beabsichtigten  Vergiftung 
des  Herodes  anklagen  lasse. 

In  der  nächsten  Scene  überredet  Salome  den  bis  dahin  schwanken- 
den und  ängstlichen  Oberschenken  und  lernt  ihm  seine  Lektion  ein. 
Dann  folgt  eine  Scene,  in  der  Herodes  in  Folge  einer  Unterredung 
mit  Mariane  ganz  zornig  erscheint,  worin  aber  diese  Unterredung  be- 
stand,   erfahren    wir    nur    sehr    ungenau    aus    seinen    Mitteilungen  an 

*)  In    ähnlicher    Weise   beauftragt   der   eifersüchtige   König   Philipp  in  Alfieris 
gleichnamiger    Tragödie    seinen    Vertrauten  Gomez  die  Königin  Isabella  zu  beobachten: 

ogni  piü  picciol  moto 

Nel  di  lei  volto  osserva  intanto  e  nota: 
Affiggi  in  lei  Tindagator  tuo  sguardo  .      .  (Akt  II.  i }. 
ZtMhr.  t  TgL  Ltot.-Getch.  N.  P.  VUL  14 


%0S  Marcus  Landau. 


Salome.  Diese  benutzt  seinen  Arger  über  Mariane  um  weiter  zu 
hetzen  und  deutet  schon  auf  den  Vergiftungsplan  hin,  worüber  der 
wie  gerufen  hinzukommende  Oberschenk  dem  Herodes  seine  Denun- 
ziation ins  Ohr  flüstert,  ohne  dafs  wir  was  davon  vernehmen.  Wir 
hören  nur  den  Zornausbruch  Herodes' 

O  noir  perfidiel  6  trahison  damnable! 

O  femme  dangereuse!  ö  peste  abominable! 

und  seinen  Befehl  die  Mariane  mit  Güte  oder  Gewalt  sofort  herbei- 
zuschaffen. 

Der  dritte  Akt  bringt  das  Verhör  Marianes  vor  den  zwei  Richtern« 
Herodes  klagt  sie  des  Vergiftungsversuchs  an,  der  Oberschenke  legt 
sein  eingelerntes  Zeugnis  ab  und  sie  wird  zum  Tode  verurteilt.  Das 
Verfahren  ist,  wie  man  sieht,  hier  viel  summarischer  als  bei  Dolce, 
aber  doch  förmlicher  als  bei  Hardy. 

Mariane  erklärt,  dafs  sie  mit  Freuden  sterbe  und  bedauert  nur 
das  Schicksal  ihrer  Kinder,  denen  Herodes  gewifs  eine  Stiefmutter 
geben  werde.  Darüber  wird  dieser  ganz  gerührt  und  wieder  so  zärt- 
licher Liebhaber,  dafs  er  sie  begnadigt  und  sie  nur  bittet  ihren  bösen 
Anschlag  einzugestehen  und  in  Zukunft  das  Vergiften  bleiben  zu  lassen. 
„Wozu  brauchst  du  auch  Gift,  wenn  du  mich  töten  willst",  sagt  er, 
„du  hast  nur  zu  zeigen,  dafs  du  mich  nicht  liebst  und  ich  werde  vor 
Kränkung  sterben". 

Mariane  hätte  ihm  nun  antworten  können,  dafs  sie  ihm  dies  schon 
in  den  ersten  zwei  Akten  gezeigt  habe  und  er  doch  gesund  wie  der 
Fisch  im  Wasser  geblieben  sei,  sie  begnüget  sich  aber  ihr  Mifstrauen 
in  seine  Gnade  auszudrücken  trotzdem  er  sie  vom  Gerichtshof  be- 
stätigen lassen  will: 

Ne  crains  point  pour  ta  grace,  eile  est  enterinee. 

Und  da  Mariane  darauf  beharrt  sterben  zu  wollen,  erhebt  sich 
Herodes  wieder  zu  den  schwülstigsten  Beteuerungen,  als  ob  auch  er 
ein  albastemer  Felsen  mit  Tränenbächen  wäre: 

Comment?  veux-tu  mourrir  pour  m'empecher  de  vivre? 

Et  violant  encore  toutes  sortes  de  droits, 

Attenter  sur  ton  Roi  pour  la  seconde  fois? 

Bien  que  tu  sois  de  glace  et  que  je  sois  de  flamme, 

Les  Cieux  ont  attache  mon  esprit  ä  ton  ame; 

Le  beau  fil  de  tes  jours  ne  peut  etre  accourci, 

Sans  que  du  meme  tems  le  mien  le  soit  aussi. 


Die  DrameA  von  äerodes  «nd  Marianme.    1.  tOi 

Auf  diesen  sturmischen  Ergufs  antwortet  Mariane  ruhig  mit  dem 
Vorhalten  des  dem  Soesme  gegebenen  Mordbefehls.  Herodes,  der 
bis  dahin  keine  Spur  von  Eifersucht  gezeigt  hat,  schliefst  aus  diesem 
Vorwurf  auf  ein  sträfliches  Verhältnis  zwischen  Mariane  imd  Soesme, 
und  da  die  Königin  aus  ihrer  stolzen  Ruhe  nicht  zu  bringen  ist,  wird 
er  ganz  wütend.  Er  läfst  sie  ins  Gefängnis  schaffen  und  den  Soesme 
herbeischleppen.  Dieser  gesteht  das  Geheimnis  aus  Leichtsinn  und 
Schwäche  verraten  zu  haben,  beteuert  aber  im  Übrigen  seine  und 
Marianes  vollkommene  Unschuld.  Aber  Herodes  macht  kurzen  Prozefs 
und  befielt 

Qu'on  egorge  ä  Tinstant  ce  lache  seducteur. 

Auch  Mariane  möchte  er  gleich  hinrichten  lassen,  furchtet  aber  im 
voraus  den  Kummer  imd  die  Gewissensbisse,  die  er  nach  ihrem  Tode 
empfinden  werde: 

Mon  ame  en  tous  endroits  portera  son  supplice, 
A  toute  heure  un  remords  me  viendra  tourmenter, 
Un  vautour  sans  repos  me  viendra  becqueter 

und  schliefst  seine  Rede  mit  der  aus  gequältem  Herzen  hervor- 
brechenden Klage 

„O  cieuxl  pourquoi  faut-ü  qu^elle  soit  infidelle! 
Vous  deviez  la  former  moins  perfide  ou  moins  belle.** 

Dem  vielen  Zureden  von  Salome  und  Pherore  gelinget  es  aber  doch 
ihn  zu  bewegen  die  Hinrichtung  Marianes  zu  befehlen.  Diese  sieht 
gefaist  dem  Tode  entgegen,  während  ihre  Mutter  Alexandra,  von  der 
bis  jetzt  gar  nicht  die  Rede  war,  in  einem  Monolog  sich  in  Klagen 
ergeht,  aber  dann  beschliefst  ihren  Schmerz  zu  verheimlichen  um  sich 
nicht  selbst  der  Gefahr  auszusetzen. 

In  einer  wohlgedrechselten  Antithese  findet  sich  die  Sorge  um 
das  liebe  Ich  mit  dem  mütterUchen  Schmerze  ab.  Die  rührende  Scene 
in  der  die  zur  Hinrichtung  geführte  Mariane  ihre  Mutter  wegen  des 
ihr  verursachten  Kummers  um  Verzeihung  bittet  und  dem  Schergen 
sagt: 

Souffre  que  je  lui  donne  en  Tallant  appaiser, 

Et  la  demiere  lärme  et  le  demier  baiser 

wird  durch  die  Antwort  Alexandras  verdorben.  Wie  bei  Hardy  be- 
gnügt sie  sich  nämlich  nicht  damit  ihren  Schmerz  zu  verheimlichen, 
sondern  stellt  sich  als  ob  sie  die  Tochter  für  schuldig  hielte  und  über- 


810  lizTcna  Landau. 


häuft  sie  mit  Vorwürfen,  was  sie  freilich  bald  darauf  bereut.  Mariane 
begnügt  sich  ihr  zu  erwidern: 

„Vous  vivrez  innocente  et  je  mourrai  coupable". 

Laharpe*)  tadelt  diese  Scene  mit  den  schärfsten  Worten:  „On  na 
jamais  donne  a  la  nature  un  dementi  plus  outrageant;  et  c'est  une 
nouvelle  preuve  qu*avant  Corneille  on  ne  la  connaissait  gueres  plus 
dans  la  fable  et  dans  les  caracteres  que  dans  la  diction". 

Der  Tadel  ist  nicht  unberechtigt,  aber  ist  denn  das  Benehmen 
Alexandras  wirklich  so  unnatürlich?  L'Hermite  könnte  sich  ja  auf 
Josephus  berufen,  aus  dem  er  diese  Scene  genommen  hat  (s.  oben 
S.  i8i)  und  das  beliebte  „historisch"  der  Frau  Mühlbach  beisetzen. 
In  gleicher  Weise  müfste  er  aber  auch  das  Lob  ablehnen,  das  ihm 
Ginguene**)  für  die  „idee  dramatique  et  hardie"  giebt,  den  wahn- 
sinnigen Herodes  nach  der  toten  Mariane  rufen  zu  lassen  und  sie  für 
noch  lebend  zu  halten,   denn  auch  dies  ist  aus  Josephus  genommen. 

Der  letzte  Akt  ist  ganz  ohne  Handlung,  nur  der  Schilderung  der 
Gewissensbisse  und  der  Wahnideen  des  Herodes  gewidmet.  Narbal 
beschreibt  ihm  die  Vorgänge  bei  der  Hinrichtung  Marianes,  wobei 
ganz  überflüssiger  Weise  und  ungeschickter  als  bei  Hardy  die  von 
uns  schon  gesehene  Scene  mit  Alexandra  wiedererzählt  wird.  Herodes 
fallt  in  Ohnmacht,  macht  dann  wiederholt  den  Versuch  sich  zu  er- 
stechen, woran  er  von  Narbal  gehindert  wird,  findet  aber  noch  genug 
Fassung  um  das  Wortspiel 

Mariane  a  des  morts  accru  le  triste  nombre; 

Ce  qui  fiit  mon  soleil  n'est  donc  plus  rien  qu'une  ombre! 

zu  machen  und  der  Sonne,  die  sich  nicht  mit  Mariane  begraben  lassen 
wolle,  ihre  Gefühllosigkeit  vorzuwerfen.  Dann  fordert  er  wieder  das 
Volk  auf,  den  Tod  seiner  Königin  zu  rächen  und  wirft  ihm  seine 
Feigheit  vor,  die  es  abhalte  sich  durch  solch  rühmliche  Tat  den  Beifall 
der  Nachwelt  zu  erringen.  Da  das  Volk  von  dieser  im  tete-ä-tete  mit 
dem  HausofHzier  Narbal  vom  Könige  ergangenen  Aufforderung  zur 
Revolution  nichts  hört  und  ruhig  bleibt,  verflucht  der  königliche 
agent-provocateur  in  der  gräulichsten  Weise  alle  seine  Untertanen  und 
ihre  Nachkommen. 


*)  Lyc6e    ou    cours    de    Htt6rature    ancienne    et    moderne    par    J.  F.   Laharpe, 
Tome  IV.  210.     Paris  an  VI  de  la  R^publique. 

**)  Histoire  litt^raire  d^Italie  par  P.  L.  Ginguen^,  deuxi^e  partie  chap.  19,  seconde 
Edition  vol.  VI.  79. 


Die  Dramen  von  Herodes  and  Mariamne.    L  811 

In  der  nächsten  Scene  erscheint  Herodes  ganz  ruhig,  drückt  seinen 
Geschwistern  gegenüber  in  der  gemütlichsten  Weise  seine  Verwunde- 
rung darüber  aus,  dafs  er  Mariane  seit  gestern  nicht  gesehen  habe 
und  befiehlt  sie  herbeizurufen.  Als  Salome  ihm  ih];e  Abwesenheit  als 
natürliche  Folge  der  Hinrichtung  erklärt,  wird  Herodes  wieder  ganz 
wütend  und  schimpft  auf  das  Schicksal,  die  Parzen  und  das  ganze 
Universum,  weil  sie  den  Tod  Marianes  zugelassen*).  Er  will  ihr  einen 
Tempel  erbauen  und  darin  ihr  Bild  zur  Anbetung  au&tellen;  dann 
glaubt  er  wieder  sie  lebe  noch,  und  als  er  endlich  doch  von  ihrem 
Tode  überzeuget  wird,  sieht  er  wieder  im  Geiste  ihre  Himmelfahrt  und 
rafft  sich  zu  einigen  wirklich  schönen  Versen  auf: 

Mais  oubliant  tes  maux  de  qui  je  fus  l>auteur, 
O  bei  ange!  pardonne  ä  ton  persecuteur. 
Si  mon  forfait  est  grand,  si  mon  crime  est  horrible. 
J'en  con^ois  un  regret  bien  vif  et  bien  sensible. 
Merveille  de  beautel  rare  exemple  d'honneuri 
Qui  t'elevant  lä-haut  y  portes  mon  bonheur, 
Chaste  hötesse  du  Ciel,  eher  sujet  de  mes  plaintes, 
Ne  t'imagine  pas  que  mes  douleurs  soient  feintes, 
Pour  t'aller  temoigner  quel  est  mon  repentir, 
Mon  ame  avec  mes  pleurs  s'efforce  de  sortir. 
Vois  Fexces  de  Fennui  dont  eile  est  desolee. 
Et  comment  pour  te  suivre  eile  prend  sa  volee. 
Je  me  meurs. 

In  einigen  Versen  spricht  dann  Narbal  die  Moral  des  Stückes  aus, 
ungefähr  in  dem  Sinne  wie  der  Schlufschor  bei  Dolce. 

So  endet  die  „Mariane"  THermites,  die  eigentlich  diesen  Titel 
mit  Unrecht  trägt,  denn  nicht  sie,  sondern  Herodes  ist  die  Haupt- 
person. Man  kann  sie  auch  kaum  ein  Eifersuchtsdrama  nennen,  denn 
diese  Leidenschaft  spielt  nur  eine  geringe  Rolle  darin.  Es  ist  eher 
die  Tragödie  der  Übereilung.  Im  Tatsächlichen  hat  sich  THermite 
ziemlich  treu  an  die  Geschichte  gehalten,  aber  sein  Herodes  ist  doch 
ganz   unhistorisch.     Er   hat   aus   dem  eifersüchtigen  Tyrannen    einen 


*)  Der  Schauspieler  Mondory,  der  den  Herodes  spielte,  soll  ihn  mit  solcher 
Emphase,  mit  solcher  Überanstrengung  seiner  Stimmmittel  dargestellt  haben,  dals  man 
ihn  ohnmächtig  von  der  BQhne  wegtragen  mufste  und  er  in  der  Folge  nicht  mehr  auf- 
treten konnte  (Laharpe,  Lyc^e  IV.  305). 


218  llarciu  Landau. 


liebegirrenden  Kavalier  aus  der  Schule  Marinos  und  der  Gesellschaft 
des  Hotel  Rambouillet  gemacht. 

Im  Gegensatz  zu  den  mit  fantastischem  Beiwerk  überladenen 
spanischen  Mariamnen  ist  die  des  Franzosen  einfacher  und  wahrer, 
aber  auch,  trotz  des  Schwulstes  in  einzelnen  Scenen,  prosaischer  und 
trockener.  Seinem  französischen  Vorbilde  gegenüber  ist  die  Sprache 
anständiger,  reiner  und  poetischer.  Inwieweit  er  sonst  Hardy  folgte 
oder  von  ihm  abwich,  ist  aus  dem  bisher  Gesagten  ersichtlich;  zur 
Ergänzung  mag  noch  Folgendes  dienen: 

Die  Worte  des  Herodes  an  Mariamne  bei  Hardy 

nQue  n'est-tu  plus  benigne,  ou  moins  chaste  ou  moins  belle?^ 

hat  THermite  zu 

„O  cieux! 

Vous  deviez  la  former  moins  perfide  ou  moins  belle" 

veredelt. 

Die  oben  (S.  206)  citierten  Verse  „Mille  rois  glorieux"  sind  eine 
Erweiterung  von  Hardys 

„Race  illustre  des  Rois,  omement  de  mon  lit", 

wo  die  zweite  Hälfte  des  Verses  die  erste  ins  gemeine  herabzieht. 
Dagegen  erheben  sich  die  schönen  Schlufsverse  THermites  nicht  viel 
über  die  entsprechenden  Hardys. 

Wien. 


-••• 


Dichterisch  und  Poetisch, 


Von 
Veit  Valentin. 


Jedermann  weifs,  dafs  Vers  und  Strophe  ganz  genau  dasfelbe  bedeuten, 
wenn  sie  rein  sprachlich  betrachtet  werden.  Nichts  destoweniger 
wird  sich  wohl  kaum  eine  Stimme  dagegen  erheben,  wenn  die  ur- 
sprünglich Gleiches  bedeutenden,  aber  verschiedenen  Sprachen  ent- 
stammenden Ausdrücke  praktisch  so  verwendet  werden,  dafs  die 
gleiche  Urvorstellung  verschieden  begrenzt  wird,  so  dafs  die  BegrifFs- 
weite  der  beiden  Ausdrücke  sich  ändert:  Vers  läfst  man  für  eine  Reihe 
von  Wörtern  gelten,  die  zusammen  ein  ästhetisches  Ganzes  bilden, 
Strophe  dagegen  fiir  eine  Reihe  von  Versen,  die  zusammen  ein  ästhetisches 
Ganzes  ausmachen.  Es  tritt  hierbei  jene  Freiheit  des  Sprachgebrauches 
ein,  die  zu  inrnier  feinerer  Unterscheidung  ursprünglich  umfassenderer 
BegriflFe  verschiedenen  Ausdrücken  für  einen  gleichartigen  Grundbegriff 
Begrenzungen  auferlegt,  die  ihnen  ursprünglich  fremd  sind:  trotz  der 
dabei  herrschenden  Willkür  ist  der  Vorgang  ein  sehr  nützlicher  und 
besonders  für  die  wissenschaftliche  Sprache  ein  sehr  erspriefslicher. 
Bei  ihm  tritt  die  Wohltat  des  Fremdwortes  hervor,  das  hier  in  der 
unbestreitbaren  Kraft  seines  Daseinsrechtes  sich  erweist:  das  Fremdwort 
tritt  an  Stelle  nicht  mehr  zu  schaffender  neuer  Wortstämme.  Es  wird 
dabei  zwar  im  Anschlufs  an  seine  Grundbedeutung  in  der  eignen 
Sprache  verwendet,  aber  in  durchaus  freier  Verarbeitung  dem  Bedürfnis 
der  Sprache  gemäfs,  in  die  es  eingetreten  ist,  erhält  es  eine  neue 
Begrenzung  seiner  Begriffsweite.  Ein  solcher  Vorgang  kann  allmählich 
ohne  Absicht  von  selten  Einzelner  sich  vollziehen:  er  kann  aber  auch 
von  Einzelnen  mit  vollster  Absichtlichkeit  gefordert  werden,  um  durch 
die  so  erzielte  Schärfe  der  BegriflFsbezeichnung  zugleich  eine  BegriflFs- 
klärung  herbeizufuhren. 


214  Vdt  Valentin. 


So  piöchte  es  für  die  Ausdrucksweise  der  ästhetischen  Beurteilung 
sicherlich  ein  Gewinn  sein,  wenn  sich  ein  klarer  Unterschied  so  nahe 
liegender  BegrifFsbezeichnungen  wie  dichterisch  und  poetisch  feststellen 
liefse.  Wir  wissen  alle,  dafs  eine  dichterische  Stimmung  und  eine 
poetische  Stimmung  im  groisen  und  ganzen  wohl  kaimi  als  zwei  ver- 
schiedene Arten  der  Stimmung  aufgefafst  werden:  die  Bezeichnungen 
gelten  vielfach  als  zwei  gleich  bedeutende  Ausdrücke  für  dieselbe 
Sache.  Da  zudem  dichterisch  einen  deutscheren  Eindruck  macht  als 
poetisch,  so  drängt  sich  bei  der  jetzt  herrschenden  sehr  wohlberechtigten 
Bestrebung  unnötige  Fremdwörter  zu  vermeiden,  das  deutschere  Wort 
leicht  selbst  da  ein,  wo  das  fremdere  richtiger  wäre.  Ein  solcher 
doppelter  Ausdruck  ist  ein  bedenklicher  Reichtum  der  Sprache,  der 
schliefslich  doch  dahin  fiihrt  hinter  Verschiedenem  Verschiedenes  zu 
vermuten,  der  aber  wegen  der  Unbestimmtheit  der  einzelnen  Ausdrücke 
zu  Mifsverständnissen  fuhren  mufs:  er  ist  aber  ein  erfreulicher  Reich- 
tum der  Sprache,  wenn  die  Verschiedenheit  des  Ausdruckes  zu  einer 
Klärung  benutzt  wird,  die  eine  scharfe  Begrenzung  der  Begriflfeweite 
des  einzelnen  Ausdrucks  herbeifuhrt  und  so  zur  Bezeichnung  zweier 
verwandter  und  doch  sich  nicht  deckender  Begriffe  dienen  kann.  Ist 
ein  dichterisches  Kunstwerk  und  ein  poetisches  Kunstwerk  auch  noch 
dasselbe,  so  dafs  es  sich  nur  um  zwei  Ausdrücke  für  die  gleiche  Sache 
handelte?  Oder  drängt  sich  hier  nicht  vielmehr  die  Empfindung  heran, 
dafs  es  sich  um  zwei  verwandte,  aber  doch  verschiedene  Dinge  handeln 
möchte? 

Es  wird  sich  zunächst  fragen,  welcher  der  beiden  Ausdrücke  die 
gröfsere  Begriffsweite  hat.  Da  möchte  es  aus  der  sprachlichen  Ent- 
stehung kaum  zweifelhaft  sein,  dafs  dies  der  Ausdruck  poetisch  ist: 
in  ihm  ist  keinerlei  Beschränkung  auf  ein  bestimmtes  Kunstmittel  ge- 
geben, ja  es  ist  nicht  einmal  angedeutet,  dafs  die  Gegenstände  der 
schöpferischen  Tätigkeit  des  Menschen  eine  Verarbeitung  mit  HQfe 
von  äufseren  Mitteln  finden  müssen,  so  dafs  es  bis  zu  einer  künstlerischen 
Schöpfung  kommt.  Kunst  setzt  aber  immer  die  Behandlung  von 
Darstellungsmitteln  irgend  welcher  Art  voraus:  Kunst  wird  daher  am 
richtigsten  auch  in  diesem  umfassenden  Sinne  gebraucht,  während  die 
früher  allgemein  üT^liche  und  auch  jetzt  noch  vielfach  gebräuchliche, 
jedoch  unfehlbar  zur  Unklarheit  fuhrende  Verwendung  des  Ausdruckes 
Kunst  auf  solche  Werke,  die  sich  sichtbarer  Darstellungsmittel  bedienen, 
zu  enge  und  daher  falsch  ist:  was  jetzt  noch  vielfach  „Kunst"  genannt 
wird,  Malerei  und  Skulptur,  ist  Bildkunst  im  Gegensatz  zu. Dichtkunst: 


Dichterisch  und  Poetisch.  815 


Kunst  umfafst  beides.     Denn  Kunst  ist  zunächst  die  Tätigkeit,  die  sich 
äuiserer  Darstellungsmittel  bedient  um  Werke  zu  schaffen,  die  durch 
diese  Entstehungsart   in  den    Gegensatz   zu    den  Werken    der   Natur 
treten,  sodann  aber  auch  die  Gesamtheit   der  durch  solche  Tätigkeit 
geschaffenen  Werke.     Poetisch   ist  dagegen  schon    die   schöpferische 
Tätigkeit,    die  im  Subjekte  vor   sich  geht  und  die  zu  künstlerischer 
Tätigkeit  anregen  kann,  aber  keineswegs  anregen  mufs;    poetisch  ist 
aber  auch  die  seelische  Tätigkeit,  die  durch  künstlerische  Werke  an- 
geregt wird  und  die  somit  in  dem  Aufnehmenden  dieselbe  oder  eine 
entsprechende  seelische  Empfindung  erregt,  wie  sie  der  das  künstlerische 
Werk    Schaffende    ursprünglich    selbst    empfunden    hat,    für    deren 
Pesthaltung  und  deren  Ausdruck  ihm  aber  die  äufseren  Darstellungs- 
mittel seines  künstlerischen  Werkes  dienen.     Wir  sprechen  daher  von 
einer    poetischen    Landschaft   ebensowohl,    wenn    wir   uns    aus    dem 
Eindruck  einer  wirklichen  Landschaft   die  poetische  Stimmung  selbst 
schaffen,    wie    wenn  wir  aus    einer    gemalten    Landschaft   das   nach- 
empfinden,   was    der  Schöpfer   des  Bildes    empfunden   hatte   und  zu 
dessen  Nachschaffung   er   mit   weiser  Fürsorge   gerade  die  Elemente 
wirklicher  Landschaft  festgehalten    oder   neu   zusammengestellt    oder 
umgebildet  hat,    an    deren  Hand    er   uns   sicher   zur  Erreichung  und 
Nachschaffung  der  ursprünglich  in  ihm  lebendig  gewesenen  Empfindung 
geleitet.     Andererseits  kann  eine  wirkliche  Landschaft   uns   ganz  un- 
berührt lassen,  so  dafs  wir  zu  keinerlei  poetischer  Empfindung  angeregt 
werden,  und  ebenso  kann  uns  eine  gemalte  Landschaft,    trotzdem  sie 
ein  Kunstwerk  ist  und  vielleicht   unter  mancherlei  anderen  Gesichts- 
punkte, z.  B.  dem  der  Technik,  ein  sehr  hohes  Kunstwerk  ist,  durchaus 
unberührt  lassen:  wir  vermögen  beidesmal  nicht  poetisch  zu  empfinden: 
die  schöpferische  Tätigkeit  unseres  seelischen  Empfindens  wird   nach 
keiner  über  das    gewöhnliche,    das   alltägliche   Mafs   hinausgehenden 
Seite  hin  irgendwie  angeregt.     Ebenso  kann  uns  ein  Ereignis  poetisch 
stimmen,  mögen  wir  dem  wirklichen  Ereignis  beiwohnen  und  miter- 
leben,   wie  der   brave  Mann,    der  Bauer,    den  Zöllner  rettet,    die  Be- 
lohnung ausschlägt  und  das  dafiir  ausgesetzte  Geld  dem  Zöllner  zu- 
weist, der  alles  verloren  hat,    oder  mögen  wir  das  Ereignis  aus  dem 
Kunstwerk  in  unsere  Empfindung  aufiiehmen,  zu  dem  es  einen  Künstler 
angeregt  hat,  so  dafs  er  die  in  ihm  erweckte  poetische  Stimmung  durch 
ein  äufseres  Darstellungsmittel,  hier  die  Sprache,  festhalten  und  anderen 
vermitteln  will.     In  dem  Ausdruck  poetisch   selbst  aber  liegt  die  Art 
des  Darstellungsmittels  keineswegs  angedeutet:  man  kann  von  Bürgers 


316  Veit  ValentiD. 


Gedicht  ebenso  rühmen,  es  sei  poetisch,  wie  man  von  einer  gleich- 
wertigen bildnerischen  Darstellung  des  Ereignisses  dieses  Urteil  faUen 
könnte. 

Sobald  wir  aber  den  Ausdruck  dichterisch  gebrauchen,  wird  die 
Sache  anders:  die  sprachliche  Entstehung  des  Wortes  weist  schon 
auf  die  Anwendung  der  Sprache  als  des  Darstellungsmittels  hin« 
Wird  jemand  dichterisch  angeregt,  so  wird  er  poetisch  angeregft,  aber 
zugleich  mit  der  Neigung  sich  der  Sprache  als  des  Darstellungsmittels 
zu  bedienen.  So  ist  dichterisch  einerseits  mehr  als  poetisch:  es  deutet 
das  Hinneigen  zur  Anwendung  eines  Darstellungsmittels  an,  enthalt 
also  die  bestimmte  Hinwendung  zu  künsderischer  Tätigkeit,  wovon 
in  poetisch  nichts  liegt;  andererseits  ist  dichterisch  weniger  als  poetisch: 
es  schränkt  die  Vorstellung  der  künstlerischen  Tätigkeit,  die  es  an- 
deutet, sofort  auf  das  ganz  bestimmte  einzelne  sprachliche  Gebiet  ein. 
Diese  letztere  Seite  ist  nun  aber  die  bei  weitem  vorwiegende:  man 
wird  daher  dichterisch  in  der  ästhetischen  Beurteilung  am  richtigsten 
da  verwenden,  wo  das  Darstellungsmittel  der  Sprache  als  Wesens- 
bestandteil der  wachgerufenen  Vorstellung  in  Betracht  kommt. 

Wenn  man  von  Goethes  Iphigenie  sagt,  sie  sei  ein  poetisches 
Kunstwerk,  so  hei&t  das,  Goethes  Iphigenie  ist  ein  Kunstwerk,  das 
eine  poetische  Stimmung  erregt:  die  Darstellungsmittel  des  Künstlers 
kommen  für  dies  Urteil  in  keiner  Weise  in  Betracht.  Wenn  man  von 
Raffaels  Sixtina  sagt,  sie  sei  ein  poetisches  Kunstwerk,  so  gilt  von 
diesem  Urteil  genau  das  Gleiche:  die  Sixtina  erregt  poetische  Stim- 
mung —  die  besonderen  Darstellungsmittel  sind  durch  dies  Urteil  in 
keiner  Weise  mitangedeutet.  Dies  ist  aber  der  Fall,  wenn  man  Goethes 
Iphigenie  ein  dichterisches  Kunstwerk  nennt:  es  ist  ein  Kunstwerk, 
das  sich  als  des  Darstellungsmittels  der  Sprache  bedient.  Wollte  man 
aber  die  Sixtina  ein  dichterisches  Kunstwerk  nennen,  so  käme  damit 
ein  zweideutiges  Urteil  zum  Ausdruck.  Dichterisch  wäre  hier  so  ge- 
braucht, wie  sonst  richtig  poetisch  angewendet  wird,  und  es  bliebe 
Raum  für  das  Mifsverständnis  über  die  Darstellungsmittel,  deren  sich 
der  Künstler  bedient  hat.  Ein  solches  zweideutiges  Urteil  ist  aber 
vom  Übel,  und  nirgends  mehr  als  in  der  Ästhetik,  die  als  Wissen- 
schaft nur  dann  gelten  kann,  wenn  sie  mit  unbarmherziger  Folgestrenge 
sich  der  schärfsten  Begrenzung  der  Begriffsweite  jeglichen  Ausdrucks 
befleifsigt,  dessen  sie  sich  zur  Erläuterung  bedient:  gilt  doch  die 
Ästhetik  nur  gar  zu  häufig  noch  als  Tummelplatz  von  Empfindungs- 
urteilen, die  die  Sprache  nur  als  Mittel  gebrauchen  um  verschwommene 


Dichterisch  und  Poetisch.  817 


Empfindungen,  die  jemand  aus  Kunstwerken  gewonnen  hat,  anderen 
mitzuteilen  und  bei  ihnen  einen  Empfindungsdusel  zu  erwecken,  wie 
er  von  wissenschaftlicher  ästhetischer  Betrachtung  nicht  weit  genug 
entfernt  gedacht  werden  kann.  Diese  geht  wie  jede  andere  wissen- 
schaftliche Tätigkeit  auf  klare  begriffliche  Erkenntnis  des  Tatsäch- 
lichen aus,  um  von  diesem  festen  Boden  aus  zur  Erkenntnis  des  Zu- 
sammenhanges der  Einzelerscheinungen  und  ihrer  Ursachen  aufzu- 
steigen: dazu  bedarf  es  einer  Ausdrucks  weise,  bei  der  sich  nicht  nur 
jeder  etwas  Bestimmtes,  sondern  auch  jeder  dasselbe  denken  kann  und 
denken  muis.  So  ist  es  allmählich  bei  Vers  und  Strophe  geworden, 
so  müf  ste  es  auch  bei  dichterich  und  poetisch  werden.  So  ist  es  aber 
bis  jetzt  noch  nicht,  wie  folgendes  Beispiel  dartut. 

In  meiner  in  dieser  Zeitschrift  (N.  F.  IV,  478 — 485)  erschienenen 
Beurteilung  der  Poetik  Scherers  habe  ich  zur  Klänmg  eines  undeutlichen 
Ausdrucks  des  Verfassers  diesen  Unterschied  des  poetischen  Kunst- 
werkes und  des  dichterischen  Kunstwerkes  aufgestellt:  R.  M.  Werner 
nennt  in  seiner  Erwähnung  dieser  Besprechung  in  den  „Jahresberichten 
für  neuere  deutsche  Litteraturgeschichte**  (Bd.  ü.  1891  S.  44)  diese  Unter- 
scheidung ein  „Spielen  mit  Worten":  wie  wenig  sie  ein  solches  ist, 
wie  sie  vielmehr  auf  guten  Gründen  und  reiflicher  Überlegung  be- 
ruht, wird  die  oben  gegebene  Darlegfung  nachgewiesen  haben.  R. 
M.  Werners  Bericht  über  „Poetik  und  ihre  Geschichte"  zeichnet  sich 
durch  Sachkenntnis  und  vorurteilsloses  Eingehen  auf  die  Absichten 
des  jedesmaligen  Autors  aus:  dafs  diese  Freiheit  der  Betrachtung  ihm 
gerade  hier  einmal  versagt  hat,  ist  ein  schönes  Zeugnis  pietätvollen 
Empfindens,  das  ich  darum  nicht  geringer  schätze,  weil  es  sich  in 
dem  verfehlten  Bestreben  äufsert,  etwas  zu  halten,  was  sich  nicht 
halten  läfst.  Scherer  hat  so  viel  Bedeutendes  geleistet,  dafs  es  seinem 
Ruhme  keinerlei  Abtrag  tut,  wenn  auf  die  Schwächen  eines  unfertig 
hinterlassenen  Werkes  hingewiesen  wird  und  hingewiesen  werden 
mufs,  gerade  weil  der  Verfasser  in  unser  aller  Schätzung  unverrückbar 
hoch  steht,  und  weil  deshalb  seinen  Darlegungen  um  der  Bedeutung 
der  Persönlichkeit  willen  ein  Wert  beigelegft  werden  könnte,  der  ihnen 
um  der  Bedeutung  ihres  Inhaltes  willen  nicht  zugestanden  werden 
kann.  Werner  bezeichnet  Scherers  Poetik  als  ein  Werk,  „welches 
gewifs  vielfach  zum  Widerspruch  reizt,  aber  ein  scharf  umrissene 
Physiognomie  zeigt".  Wer  leugnet  das?  Ist  aber  eine  „scharf  umrissene 
Physiognomie"  auch  schon  eine  Gewähr  dafür,  dafs  sie  durchaus  be- 
deutenden Gehalt   und    nur   Gehalt    von   bleibender   Bedeutung  hat? 


818  Veit  Valendn. 


Wenn  es  von  mir  als  ^selbstverständlich"  erklärt  wird,  da(s  dort 
„neben  bedeutenden  Punkten,  die  zum  Widerspruche  zwingen,  sich 
andere  finden,  die  als  eigenartige  Ergebnisse  eines  selbständigen 
Denkens  dauernd  die  Kraft  immer  erneuter  Anregung  zum  Weiter- 
denken und  Weiterforschen  geben"  (a.  O.  S.  484),  und  wenn  dies 
seine  Richtigkeit  hat,  woran  nicht  zu  zweifeln  sein  möchte,  so  darf 
auch  mit  diesem  Weiterdenken  und  Weiterforschen  Ernst  gemacht 
werden :  das  ist  in  der  Besprechung  geschehen,  das  ist,  durch  Werners 
Urteil  über  sie  angeregt,  hier  weiter  fortgeführt  worden,  vielleicht 
nicht  ohne  unmittelbares,  gerade  die  dort  behandelte  Frage  berührendes 
Ergebnis.  Denn  wenn  Werner  bei  meiner  dort  gegebenen  Definition 
der  Poetik  als  der  „Lehre  von  den  dichterischen  Gattungen  und 
Formen"  bedauert,  dafs  ich  „leider"  nicht  sagte,  was  „dichterisch" 
sei,  so  wird  dies  jetzt  sehr  leicht  zu  bestimmen  sein:  dichterische 
Gattungen  und  Formen  sind  solche  Gattungen  und  Formen,  die  bei 
den  sich  der  Sprache  als  Darstellungsmittels  bedienenden  Kunstwerken 
erscheinen:  ob  diese  aus  poetischer  Empfindung  hervorgegangen  sind, 
ob  sie  es  vermögen  ihrerseits  wiederum  eine  poetische  Stimmung 
hervorziuiifen,  bleibt  dabei  ganz  ohne  Einflufs  auf  die  wissenschaft- 
liche Feststellung  der  Tatsachen  und  ihre  begriffliche  Fassimg.  Gerade 
in  der  Möglichkeit  einer  solchen  Scheidung  zeigt  sich  der  Wert  der 
scharfabgrenzenden  Begrifiisbestimmungen  von  dichterisch  und  poetisch 
und  die  Wichtigkeit  der  Fortfuhrung  der  Untersuchung,  sollte  es  auch 
im  Widerspruch  mit  Aufstellungen  anderer  Forscher  geschehen. 

Werner  giebt  in  seiner  Darstellung  noch  eine  andere  in  diesen 
Zusammenhang  gehörende  Anregung,  die  ich  um  so  weniger  verab- 
säumen will  aufzunehmen  als  sie  eine  wichtige  methodologische  Frage 
der  ästhetischen  Untersuchung  betrifft:  eine  Übereinstimmung  in  ihr 
wird  ein  gemeinschaftliches  Weiterarbeiten  um  so  leichter  ermöglichen. 
In  meiner  erwähnten  Besprechung  habe  ich  den  Grundsatz  ausge- 
sprochen: „Eine  ästhetische  Frage  läfst  sich  nicht  auf  einem  einzelnen 
Kunstgebiete  lösen:  es  mufs  die  ganze  Kunst  herangezogen  werden". 
Ein  Beispiel,  wie  dieser  Satz  zu  fassen  ist,  giebt  der  dort  besprochene 
Fall,  Wer  über  den  Rhythmus  in  der  Dichtung  urteilen  wül,  muls 
das  Auftreten  des  Rhythmus  in  den  anderen  Kunstgebieten,  also  über- 
haupt in  der  ganzen  Kunst,  beobachtet  haben:  nur  so  kann  er  zur 
Erkenntnis  des  Wesens  des  Rhythmus  überhaupt  gelangen  und  vor 
der  falschen  Auffassung  bewahrt  bleiben,  als  ob  der  Rhythmus  durch 
eine  einzelne  Verwendung  auf  einem  einzelnen  Kunstgebiet  habe  ent- 


Dichterisch  und  Poetisch.  S19 


Stehen   können,    wie  Scherer  behauptet,  wenn  er  sagt:    „Durch  den 
Tanz   des    Chorliedes   ist   der   Rhythmus   in   die    Welt   gekommen*^. 
Durch  die  von  mir  verlangte  vergleichende  Betrachtung  entsprechender 
Erscheinungen    auf  allen    Kunstgebieten,    also    auf  dem  Gebiete  der 
ganzen   Kunst,    kann  der  Rhythmus  als  eine  Wesenserscheinung  jeg- 
licher  Kunstübung    erkannt    werden,    deren  Grund  sodann  weiter  zu 
erforschen  ist:  jedenfalls  kann  schon  aus  dieser  Erkenntnis  der  Schlufs 
gewonnen   werden,    dafs   der   Tanz   des    Chorliedes  eine  Folge,  eine 
einzelne  Erscheinung  eines  allgemein  giltigen  Grundzuges  der  ästhe- 
tischen Auffassungsweise  und  somit  auch  der  künstlerischen  Schaffungs- 
weise   ist,   nie    und   nimmer   aber  die  Quelle,  aus  der  der  Rhythmus 
überhaupt   in    die  Welt  gekommen    ist.     Eine   solche   einseitige  Be- 
trachtung eines  einzelnen  Kunstgebietes,  als  ob  alle  übrige  Kunst  nicht 
auf  der  Welt  wäre,  ist  erfolglos:  wer  über  Erscheinungen  in  der  Poetik 
urteilen    will,    dem   müssen    die    charakteristischen  Erscheinungen  auf 
den    anderen    Gebieten    der  Kunstübung  und  ihr  Entwickelungsgang 
wohl  vertraut  sein.     Die  gelehrte  Erforschung  der  Einzeltatsachen  auf 
dem  Gebiete  der  Poetik  wie  auf  jedem  anderen  einzelnen  Kunstgebiete 
kann  ohne  solche  Kenntnis  geschehen:  das  Eindringen  in  das  Wesen 
der  Einzeltatsachen  ist  Aufgabe  der  Ästhetik,  deren  Forschungsgebiet 
nicht  ein  Einzelgebiet,  sondern  die  ganze  Kunst  ist.     Es  ist  daher  ein 
Irrtum  anzunehmen,  in  der  Ästhetik  müsse  die  Induktion  erst  getrennt 
für  die  Einzelgebiete  durchgeführt  werden,  und  ebenso  ist  es  ein  Irrtum 
anzunehmen,  der  Weg  der  Induktion   werde  verlassen,    wenn   gleich- 
artige Erscheinungen  auf  dem  Gesamtgebiete  der  Kunst  in  die  Unter- 
suchung  aufgenommen   werden:    sie  gerade  sind  der  Ausgangspunkt 
der  Untersuchung.     Alles  was  Kunst  ist,  kann  nur  aus  einer  einzigen 
Quelle    herfliefsen,    einer    ganz    bestimmten  Anlage  im  Menschen,  die 
nur  ihm  eigentümlich  ist:  je  nach  den  DarsteUungsmitteln  äufsert  sich 
diese    Anlage    unter   anderen  Verhältnissen,    aber    dem  Wesen  nach 
durchaus  gleichartig.     So  entspringen  die  verschiedenen  Kunstgebiete 
aus  äufseren  Veranlassungen  und  gestalten  sich  demgemäfs  eigenartig: 
die    Trennung    der   Einzelgebiete    ist    daher   für  den  praktischen  Ge- 
brauch   durchaus   berechtigt:    sie   ergiebt  sich  als  notwendig,  sobald 
die  historische  Forschung  in  ihr  Recht  tritt:  für  die  ästhetische  Unter- 
suchung hat  sie,  sobald  es  sich  um  Erkenntnis  des  Wesens  der  Kunst 
handelt,  keine  Berechtigung.     Dahin  gehört  auch  die  Feststellung  der 
Begriffsweite  von  Ausdrücken,  die  zu  allgemeinerer  Charakterisierung 


MO  Vdt  Valentiii. 


verwendet  werden  müssen,  me  die  hier  behandelten  Ausdrücke 
dichterisch  und  poetisch.  Es  wäre  durchaus  falsch  gewesen,  ihre  Be- 
deutung nur  auf  dem  Gebiete  der  Dichtkunst  feststellen  zu  wollen: 
erst  die  vergleichende  Heranziehung  anderer  Gebiete,  hier  zunächst 
der  Bildkimst,  liefs  zu  einem  Ergebnis  gelangen,  dessen  Verwendung 
in  der  Ausdrucksweise  ästhetischer  Beurteilung  sich  als  praktisch  und 
der  Sache  forderlich  erweisen  dürfte. 


Frankfiut  a.  M. 


■*••- 


Dante  in  der  deutschen  Litteratur 

bis  zum  Erscheinen  der 
ersten  vollständigen  Obersetzinig  der  DIvina  Commedia  (1767/69). 

Von 
Emil  Sulger-Gebing. 


Vorbemerkungen. 

Die  Arbeiten  über  „Dante  in  Deutschland^  sind  nicht  gerade  zahl- 
reich. In  erster  Linie  steht  das  zusammenfassende,  grofse  Werk 
von  Scartazzini  „Dante  in  Germania^*),  eine  fleifsige  und  reichhaltige 
Arbeit,  deren  Verdienst  nur  darunter  leidet,  dafs  ihr  Verfasser  sie 
selbst  für  viel  vollkommener  und  vollständiger  hält,  als  sie  ist. 
Der  hier  vorliegende  Versuch  behandelt  nur  einen  Teil  des  Zeitraumes, 
den  Scartazzinis  Werk  umspannt,  und  zwar  gerade  jene  älteren  Zeiten, 
für  welche  die  Quellen  am  spärlichsten  fliefsen;  immerhin  ist  es  ge- 
lungen, manches  neue  Material  beizubringen,  wodurch  sich  das  Bild 
Dantes,  insofern  er  für  die  deutsche  Litteratur  bedeutsam  ist,  nicht 
unwesentlich  verschiebt.  Sehr  verdienstvoll  und  absolut  zuverlässig 
ist  sodann  die  kleine  Schrift  Reinhold  Köhlers:  „der  V.  Gesang 
der  Hölle  in  22  Übersetzungen  1763 — 1865",  (Weimar  1865)  und  auch 
Baron  Locella  „zur  deutschen  Dantelitteratur*^  (Leipzig  1889)  bringt 
einiges  Neue,  zeichnet  sich  aber  hauptsächlich  durch  knappe  Zusammen- 
&ssung  aus.  Einzelne  Aufsätze,  denen  ich  weitere  Nachweise  zu  ver- 
danken habe,  werden  jeweUen  im  besondern  Falle  genau  angeführt. 
Ich  beabsichtige  im  Folgenden  nur  diejenigen  deutschen  Schrift- 
steller zu  behandeln,  bei  denen  eine  direkte  oder  doch  durch  deutsche 
Vorgänger  vermittelte  Bekanntschaft  mit  Dante  nachweisbar  ist,  oder 
die  selber  wieder,  wie  die  Lexikographen,  für  andere  zu  Vermittlem 
geworden  sind.    Demgemäfs  werde  ich,    um  das  gleich  hier  vorweg 

*)  d  Bde.  Mailand  i88x  u.  1883,  bei  Ulrico  Hoepli.  Dasu  die  wichtige  Recenaion 
▼OD  Witte  im  Litt  Blatt  f&r  germ.  u.  rom.  PhiloL  1881.  S.  444  ff.;  sowie  eine  ausführ- 
liche Besprechung  in  Giomale  storico  della  lett  ital,  IL  (1883)  S.  x88  ff. 


299  ßmil  Sulger-Gebing. 


ZU  nehmen,  nicht  eingehen  auf  Moscherosch,  dessen  Vorbild, 
Quevedo,  ja  allerdings  nach  seiner  eigenen  Angabe  durch  den 
italienischen  Dichter  beeinflufst  ist,  der  aber  selber  nicht  auf  diese 
Quelle  scheint  zurückgegriffen  zu  haben*),  und  ebensowenig  auf  den 
tiefsinnigen  Jakob  Boehme,  dessen  mystische  Theosophie  sich 
wohl  in  manchen  Punkten  mit  Dante  berühren  mag,  der  aber  den 
südlichen  Poeten  höchst  wahrscheinlich  nicht  direkt  gekannt  hat**). 
Auch  bei  Bartholomäus  Ringwalt  ist  mehrfach  auf  Dante  hinge- 
wiesen worden,  besonders  für  seine  aus  der  „Neuen  Zeittung  von 
Hans  Fronunan"  (1582)  umgearbeitete  „Christliche  Warnung  des 
treuen  Eckart"  (1588),  die  allerdings  mit  der  Div.  Com.  eine  gewisse 
Ähnlichkeit  zeiget,  insofern  ein  Engel  den  Eckart  im  Schlafe  durch 
Himmel  und  Hölle  fuhrt.  Aber  diese  Ähnlichkeit  ist  eine  zufällige, 
und  man  darf,  worauf  schon  Eugen  Wolff***)  und  Boltef )  aufinerksam 
gemacht,  den  bescheidenen  Dorfpfarrer  durch  solche  falsche  Ver- 
gleichung  nicht  über  Gebühr  herabrücken.  Ebensowenig  ist  bei 
Joh.  Matthäus  Meyfart  trotz  der  verführerischen  Titel  seiner 
Schriften  (»das  höllische  Sodoma"  1629;  „das  himmlische  Jerusalem^ 
1630)  an  irgend  eine  Verbindung  mit  Dante  zu  denken. 

Dafs  ich  in  den  vorliegenden  Ausführungen  öfters  über  eine  blofse 
Materialsammlung  nicht  weit  hinausgekommen  bin,  ist  mir  selber  gar 
wohl  bewufst,  ebenso  bewufst  auch,  dafs  dies  Material  auf  ab- 
schliefsende  Vollständigkeit  keinen  Anspruch  machen  darf.  Doch 
habe  ich  mich  überall  bemüht,  die  verbindenden  Fäden  zwischen  den 
deutschen  Verfassern  und  ihren  ausländischen  Quellen  einerseits,  sowie 
andrerseits  die  Zusammenhänge  der  in  Betracht  kommenden  Autoren 
unter  sich  möglichst  aufzudecken,  und,  wo  sich  im  Verlaufe  der 
Arbeit  die  Gelegenheit  bot,  wie  bei  Herold  und  Hans  Sachs  im  ersten, 
und  den  hauptsächlicheren  Abschnitten  im  zweiten  Teile,  auch  in  zu- 
sammenfassender Darstellung  meine  Kräfte  zu  versuchen. 

Zum  Abschlufs  dieser  einleitenden  Bemerkungen  möge  mir  ge- 
stattet sein,  meinem  verehrten  Lehrer,  Herrn  Prof.  Muncker,  der  mir 
auch  die  erste  Anregung  zu  dieser  Arbeit  gegeben,  für  sein  stets 
sich   gleichbleibendes  Interesse   daran,    sowie  für  seine  fortwährende 


*)  Scartaxzini,  1.  c.  I.  15. 
**)  Scart.  1.  c.  I.  13.     Anderer  Ansicht  ist  Locella,  1.  c.  S,  5. 
***)  KOrschners  Deutsche  National-Litteratur  XIX.  S.  474. 
t)  AUff.  dtsche.  Biographie  XXVQI.  S.  641. 


Dante  in  der  deutschen  Litteratur  des  15.  fiis  17.  Jahrhunderts.    1.  283 

Förderung  im  Einzelnen  meinen  warmen  Dank  auszusprechen.  Ebenso 
bin  ich  meinem  werten  Freunde  Herrn  Dr.  Schnorr  von  Carolsfeld  zu 
greisem  Danke  verpflichtet  für  die  Liberalität,  mit  welcher  er  die 
Schätze  der  ihm  untergebenen  Universitätsbibliothek  zu  meiner  Ver- 
fugung stellte,  und  für  die  unermüdliche  Liebenswürdigkeit,  womit  er 
alle  meine  Wünsche  in  weitgehendstem  Mafse  befriedigte. 

L    Dante  in  der  deuteohen  Litteratur  des  XV.  bis  XVII.  Jahrhunderte. 

I.   Alteste  Erwähnungen  Dantes. 

Schon  im  XTV.  Jahrhundert  finden  sich  in  unserer  mittelhoch- 
deutschen Litteratur  Werke,  die  sowohl  inhaltlich  als  formal  an  Dante 
erinnern  können.  So  in  erster  Linie  das  Gedicht  eines  Heilbronner 
Mönches  „von  den  sieben  Graden"  •)  aus  der  ersten  Hälfte  des  Jahr- 
hunderts, und  die  Prosaschrift  Rulman  Merswins  „von  den  neun 
Felsen",  geschrieben  1 352  **).  Auf  die  Ähnlichkeit  mit  dem  italiem'schen 
Dichter  ist  mehrfach  hingewiesen  worden,  für  das  erstgenannte  u.  a. 
von  Gervinus***)  und  nach  ihm  von  Scartazzinif),  für  das  zweite 
von  W.  Schererff);  aber  sie  erscheint  nicht  derart,  dafs  eine  unmittel- 
bare Bekanntschaft  ihrer  Verfasser  mit  Dante  vorausgesetzt  werden 
müfste.  Die  mystischen  Grundgedanken  waren  vielfach  Allgemeingut 
der  Zeit,  und  auch  die  formalen  Anklänge,  wie  etwa  das  Stufensystem 
oder  die  visionäre  Einkleidung,  sind  nicht  stark  genug,  um  einen  Ein- 
flufs  damit  beweisen  zu  können. 

Wohl  zum  ersten  Male  wurde  Dantes  Name  in  deutschen  Landen 
öffentlich  genannt  auf  dem  Konzil  zu  Konstanz.  Da  übersetzte  und 
erläuterte  Giovanni  Bertoldi  da  Serravalle,  Bischof  von  Fermo, 
veranlafst  durch  zwei  englische  Bischöfe,  Nicolaus  Bubwich  und  Robert 
Halmfff),  vom  i.  Febr.  141 6  bis  zum  16.  Febr.  141 7  die  Göttliche 
Comödie  in  Vorträgen,  die  in  einer  Abschrift  des  verlorenen  Original- 
Manuskriptes  noch  vorhanden  sind  auf  der  Vaticana  zuRom*f).     Wir 

*)  Herausgeg.    v.  Th.  Merzdorf,  der  Mönch  v.  Heilsbronn,    Berlin  1870.   S.  69  (L 
*^)  Herausgeg.  v.  C.  Schmidt,  Lelpdg  1859. 
•*•)  Gesch.  d.  deutsch.  Dichtung  •  11.  304. 
t)  1.  c.  I.  9. 
tt)  Gesch.  d.  deutsch.  Litt.  •  S.  341. 
tft)  Tiraboschi,  storia  della  lett.  ital.  (Venezia  1795)  V.  46a  Anm. 
*t)  S.  Wittes   Artikel  „Dante*"  in  Herzog  und  Plitt,  Realencyclopädie  L  protest. 
Theol.  u.  Kirche  *  UL  491,  sowie  seine  oben  (S.  189  Anm.)  citierte  Recension  Scartazzinis. 
Ztocb.  f.  TgL  Litt-GMch.    K.  F.  Till.  ^5 


SM  Emil  Sulger*Gebin^. 


dürfen  annehmen,  dafs  vielleicht  der  eine  oder  andere  der  deutschen 
Zuhörer  dadurch  zu  eigener  Beschäftigung  mit  dem  Dichter  angeregt 
wurde. 

Bisher  galt  das  Jahr  1493  ^  dasjenige,  in  welchem  sich  zum 
ersten  Male  Dantes  Namen  in  einem  auf  deutschen  Boden  entstandenen 
Drucke  nachweisen  liefse,  und  ich  werde  auf  diese  Stelle,  die  einer 
der  verdientesten  deutschen  Danteforscher,  Karl  Witte,  zuerst  bekannt 
gemacht  hat,  weiter  imten  einzugehen  haben.  Ich  kann  nicht  nur  den 
Namen  des  Dichters,  sondern  auch  einen  ausfuhrlichen  Abschnitt  über 
Dante  schon  im  Jahre  1484  auf  deutschem  Boden  belegen,  nämlich 
in  dem  zu  Nürnberg  in  drei  mächtigen  Folianten  gedruckten  Geschichts- 
werke des  Florentiner  Erzbischofs  Antoninus  (1389 — 1459),  das  als 
Chronicon  sive  opus  historiarum  betitelt  zu  werden  pflegt*).  Der 
hochgestellte  Geistliche  widmet  seinem  berühmten  Landsmann  im 
IIL  Band  einen  ganzen  Paragraphen,  den  zweiten  des  Titulus  XXI, 
und  ich  gebe  denselben  hier  in  extenso  wieder,  da  er  nicht  nur  ak 
die  erste  Nachricht  von  Dante  in  deutschen  Landen,  sondern  auch 
durch  die  Reichhaltigkeit  seines  Inhalts  wichtig  genug  erscheint,  be- 
sonders verglichen  mit  den  dürftigen  Ansätzen  späterer  Autoren,  die 
wir  bald  kennen  lernen  werden.  Es  heifst  da  (fol.  CII):  Circa  tempus 
illud  floruit  Dantes  de  Allegheriis  Florentinus  poeta  insignis:  qui 
edidit  opus  egregium;  cui  simile  in  vulgari  non  habetur  eximiae 
sdentiae  et  eloquentiae  maternalis,  quod  tripartitum  fecit  secundum 
tres  animarum  Status  ex  hac  luce  migrantium  videlicet  de  paradiso, 
purgatorio  et  infemo.  Ad  horum  alterum  animae  de  corpore  exeuntes 
accedunt  post  Christi  adventum  et  passionem.  De  limbo  puerorum 
non  tangit  forte  propter  variam  opinionem  Status  et  conditionis  animarum 
illarum.  Verum  in  hoc  videtur  errasse  non  parum  quia  antiquos 
sapientes,  phUosophos,  poetas,  rhetores  infideles  ut  Democritum 
Pythagoram  Anaxagoram  Platonem  Socratem  Aristotelem  Homerum  Vir- 
gilium  Ciceronem  et  alios  describit  esse  in  campis  elisiis**),  ubi  etsi 
non  in  gloria,  tamen  sine  pena  existant,  cum  secundum  fidem  catholicam 
non  sit  dare  talem  statum  in  alia  vita  quo  ad  illos  qui  habentes  jam 
usum  rationis  de  hac  luce  migrarunt.  Sed  aut  ad  celum  evolant 
jam  purgati  ab  omni  reatu  in  exitu  suo,  aut  obnoxii  post  purgationem 
ad   paradisum  ascendimt     Ceteri    vero   ad   infema    descendunt   ubi 


*)  Vergl.  Hain,  Repeitor.  bibliogr.  N.  1159  (I.  i  S.  129). 
•♦)  Inf:  IV. 


Dante  In  der  deutschen  Lltteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.    I.  ^85 

nullus  ordo:  sed  sempitemus  horror  inhabitat  penanim  immensarum: 

ex  quibus    nuUa   est   redempdo   vel   diminutio   vel   alleviatio.    Et   in 

hujusmodi  loco    summi  crudatus  sancti   antiqui  doctores  Hieronymus 

Augustinus  et  alü  asserunt,   esse  illos  seculi  sapientes  propter  errorum 

elationem    et   infidelitatem   quos  Dantes   ponit  in  campis  elisüs.     De 

quibus  etiam  apostolus  ait  ad  Rom.  ca.  I.  Qui  cum  cognovissent  deum, 

non  sicut  deum   glorificaverunt,  aut   gratias    egerunt   sed  dicentes  se 

esse  sapientes.     (Et  secundum  Psal.  Linguam  nostram  mag^nificabimus: 

labia  nostra  a  nobis  sunt:    quis    noster  dominus  est)  stulti  facti    sunt 

propter  quod  tradidit  eos  deus  in  reprobum  sensum.     Nee  sufficienter 

defendunt  eum  qui  dicunt   istud   non  sensisse   sed  ut  poetam  finxisse 

secundum  opinionem    aliquorum.     Quia  cum  liber   ille   sit   in  vulgari 

compositus  et  a  vulgaribus  frequentata  lectio  ejus    et   idiotis   propter 

dulcedinem  richimorum  (rythmorum)  et  verborum  elegantiam  nee  sciant 

discernere  inter  fictionem   et  veritatem    rei:    defacili   possunt    credere 

esse  talem  statum  in  alia  vita  quem  improbat  fides  ecciesiae.     Celesti- 

num  quoque  papam  renunciantem  papatui  arguit  de  pusillanimitate*): 

quem   ecclesia  veneratur  et  miratur  de  humilitate.     Ceterum  composuit 

et  alium  librum  in  sermone  literato  de  monarchia  intitulatum  in  tres 

partes  distinctum.     In  quarum  prima  probat  monarchiam  id  est  regimen 

per  unum  principalem  hominem  esse  Optimum  regimen  et  mundo  necessa- 

rkim.      In    secunda   ostendit   taleoi   monarchiam   non   perfecte   fuisse 

in  monarchia  Assyriorum    nee   succedentium  Persarum   et   Medorum 

aimul,  nee  Grecorum  sub  Alexandro,  cum  omnes  isd  parum  vel  nihi 

dominati  fuerunt  in  occidente.    Sed  in  Romano  imperio  ostendit  fuisse 

perfectam   et  magis   universalem,    cum   in   Europa,   Afirica   et   Asia 

domioatum   obtinuerint:    Quod  ex   dei  dispensatione  gestum   fiiit.    In 

tercia  vero   parte   vult   probare   sed  male,   ita   monarchiam   esse   in 

imperio    Romano   et  rege  Romanorum:    Quod  nullam   dependentiam 

habeat  a  papa  sed  a  solo  deo,  nisi  solum  in  pertinentibus  ad  forum 

ammarum,    non   in  temporalibus.     Et   in   hoc   erravit,    cum   potestas 

imperialis  et  regimen   subaltemetur  papali  ut  minor  majori.    Sicut  et 

luna   signans   imperium   illuminatur  a   sole   signante  vicarium  Christi 

ut  lumine  majori.    Quod  colligitur  dist.  XCVI  ca.  Duo  sunt:  unde  et 

utnimque   gladium  papam  habere  frequenter  disputando  conduditur, 

secundum  id  quod  |dixerunt   apostoli  Christo:   Ecce    duo   gladii   hie. 

Quod  etiam  per  experientiam  monstratum  est.     Nam  papa  Adrianus 


*)  In£  m.  59  £  u.  XXVn.  105. 

16* 


n 


tt6  Emil  Sulger-Gebio^. 


transtulit  imperium  de  Oriente  in  ocddentem,  Karolum  magnum  regem 
Romanorum  instituens  quia  ecclesiam  liberavit  et  Italiam  de  manibus 
Langobardorum,  imperatore  Grecorum  nee  8e  nee  ecclesiam  juvare 
valente,  sed  et  ad  errores  declinante.  Deinde  a  Johanne  papa  vd 
Leone  translatum  est  a  Francis  in  Teuthonicos  in  primo  Ottone. 
Papa  quoque  deponit  imperatorem  et  privat  et  excommunicat  prout 
egit.  Innocentius  primus  Archadium  enim  imperatorem  excommunicavit 
Gregorius  VII  Henricum  tercium  imperatorem  excommunicavit  et 
imperio  privavit.  Papa  etiam  confirmat  imperatorem.  ipse  coronat: 
ipsi  imperator  fidelitatem  jurat.  dist.  LXm.  Tibi.  Quomodo  isd  talia 
attemptassent  et  prelati  et  sancti  homines  ista  approbassent,  si  monarchia 
imperii  non  subesset  papae:  cum  par  in  parem  non  habeat  potestatem. 
In  hoc  ergo  erravit  Dantes.  Quem  errorem  magis  diffuse  prosecutus 
est  Ocham*)  ordinis  minorum  quasi  ad  nihilum  deducens  potestatem 
papae  et  prelatorum  in  temporali  dominio.  Quamobrem  multi  viri 
doctissimi  tunc  questiones  disputarunt  et  libros  ediderunt  de  potestate 
ecclesiastica  seu  papae.  Dantes  tandem  exul  factus  a  Florentia  propter 
partialitates  qui  aliquando  fuit  in  officio  dominorum  priorum,  Ravennae 
positus  mortuus  est  anno  etatis  suae  LVI.^  Die  Schlufssätze  des 
Paragraphen  geben  nochmals  eine  Aufzählung  einer  doppelten  Reihe 
von  der  Kirche  freundlich  oder  feindlich  gesinnten  Kaisem,  welch 
letztere  vom  Papste  excommuniciert  imd  ihrer  Würde  beraubt  „cum 
summa  confusione  exterminati  sunt  et  ad  inferos  descenderunt^. 

Wie  leicht  verständlich  giebt  der  hohe  katholische  Geistliche  hier 
vor  allem  Polemik  gegen  diejenigen  Ansichten  des  grofsen  Dichters, 
welche  mit  der  Lehre  der  Kirche  nicht  völlig  übereinstimmen,  und 
daraus  erklärt  sich  auch  die  breitere  Behandlung  der  Monarchia,  der- 
jenigen Schrift,  die  ja  Dante  in  den  Ruf  der  Ketzerei  gebracht  hatte, 
und  die,  auf  den  Index  gesetzt,  erst  1559  in  Basel  zum  ersten  Male 
gedruckt  werden  konnte,  worauf  ich  später  einzugehen  haben  werde. 
Für  die  deutschen  Autoren  scheinen  die  Worte  des  Florentiner  Erz- 
bischofs verloren  gewesen  zu  sein,  nur  Nauclerus  weist  auf  ihn  als 
Quelle  for  seine  kurze  Notiz  über  Dante  (ca.  1500).  Interessant  ist 
es   immerhin,    dafs   schon   bei   diesem   ersten   Auftreten   von    Dantes 


*)  Wilhelm  von  Occam  (ca.  1280  —  ca.  1349)  wurde  1328  von  Papst  Johann  XXH. 
gebannt.  Seine  sämtlichen  Schriften  werden  in  den  späteren  Catalogis  haereticorum 
als  ketzerisch  aufgeführt,  insbesondere  das  Opus  nonaginta  dierum  und  die  Werke  gegen 
Johann  XXII.  (de  dogmatibus  Johannis  XXII;  Compendium  errorum  Johannis  XXII. 
papae).  Vergl.  allg.  dtsche  Biogr.  XXIV.  122  ff. 


Dante  in  der  deutschen  Lttteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.    I.  287 

Namen  auf  deutschem  Boden  viel  weniger  der  Dichter,  als  der  Denker 
und  Gegner  des  Papstes  betont  wird;  wir  werden  sehen,  wie  er  auf 
lange  hinaus  unter  den  Deutschen  von  dieser  Seite  bekannt  und  ge- 
schätzt war,  ohne  dafs  sie  sich  sonderlich  um  sein  Hauptwerk,  die 
Div.  Com.  gekümmert  hätten,  mit  Ausnahme  wieder  derjenigen  Terzinen, 
die  gegen  Rom  und  das  Papsttum  wirklich  gerichtet  waren  oder  doch 
in  diesem  Sinne  sich  deuten  liefsen. 

Das  nächste  Vorkommen  des  Namens  unseres  Dichters  in  einem 
Drucke  deutscher  Herkunft  ist  nun  das  von  Witte*)  nachgemesene. 
Der  berühmte  Rechtsgelehrte  Bartholus  a  Saxoferrato  nämlich 
(geb.  13 13  in  Sassoferrato,  seit  1339  Prof.  in  Pisa  und  später  in 
Perugia,  gest.  um  1359)  gi^^^  üi  seinem  Tractatus  de  dignitatibus, 
der  1493  ^^  mehreren  andern  zusammen  in  Leipzig  gedruckt  wurde**), 
einen  Kommentar  zu  einer  Kanzone  des  Dichters.  Da  sagt  er:  Fuit 
enim  quidam  nomine  Dantes  Allegeri  de  Florentia,  Poeta  vulgaris 
laudabilis  et  recolendae  memoriae  qui  circa  hoc  fecit  unam  cantilenam 
in  vulgari,  quae  indpit:  „Le  dolce  rime  d'amor  che  solea  Trovar  li 
miei  pensieri^  etc.***)  und  bespricht  darauf  ausfuhrlich  in  meist  polemi- 
sierender Weise  (von  Folio  IV.  2  bis  Folio  VII.  2)  den  Inhalt  des 
ganzen  Gedichtes. 

An  einer  andern  Stelle  seiner  Schriften  kommt  derselbe  Gelehrte 
auf  Dantes  Monarchie  zu  sprechen,  in  einer  vielcitierten  Bemerkung, 
auf  die  ich  öfters  werde  Bezug  nehmen  müssen,  da  sie  bis  zum  Schlüsse 
des  XVII.  Jahrhunderts  immer  wieder  unter  den  Quellen  für  die  Notizen 
über  Dante  mit  angeführt  wird.  Er  schreibt  in  dem  Werke  „In 
secundam  EKgesti  Novi  partem  Commentaria"  im  Abschnitte  de  requi- 
rendis  reisf):  Et  hoc  prout  tenemus  illam  opinionem,  quam  tenuit 
Dantes,  prout  illam  comperi  in  uno  libro,  quem  fecit,  qui  vocatur 
Monarchia,  in  quo  libro  disputavit  tres  quaestiones  quarum  una  fuit: 
an  Imperium  dependeat  ab  Ecdesia  et  tenuit,    quod  non.     Sed  post 


*)  De  Bartolo    a  Sassoferrato,    Halle   1861,    wieder  abgedruckt    1869    in  Dante- 
forschuDgen  I.  S.  461  ff. 

**')  Der  sehr  seltene  Band  zeigt  auf  dem  letzten  Blatt:  Impressi  sunt  presentes  (Witte: 
praedicti)  tractatuli  Bartoli  Uptzk  per  Gregorium  boticher.  Anno  dni  MCCCCXCm  die 
qointa  mensis  Oktobris.     (Exemplar  der  Münchener  Univers.  Bibl.). 

***)  Es  handelt  sich  um  die  von  Dante  selbst  im  IV.  trattato  des  Convito  kommen- 
tierte Kanzone:  «Le  dolci  rime  d'amor  ch^io  solia  Cercar  ne*  miei  pensieri"  (N.  XVL  bei 
Fraticelli,  Opera  minora  di  Dante  I.  186). 

t)  Gesamtausgabe  in  folio,  Venetiis  1603,  Tom.  VI.  176. 


m  Emil  Snlf er-GeUaff. 


mortem  suam  quasi  propter  hoc  fiiit  damnatus  de  haeresi.  Nam 
Ecclesia  tenet,  quod  Imperium  ab  Ecdesia  dependet,  pulcherrimis 
rationibus,  quas  omitto. 

Auch  bei  diesem  zweiten  Auftreten  seines  Namens  auf  deutschem 
Boden  wird  Dante  somit  weniger  als  Dichter,  denn  als  Denker  an- 
geführt, und  weithin  wirkungsvoll  waren  besonders  jene  Worte  des 
berühmten  Juristen  in  einem  seiner  vielgelesenen  Hauptwerke,  welche 
den  Poeten  nicht  nur  als  Gegner  des  Papstes  bezeichneten,  sondern 
auch  auf  ihn  als  Verfasser  des  Buches  hinwiesen,  das  ihm  bald  nach 
seinem  Tode  die  Anschuldigung  der  Ketzerei  zugezogen  hatte. 

Nur  ein  Jahr  nach  dem  tractatus  de  dignitatibus  tritt  uns  das 
Buch  eines  deutschen  Gelehrten  entgegen,  wdiches  ein  wichtiges 
Zeugnis  über  Dante  enthalt.  Soviel  mir  bekannt,  ist  dasselbe  noch 
nirgends  in  diesem  Zusammenhang  gewürdigt  worden,  obgleich  es  als 
erstes  auf  deutschem  Boden  und  aus  der  Feder  eines  Deutschen  die 
dürftigsten  Lebensnotizen  und  die  bis  auf  lange  hinaus  vollständigste 
Aufzählung  der  Schriften  des  grofsen  Florentiners  beibringt«  Es  steht 
in  dem  1494  zu  Basel  gedruckten  „Liber  de  scriptoribus  ecclesiastids" 
des  hochgelahrten  Abtes  von  Sponheim  Johannes  Trithemius 
(geb.  1462  zu  Trittenheim  im  Elsafs,  1482  Benediktiner,  schon  1483 
Abt  zu  Sponheim,  seit  1506  Abt  zu  St.  Jakobi  in  Würzburg,  gest  1516). 
Der  Titel  ist  insofern  irreführend,  als  durchaus  nicht  nur  geistliche 
Autoren  aufgenommen  sind.  Der  Verfasser  entschuldigt  sich  gleichsam 
deswegen  in  einem  Briefe  an  den  Minoriten  Albert  Morderer*);  da 
meint  er,  auch  die  weltlichen  Schriften  der  Philosophen,  Rhetoren  und 
Dichter  könnten  nicht  wenig  zum  Verständnis  der  heiligen  Bücher  bei- 
tragen, aufserdem  möchten  diese  Autoren  vielleicht,  abgesehen  von 
ihren  weltlichen,  noch  geistliche  Werke  verfafst  haben,  die  ihm,  dem 
Abte,  trotz  seiner  Bemühungen  unbekannt  geblieben  seien:  einerecht 
schwache  Motivierung,  die  den  gewählten  Titel  kaum  gerechtfertigt 
erscheinen  läfst.  Trithemius  schrieb  das  Buch,  da  bei  seiner  weit- 
bekannten Gelehrsamkeit  von  allen  Seiten  Fragen  und  Bitten  um  biblio- 
graphische Nachweise  an  ihn  gerichtet  wurden**),  und  widmete  es, 
als  es  nach  siebenjähriger  Arbeit  vollendet  war,  dem  Bischof  von 
Worms,    Johannes   von   Dalberg,    einem  grofsen  Freund  und  Gönner 


*)  Der  Brief  ist  abgedruckt  am  Schlosse  des  Werkes;    dahinter  folgen  nur  noch 
einige  Disticha  Sebastian  Brants  sum  Lobe  des  Baches  und  seines  Verfoasers. 
**)  Silbemagl,  Joh.  Trithemioa  *  S.  59, 


Dante  in  der  deutseben  Litteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.    I.  8S9 

• 

der  Wissenschaften,  mit  einem  schon  vom  Mai  1492  datierten  Briefe, 
der  an  der  Spitze  des  Werkes  abgedruckt  erscheint. 

Ich  gebe  mm  zwiächst  den  Abschnitt  über  Dante  in  extenso*): 
Dantes  aligenis,  natione  Italus;  patria  Florentinus:  vir  tam  in  divinis 
scriptis  quam  in  saecularibus  litteris  omnium  suo  tempore  studio- 
sissimus:  et  valde  eruditus:  philosophus  et  poeta  nulli  sua  aetate  inferior: 
ingenio  subtilis  et  clarus  eloquio:  disputator  omnium  acutissimus: 
Scripsit  et  metro  et  prosa  multa  praecku^  Volumina  quibus  nomen 
suum  ad  posteros  transmisit.  Puisus  patria  omnibus  diebus  suis 
exulavit:  in  Gallia  aliquamdiu:  et  postea  apud  Aragonum**)  regem: 
et  de  sua  calamitate  varia  composuit*  De  cujus  opusculis  ista  feruntur: 
Comcediarum  lib.  i.  —  De  monarchia  mundi  lib.  i.  —  Epistolae 
plures.  —  Et  quaedam  alia  —  Moritur  tandem  exul  apud  Ravennam: 
sub  Ludovico  bavaro  imperatore  quarto:  Anno  domini  Millesimo 
CCCXXI.  Indicdone  quarta.  Aetatis  vero  suae  anno  LVI.  —  Die 
späteren  Ausgaben  lauten  wörtlich  gleich,  nur  die  Kölner  von  1546 
bringt  als  neuen  Zusatz  am  Schlufs  des  Schriftenverzeichnisses:  Ejus- 
dem  disputatio  de  aqua  et  terra. 

Wir  sehen  klar,  Trithemius  legt  das  Hauptgewicht  auf  Dantes 
Gelehrsamkeit  und  stellt  den  Philosophen  vor  den  Dichter.  Unter 
den  Werken  fehlen  de  vulgari  eloquio  und  hauptsächlich  die  lyrischen 
Gedichte,  sowie  die  sie  erklärenden  Prosaschriften,  von  welchen  eben 
auch  die  Quelle  des  Abts  von  Sponheim  nichts  wufste.  Welches  ist 
nun  diese  Quelle?***)  Wie  mir  scheint,  ganz  unzweifelhaft  das  2  Jahre 
vorher  in  Venedig  gedruckte  Supplementum  Chronicarum  des  Jakobus 
Philippus  Bergomensis  oder  Bergomas  (mit  Familiennamen  Foresti, 
1434 — 1520),  wo  sich  in  einem  ausfuhrlichen  Abschnitt  über  Dante 
(Fol.  79,  2)  alle  die  ihm  von  Trithemius  beigelegften,  allerdings  nach 
dessen  Gewohnheit  meist  zum  Superlativ  gesteigerten  Eigenschaften 
finden,  sowie  auch  die  Daten  des  Schlusses  und  die  Namen  der 
Fürsten,  die  den  Verbannten  aufnahmen,  einfach  von  da  übernommen 
sind  (vergleiche  als  Beispiel  oben  u.  Anm.  '^*)).  Dafs  der  italienische 
Dichter  als  disputator  omnium  acutissimus  bezeichnet  wird,  ist  bei 
Trithemius  der  Extrakt  aus  einem  langen  Satze  des  Jakobus  Bergomas, 

*)  Liber  de  scriptoribus  ecclesiasticis,  fol.  79. 
**)  Bei  Jakobus  Philippus  Bergomas,   der  Quelle  des  Trithemius  (s.  u.)  heüst  es: 
Hie  cum  ex  Galliis  regressus  fuisset:    Federico  Aragonensi  regi  et  domino  Cani  grandi 
Scaligero  veronensium  priocipi  adhesit. 
***)  SilbernaKl,  l  c  S.  6t  tt. 


1 


SSO  Emil  Sulger*Gebi]ig. 


der  seinerseits  wieder  hier  wörtlich  Boccaccios  Genealogia  deorum  (XV.  6) 
abschreibt.  Nur  die  Erwähnung  der  Briefe  unter  den  Schriften  Dantes 
giebt  das  Supplementum  Chronicarum  nicht,  aber  wie  leicht  konnte 
der  Benediktiner  Abt  bei  seinem  ausgebreiteten  historischen  Wissen 
von  diesen  Kenntnis  haben.  Die  obengenannten  weiteren  Schriften 
hat  er  dagegen  sicher  nicht  gekannt;  y^et  quaedam  alia"  findet  sich, 
abwechselnd  mit  „et  alia  multa*"  und  „et  alia  complura",  formelhaft 
am  Ende  sehr  vieler  Schriftenverzeichnisse  seines  Liber  de  scriptoribus 
ecdesiastids  wiederholt. 

Von  einer  andern  Seite  her  treten  zwei  weitere  alte  Zeugnisse 
dem  grofsen  Dichter  nahe.  Wie  sein  Zeitgenosse  Giotto  für  die 
Malerei,  so  hatte  Dante  für  die  Poesie  eine  neue  Sprache  geschaffen, 
die  sich  fortan  als  die  herrschende  erweisen  sollte.  Das  anerkennt 
ein  deutscher  Gelehrter,  der  selber  nur  lateinisch  schrieb  in  Poesie 
und  Prosa,  und  zwar  an  einem  Orte,  wo  man  es  zunächst  nicht  suchen 
sollte.  Der  zum  Teil  auf  italienischen  Universitäten  gebildete  Schüler 
Sebastian  Brants,  Jakob  Locher  (geb.  zu  Ehningen  in  Schwaben 
1470  od.  1471,  Prof.  der  Poesie  u.  Rhetorik  zu  Freiburg  i.  B.,  zu  Ingol- 
stadt, vielleicht  auch  zu  Basel,  gest.  zu  Ingolstadt  1528)  liels  1497  zu 
Basel  eine  lateinische  Übersetzung  des  Narrenschiffes  erscheinen,  die 
den  Titel  „Stultifera  navis"  trägt.  Derselben  geht  ein  „Prologus 
Jacobi  Lochner  (sie?)  phUomusi  in  narragoniam^  voraus,  in  dem  er  von 
Plato  und  Socrates  spricht,  Lucilius,  Horaz,  Persius  und  Juvenal  her- 
anrieht, und  dann  fortfahrt '*'):  „Sebastianus  Brant,  Jurium  doctor, 
poetaque  haud  ignobilis,  ad  communem  mortalium  salutem  lingua 
vemacula  celebravit,  imitatus  Dantem  florentinum  atque  Frandscum 
Petrarcham,  heroicos  vates  qui  hetrusca  sua  lingua  mirifica  contexuere 
poemata^.  —  Er  rückt  dadurch  die  beiden  italischen  Poeten  gleichsam 
in  eine  Reihe  mit  den  damals  so  hoch  gefeierten  antiken  Autoren  und 
nennt  sie  als  Vorbilder  für  den,  der  in  heimischer  Sprache  dichten 
wollte.  Die  Kenntnis  ihres  Namens,  vielleicht  auch  ihrer  Werke  hatten 
ihm  jedenfalls  seine  Studienjahre  in  Italien  vermittelt;  die  Bezeichnung 
„heroid  vates^  pafst  allerdings  besser  für  Dante  als  für  Petrarca,  der 
als  Heldendichter  nur  kraft  seiner  trionfi,  die  damals  allerdings  wdt 
über  seine  lyrischen  Gedichte  gestellt  wurden,  gelten  kann. 

Genau  diesdbe  Auffassimg  spricht  Locher  an  anderem  Ort  auch 


**)  Stultifera  navis  Blatt  Vm.  a,  Bl.  IX.  i.    Die  Auflasren  dieser  lat  Versioii  sind 
sahlrejch.    Goedecke  (Grundriis  *  I.  387)  kennt  deren  bis  15 15  schon  24. 


Dante  in  der  deutechea  Litteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.    I.  881 

in  gebundener  Form  aus*).  Den  zu  Augsburg  1507  gedruckten 
Layenspiegel  von  Ulrich  Tengler  eröffnen  zwei  Vorreden  von  Sebastian 
Brant,  die  eine  in  Prosa,  die  andere  in  Versen,  und  diesen  folgt  -eine 
lateinische  von  Jakob  Locher,  Daran  schliefst  sich  ein  längeres  Gedicht 
von  ihm  in  Distichen:  Epigramna  ejusdem  Philomusi  in  Speculum 
laicorum  Udalrici  Tengler  vernacula  lingua  confectum,  welches  also 
begfinnt**): 

Quod  potuit  dantes  Ethrusca  dicere  lingua 
Cum  fingit  manes  Tartareosque  deos. 

Cum  causas  rerum  coeli  scrutatur  et  arces: 
Grandisonis  rythmis  magnaque  facta  canit  .... 

(es  folgt  eine  Aufzählung,  was  Boccaccio,  Brant  und  Petrarca  in 
ihrer  Muttersprache  geleistet  haben,  und  zu  alldem  als  gemeinsamer 
Nachsatz:) 

Hoc  potuit  Tengler  germana  voce  disertus: 
Cum  speculum  populo  £aibricat  omnigenum:  etc. 

Diese  Verse  beweisen,  dafs  Locher  allerdings,  und  gewifs  aus 
seiner  italienischen  Studienzeit  her,  von  Dante  mehr  als  den  blofsen 
Namen  kannte;  die  gewählten  Worte  bezeichnen  kurz  die  drei  Teile 
der  Commedia  (manes  —  Purgatorio;  Tartareos  deos  —  Inferno; 
causas  rerum  et  coeli  arces  —  Paradiso)  und  das  Epitheton  „grandi- 
sonus",  gesetzt  zu  den  Rhythmen  eines  Dante  ist  so  bezeichnend,  dafs 
es  schwer  wäre,  ein  besseres  zu  finden.  Der  musenliebende  Locher 
muls  wohl  in  seiner  Jugend  berührt  worden  sein  von  Dantes  Dichter- 
gröfse,  um  noch  in  spätem  Jahren  ihn  mit  solchen  Worten  preisen 
zu  können. 

2.  Dante  als  Politiker  und  Gegner  des  Papstes. 
Das  wichtige  politische  Werk  Dantes,  die  Monarchie,  hatte  Tri- 
themius  blofs  genannt,  aber  schon  bald  nachher  hören  wir  aus 
deutschem  Mund  und  auf  deutschem  Boden  auch  ein  Urteil  darüber, 
allerdings  noch  in  streng  katholischem  Sinne.  Der  aus  einer  adligen 
Familie  Schwabens  stammende  Johannes  Nauclerus  Verge  oder 
Vergenhaus  (ca.  1430  bis  ca.  1510)  spricht  es  aus  in  seiner  Chronica 


*)  Verg^.  Zamckes  Einleitung  zu  seiner  Ausgabe  von  Brants  Narrenschiff  (Leipzig 
1854)  S.  LXXV.    Icli  verdanke  den  Hinweis  auf  diese  Stelle  Herrn  Prof.  Muncker. 
♦♦)  Blatt  6,  2. 


988  Emil  Sulger-Gebing. 


ab  initio  tnundi  usque  ad  annum  Christi  nati  MCCCCC,  die  zuerst 
1501  in  Tübingen,  wo  der  Verfasser  seit  1477  erster  Rektor  war, 
dann  ebenda  1516  erschien.  Ich  dtiere  nach  der  ältesten  mir  zugang- 
lichen Ausgabe,  Cöln  1544.  Da  heifst  es  (S.  888):  Circa  tempus 
istud  floruit  Dantes  Florentinus  poeta  qui  inter  caetera  composuit 
librum  de  monarchia,  ubi  vult  probare,  monarchiam  esse  in 
imperio  Romano  et  rege  Romanorum  quod  nullam  depen- 
dentiam  habeat  a  papa  sed  a  solo  Deo  nisi  in  spiritualibus.  Et 
in  hoc,  ut  refert  Antoninus  in  3  parte  ti.  21.  c.  2  §  5  erravit  Wir 
wissen  damit  gleich  auch  die  Quelle  des  Nauderus,  der  er  in  den 
betonten  Sätzen  wörtlich  folgt:  es  ist  das  Chronicon  des  Florentiner 
Erzbischofs  Antoninus,  auf  das  ich  oben  (S.  192  ff.)  ausfuhrlich  einzu- 
gehen hatte. 

Wenig  mehr  als  bibliographische  Notizen  giebt  dagegen  der 
Zürcher  Theologieprofessor  Josias  Simler  (1530 — 1576)  in  seinem 
mit  den  Ausgaben  sich  im  Umfang  verdoppelnden  und  verdreifachen- 
den Folianten:  ^Epitome  bibliothecae  Conradi  Gesneri^,  zuerst  Zürich 
1555  erschienen.  Der  Einleitimgssatz,  sowie  das  Schriftenverzeichnis 
erinnern  stark  an  Trithemius  (in  der  Ausgabe  von  1546)  und  doch 
wird  man  ihn  kaum  als  Quelle  voraussetzen  dürfen.  Simlers  kurzer 
Abschnitt  lautet:  Dantes  Aligerus  natione  Italus,  patria  Florentinus 
scripsit  comoediarum  lib.  i.  de  monarchia  mundi  IIb.  i.  epistolas 
plures.  Disputationem  de  aqua  et  terra  quae  Mantuae  olim  inchoata, 
Veronae  decisa  est.  Libellus  excusus  Venetiis  1508.  Ejusdem  car- 
mina  de  inferno,  purgatorio,  paradiso,  Italice  conscripta,  excusa  sunt 
in  Italia  (I)  anno  Domini  1545  in  16.  Ejus  poemata  (nesdo  an  haec 
ipsa,  an  alia)  excusa  sunt  Venetiis  cum  commento  Alexandri  Valutelli. 
damit  anno  132 1.  —  Die  zweite  Ausgabe  von  1574  fugt  gewissen- 
haft eine  Notiz  bei  über  den  inzwischen  —  1559  —  bei  Oporinus  in 
Basel  erschienenen.  Druck  der  Monarchia,  auf  den  ich  bald  kommen 
werde.  Trithemius  nun  hatte  zum  Jahre  1321  ganz  richtig  die  Notiz 
des  Todes  gesetzt,  Simler  aber  sagt:  damit  anno  1321.  Auch  die 
genaue  Namensangabe  der  drei  Teile  der  Commedia,  die  hier  Simler, 
wie  das  später  so  oft  geschieht,  als  ein  zweites  vom  liber  Comoediarum 
verschiedenes  Buch  fafst,  —  ein  Irrtum,  der  bei  blofser  Kenntnis  der 
Titel  leicht  entstand  —  kennt  Trithemius  nicht.  Die  Ausgabe  mit 
Alessandro  Velutellos  Kommentar  war  1544  erschienen;  Simler  wufste 
jedoch  evident   nur   aus   zweiter  Hand   davon,   da   er  sonst  nicht  im 


Dante  in  der  deutschen  Lltteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.    I.  833 

Zweifel  geblieben  wäre,  um  welche  Gedichte  es  sich  handle.  Mit  der 
Sedezausgabe  von  1545  kann  nur  eine  Textausgabe  gemeint  sein*^). 

Als  Zeugen  für  den  Protestantismus  vor  dem  Protestantismus,  als 

Mann  der  Wahrheit  und  als  Gegner  des  Papstes  hat  den  Sänger  der 

Commedia   und  Verfasser   der  Monarchia   ein   fanatischer  Lutheraner 

aufgerufen:    Mathias  Flaccius    mit   dem   Beinamen   Illyricus  nach 

seinem  Heimatlande   (geb.  1520  in  Albona,   seit  1539  in  Wittenberg, 

seit  1545  Prof.  der  semit.  Sprachen  daselbst,  1557  Prof.  in  Jena,  1575 

gest.    zu  Frankfurt  a./M.   im  Hospital).     Es  war   ein  ruheloser  Mann, 

der,  ursprunglich  zum  Mönche  bestimmt,    mit  leidenschaftlichem  Eifer 

sich  den  neuen  Lehren  hingab,  dann  aber,  nachdem  er  in  Jena  seines 

Fanatismus  wegen  des  Amtes  entsetzt  worden,  lange  noch  ein  irrendes 

Wanderleben  führte  und  schliefslich  im  Elende  verstarb.    Das  Werk, 

das  uns  hier  interessiert,  ist  sein  „Catalogus  testium  veritatis  qui  ante 

nostram  aetatem  redamarunt  Papae^  vom  Jahre    1556^*"^).    Darin  hat 

Dante  folgendermafsen  eine  Stelle  gefunden:  Dantes  Florentinus  floruit 

ante  annos  250.  fuit  vir  pius  et  doctus,  ut   multi  scriptores,    et  prae- 

sertim     ipsius    sripta    testantur.      Scripsit    librum     quem    appellavit 

Monarchiam.   In  eo  probavit,  Papam  non  esse  supra  Imperatorem,  nee 

habere  aliquod  jus  in  Imperium,  ob  eamque  rem  a  quibusdam  haereseos 

est  damnatus.    Scripsit  et  vulgari  Italico  sermone  non  pauca,  in  quibus 

multa  reprehendit  in  Papa  ejusque  religione.   Quaeritur  alicubi  prolixem 

intermissam  esse  verbi   Dei  praedicationem    et  pro  ea  prae- 

dicari  a  monachis  vanissimas  fabulas,  eorumque  magis  fidem 

haberi:  atque  ita   oves  Christi   non    vero  pabulo    Euangelii, 

sed  vento  pasci.     Dicit  alibi,  Papam  ex  pastore  factum  lupum, 

vastare  Ecdesiam,  non  curare  una  cum  suis  spiritualibus  verbum 

Dei  sed  tantum  suadecreta.    Alicubi  in  Convivio  amatorio  aequat 

conjugium  coelibatui. 

Die  hervorgehobenen  Sätze  geben  freie  Transkriptionen  folgender 
Stellen  aus  der  Commedia: 


*)  de  Batines  (Bibl.  Dantesca  I.  84)  kennt  den  oben  angef&brten  Titel  nur  aus 
Simler  und  erklärt  die  Ausgabe  als  wahrscheinlich  IdeDtisch  mit  der  sehr  seltenen  „In 
Veneda  al  Segpio  della  Speranza  1545"  in  34  picc. 

^)  „Basileae  per  Michaelem  Martinum  Stellam,  Anno  Christi  MDLVI  Mense  Martis** 
am  Schluis  des  Bandes.  Das  Titelblatt  hat  Basileae  per  Joannen  Oporinum.  Die  Stelle 
aber  Dante  S.  868. 


234  BmU  Sulg;er.Gebiiis:. 


Par.  XXDC.  94 — 97:  Per  apparer  ciascun  s'ingegna,  e  face 

Sue  invenzioni  e  quelle  son  trascorse 
Da*  predicanti,  el  Vangelio  si  tace. 
ibicL  103 — 107:  Non  ha  Firenze  tanti  Lapi  e  Bind! 

Quante  si  fatte  &yole  per  anno 
In  pergamo  si  gridan  quinci  e  quindi, 
Si  che  le  pecorelle  che  non  sanno 
Tornan  dal  pasco  pasciute  di  vento  .... 
Par.  IX.  132—135:     Perö  ch'ha  fatto  lupo  dd  pastore. 

Per  questo  TEvangelio  e  i  dottor  magni 
Son  derelitti;  e  solo  ai  DecretaU 
Si  studia  si  che  appare  a'  lor  vivagni. 
Die  Behauptung,    dafs  Dante  die  Ehe    dem  Coelibat   gleichsetze, 
ist   unrichtig.     Eine  derartige  Stelle   findet   sich   nicht   im  Convito*). 
Die  Lebenszeit  des  Dichters   ist  mit   der  Bezeichnung:    er  blühte  vor 
250  Jahren,  also  1306,    durchaus  richtig  angesetzt.     Unter  deti  „multi 
scriptores^,  die  seine  Frömmigkeit  und  Gelehrsamkeit  bezeugen,  mag 
in    erster    Linie    an    Boccaccio    und    den     Chronisten     Villani    zu 
denken  sein. 

Im  selben  Jahre  wie  dieser  Catalogus  testium  veritatis  erschien 
zu  Königsberg  ein  Catalogus  haereticorum,  dessen  Vorrede  mit  dem 
Pseudonym  Athanasius  exul  Jesu  Christi  unterzeichnet  ist.  Als  wahr- 
scheinlicher Verfasser  wird  der  frühere  Bischof  von  Capo  dlstria 
Peter  Paul  Vergerii  (gest.  1565)  genannt**),  der,  lutherisch  geworden, 
seit  1549  als  Prediger  in  Graubündten  und  im  Veldin,  seit  1533  in 
Tübingen  lebte.  In  diesem  Buche  finden  wir,  wie  in  allen  Ketzer- 
katalogen der  Zeit,  unter  lettera  D  als  erstes  verdammtes  Werk 
nDantis  Florentini  Monarchia^  und  in  den  Annotationes  in  Catalogum, 
die  durchweg  den  Fanatismus  des  Konvertiten  verraten,  heifst  es  dann 
(fol.  Em):  Dantum  Aligerum  Florentinum  qui  pro  Caesaribus  de 
Monarchia  contra  Papas  gravissime  scripsit,  a£Srmans,  Imperium  minime 
pendere  ab  Ecclesia,  cujus  libri  meminit  Bartolus  etc.  —  es  folgt  die  ge- 
naue Angabe  der  Stelle  und  in  Klammer  fugt  der  Verfasser  bei:  ut 
Interim  omittam  quam  pro  dignitate  exceperit  saepe  Papatum  in  suis 

*)  Scartazzini  1.  c.  II.  30;  u.  Witte,  Danteforschungen  IL  321. 
**)  Vgl.  Janotzki,  Nachricht  von  denen  in  der  hochgräflich«   Zaluskischen  Bibliothek 
sich  befindenden,  raren  polnischen  Büchern.     Zweiter  Teil.     Breslau  i749)  S.  73  ff.     Be- 
stimmt als  Verfasser   bezeichnet   ihn  die  neuste  Arbeit:    Hubert,  Vergerios  publicistische 
Tätigkeit  (Göttingen  1893)  S.  144  ff.  u.  Bibliographie  S.  301. 


Dante  in  der  deutschen  Litteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.    I.  2S5 

rythmis  Italicis.  Ein  anschUefsender  Satz  verspottet  die  Schlauheit 
der  Papisten,  welche  in  ihren  Katalogen  immer  wieder  solche  Bücher, 
selbst  ungednickte  wie  dieses,  anführten,  recht,  als  wollten  sie  ver- 
hindern, dafs  man  ihrer  vergäfse,  ja  zu  ihrer  Lektüre  anreizen.  So  sei 
es  dem  Verfasser  wenigstens  ergangen  mit  dem  vorliegenden  Werke, 
von  dem  er  sonst  nichts  gewuist  hätte. 

Gesichert  erscheint  Vergerius  als  Autor  der  drei  Jahre  später 
geschriebenen,  aber  erst  1560  gedruckten  Annotationes,  da  hier  sowohl 
auf  dem  Titelblatt,  als  unter  der  vom  12.  Sept.  1559  datierten,  sehr 
scharf  gegen  den  Papst  gehaltenen  Vorrede  sein  Name  steht.  Der 
vollständige  Titel  des  interessanten  Büchleins  lautet:  „Postremus  Cata- 
logus  Haereticorum  Romae  conflatus,  1559.  Continens  alios  quatuor 
catalogos  qui  post  decennium  in  Italia,  nee  non  eos  omnes  qui  in 
Gallia  et  Flandria  post  renatum  Euangelium  fuerunt  aediti.  Cum 
Annotationibus  Vergerii  1560"*). 

Hier  ergeht  er  sich  (Blatt  18  f.)  viel  ausfuhrlicher  über  Dantes 
Monarchia,  ohne  über  den  Dichter  selber  mehr  als  die  allerdürftigsten 
Notizen  zu  geben.  Aber  sein  als  ketzerisch  verdammtes  Werk  hat 
er  gelesen,  und  zwar,  wie  er  selbst  am  Schlüsse  seines  Exkurses 
erzahlt,  in  der  italienischen  Version  des  Marsilio  Fidno,  von  der  er 
sich  mit  Mühe  ein  handschriftliches  Exemplar  verschafft  hatte.  Die 
Art,  wie  er  dessen  Seltenheit  betont  und  ausdrücklich  bezeugt,  dafs 
es  bis  jetzt  ungedruckt  geblieben,  beweist,  dafs  er  den  gleichzeitigen 
Basler  Druck  des  lateinischen  Originals,  auf  den  ich  sofort  kommen 
werde,  noch  nicht  kannte.  Vergerius  vergleicht  das  Werk  seinem 
Inhalte  nach  mit  dem  Defensor  pacis  des  Marsilius  Patavinus'*^),  mit 
Stellen  aus  dem  Briefe  Petrarcas  an  Cola  Rienzi,  und  endlich  mit 
Ockam**"*"),  der  de  paupertate  Christi  et  Apostolorum  geschrieben 
habe.  Er  giebt  in  kurzen  Sätzen  den  Inhalt  der  drei  Hauptteile,  und 
fuhrt,  nachdem  er  einen  Seitenblick  auf  die  zeitgenössischen  politischen 
Verhältnisse  geworfen,  einige  der  kräftigsten  gegen  den  Papst  und 
die  Verweltlichung  der  Kirche  gerichteten  Sätze  Dantes  an,   für  die 


*)  Auf  dem   letxten    Blatt    ist   als  Drucker    Corvinus,    als    Oruckort    Pfbrsheini 
genannt. 

**)  Der  erste  Druck  des  Def.  pads  erschien  zu  Basel  1533.  Marsilius  Patavinus 
(f  1338)  steht  im  Catalogus  (fol.  63)  unter  den  Autoren,  deren  sämtliche  Schriften  yer- 
dammt  sind. 

***)  Ockam   starb   1347.     Bl.  53  steht  unter  den  verbotenen  Bflchem:    Guglielmi 
Ochan  opus  nonaginta  dienim.    Item  Dialogfi  et  scripta  omnia  contra  Joannem  XXIL 


986  Bmfl  Sulger^Gebiftg. 


er  Worte  freudigster  Zustimmung  hat:  „quid  potest  de  iUis  verius  dici} 
quid  magis  apposite?^  Auch  hier  folgt  ein  Hinweis  auf  die  Stelle 
des  Bartolus  und,  nachdem  der  Tübinger  Eiferer  noch  auf  die  in 
seinem  Besitze  befindliche  italienische  Übersetzung  hingewiesen,  schliefst 
er  mit  dem  Satze:  „Satis  de  Dante,  quae  fortassis  non  erant  oomibus 
obvia,  ut  paud  intelligere  potuissent  quid  condemnarit  Papa,  cum  illius 
Monarchiam  condemnavit^. 

Diesen  präludierenden  Vorspielen  in  kürzeren  oder  längeren 
Notizen  folgft  nun  1559  ein  doppelter  Hauptschlag  gegen  Rom  im 
Namen  Dantes.  In  diesem  Jahre  nämlich  erschienen  zu  Basel  fast 
gleichzeitig  (die  Vorrede  des  einen  Buches  ist  datiert  vom  ersten 
Herbstmonat,  die  andere  mense  Octobri)  zwei  Werke,  die  für  sein 
Bekanntwerden  in  deutschen  Landen  sehr  bedeutsam  sind:  Herolds 
Monarchey,  die  erste  und  bis  auf  Kannegiefser  (1845)  ^ong^  deutsche 
Übersetzung  der  wichtigen  politischen  Schrift  Dantes,  und  der  über- 
haupt  erste  Druck  des  lateinischen  Originales,  der  somit  auf  deutschem 
Sprachgebiet  entstand,  und  zwar  auf  protestantischem  Boden,  da  das 
Buch  noch  immer  auf  dem  Index  stand. 

Dieser  Druck,  über  den  ich  mich  kurz  fassen  darf,  findet  sich  in 
dem  Büchlein:  „Andreae  Aldati  jureconsulti  clariss.  De  formula 
Romani  Imperii  Libellus.  Accesserunt  non  dissimilis  argumenti  Dantis 
Plorentini  De  monarchia  libri  tres.  Radulphi  Camotensis  De 
transladone  Imperij  libellus.  Chronica  M.  Jordanis  Qualiter  Romanum 
imperium  translatum  sit  ad  Germanos.  Omnia  nunc  primum  in  lucem 
edita.  Basileae  per  Joannem  Oporinum^.  Am  Schlufs  des  kleinen 
Bandes,  der  übrigens  auch  noch  die  im  Titel  nicht  aufgeführte  Schrift 
des  Aeneas  Silvius  Piccolomini  „de  ortu  et  autoritate  Imperii  Romani^ 
enthält,  folgt  das  Datum:  Basileae,  ex  officina  Joannis  Oporini.  Anno 
Salutis  humanae  MDLIX.  Mense  Octobri*).  In  diesem  so  inhalt- 
reichen Büchlein  nun  treffen  wir  auch  zwei  Zeugnisse  über  Dante  an. 
Dem  Drucke  der  Monarchia  geht  ein  Schreiben  des  Joh.  Oporinus 
an  den  Bemer  Patricier  Hieronymus  Fricker  voran  und  darin  heüst 
es:  Sunt  autem  quos  adjunximus  primum  Dantis  Aligherii,  non 
vetustioris  illius  Florentini  poetae  celeberrimi,  sed  philosophi  acutissimi 
atque    doctissimi    viri,    et    Angeli    Politiani    familiaris    quondam,    de 


*)  Weitere  Drucke  folgten  sich  in  Deutschland  rasch:  1566  Basel  (prima  editio 
Schardiana);  1609  Straisburg  (sec.  ed.  Schard.);  1610  Offienbach  (ed.  Gluteniana);  1618 
Strafibuix  (tertia  ed.  Schard.). 


Oaote  in  der  deutschen  Litteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.     L  887 

Monarchia  libii  tres:  dig^issimi  certe  qui  ob  renun  et  argumentonim, 
quibus  creberrimis  sunt  referti,  acumen  et  copiam  publice  etiam  extent, 
neque  diutius  ob  styli  forte  scabriciem  (ejusmodi  tarnen  fere  doctissimi 
quique,  ea  licet  eniditissima  aetate,  in  tractanda  philosophia  ud  solebant) 
negligantur*).     Höchst  auffallend  ist  hier  die  Ansicht  des  Schreibers, 
in  dessen  Heimatstadt  ungefähr  gleichzeitig  die  Übersetzung  Herolds 
mit  vollständig  richtigen  Angaben  über  Dantes  Werke  erschien,  dafs 
der  Verfasser  des  politischen  Traktates  ein  anderer  sei,  als  «Jener  ältere 
Florentiner  Poet^,  dem  er  doch  schon  das  Beiwort  des  hochberühmten 
(celeberrimus)  giebt.    Oporinus  versetzt  den  Verfasser  der  Monarchie 
ins   fünfzehnte  Jahrhundert,    da   er  ihm   als  Freund   des   berühmten 
Philologen  und  Dichters  Angdo  Poliziano  (1454 — 1494)  bezeichnet  — 
eine   Verwirrung,    deren  Quelle   ich   nicht   zu   nennen   Vermag.     Die 
Aufserung,  dafs  die  Rauhheit  des  Stiles,  der  allerdings  den  eleganten 
Latinisten   des   sechzehnten  Jahrhunderts   wenig   behagt  haben  mag, 
an    der   bisherigen  Vernachlässigung   des  Werkes  die  Schuld  trage, 
soll    wohl   den  Grund   angeben,   weshalb  kein  Humanist  bisher  das 
Buch    herausgegeben    habe.    —    Das    zweite   2^ugnis    steht   in   dem 
Schreiben    des    Basilius    Herold    an    seinen    Freimd    Augustinus 
Guntzerus,  das  der  Chronik  des  Jordanes  vorangeht.    Da  spricht  der 
Verfasser  von  denen,  deren  insana  Ubido  das  Reich  und  die  Majestät 
des  Kaisers,  wie  auch  die  alte  Einrichtung  der  sieben  Kurfürsten  an- 
griffe,   und   fahrt   also   fort**):     „Venenatis   vero   istorum  affectibus 
antidotum  fore  praesentissimum  nihil  dubito  et  Dantis  et  Jordanis  hos 
libellos,  deinde  Historiae  veritatis  lucem  eos  tantam  allaturos,  ut  ex 
unico    hoc    et    minusculo,    osdtantia    tot    scriptorum,    atque    omnis 
de  potestate   divinitus   contradita  et  veneranda  antiquitate  Electorum 
principum   aemulantium   ig^orantia,    e  medio  toUi  queat:  tandemque 
aperte   videri,    quantum  ad  conservandam  hanc  universitatem  rerum, 
hoc  hoc  (siel)    Germaniae  imperium  conferat**.     Hier  wird  somit  der 
florentinische  Dichter  gegen  die  Reichsgeg^er  als  Vertreter  und  Ver- 
fechter  des   deutschen  Kaisertums   und  seiner  Institutionen  ins  Feld 
gefuhrt. 

Der  Verfasser  dieses  zweiten  Briefes  darf  sicher  auch  als  Heraus- 
geber der  lateinischen  Monarchia  gelten***),  wie  er  der  Übersetzer  des 

*)  Aldatl  de  form.  Rom.  Imp.  S.  51. 
♦•)  ib.  S.  ai5. 
***)  Vagi.  Wittes  Auasabe   der  Monarchia,   2.  Aufl.  1874  S.  LXI,  wo  die  dafiLr 
sprechenden  Stellen  fosanimeagesteUt  sind. 


288  Emil  Sulfi:er-Gebing:. 


Werkes  ist,  von  dem  er  die  eben  dtierten  Worte  schreibt.  Es  mag 
gestattet  sein,  hier  anzuführen,  was  ich  über  sein  Leben  und  seine 
Schriften  aus  meist  älteren  Quellen*)  gesammelt  habe,  und  so  ein 
wenn  auch  nicht  lückenloses,  doch  möglichst  vollständiges  Bild  seines 
Wirkens  zu  geben.  Johannes  Herold  wurde  151 1  zu  Höchstädt 
an  der  Donau  geboren  und  nannte  sich  später  nach  seinem  Heimats- 
ort Hochstattensis  oder  mit  griechischer  Übersetzung  Acropolita.  Er 
studierte  zunächst  Geschichte,  und  muls  sich  auch  einige  Zeit  in  Italien 
aufgehalten  haben,  so  im  Jahre  1534  in  Siena,  wie  er  selber  in  der 
Dedikation  seiner  Petrarca- Ausgabe  von  1554  bezeugt**).  Im  Jahre  1539 
kam  er  nach  Basel  und  warf  sich  nun  auf  die  Theologie,  ohne  jedoch 
seine  historischen  Studien  aufzugeben.  Nachdem  er  sich  allda  ver- 
heiratet hatte,  wurde  er  1541  Pfarrer  in  Pfeffingen,  wo  er  im  Gebiete 
des  Bischofs  von  Basel  das  Evangelium  predigte  und  Vielen,  wie  von 
einem  Zeitgenossen  ausdrücklich  bezeugt  wird,  den  rechten  Weg  zur 
Seligkeit  wies.  Schon  1546  aber  kehrte  er  in  die  Stadt  zurück,  ge- 
rufen von  den  Typographen,  damit  er  mehrere  historische  Werke 
fertigstellte  (ut  aliquoties  historias  in  ordinem  redigeret).  Nun  schrieb 
er  überaus  fleifsig,  und  machte  sich  um  die  Förderung  des  wissen* 
schaftlichen  Lebens  in  seiner  neuen  Heimat  so  verdient,  dafis  ihm  die 
Stadt  Basel  am  4.  Juli  1556  das  Bürgerrecht  schenkte.  Von  da  an 
nannte  er  sich  mit  Vorliebe  Basilius.  Schon  1541  hatte  er  eine  heft^e 
Rede  zu  Gunsten  des  Erasmus  von  Rotterdam  unter  dem  Titel  Philo- 
pseudes  gegen  den  anonymen  Dialog  eines  Arztes***)  gerichtet,  der 
Aufsehen  gemacht  hatte.  Bei  Fürsten  und  hohen  Herren  stand  er  in 
grofser  Gunst  und  genofs  der  Gnade  Kaiser  Ferdinands  des  Ersten 
als  ein  überaus  fleilsiger  und  gelehrter  Mann.  Wegen  dieser  seiner 
patentia  laboris  et  industria  ingenii  zählt  ihn  Pantaleon  zu  den  grofsen 


*)  Prosopographia  Heroam  atque  Ulustrium  virorum  totius  Gerroaniae,  Aathore 
Hdniico  Pantaleon e  Physico  Basiliensi  Tom.  III.  BasUeae  1566  (S.  535).  —  Joecher, 
Gelehrten -Lexicon  n.  Leipzig  1750.  —  Fr.  Aug.  Eckstein,  Nomendator  Philologorum, 
Leipzig  1871.  —  Gottl.  Eman.  v.  Hall  er,  Bibliothek  der  Schweiz.  Geschichte  u.  s.  w. 
Bd.  n.  m.  IV.  Bern  1785— 1788.  —  Graesse,  Lehrbuch  der  allg.  Litt.  Gesch.  m,  i. 
Leipzig  185a.  S.  1091.  1099.  —  Am  ausführlichsten  der  Artikel  yon  Escher  in  Ersch  a. 
Gruber,  allgem.  Encyklopädie,  ü.  Sektion,  Bd.  VL  Leipzig  1839. 

**)  «Quod  ante  yigintl  annos  Senarum  in  urbe  ...  in  ediscendis  üs  carminibus 
magnopere  me  torsit". 

***)  In  Desiderli  Erasmi  Roterod.  Punus  nunc  primum  in  lucem  editus  Dialogos 
lepidissimus  Philalethis  Utopiensis.  BasUeae  1540.  Der  Ver&sser,  ein  mailändischer  Ant 
Hortensius  Landi,  muüste,  als  seine  Autorschaft  bekannt  wurde,  Basel  verlassen. 


Dante  in  der  deutschen  Litteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.     I.  239 

Männern  Deutschlands.  Sein  Aufseres  war  unansehnlich:  klein  und 
fett  von  Gestalt  nennt  ihn  derselbe  Schriftsteller.  Er  starb  ums  Jahr 
1570.  Seine  Werke  sind  sehr  zahlreich,  weitaus  die  meisten  davon 
lateinisch  verfafst.  Obgleich  ausdrücklich  bezeugt  ist,  er  habe  „multa'' 
aus  dem  Lateinischen  und  Italienischen  in  die  Muttersprache  übertragen, 
vermag  ich  doch  aufser  der  Monarchey  nur  die  von  Goedeke*)  und 
Gervinus**)  genannte  Übersetzung  des  Diodorus  Siculus:  „Hey den 
Welt  und  irer  Goetter  anfangcklicher  Ursprung"  Basel  1554  anzu- 
führen***). Seine  sonstigen,  fast  durchweg  historischen  Schriften  be- 
fassen sich,  abgesehen  von  zahlreichen  mit  Einleitungen  u.  s.  w.  ver- 
sehenen Ausgaben  fremder  Werke,  gerne  mit  alter  deutscher  Ge- 
schichte (de  Romanorum  in  Rhaetia  littorali  stationibus,  Basileae  1555; 
de  Germaniae  veteris  verae  quam  primam  vocant,  locis  antiquissimis, 
ib.  1557;  ^cg^s  antiquae  Germanorum,  ib.  1557),  dann  mit  neuerer 
deutscher  Geschichte  (Exegesis  successionis  sive  stirpis  Palatinae, 
Basileae  1556;  de  Rodolpho  Habsburgo  libri  VIII)  und  mit  Kirchenge- 
schichte (Vitae  Episcoporum  Basiliensium;  Orthodoxographia,  Basileae 
1555;  Haeresiologia,  ib.  1556).  Aufserdem  schrieb  er  eine  Chronologia 
Pannoniae,  gedruckt  in  Bonfinii  rerum  Ungaricarum  Decades,  1543, 
eine  historia  belli  sacri,  Basileae  1560,  eih  Buch  de  rebus  anno  1556 
contra  Turcos  gestis,  ib.  1560,  endlich  Dialoge,  Panegyriken  und 
Orationes.  Femer  werden  von  Escher  (a.  a.  O.)  noch  angeführt 
„zwei  Schauspiele,  die  Enthauptung  des  Johannes  und  Pyramus  und 
Thisbe"  —  und  „Erosophus  von  der  ehrbaren  und  unehrbaren  Liebe", 
doch  vermag  ich  diese,  wie  es  scheint,  deutschen  Werke  Herolds  nicht 
nachzuweisen,  und  der  Verfasser  des  Artikels  selber  scheint  sie  nur 
indirekt  gekannt  zu  haben. 

Dieser  Mann,  der  auf  eine  so  reiche  schriftstellerische  Tätigkeit 
stolz  sein  konnte,  verfafste  nun  auch  die  erste  deutsche  Übersetzung 
von  Dantes  Monarchia  unter  dem  Titel:  „Monarchey  Oder  Dasz  das 
Keyserthumb,  zu  der  wolfart  diser  Welt  von  nöten:  Den  Römern 
billich    zugehört,    und    allein  Gott  dem  Herrn,    sonst  niemands  hafft 


*)  Gnindrifs'  IL  320. 
**)  Gesch.  d.  dtsch.  Dichtung*  H.  708. 
•*♦)  Allerdings  nennt  Bscher  (s.  S.  238  Anm.  *))  noch  aufser  diesen  «Übersetzungen 
aus    Aristoteles,    Xenophon,    Plutarchus,    Erasmus,  Ludwig    Vices,    Cornelius    Agrippa, 
Laonicus  von  Athen,  Caspar  Bruschius,  Castellio,  Macchiavelli  u.  s.  w.",  aber  ohne  irgend 
welche  nähere  Angaben. 

ZtKhr.  f.  Tgl.  Litt-Gcsch.    N.  P.  VIII.  |g 


840  Emil  Sulgrer-Gebing. 


seye  auch  dem  Bapst  nit*).  Herren  Dantis  Aligherii  des  Florentiners, 
ein  zierlichs  büchlein,  in  drey  teyl  ausgeteilt.  Und  vor  zweihundert 
dreifsig  dreyen  jaren,  zur  vertaedigung  der  Würdin  des  Reychs 
Teutscher  Nation  Lateinisch  beschriben:  vormals  nie  gesehen  auch 
newes  verdolmetscht.  Durch  Basilium  Joannem  Heroldt**.  Und  am 
Schlüsse  des  Bandes  steht  das  Datum:  „Getruckt  zu  Basel  durch 
Niclaus  BischofF  den  jüngeren  im  Jare  MDLIX". 

Das  Buch  ist  drei  Kurfürsten  gewidmet,  dem  Pfakgraf  Friedrich 
bei  Rhein,  dem  Herzog  August  zu  Sachsen  und  dem  Markgraf  Joachim 
zu  Brandenburg.  Herold  giebt  zuerst  eine  Einleitung**),  die  er  mit 
einer  Rechtfertigung  seines  Unternehmens  und  dieser  Widmung  be- 
ginnt, und  worin  er  des  Weiteren  erklärt,  er  habe  zuerst  aus  der 
italienischen  Version  des  Marsilio  Ficino  (1433—1499)  übersetzt  und 
„hernach  gegen  dem  Lateinischen,  als  es  mir  zur  Hand  kommen,  ge- 
halten  und  recht  gemacht".  Ahnlich  wie  schon  im  Titel  prädsiert  er 
dann  den  Inhalt  der  drei  Bücher  in  den  Fragen:  „Ob  doch  das 
Römisch  Kaiserthumb  sein  müsse,  wo  änderst  die  weit  in  wolfart  sein 
solle?  —  Ob  das  die  Römer  mit  fugen  ingehapt?  —  Ob  es  onn  sonst 
einiges  mittel  von  Gott  komme?"  Besonders  dieser  dritte  Teil,  der 
sich  gegen  den  Papst  richtet,  ist  nach  dem  Herzen  Herolds;  er  meint 
dazu:  „Do  erscheinet  warlich  Dantis  verstand,  freudigkeit  und  redlich 
gemüt:  dann  wer  der  seye,  der  on  allen  scheühe  des  Bäpstlichen  stüls 
zu  Rom  mit  beiachtzter  (sie!  wohl  sicher  Druckfehler  für  betachtzter) 
bestätigung  so  frey  dapffer  härausz  geschriben,  das  auch  Bäpstlicher 
heyligkeyt  bestätigung,  segen  und  was  der  stuck  seind,  keinen  Keyser 
mach,  ja  dz  Bäpsdiche  heyligkeyt  sogar  kein  gwalt  ann  dem  Keyser 
habe:  den  habe  ich  zwar  noch  nit  gelesen,  hatts  aber  einer  ye  ge- 
schriben, so  will  ich  doch  nit  glauben,  dass  er  es  so  heitter  und  klar, 
mitt  durch  alle  künsten,  gegründten  bewärungen  dargethan**.  Das 
Wichtigste  habe  Dante  alles  gesagt,  die  Theologen  würden  nicht  viel 
mehr  beibringen  können,  auch  die  Rechtsgelehrten  nicht,  wobei 
natürlich  der  Hinweis  auf  Bartolus  nicht  fehlen  darf,  und  der  Aus- 
spruch des  berühmten  Juristen  über  die  Monarchie  (s.  S.  227)  über- 
setzt wird.     Trotzdem  sei  Dantes  Stellung  zur  Kirche  die  eines  guten 

*)  Man  vergl.  dam  die  oben  (S.  233)  mitgeteilte  Angabe  des  Placcias  Illyrius  über 
den  Inhalt  der  Monarchie:  „Papam  non  esse  supra  Imperatorem  nee  habere  aliquod  jus 
in  Imperium**. 

**)  Diese  ganze  » Vorred  **   ist  ebenso  wie  die  des  Marsilio  und  des  Dante  in  Herolds 
Übersetzung  unpaginiert. 


Dante  in  der  deutschen  Litteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.     I.  241 

und  getreuen,  ja  nach  des  fanatisch  der  neuen  Lehre  dienenden  Herold 
Meinung  zu  getreuen  Katholiken,  und  er  leitet  sie  her  aus  der  Einfalt 
seiner  Zeit  im  Gegensatz  zu  dem  jetzigen  Grübeln:  „Und  wiewol 
Dantes  in  geystlichen  Sachen  Bäpstlicher  heyligkeyt  vil,  unnd  so  hochs 
zugelassen,  das  etlich  wol  vermeinen  möchten,  es  köndte  mit  heyliger 
schrifit  nit  erwisen  werden,  kan  mann  jme  dannocht  nit  verargen, 
wann  man  die  einfaltigkeit  der  selbigen  zeyten,  hept  gegen  dem 
grübeln  der  yetzigen  weit." 

Wichtiger  als  diese  Präliminarien  ist  für  uns  die  nun  folgende 
Lebensskizze  des  Dichters,  die  uns  zeigt,  wie  viel  man  in  gelehrten 
Kreisen  Deutschlands  damals  etwa  von  Dante  wissen  mochte.  Ich 
gebe  sie  deshalb  in  ziemlich  ausfuhrlichem  Auszuge.  1265  geboren, 
sei  Dante,  von  Jugend  auf  in  allen  Künsten  geübt,  im  funfunddreifsigsten 
Jahre  zum  höchsten  Amt  als  Prior  gewählt  worden:  „wol,  ehrlich, 
auffrecht,  doch  streng  und  prachtig  hielt  er  sich."  Dann  wird  be- 
richtet von  den  Parteikämpfen  der  „Schwarzen"  und  „Weifsen"  von 
Dantes  Botschaft  zu  Papst  Bonifacius  dem  VIII.,  von  seiner  Ver- 
bannung und  der  Konfiszierung  seines  Gutes.  Nun  war  der  Heimat- 
lose genötigt  „bey  dem  Herren  zu  der  Leyttern  damals  Herren  zu 
Dieterichs  Bern  sein  narung  zu  suchen.  Derwylen  auch  war  er  yetzt 
zu  Parysz,  dann  zu  Padua  auflf  den  hochen  schulen,  arbeytet,  schreyb, 
von  der  Helle,  von  Fegfewr,  von  Paradeysz*)  auch  sunst  vil  schöns 
dings."  Bei  Kaiser  Heinrichs  des  VII.  Zug  über  die  Alpen  fafst  er 
neuen  Mut,  schliefst  sich  mit  seinen  Leidensgenossen  ihm  an,  bleibt 
aber  nach  dessen  Tod  durch  Gift  „im  eilend".  Als  Papst  Clemens  (V.) 
dann  zwei  Bullen  erläfst,  darin  er  alle  Gewalt  des  Kaisertums  an  den 
römischen  Stuhl  zieht,  schreibt  Dante  „danckbar  den  Keyser,  und 
rachg^ig  über  den  Bapst"  dagegen  seine  Monarchia  im  Jahre  1333 
(sie!)  und  lebt  noch  acht  Jahre**).     Herold  erzählt  weiter,  neun  Jahre 

*)  Ganz  ähnlich  heifst  es  später  in  der  Obersetzung  der  Vorrede  des  Mars.  Ficino: 
„schreyb  er  gantz  herrlich  ding  inn  seinen  reymen,  die  vom  Paradysz,  Fegfewr  und  Hell 
sägend,  dorinn  dann  der  abgstorbnen  Staat  eigentlich  bschriben". 

**)  Somit  müfste  er  1341  gestorben  sein,  also  zwanzig  Jahre  später  als  es  in 
Wirklichkeit  geschah.  Überhaupt  ist  die  Chronologie  sehr  verwirrt:  dem  Titel  nach 
(«vor  zweihundert  dreyssig  dreyen  Jaren**)  fiele  die  Abfassung  der  Monarchia  1326,  also 
fünf  Jahre  nach  Dantes  Tod,  der  obigen  Angabe  im  Texte  nach  zwölf  Jahre  nachher. 
Nimmt  man,  was  das  wahrscheinlichste,  einen  Druckfehler  an  und  setzt  oben  statt  1333 
die  Zahl  1313  ein,  so  fällt  das  Todesjahr  mit  acht  Jahre  später  =1321  richtig.  Eine 
Differenz  aber  mit  der  aus  der  Titelangabe  herauszurechnenden  unerklärlichen  Zahl 
bleibt  immer  bestehen. 

16* 


d42  EmU  Sulger-Gebing. 


nach  Dantes  Tode  habe  der  Kardinal  Bertrand  von  Castenet  als  päpst- 
licher Legat  zu  Bononien  alle  ihm  erreichbaren  Abschriften  des  Buches 
als  eines  ketzerischen  verbrannt  „on  allen  widerstand,  dann  männigk- 
lieh  war  erhaset."  Es  folgt  ein  heftiger  Ausfall  gegen  die  „newen 
Ketzermeister**,  die  das  Büchlein  wieder  auf  den  Index  gesetzt,  und 
dann  fahrt  der  Übersetzer  fort  und  spricht  über  sein  eigenes  Werk 
das  folgende,  durchaus  zutreffende  Urteil:  „Vil  mhüe  würdt  aber  disz 
büchlein  dem  läser  machen,  das  der  schreyber  Dantes,  die  künstliche 
bewärung,  alle  mit  jren  künsdichen  benambsungen  gepraucht,  die  ich 
ins  Teütsch  do  es  ungwon  bringen  müssen.  Wo  nun  ein  läser  dorüber 
kumpt,  der  die  Lateinischen  Wörter  verstaht,  so  kan  er  das  Teutsch 
auch  wol  mörcken,  liszt  es  einer,  der  keiner  anderer  spräche  bericht, 
so  darff  er  sich  die  umbfurung  nit  verdriessen  lassen,  ist  gnüg  das 
er  auff  den  bschlufs  und  hafft  des  Buchs  vermörcke,  was  die  endtlich 
meynung  Dantis  seye."  Doch  fühlt  Herold  das  Bedürfnis,  sich  gegen 
den  etwaigen  Vorwurf,  er  habe  Unnützes  getan,  schon  im  Voraus  zu 
wahren  und  hat  darum  die  Vorrede  des  Marsilius  Ficinus  mit  über- 
setzt, „das  mann  sehe,  wie  ein  söllicher  inn  allen  künsten  erüebter 
Philosophus  sein  zeit  hieran  zu  legen,  nicht  als  versumpt  geschetzt, 
wöUicKs  urtel  disz  büchlein  hoch  gnüg  rhüemet:  dessen  sonst  Anto- 
ninus*),  Volaterranus**),  Nauclerus***)  und  and*mher  oben  anhin  mei- 
dung thund." 

Bevor  ich  näher  auf  die  Übersetzung  selbst  eingehe,  drängt  sich 
die  Frage  auf:  woher  hatte  Herold  diese  Angaben  über  Dantes  I^ben? 
Scartazzini  sagt  vorsichtig:  „PHerold  che  compendia  forse  il  Boc- 
caccio"!) und  Locellaff)  schreibt  ihm  nach:  „biographische  Notizen, 
die  wahrscheinlich  dem  Leben  Dantes  von  Boccaccio  entnommen  sind.** 
Ich  habe  die  vita  des  Boccaccio  genau  verglichen  und  bin  zum  Er- 
gebnis gekommen,  dafs  Herold  dieselbe  nicht  ausschliefslich  benutzt 
haben  kann.  Die  einzige  auffallendere  Übereinstimmung  zeigt  der  Satz : 
„von  jugent  auff  in  allen  künsten  geübt"  mit  Boccaccio  in  §  2:  „tutta 
la  sua  puerizia  con  istudio  diede  alle  liberali  arti"  f f f).     Dagegen  fehlt 

*)  Antonini,    eplscopi   Florentini    (1389 — 1459)   Summarium.    Tom.   III.    Bl.    CII. 
(Nürnberg  1484).    Vergl.  S.  192  ff. 

**)  Raphael  Volaterranus  (1450—1521)  Commentarii  urbani  Üb.  XXL  (Ausg.  von 
1603  S.  771). 

***)  D.  Johannis   Naucleri    Chronica   ab    initio    mundi  usque  ad  annum  Christi  nati 
MCCCCC.    In  der  Cölner  Ausgabe  von  1544  S.  888.    Vergl.  S.  231  f. 

t)    1.    C.   I.    II. 

tt)  1.  c  S.  4. 
fff)  In  der  Ausgabe  von  Francesco  Macri-Leone,  Firenze  x888,  S.  ii. 


Dante  in  der  deutschen  Litteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.     I.  248 

bei  dem  Deutschen  jede  Andeutung  der  Liebe  zu  Beatrice,  sowie  der 
Heirat  Dantes,  was  beides  der  italienische  Biograph  bekanntlich  sehr 
wortreich  behandelt;  von  der  wirklich  ausgeführten  Gesandtschaft  des 
Dichters  zu  Papst  Bonifaz  VIII.  dagegen,  die  Herold  berichtet,  weifs 
Boccaccio  nichts.  Die  Städte,  wo  sich  der  Verbannte  aufgehalten 
haben  soll,  sind  bei  Boccaccio  zahlreicher,  und  die  von  beiden  ge- 
nannten, stimmen  nicht  in  der  Reihenfolge  überein  (Her.:  Verona,  Paris, 
Padua ;  Bocc. :  Verona,  Padua,  Verona,  Paris).  Auch  die  Darstellung 
des  Eingreifens  Heinrichs  des  VII.  in  die  italienischen  wie  in  Dantes 
Geschicke  ist  etwas  verschieden;  die  Abfassung  der  „Monarchie"  setzt 
Herold  nach  Heinrichs  Tod  als  Antwort  auf  zwei  Bullen  Clemens 
des  V.,  Boccaccio  dagegen  in  die  Zeit  der  Ankunft  des  Kaisers  („nella 
venuta  di  Arigo  VII.  imperadore"*);  die  Verbrennung  des  Buches  als 
eines  ketzerischen  bestimmt  Herold  genau  als  „neun  jar  nach  Dantis 
Tode"  geschehen,  Boccaccio  sagt  viel  allgemeiner:  „plü  anni  dopo 
la  morte  dell'  autore**).  Im  Übrigen  ist  die  ganze  Darstellung  dieses 
Auto-da-fe's,  sowie  des  Versuches,  Dantes  Grab  in  Ravenna  zu  ver- 
letzen, ziemlich  übereinstimmend,  obgleich  der  ausfuhrende  Legat  bei 
Herold  genauer  geschildert  ist: 

Herold:  Boccaccio: 

Bertrand  von  Castenet,  der  Car-  messer  Beltrando,  cardinale  del 

dinal  Portuensis,  ein  hochtragender  Poggetto  e  legato  del  papa  nelle 

roher    freveler    Frantzose    Bäpst-  parti  di  Lombardia 

lieber  zu  Bononien  Legat  (1.  c.  S.  73.) 

und  Boccaccio  nur  von  einem  verbrannten  Exemplare,  Herold  dagegen 
von  vielen  zu  berichten  weifs: 

und   so   fleysigst   auch  wie  vil  il  detto  cardinale,  non  essendo 

er    diser   büechlein    erfaren   unnd  chi   a  cio    s'opponesse,    avuto   il 

zwegen   bringen   kundt,    liesz    er  soprascritto  libro,  quello  in  publi- 

sye   alle  alsz  ketzerisch  öffentlich  co,  siccome  cose   eretiche  conte- 

in  fewr  verprennen.  nente,  dannö  al  fuoco.              (ib.) 

Aus  all  diesen  Abweichungen  scheint  mir  als  sicher  hervorzugehen, 
dais  Herold  in  seinen  Angaben  nicht  auf  Boccaccio  allein  fufsen  kann; 
die  schwierigere  Frage,  woher  er  die  anderslautenden  Einzelheiten  in 


♦)  1.  c.  S.  72. 
•*)  1.  c.  S.  73. 


244  Emil  Sulger-Gebing. 


seiner  Darstellung  geschöpft,  weifs  ich  nicht  zu  beantworten.  Auf  das 
Eine  nur  mag  hingewiesen  werden,  dafs  die  Gesandtschaft  zu  Papst 
Bonifacio  VIII.,  die  allerdings  auch  eine  blofse  Folgerung  aus  den 
Angaben  Boccaccios  sein  könnte,  sowohl  in  der  vita  di  Dante  von 
Leonardo  Bruni  Aretino  (gest.  1444),  als  auch  in  Dino  Compagnis 
(gest.  1324)  „Cronica  delle  cose  occorrenti  ne*  tempi  suoi",  ausdrück- 
lich erwähnt  ist  (II.  XXV.).  Wenn  auch  beide  Schriften  zu  Herolds 
Zeit  noch  ungedruckt  waren,  so  ist  es  doch  nicht  ausgeschlossen,  dafs 
er,  der  sich  viel  mit  historischen  Studien  beschäftigt  hatte  und,  wie 
wir  oben  gesehen,  in  Italien  gewesen  war,  wenigstens  das  zweite  Werk 
kannte.  Am  befremdlichsten  bleibt  immer  die  Verwirrung  in  den 
Angaben  über  das  Todesjahr,  das  er  richtig  schon  bei  Trithemius,  der 
ihm,  dem  Theologen,  kaum  unbekannt  geblieben,  und  sonst  an 
mehreren  Orten  finden  konnte. 

Was  nun  Herolds  Übersetzung  selbst  betrifft,  so  ist  zuerst  zu 
bemerken,  dafs  die  Kapiteleinteilung  nur  im  grofsen  und  ganzen  mit 
der  uns  heute  geläufigen  übereinstimmt.  So  giebt  sie,  wie  das  Mar- 
silius  Ficinus,  von  dem  überhaupt  die  Einteilung  in  Bücher  und  Kapitel 
herrührt*),  schon  getan  hatte,  den  ersten  Paragraphen  jedes  Buches 
als  Vorrede  und  setzt  mit  §  2  als  Kapitel  I  ein.  Aufserdem  verschiebt 
sie  hie  und  da  die  Kapitelanfänge.  Folgende  Tabelle  macht  die  Ab- 
weichungen deutlich: 

Buch  I.     Vorrede         =  §  i,  §  2    (der   erste   Satz  bis  „et  secundum 

intentionem") 
das  erste  Kapitel     =  §  2  (ohne  den  ersten  Satz)  und  §  3 
das  dritte  Kapitel    =  §  5  u.  §  6. 
Buch  II.  Vorrede        =  §  i 

das  erste  Kapitel    =  §  2   (ohne  die    letzten   Sätze   von  „Voluntas 

quidem  Dei"  ab) 
das  zweite  Kapitel  =  §  2  Schlufs,  §  3 

das  neunte  Kapitel  =  §  10  bis  „quod  est  principale  propositmn  in 

libro  praesenti" 


*)  Vergl.  Dantis  Monarchia,  ed.  Witte,  2.  Aufl.  1874  S.  LXX.  Der  Druck  des 
Originals  von  1559  hat  keine  Kapitel,  sondern  nur  Absätze,  deren  Anfange  sich  zwar 
häufig  mit  Kapitelanfängen  decken,  die  aber  durchaus  nicht  alle  in  den  späteren  Aus- 
gaben als  Kapitel  bezeichnet  sind,  sowie  auch  diese  Kapitel  beginnen,  wo  der  erste 
Druck  weiterläuft.  Ich  benutze  zur  Vergleichung  durchweg  die  Ausgabe  von  Fraticelli 
Opere  minori  di  D.  A.    Vol.  II  5  a  ed.  Firenze  1887. 


Dante  in  der  deutschen  Litteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.    I.  346 

das  zehnte  Kapitel  =  §  10  von  „Hucusque    patet  propositum"  bis 

Schlufs. 
Buch  ni.  Vorrede      =  §  i  bis  „ab  auditione  mala  non  timebit" 
das  erste  Kapitel    =  §  i  Schlufs  u.  §.  2. 

Aufserdem  fehlen  im  dritten  Buch  die  Kapitel  6  und  10  in  Herolds 
Zählung.  Die  Anzahl  der  Kapitel  in  den  einzelnen  Büchern  stimmt 
überein  mit  Marsilio  Ficino  (Buch  I:  15;  IT:  11;  III:  16.)*) 

Der  ersten  Vorrede,    d.  h.  also  der  Übersetzung  von  lib.  I,  cap. 
I  u.  n  (teilweise,  s.  o.)  folgt  das  bekannte 

Epitaphium  Dantis,  ab  ipso  autore  factum. 
Jura  Monarchiae,  Superos,  Phlegethonta,  Lacusque 
Lustrando  cecini,  voluerunt  fata  quousque. 
Sed  quia  pars  cessit  melioribus  hospita  castris 
Authoremque  suum  petiit  foelicior  astris, 
Hie  claudor  Danthes  patriis  extorris  ab  oris 
Quem  genuit  parvi  Florentia  mater  amoris**). 

Herold  giebt  dazu  folgende  Übersetzung: 

Lebend  bschreyb  ich  das  Keyserthumb, 

Hell,  Fegfewr,  Pardisz  umb  und  umb. 
Durchzog  ich:  d'weil  mirs  Got  verhängt. 

So  nun  mein  bester  theyl  vermängt, 
Under  die  auszerwölten  Gast. 

Zu  seiner  urhab  im  himmel  vest. 
So  ligt  nun  hiC)  mein  Danthis  leyb, 

Den  neyd,  desz  Vatterlands  vertreyb. 
Den  gpar  Florentz  von  Edler  ahrt, 

Innglicher  Lieb  ein  muter  zart. 

Die  ersten  fünf  Verse    sind  schwerfallig  und    ungeschickt,    der   letzte 
dagegen  geradezu  falsch  übertragen,  wenn  man  wenigstens  nicht  eine 


•)  Witte,  1.  c.  S.  LXX. 
**)  Die  Verse  haben  lange  als  solche  Dantes  gegolten  und  sind  sogar,  nach 
Manettis  Erzählung  an  Stelle  des  längeren  Epitaphs  von  Giov.  del  Virg^lio,  auf  Dantes 
Grab  in  Ravenna  gesetzt  worden,  wo  sie  heute  noch  stehen.  Ihr  wahrer  Verfasser  ist 
Bemardo  de  Canatro  (wohl  richtiger:  da  Canaccio),  dessen  Namen  sie  in  einer  Hand- 
schrift des  XrV.  Jahrhunderts  in  der  Bibliotheca  Bodleiana  zu  Oxford  tragen  (vergl. 
Macri-Leone  1.  c.  S.  34  Anm.  2.  u.  Carlo  del  Balzo,  Poesie  di  mille  autori  intomo  a 
Dante  Alighieri.  Roma  1 889  ff.  Bd.  n.  S.  72  ff.).  Del  Balzo  weist  aus  einem  Sonetten- 
wechsel Bemardo  da  Canaccios  mit  Minghino  Mezzani  die  Entstehung  der  Grabschrift 
zwischen  1346  und  1347  nach. 


246 


Emil  Sulger-Gebing. 


plötzliche  Wendung   zum   Ironischen    annehmen   will,    was   mir   dem 
klaren  Text  gegenüber  kaum  glaubhaft  scheint. 

.  Man  wird  Herold  nachrühmen  müssen,  dafs  er  sich  grofser  Treue 
gegen  sein  Original  befieifsigt.  Doch  laufen  gar  manche  Mifs Ver- 
ständnisse unter,  und  vor  allem  ist  er  oft  so  schwerfallig  und  breit, 
dafs  ein  Verständnis  ohne  Zuhilfenahme  des  Grundtextes  kaum  möglich 
ist.  Schon  Marsilio  Ficino  hatte  Dantes  knappes  Latein  in  seiner 
italienischen  Version  oft  verbreitert,  aber  der  Deutsche  geht  überall 
noch  einen  Schritt  weiter.  Ich  gebe  einige  Stichproben  aus  dem 
ersten  und  dritten  Buche: 


Dante. 

qui  ab  Aristotele  felicitatem 
ostensam  reostendere  conaretur? 
qui  senectutem  a  Cicerone  defen- 
sam  resumeret  defensandam?  I.  i. 


velut  Mathematica,  Physica  et 
Divina.  I.  3. 

(Mars.  Fic:  come  sono  le  cose 
di  Aritmetica  e  Geometria  e  natu- 
rali  e  logiche  e  divine) 


Cujus  quidem  veritas  quia  sine 
rubore  aliquorum  emergere  nequit, 
forsitan  alicujus  indignationis  causa 
in  me  erit.  HI.  i. 


Dante. 

Nee  mirum,  cum  jam  audiverim 
quemdam  de  illis  dicentem  et  pro- 
caciter  asserentem,  traditiones 
Ecclesiae  fidei  esse  fundamentum. 

ni.  3. 


Herold. 

so  einer  die  Säligkeit  wölt  er- 
örteren, die  Aristoteles  vorlangst 
so  wol  auszgestrichen.  Oder  so 
er  wölte  das  Alter  rhüemen  und 
auffmutzen  das  Cicero  verloffner 
langer  jaren  vor  uns  gethon  hatt. 

Vorred. 

Als  da  ist  die  kunst  desz  Erd- 
messens, Gsangs,  Rechnens,  und 
Gstimschauwens,  unnd  desselben 
gleichen,  auch  natürliche  künsten, 
und  was  der  vernunfft  nach  von 
Göttlichen  sachen  zu  reden. 

(s.  3) 

unnd  umb  dessen  willen,  das 
man  dise  dritt  warheyt,  on  schäm 
etlicher  nit  wol  erörteren  mag, 
unnd  jrer  unwürse,  darab  sich  zA 
besorgen,  so  darfF  ich  wol  vil 
hauen  erdantzen,  ja  mehr  etwa  Un- 
gunst erjagen.  (S.  131.) 

Herold. 

noch  darff  man  sich  sollicher 
Jünglingen  nit  verwundem,  dann 
ich  Dantes  hab  selbs  von  jro  eynem 
gehört,  dz  er  unverschämpter  weisz 
kainblatt  für  dem  mund  genommen, 


Dante  in  der  deutschen  Litteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.     I. 


247 


schwören  dorfft,  die  Decret  und 
solliche  Satzungen  der  kirchen 
wären  eyn  grundtvestin  Christliches 
glaubens.  (S.  140.) 

Recht  ordentlich  sind  im  ganzen  die  von  Dante  häufig  citierten 
Verse  übersetzt,  obschon  auch  sie  unter  ähnlicher  Dehnung  und  Ver- 
wässerung  öfters  zu  leiden  haben.  Ich  gebe  zwei  Proben,  deren  erste 
einen  fast  strengen  Anschlufs  an  ihr  Vorbild  zeigt,  während  die  zweite 
sich  in  gar  behaglicher  Breite  gehen  läfst: 


O  felix  hominum  genus 
Si  vestros  animos  amor 
Quo  caelum  regitur,  regit. 

(Boetius.)    I.  !!• 


Jam  redit  et  Virgo,  redeunt 
Saturnia  regna. 

(Virgü.)     I.  12. 


O  wie  wol  menschlichs  gschlecht 

war  dir 
So  ewre  gmüter  für  und  für: 
Bherrschte  die  lieb:  die  immerdar 
Desz  Himmels  kreysz  beherrschet 

gar.         (S.  25.) 

Astrea  die  Jungfraw  die  ist 
Widerkommen  zu  diser  frist 

Wie  zär  zeit  Saturni  imm  land 
Eyn  guldin  Reich  ist  uns  vorband. 

(S.  27.) 

Von  mifs verständlich  übersetzten  Stellen  sei  noch  beigefügt: 

Dante.  Herold. 

Conclusit  ora  leonum.  Den  löuwen  hab  ich  die  meüler 

III.  I.         verstopfft.  (S.  130.) 

Unverständlich  mufsten  auch  für  den  Leser  des  XVI.  Jahrhunderts 
die  Sätze  werden,  in  denen  Herold  das  lateinische  principium  mit 
„Anfang"  wiedergab,  da  das  Fremdwort  Prinzip  ihm  noch  nicht 
geläufig  war.    So  z.  B. 


Verum  quia  omnis  veritas,  quae 
non  est  principium  ex  veritate 
alicujus  principii  fit  manifesta. 

I.  2. 

und  ebenso: 

Nam  sine  praefixo  principio 
etiam  vera  dicendo  laborare  quid 
prodest?  IE.  2. 


Nun  seittenmal  eyn  jede  warheyt, 
die  an  jhr  selbs  keyn  anfang  ist, 
dannocht  erwiesen  wirt,  ausz  der 
warheyt  etwann  eynes  anfangs. 

(S.  2.) 

Dann  on  eyn  furgestreckten  an- 
fang, hilfits  nit,  ob  man  gleich 
grosse  mü  anlegte,  die  warheyt 
zä  sagen.  (S.  136.) 


248  Emil  Sulgrer-Gebing. 


Zu  diesen  zwei  letzten  liefse  sich  noch  eine  ganze  Anzahl  Parallel- 
stellen anfuhren,  wo  in  gleicher  Weise  statt  Prinzip  „Anfang"  steht 
Dafs  etwa  einmal  unbedeutende  Mittelglieder  vom  Übersetzer  fort- 
gelassen werden,  mag  noch  erwähnt  werden;  von  ganzen  Sätzen  habe 
ich  nur  den  einen  III,  4:  nonnullum  vero  rationis  Judicium  habere  ni" 
tuntur  —  völlig  unübersetzt  gefunden. 

Die  wenigen  Beispiele  mögen  immerhin  genügen,  mein  oben  aus- 
gesprochenes  Urteil  über  Herolds  Übersetzung  zu  begründen,  ein 
Urteil,  das  viel  strenger  und  abfalliger  ausfallen  müfste,  wenn  wir  nicht 
in  Betracht  zögen,  dafs  er  als  Erster  die  Aufgabe  bewältigte,  deren 
Schwierigkeiten  zweifelsohne  ungewöhnlich  grofs  waren. 

Wenigstens  genannt  werden  mufs  hier  eine  anonyme  Schrift,  die 
1586  laut  dem  Titelblatt  in  München  bei  Johannes  Schwarz,  in  Wirk- 
lichkeit aber  wahrscheinlich  in  Genf  gedruckt  ist,  das  „Avviso  pia- 
cevole  dato  alla  bella  Italia  da  un  nobil  Giovane  Francese  sopra  la 
mentita  data  dal  Serenissimo  re  di  Navarra  a  papa  Sisto  V".  Das 
Buch  ist  überaus  selten*)  und  war  mir  daher  nicht  zugänglich.  Laut 
Scartazzini  (I.  13)  und  Locella  (S.  5)  „versucht  der  Verfesser,  mit  der 
Autorität  Dantes,  Petrarcas  und  Boccaccios  zu  beweisen,  dafs  der 
römische  Papst  der  Antichrist  und  Rom  das  Babylon  der  Apokalypse 
sei".  Als  Verfasser  glaubt  man  den  Franzosen  Fran9ois  Perrot, 
Seigneur  de  Mezieres,  ansetzen  zu  dürfen.  Es  gehört  also  nur  des 
wahrscheinlich  erst  noch  fingierten  Druckortes  willen  in  diesen  Zu- 
sammenhang. 

Nicht  ausschliefslich,  wohl  aber  in  erster  Linie  beschäftigt  sich 
mit  der  Monarchia  ein  gelehrter  Jurist,  der  pfalzgräflich  zweybrückische 
Rat  Johannes  Wolfius  (1537 — 1600)  in  seinem  dickleibigen,  un- 
endliche Gelehrsamkeit  zusammentragenden  Werke:  „Lectionum 
memorabilium  et  reconditarum  Centenarii  XVI",  Lauingae  1600,  einer 
Jahr  für  Jahr  Alles  merkwürdige  und  wissenswerte  verzeichnenden 
Chronik.  Er  berichtet  (Bd.  I,  S.  öiiflf.)  zum  Jahre  1321  in  ausfuhr- 
lichster Weise  über  Dantes  Monarchia,  deren  Beweisfiihrung  er  in  allen 
Hauptpunkten  wiedergiebt,  und  schliefst  mit  der  Anerkennung  des 
Mutes,  dessen  es  zu  jener  Zeit  bedurft  habe,  um  so  gefahrliche  Dinge 
auszusprechen  bei  der  grofsen  Macht  des  Papstes.  Dieser  Auseinander- 
setzung  über   die  politische  Schrift   fiigt    er   zunächst   in  wörtUchem 


*)  De  Batines    (Bibliog^aphia   dantesca  I.   500)    kennt    in    ganz   Italien    nur    ein 
einziges  in  der  Bibliothek  des  Collegio  Romano  zu  Rom  befindliches  Exemplar. 


Dante  in  der  deutschen  Litteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.    I.  249 

Abdruck  die  Sätze  des  Flacdus  Illyricus:  „Scripsit  etiam  hie  Dantes 
vulgari  Italico  sennone  non  pauca  u.  s.  w.  bis  aequat  conjugium 
coelibatui"  (s.  o.  S.  201)  bei  und  fahrt  dann  fort:  Adjidemus  aliquot 
ejus  dicta  ulterioris  fidei  et  perspicacitatis  gratia.  Als  solche  giebt 
er  einen  längeren  Passus  aus  der  Monarchie  III,  3  (allerdings  nicht 
durchweg  mit  dem  Text  der  Ausgabe  von  1559  ganz  übereinstimmend) 
und  mehrere  Fragmente  der  Commedia  in  lateinischer,  Zeile  für  Zeile 
getreu  wiedergebender  Prosa-Ubersetzung,  nämlich  Par.  IX,  126 — 142, 
XVin,  127 — 136  und  XXIX,  88 — 126.  Wir  finden  also  hier  zum  ersten 
Male  auf  deutschem  Boden  Fragmente  des  gewaltigen  Gedichtes, 
allerdings  nicht  in  seiner  Urform,  sondern  in  lateinischer,  prosaischer 
Interlinearübertragung  abgedruckt  Ganz  sicher  zu  bestimmen,  von 
wem  diese  herrührt,  vermag  ich  nicht;  am  wahrscheinlichsten  erscheint 
mir,  dafs  sich  Wolf  selbst  die  Stellen,  die  ihm  als  die  treffendsten 
erschienen,  in  die  Sprache  sdner  Chronik  übersetzt  habe.  Allerdings 
gab  es  mehrere  ältere  lateinische  Versionen  aus  dem  XV.  Jahrhundert, 
so  von  Paolo  Veneto  Eremitano  (mit  Familiennamen  Nicoletti,  gest. 
1428),  von  dnem  Karmelitaner  Riccardo,  von  Andrea  Napolitano,  von 
dem  Rechtsgdehrten  Guiniforte  Bargigi  aus  Bergamo  (um  1432), 
endlich  von  dem  Venezianer  Matteo  Ronto  (gest.  1443)*).  -^^  diese 
sind  mir,  da  sie  nur  handschriftlich  erhalten  sind  und  zu  den  Selten- 
hdten  italienischer  Bibliotheken  gehören,  nicht  zugänglich,  doch  ist 
wohl  für  alle,  zweifelsohne  für  die  Mehrzahl  eine  Wiedergabe  in 
rhythmischer  Form  anzunehmen,  in  Hexametern  ist  die  von  Matteo 
Ronto  verfafst**).  Was  den  Inhalt  betrifft,  so  giebt  Wolfius  aus- 
schliefslich  solche  Abschnitte,  die  sich  gegen  den  Papst  und  die 
katholischen  Priester,  d.  h.  gegen  deren  nicht  der  Schrift  gemäises 
Leben,  und  gegen  die  Verfälschung  der  Lehren  des  Evangdiums 
wenden.  Noch  fugt  er  ohne  nähere  Angabe  eine  Prosastelle  ähnlichen 
Inhaltes  bei  gegen  die,  qui  zdatores  fidei  Christianae  se  dicunt  (sie 
steht  im  II.  Buch  der  Monarchia  gegen  den  Schlufs  des  zehnten 
Kapitels)  und  schliefst  endlich  mit  einem  Hinweis  auf  Purgatorio  XXXII: 
Idem  in  Cant.  32  ait,  Papam  esse  meretricem  Babyloniam.  Tribuit 
deinde  ejus  ministris,  id  est  Episcopis  bicornia  capita,  quibusdam 
quatuor,  quibusdam  unum  comu,  qui  sunt  Patriarchae:  ipsi  vero 
meretrici   instar   cujusdam  arcis.  —  Dante  (1.  c.  148 — 150)  sagt   nun 


♦)  Negri,  istoria  degli  scrittori  fiorentini.     Ferrara  173a,  S.  143. 
*♦)  De  Batines,  1.  c.  L  237. 


250  Emil  Sulger-Gebing. 


allerdings  nicht  direkt,  der  Papst  sei  die  babylonische  Hure,  wohl  aber 
ist  die  „puttana^  der  Vision  im  irdischen  Paradiese  von  allen  Kommen- 
tatoren als  Symbol  des  verdorbenen  Papsttums  gefafst  worden,  und 
schon  der  älteste  aller  Erklärer,  Jacopo  della  Lana,  dessen  Werk 
zwischen  1321  und  1328  entstanden  ist,  sagt:  Per  la  puttana  intende 
lo  sommo  pastore  cioe  il  papa,  lo  quäle  dee  reggere  la  Chiesa*). 
Auch  Bemardino  Daniello,  den  Wolf,  wie  wir  gleich  sehen  werden, 
benutzt  hat,  fafst  die  Hure  als  Abbild  des  Papstes  und  zwar  ganz 
direkt  als  des  auch  sonst  von  Dante  so  schwer  getadelten  Bonifaz  des  VUL, 
der  durch  Kauf  und  Bestechung  die  höchste  Würde  sich  erworben 
hatte.  Auf  falscher  Auslegung  ruht  dagegen  der  folgende  Satz  Wolfs. 
Die  Stelle  bei  Dante  heifst  (Purg.  XXXII,  142—147): 

Trasformato  cosi  il  dificio  santo 

Mise  fuor  teste  per  le  parti  sue, 

Tre  sovra  il  temo  ed  una  in  ciascun  canto. 
Le  prime  eran  cornute  come  bue; 

Ma  le  quattro  un  sol  corno  avean  per  fronte. 

Simile  mostro  visto  ancor  non  fue. 
D.  h.  nach  der  Umwandlung  des  Wagens  erschienen  sieben  Köpfe, 
drei  an  der  Deichsel  und  vier  an  den  vier  Ecken,  wovon  die  ersteren 
wie  Ochsen  gehörnt  waren,  die  letzteren  aber  nur  je  ein  Hörn  auf 
der  Stirne  hatten.  Von  vierfach  gehörnten,  wie  Wolfius  meint,  steht 
nichts  da,  und  auch  die  Erklärung,  die  er  giebt,  erscheint  imzulässig. 
Die  meisten  älteren  und  neueren  Erklärer,  Jacopo  della  Lana  an  der 
Spitze,  sehen  in  den  sieben  Häuptern,  gewife  mit  Recht,  die  sieben 
Todsünden,  andere  deuten  sie  als  die  sieben  Sakramente.  Wolfius 
dagegen  folgt  der  ziemlich  alleinstehenden  Deutung  des  Bernardino 
Daniello  von  Lucca  (1509 — 1568).  Dieser**)  sieht  nämlich  in  den  sieben 
Köpfen  die  sieben  Wähler  des  Papstes,  also  die  frühesten  Kardinäle, 
von  welchen  drei  Bischöfe  waren  und  als  solche  eine  Mitra  mit  zwei 
Hörnern  („cornute  come  bue")  trugen,  die  andern  vier  aber  nur 
Priester  waren:  diese  sind  als  einhörnige  bezeichnet,  weil  sie  nur  eine 
Würde  haben  im  Gegensatze  zu  den  Bischöfen,  die  deren  zwei  in  sich 
vereinen.  Es  ist  aber  durchaus  unwahrscheinlich,  dafs  Dante  in  der 
ehrwürdigen  Institution  der  Kardinäle  einen  Verderb  der  Kirche  ge- 
sehen haben  sollte,  und  doch  ist  im  Zusammenhang  klar,  dafs  die 
schauderhaften  Köpfe  den  früher  triumphierenden  Wagen  der  Kirche 


*)  Scartazrinis  Ausg.  der  Div.  Com.  Bd.  11  (Leipzig  1875)  S.  764. 
**)  Dante  con  Tesposizione  di  M.  Bern  ardino  Daniello  da  Lucca.   Ven.  1568,  S.  47a. 


Dante  in  der  deutschen  Litteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.     I.  851 

nun  in  seiner  Entstellung  kennzeichnen  sollen,  in  der  Entstellung,  die 
dadurch  vollendet  wird,  dafs  die  Hure  mit  dem  Riesen  ihren  Platz 
darauf  erhält. 

Aus  dem  Gesagften  erhellt  deutlich,  dafs  Wolfius  nicht  nur  die 
Monarchia  genau  kannte,  sondern  auch  mit  der  Commedia  und  einem, 
vielleicht  sogar  verschiedenen  ihrer  Kommentatoren,  nicht  nur  ober- 
flächlich bekannt  war.  Alles  aber,  was  er  von  jener  sag^  und  von 
dieser  und  jener  direkt  anfuhrt,  zeigt  auch  ihn  als  einseitigen  Ver- 
ehrer des  Dichters,  insofern  dieser  als  Gegner  des  Papstes  und  der 
katholischen  Geistlichkeit  auftritt.  Ihm  auch  nach  andern  Seiten  hin 
gerecht  zu  werden,  dazu  macht  Wolfius  nicht  einmal  einen  Versuch. 
Zum  Schlüsse  dieses  Abschnittes  mögen  noch  zwei  Zeugnisse 
deutscher  Gelehrter,  die  sich  lateinisch  über  Dante  als  Häretiker  und 
Papstgegner  äufsern,  angereiht  werden,  obschon  sie  beide  erst,  und 
das  eine  recht  spät,  ins  folgende  Jahrhundert  fallen. 

Matthias  Bernegger  (geb.  1582  zu  Hallstadt,  Prof.  der  Ge- 
schichte und  der  Beredsamkeit  zu  Strafsburg,  gest.  daselbst  1640) 
schrieb  161 9  eine  Widerlegung  der  Legende,  laut  welcher  das  Haus 
der  Maria  durch  ein  Wunder  aus  dem  Orient  nach  Loretto  soll  ge- 
bracht worden  sein,  unter  dem  Titel  „Hypobolymeae  Divae  Mariae 
Deiparae  Camera  seu  Idolum  Lauretanum^  (Argentorati  161 9).  Einer 
seiner  Gegenbeweise  gegen  das  Mirakel  besteht  darin,  dafs  er  ausfuhrt, 
keiner  der  zur  angeblichen  Zeit  desselben  lebenden  Autoren  wisse 
etwas  davon,  und  der  erste  derer,  die  er  da  nennt,  ist  (S.  116)  „Dantes 
Aligerius  natus  Anno  1260  mortuus  1321."  Und  doch  hätte  gerade 
er  es  wohl  erwähnen  können:  Ac  Dantes  quidem  plurimis  carminibus 
Italicis  de  Paradiso,  de  Purgatorio,  de  Inferno  scripsit  quae  sane  theo- 
logicae  non  amatoriae  sunt  materiae,  quibus  opportune  potuisset  ali- 
quid inserere  de  Angelis,  qui,  cum  alioqui  sint  invisibiles  tunc  tamen 
visi  fuerint,  Ecclesiam  per  tam  long^  itinera  terrestria  maritimaque 
bajulantes  (S.  120).  Und  an  einer  dritten  Stelle  desselben  Kapitels 
(S.  1 23)  nimmt  er  den  Florentiner  Dichter  geradezu  als  Vorläufer  des 
Protestantismus  in  Anspruch  und  beweist  mit  der  Monarchie,  dafs  er 
unter  die  Ketzer  gehöre:  Ac  initio  Dantes  magna  ex  parte  agnovit 
eam  ipsam  veritatem  quam  nos  profitemur:  et  nidum  Papae, 
Romam  una  nobiscum  putavit  Babylonem  ipsissimam  esse,  cujus  in 
Apocalypse  meminit  Evangelista.  Nee  id  modo  sensit,  sed  disser- 
tissime  Imperium  ab  Ecclesia  non  pendere,  quin  omnibus  ecclesüs  Im- 
peratorem    praeesse,    etiam    Romanae   statuit:  quod  dogma  Marsilius 


252  Emil  Sulger-Gebingr. 


Patavinus,  eodem  tempore  in  eo  libro  cui  titulus  „defensor  pacis" 
diligentissime  confirmat*).  Neque  hoc  Dantes  afifirmavit  obiter^  sed 
edito  libro  cui  titulum  fecit  „Monarchia"  cujus  meminit  Bartolus  (folgt 
die  Angabe  der  Stelle)  ubi  addit,  Dantem  ipsum  propter  eum  librum 
fiiisse  post  mortem  pro  haeretico  condemnatum.  Quin  edam  Archiepis- 
copus  Mediolanensis  in  catalogo  haereticorum  ejusdem  libri  meminit 
et  prohibet  ne  quis  eum  legat.  —  Mit  diesem  Mailänder  Erzbischof 
kann  nur  Job.  Angelus  Arcimbold  (gest.  1555)  gemeint  sein,  dem  ein 
1554  erschienener,  anonymer  Ketzerkatalog  zugeschrieben  wurde. 
Das  falsche  Geburtsjahr,  1260  statt  1265,  das  auch  bei  dem  gleich 
zu  besprechenden,  von  Bemegger  abhängigen  Olearius  wiederkehrt, 
geht  auf  zwei  der  ältesten  Biographen  Dantes  zurück,  nämlich  auf 
Bernardino  Daniello  (s.  S.  248)  und  auf  Cristoforo  Landino,  dessen 
Comento  sopra  la  Commedia  schon  1481  in  Florenz  erschien.  Die 
Stelle,  dafs  Dante  Rom  als  Babylon  bezeichne,  beruht  wohl  auf  einer 
Weiterfuhrung  der  oben  (S.  249)  besprpchenen  des  Wolfius,  während 
die  Angaben  über  die  Monarchie,  falls  er  dieselbe  nicht  selbst  in  der 
Originalausgabe  oder  in  Herolds  Übersetzung  kannte,  dem  gleichen 
Werke  und  dem  genannten  Ketzerkatalog  entnommen  sein  dürften. 

Auf  Matthias  Bernegger  fufst  der  Hallische  Theologe  Joh.  Gott- 
fried Olearius  (1635 — ^7'0  ^  seinem  1673  zu  Jena  erschienenen 
„Abacus  Patrologicus  sive  Ecclesiae  Christianae  Patrum  atque  Doc- 
torum  alphabetica  Enumeratio"*  Auch  er  nennt  (S.  129)  das  Geburts- 
jahr falsch  mit  1260,  giebt  Dante  das  Prädikat  „eniditione  omnibus 
carissimus"  und  sagt  von  ihm  mit  Anfuhrung  Bemeggers  als  seines 
Zeugen:  veritatem  magna  ex  parte  agnoscens  regni  Papistici  fraudes 
non  ignoravit.  Dann  geht  er,  indem  er  Bartolus  und  Raphael 
Volaterranus**)  dtiert,  auf  die  Monarchia  ein,  deren  wegen  Dante 
als  Ketzer  verdammt  worden  sei,  nennt  die  Basler  Ausgabe  von  1559 
und  die  OfFenbacher  von  1610,  und  wendet  sich  gegen  die  von 
Oporinus  gemachte  Unterscheidung  zwischen  dem  Dichter  der  Commedia 
und  dem  Verfasser  der  Monarchia  (s.  S.  236  f.):  „An  et  cur  hie  Dantes, 
Monarchiae  scriptor  a  Comoediarum  et  Poematum***)  de  Purgatorio 


*)  Marsilius  Patavinus  starb  1338.    Der  erste  Druck  des  defensor  pads  erschien 
In  Basel  1522. 

^*)  Raph.  Volaterranus  (1450 — 1521)   widmet  im  XXI.    Buch   seiner   Commentaril 
urbani  Dante  einen  längeren  Abschnitt.     Ausgabe  von  1603  S.  770  u.  771. 

***)  Die  aus  Unkenntnis  des  Werkes  selbst  entstandene  Unterscheidung  des  Über 
Comoediarum  und  der  Commedia  als  zweier  Werke  findet  sich  häufig  in  älterer  Zelt,  so 
auch  bei  Boissard,  aus  dem  Olearius  schöpft. 


Dante  in  der  deutschen  Litteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.     I.  253 

Inferno,  Paradiso  confectorum  autore  sit  dlsting^endus,  uti  quidem 
suadere  conatus  Oporinus  praef.  1.  c.  (nämlich  der  Basler  Ausgabe 
von  1559)  nuUa  urget  necessitas:  Imo  unius  ejusdem  ista  omnia  esse, 
dare  docet  ejus  sepulcri,  quod  Ravennae  visitur,  marmor  et  epita- 
phium,  quod  cum  aliis  lectu  circa  eundem  dignis  exhibet  Job.  Jac. 
Boissardus  Tom.  I.  icon.  illustr.  p.  76*)  adde  Volaterranus  1.  c.  Paul. 
Jovü  elog.  Doct.  c.  4.  p.  17****).  —  Der,  wie  wir  sehen,  durchaus  un- 
selbständige und  nur  objektiv  referierende  Bernegger  ist  der  letzte,  der 
Dante  ausschlieislich  von  dieser  Seite  als  Gegner  des  Papstes  auffafst 
und  infolgedessen  in  der  Monarchia  sein  Hauptwerk  erblickt. 

München. 


*)  J.  J.  Boissard  (1538—  1602)  icones  quinquaginta  virorum  illustrium.  Francoforti 

1597—1599.  I.  73  ff. 

**)  Paolo  Giovio  (1481—1552)  elogia  veris  clarorum  virorum  imaginibus  apposita. 
Yen.   1546.  S.  6  f. 


~—~ 


VERMISCHTES. 


Zwei  Schwanke   des  Hans  Sachs  und  ihre  Quellen. 


Von 
A.  Ludwig  Stiefel. 


L    Der  Müller  mit  der  Katze. 

In  meiner  Abhandlung  »Über  die  Quellen  der  Fabeln,  Märchen  und 
Schwanke  des  H.  Sachs«  in  den  von  mir  herausgegebenen«  Hans 
Sachs-Forschungen«  (S.  157)  habe  ich  bezüglich  der  Quelle  des 
Meistergesangs  des  H.  Sachs  »Der  müller  mit  der  katzen«  nur 
auf  die  199.  Novelle  des  Franco  Sacchetti  verweisen  können,  die 
inhaltlich  mit  jenem  Meistergesang  so  ziemlich  übereinstimmt  Ich 
sprach  dort  die  Vermutung  aus,  dafs  Sachs  eine  deutsche  Quelle  be- 
nutzt haben  werde,  die  ihrerseits  gleich  der  italienischen  Novelle  in 
letzter  Linie  auf  ein  altfranzösisches  Fabliau  zurückgehe.  Ich  habe 
seitdem  eine  Version  entdeckt,  die  unserem  Meister  sowohl  zeitlich, 
als  dem  Inhalt  nach,  noch  näher  steht.  Es  ist  dies  eine  Erzählung  im 
zweiten  Bande  der  »Convivales  Sermones«  (S.  182  der  Ausg.  Basel 
1554)  des  Johannes  Gast,  betitelt  „De  molitoris  astutia".  Ein  Abdruck 
derselben  scheint  mir  aus  verschiedenen  Gründen  gerechtfertigt: 

„Molitor  callidus  rufticum,  ä  quo  optima  ad  molendum  frumenta 
acceperat,  allocutus  ijs  uerbis:  Optime  uicine,  frumentum  tuum  modica 
grana  fedufis  paleis  habet,  idque  tibi  praedico,  ne  tandem  me 
furti  accufes;  obfecro  itaque  te,  accede  molendinam  &  adiunge  te 
mihi  focium,  &  oculis  fubijciam  tuis,  me  uerum  dicere.  Aflentitur 
uicinus,  ac  uadit  cum  eo.  Mox  feruo  mandat  molitor  ut  frumentum 
uicini  ipfo  uidente,  faccum  agnofcente,  effundat  ad  molendum.  Seruus 
quod  iufTus  erat,  fine  mora  facit.  Molitor  autem  ut  fraudem  tegere 
poffet,  felem  ad  fe  uocat,  quae  mox  accurrit.  Veni  obfecro,  inquit 
molitor,  fidelis  uicine,  oftendam  tibi  mirabile  quiddam  in  ista  feie. 
Nouit  enim  eg^egie  pifcari.  Subfequitur  uicinus  cum  feruo  (ut  omnis 
furti  fufpicio   abiit)  molitorem  &  ad  fluuiolum  aedes   praeterlabentem 


2wei  Schwanke  des  Itans  Sachs  und  ihre  Quellen.  ib6 

uentum  eft,  felis  projicitur  in  fluuiolum.  Molitor  inclamat:  Adfer 
pifcem  magnum,  rape  quicquid  inueneris  &  delicatior  hac  coena  uiues. 
Cum  hunc  damorem  audiflet  uxor,  aduolat  ac  frumentum  furatur. 
Nam  hoc  fignum  erat  uxori  datum.  Verum  cattus  nuUum  pifcem 
cepit.  Molitor  contuens  uicinum:  Mirum,  quod  tam  aftuta  felis  nunc 
temporis  comprehendere  nihil  potuerit,  fortafsis  tu  in  culpa  es,  hactenus 
enim  multis  pifcibus  me  locupletauit.  Reuertuntur  in  molendinam. 
Vicinus  frumentum  fuum  coUigit,  modio  metitur,  ac  parum  frumenti 
inueDit.  Sane  admirari  fatis  non  potuit  propter  raritatem  granorum, 
dicens:  Profecto,  6  uicine,  tibi  hoc  si  dixifles,  non  credidiffem,  sed 
iam,  quod  oculis  meis  uidi,  non  pofTum  negare.  Sicque  elufus  est 
rusticus  uafride  molitoris". 

Einzelne  Abweichungen  von  der  Fabel  des  Sachs  ergeben  sich 
allerdings,  aber  sie  sind  nicht  gröfser  und  nicht  zahlreicher,  als  sie 
der  Nürnberger  anderen  Quellen  gegenüber  aufweifst.  Man  könnte 
also  die  vielverbreitete  Kompilation  ohne  weiteres  als  die  direkte 
Vorlage  des  Meisters  ansehen,  wenn  nicht  eine  chronologische  Schwierig- 
keit im  Wege  stünde:  Der  Meistergesang  ist  vom  25.  Juli  1545  datiert 
und  der  II.  Band  der  Convivales  Sermones  erschien  erst  1 548.  Dafs 
der  gelehrte  Gast  den  Meistergesang  des  Nürnberger  Schuhmachers 
etwa  gekannt  und  nachgeahmt  habe,  ist  wohl  nicht  anzunehmen. 
Aber  Gast  erfand  nichts  selber,  seine  Erzählungen  sind  gröfsten- 
teils  Excerpte  aus  älteren  Werken.  Soweit  ich  ihn  mit  seinen 
Quellen  vergleichen  konnte,  benutzte  er  sie  fast  immer  wörtlich. 
Und  so  darf  man  wohl  die  Vermutung  aussprechen,  dafs  die  oben 
abgedruckte  lateinische  Erzählung  dem  Sachs  entweder  aus  Gasts 
eigener  Vorlage  oder  durch  eine  mündliche  Nacherzählung  derselben 
bekannt  worden  war.  Welche  von  diesen  beiden  Annahmen  mehr 
für  sich  habe,  läfst  sich  an  dieser  Stelle  nicht  entscheiden.  Denn  die 
Frage,  ob  Sachs  so  viel  Latein  verstand,  um  einen  in  dieser  Sprache 
geschriebenen  Schwank  lesen  zu  können,  läfst  sich  vorerst  weder 
verneinen  noch  bejahen.  Es  giebt  wohl  einige  lateinische  Schriften, 
von  denen  deutsche  Übersetzungen  fehlen  und  die  Sachs  gleichwohl 
benutzt  zu  haben  scheint,  allein  wenn  keine  Übersetzungen  mehr  vor- 
handen sind,  so  konnten  doch  einmal  welche  vorhanden  gewesen 
sein.  Und  anderseits  hatte  Sachs  gewifs  Verkehr  mit  Leuten,  die 
mehr  Latein  als  er  verstanden  und  aus  deren  Munde  der  wifsbegierige 
Meister  gar  manchen  Witz,  gar  manchen  Schwank  vernommen  haben 
mochte.  Kurz,  wir  kommen  vorläufig  über  die  Hypothese  nicht 
hinaus. 

IL    Des  Schäfers  Wahrzeichen. 

Dieser  Schwank  findet  sich,  wie  ich  in  meiner  oben  erwähnten 
Arbeit  (S.  189)  gezeigt  habe,  bereits  in  den  Facetien  des  Piovano 
Arlotto.  (Ausg.  Ven.  1516:  Sign.  L  4a),  Obwohl  ich  es  für  möglich 
hielt,  dafs  H.  Sachs  den  italienischen  Schwank  mittelbar  kannte,  so 
sprach  ich  doch  die  Vermutung  (1.  c.)    aus,    dafs    er  auch    den  StoflF 

ZUchr.  f.  vgl.  Litt.-Ge«ch.    N.  F.    VlII.  17 


256  A.  Ludwig  Stiefel.  4, 

auf  irgend  eine  andere  Weise  kennen  gelernt  haben  konnte.  Idi 
sagte  dort  unter  anderem:  ^ich  glaube  mich  zu  erinnern,  eine  Sltere 
deutsche  Version  irgendwo  gelesen  zu  haben,  die  H.  Sachs  näher 
stand  als  der  italienische  Schwank^.  Inzwischen  habe  ich,  zwar  nicht 
diese  deutsche,  aber  eine  lateinische  Darstellung  der  Fabel  gefunden, 
die  Sachs  in  mancher  Hinsicht  näher  kommt  als  Arlotto,  ohne  indes 
ganz  mit  ihm  übereinzustimmen.  Sie  findet  sich  in  den  bereits  1538 
gedruckten  »Fabulae  Aesopicae«  des  Joachim  Camerarius.  Mir  liegt 
die  unten*)  beschriebene  Ausgabe  vor,  in  welcher  unsere  Erzählung 
als  die  408.  Fabula  auf  Sign.  V3  unter  dem  Titel  „Pastoris 
Memoria"  zu  finden  ist.     Ich  gebe  sie  hier  ganz  wieder: 

Profecturum  uillae  cuiufdam  dominum  in  urbem  opulentam  longius, 
negotiorum  fuorum  gratia,  orabat  uxor,  monile  fibi  ut  aureolum 
afFeret.  Orabat  filia,  ut  ueftem  apportaret,  etiam  ancillulae,  ut  reticula 
emeret.  Tum  pastor  accedit,  numosque  in  crumenula  tradit  hero, 
&  ut  fistulam  fibi  mercetur  rogat.  Rebus  perfectis,  quas  ob  res  in 
urbem  illam  uentum  erat,  cum  reditum  ifte  ad  fuos  appararet,  dum 
farcinas  infpicit,  forte  crumenulam  acceptam  a  pastore  reperit.  Ibi  , 
recordatus  petitionis  huius,  fistulam  emit,  &  pastori  paulo  post  { 
reuersus  domum  eam  dari  iubet.  Vxor  igitur  &  filia  in  primis,  fed 
&  ancillulae  fperare  atque  pofcere  fua.  Cum  uero  diceret  hic^  fibi 
excidiiTe  quid  quaeque  uoluifTet  curari  fibi,  &  omnino  illarum  emptionum 
oblitum  fuifie,  indignari  mulieres  &  molefte  ferre,  pastoris  mandata 
potiora  eum  habuifle  fuis.  Tum  paterfamilias:  Nolite  mirari  neque 
irafci,  inquit,  Pastoris  enim  meinoria  me  in  crumenula  profecuta  fuit. 

Fabula  docet,  gratuito  operam  qui  dent  alijs,  nonnullos,  fed  largiri 
qui  uelint,    &    de   fua  etiam  pecunia  effe   liberales,    paucos    reperiri. 
Itaque  &  Sueuicum  prouerbium   est,    Pastoris    memoria,    („defs    | 
SchefFers  jvortzeichen")  cum  impendia  recufantur. 

Die  Ähnlichkeit  dieser  Darstellung  mit  derjenigen  des  H.  Sachs 
gegenüber  dem  italienischen  Schwank  besteht  in  dem  charakteristischen 
Zug,  dafs  in  jenen  beiden  ein  Schäfer  Geld  zum  Einkauf  einer  Pfeife 
hergiebt  und  dafs  dessen  Auftrag  allein  besorgt  wird,  während  die 
anderen  Aufträge,  weil  ohne  Vorschufs,  unbesorgt  bleiben.  Hierzu 
kommt  noch  der  verwandte  Titel  und  die  sprichwörtliche  Bedeutung 
die  „des  schefFers  warzeichn"  (Wortzeichen?)  (Pastoris  memoria)  bei 
Sachs  und  Camerarius  in  der  Schlufsmoral  beigelegt  wird. 

Aber  bei  Camerarius  fehlt,  was  wiederum  Sachs  und  Arlotto 
gemeinsam  ist:  das  Aufschreiben  der  Aufträge  auf  Zettel  und  deren 
Verwehen  während  der  Wasserreise  durch  den  Wind,  mit  Ausnahme 
desjenigen    bezw.    derjenigen,    die    durch   Geld    beschwert    gewesen. 


'*)  FABV  i  LAB  AESOPI  |  lAM  DENVO  MUL  |  to  emendatius  quam  |  ant«a 
aeditae,  |  Authore  Joachimo  Camera  |  rio  Pabergenfi.  |  Catalogum  indicabit  pagina  (  uerfa.  { 
Norimbergae  apud  GBORGIUM  VVachterum.  s.  a.  — .  Da  diese  Ausgabe  weniger  Fabeln 
als  die  1542  zu  Tübingen  gedruckte  enthält,  so  wird  sie  wohl  eine  der  ersten  Ausgaben 
sein. 


über  die  Quelle  der  Turandot-Dichtung  Heinz  des  Kellners.  267 

Bei  Camerarius  sind  es  die  nächsten  Angehörigen  des  Mannes,  bei 
Sachs  und  Arlotto  Nachbaren  oder  Freunde,  deren  Aufträge  nicht 
ausgeführt  werden. 

Und  so  erscheint  die  Annahme  gerechtfertigt,  dafs  Sachs  für 
diesen  Schwank,  wie  für  so  viele  andere  mehrere  Vorlagen  hatte. 
Er  kannte,  wiederum  entweder  aus  dem  Original  oder  durch  eine 
mündliche  Nacherzählung,  die  Fabel  des  Camerarius  und  dann  noch 
eine  zweite  dem  Arlotto  nahekommende  Darstellung,  welche  beide  er 
in  seiner  Frzählung  verschmolz. 

Nürnberg. 


-••• 


Über  die  Quelle  der 
Turandot-Dichtung  Heinz  des  Kellners. 


Von 
A.  Ludwig  Stiefel. 


Unter  den  poetischen  Denkmälern  des  deutschen  Mittelalters  können 
meines  Erachtens  die  kleinen  Erzählungen  ein  höheres  Interesse 
beanspruchen,  als  ihnen  bisher  zu  teil  geworden  ist.  Getreuer  als 
irgendwo  sonst,  getreuer  namentlich  als  in  den  Helden-  und  Ritter- 
dichtungen spiegelt  sich  in  ihnen  der  wahre  Charakter  der  Zeit,  schärfer 
als  anderswo  zeigt  sich  in  ihnen  die  Eigenart  der  Nation;  und  so 
bieten  sie,  auch  abgesehen  von  ihrer  Eigenschaft  als  Dichtungen,  dem 
Kulturhistoriker  ein  kostbares  Material  zu  seinen  Studien.  Allerdings 
ist  es  dann  nötig,  die  Dichtungen  auf  ihre  Quellen  hin  zu  untersuchen, 
um  die  einheimischen  Elemente  —  die  Fabeln  gingen  selbst  im 
Mittelalter  ungemein  schnell  von  Volk  zu  Volk  —  von  den  fremden 
zu  scheiden. 

In  der  schönen  Sammlung,  die  von  der  Hagen  von  derartigen 
Erzählungen  veranstaltet  hat*),  ist  von  dem  kenntnisreichen  Herausgeber 
schon  Vieles  in  dieser  Hinsicht  geschehen  und  Andere  (wie  R.  Köhler 
und  F.  Liebrecht)  haben  seine  Arbeit  seitdem  ergänzt.  Von  der  Hagen 
hat    nachgewiesen,    dafs    ein    sehr    erheblicher  Teil  der  von  ihm  ge- 


*)  Gesammtabeoteuer  etc.  Stuttgart  und  Tübingen  185O1  3  Bde. 

17* 


1258  A.  Ludwig  Stiefel. 


sammelten  poetischen  Erzählungen  gallischen  Ursprungs  ist*),  und 
dafs  dieselben  gprofsenteils  in  uns  noch  erhaltenen  Fabliaux  entweder 
ihre  direkte  Vorlage  oder  nahestehende  Parallelen  haben.  Ich  be- 
absichtige mit  den  nachfolgenden  Zeilen  einen  kleinen  Beitrag  zu  diesen 
Nachweisungen  zu  geben. 

Eines  der  seltsamsten  und  durch  seine  Beziehungen  zum  Morgen- 
lande beachtenswertesten  dieser  kleinen  Gedichte  ist  das  von  dem 
Herausgeber  mit  Turandot  bezeichnete  Heinz  des  Kellners  (abgedr.  bei 
von  der  Hagen  lU,  S.  179 — 185  und  in  Lafsbergs  »Liedersaal«  No.  73). 
Von  der  Hagen  hat  in  seinen  Nachweisungen  (III.  Bd.,  p.  LXI)  auf 
persische  Erzählungen,  darunter  auf  die  durch  Gozzi  und  Schiller  be- 
kannt gewordene  von  Kalaf  und  Turandot,  ferner  auf  »Gesta  Rom.c 
C.  70  bezw.  60  und  auf  ein  Walachenmärchen  verwiesen.  Woher 
dem  deutschen  Dichter  des  14.  Jahrhunderts  der  Stoff  zugeflossen,  ist 
ihm  nicht  zu  ermitteln  geglückt.  Die  Erzählung  kam  aber,  wie  die 
meisten  anderen  von  unseren  Nachbarn  jenseits  des  Rheins.  Um  das 
zu  beweisen  kann  ich  zwar  nicht  ein  altfranzösisches  Gedicht  vorlegen, 
wohl  aber  eine  Prosa-Erzählung  des  16.  Jahrhunderts,  die  offenbar 
auf  ein  Fabliau  zurückgeht.  Dafs  solche,  selbst  noch  verhältnismäfsig 
späte  Erzählungen  wirklich  direkt  auf  Fabliaux  zurückgeleitet  werden 
müssen,  beweisen  die  meisten  Novellen  der  »Cent  Nouvelles«,  die 
»Nouvelles  Recreations  et  joyeux  devis«  des  Des  Periers,  das  iHepta- 
meron«  der  Königin  von  Navarra  u.  a.  Selbst  im  17.  Jahrhundert  be- 
gegnen wir  nicht  selten  derartigen  Schwänken.  Ich  begnüge  mich, 
auf  ein  Beispiel  hinzuweisen:  Der  anonyme  „Threfor  des  Recrea- 
tions'***) (zuerst  gedruckt  1605)  enthält  (in  der  mir  vorliegenden 
Ausgabe  von  Rouen,  Jean  Osmont  161 1  auf  S.  210)  eine  Erzählung, 
betitelt  „Bonne  et  facille  Maniere  pour  arracher  les  dents".  Es  ist 
dies  nur  eine  Wiedergabe  des  alten  Fabliau  „De  la  Dent"  (Barbazan- 
Meon  I,  p.  159 — 164).  Und  so  dürfte  es  sich  wohl  auch  mit  der  Er- 
zählung verhalten,  die  ich  hier  im  Auge  habe.  Sie  findet  sich  in  einer 
Schwanksammlung,  welche  unter  dem  Namen  »Les  Escraignes  Diion- 
noises«  (Recueillies  par  le  Sieur  des  Accords)  dem  eigenartigen  Buche 
des  Verfassers  »Les  Bigarrvres  du  Seigneur  des  Accords«  beigegeben 
ist.  Estienne  Tabourot  von  Dijon***),  der  Verfasser  dieser  Bücher,  liefs 
die  Bigarrures,  d.  h.  einen  Teil  davon,  1582  erscheinen.  „Les  Escraignes" 
fallen  etwas  später  und  dürften  zwischen  1585  und  1590  —  im  letzteren 
Jahre  starb  Tabourot  —  zuerst  herausgekommen  sein.  Alle  Schwanke 
und    Scherze   Tabourots    tragen    echt    volkstümlichen  Charakter,  be- 


*)  So  z.  B.  bei  No.  2,  3,  5,  6,  10,  11,  13,  14,   17,  35,  30,  35,  41,  45,  47,  54,  55, 
61,  62,  67,  68,  73,  74,  76,  81,  83,  85»  86. 

**)  Thresor  des  Recreations  contenant  Histoires  fac^tieuses  et  honnestes  propos 
plaisans  &  pleins  de  gaillardises,  faicts  et  tours  ioyeux  etc.  Le  tout  tire  de  diuers 
Auteurs  trop  foameux.  Duay  Balth.  Beilere  1605,  pet  in  za*.  Weitere  Ausgaben: 
Douay  161 6,  Rouen,  Romain  de  Beauvais  1611,  Rouen  de  la  Marre  1627,  1630,  Reuen 
D.  Ferrand  1637. 

***)  Über  ihn  und  seine  Werke  verweise  ich  auf  Goujet  Bibl.  Pran9.  Bd.  13,  S.  364  fi^ 


Ober  die  Quelle  der  Turandot-Dichtung  Heinz  des  Kellners.  259 


sonders  gilt  dies  von  den  „Escraignes"  *),  die  wir  am  besten  durch 
Rockenstubengeschichten  bezeichnen  können.  Eine  dieser  Geschichten 
(die  41.),  die,  nach  Annahme  des  Dichters,  zu  Dijon  von  armen  Winzern 
in  einer  Art  von  Spinn-  oder  Rockenstube  (escraigne)  erzählt  werden, 
lautet  mit  Hinweglassung  der  einleitenden  Worte  folgendermafsen  **) : 
„II  y  auoit  en  ce  pays  de  France  vn  grand  feigneur  qui  n'auoit 
quVne  feule  fille,  que  Nature  auoit  doiiee  de  grande  beaute  &  bonte 
d'entendement,  laquelle  il  prit  plaiiir  de  faire  inftruire.  En  quoy  eile 
prollta  fi  bien  qu'elle  fut  la  plus  fine,  accorte  &  mieux  difante 
Damoifelle  qu'il  eftoit  poffible.  Ses  perfections  furent  caufe  qu'elle 
fiit  souhaitee  en  mariage  par  plufieurs  grands  feigneurs.  Mais  eile 
ne  prenant  plaisir  que  de  contenter  fon  efprit  a  la  lecture,  auoit  tou- 
siours  banny  Amour  de  fon  coeur,  tellement  que  fes  pere  &  mere 
ne  luy  peurent  perfuader  d*accepter  condition  par  mariage  auec  quel- 
quVn.  En  fin,  comme  ils  deuenoient  vieux  ils  la  folliciterent  fort, 
voire  menacerent  de  defsobeyffance,  fi  eile  ne  condefcendoit  a  leurs 
volontez:  Comment,  difent-ils,  eft-ce  la  fecompenfe  que  tu  nous  donnes, 
du  foucy  que  nous  auons  pris  a  te  faire  efleuer  &  inftruire?  II  euft 
mieux  valu  que  nous  t'euflions  laiflee  toute  rüde  &  impolie,  comme 
Nature  t'auoit  forgee,  que  d'eftre  maintenant  caufe  de  voir  tous  nos 
biens  &  cheuances  cheoir  en  autre  maifon  que  la  noftre.  Cefte 
Demoifelle  s'attendrit  le  coeur,  de  pitie  qu'elle  eut  de  voir  ainsi  fes 
pere  &  mere  parier,  &  fe  lettant  a  genoux,  dit  qu'elle  feroit  tout  ce 
qu'ils  voudroient  pourueu  qu'ils  luy  accordassent  vne  requefte,  qu'ils 
trouueraient  fort  iuste,  qui  eftoit  qu'elle  ne  fuft  donnee,  finon  a  celuy 
qui  la  pourroit  rendre  confufe  en  difpute;  car,  difoit-elle,  ce  feroit  vne 
chofe  mal  appariee,  que  de  me  loger  auec  quelque  badaut,  fous  couleur 


•)  Escraigne,  heute  ecraigne  (von  Schranne?)  wird  von  Tabourot  folgender- 
mafsen erklärt,  bezw.  geschildert:  „En  tovt  le  pays  de  Bourgongne  mesmes  es  bonnes 
villes,  ä  cause  qu^elles  sont  peuplees  de  beaucoup  de  pauures  vignerons  qui  n'on  pas 
le  moyen  d*achepter  du  bois  pour  se  deffendre  de  Tiniure  de  THyver  .  .  .  la  necessitp  .  . 
a  appris  cefte  inuention  de  faire  en  quelque  ru£  escartee  vn  taudis,  ou  bastiment  compos^ 
de  plusieurs  perches  lichtes  en  terre  en  forme  ronde,  repliees  par  le  dessus,  &  a  la 
sommite,  en  belle  sorte  qu'elles  representent  la  teftiere  d*vn  chapeäu,  lequel  apres  on  re- 
couvre  de  force  motes,  gazons  &  liimier,  si  bien  li^  &  mesle  que  Teau  ne  le  peut  penetrer. 
En  ce  taudis  entre  deux  perches  du  cost^  quMl  est  le  plus  d^fendu  des  vents,  Ton  laisse 
vne  petite  ouuerture  de  largeur  parauenture  d*vn  pied  &  hauteur  de  deux,  pour  feruir 
d^entree  ....  La  ordinairement  les  apres  fouppees  s^afTem bleut  les  plus  bell  es  filles 
de  ces  vignerons  auec  leurs  quenouilles  &  autres  ouurages  &  y  fönt  la  veilMe  iusques 
a  la  minuit  ....  Cbacun  an  apres  THyuer  on  la  rompt  (sc.  TEscraigne)  &  au  com- 
mencement  de  Tautre  Hyuer  on  la  rebatift.  L'on  Tappelle  en  Tuscan  de  Bourgongne 
vne  Escraigne  (folgt  die  Ableitung  von  scrinium)  .  .  .  a  telles  aftembl^es  de  filles  se 
trouve  vne  infinit^  de  ieunes  varlots  &  amoureux  que  Ton  appelle  autrement  des  Voueurs 
qui  y  vont  pour  defcouvrir  le  secret  de  leurs  penfi^es  a  leur  amoureuses.** 

**)  Mir  liegt  folgende  Ausgabe  vor :  Les  |  Bigarrvres  |  Dv  Seignevr  Des  Accords:  ' 
De  la  demiere  main  de  l'Autheur  etc.  1  A.  Paris  |  Par  Clavde  de  Montr*oeil  |  et  Jean 
Richer  |  1595  Auec  privilege  du  Roy.  Das  Buch  enthält  mit  eigenem  Titelbl.  und  Pagi- 
nierung I.  Premier  livre  des  Bigarr.,  2.  Le  Quatriesme  des  Bigarr.,  3.  Die  Apophthegmes 
du  Sr.  Gaulard  und  4.  Les  Escraignes  Düonnoises.  Über  die  zahlreichen  Ausgaben  ver^ 
gleiche  Bninet. 


860  A.  Ludwig  Stiefel. 


des  grands  bien  qu'il  auroit  dont  Dieu  grace  vous  en  auez  competem- 
ment  pour  vous  &  pour  moy.  Cefte  requefte  luy  fut  facilement  octroyee 
ä  fon  contentement,  eftimant  que  par  ce  moyen  eile  n'entreroit  iamais 
au  Heu  de  mariage,  ä  caufe  qu'elle  s'affe  roit  bien  de  confondre  tous 
ceux  qui  fe  prefenteroient  ä  eile.  Suyvant  ces  conditions  les  pere  et 
mere  firent  incontinent  publier  que  quiconque  de  quelque  eftat  & 
qualite  qu'il  fuft,  pourroit  confondre  leur  fille  en  difpute,  il  Tauroit 
a  femme,  &  affignerent  iour  de  la  difpute  au  premier  de  May  fuyuant, 
en  vn  beau  lieu  auquel  ils  firent  conftruire  vn  bei  efchaiFaut  oü  eftoit 
pose  le  fiege  de  cefte  Damoifelle  &  de  deux  des  premiers  hommes 
de  robbe  longue  pour  eftre  iuges  equitables,  &  conferuateurs,  de  la 
difpute.  Ce  bruit  efpanche  incontinent  par  tout,  enflamba  le  coeur 
de  plufieurs  personnes,  de  fe  trouuer  a  Taffignation,  les  vns  pour 
efperance  de  gaigner  ce  beau  pris,  les  autres  pour  voir  la  belle 
affemblee  qui  y  feroit.  Entre  autres  il  prit  volonte  a  vn  homme  de 
vUlage,  nomme  Jean  de  Paigney,  de  s*y  trouuer,  et  d*autant  qu'il  eftoit 
loing  du  lieu,  il  prit  au  partir  de  fa  maifon  vne  bouteille  de  vin,  vn 
bon  morceau  de  pain,  &  demie  douzaine  d'oeufs.  II  fait  tant  qu*il 
arriua  le  foir  au  lieu,  oü  le  lendemain  matin  fe  deuoit  faire  la  difpute, 
&  mangea  la  moitie  de  fa  prouifion,  referuant  Tautre  pour  le  lendemaio, 
auquel  il  ne  faillit  de  fe  rendre  für  la  place  de  grand  matin,  oü  in- 
continent arriuerent  plusieurs  danoies  &  feigneurs,  lefquels  s'efprou- 
uerent  tous  les  vns  apres  les  autres,  mais  ils  n'y  gaignerent  rien.  Les 
disputes  continuerent  tout  le  iour.  Cependant  Jean  de  Paigney  fut 
contraint  de  lafcher  le  ventre  &  pour  crainte  de  perdre  fa  place, 
s'abaifla  &  s'accroupit  en  bas,  faifant  fon  prefent  en  son  chappeau, 
leqüel  apres  il  remit  fous  fon  bras.  En  fin,  comme  chacun  fe  retiroit, 
parce  que  le  Soleil  commen^oit  ä  decliner  &  que  Ton  voyoit  ce  bon- 
homme  tenir  coup,  il  y  eut  quelquVn  qui  par  rifee  commen^a  ä  dire: 
Poffible  que  ce  bon  compagnon  veut  difputer.  Pourquoy  non,  dit-il? 
Lors  Ton  luy  fait  largue,  &  s*approchant  de  cefte  Damoifelle,  qui  eftoit 
efchauffee  de  la  dispute,  apres  l'auoir  faluee  gracieufement  luy  dit, 
Pardey  madamoifelle,  vous  eftes  bien  rouge.  Ouy,  dit-elle  i'ay  le  feu 
au  cul.  Lors  il  fe  fouuient  de  fes  trois  oeufs  qu*il  auoit  encores,  et 
les  tirant  de  fa  poche,  les  luy  prefente,  la  priant  de  les  luy  faire  cuire 
pour  fon  foupper.  Cefte  Damoifelle  refpond  foudain :  C'eft  bien  chic! 
Ce  bon-homme  prend  fon  chappeau,  &  luy  dit,  En  voylä  madamoifeUe. 
A  ce  prefent  eile  fe  trouua  fi  eftonnee  qu'elle  ne  peut  refpondre,  qui 
fut  caufe  qu'elle  fut  adiugee  audit  Jean  de  Paigney  a  femme,  qui  de 
pauure  homme  deuint  g^and  feigneur". 

Diese  derbe  Erzählung  mit  der  fast  noch  derberen  altdeutschen 
verglichen,  ergiebt  freilich,  bei  aller  Übereinstimmung,  die  namentlich 
am  Schlüsse  stark  hervortritt,  eine  Anzahl  gröfserer  und  kleinerer 
Verschiedenheiten,  die  sich  aber  meist  durch  den  verschiedenen  Zeit- 
geschmack und  die  verschiedene  Auffassung  der  Erzähler  erklären 
lassen.  Bei  Heinz  dem  Kellner  stehen  wir  völlig  auf  dem  Boden  des 
Märchen^.     Tabourot,    der    Parteigänger   der   Liga,    der  Sohn    einer 


Ober  die  Quelle  der  Turandot-Dichtung  Heinz  des  Kellners.  261 

nüchternen  Zeit^  rückte  die  Erzählung  mehr  in  die  Atmosphäre  des 
alltäglichen  Lebens.  Damit  mufsten  alle  märchenhaften  Bestandteile 
bei  ihm  ausscheiden.  Ist  die  Heldin  bei  Heinz  eine  Königstochter, 
so  ist  sie  bei  Tabourot  nur  hoher  Adeligen  Kind.  Infolgedessen  mufste 
auch  die  blutige  Behandlung  der  unglücklichen  Freier  hinwegfallen; 
dann  war  es  aber  nicht  nötig  das  Preisdisputieren  als  eine  sich  seit 
langer  Zeit  stetig  wiederholende  Handlung  hinzustellen  und  der  jüngere 
Darsteller  konnte,  um  seine  Erzählung  zu  vereinfachen,  sich  mit  einem 
einzigen  Disput  begnügen.  Selbstverständlich  war  auch  die  blutige 
Episode  mit  dem  „Junkher**  überflüssig  und  der  Dörfler,  der  sich  bei 
Heinz  diesem  Junkher  als  schreiender  Gegensatz  anschliefst,  mufste 
eine  leichte  Umgestaltung  erfahren.  Die  noch  übrigen  kleinen  Ab- 
weichungen so  z.  B.  das  Fehlen  des  „egften  zan"  bei  dem  Franzosen 
und  die  damit  verknüpfte  Verringerung  der  drei  Reden  auf  zwei,  und 
andere  ähnliche  Kleinigkeiten  fallen  wenig  ins  Gewicht.  Nur  ein 
Unterschied  ist  noch  zu  erwähnen;  Der  Franzose  ist  breit  in  seiner 
Einleitung  und  schildert  uns  namentlich  das  Wesen  der  Heldin  und 
ihr  Verhältnis  zu  ihren  Eltern  näher,  während  der  Deutsche  gleich  in 
medias  res  eilt.  Vielleicht  schliefst  sich  aber  Tabourot  hierin  dem 
alten  Fabliau  an,  von  dem  sich  Heinz  mehr  ferne  hält.  Es  ist  in  der 
Tat  nicht  zu  leugnen,  dafs  das  altdeutsche  Gedicht  besonders  am 
An&ng  den  Eindruck  macht,  als  ob  es  eine  ausfuhrlichere  Vorlage 
gekürzt  wiedergebe. 

Alles  dies  zusammengenommen,  glaube  ich,  dafs  Tabourots  Spinn- 
stubenerzählung direkt  oder  indirekt  auf  die  gleiche  Quelle  zurückführt, 
welche  der  deutsche  Dichter  des  14.  Jahrhunderts  benutzt  hat. 

Ein  ganz  analoges  Verhältnis  bietet  —  und  dies  ist  gewisser- 
mafsen  eine  Bestätigung  meiner  Vermutung  —  eine  Novelle  des  Des 
Periers  (die  64.,  betitelt  „De  Tenfant  de  Paris  qui  fit  le  fol  pour  jouyr 
de  la  jeune  vefve  et  comment  eile,  se  voulant  railler  de  luy,  re9ut 
une  plu«i  grand'  honte"*)  zu  der  Erzählung  „Diu  halbe  bir"  Konrads 
von  Würzburg  (Von  der  Hagen  »Gesammtabent.«  No.  10  Bd.  I,  S.  207  ff.). 
Auch  hier  ist,  was  der  deutsche  Dichter  von  einer  Königstochter  be- 
richtet, bei  dem  Franzosen  des  16.  Jahrhunderts  in  eine  weit  niedrere 
Sphäre«  hier  sogar  in  rein  bürgerliche  Verhältnisse  übertragen.  Die 
Abweichungen  zwischen  den  beiden  Versionen  sind  womöglich  noch 
gröfser,  als  bei  der  obigen  Fabel  und  doch  haben  beide  offenbar  ein 
Fabliau  zur  gemeinsamen  Vorlage  gehabt:  Vermutete  ja  schon  von 
der  Hagen  (I.  B.  praef.  CXVI)  von  Konrads  Gedicht:  „Die  ganze 
herbe  Anlage  und  nackte  Darstellung  stimmt  zu  den  fabliaux  et 
CO  nies  und  weiset  auf  Wälsches  Vorbüd". 

Nürnberg. 


BESPRECHUNGEN. 


-*••- 


VICTOR  ZEIDLER:  Die  Quellen  von  Rudolfs  von  Ems  Wühebn 
Eine  kritische  Studie,  Berlin  und  Weimar,  Verlag  von  Emil  Felber, 
i8p4.    3S6  S.  S^. 

Von  Rudolfs  von  Ems  Dichtungen  sind  bekanntlich  nur  zwei 
yollständigf  herausgegeben.  Von  den  anderen  kennen  wir  nur  die 
Überlieferungen,  teils  mehr  oder  minder  vollständige  Handschriften, 
teils  zahlreiche  Bruchstücke,  sowie  eine  Reihe  von  gröfseren  .  und 
kleineren  Auszügen  und  Proben.  Ohne  Zweifel  hat  es  immer  etwas 
Mifsliches,  Untersuchungen  an  unedirte  Werke  anzuknüpfen,  und 
dennoch  haben  sich  manche  Forscher  nicht  abhalten  lassen,  auch  den 
noch  ungedruckten  Epen  Rudolfs  ihren  Fleifs  zu  widmen.  So  hat 
uns  Vilmar  die  bekannte  wichtige  ergebnisreiche  Abhandlung  über 
die  Weltchronik  geschenkt,  der  sich  weitere  Untersuchungen  und  Mit- 
teilungen von  Karl  Schröder  und  von  J.  Zacher  und  Hegel  anschlössen. 
Doberentz  behandelte  die  Länder-  und  Völkerkunde  in  dieser  Chronik. 
Der  Alexander  reizte,  was  sehr  nahe  lag,  mehrfach  zu  Quellenunter- 
suchungen an:  Ausfeld  (1883)  und  O.  Zingerle  (1885)  sind  dieser 
wichtigen  Frage  nachgegangen,  und  ihnen  folgten  mehrere  Gelehrte, 
vor  allen  Kinzel  und  Toischer. 

Nun  ist  endlich  auch  Rudolfs  Wilhelm  nach  seinen  Quellen  unter- 
sucht worden.  Ich  gestehe,  dafs  ich  die  vorliegende  „kritische  Studie" 
Dr.  Victor  Zeidlers  mit  einer  gewissen  Spannung  zur  Hand  genommen 
habe.  Denn  hier  mufste  doch  die  in  den  Litteraturgeschichten  öfter 
vorgebrachte,  aber  unerwiesene  Meinung,  dafs  der  Held  des  Gedichtes 
auf  Wilhelm  den  Eroberer  zurückgehe,  zum  Austrag  gebracht  und 
endgültig  entschieden  werden.  Zwar  konnte  man  aus  der  zweiten 
Auflage  von  Goedekes  Grundrifs  vom  Jahre  1884  entnehmen,  dafs 
jene  Meinung  nur  eine  der  bekannten  Vermutungen  war,  wie  sie  öfters 
auftauchen  und  in  den  Büchern  fortgeschleppt  werden.  Während 
Goedeke  in  der  ersten  Auflage  vom  Jahre  1859  Wilhelm  den  Eroberer 
namhaft  macht,  übergeht  er  ihn  in  der  zweiten  mit  Stillschweigen. 
In  der  ersten  war  mit  ein  paar  Worten  der  Inhalt  skizziert,  in  der 
zweiten  fügte  er  eine  höchst  willkommene  längere  Inhaltsangabe  ^nach 
Uhlands  bisher  ungedruckter  Analyse  der  ungedruckten  Dichtung** 
hinzu,  die  gar  keine  historischen  Beziehungen  zu  Wilhelm  den  Eroberer 
erkennen  läfst. 

Ganz  im  Einklänge  mit  dieser  Beobachtung  steht  ein  Satz  in 
Dr.  Zeidlers  Vorwort:  „.  .  .  ich  hoffe  durch  meine  Arbeit  endgültig 
die  Behauptung,  dafs  die  Gestalt  des  Helden  unserer  Dichtung  auf 
Wilhelm  den  Eroberer  zurückweise,  als  vollständig  unrichtig  dargetan 
zu  haben". 

Eine  andere  Stelle  im  Vorworte  erregt  aber  Bedenken.  Wenn 
der  Verfasser  sagt,  dafs  er  hinsichtlich  des  in  der  Untersuchung  heran- 
zuziehenden Textes  des  deutschen  Gedichtes  im  wesentlichen  der 
Bonner  Pergamenthandschrift  (No.  5,  S.  125  bei  Goedeke)  gefolgt  sei, 


BesprechuBgea.  268 


„die  allerdings  sehr  weit  vom  Original  abstehe",  da  er  zur  Zeit  von 
ihr  allein  eine  vollständige  Abschrift,  von  den  übrigen  Handschriften 
nur  Kollationen  besitze,  so  hätte  er  uns  genauer  wissen  lassen  sollen, 
wie  dies  „weite  Abstehen"  vom  Original  aufzufassen  sei.  Bezieht  es 
sich  auf  die  Form,  auf  das  Sprachliche  und  Metrische,  dann  hätte  es 
nichts   weiter   auf  sich,  zumal  die  Bonner  Handschrift  noch  aus  dem 

14.  Jahrhundert    stammt    und  nicht  erst,  wie  so  manche  andere,  dem 

15.  Jahrhundert  angehört.  Steht  aber  die  Bonner  Handschrift  stofflich, 
in  ihrem  Textbestande,  weit  vom  Originale  ab,  dann  wäre  sie  über- 
haupt für  eine  Quellenuntersuchung  unbrauchbar,  dann  hätte  Herr 
Zeidler  eine  andere  Wahl  treffen  müssen. 

Der  Verfasser  hat  es  verschmäht,  seine  Leser  durch  eine  orien- 
tierende Einleitung  auf  die  Untersuchung  vorzubereiten.  Er  fallt  so 
zu  sagen  gleich  mit  der  Türe  ins  Haus  hinein.  Es  folgt  gleich  auf 
das  Vorwort  die  Überschrift  des  §.  i  „Inhaltsangabe  von  Philipps 
dje  Remi  afr.  Epos,  Jehan  et  Blonde"  mit  der  Begründung,  dals 
der  Zweck  der  nachfolgenden  Untersuchung  es  fordere,  eine  genauere 
Inhaltsangabe  des  altfr.  Epos  „Jehan  et  Blonde"  von  Philippe  de  Remi 
Sire  de  Beaumanoir  (ed.  Hermann  Suchier  societe  des  anciens  textes 
Fran^ais  n)*)  vorauszuschicken.  Hier  ahnt  natürlich  jeder  Leser  so- 
fort, dafs  das  genannte  Epos  Philipps  de  Remi  oder  Philipps  de 
Beaumanoir  die  Quelle  oder  eine  Quelle  für  Rudolf  von  Ems  gewesen 
ist  oder  gewesen  sein  soll.  Und  das  spricht  der  Verfasser  auch  gleich 
zu  Anfang  des  folgenden  Paragraphen  aussdrücklich  aus. 

Erwünscht  wäre  für  das  erste  Kapitel  auch  eine  Einleitung 
gewesen.  Wer  ist  denn  dieser  Philippe?  In  welche  Zeit  gehört  er, 
wer  ist  er,  welchem  Meister  folgt  er,  in  welchem  Dialekte  schreibt 
er?  Wo  hat  er  seinerseits  den  Stoff  her,  was  ist  für  ihn  die  Quelle? 
Der  Verfasser  hat  doch  ohne  Zweifel  sein  Buch  vorzugsweise  für 
Germanisten  bestimmt,  von  denen  heutzutage  bekanntlich  nur  wenige 
zugleich  Romanisten  sind.  Glaubt  er,  dafs  diese  seine  Leser  alle  von 
Philippe  und  seiner  Erzählung  wissen  und  dafs  sie  alle  gleich  Suchiers 
Ausgabe  zur  Hand  haben?  Dann  irrt  er  sich.  Spezifischen  Romanisten 
natürlich  brauchte  er  nicht  mit  Belehrungen  entgegenzukommen.  Diese 
werden  hinlänglich  über  Philippe  de  Beaumanoir,  den  Dichter  und 
Juristen  unterrichtet  sein. 

Die  Inhaltsangabe,  die  uns  Herr  Zeidler  bietet,  ist  dankbar  hinzu- 
nehmen. Leider  ist  sie  recht  unübersichtlich  gehalten;  der  Verfasser 
macht  niemals  einen  Absatz;  und  diese  typographische  Atemlosigkcit 
geht  durch  das  ganze  Buch.  Nur  wenn  Textstellen  in  kleinerem 
Antiquadrucke  und  in  Versen  abgesetzt  mitgeteilt  werden  —  meist 
werden  sie  cursiv  gedruckt  in  die  Zeile  gestellt  —  kommt  etwas  Ab- 
wechselung in  das  öde  Einerlei. 

Vergleichen  wir  nun  den  Inhalt  der  beiden  Erzählungen  von 
Philippe  und  von  Rudolf,  so  kommen  uns  Zweifel,  ob  der  Verfasser 
der  vorliegenden  Untersuchung  auf  dem  rechten  oder  auf  dem  falschen 


*)  Dies  soll  wohl  heilsen  11,  d.  h.  im  zweiten  Bande. 


264  Besprechuogen. 


Wege  sei.  Die  beiden  Erzählungen  stimmen  ja  allerdings  in  einzelnen 
Zügen  und  Motiven  überein,  im  Ganzen  aber  weichen  sie  doch  auch 
beträchtlich  von  einander  ab.  Der  Verfasser  aber  hält  sich  krampfhaft 
an  die  Übereinstimmungen  und  will  durchaus  beweisen,  dafs  Rudolt 
gerade  dieser  Erzählung  der  altfranzösischen  Dichter  gefolgt  sei.  Ja 
er  spricht  S.  300  es  offen  aus,  Philipps  Werk  sei  die  „direkte"  Vor- 
lage Rudolfs  gewesen,  „mit  andern  Worten,  die  Vorlage  Rudolfs  sei 
nicht  eine  Bearbeitung  des  französischen  Gedichts"  gewesen. 

Es  tut  mir  aufrichtig  leid,  dieser  Siegesgewifsheit  einen  Dämpfer 
aufsetzen  zu  müssen.  Ich  werde  zeigen,  dafs  Philipps  Erzählung  un- 
möglich das  Vorbild  für  Rudolfs  Wilhelm  gewesen  sein  kann.  Hätte 
Herr  Zeidler  die  von  uns  vermifste  und  gewünschte  einleitende  Belehrung 
seinen  germanistischen  Lesern  geboten,  so  wäre  er  wohl  von  selbst 
auf  die  Widersinnigkeit  seiner  Beweisführung  gekommen  und  hätte 
seine  ganze  Schrift  oder  wenigstens  die  ersten  Abschnitte,  sowie  die 
späteren,  soweit  sie  auch  von  Philippe  handeln,  unterdrückt.  Oder 
er  hätte  sie  ganz  anders  fassen,  ein  ganz  anderes  Buch  schreiben  müssen. 

Wufste  Herr  Zeidler  denn  nicht,  zu  welcher  Zeit  Rudolf  von  Ems 
lebte  und  dichtete,  und  in  welche  Zeit  sein  Wilhelm  gesetzt  wird?  Er 
gehört  doch  in  die  erste  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts.  Ganz  genau 
läfst  sich  die  Abfassungszeit  des  Wilhelm  zwar  nicht  bestimmen,  aber 
sorgsame  Forschung  hat  es  doch  erwiesen,  dafs  das  Gedicht  im  An- 
fang der  dreifsiger  Jahre  geschaffen  worden  ist.  Und  nun  halte  man 
Philippe  de  Beaumanoir  und  seine  dichterische  Wirksamkeit  entgegen! 
Er  ist  nicht  unbeträchtlich  jünger  als  der  deutsche  Dichter;  sein 
Jehan  et  Blonde  oder,  wie  der  Roman  auch  genannt  wird,  seine 
Blonde  d*Oxford  wird  um  das  Jahr  1270  gesetzt!  Mit  dieser  nüchternen 
Erwägung  fallt  die  ganze  Quellenforschung  Zeidlers  ins  Wasser. 
Schade,  recht  schade  um  die  eifrige  Bemühung!  Das  kommt  aber 
von  der  Oberflächlichkeit!*)  Was  nützt  aller  philologische  Kleinkram, 
wenn  man  nicht  litterarhistorisch  zu  denken  weifs? 

Oder  hat  der  Verfasser  um  alle  diese  Zeitbestimmungen  gewufst 
und  hat  er  an  ihre  Unversöhnlichkeit  nicht  geglaubt?  Dann  wäre  es 
doch  seine  unabweisbare  Pflicht  gewesen,  zunächst,  ehe  er  an  die 
Vergleichung  der  beiden  Dichtungen  ging^  den  Irrtum  der  germa- 
nistischen wie  der  romanistischen  Forschung  nachzuweisen;  nachzu- 
weisen, dafs  Philippe  der  ältere,  Rudolf  der  jüngere  Dichter  sei.  Das 
aber  würde  ihm  verzweifelt  schwer  geworden  sein. 

Vielleicht  erleben  wir  es  noch,  dafs  ein  junger  Doktorant,  der 
gleich  Herrn  Dr.  Zeidler  sich  auf  beiden  philologischen  Gebieten 
bewegt,  sozusagen  den  Spiefs  umdreht  und  mit  Benutzung  der  vor- 
liegenden kritischen  Studie  den  Beweis  zu  fuhren  sucht,  dafs  Rudolfs 
von  Ems  Wilhelm  die  Quelle  von  Philipps  de  Remi  Blonde  gewesen 


*)  Diese  unwissenschaftliche  Oberflächlichkeit  ist  um  so  unbegreiflicher  und  un- 
verzeihlicher, als  Suchler,  dessen  Ausgabe  Herr  Zeidler  zunächst  bibliographisch  anf&hit 
und  dann  weiterhin  im  einzelnen  ausgiebig  benutzt,  gleich  auf  S.  VII.  der  Introdaktion 
bemerkt:    „Philippe  est  probablement  n^  vers  1350*. 


Besprechungen.  265 


sei.  Das  wäre  etwas  Neues,  noch  nicht  Dagewesenes!  Ein  Franzose 
sucht  sich  bei  einem  deutschen  Dichter  den  Stoff  und  das  Vorbild  zu 
einer  Erzählung!  Ob  ein  solcher  Versuch  wohl  in  beiden  Lagern  auf 
Zustimmung  zu  rechnen  hätte? 

Es  verlohnt  sich  nicht,  den  als  durchaus  verfehlt  erkannten  ersten 
Abschnitt  des  Zeidlerschen  Buches  und  überhaupt  seine  Quellen- 
untersuchung des  Näheren  zu  betrachten.  Nur  das  sei  bemerkt,  dafs 
der  Verfasser  der  Leichtgläubigkeit  seiner  Leser  allzuviel  zutraut. 
Ich  glaube  kaum,  selbst  bei  Voraussetzung  der  Möglichkeit  seiner 
Annahme^  dafs  nur  ein  Leser  sich  völlig  von  seinen  Ausfuhrungen 
überzeugt  fühlen  wird. 

Aber  es  handelt  sich  nicht  allein  um  Philippe.  Auf  dem  Titel 
des  Buches  heifst  es  ja  auch  nicht  „die  Quelle",  sondern  „die  Quellen". 
Was  sind  es  denn  nun  für  andere  Quellen,  die  Rudolf  aufserdem  be- 
nutzt hat?  Sind  es  auch  französische?  Nein,  es  sind  deutsche.  Wir 
werden  im  Laufe  der  weiteren  Untersuchung  unterrichtet  vom  „Ein- 
flufs"  der  Parzivalbücher  auf  die  Turnierschilderung,  vom  „Einflufs" 
von  Hartmanns  Gregorius  auf  die  Episode  vom  Schiffmann;  von 
weiteren  „Einflüssen"  des  Nibelungenliedes,  des  ersten  und  dritten 
Parzivalbuches,  des  Erec,  des  Tristan,  der  Eneide,  des  Titurel,  der 
Kudrun,  nochmals  des  Gregorius.  Auch  das  Eckenlied  und  der 
Wallaere  des  Heinrich  von  Linouwe  haben  den  Dichter  angeregt. 
Alles,  was  hier  Herr  Zeidler  vorbringt,  ist  sehr  fleifsig  und  tüchtig, 
lehrreich  und  anziehend.  Er  führt  uns  in  die  Werkstatt  nicht  allein 
Rudolfs  von  Ems,  sondern  überhaupt  in  die  eines  mittelhochdeutschen 
Dichters  der  Epigonenzeit.  Wenn  er  von  „Einflüssen"  redet,  so  trifft 
dies  durchaus  zu.  Aber  er  sollte  jene  einflufsreichen  Dichtungen  nicht 
„Quellen"  nennen.  Es  sind  keine  Quellen,  höchstens  Vorbilder.  Wir 
haben  bewufste  und  gewifs  zum  Teil  auch  unbewufste  Verwertungen 
vor  uns,  Reminiscenzen,  die  einem  litterarisch  gebildeten  Mann  wie 
Rudolf  von  Ems  haufenweise  in  Kopf  und  Feder  kommen  mufsten, 
und  die  er  anbrachte,  wo  sich  ihm  Gelegenheit  bot. 

Die  Frage  nach  der  eigentlichen  Quelle  für  Rudolfs  Wilhelm,  die 
allerdings  wahrscheinlich  in  einem  französischen  Gedichte  zu  suchen 
sein  wird,  ist,  wie  wir  gezeigt  haben,  durch  die  neue  Schrift  Herrn 
Zeidlers  nicht  gelöst.  Zu  einem  Teile  ist  sein  Buch  völlig  überflüssig, 
zum  andern  verdient  es  Lob  und  Anerkennung.  Insofern  ist  es  eine 
geradezu  kuriose  Erscheinung. 

Wenn  eine  grofse  Menge  Stellen  im  Wilhelm  mit  Philipps  Blonde 
übereinstimmen,  so  liegt  es  nahe,  eine  gemeinsame  ältere  Quelle  an- 
zunehmen. Aber  wo  ist  diese?  Das  zu  erweisen  wäre  eine  Aufgabe 
für  einen  Kenner  der  internationalen  Sagenlitteratur. 

Schliefslich  komme  ich  nochmals  auf  des  Verfassers  Vorwort 
zurück.  In  ihm  finden  wir  eine  Andeutung  erfreulicher  Natur.  Herr 
Zeidler  weist  leise  hin  auf  seine  spätere  Textausgabe  des  Wilhelm. 
Lange  haben  wir  auf  eine  solche  gewartet.  Bekanntlich  ging  Franz 
Pfeiffer  mit  dem  Plane  um,  das  Gedicht  herauszugeben;  er  starb  aber, 
ehe  er  zur  Ausfuhrung  gelangte.    Dann  glaubte  man,  Bartsch  würde 


266  Besprechungen. 


mit  Benutzung  des  Pfeifferschen  Nachlasses  diese  Aufgabe  lösen. 
Aber  auch  er  gelangte  nicht  dazu.  Wenn  nun  Herr  Dr.  Zeidler 
Hand  anlegen  will,  so  wünschen  wir  ihm,  dafs  er  sich,  wenn  es  nicht 
schon  geschehen  ist,  in  den  Besitz  der  Vorarbeiten  Pfeiffers  setzen 
möge.  Wir  zweifeln  nicht,  dafs  er  uns  eine  gute  Ausgabe  bringen 
werde.  In  der  künftigen  Einleitung  von  dieser  Ausgabe  möge  er  aber, 
wenn  er  auf  die  Quellen  zu  sprechen  kommt,  ums  Himmelswillen  den 
guten  Philippe  de  Beaumanoir  und  seine  Blonde  aus  dem  Spiele 
lassen!  Sonst  wird  ihm  sein  fataler  Irrtum  aufs  neue  und  für  alle  Zeiten 
vorgerückt! 

Rostock.  Reinhold  Bechstein.  (f) 


Bibliothek  älterer  deutscher  Übersetzungen.  Herausgegeben  von  August 
Sauer,  L  Die  schone  Magelone.  Weimar,  Verlag  von  Emil  JFelber, 
1894,     LXVII,  87  Seiten,  kl.  8. 

mm 

Auf  dies  erste  Heft  der  „Bibliothek  deutscher  Über- 
setzungen", welche  die  wichtigsten  deutschen  Übersetzungen  vom 
14.  bis  zum  19.  Jahrhundert,  zunächst  aber  die  ältesten  Übersetzungen 
aus  den  Kreisen  der  deutschen  Humanisten  und  die  Grundlagen  der 
Volksbücher  enthalten  soll,  ist  bereits  S.  142  hingewiesen  worden. 
Das  Heft  enthält  die  von  Veit  Warbeck  1527  aus  dem  Französischen 
übersetzte,  1535  zuerstgedruckte  Schöne  Magelone,  nach  der  Original- 
handschrift in  der  herzogl.  Bibliothek  zu  Gotha  herausgegeben  von 
Johannes  Bolte.  Er  konnte  zu  seiner  Ausgabe  auch  das  Original 
Warbecks  und  eine  französische  mit  einer  lateinischen  Interlinearversion 
versehene  Handschrift  benutzen  und  hat  mit  seiner  bei  sechzig  Seiten 
starken  Einleitung  eine  treffliche  Arbeit  geliefert. 

In  sieben  Kapiteln  behandelt  er:  I.  Das  französische  Original  und 
seine  Quellen,  IL  Die  Verbreitung  des  französischen  Romans,  III.  Veit 
Warbecks  Leben,  IV.  Die  französische  Litteratur  am  kursächsischen 
Hofe,  V.  Warbecks  „Schöne  Magelone",  VI.  Die  Nachwirkung  von 
Warbecks  „Schöner  Magelone"  und  VII.  Die  Bibliographie.  Dem 
Texte  nach  der  Handschrift  von  1527  folgen  die  Abweichungen  des 
ersten  Drucks  von  1535.  Kapitel  3  und  4  enthalten  viel  Interessantes 
zur  Litteratur-  und  Kulturgeschichte  des  sechzehnten  Jahrhunderts, 
Kap.  5  ist  speziell  der  Arbeit  Warbecks  gewidmet.  Aus  dem  sechsten 
Kapitel  und  der  Bibliographie  erfahren  wir  die  ungewöhnlich  grofse 
Beliebtheit,  deren  sich  sowohl  das  französische  Original  als  die 
Übersetzungen  in  die  meisten  europäischen  Sprachen,  selbst  ins  ^Neu- 
griechische zu  erfreuen  hatten.  Namentlich  die  Warbecksche  Über- 
setzung, aus  der  alles  spezifisch  Katholische  entfernt  ist,  ward  eines 
der  populärsten  deutschen  Volksbücher,  und  Bolte  zählt  nicht  weniger 
als  sechzig  Ausgaben  von  1535  bis  1894  (!)  auf*). 

*)  M.  Steinschneider  erwähnt  in  Serapeum  (Bd.  IX  1848  S.  330,  351,  364)  drei 
jüdisch-deutsche  Erzählungen:  „Historie  von  Ritter  Sigmund  und  Magdalena,  OfiFenbach 
1717'';  „Lied  von  Provenen  mit  der  Tochter  des  Königs  von  England,  FQrth  1698"  und 


Besprechungen.  267 


Angesichts  diese."  Reichtums  drängt  sich  freilich  die  Frage  auf, 
ob  die  neue  Ausgabe  Boltes  wirklich  so  nötig  war  und  ob  es  nicht 
besser  gewesen  wäre  die  „Bibliothek"  mit  einer  andern  weniger  ver- 
breiteten Übersetzung  zu  eröffnen. 

Aber  wenn  man  auch  den  Neudruck  des  Textes  nicht  als  not- 
wendig betrachtet,  wird  man  den  litterarhistorischen  Wert  der  Ein- 
leitung Boltes  und  der  Quellenforschung  im  ersten  Kapitel  die  Aner- 
kennung nicht  versagen  können.  Freilich  ist  Bolte  die  letztere  Arbeit 
durch  die  von  ihm  citierten  „Untersuchungen  von  F.  H.  v.  d.  Hagen, 
W.  v.  Tettau,  Alessandro  d*Ancona,  Giuseppe  Rua  u.  a."  sehr  er- 
leichtert worden. 

Ich  selbst  habe  über  die  Fabel  der  Magelone  und  ihre  Bearbeitungen 
in  diesen  Blättern  in  der  Abhandlung  über  die  „Verlobten"  (Bd.  V. 
420 — 429)  ziemlich  ausführlich  gehandelt,  und  Bolte,  der  ja  auch  viel 
Neues  hinzugefügt  hat,  konnte  meine  Arbeit  benutzen  und  ergänzen. 
Ich  glaube  daher  nicht  unbescheiden  zu  sein  wenn  ich  annehme,  dafs 
unter  den  S.  XII  citierten  „u.  a."  (mit  kleinem  a)  auch  meine  Wenigkeit 
neben  anderen  diis  minorum  gentium  gemeint  ist. 

Dagegen  hat  er  einmal,  wo  er  mich  mit  Namen  citierte,  mich 
mifsverstanden:  S.  XI  sagt  er  nämlich:  „Eine  Stelle  in  Boccaccios 
Decamerone  2,  7,  auf  die  Landau  (Zs.  f  vergleich.  Littgesch.  5,  420) 
hindeutet,  ist  schwerlich  als  eine  Persiflage  der  Mageionensage  aufzu- 
fassen," Ich  habe  aber  an  der  betreffenden  Stelle  nur  von  einer 
„boshaften  Anspielung  auf  die  weit  verbreitete  Legende  von  der 
verleumdeten  und  verfolgten  Frau  (Crescentia,  Florentia  u.  s.  w.)" 
gesprochen,  was  doch  etwas  Anderes  ist. 

Aber  solche  kleine  Fleckchen  tun  dem  Wert  von  Boltes  Arbeit 
keinen  Eintrag,  und,  wenn  er  auch  keine  älteren  Quellen  des  fran- 
zösischen Romans  als  die  von  mir  bereits  angeführten  zu  nennen  weifs, 
so  hat  er  doch  für  dessen  spätere  Bearbeitungen  und  für  die  ver- 
schiedenen Ausgestaltungen  des  ältest  bekannten  Grundstoffs  viel, 
zum  grofsen  Teil  durch  eigene  Forschung  gesammeltes  Material  bei- 
gebracht. 

Auch  Sauers,  in  Form  eines  Widmungsbriefes  an  Professor  Dr. 
Michael  Bernays  gefafste  Einleitung,  in  der  er  die  Ziele  und  den 
Nutzen  der  ganzen  Sammlung  auseinandersetzt,  verdient  eine  „ehren- 
volle Erwähnung".  Es  ist  ein  weites  und  hohes  Ziel,  das  er  seinem 
Unternehmen  gesetzt  hat:  Es  soll  eine  Geschichte  der  deutschen 
Ubersetzungskunst  ^anbahnen  und  zugleich  gewissermafsen  eine  Schule 
für  die  künftigen  Übersetzer  bilden.  Die  Namen  der  von  ihm  ange- 
worbenen Mitarbeiter  bieten  die  Gewähr,  dafs  Gediegenes  dem  Publikum 
geboten  werden  wird.  Möge  bei  diesem  auch  die  „Bibliothek"  die 
gute  Aufnahme  finden,  die  sie  verdient  und  der  sie  zu  gedeihlichem 
Wachstum  bedarf. 

Wien.  Marcus  Landau. 


„Lied  von  Ritter  Siegmund  und  Magdalenn  s.  1.  u.  a.**,    welche  vielleicht  Bearbeitungen 
der  Magelone-Geschichte  sein  dürften. 


908  Besprechungen. 


KARL  AMERSBACH:    Aberglaube,  Sage  und  Märchen  bei  Grimmek" 
hausen,     Baden- Baden,  E.  Kolbün,     iSpijp^.    8a  S,  4^. 

In  der  Einleitung  zu  seiner  Ausgabe  des  Simplicissimus  g^ebt 
Tittmann  (S.  LXII — LXVIII)  eine  Übersicht  über  die  verschiedenen  von 
dem  Verfasser  des  Romanes  berührten  Gebiete  des  Aberglaubens,  indem 
er  zugleich  auf  die  Bedeutung  hinweist,  die  eine  vollständige  Sammlung 
und  Sichtung  des  Matedals  für  die  Kulturgeschichte  des  deutschen 
Volkes  haben  würde:  ein  Gedanke,  der  freilich  schon  vorher  durch 
Gustav  Freytags  Bilder  aus  der  deutschen  Vergangenheit  (Ges.  Werke, 
Bd.  20,  S.  64  —  99)  nahe  gelegt  worden  war.  An  diesen  Gedanken 
knüpft  Amersbach  in  der  vorliegenden  Programmabhandlung  an,  zu 
deren  erstem  Teile  (1891,  S.  i — 32)  nunmehr  in  fortlaufender  Pagi- 
nierung eine  Fortsetzung  erschienen  ist,  die  den  Gegenstand  insoweit 
abschliefst,  als  der  Verfasser  sich  nur  noch  eine  Besprechung  über 
jüdischen  Aberglauben  bei  Grimmeishausen  (ob  als  Programm,  ist 
nicht  ersichtlich)  vorbehält.  —  Hatte  der  erste  Teil  nach  der  die  all- 
gemeinen Gesichtspunkte  aufstellenden  Einleitung  unter  den  Ober- 
schriften „Der  Teufel",  „Geister  und  gespenstige  (warum  nicht  ge- 
spenstische?) Wesen"  und  „Zauberer  und  Hexen"  eine  Personalrevue 
gegeben,  nach  der  „dem  Forscher,  der  die  Ergebnisse  in  den  g^ofsen 
Zusammenhang  der  vergleichenden  Sagenkunde  rückt,  allerdings  noch 
genug  zu  tun  bleibt"*),  so  bietet  der  zweite  Teil  (S.  35 — 82)  in  den 
zwei  Hauptabschnitten  „Der  Zauber",  „Die  Wahrsagerei"  eine  weitere 
„gründliche  Zusammenstellung  und  Gruppierung",  bei  der  es  selbst- 
verständlich nicht  an  häufigen  Zurückweisungen  und  Wiederholungen 
fehlt,  die  aber  einen  beträchtlichen  Teil  der  von  dem  Jahresberichte 
geforderten  Arbeit  in  anerkennenswerter  Weise  leistet.  Die  in  gleiche 
Reihe  mit  jenen  fünf  Abschnitten  gestellten  Schlufskapitel  „Die  Al- 
chemie",  „Märchen  und  Sagen"  — ^  eine  etwas  augenfälligere  als  die 
nur  durch  den  Druck  angedeutete  Übersicht  wäre  erwünscht  gewesen 
—  füllen  nur  wenige  Seiten,  und  das  letztere  namentlich  läfst  es  fraglich 
erscheinen,  ob  nicht  eine  kürzere  Fassung  des  Titels  dem  Inhalte  der 
Abhandlung  besser  entsprochen  hätte.  Desto  reicher  ist  die  Fülle 
des  Stoffes,  den  der  Verfasser  teils  aus  den  ausschliefslich  oder  doch 
fast  ausschliefslich  den  Aberglauben  behandelnden  Schriften  Grimmeis- 
hausens (Vogelnest,  Galgenmännlein),  teils  aus  den  Andeutungen  oder 
breiteren  Ausführungen  in  seinen  übrigen  Schriften  (unter  diesen 
natürlich  in  erster  Linie  der  Simplicissimus)  zusammenstellt;  desto 
überzeugender  die  aus  den  einzelnen  Abschnitten  gewonnenen  Er- 
gebnisse über  die  Stellung,  die  der  Dichter  zu  seinem  Stoffe  nimmt 
(vgl.  z.  B.  die  Schlufssätze  auf  S.  68:  „Aus  dem  Angeführten  dürfte 
wohl  hervorgehen.  .  .  festhielten"). 

Weniger  glücklich  erscheint  uns  der  Verfasser  an  den  Stellen, 
wo  er  aus  dem  Gebiete  des  Aberglaubens  in  das  der  höheren  Mytho- 
logie   hinübergreift.     So    S.  41,    wo   unter   den    Beispielen    des  Fest- 

*)  Jahresberichte   für    neuere    deutsche  Litteraturgeschichte  tod  Elias,  Herrmaimy 
Ssamatölski.     1891,  n.  Halbband,  S.  17. 


Besprechungen.  269 


machens  auch  Balder  und  Siegfried  angeführt  sind,  hier  freilich,  wie 
es  scheint,  nach  dem  Vorgang  Frey  tags  (a.  a.  O.  S.  72),  dessen  Ver- 
dienst um  die  Würdigung  und  kulturhistorische  Verwertung  Grimmeis- 
hausens keineswegs  damit  angetastet  werden  soll.  Und  ebenso  ist, 
den  Übersetzer  und  Dichter  in  allen  Ehren  gehalten,  ein  Hinweis  auf 
Sixnrocks  Mythologie  doch  nur  mit  gröfster  Vorsicht  anzuwenden. 
Wenn  aber  eine  Vergleichung  der  angeführten  Litteratur  mit  den 
Verzeichnissen  in  Pauls  Grundrifs  (II.  i,  S.  776 — 808,  darunter  auch 
der  I.  Teil  der  vorliegenden  Programmabhandlung)  allerdings  erkennen 
lafst,  dafs  nur  ein  sehr  geringer  Bruchteil  aus  dem  reichen  Sagen- 
und  Märchenschatze  des  deutschen  Volkes  zur  Verwendung  gekommen 
ist,  so  wollen  wir  mit  dieser  Bemerkung  nicht  sowohl  einen  Tadel 
darüber  aussprechen,  dafs  die  vergleichenden  Citate  nicht  reichlicher 
erbracht  wurden;  wohl  aber  darf  auch  bei  dieser  Gelegenheit  nicht 
unausgesprochen  bleiben,  dafs  bei  jeder  wissenschaftlichen  Arbeit  die 
Einzelforschung  durch  einen  Blick  auf  das  Gesamtgebiet  des  jeweiligen 
Gegenstandes  in  das  rechte  Licht  gestellt  werden  sollte:  eine  Forderung, 
die  für  die  germanische  Philologie  seit  dem  Erscheinen  des  erwähnten 
Grundrisses  ebenso  leicht  zu  erfüllen  wie  unnachsichtlich  zu  stellen 
sein  wird. 

Die  Citate  aus  Grimmeishausens  Schriften  selbst  sind  nach  der 
Kurzschen  Ausgabe  gegeben.  Für  die  „noch  nicht  wieder  edierten 
Schriften"  benutzte  der  Verfasser  die  Göttinger  Universitäts-Bibliothek. 
Wenn  aber  S.  80,  Z.  i  gesagt  wird,  dafs  das  Ratsstübel  Plutonis 
fjetzt"  von  Bobertag  in  Kürschners  Deutscher  Nationallitt.  Bd.  35  neu 
ediert  ist,  so  ist  dazu  zu  bemerken,  dafs  der  betreffende  Band  schon 
1883  und  nicht,  wie  es  nach  einer  Vergleichung  mit  S.  4,  Anm.  i, 
erscheinen  könnte,  erst  nach  1891  in  diese  Sammlung  eingestellt  wurde.  — 
S.  63  wäre  der  von  Tittmann  beigebrachte  Hinweis  auf  den  Rubin, 
der  in  Kalidasas  „Urvasi**  den  König  auf  die  Spur  der  verlorenen 
Gattin  fuhrt,  doch  wohl  nicht  überflüssige  Wiederholung  gewesen. 

Zum  Schlüsse  möge  der  Wunsch  nicht  unterdrückt  werden,  dafs 
das  von  der  Reichs-Schulkommission  angeordnete  Institut  des  Programmen- 
tausches für  die  höheren  Lehranstalten  Deutschlands  gerade  in  Einzel- 
untersuchungen wie  die  vorliegende  ein  dankbares  Arbeitsfeld  und  in 
der  Gründlichkeit,  mit  der  unser  Verfasser  verfuhr,  ein  aneiferndes 
Vorbild  erblicken  sollte. 

Darmstadt.  Karl  LandmUnn. 


— .••- 


Le  poime  de  Gudrun\  ses  ortgines,  sa/ormatiön  et  son  htstoire,  These 
soutenue  devant  la  Faculte  des  Lettres  de  Paris  le  j^  jum  i8p4 
par  Albert  Fecamp,  charge  de  cours  ä  la  Faculte  des  Letires 
de  Montpellier  {XXX  VII,  267  p.  <5*.   Paris,  Emile  Bouillon,  1892). 

Cette  Oeuvre  existait    en   manuscrit   onze  ans    avant    de  paraitre 
sous  forme  de  livre.    Une  long^e  et  grave  maladie  de  Tauteur  en  a 


270  Besprechung^ezk. 


retarde  la  publication.  Elle  a  ete  imprimee  en  1892  teile  qu'en  1881 
eile  avait  re^u  Tapprobation  officielle  de  la  Faculte  de  Pans.  Si  rien 
n'a  ete  change  au  texte  primitif,  les  travaux  publies  dans  Tintervalle 
en  AUemagne  sur  le  poeme  de  Gudrun  ne  sont  pas  restes  sans 
mention  ni  sans  examen.  Ils  ont  ete  indiques  en  note  partout  oü  des 
vues  nouvelles  etaient  produites,  et  oü  il  convenait  de  signaler  la 
concordance  des  conclusions  de  Tauteur  lui-meme  avec  Celles  qui 
etaient  proposees  dans  ces  travaux.  M.  Fecamp  est  ainsi  arrive  ä 
une  bibliographie  complete  de  son  sujet.  11  la  donne  en  ving^t-deux 
grandes  pages,  avec  un  soin  et  une  exactitude  dont  auront  ä  se 
feliciter  tous  ceux  qui,  apres  lui,  voudront  encore  toucher  a  la  meme 
quesdon.  L'index  des  nomsd'auteurs  cites  et  une  riche  table  alphabetique 
et  analytique  des  matieres  achevent  de  donner  une  idee  de  la  con- 
science  avec  laquelle  M.  Fecamp  a  travaille,  et  faciliteront  la  con- 
sultation  de  son  ouvrage  a  ceux  qui  n*auront  pas  le  loisir  de  le  lire 
d'un  bout  ä  Tautre. 

Pour  le  public  lettre  fran^ais  qui  sinteresse  aux  oeuvres  litteraires 
del' AUemagne,  mais  ne  possede  pas  suffisamment  la  langue  pour  les 
lire  dans  le  texte,  les  pages  les  plus  consultees  du  livre  de  M.  Fecatnp 
seront  Celles  qui  donnent  Tanalyse  du  poeme  de  Gudrun.  Les  trente- 
deux  aventures  dont  ce  poeme  se  compose  sont  resumees  et  exposees 
de  maniere  a  en  donner  une  idee  süffisante  et  claire  (v.  p.  14 — 43). 

M.  Fecamp  a  le  talent  de  soutenir  Tallention  du  lecteur,  ä  travers 
de  savantes  discussions  de  textes,  par  des  faits  souvent  pleins  d'attrait. 
C*est  ainsi  que,  p.  203  et  suiv.,  il  indique  d'une  fa^on  attachante 
comment  Tauteur  de  Gudrun  a  fait  passer  dans  son  oeuvre,  a  cöte 
des  simples  et  vagues  reminiscences  que  poüvait  lui  oflfrir  la  legende, 
les  traits  principaux  de  Thistoire  d* Adelaide,  racontee  et  connue  alors 
dans  toute  TAllemagne.  L'inspiration  venue  de  ce  cöte  est  manifeste 
dans  un  des  episodes  les  plus  beaux  et  les  plus  touchants  de  Touvrage, 
ä  savoir:  Tarrivee  de  la  jeune  Gudrun  sur  cette  terre  etrangere  oü 
Tattend  un  sort  si  cruel,  et  la  constance  avec  laquelle  eile  supporte 
les  humiliation  qui  lui  sont  infligees.  A  ce  propos  nous  voudrions 
faire  a  M.  Fecamp  un  petit  reproche.  Pourquoi  n'a-t-il  pas  ajoute 
ä  sa  bibliographie  la  belle  inspiration  de  Geibel  dans  „Gudruns  Klage^, 
qui  se  rapporte  justement  au  passage  en  question?  Mais  c'est  lä  une 
simple  chicane,  sans  autre  importance.  La  these  de  notre  auteur  est 
d*un  bout  a  Tautre  une  oeuvre  instructive.  L'artisan  s'  est  montre 
digne  de  la  matiere,  et  la  Nebensonne  du  Nibelungenlied  va  etre 
connue  en  France  et  appreciee  ä  sa  juste  valeur. 

Poitiers.  Jacques  Parmentier. 


-«••- 


Schillers  Alpenjäger  und  Kalidasas  Sakuntala. 


Von 
Ernst  Malier. 


Vor  einiger  Zeit  hat  Professor  W.  Sauer  in  Stuttgart  die  Behaup- 
tung aufgestellt,  dafs  Schiller  sicher  aus  dem  Anfang  des  ersten 
Akts  der  Sakuntala  den  Anlafs  zur  Dichtung  seines  Alpenjägers  ge- 
nommen habe,  nur  verlege  er  die  Scene  in  die  näher  liegende  Schweiz, 
mit  der  er  damals  aus  Anlafs  seines  Teil  sich  viel  beschäftigt  habe. 
Zur  Begründung  seiner  Ansicht  fuhrt  er  folgendes  an:  „Hietür  sprechen, 
abgesehen  von  dem  Inhalt  der  Dichtungen  im  allgemeinen  und  von 
Einzelheiten,  auch  die  Jahreszahlen.  1791  hat  Forster  seine  Über- 
setzung herausgegeben,  1799  siedelt  Schiller  nach  Weimar  über 
und  verkehrt  von  da  an  täglich  mit  Goethe.  1803  erscheint  die 
zweite  Auflage  der  Forsterschen  Übersetzung,  besorgt  von  Herder, 
und  1804  dichtet  Schiller  seinen  Alpenjäger"*). 

Zur  Beurteilung  dieser  Frage  lasse  ich  zunächst  den  Anfang  des 
ersten  Aktes  der  Sakuntala  in  der  Forsterschen  Übersetzung  folgen, 
soweit  es  nötig  ist**). 

Sakontala  oder  der  entscheidende  Ring. 

Erster  Aufzug. 
Scene:  ein  Wald. 

Daschmanta  auf  seinem  Wagen  verfolgt  eine  Antelope  oder  Gazelle  mit  Bogen  und 
Köcher;  sein  WagenfUirer  begleitet  ihn. 


*)  Korrespondenzblatt  för  die  Gelehrten-  und  Realschulen  Württembergs,  1893, 
S.  300.    Vgl.  dagegen  a.  a.  O.  S.  43  flf. 

**)  Sauer  hat  a.  a.  O.  S.  303  ff.  eine  eigene  Übersetzung  gegeben.  Hier  aber  kann 
es  sich  nur  um  die  Porstersche  Obersetzung  handeln,  die  Schiller  kannte,  da  sie  zum 
Teil  schon  1790  in  dessen  Thalia  erschienen  war.  Der  folgende  Text  steht  in  Georg 
Forsters  sämtlichen  Schriften,  herausgegeben  von  seiner  Tochter.    Leipzig  1843.   Bd.  9. 

S.  i74ff. 

Ztachr.  f.  TfL  Litt..G«Mb.    N.  P.  Ylll.  ^3 


272  Ernst  Mflller. 


Der  Führer. 

(Sieht  erst  die  Antelope  und  dann  den  König  an.) 

Wenn  ich  dort  die  schwarze  Antelope  und  dann  dich,  o  König, 
ins  Auge  fasse,  mit  deinem  gespannten  Bogen,  so  erblick'  ich  gleich- 
sam vor  mir  den  Gott  Mahesa,  wie  er  einen  Hirsch  verfolgt,  mit 
seinem  Bogen,  genannt  Pinaka,  straff  in  seiner  Linken. 

Duschmanta. 

Das  schnelle  Tier  hat  die  Jagd  sehr  in  die  Länge  gespielt.  Dort 
läuft  es  nun  wieder,  mit  seinem  Halse  so  zierlich  zurückgebogen,  und 
sieht  sich  von  Zeit  zu  Zeit  nach  dem  Wagen  um,  der  es  verfolgt. 
Jetzt,  aus  Furcht  vor  dem  herabsinkenden  Pfeil,  zieht  es  den  Kopf 
ein,  und  streckt  die  biegsamen  Hüften,  und  jetzt  ermattet,  hält  es 
inne,  mit  halbgeöffneten  Lippen  das  Gras  auf  seinem  Pfade  abzu- 
weiden. Sieh,  wie  es  springt  und  in  langen  Sätzen  sich  fortschnellt, 
leicht  am  Erdboden  hinschwebt,  und  sich  wieder  hoch  in  die  Luft 
bäumt.  Jetzt  wird  seine  Flucht  so  schnell,  dafs  ich  es  kaum  noch 
erkennen  kann. 

Der  Führer. 

Wir  hatten  rauhen  Boden,  und  die  Pferde  wurden  im  besten 
Rennen  aufgehalten.  Der  Flüchtling  hat  unsere  Zögerung  benutzt. 
Hier  ist  es  eben,  und  es  wird  ein  Leichtes  sein,  ihn  einzuholen. 

Duschmanta. 
Lafs  ihnen  die  Zügel  schiefsen. 

Der  Führer. 

Wie    der  König    befiehlt.      (Er  jagt  im  vollem  Lauf  und  hernach  gemach.) 

Entfliehen  könnt*  er  nicht.  Die  Staubwolken  von  den  Pferden 
aufgetrieben,  berührten  sie  nicht  einmal;  sie  schüttelten  die  Mähnen, 
spitzten  die  Ohren  und  galoppierten  nicht,  nein,  sie  flogen  über 
die  glatte  Ebene. 

Duschmanta. 

Sie  holten  die  schnelle  Antelope  bald  ein.  Gegenstände,  die  ent- 
fernt ganz  klein  erschienen,  wurden  plötzlich  grofs;  was  wirklich  ge- 
teilt war,  schien  eins,  indem  wir  vorüberkamen,  und  was  krumm  war, 
schien  gerade.  Die  Bewegung  der  Räder  war  so  schnell,  dafs  einige 
Augenblicke  nichts  nah  und  nichts   fem  zu  sein  schien.     (Er  legt  einen 

Pfeil  auf  die  Bogensehne.) 


Schillers  Alpenjäger  und  Kalldasas  Sakuntala.  878 

Stimme  hinter  der  Scene. 

Sie  darf  nicht  getötet  werden!  Diese  Antelope,  o  König,  hat  in 
unserem  Walde  ihren  Zufluchtsort;  man  darf  sie  nicht  töten! 

Der  Führer  (horcht  und  sieht  sich  um). 

Eben  stand  das  Tier  dir  schufsgerecht,  da  kommen  ein  paar  Ein- 
siedler dazwischen. 

Duschmanta. 
So  halte  den  Wagen  an. 

Der  Führer. 
Des  Königs  Wille  geschieht.     (Er  hält  die  Zügel  an.) 

Ein  Einsiedler  und  sein  Schüler. 

Der  Einsiedler  (hält  die  Hände  hoch  auf). 

Töte  nicht,  mächtiger  Herrscher,  töte  nicht  ein  armes  junges  Tier, 
das  einen  Schutzort  gefunden  hat.  Nein,  gewifs,  es  darf  nicht  ver- 
letzt werden.  Ein  Pfeil  in  dem  zarten  Leibe  eines  solchen  Tieres 
wäre  wie  Feuer  in  einem  Ballen  Baumwolle.  Verglichen  mit  deinen 
scharfen  Geschossen,  wie  schwach  mufs  nicht  das  zarte  Fell  einer 
jungen  Antelope  sein!  Verbirg  doch  schnell  den  Pfeil,  mit  dem  du 
zieltest.  Eure  Waffen,  ihr  Könige,  ihr  Helden,  sind  zur  Rettung  der 
Bedrückten  bestinunt,  nicht  zum  Verderben  des  Schuldlosen. 

Duschmanta  (grüist  sie). 

Seht,  ich  berge  meinen  Pfeil.      (Er  steckt  ihn  in  den  Köcher.) 

Der  Einsiedler  (freudig.) 

Dein  würdig  ist  diese  Tat,  glorreichster  Fürst;  ja,  sie  ist  eines 
Fürsten  würdig,  der  von  Puru  stammt  Möchtest  du  einen  Sohn 
haben,  den  die  Tugend  ziert,  einen  Beherrscher  der  Welt! 

Der  Schüler  (beide  Hände  emporhebend). 

Jal  Allerdings,  möge  dein  Sohn  mit  jeder  Tugend  geschmückt 
sein,  ein  Beherrscher  der  Weltl 

Duschmanta  (neigt  sich  gegen  sie). 

Mein  Haupt  trägt  in  Ehrfurcht  die  Aussprüche  eines  Bramen. 

So  die  Sakuntala.  Vergleicht  man  damit  Schillers  Alpenjäger, 
so  faUt  es  sehr  schwer,  wirkliche  Beziehungen  zwischen  beiden  heraus- 

18* 


374  Ernst  MfiUer. 


zufinden.  So  ist  vor  allem  die  Situation  in  den  beiden  Dichtungen 
eine  absolut  andere.  Dort  eine  königliche  Jagd  in  der  Ebene  zu 
Wagen  gegen  eine  Gazelle,  hier  eine  Jagd  eines  einzelnen  Gemsjägers 
im  Hochgebirge.  Auch  der  Schlufe,  der  scheinbar  ähnlich  ist,  zeigt 
im  Grunde  doch  eine  grofse  Verschiedenheit.  Doch  es  wird  nicht 
nötig  sein,  die  Punkte  alle  einzeln  aufzufuhren.  Die  Unähnlichkeit 
liegt  zu  sehr  auf  der  Hand.  Übrigens  sagt  Sauer  ja  auch  selbst,  dafs 
Schiller  aus  der  Sakuntala  nur  den  Anlafs  zu  seiner  Dichtung  ge- 
nommen habe.  Das  schliefse,  argumentiert  er  sodann  weiter,  die 
Möglichkeit  nicht  aus,  dafs  Schiller  noch  aus  andern  Quellen  geschöpft 
habe.  Also  noch  andere  Quellen.  Und  welche?  Die  wichtigste 
Quelle  bildet  eine  Stelle  in  Bonstettens  Briefen  über  ein  schweizerisches 
Hirtenland.  Die  Stelle  lautet:  „Alte  Ehern  hatten  einen  ungehorsamen 
Sohn,  der  nicht  wollte  ihr  Vieh  weiden,  sondern  Gemse  (so!)  jagen. 
Bald  aber  ging  er  irre  in  Eistäler  und  Schneegründe;  er  glaubte  sein 
Leben  verloren.  Da  kam  der  Geist  des  Berges,  und  sprach  zu  ihm: 
„Die  Gemse  (so!),  die  du  jagest,  sind  meine  Heerde;  was  verfolgst 
du  sie?"  Doch  zeigte  er  ihm  die  Strafse;  er  aber  g^ng  nach  Haus 
und  weidete  sein  Vieh"*).  Leimbach  erzählt  die  Sage  nach  Tschudi, 
Sauer  selbst  erwähnt  die  Schweizersagen  bei  Viehoff.  Doch  will  ich 
darauf  nicht  weiter  eingehen.  Ich  halte  mich  nur  an  Bonstetten.  Es 
fragt  sich  nun:  Brauchte  der  Dichter  neben  dieser  Schweizersage,  die 
er  aus  Bonstetten  kannte  —  er  besafs  das  Buch  selbst  —  noch  andere 
Quellen?  Hat  ihm  nicht  diese  eine  Quelle  hinreichenden  Stoff  für 
seine  Dichtung  geboten?  Brauchte  er  vollends  bei  dieser  Quelle  noch 
einen  besonderen  Anlafs  zu  seiner  Dichtung  anderswoher  zu  nehmen, 
und  zumal  bei  einem  so  kleinen  Gedicht?  Was  stammt  denn  dann 
eigentlich  noch  von  Schiller  selbst,  möchte  man  fast  fragen,  wenn  für 
alles  noch  eine  besondere  Quelle  da  sein  soll?  Da  bleibt  der  Dichter- 
fantasie nichts  mehr  übrig. 

Aber,  entgegnet  Sauer,  „in  dieser  Beziehung  (zu  Sakuntala)  ist 
auch  die  Überschrift:  „Der  Alpenjäger"  statt  „Der  Gemsjäger"  zu 
bemerken.  Diese  eigentümliche  Überschrift  ist  wohl  gewählt,  weil  in 
der  Dichtung  nicht  von  einer  Gemse,  sondern  von  einer  Gazelle  die 
Rede  ist".  Allerdings  der  Ausdruck  Gazelle  für  Gemse  ist  auffallend 
und  er  mag  im  ersten  Augenblick  zu  der  Ansicht  fuhren,  dafs  er  aus 


*)  Schriften  von  K.  V.  von  Bonstetten,  herausgegeben  von  Fr.  v.  Matthisson,  2.  Ausg. 
1824,  S.  X2I.  Vergl.  H.  Dünt2ers  Erläuterungen  zu  Schillers  lyrischen  Gedichten, 
2.  Aufl.  S.  68. 


Schillers  Alpenjäger  and  Kalidasas  Sakuntalsu  27b 

derSakuntala  entlehnt  sei.  Aber  eine  etwas  genauere  Betrachtung  der 
Sache  wird  uns  ebenso  leicht  davon  überzeugen,  dafs  dem  nicht  so 
ist.  Gesetzt  nämlich,  Schiller  habe  in  der  Tat  den  Ausdruck  Gazelle 
aus  dem  indischen  Drama  genommen:  wäre  es  da  nicht  höchst  sonder- 
bar, wenn  er  nur  das  allein  entlehnt  und  dann  in  ganz  verkehrtem 
Sinne  angewandt  hätte?  Hätte  er  in  diesem  Falle  nicht  auch  die 
ganze  Situation  und  vor  allem  die  Figur  des  Königs  mit  herüber  ge- 
nommen? Spdann  ist  ganz  besonders  zu  beachten,  dals  nach  Forsters 
Erläuterungen  zu  Antelope  (S.  317)  es  nicht  sicher  ist,  was  für  ein 
Tier  in  der  Sakuntala  gemeint  ist.  Vielleicht  sei  es  „die  sogenannte 
blaue  Kuh  oder  Nil-Ghaa  der  Indier,  ein  grofses  Tier,  von  der  Höhe 
eines  kleinen  Pferdes,  von  schwarzgrauer  Farbe,  mit  weifsen  Flecken 
an  den  Füfsen  und  Ohren". .  Damit  konnte  aber  Schiller  doch  unmög- 
lich eine  Gemse  vergleichen!  Also  kann  er  auch  den  Namen  nicht 
von  dort  endehnt  haben! 

Aber  wie  kommt  Schiller  zu  der  Bezeichnung  der  Gemse  als 
Gazelle?  Die  gewöhnliche  Erklärung  ist,  der  Dichter  habe  das  Wort 
um  des  Reimes  willen  gewählt.  Das  ist  ziemlich  wahrscheinlich,  aber 
sicher  nicht  allein  mafsgebend  gewesen.  Es  waren  vielmehr  zweifellos 
noch  andere  Gründe,  die  den  Dichter  zur  Wahl  dieses  Wortes  be- 
stimmten. Zunächst  ist  festzustellen,  dafs  an  eine  Verwechslung  na- 
türlich nicht  zu  denken  ist.  Der  Dichter  kannte  das  Leben  und  die 
Gewohnheiten  der  Gemsen  genau.  Das  zeigen  uns  seine  Notizen  aus 
Fäsi:  „Gemsen  weiden  gesellschaftlich  —  Vorgeis  pfeift,  wenn  Gefahr 
ist  —  ihre  Zuflucht  unter  Felsvorsprüngen"  etc.*).  Das  sehen  wir 
ferner  aus  seinem  Teil.     Wemi  sagt  dort  I.  i: 

Das  Tier  hat  auch  Vernunft, 
Das  wissen  wir,  die  wir  die  Gemsen  jagen. 
Die  stellen  klug,  wo  sie  zur  Weide  gehen, 
*ne  Vorhut  aus,  die  spitzt  das  Ohr  und  warnet 
Mit  heller  Pfeife,  wenn  der  Jäger  naht. 

I,  4  Melchthal: 

Die  Gemse  reifst  den  Jäger  in  den  Abgrund. 

IV,  3  sagt  Teil  in  seinem  berühmten  Monolog: 

Ich  laure  auf  ein  edles  Wild  —  Läfst  sich's 
Der  Jäger  nicht  verdriefsen,  Tage  lang 
Umher  zu  streifen  in  des  Winters  Strenge 


*)  Schiller,  Historisch-kritische  Ausgabe  v.  Gödeke.    Bd.  14  S.  XI. 


976  Ernst  Müller. 


Von  Fels  zu  Fels  den  Wagesprung  zu  thun, 
Hinan  zu  klimmen  an  den  glatten  Wänden 
Wo  er  sich  anleimt  mit  dem  eignen  Blut, 
Um  ein  armselig  Grattier  zu  erjagen. 

III,  I  jammert  Teils  Gemahlin  Hedwig; 

Ich  sehe  dich,  im  wilden  Eisgebirg 

Verirrt  von  einer  Klippe  zu  der  andern 

Den  Fehlsprung  thun,  seh',  wie  die  Gemse  dich 

Rückspringend  mit  sich  in  den  Abgrund  reifst. 

Ein  paar  Zeilen  nachher  fahrt  sie  fort: 

Ach  den  verwegenen  Alpenjäger  hascht 
Der  Tod  in  hundert  wechselnden  Gestalten! 

Also  auch  hier  der  Alpenjäger  *)  statt  des  Gemsenjägers.  Damit 
ist  sicher  bewiesen,  dafs  auch  in  dem  Gedicht  „der  Alpenjäger" 
zweifellos  der  Gemsjäger  gemeint  ist.  Sauers  Annahme,  dafs  diese 
Überschrift  gewählt  sei,  weil  in  dem  Gedicht  nicht  von  einer  Gemse, 
sondern  von  einer  Gazelle  die  Rede  sei,  ist  damit  hinfällig  geworden. 

Und  jetzt  die  Antwort  auf  die  Frage,  warum  Schiller  hier  aus  der 
Gemse  eine  Gazelle  machte.  Die  Gemse,  antilope  rupicapra,  und 
die  Gazelle,  antilope  dorcas,  gehören  in  dieselbe  Gattung.  Auch 
äufserlich  haben  sie  viel  Ähnlichkeit.  Und  die  Gewandtheit  und 
Schnelligkeit  beider  Tiere  ist  gleich  bekannt.  Diese  Eigenschaft 
machte  gerade  die  Gazelle  zum  Liebling  der  orientalischen 
Dichter.  Auch  ihr  Auge  wird  als  besonders  schön  von  ihnen 
gerühmt.  So  heifst  auch  die  Sakuntala  das  „Mädchen  mit  dem 
Gazellenauge"  (Forster  S.  i8i).  Ebenso  ist  in  der  Sakuntala  von 
Lieblingsgazellen  die  Rede  (S.  189  u.  219).  Doch  ist  das  Tier  ja 
eigentlich  keine  Gazelle.  Aber  die  Gazelle  spielt  auch  in  der  arabischen 
und  hebräischen  Dichtung  infolge  ihrer  trefflichen  Eigenschaften  eine 
Rolle.  Und  aus  der  hebräischen  Poesie  war  das  Schiller  sicherlich 
bekannt.  So  ist  es  also  wohl  begreiflich,  wenn  er  die  Gemse  mit  der 
Gazelle  zusammenstellte.  Stillschweigend  setzte  er  voraus,  dafs  der 
Leser  unter  dem  verfolgten  Tiere  nur  an  eine  Gemse  denken  würde. 
Und  diese  Annahme  war  nicht  ganz  unberechtigt.  Hätte  er  doch  am 
18.  Februar  1804  seinen  Teil  beendet  und  am  5.  Juli  desselben  Jahres 


*)  Im  Anfang  der  Scene,  in  dem  bekannten  Gedicht  «Mit  dem  Pfeil  dem  Bogen"  etc. 
ist  noch  allgemeiner  der  Alpenjäger  bezw.  Gemsjäger  als  „Schütce*^  bezeichnet. 


Schillers  Alpenjäg^er  and  Kalidasas  Sakuntala.  277 

den  Alpenjäger  an  Becker  gesandt,  in  dessen  „Taschenbuch"  das  Ge 
dicht  zuerst  erschien.  So  lebte  der  Dichter  noch  ganz  in  seinem  Teil 
und  so  entstand  auch  der  Alpenjäger  infolge  der  Beschäftigung  mit 
dem  Teil  gerade  so  wie  das  „Berglied."  Ja  man  möchte  fast  glauben, 
dafs  die  Spuren  der  Dunkelheit,  in  die  Schiller  sein  „Berglied"  ab- 
sichtlich hüllte  —  er  sandte  es  an  Goethe  als  eine  „Aufgabe  zum 
Dechifl&ieren"  —  auch  noch  im  Alpenjäger  anzutreffen  sein.  Freilich 
ist  das  Dunkel  so  wenig  stark,  dafs  der  Leser  es  ohne  grofse  Mühe 
aufzuhellen  vermag. 

Betreffs  des  Ausdrucks  „Gazelle"  dürfte  vielleicht  auch  noch 
daran  erinnert  werden,  dafs  Schiller  auch  sonst  Wechsel  liebt.  So 
nennt  er  in  seinem  „Handschuh"  den  Löwen,  Tiger  und  die  Leoparden 
„gräuliche  Katzen."  Den  „Pegasus  im  Joche"  bezeichnet  er  als 
.muntere  Krabbe",  die  furchtbaren  Seetiere  im  „Taucher"  als  Larven. 
Bei  genauerer  Nachforschung  liefsen  sich  wohl  noch  passendere  Bei- 
spiele finden.  In  unserem  Gedicht  liegt  die  Sache  freilich  etwas 
anders,  da  ja  der  Name  der  Gemse  darin  garnicht  vorkommt,  sondern 
nur  stillschweigend  vorausgesetzt  wird;  man  müfste  nur  etwa  an- 
nehmen, dafs  —  was  allerdings  nicht  undenkbar  ist  —  der  Dichter 
mit  dem  Ausdruck  „das  gequälte  Tier"  direkt  die  Gemse  bezeichnet, 
so  wie  der  Gemsjäger  nicht  von  der  Gemse,  sondern  nur  von  dem 
„Tier"  redet. 

Vielleicht  darf  betreffs  des  Wechsels  im  Ausdruck  auch  noch 
daran  erinnert  werden,  dafs  Schiller  den  Gemsjäger  zuerst  als  „Knaben" 
einfuhrt  und  nachher  als  „harten  Mann"  bezeichnet. 

Und  mm  der  Schlufs  der  beiden  Dichtungen.  Sauer  sagt*): 
„Den  Schlufs  im  ganzen  heben  wir  noch  besonders  hervor:  „Raum 
für  alle  hat  die  Erde,  was  verfolgst  Du  meine  Herde?"  Hier,  wie  in 
in  der  Sakuntala,  wird  zum  Schlufs  in  zwei  kurzen,  schlagenden 
Zeilen  die  Forderung  des  Dazwischentretenden  begründet,  nur  nach 
meinem  Dafürhalten  in  der  Sakuntala  besser  als  im  Alpenjäger."  Da- 
gegen bemerke  ich :  es  ist  für  unsere  vorliegende  Frage  ganz  einerlei, 
ob  in  der  Sakuntala  oder  im  Alpenjäger  die  Forderung  des  Da- 
zwischentretenden besser  begründet  ist.  Hier  handelt  es  sich  ja  nur 
darum,  ob  Schiller  von  der  Sakuntala  beeinflufst  war.  Das  ist  aber 
gerade  am  Schlufs  am  allerwenigsten  der  Fall.  Denn  diesen  hat  der 
Dichter  doch  ziemlich  wörtlich  "aus  Bonstetten  herübergenommen.  Das 
dürfte  kaum  zu  bezweifeln  sein.     Unter  diesen  Umständen  ist  es  über- 


*)  a.  a.  O.  S,  306. 


278  Ernst  Maller. 


flüssig  auf  alle  Aufstellungen  Sauers  einzugehen.  Er  sagt  nämlich: 
„Weitere  Einzelheiten  sind:  Und  der  Knabe  ging  zu  jagen,  Und  es 
treibt  und  reifst  ihn  fort,  rastlos  fort;  vor  ihm  her  mit  Windes- 
schnelle flieht  die  zitternde  Gazelle;  trägt  sie  der  gewagte 
Sprung;  folgt  er  mit  dem  Todesbogen;  mit  des  Jammers  stummen 
Blicken  fleht  sie  zu  dem  harten  Mann;  denn  loszudrücken  legt 
er  schon  den  Bogen  an;  plötzlich  aus  der  Felsenspalte  tritt  der 
Geist,  der  Bergesalte;  und  mit  seinen  Götterhänden  schützt  er 
das  gequälte  Tier;  was  verfolgst  Du  meine  Herde?  Zu  diesen 
Einzelheiten  im  Alpenjäger  werden  sich  die  Parallelen  in  der  Sakun- 
tala  leicht  finden/'  Übrigens  lassen  sich  auch  diese  Stellen  nicht  alle 
nachweisen.  So  findet  sich  von  den  „stummen  Blicken^'  etc.  nichts  in 
der  Sakuntala,  sowenig  wie  von  der  „Herde".  Und  wenn  sich  der 
eine  und  andere  Anklang  findet,  so  ist  es  unter  ganz  anderen  Ver- 
hältnissen. So  lange  sich  aber  keine  wördiche  Übereinstinmiung  nach- 
weisen läfst,  so  lange  ist  auch  an  keine  Endehnung  zu  denken  oder 
zum  wenigsten  nicht  sicher  anzunehmen. 

Eine  wörtliche  Entlehnung,  die  als  solche  doch  ziemlich  zweifel- 
los ist,  läfst  sich  für  den  Alpenjäger  nur  aus  der  erwähnten  Schweizer* 
sage  nachweisen.  Darum  wird  es  auch  vorerst  dabei  bleiben  müssen, 
dafs  diese,  wie  bisher  mit  vollem  Recht  angenommen  wurde,  die 
einzige  Quelle  und  damit  auch  sicherlich  den  Anlafs  zu  Schillers 
Alpenjäger  bildete. 


Tübingen. 


-«••- 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne. 


Von 
Marcus  Landau. 


vn. 


Erst  ein  Jahrhundert  nach  V  Hermite  *)  erscheint  Mariamne  wieder  auf 
der  französischen  Bühne,  aber  in  Spanien  dramatisieren  fast  gleich- 
zeitig mit  ihm  zwei  bedeutende  Dichter,  Calderon  und  Tirso  de  Molina, 
ihre  Schicksale  und  ihnen  folgt  ein  Menschenalter  später  ein  tief  unter 
ihnen  stehender  —  Lozano. 

Ein  spanischer  Litterarhistoriker  erklärt  Calderons  Trauerspiel  El 
Tetrarca  (der  Vierfurst)  oder  El  mayor  monstruo  los  zelos  (Eifer- 
sucht das  gröfste  Scheusal)  für  eines  der  vier  Meisterwerke  der  dra- 
matischen Litteratur  seines  Vaterlandes.  „Wenn",  sagt  er,  „durch 
undenkbares  Verhängnis  der  ganze  Reichtum  dieser  Litteratur  zum 
Untergange  verurteilt  würde,  so  dafs  nur  vier  Stücke  gerettet  werden 
könnten,  würde  er  als  die  ruhmvollsten  Reliquien  derselben  die  vier 
Dramen  El  Tetrarca  von  Calderon,  El  desden  con  el  desden  von 
Moreto,  La  verdad  sospechosa  von  Alarcon  und  Garcia  del  Castanar 
von  Rojas  aus  dem  allgemeinen  Untergange  erretten"  **). 

Mich  eines  Urteils  über  das  mir  unbekannte  Stück  Alarcons  ent- 
haltend kann  ich  dem  über  die  Stücke  Moretos  und  Rojas  wohl 
zustiüomen,  mufs  mich  aber  gegen  die  Aufnahme  des  Tetrarchen  unter 
die  vier  g^öfsten  Meisterwerke  des  spanischen  Theaters  ebenso  ent- 
schieden verwehren,  wie  vor  neunzehn  Jahrhunderten  die  Juden  sich 
gegen  die  Einsetzung  dieses  Idumäers  zu  ihrem   Könige  wehrten***). 


•)  Vergl.  S.  ao4  f. 
**)  Si  por  una  inconcebibile  fatalidad  estuviere  destinado  a  desparecer  de  repente 
de  la  luz  de  la  tierra  nuestro  antiguo  teatro  y  nos  fuere  dado  salvar  solo  una  pequeöisima 
parte  de  ^1,  cuatro  dramas  como  reliquia  de  tanta  riqueza,  nosotros,  que  tenemos  en 
mucho  las  glorias  literarias  de  nuestra  nacion,  no  vacilariamos  en  eb'gir  para  salvarlos 
de  eso  espantoso  naufragio  universal.  El  Tetrarca  de  Calderon^*  .  .  .  .  u.  s.  w.  wie 
oben.  (Tesauro  del  Teatro  espaflol,  dtiert  von  J.  L.  Klein,  Geschichte  des  Dramas  XI 
erste  Abt.  S.  233.) 

***)  Zur  Zeit  der  Handlung  des  Stücks,  kurz  vor  und  nach  der  Schlacht  bei  Actlum, 
war  Herodes  schon  seit  neun  Jahren  König,  der  Titel  Tetrarch,  den  er  darin  f&hrt,  ist 
einer  der  vielen  Anachronismen  Calderons. 


280  Marcus  Landau. 


Gar  manches  spanische,  ja  selbst  Calderonsche  Drama  wurde 
viel  eher  diesen  Ehrenplatz  verdienen  als  diese  mit  oft  schwülstiger 
Lyrik  überladene,  mit  Anachronismen  und  den  unwahrscheinlichsten  Zu- 
fallen gefüllte  Schicksalstragödie,  in  der  uns  die  Eifersucht  in  ihrer 
sonderbarsten  Gestaltung  vorgeführt  wird. 

Während  Dolce  sich  ziemlich  treu  an  die  Berichte  des  Josephus 
hält,  benutzt  Calderon  nur  sehr  wenig  von  diesen,  ändert  sie  willkür- 
lich ab  und  fügt  eine  Menge  von  ihm  erfundener  unhistorischer,  den 
Sitten  und  Verhältnissen  jener  Zeit  nicht  entsprechender  Zwischen- 
falle und  Details  hinzu,  ohne  durch  irgendwelche  dramatische  Motive 
dazu  genötigt  zu  sein  und  ohne  irgendwelchen  künstlerischen  Zweck 
damit  zu  erreichen. 

Hat  Calderon  die  Geschichte  und  die  Verhältnisse  Judäas  zur  Zeit 
der  Geburt  Christi  so  wenig  gekannt  oder  wollte  er  in  souveräner 
Laune  mit  den  Personen  des  Stücks  sein  Spiel  treiben? 

Im  Beginne  des  ersten  Akts  finden  wir  den  Tetrarchen  Herodes 
mit  seinem  vertrauten  Diener  Filipo  und  seine  Gattin  Mariamme  die 
Calderon  Mariene  nennt,  mit  ihren  Hoffräulein  Sirene  und  Libia  in 
einem  Landhause  am  Meeresufer  bei  Joppe.  Die  traurig  gestimmte 
Mariene  wird  mit  Musik  und  Gesang  begrüfst,  worauf  Herodes,  nach- 
dem er  seiner  Gattin  ein  schwungvolles  Kompliment  gemacht,  vor  der 
ganzen  Gesellschaft  seine  schlaue  Politik  entwickelt,  wie  er  durch 
geschicktes  Lavieren  und  Hetzen  zwischen  Antonius  und  Octavianus 
beide  Römer  verdrängen  und  sich  in  Rom  mit  seiner  Gemahlin  zum 
Herrscher  krönen  lassen  will.  Einstweilen  hat  er  aber  ihren  Bruder 
Aristobul  und  den  Feldherrn  Tolomeo,  die  in  seine  Pläne  nicht  ein- 
geweiht sind,  mit  Mannschaft  und  Schiffen  zur  Unterstützung  des 
Antonius  ausgesendet. 

Mehr  aber  als  diese  Weltherrschaftspläne  liegt  ihm  die  Stimmung 
Marienes  am  Herzen,  und  besorgt  fragt  er  sie  um  die  Ursache  ihres 
zur  Schau  getragenen  Kummers,  der  schon  anfange,  bei  ihm  Eifersucht 
zu  erregen.  (A  zelos  me  ocasionan  tus  desvelos.)  Sie  giebt  als  Ur- 
sache an,  ein  gelehrter  Sternseher  in  Jerusalem  habe  ihr  verkündet, 
sie  werde  die  Beute  des  grausamsten,  stärksten  und  schrecklichsten 
Scheusals  werden  und  dafs  Herodes  mit  dem  Dolche,  den  er  im 
Gürtel  trage,  sein  Liebstes  auf  Erden  töten  werde.  Der  Gatte  sucht 
hierauf  mit  den  subtilsten  Arg^umenten  ihre  Besorgnis  und  Angst  zu 
zerstreuen.  „Diese  Prophezeiung"  sagt  er,  „ist  entweder  falsch  oder 
wahr.  Ist  sie  falsch,  so  haben  wir  uns  um  sie  nicht  im  geringsten  zu 
kümmern,  ist  sie  wahr,  so  bist  du  besser  daran  als  Andere,  die  jeden 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.     II.  281 

Augenblick  vom  Tode  erreicht  werden  können;  du  aber  weifst,  dafs 
du  nur  von  einem  schrecklichen  Ungeheuer  getötet  werden  kannst, 
und  ein  solches  ist  ja  vorläufig  weit  und  breit  nicht  zu  sehen.  Und 
dann  lautet  die  Prophezeiung,  ich  werde  mein  Liebstes  auf  Erden  mit 
einem  Dolche  töten,  mein  Liebstes  ist  aber  niemand  anders  als  du, 
der  ja  ein  Scheusal  den  Tod  bringen  soll.  Da  du  nicht  zugleich  von 
einem  Monstrum  und  einem  Dolch  getötet  werden  kannst,  so  hebt 
eine  Prophezeiung  die  andere  auf  und  du  hast  nichts  zu  furchten". 
Um  sie  vollends  zu  beruhigen  und  die  Erfüllung  der  Prophezeiung 
unmöglich  zu  machen,  wirft  hierauf  Herodes  den  Dolch  ins  Meer. 

Der  fatale  Dolch  benimmt  sich  aber  ungefähr  so  wie  der  Ring 
des  Polykrates.  Anstatt  ins  Meer  zu  versinken,  dringt  er  in  den 
Rücken  des  Feldherrn  Tolomeo,  der  gerade  als  Besiegter  von  Actium 
zurückkehrte,  angesichts  Jerusalems  (das  Calderon  also  zur  Seestadt 
macht)  Schiffbruch  litt  und  sich  gerade  in  dem  Moment  ans  Land 
rettete,  als  Herodes  seinen  Dolch  ins  Meer  warf.  Mit  dem  Dolch  im 
Rücken  schildert  Tolomeo  ausfuhrlich  Seeschlacht  und  Sturm,  und 
wir  erfahren  aus  seiner  Schilderung,  dafs  Kleopatra  sich  auf  dem 
Bucentoro  eingeschifft  hatte  und  dafs  das  Meer  „ein  Nimrod  der  Luft, 
Berge  auf  Berge  häufte".  Tolomeo,  der,  wie  wir  bei  der  Gelegen- 
heit erfahren,  der  Geliebte  Libias  ist,  wird  hierauf  abgeführt,  um  von 
der  Dolch  wunde  kuriert  zu  werden,  und  Herodes,  der  nun  zu  merken 
beginnt,  dafs  der  Dolch  kein  gewöhnlicher,  sondern  ein  Schicksals- 
dolch ist,  befiehlt  ihn  sorgfaltig  aufzubewahren*).  Im  übrigen  erträgt 
Herodes  die  Nachricht  von  dem  Siege  Octavians,  von  der  Zerstörung 
seiner  ganzen  Flotte,  von  der  Gefangennahme  seines  Schwagers 
Aristobul  so  gleichmütig  ^und  ruhig  wie  Schillers  Philipp  II.  die, 
welche  ihm  der  Herzog  von  Medina  Sidonia  vom  Untergang  der 
Armada  überbringt.  Was  den  Tetrarchen  einzig  und  allein  kränkt, 
mehr  kränkt  als  selbst  die  unerwartete  Rückkehr  des  fatalen  Dolchs, 
ist,  dafs  er  durch  die  Niederlage  verhindert  wurde,  seine  Mariene  zur 
Königin  der  Welt  zu  machen.  „Du  magst  es  Torheit  nennen",  sagt 
er  seinem  Vertrauten  Filipo,  „aber  Liebe  ohne  Torheit  ist  keine 
Liebe." 


*)  Y  aquese  pufial  guardadle; 

Que  importa  saber,  que  debo 

Hacer  d^l,  que  ya  ^1  me  hace 

Tenerle  por  prodigioso, 
sagt    er,    während    es   doch  gescheidter  gewesen  wäre,  ihn  zerbrechen  zu  lassen.     Aber 
was  wäre  dann  aus  dem  Drama  geworden? 


283  ICarcus  Landaa. 


Recht  töricht  benimmt  sich  aber  auch  der  nicht  verliebte  Filipo, 
der,  man  weifs  nicht  warum,  den  Dolch,  den  Herodes  ihm  zum  auf- 
bewahren gegeben,  diesem  wieder  zurückbringt.  Herodes,  der  nun 
zu  ahnen  beginnt,  dafs  das  schreckliche  Scheusal,  welches  Marienes 
Leben  bedroht,  seine  Liebe  zu  ihr  und  der  Dolch  das  Werkzeug  da- 
zu sein  könnte,  hält  einen  langen  Vortrag  über  Prophezeiungen,  Ein- 
flufs  der  Gestirne  und  dergl.  und  bittet  schliefslich  seine  Gattin,  das 
gefahrliche,  zu  ihrem  Tode  bestimmte  Instnunent,  zu  gröfserer  Sicher- 
heit stets  bei  sich  zu  tragen,  denn  es  gebe  kein  gröfseres  Glück,  als 
stets  sein  Schicksal  in  der  Gewalt  und  seinen  Tod  gleich  bei  der 
Hand  zu  haben*). 

Königin  Mariene  antwortet  ihm  in  ebenso  langer  pathetischer 
Rede  und  beweist  ihm,  dafs  man  für  gröfsere  Sicherheit  nicht  gerade 
am  besten  sorge,  wenn  man  Feuer  neben  ein  Dach  lege  oder  Steine 
auf  einen  Spiegel.  Ebenso  finde  sie  es  nicht  geheuer,  den  gefahr- 
lichen Dolch  gerade  in  der  Nähe  ihres  Herzens  aufzubewahren.  In 
höchst  subtiler  Weise  kommentiert  sie  dann  die  Prophezeiung  des 
Stemsehers  und  schliefst  daraus,  dafs  Herodes  am  besten  tun  würde, 
den  Dolch  stets  bei  sich  zu  tragen. 

Einer  Argumentation  wie  sie  Mariene  gebraucht: 

„Drum  gleichviel,  geliebt,  verschmäht. 

Meine  Sicherheit  erbitt*  ich, 

Meine  Furchtsamkeit  verjag*  ich, 

Meine  Seelenruh*  gewinn  ich. 

Meinen  Lieblingswunsch  erlang'  ich, 

Meinen  Argwohn  unterdrück'  ich. 

Meine  Hoffnungen  beschwing*  ich, 

Wenn  dein  Lieben  und  mein  Leben 

Über  Tod  und  Dunkel  siegen," 
einer  so  symmetrisch  aufgebauten  Rede  kann  selbst  ein  Dialektiker  wie 
Herodes   nicht  widerstehen,  und  so  giebt  er  endlich  nach  und  steckt 
den  Dolch  wieder  in  seinen  Gürtel. 


*)  Para  mas  segurldad 

Tuya,  cuerdo  he  prevenido, 
Que  tu,  arbitro  de  tu  vida, 
Traigas  ta  muerte  contigo; 
Que  major  felicidad 
Nadie  en  el  mundo  ha  tenido, 
Que  ser,  Ä  poesar  del  hade 
El  juez  de  su  vida  Ü  mismo. 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.    IL  888 

Nach  der  Erzählung  bei  Josephus  ward  Mariamme  auf  Befehl 
des  Herodes  hingerichtet.  Von  einem  Dolch  ist  bei  ihm  keine  Rede, 
und  diese  hin-  und  herwandemde  Waffe,  welche  aus  der  Tragödie 
der  Eifersucht  eine  Schicksalstragödie  macht,  scheint  ganz  der  Fan- 
tasie Calderons  ihre  Existenz  zu  verdanken  zu  haben.  Dagegen  hat 
er  ein  anderes,  ebenfalls  eine  grosse  Rolle  im  Drama  spielendes  leb- 
loses Ding  dem  jüdischen  Geschichtsschreiber  entlehnt.  Es  ist  dies 
das  Porträt  Mariammes. 

Nach  den  oben  mitgeteilten  Berichten  des  Josephus*)  hatte  die 
Mutter  der  Mariamme  auf  Veranlassung  von  Dellius,  des  Freundes  des 
Antonius,  diesem  die  Porträts  ihrer  Tochter  und  ihres  Sohnes  Aristo- 
bul  gesendet,  um  ihn  durch  deren  aufserordentliche  Schönheit  für  sie 
günstig  zu  stimmen,  die  Mutter  und  Schwester  des  Herodes  hätten 
aber  diesem  eingeredet,  Mariamme  habe  selbst  ihr  Bild  dem  Antonius 
geschickt,  um  diesen  Lüstling  für  sich  zu  gewinnen.  Dadurch  wäre 
nun  die  Eifersucht  des  Herodes  aufs  Höchste  gesteigert  worden. 
G^alderon  hat  dieses  Motiv  eigentümlich  verwendet  und  weiter  aus- 
geführt, ja  fast  zur  Hauptursache  der  Katastrophe  gemacht.  Statt 
des  Antonius  tritt  bei  ihm  Octavianus  ein,  der  nach  der  Schlacht  bei 
Actiuxn  den  Aristobul  in  Memphis  in  Ägypten  gefangen  nimmt  und 
bei  ihm  ein  Kistchen  mit  wichtigen  Papieren,  Juwelen  und  dem  Por- 
trät Marienes  findet.  Aus  den  Schriften  erfahrt  er  die  Absicht  des 
Herodes,  sich  nach  seiner  (des  Octavian)  Niederlage  zum  römischen 
Kaiser  zu  machen,  und  in  das  Bild  verliebt  er  sich  sofort,  ohne  zu 
wissen,  wen  es  vorstelle**). 

Aristobul,  der  gleich  die  dem  ehelichen  Frieden  seiner  Schwester 
drohende  Gefahr  merkt,  antwortet  dem  Kaiser  auf  dessen  Frage  nach 
dem  Original  des  Bildes,  es  stelle  eine  bereits  Verstorbene  vor,  sie 
sei  nur  ^ Asche  eines  glühenden  Strahls"***).     Dies  kränkt  den  Kaiser 


*)  Josephus  Arch.  XV.  a«.    Jüd.  Krieg  1.  aa«. 
**)  No  vi  mas  viva  hermosura 
Que  es  alma  de  la  pintura. 
In  dem  1632  erschienenen  Roman  Polezandre  von  Gombervüle  verliebt  sich  ein 
afrikanischer  Prinz  in   das  Bild  der  Königin  der  Unzugänglichen  Inseln,    die  er   nie  ge- 
sehen hat     Dazu   bemerkt  Dunlop   (History   of  fiction  eh.  X   S.  346):    This   notion   of 
princes  —  for  it  is  a  foUy  peculiar  to  them  —  becoming  enamoured  of  a  portrait,    the 
or^nal  of  which   is  at  the  end  of  the  world,    or  perhaps   does  not  ezist,    seems  to  be 
of  oriental  origin. 

***)  Auf  Bitten  des  Aristobul  hatte  sich  sein  Diener  Polidoro,  der  Gracioso  (lustige 
Person)  fOr  Aristobul  ausgegeben.  Auf  die  komischen  Scenen,  die  daraus  resultieren, 
brauche  ich  hier  nicht  weiter  einzugehen,  da  sie  nicht  zur  Haupthandlung  gehören. 


284  Biarcus  Landau. 


SO  sehr,  dafs  er  sofort  ein  Sonnet  dichtet,  in  dem  er  den  Sieg  des 
Todes  über  einen  solchen  Ausbund  von  Schönheit  beklagt.  Zugleich 
giebt  er  seinem  Capitano  Befehl,  sofort  mit  der  erforderlichen  Mann- 
schaft aufzubrechen  und  ihm  den  Herodes  herbeizuschaffen,  damit  er 
vor  seiner  cäsarischen  Majestät  Rechenschaft  über  sein  Betragen  ab- 
legen solle. 

Bevor  noch  der  Akt  zu  Ende  ist,  erscheinen  die  römischen  Sol- 
daten schon  in  Jerusalem,  und  Herodes,  der  sie  (in  Joppe?)  anrücken 
hört,  eilt  fort,  um  sich  selbst  dem  Octaviano  zu  ergeben. 

Am  Beginne  des  zweiten  Akts  finden  wir  Soldaten  im  2Jelte  des 
Octaviano  beschäftigt,  ein  grofses  Bild  Marienes  aufzuhängen.  Der 
in  die  Totgeglaubte  hoffnungslos  verliebte  Besieger  des  Antonius 
und  der  Kleopatra  hatte  nämlich  in  Memphis  von  dem  erbeuteten 
Miniaturbilde  mehrere  Kopien  auf  Leinwand  anfertigen  lassen,  imd 
nun  wird  die  gröfste  über  der  Tür  aufgehangen,  damit  er  sie  be- 
ständig vor  Augen  habe.  Dafs  die  römischen  Soldaten  etwas  schleuder- 
haft vorgehen  und  das  Bild  nicht  genügend  befestigen,  ist  nicht  ihre 
Schuld,  sondern  nur  des  Dichters,  der  diese  Nachlässigkeit  zu  seinen 
Zwecken  brauchte. 

Während  Octavian  sich  in  Liebesklagen  vor  dem  Bilde  Marienes 
ergeht,  wird  ihm  Herodes  vorgeführt,  der  sich  vor  ihm  auf  die  Knie 
wirft  und  seine  Treue  und  Anhänglichkeit  beteuernd,  ihm  die  Hand 
küfst.  Octavian  hält  dem  Verräter  die  bei  Aristobul  aufgefundenen 
Schriften  vor,  welche  aber  den  Tetrarchen  nicht  so  erschrecken  luid 
überraschen  wie  die  Porträts  seiner  Gattin,  welche  er  hier  an  der 
Wand  und  in  der  Hand  Octavians  erblickt.  Seine  Eifersucht  erwacht, 
und  ohne  lange  zu  überlegen,  stöfst  er  dem  sich  von  ihm  abwenden* 
den  Kaiser  den  Dolch  in  den  Rücken.  Aber  nicht  umsonst  haben 
die  Soldaten  das  Bild  schlecht  befestigt.  Das  Schicksalsbild  fallt  zur 
rechten  Zeit  herunter,  um  sich  vom  Schicksalsdolch  durchbohren  zu 
lassen  und  Octavian  zu  retten.  Dieser  kann  sich  über  die  sonder- 
baren Zufalle  und  die  Rettung  seines  Lebens  durch  das  Bild  der 
Angebeteten  nicht  genug  verwundern,  und  läfst  den  Herodes  in  den 
Kerker  werfen,  nachdem  er  ihm  zuvor  den  Dolch  abgenommen. 

Im  Gefängnis  triflft  Herodes  den  von  den  Römern  noch  immer 
für  Aristobul  gehaltenen  Lustigmacher  Polidoro,  den  er  aber  bald 
fortschickt,  da  er  einen  Monolog  halten  will 

.  .  .  .  ä  un  lado  te  aparta 
Que  tengo  que  hablar  conmigo. 

Sein  Monolog   über  die   verdächtige  Porträtsammlung   Octavians 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.    n.  985 

wird  aber  schon  beim  fünfundziebsigsten  Vers  unterbrochen,  da  sein 
Vertrauter  Filipo  kommt,  um  ihm  den  bevorstehenden  Marsch  Octa- 
vians  nach  Jerusalem  zu  melden  und  sich  seine  letzten  Befehle  zu  er- 
bitten,  da  der  Römer  ihn  wahrscheinlich,  bevor  er  Ägypten  verlasse 
um  einen  Kopf  kürzer  machen  werde. 

Herodes,  der  sich  in  seinem  Monolog  noch  mit  der  Erwägung 
getröstet  hatte,  dafs  Octavian  das  Original  des  Bildes  wahrscheinlich 
nicht  kenne,  wird  nun  ganz  verzweifelt  bei  dem  Gedanken,  dafs  der 
siegreiche  Römer  in  Jerusalem  das  Original  finden  und  noch  ganz 
anders  als  die  gemalte  Kopie  lieben  werde.  Er  braucht  nur  ungefähr 
zweihundert  Verse,  um  uns  seine  traurige  Lage  und  seine  Eifersucht 
zu  schildern,  seine  Eifersucht,  die  auch  nach  seinem  Tode  fortdauern 
werde,  denn  wenn  die  Seele  unsterblich,  ist  es  auch  die  Liebe.  Der 
langen  Rede  kurzer  Sinn  ist  demnach:  Filipo  soll  nach  Jerusalem 
zurückkehren  und,  wenn  er  dort  seinen  Tod  erfahre,  mit  Strick  oder 
Gift  Mariene  töten^  denn  nur  wenn  er  wisse,  dafs  die  Gattin  zugleich 
mit  ihm  das  Leben  verliere,  werde  er  ruhig  sterben.  Jeder  Andere, 
meint  er,  Gatte  oder  Liebhaber  würde  an  seiner  Stelle  ebenso  han- 
deln, würde  „seine  Dame  lieber  tot  als  eines  Andern  sehen^. 

Er  empfiehlt  dann  dem  Filipo,  den  Auftrag  vor  Mariene  geheim 
zu  halten  und  giebt  ihm  einen  Brief  an  Tolomeo  mit,  damit  dieser  ihm 
bei  der  Ausfuhrung  Vorschub  leisten  solle.  Filipo  hat  keine  Zeit, 
Einwendungen  zu  machen,  denn,  wie  er  den  Mund  öffnet,  verändert 
sich  die  Scene,  und  aus  dem  Kerker  in  Memphis  werden  wir  wieder 
nach  Palästina  versetzt.  Wir  finden  den  von  Octavian  für  Polidoro 
gehaltenen  und  deshalb  freigelassenen  Aristobolo  im  Begriffe  von 
Mariene  Abschied  zu  nehmen,  um  mit  der  jüdischen  Armee  und 
Flotte  zur  Befreiung  des  Herodes  aufzubrechen. 

Tolomeo,    der   ihn   begleiten   will,    wird   von  Mariene  zurückge- 
halten, da  er  ja  von  Herodes  zu  ihrem  Schutze  zurückgelassen  worden 
sei.     Er    begnügt    sich    daher    über   die   vor  Anker  liegende  Flotte 
poetische  Betrachtungen  im  Stile  Gongoras  anzustellen. 
„Schon  auf  des  Meer's  Krystallen 
Sieht  man  von  Lein  so  manchen  Vogel  wallen, 
So  manchen  Fisch  von  Holze, 
Dafs  die  anmuth*gen  Wellen  jetzt  mit  Stolze 
Den  Horizont  umfassen. 
Als  Republik  regsamer  Bergesmassen  ^. 
Dann   läfst  sich  der  zum  Leibwächter  Marienes  bestellte   tapfere 
General   von   seinem  Liebchen  Libia   einen  nachgemachten  Schlüssel 
zum  königlichen  Garten  für  ein  nächtliches  Stelldichein  geben. 


1 


386  BCarcus  Landau. 


Die  Liebescene  wird  voa  Filipo  unterbrochen,  der  den  Tolomeo 
abruft  und  ihm  im  geheimen  den  Brief  des  Herodes  mit  dem  Befehl 
zur  eventuellen  Ermordung  Marlenes  übergiebt.  So  wird  der  Leib- 
wächter und  Beschützer  der  Königin,  der  schon  den  Gartenschlussel 
besitzt,  zum  Bock-Gärtner  ernannt.  Vorher  mufs  er  aber  noch  die 
Vorwürfe  seiner  verlassenen  Geliebten  Sirene  ausstehen,  die  durchaus 
nicht  wie  Sirenengesang  klingen  und  von  der  eifersüchtigen  schlüssel- 
spendenden Libia  hinter  der  in  keinem  spanischen  Intriguenstück 
fehlenden  spanischen  Wand  (pano)  belauscht  werden.  Ihre  Eifersucht 
wird  noch  gesteigert,  als  sie  den  Brief  des  Herodes,  den  sie  für  ein 
Liebesbriefchen  der  Sirene  hält,  in  Tolomeos  Händen  erblickt  und 
er  ihn  ihr  nicht  zum  Lesen  geben  will.  Sie  greift  mit  der  Hand  nach 
dem  Brief,  den  er  festhält,  und  während  sie  streitend  den  Brief  entzwei 
reifsen  kommt  Marlene  hinzu.  Sie  müfste  keine  Evastochter  sein,  um 
nicht  auch  auf  den  Inhalt  des  Briefes  neugierig  zu  werden,  und  be- 
fiehlt daher  dem  Liebespaar,  ihr  die  disjecta  membra  desselben  aus- 
zufolgen. Vergebens  stellt  ihr  Tolomeo  vor,  dafs  der  Brief  eine 
Viper  sei,  deren  jedes  einzelne  Stück  beifsen  könne,  vergebens  warnt 
er  sie,  dafs  der  Brief  vergiftet  sei.  —  Mariene  erkennt  die  Handschrift 
ihres  Gatten  und,  nun  noch  mehr  auf  dessen  Inhalt  erpicht,  legt  sie 
die  einzelnen  Stücke  zusammen  und  entziflFert:  „Meine  Ehre  und  mein 
Dienst  erfordern,  dafs  Du  nach  meinem  Tode  (grausames  Schicksall) 
Mariene  (ich  zittere!)  tötest". 

Verhältnismäfsig  ruhig  examiniert  Mariene  nach  dieser  Lektüre 
den  Tolomeo  über  die  nähern  Umstände  und  den  Überbringer  des 
Briefes  und  endäfst  ihn  mit  dem  Befehl,  das  strengste  Stillschweigen 
über  ihr  Wissen  von  dem  Briefe  zu  bewahren. 

Allein  gelassen  klagt  sie  über  die  Undankbarkeit  und  Schlechtig- 
keit des  Herodes,  zu  dessen  Befreiung  sie  eben  „eine  Semiramis  der 
Wellen,  ein  Babilon  von  Schiffen"  ausgesendet  habe.  Nach  langem 
Schwanken  und  Überlegen  bittet  sie  dann  den  Himmel  ihr  Mittel  und 
Wege  anzugeben,  wie  sie  sich  als  beleidigte  Gattin  und  weise 
Königin  benehmen  solle. 

„Dann  sollt  ihr  sehen, 

Himmel,  Sonne,  Mond,  Gestirne, 

Sterngebüd^  und  Himmelsphären, 

Berge,  Meere,  Bäume,  Pflanzen, 

Fische,  Vögel,  Wüd  und  Menschen, 

Dafs,  als  Fürstin  ich  verzeihe, 

Und  dafs  ich  als  Weib  mich  räche." 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.     II.  287 


Im  Anfange  des  dritten  Aktes  erblicken  wir  den  Octaviano  nach 
der  Besiegung  des  Aristobul,  mit  seinem  Heere  vor  den  Mauern 
Jerusalems,  wo  er  den  mitgebrachten  Herodes  hinrichten  lassen  will. 
Filipo  und  Tolomeo  tragen  ihm  die  Schlüssel  (der  Hauptstadt,  nicht 
des  Gartens)  entgegen;  an  der  Spitze  einer  Frauendeputation  bittet 
ihn  die  in  Trauer  gekleidete  verschleierte  Mariene  sie  zugleich  mit 
ihrem  Gatten  sterben  zu  lassen.  Octavian  weist  sie  zuerst  barsch  ab, 
wie  sie  sich  aber  entschleiert  und  er  in  ihr  das  Original  des  Bildes 
erblickt,  schlägt  er  einen  ganz  anderen  Ton  an.  Inzwischen  bringen 
Soldaten  den  gefangenen  Herodes,  und  Mariene  stimmt  einen  Bittgesang 
in  sechs  schwungvollen,  aber  auch  des  Schwulstes  nicht  ermangelnden 
Oktaven  an,  um  von  Octavian  dessen  Begnadigung  zu  erlangen. 

Der  Kaiser  bewilligt,  was  sie  verlangt,  dann  erklärt  er,  „ein  Leben 
giebt  er  ihr  zurück  für  das  seinige,  das  durch  ihr  Porträt  gerettet 
wurde.  Von  wem  und  wie  dies  bedroht  wurde  bleibe  unerwähnt  und 
der  Vergessenheit  überliefert".  Überdies  begnadigt  er  alle  an  dem 
Kriege  gegen  ihn  Beteiligte,  setzt  den  Herodes  in  seine  frühere  Würde 
wieder  ein  und  giebt  Marienen  ihr  Bild  zurück. 

So  hat  sie  zur  Augenweide  von  „Himmel,  Sonne,  Mond"  et  caetera 
als  Fürstin  verziehen  und  geht  nun  daran  „als  Weib  sich  zu  rächen", 
indem  sie  dem  Herodes  in  einem  tete-a-tete  ob  seines  Mordbefehls  an 
Filipo  und  Tolomeo,  dessen  Original  sie  ihm  vorzeigt,  gehörig  den  Kopf 
wäscht  und  ihm  erklärt,  sie  habe  sein  Leben  von  dem  „tapfern,  berühmten 
und  grofsmütigen  römischen  Helden"  nur  deshalb  erbeten,  um  ihn  recht 
lange  quälen  und  hassen  zu  können.  Dann  wirft  sie  ihm  seine  niedere 
idumäischeHerkunft  vor,  erklärt  sie  werde  von  nun  an  Trauer  tragend  als 
Witwe  in  ihrem  Gemache  leben,  das  ihm  für  immer  unzugänglich  bleiben 
werde  und  endet  die  Gardinenpredigt  von  ein  Vierteltausend  Versen, 
indem  sie  sich  in  das  erwähnte  Witwengemach  zurückzieht  und  die 
Tür  hinter  sich  zusperrt. 

Den  allein  gelassenen  Tetrarchen  beschäftigt  am  meisten  die  Frage, 
wie  der  dem  Filipo  mitgegebene  Brief  in  die  Hände  Marienes  gelangt 
sei^  im  übrigen  bleibt  er  dabei,  in  ähnlichem  Falle  den  Mordbefehl  zu 
wiederholen,  aber  zu  gröfserer  Sicherheit  nichts  Schriftliches  von  sich 
zu  geben. 

Der  Entschlufs  Marienes  eingeschlossen  zu  bleiben,  findet  seine 
volle  Zustimmung  und  will  er  noch  ein  Übriges  tun  und  die  Tür  auch 
von  aufsen  absperren,  um  so  sich  vor  aller  Qual  der  Eifersucht 
zu  sichern.  Jetzt  gelangt  er  auch  zur  Erkenntnis,  dafs  diese  Leiden- 
schaft „das  gröfste  Scheusal  der  Welt"  ist. 

Ztschr.  t  rgl  Litt-Geadi.    N.  P.  YIU.  19 


288  Marcus  Landau. 


In  der  Erzählung  des  Josephus  wird  die  Katastrophe  hauptsäch- 
lich dadurch  herbeigeführt,  dafs  Herodes  aus  dem  Verrate  des  dem 
Soemos  erteilten  Mordbefehls  an  Mariamme  auf  ein  sträfliches  Ver- 
hältnis derselben  mit  Soemos  schliefst  (Arch.  XV.  7.*).  Dolce,  der 
seiner  Quelle  treu  folgte,  hat  diesem  Umstände  noch  gröfsere  Be- 
deutung beigelegt,  andererseits  aber  auch  das  Unwahrscheinliche 
eines  solchen  Verhältnisses,  in  Anbetracht  des  hohen  Alters  und  der 
höchst  unliebenswürdigen  Persönlichkeit  des  Soemos,  durch  den  ver- 
trauten Rat  des  Herodes  hervorheben  lassen.  Calderon  war  hier  in 
der  Abweichung  von  der  historischen  Quelle  viel  besser  beraten. 
Die  Eifersucht  des  Herodes  auf  den  jungen  siegreichen  Octavian,  be- 
sonders nachdem  er  das  Porträt  Marienes  in  dessen  Händen  und  die 
Aufnahme,  die  sie  bei  ihm  fand,  gesehen  hatte,  ist  eine  leicht  begreif- 
liche, ja  fast  selbstverständliche. 

Dagegen  ist  es  nicht  aus  Eifersucht,  sondern  wegen  Verrat  des 
Geheimnisses,  dafs  er  den  Tolomeo  töten  will.  Dieser  entflieht  in  das 
Zelt  des  Octavian  und  erzählt  ihm  nicht  ganz  der  Wahrheit  gemäfs, 
dafs  ihn  Herodes  habe  töten  wollen,  weil  er  den  Auflrag,  Mariene  zu 
vergiften,  nicht  ausgeführt  habe.  Mit  der  Nebenabsicht,  in  den  Besitz 
seiner  Libia  zu  gelangen,  fordert  er  ihn  auf  die  von  Herodes  einge- 
sperrte und  am  Leben  bedrohte  Mariene  zu  befreien,  damit  dir  ver- 
danke 

„Die  Sonne  ihre  beste  Morgenröte, 

Die  Morgenröte  ihre  beste  Perle, 

Die  Erde  ihre  beste  Sonne 

Der  Himmel« 

Hier  unterbricht  Octavian  den  Wortschwall  des  lyrischen  Leibwächters, 
um  zur  Befreiung  Marienes  zu  eilen,  während  Tolomeo  sich  freut  am 
grofsen  Brand  sein  Süppchen  kochen  zu  können.  , 

„Pues  que  no  dudo,  que,  puesta 

La  ciudad  en  confusion, 

Podre  ir  ä  favorecerla."  (die  Libia.) 

In  der  nächsten  Scene  finden  wir  Mariene  von  ihren  Kerzen 
tragenden  Frauen,  welche  sie  auskleiden  und  zu  Bett  bringen  wollen, 
umgeben.  Die  Scene  hat  manche  Ähnlichkeit  mit  der  letzten  des 
vierten  Akts  des  „Othello". 

Wie  Desdemona  das  schwermütige  Liedchen  von  der  Weide 
singt,  so  läfst  sich  Mariene  von  ihrer  Sirene  während  des  Auskleidens 
vorsingen 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Marianme.    II.  289 

Komm'  Tod  ganz  still  heran, 
Dafs  dein  Kommen  ich  nicht  fühle  ....  *) 
Und  es  wirkt  ergreifender  als  bei  Shakespeare,  da  hier  unmittelbar 
auf  diese  schwüle  schwermütige  Nachtscene  die  Katastrophe  herein- 
bricht: Octavian  und  Tolomeo  schleichen  in  den  unter  dem  Schlafzimmer 
befindlichen  Garten  und  Ersterer  dringt  in  das  Zimmer,  wo  er  auf  die  eben 
die  Türe  zusperrende  Kammerfrau  stöfst.     Während  Sirene  noch  ihr 

„Komm'  Tod  ganz  stille" 
singt,  hört  man  das  Aufschreien  der  Kammerfi'au,  dem  sofort  das 
Gekreisch  der  andern  über  den  Eindringling  erschrockenen  Frauen 
folgt.  Dieser  giebt  sich  zu  erkennen,  macht  schnell  Marienen  eine 
Liebeserklärung  und  bietet  ihr  an,  sie  zu  befreien  .  .  .  Das  Weitere 
kann  man  sich  hinzu  denken,  und  auch  Mariene  errät  es;  denn  sie 
lehnt  entschieden  seinen  Antrag  ab,  es  vorziehend,  unschuldig  das 
Leben  zu  verlieren,  als  mit  Schuld  und  Schande  zu  leben.  Da  er 
etwas  zudringlich  wird  und  ihre  Hand  ergreift,  entreifst  sie  ihm  deq 
Dolch  —  den  Schicksalsdolch,  den  er  dem  Herodes  abgenommen  — 
und  droht  sich  zu  erstechen,  besinnt  sich  dann  eines  bessern,  wirft 
ihn  weg  und  entflieht.  In  diesem  Moment  tritt  Herodes  ein  und  fafst 
beim  Anblick  der  herumliegenden  Kleidungsstücke  den  ärgsten 
Verdacht 

Que  quien  arrastra  despojos, 
Hara  celebrado  triunfos. 
Erst  als  Octavian  die  entflohene  Mariene  zurückbringet,  wird  er 
ihretwegen  beruhigt  und  will  nun  seinen  Ehrenhandel  mit  Octavian 
ausfechten.  Ganz  wie  zwei  Caballeros  in  einem  Mantel-  und  Degen- 
stück ziehen  der  jüdische  Tetrarch  und  der  römische  Imperator  die 
Degen,  und  dem  spanischen  Bühnenwitze  in  solchen  Situationen  ent- 
sprechend, löscht  Mariene  die  Kerzen  aus.  Die  beiden  Duellanten 
suchen  einander  im  Finstern,  Herodes  läfst  seinen  Degen  fallen,  er- 
greift den  bekannten  Dolch  und  durchbohrt  mit  ihm,  nicht  den 
Octavian,    sondern    seine    Gattin.      Soldaten    kommen    mit    Lichtern, 

*)  Nach  G.  Ticknors  Geschichte  der  spanischen  Litteratur  (III  49  der  spanischen 
Obersetzung)  sind  die  Verse 

Ven,  muerte,  tan  escondida 
Que  no  te  sienta  venir, 
Porque  el  placer  del  morir 
.  No  me  vuelva  4  dar  la  vida 
von  dem   1497  verstorbenen  Comendador  Escriba  und  finden  sich  schon   im  Cancionero 
general    von  151 1.    S.  auch  Don  Quichote    parte  11    cap.  38  und  Calderons  Las    manos 
blancas  no  ofenden,  Akt  a. 

19* 


290  Marcus  Landau. 


Octavian  will  den  Herodes  töten  lassen,  der  sich  aber  damit  ent- 
schuldigt, dafs  nicht  er,  sondern,  wie  es  die  Sterne  verkündet,  „das 
gröfste  Scheusal  der  Welt**,  seine  Gattin  getötet  habe.  Dann  eilt  er 
fort,  und  einen  Augenblick  später  hören  wir,  dafs  er  sich  ins  Meer 
geworfen  hat,  das  sich  merkwürdigerweise  in  nächster  Nähe  von 
Jerusalem  befindet. 

Octavian  verfafst  noch  in  aller  Schnelligkeit  die  Grabschrift 
Marienes,  in  der  Eifersucht  als  ihre  Todesursache  angegeben  wird, 
was  aber  nicht  ganz  richtig  ist,  denn  Herodes  hatte  sie  ja  nur  zu- 
fallig im  Finstern  erstochen. 

Libia  reicht  weinend  ihrem  Liebhaber  die  Hand  und  Filipo  er- 
klärt die  Tragödie  zu  Ende;  die  Tragödie,  setzt  der  lustige  Polidoro 
hinzu, 

„Wie  sie  der  Verfasser  schrieb, 

Nicht  wie  sie  der  Diebstahl  druckte, 

Dessen  Müh*  ist,  dafs  er  richte 

Andrer  Mühe  stets  zu  Grunde". 
Und    diese    Endstrophe   ist   dann    als  Motto    zu  den  altern  Aus- 
gaben  des   Brockhausischen  Konversations-Lexikons    weit    und  breit 
bekannt  geworden. 

Calderons  Drama  wurde  i.  J.  1637  aufgeführt  und  gedruckt,  es 
mufs  aber  schon  einige  Jahre  fiiiher  verfafst  und  vielleicht  auch  auf- 
geführt worden  sein,  da  es  von  dem  1635  verstorbenen  Lope  de 
Vega  in  einer  Loa  sacramental  erwähnt  wird*). 

vm. 

Ein  Jahr  später  erschien  der  fünfte  Teil  der  Comedias  nuevas  del 
Maestro  Tirso  de  Molina,  welcher  dessen  Drama  La  vida  de  Herodes 
enthält**),  Molina,  mit  seinem  wirklichen  Namen  Gabriel  Tellez  ge- 
heifsen,  wurde  um  1571  in  Madrid  geboren  und  starb  im  Jahre  1648 
als  Prior  des  Klosters  de  la  Merced  von  Soria. 


*)  Klein,  Geschichte  des  Dramas  XI.  a,  S.  552. 
**)  Parte  V,  Madrid  1636,  mit  Bewilligung  des  Censors  datiert  vom  30.  Juni  1635 
und  TeztcoUationierung  datiert  i.  Januar  1636.  Der  erste  Teil  der  Comedias,  wie  der 
fünfte  12  Stficke  enthaltend,  erschien  1627  in  Sevilla.  Don  Pedro  Mudoz  Pefia  sagt  in 
seinem  bei  700  Seiten  starken  Werke  über  Molina,  (El  Teatro  del  maestro  Tirso  de  Molina 
£studio  critico-literario  Valladolid  1889)  kein  Wort  über  dessen  Vida  de  Herodes,  und 
nicht  gröiserer  Beachtung  erfreut  sich  dieses  Drama  bei  den  andern  spanischen  Litterar- 
historikem,  die  mir  zugänglich  waren. 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariasme.    II.  891 

Trotz  seines  geistlichen  Standes  liefs  er  es  in  seinen  Lustspielen, 
deren  er  bei  300  geschrieben  haben  soll,  an  Unanständigkeit  und 
schlüpfrigen  Ausdrücken  nicht  fehlen.  Bewunderer  und  Nachahmer 
von  Lope  de  Vega,  von  bedeutendem  komischem  Talent,  zeigt  er 
für  das  ernstere  Drama  geringere  Begabung,  und  hat  sich  um  dieses 
nur  dadurch  verdient  gemacht,  dafs  er  zuerst  den  Don  Juan  zum 
Helden  eines  Dramas  machte. 

Obwohl  sein  „Leben  des  Herodes"  ein  Jahr  früher  als  Calderons 
Tetrarca  gedruckt  wurde,  macht  es  doch  den  Eindruck,  als  ob  der 
Verfasser  mit  Calderon  rivalisieren  wollte.  Ohne  dessen  lyrische 
Schönheiten  zu  erreichen,  hat  er  ihn  nur  in  Wunderlichkeiten,  in 
Anachronismen,  in  kühner  Hinwegsetzung  über  alle  historische  Wahr- 
heit und  alles  Zeitkostüm  übertroflfen,  den  Herodes  Calderons  über- 
herodest  In  richtiger  Erkenntnis,  dafs  die  Einmischung  der  Schwieger- 
mutter in  die  Ehestreitigkeiten  das  Eifersuchtsmotiv  schwäche  und 
trübe,  hat  Calderon  die  Alexandra  weggelassen.  Molina  ging  aber 
noch  einen  Schritt  weiter  und  raubte  ihr  ganz  die  Existenz,  indem  er 
Mariadnes  (so  nennt  er  die  Gattin  des  Herodes)  zur  Tochter  des 
alten  Hircano,  ihres  Grofsvaters  machte.  Aber  die  dem  Calderon  ab- 
geguckte Verbesserung  verdarb  er  wieder,  indem  er  den  Herodes  mit 
Schwiegervater,  Vater  und  Bruder  begabte,  diesen  durchaus  unhisto- 
rische Rollen  zuteilte  und  das  Eifersuchtsmotiv  mit  der  Rivalität  der 
Brüder  contaminierte. 

Wir  haben  gesehen,  welche  fatale  Rolle  das  Porträt  Marienes 
bei  Calderon  spielt ;  bei  Molina  übt  es  freilich  keinen  solchen  grofsen 
Einflufs  aus,  aber  statt  eines  Porträts  finden  wir  bei  ihm  eine  ganze 
Bildergallerie.  Und  nicht  blos  Kleopatra  und  Marcus  Antonius  ver- 
lieben sich  in  die  Porträts  von  Aristobolo  und  Mariadnes,  Herodes 
selbst,  der  doch  genug  Gelegenheit  hatte,  die  „Infanta  Mariadnes"  in 
Jerusalem  zu  sehen,  mufs  erst  in  der  Bildergallerie  des  Königs  von 
Armenien  unter  vielen  Schönheiten  das  alle  andere  überstrahlende 
Bild  der  wunderschönen  Jüdin  (perdone  el  Dios  de  Elicona  fugt 
Molina  hinzu)  finden,  um  sich  darin  zu  verlieben.  Auf  dem  Rahmen 
des  Bildes  mufs  sich  wohl  der  Name  des  Originals  befunden  haben; 
denn  Herodes  weifs  ihn  wohl,  will  ihn  aber  nicht  aussprechen,  damit 
das  Herz  nicht  auf  die  Zunge  eifersüchtig  werde 

Porque  la  lengua  no  osa 
dar  zelos  al  corazon 
que  los  tendrä  si  la  nombra. 
Von  seinen  siegreichen  Kriegszügen  in  Peträa,  Armenien  u.  s.  w. 


298  Marcus  Landau. 


zurückgekehrt,  giebt  Herodes  seinem  Vater  Antipater  ausfuhrlichen 
Bericht  darüber.  Der  bis  über  die  Ohren  verliebte  Held,  der  in 
siebzig  Versen  die  königlich  armenische  Bildergallerie  und  ihr  schönstes 
Porträt  schildert,  ermangelt  auch  nicht,  sich  mit  seinem  besonders 
scharfen  Appetit  nach  Kinderblut  mit  Milch  vermischt,  als  den 
künftigen  Abschlachter  der  Kinder  unter  zwei  Jahren  anzukündigen. 
Als  Vorübung  hat  er  in  Armenien  Säuglinge  ihren  Müttern  entrissen, 
um  zu  zeigen 

que  mi  sed  provoca 

sangre  en  leche  de  inocentes 

medio  blanca  y  medio  roja. 
Um  so  sparsamer  ist  er  mit  dem  Blute  seiner  Soldaten  umge- 
gangen. Von  den  12000  Mann,  die  ihm  Antipater  mitgegeben,  fehlt 
kein  teueres  Haupt,  kein  Blutstropfen.  Nur  des  Feldherrn  eigene 
Seele  kehrt  leider  nicht  zurück,  ist  an  dem  bewufsten  Porträt  hängen 
geblieben,  und  mufs  nun  wiederzuerlangen  gesucht  werden. 

Doze  mil  hombres  Ueve 

y  con  ellos  buelbo  agora 

sin  que  falte,  padre  invicto, 

ni  de  su  sangre  una  gota. 

Sola  una  alma  buelbe  menos, 

que  por  los  ojos  me  roban, 

para  ofrecer  a  su  origen 

su  mas  que  divina  copia. 
Und  als  Lohn    für   alle  seine  Siege  und  Heldentaten  verlangt  er 
nur  die  Erlaubnis 

que  busque 
en  premio  desta  victoria 
un  alma,  que  fugitiva 
es  vencida  vencedora. 
Papa  Antipater,    den  Molina    aus    eigener    Machtvollkommenheit 
zum  König  (Rey  viejo)  macht,  wundert  sich  weder  über  den  Kinder- 
blut-Durst   noch    über  die  Verliebtheit  seines  Heldensohnes,     „da   ja 
wie    männiglich    bekannt,    zwischen    Mars    und    Venus    stets    grofse 
Sympathie    herrschte".     In  Verlegenheit    ist    er    nur,    wie    er  seinen 
Sohn    belohnen   soll.     Einstweilen    teilt  er  ihm  mit,    er   habe    seinen 
Sohn  Faselo  (Phasaelos  bei  Josephus)  mit  der  Infanta  Mariadnes  und 
seine  Tochter    die    Infanta  Salome    mit    dem  Prinzen  Aristobolo  ver- 
lobt.    Die   Doppelverbindung   zwischen    den  Kindern  Antipaters  und 
den    des    von   ihm    im  Einverständnis  mit  dem  römischen  Senat  zum 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.    U.  298 

König  und  Hohepriester  eingesetzten  Hircano,  den  Molina  auch  Rey 
viejo  tituliert,  ist  während  Herodes  Abwesenheit  geschlossen  worden, 
unter  Vermittlung  des  Josefo,  der  auch  die  Porträts  der  Hasmonäer- 
kinder  den  Kindern  des  Idumäers  Antipater  überbrachte  und  die 
Schönheit  der  Originale  in  schwülstiger  Rede  schilderte. 

Prinzessin  Salome  weifs  nur  wie  Cordelia  zu  lieben  und  zu 
schwdgen 

que  duda 
de  hablar  quien  ama  agradecida  y  muda. 

Aber  der  dritte  Akt  wird  ausweisen,  dafs  sie  noch  besser  zu 
hassen  und  zu  schreiben  als  zu  schweigen  weifs  und  in  Bezug  auf 
Geschwisterliebe  es  mit  der  kindlichen  Liebe  Gonerils  und  Regans 
aufnehmen  kann.  Etwas  aufrichtiger  zeigt  sich  Faselo.  Mit  dem 
Stolze  des  Bräutigams  zeigt  er  das  Porträt  der  Braut  dem  Bruder, 
^er  möge  doch  sehen  ob  seine  Angebetete  aus  der  armenischen 
Bildergallerie  eben  so  schön  sei". 

Das  Bild  erblicken,  seine  Einzige  erkennen,  vor  Eifersucht 
wütend  werden  und  den  Tod  des  Bruders,  nötigenfalls  auch  des 
Vaters  beschliefsen,  ist  far  Herodes  eins.  In  abwechselnd  wütend 
heldenhaften  und  jämmerlich  schwülstigen  Reden  giebt  er  seiner 
Stimmung  Ausdruck,  kündigt  dem  Antipater  die  kindliche  Liebe  auf, 
sagt  aber  wohlweislich  nichts  von  seinen  weiteren  Plänen.  Anti- 
pater schliefst  daraus,  dafs  Herodes  verrückt  oder  eifersüchtig  sein  müsse. 

In  der  nächsten  Scene,  die  im  Palaste  des  Königs  Hircan  spielt, 
finden  wir  diesen  beschäftigt,  Körbe  an  Bewerber  und  Bewerberinnen 
um  seine  bereits  verlobten  Kinder  auszuteilen.  Sie  sind  alle  zu  spät 
gekommen,  die  Infantin  von  Korinth  sowohl  als  die  Könige  von 
Tyrus,  von  Sidon,  des  Libanon  u.  s.  w.,  von  Tirso  de  Molina's  Gnaden 
Hircan  segnet  Mariadnes  und  Aristobolo,  welche  zur  Jagd  ausziehen, 
und  letzterer  macht  als  glücklicher  Bräutigam  ein  Wortspiel  mit  cazar 
(jagen)  und  casar  (heiraten). 

Hier  schaltet  Molina  einige  komische  Hirtenscenen  in  bäurischem 
Dialekt  ein,  die  mit  der  Haupthandlung  noch  weniger  zusammen- 
hängen als  die  Polidoroscenen  oder  die  Liebesepisoden  von  Sirene 
und  Libia  in  Calderons  Tetrarca.  Ja,  die  letztern  haben  aufserdem, 
dais  sie  indirekt  einiges  zur  Katastrophe  beitragen,  auch  ihre  Be- 
deutung als  Darstellung  der  weiblichen,  ziemlich  harmlosen  Eifersucht 
im  Gegensatz  zur  mafslos  wilden  des  Herodes.  Indessen  verbindet 
Molina  mit  seinen  Hirtenepisoden  auch  eine  Absicht,  die  erst  im 
dritten  Akt  zu  Tage  treten  wird. 


894  Marcus  Landau. 


In  die  Hirtengesellschaft  stürzt  die  Jägerin  Mariadnes  mit  ihren' 
scheugewordenen  Pferde  herein  und  von  diesem  ohnmächtig  hinunte 
Herodes,  der  zu  rechter  Zeit  eintriflft,  trägt  die  Ohnmächtige  in  eie 
Hirtenhütte  hinein,  während  die  Hirten  forteilen,  um  dem  Könige  ien 
Unfall  der  Infanta  zu  anzuzeigen.  Auch  Josefo,  den  wir  als  Hetats- 
vermittler  zwischen  den  Familien  des  Hircan  und  des  Antipater  kennen 
und  der  jetzt  als  Begleiter  des  Herodes  erscheint,  geht  fort  um 
Wasser  zu  holen  und  verspricht  als  gefalliger  Hofmann  recht  lange 
auszubleiben,  um  dem  Herodes  genügende  Zeit  für  sein  Tete-ä-tete  mit 
Mariadnes  zu  lassen. 

Allein  gelassen  hält  dieser  einen  Monolog,  aber  nicht  wie  Hamlet 
über  Sein  oder  Nichtsein,  sondern  ob  Geniefsen  oder  Nicht- 
geniefsen,  entscheidet  sich  indessen  für  letzteres  und  beschliefst  als 
Hirte  verkleidet,  um  Mariadnes  Liebe  zu  werben.  Während  er  sich 
entfernt,  um  die  Kleidung  zu  wechseln,  erwacht  die  Infanta  aus  ihrer 
Ohnmacht  und  jammert  über  die  Gefahr,  in  der  sich  während  derselben 
ihre  jungfräuliche  Ehre  befunden,  als  ob  sie  den  Monolog  des  Herodes 
gehört  hätte.  Dieser  kehrt  hierauf  in  Hirtenkleidem  zurück,  macht 
ihr  die  schönsten  Komplimente,  nicht  etwa  wie  der  Hirt  des  Hohen- 
liedes, sondern  im  schönsten  Gongorastile,  wie  es  einem  Ritter  vom 
Hofe  Philips  III.  geziemt.  Zugleich  teilt  er  ihr  mit,  er  habe  sie  von 
einem  Attentate  des  Faselo  auf  ihre  Ehre  gerettet  und  diesen,  der 
garnicht  daran  denke  sie  zu  heiraten 

Porque  non  intenta  casarse 
el  que  pretende  violento 
gozar  despojos  robados 
fortgejagt. 

Mariadnes  glaubt  dem  sich  Claricio  nennenden  Hirten  alles,  lafst 
sich  von  ihm  die  Hand  küssen  und  nach  Jerusalem  geleiten,  wo  er 
belohnt  werden  soll.  Kaum  haben  sie  sich  entfernt,  als  der  von  dem 
Unfälle  seiner  Tochter  benachrichtigte  Hircan  mit  seiner  ganzen 
Familie  und  den  Hirten  eintrifft.  Da  sie  weder  Mariadnes  noch 
Herodes,  wohl  aber  dessen  abgelegte  Kleider  finden,  glaubt  Hircan 
die  Hirten    hätten    ihn    getötet  und  läfst  sie    ins  Gefängnis  abfuhren. 

Im  zweiten  Akt  finden  wir  Herodes  und  Mariadnes  im  Walde 
schon  ziemlich  vertraut  mit  einander.  Sie  hat  an  seinem  höfischen 
Benehmen,  an  seinen  kleinen  Händen  und  dem  vom  Hirtenkittel  nicht 
genug  verdecktem  feinem  Hemde  erkannt,  dafs  er  ein  vornehmer  Mann 
sei  und  verspricht  ihm  einen  Vorgeschmack  von  Gunstbezeugungen, 
die  er  sitzend  bequemer  in  Empfang  nehmen  werde.     Traulich  neben 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Marianme.    II.  8d5 

ihr  sitzend  erzählt  ihr  Herodes,  der  sich  für  den  Sohn  des  Libanon- 
königs  ausgiebt,  unter  Pseudonymen  seine  eigene  Lebensgeschichte, 
die  Auffindung  des  Bildes,  in  das  er  sich  verliebte,  die  Verlobung 
seines  Bruders  mit  dem  Original  u.  s.  w.  bis  zimi  bekannten  Monolog, 
in  dem  schliesslich  die  Ehre  siegte,  so  dafs  er  sich  begnügte,  die 
Ohnmächtige  zu  küssen.  Er  schliefst  mit  der  verfänglichen  Frage: 
Was  hättest  Du,  wenn  Du  die  Ohnmächtige  wärest,  beim  Erwachen 
getan?  Mariadnes,  die  nun  schon  erraten  hat,  wen  sie  vor  sich 
tiabe,  antwortet,  sie  würde  dem,  der  so  edel  der  rohen  Begierde 
widerstanden,  zu  der  gepflückten  Kufsblume  auch  ehrbare  Früchte 
gegeben  haben. 

Nun  giebt  sich  ihr  Herodes  zu  erkennen,  und  bittet  sie  um  Hand 
und  Herz,  welche  ihm  Mariadnes  ohne  Zögern  gewährt,  indem  sie 
erklärt,  sie  kümmere  sich  nicht  im  geringsten  um  Faselo.  Inzwischen 
bricht  die  Nacht  herein,  aber  die  beiden  beeilen  sich  nicht,  in  die  Haupt- 
stadt zurückzukehren.  Herodes  will  weitere  Kufsblumen  pflücken, 
und  bittet  Mariadnes  ihre  Arme  um  seinen  Nacken  zu  schlingen,  was 
sie  mit  zärtlichen  Worten  beantwortet.  Während  das  Pärchen  sich 
im  nächtlichen  Waldesdunkel  verliert,  erscheinen  Hircan,  Antipater, 
Aristobolo,  Faselo  und  Salome  wieder  auf  der  Scene  und  beklagen 
jeder  in  einer  besonderen  dreizehnzeiligen  Strophe  den  Verlust  Ma- 
riadnes, welche  gerade,  wie  sie  mit  ihren  Deklamationen  zu  Ende 
sind,  sich  zu  allgemeiner  Freude  finden  läfst.  Während  Herodes  be- 
scheiden im  finstern  Hintergrunde  bleibt,  erzählt  die  Infanta  ihr  Jagd- 
abenteuer und  was  darauf  folgte,  ihre  Meisterschaft  zeigend  in  dem, 
was  sie  weise  verschweigt.  Hätte  sie  gleich  gesagt,  dafs  Herodes 
ihr  Retter  sei  und  da&  sie  nur  ihn  und  nicht  Faselo  heiraten  wolle, 
so  würden  die  „alten  Könige"  in  Anbetracht  des  langen  Tete-ä-tete 
im  Waldesdunkel  gewifs  ihre  Einwilligung  zum  Tausch  gegeben 
haben.  Mariadnes  zieht  es  aber  vor,  ihrem  Vater  mit  allerlei  Wenns 
und  Abers  zu  quälen,  um  dann  endlich  doch  den  Herodes  als  Retter 
und  Gatten  vorzustellen.  Es  bedarf  gar  nicht  der  grofsen  Worte, 
die  dieser  macht,  um  die  Einwilligung  Hircans  zu  erlangen,  und  auch 
Antipater  giebt  seine  Zustimmung,  „da  ja  die  Infanta  in  seiner  Familie 
bleibt".  Den  leer  ausgehenden  Faselo  tröstet  er  mit  dem  Gemein- 
platz sobre  gustos  no  ay  disputa,  und  ähnliche  Trostsprüchlein  sagen 
ihm  die  übrigen  Personen.  Der  verschmähte  Bräutigam  aber  sagt 
sich  „ist  über  die  Geschmäcke  nicht  zu  disputieren,  so  kennt  auch 
Eifersucht  keine  Mäfsigung^  und  beschliefst,  sich  zu  rächen.  Dazu 
werde    ihm  sein   Freund    Marcus  Antonius  helfen,    der  eben    um  die 


296  Marcus  Landau. 


Alleinherrschaft   über  die  Welt  mit  Augustus  Krieg  führt,    zu  dessen 
Partei  aber  Herodes  halte*). 

Kaum  hat  Faselo  diesen  Entschlufs  gefafst,  als  ihm  ein  Römer 
einen  Brief  des  Antonius,  datiert  Byzanz  Kai.  Junii  anno  752  u.  c.**) 
überbringt,  in  dem  der  Imperator  seinen  erlauchten  Freund  ersucht, 
zu  seiner  Unterstützung  bei  der  bevorstehenden  Seeschlacht  herbei- 
zueilen, zum  guten  Anfang  den  Herodes  gefangen  mitzubringen,  so- 
wie als  süfse  Zugabe  die  durchlauchtige  Infantin  Mariadnes,  deren 
Schönheit  ihn  zum  Sklaven  gemacht  habe. 

Faselo  ist  der  Meinung,  dafs  der  Imperator  sich  mit  dem  ge- 
fesselten Herodes  begnügen  möge,  Mariadnes  sei  kein  Bissen  für  ihn. 
Dann  geht  er  und  nimmt,  mir  nichts  dir  nichts,  mit  Hilfe  der  rö- 
mischen Besatzung  den  Herodes  und  dessen  treuen  Begleiter  Josefo 
gefangen.  An  die  unverletzten  12000  Mann,  die  er  von  seinen  Feld- 
zügen zurückgebracht,  ganz  vergessend,  begnügt  sich  Herodes  zu 
klagen  und  auf  den  Bruder  zu  schimpfen.  Schliefslich  bittet  er  den 
von  Faselo  zum  Gouverneur  von  Jerusalem  ernannten  Josefo,  falls 
er  hören  werde,  dafs  er  das  Leben  verloren,  sofort  die  Mariadnes  zu 
töten.  Josefo  ist  zwar  darob  höchst  bestürzt,  da  er  aber  geschworen 
hatte,  alle  Aufträge  des  Herodes  auszufahren,  mufs  er  auch  diesen 
übernehmen. 

Im  dritten  Akt  finden  wir  den  Faselo  schon  als  König  von  Jeru- 
salem von  Antonius*  Gnaden.  Hircan  ist  tot,  was  mit  dem  König 
Antipater  geschehen,  erfahren  wir  nicht.  König  Faselo  läfst  dem 
Herodes  sagen,  er  werde  ihm  das  Leben  schenken,  wenn  er  ihm  die 
Mariadnes  abtrete  und  zur  Partei  des  Antonius  übergehe.  Herodes 
will  weder  das  eine  noch  das  andere  tun,  worauf  ihn  Faselo  zur  Hin- 
richtung in  Gegenwart  der  Gattin  abzuführen  befiehlt.  „Und  doch 
wird  sie  nicht  dein  sein,  sondern  mir  in  den  Tod  folgen",  höhnt  der 
Gefangene. 

Während  sie  noch  reden,  kommt,  wie  der  Gott  aus  der  Maschine, 
Augustus  mit  Lorbeer  und  im  Kaiserornat  als  Sieger  von  Actium 
und  ist  sehr  erstaunt,  seinen  Freund  Herodes  in  Ketten  zu  finden. 
Wir  sind  noch  mehr  erstaunt,  dafs  Faselo  an  der  Seeschlacht,  zu  der 


*)  In  Wirklichkeit  stand  Herodes  während  dieses  Kriege  auf  Seiten  des  Antonios. 
Der  historische  Phasael,  der  keine  bedeutende  Rolle  spielte,  hielt  stets  treu  zu  seinem 
Bruder  Herodes  und  geriet  ungefähr  zehn  Jahre  vor  diesem  Weltkriege  in  die  GefangfOk- 
Schaft  der  Parther,  wo  er  den  Tod  fand.     (Josephus  Jüdischer  BCrieg  I  13). 

**)  Zur  Ehre  des  Priors  Gabriel  Tellez  wollen  wir  annehmen,  dafe  dies  ein  Druck- 
fehler für  733  ist. 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.     II.  897 

er  doch  eingeladen  war,  nicht  Teil  genommen,  ja  davon  gar  nichts 
gewufst  zu  haben  scheint.  Aber  Augustus  läfst  uns  nicht  Zeit  zum 
Erstaunen  und  Fragen,  denn  er  mufs  dem  Antonius  nach  Ägypten 
nachjagen.  Kurzer  Hand  setzt  er  dem  Herodes  die  dem  Faselo  ab- 
genommene Krone  auf  und  schenkt  ihm  den  Bruder  noch  dazu. 
Herodes  stellt  philosophische  Betrachtungen  über  die  Wandelbarkeit 
des  Glückes  an  und  beschliefst,  den  Faselo  nicht  zu  töten,  ihn  lebens- 
lang im  Kerker  zu  quälen  sei  süfsere  Rache,  meint  er. 

Wie  Wermut  fallt  in  diese  Süfsigkeit  ein  anonymer  von  Herodes 
aufgefangener  Brief,  in  dem  es  heifst,  Gouverneur  Josefo  bewache 
wohl  die  Mariadnes,  aber  nicht  ihre  Ehre,  und  von  dem  Leichtsinn 
einer  Strohwitwe  sei  alles  zu  befurchten.  Herodes  ist  der  Mann,  auf  den 
geringsten  Verdacht  hin  stets  das  schlimmste  zu  befurchten  und  eilt, 
vor  Eifersucht  rasend,  spornstreichs  nach  Jerusalem.  Bei  aller  Eile 
findet  er  jedoch  Zeit,  Betrachtungen  über  die  schlechte  Einrichtung 
der  Welt  anzustellen:  Alles  kostbare  ist  sorgfaltig  verwahrt  und  ge- 
schützt, das  Gold  im  tiefsten  Bergesschacht,  die  Perle  in  der  Muschel 
am  Meeresgrund,  nur  unser  kostbarstes,  die  Ehre,  hängt  von  Laune 
und  Leichtsinn  einer  Frau  ab. 

I  que  la  honra,  que  es  suma 

de  todo  el  valor  y  ser 

la  fie  de  una  muger, 

que  es  viento,  sombra  y  espuma. 

In  der  nächsten  Scene,  die  wieder  in  Jerusalem  spielt,  erfahren 
wir,  dafs  Salome  die  Verfasserin  des  anonymen  Briefes  ist.  Sie  be- 
klagt sich  bei  ihrem  Gatten  Aristobolo  über  den  Hochmut  und  das 
beleidigende  Benehmen  seiner  Schwester  Mariadnes.  Diese  wieder 
klagt  vor  Josef  über  den  grausamen  Befehl  des  Herodes,  der  auch 
ganz  überflüssig  sei,  da  sie  Qhnehin  nach  dessen  Ableben  sich  selbst 
getötet  hätte.  Josef  sucht  sie  zu  beruhigen  und  macht  ihr  den  sonder- 
baren Vorschlag  sich  vorzustellen,  Herodes  kehre  als  von  Augustus 
eingesetzter  König  zurück  und  zur  Zerstreuung  mit  ihm  den  herzlichen 
Empfang  einzustudieren,  den  sie  dem  geliebten  Gatten  bei  seiner 
Ankunft  bereiten  werde. 

Mariadnes  geht  auf  diesen,  wir  wissen  nicht  ob  naiven  oder 
hinterlistigen,  Vorschlag  ein,  und  sie  beginnen  ihre  Rollen  einzu- 
studieren: 

Josef:  „Teuere  Gattin". 

Mariad.  „Oh  geliebter  Fürst,  wie  beglückt  mich  deine  Gegenwart!" 

Während  sie  ihre  immer  zärtlicher  werdenden  Wechselreden  fort- 


898  Marcus  Landau. 


setzen  und  zugleich  den  Faselo,  ohne  dessen  Namen  zu  nennen, 
schmähen,  schleicht  sich  Herodes  unbemerkt  herein  und  behorcht  sie. 
Er  bezieht  das,  was  sie  von  Faselo  sagen  auf  sich,  und  das,  was  er 
sonst  sieht  und  hört  würde  genügen,  selbst  den  gefalligsten  Ehemann 
zum  Othello  zu  machen.  „Teueres  Herz**  seufzt  Josef,  und  „Süfser 
Geliebter^  antwortet  Mariadnes.  n^^i^st  du  mich  denn  nicht  zärtlicher 
zu  empfangen?"  Mariadnes:  „Wie  denn?"  —  „Indem  du  mich  umarmst'' 
antwortet  Josef. 

Das  wird  begreiflicher  Weise  dem  horchenden  Gatten  zu  viel, 
besonders  da  er  noch  den  anonymen  Brief  in  Händen  hat.  Wütend 
stürzt  er  aus  seinem  Horchwinkel  hervor,  will  keine  Entschuldigung 
und  Erklärung  anhören  und  läfst  die  Beiden  ins  Geifangnis  abfuhren. 
Was  mit  Mariadnes  weiter  geschieht,  wird  uns  nicht  gesagt,  aber  aus 
den  Worten  des  Herodes 

que  el  talamo  de  sus  bodas 
serä  un  mortal  cadahalso 
können  wir  schliefsen,  dafs  sie  kein  gutes  Ende  nehmen  wird. 

Nun  könnte  der  Vorhang  fallen,  aber  Molina  mufs  noch  die  Ge- 
schichte des  Herodes  fortsetzen.  Ein  Bote  meldet  die  Ankunft  der 
vom  Stern  geleiteten  drei  Könige  aus  dem  Morgenlande  und  beschreibt 
sie  und  ihr  Gefolge  sehr  ausfuhrlich.  Sie  fragen  überall  nach  dem 
neugeborenen  König  der  Juden,  was  den  Herodes  veranlafst,  den 
Befehl  zur  Ermordung  aller  Nachkommen  König  Davids,  vor  allem 
des  Aristobolo,  des  Josef  und  des  Senats  der  Siebzig  (der  doch  ge- 
wifs  nicht  aus  Neugeborenen  oder  lauter  Nachkommen  Davids  bestand) 
zu  erteilen. 

Und  jetzt  begreifen  wir  erst,  wozu  Molina  die  Hirten  in  das  Eifer- 
suchtsdrama einführte.  Sie  kommen  jetzt,  um  die  Geburt  des  Kindes 
in  Bethlehem,  die  Erscheinung  des  Gloria  in  altissimis  Deo  singenden 
Engels,  die  Anbetung  des  Kindes  in  der  Krippe  durch  die  drei  Könige 
u.  s.  w.  zu  schildern.  Kurz,  ein  Weihnachtsspiel  im  Stile  des  Gil 
Vincente  ist  in  die  Eifersuchtstragödie  eingeschaltet  und  daran  schliefst 
sich  wieder  der  Mord  der  unschuldigen  Kinder.  Auf  die  derbkomischen 
Scenen,  in  welchen  die  Hirten  den  neugeborenen  König  als  König  von 
Carreau,  Coeur,  TreflF  und  Pique  (Rey  de  oros,  de  copas  de  bastos 
de  espadas  —  mit  Erlaubnis  von  Censur  und  Inquisition  ?)  feiern, 
folgen  die  Gräuelscenen  des  Kindermords.  Nach  der  Meldung,  dafs 
bereits  14000  Kinder  getötet  wurden,  kommen  Mütter  mit  Kindern, 
darunter  eine  mit  einem  Kinde,  das  sie  dem  Herodes  selbst  geboren, 
und  flehen  um  Erbarmen.  Aber  der  unerbittliche  Wüterich  läist  alle, 
selbst  sein  eigenes  Kind  töten  und  entfernt  sich  wütend. 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.    II.  299 

In  der  letzten  Scene  wird  uns  ein,  wenn  der  Ausdruck  hier  er- 
laubt ist,  lebendes  Bild  gezeigt:  Der  tote  Herodes,  ein  ermordetes 
Kind  in  jeder  Hand  haltend. 

Mit  der  entsprechenden  Leichenrede  auf  den  Wüterich  schliefst  das 
Stück,  das  schwächste  der  von  uns  bis  jetzt  behandelten  Mariamne- 
Dramen.  • 

Den  Personen  fehlt  es  an  deutlich  ausgeprägtem  Charakter,  wir 
haben  jfür  sie  keine  Sympathie  oder  Antipathie  und  selbst  den  Herodes 
können  wir  nicht  recht  hassen. 

Es  fehlt  ihm  das  Schwanken  und  Zweifeln,  das  Abwechseln  von 
Verdacht  und  Vertrauen,  was  den  Liebenden  zum  Eifersüchtigen  macht. 
Er  wird  überhaupt  erst  im  letzten  Akt  eifersüchtig,  und  was  er  da 
mit  eigenen  Augen  und  Ohren  sieht  und  hört,  mufs  ihn  von  der 
Schuld  seiner  Frau  überzeugen.  Sonst  macht  er  eher  den  Eindruck 
eines  Wahnsinnigen,  und  ganz  unbegreiflich  erscheint  es,  wie  er  nach 
so  vielen  Heldentaten  während  des  Entscheidungskampfs  zwischen 
Antonius  und  Augustus  untätig  bleibt  und  sich  ohne  Widerstand  zu 
leisten  von  Faselo  wie  ein  unschuldiges  Lamm  in  Bande  legen  läfst. 
Mit  wem  es  Josef  hält,  ob  er  ein  Dummkopf  oder  schlauer  Verräter 
ist,  erfahren  wir  nicht.  Den  ihm  erteilten  Befehl  Mariadnes  zu  töten, 
hat  Molina  aus  seiner  Quelle  übernommen,  aber  er  erscheint  bei  ihm 
ganz  überflüssig,  da  er  ohne  jede  Wirkung  auf  Mariadnes  bleibt  und 
Herodes  gar  nicht  erfahrt,  dafs  Josef  das  Geheimnis  verraten  hat. 
Und  diese  Quelle  ist  wahrscheinlich  nicht  direkt  das  Geschichtswerk 
des  Josephus,  sondern  eine  von  diesem  abgeleitete  gewesen,  da  sonst 
die  Anachronismen  kaum  zu  erklären  wären.  Ein  Dramatiker  kann 
sich  nicht  streng  an  die  historische  Wahrheit  halten,  aber  er  soll  von 
ihr  nur  im  Interesse  der  poetischen  Wahrheit  abweichen;  Molinas 
Verletzungen  der  historischen  Treue  schädigen  aber  sein  Stück  noch 
mehr,  als  es  die  prosaischeste  Kopierung  von  Josephus  Bericht  tun 
könnte.  Die  wenigen  schönen  Stellen  und  ergreifenden  Scenen  ent- 
schädigen weder  für  die  mifslungene  Erfindung,  noch  für  das  Über- 
mafs  des  Schwulstes. 

DC. 

Cristobal  Lozano,  ein  Doktor  der  Theologie  und  Kaplan  an  der 
Kathedrale  von  Toledo,  den  Ticknor  (a.  a.  O.  IE  328  und  434)  nur 
als  Verfasser  historischer  Novellen  und  moralischer  Schriften  kennt, 
hat  auch  einige  dramatische  Werke  geschrieben,  darunter  ein  biblisches 


800  Sfarcus  Landau. 


Drama:  „Los  trabajos  de  David  y  finezas  de  Michol,"  mit  dem 
unvermeidlichen  „Gracioso"  und  die  „Comedia  famosa^  „Herodes 
Ascalonita  y  la  hermosa  Mariana"*). 

Die  Ausführung  dieses  Stücks  mufs  grofse  Kosten  für  Beleuch- 
tung erfordert  haben,  denn  die  Handlung  geht  gröfstenteils  in  der 
Nacht  vor  sich.  Die  Personen  kommen  mit  Kerzen  und  Laternen  auf 
die  Bühne,  die  zu  rechter  Zeit  verlöschen  oder  verlöscht  werden,  um 
Verwechslungen,  Täuschungen  und  Zusammenstöfse  im  Dunkeln  zu 
ermöglichen.  Gewöhnlich  werden  die  Personen  von  erschreckenden 
Träumen  oder  rätselhaften  Rufen  aus  dem  Schlafe  aufgejagt  und 
kommen  im  Nachtgewand,  die  Männer  stets  mit  gezogenem  Degen, 
auf  die  Bühne  gestürzt.  Gleich  im  Beginne  des  ersten  Akts  haben 
Mariana  und  Josefo,  ihr  platonischer  Liebhaber  und  Gatte  Salomes, 
gleichzeitig  solche  schreckliche  Träume,  die  sie  einander  bei  Kerzen- 
licht im  Neglige  erzählen.  Josef  berichtet  ohne  Namen  zu  nennen 
von  seiner  Jugendgeliebten  (Mariana),  die  ihn  verlassen,  um  einen 
Andern  (Herodes)  zu  heiraten.  Er  habe  sich  darin  gefunden  und 
Salome  geheiratet,  deren  treuer  Gatte  er  nun  sei;  ist  ihm  doch  der 
böse  Traum  gekommen 

quando  estando  con  mi  esposa 
despues  de  delidas  tiernas. 

Und  sein  Diener  Lazaro,  die  komische  Person  des  Stücks,  wun- 
dert sich,  wie  sein  Herr  eine  Frau 

en  la  cama  como  un  sol 
zurücklassend,  auf  nächtliche  Abenteuer  ausgehen  könne. 

Dafs  Salome,  die  ihren  Gatten  zu  nachtschlafender  Zeit  im  tete- 
ä-tete  mit  Mariana  findet,  eifersüchtig  wird,  können  wir  leicht  begrei- 
fen und  wir  nehmen  es  ihr  auch  nicht  übel,  wenn  sie  nach  der  andert- 
halbhundert Verse  langen  Rede,  welche  ihre  Schwägerin  in  Unterrock 
und  Nachthaube  hält,  noch  eifersüchtiger  wird.  Doch  gelingt  es  dem 
Diener  Lazaro  den  Frieden  zwischen  ihr  und  Josefo  herzustellen. 


*)  Sie  sind  abgedruckt  in  den  Soledades  de  la  vida  y  desengaöos  del  mundo. 
Novelas  y  comedias  exemplares  escritos  por  el  Licenciado  Don  Caspar  (sie)  Lozano, 
Rector  del  Colegio  de  nuestra  Senora  de  la  Anunciation  de  Murda,  Madrid  1663.  Der 
Widmungsbrief  an  Don  Pedro  Portocarrero,  in  dem  der  Verfasser  die  Soledades  als 
Jugendwerke  bezeichnet,  ist  von  Christoval  Lozano  unterschrieben ;  in  den  Überschrif- 
ten der  Dramen  nennt  er  sich  wieder  Caspar.  Nach  Barrera  y  Leirado,  „Catalogo  bi- 
bliografico  y  biografico  del  Teatro  antiguo  espafiol**,  Madrid  1860  S.  225  war  Christobal 
Commissär  der  Inquisition  und  königlicher  Kapellan  (geb.  um  161 8),  der  wirkliche  Ver- 
fasser, dessen  Namen  als  solcher  aber  erst  in  den  nach  seinem  Tode  erschieneoen  Aus- 
gaben genannt  wurde.     Die  erste  Ausgabe  der  Soledades  erschien  1658. 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.    II.  301 

Dann  wird  es  Tag  und  wir  sehen  den  triumphartigen  Einzug  des 
Herodes,  der  bis  über  die  Ohren  in  Mariana  verliebt,  darüber  beun- 
ruhigt ist,  dafs  sie  ihm  nicht  entgegengekommen  sei.  Aber  er  schliefst 
dann  aus  seinem  eigenen  Wohlbefinden  auf  das  ihrige,  denn  sie  beide 
bilden  ja  nur  eine  Seele;  wäre  sie  gestorben,  so  hätte  auch  ihn  schon 
der  Tod  erfafst 

Si  fuera  muerta  mi  esposa, 
quando  un  alma  en  dos  mitades 
igualmente  nos  anima 
toda  Junta  en  cada  parte, 
no  era  for90SO,  que  yo 
en  parasismos  lethales, 
despulsadas  los  alientos 
y  roto  el  vital  estambre 
huviera  tambien  passado 
los  destro^os  de  cadaver? 
Claro  esta;  pues  si  me  miro 
sano,  animoso,  arrogante, 
no  es  claro  que  este  valor 
lo  anima  todo  aquel  Angel? 
Nicht  ohne  Verwunderung  werden   wir   später   einen   sehr   ähn- 
lichen Gedanken  bei  Hebbel  (Akt  IV  8)  wiederfinden.    Auch  bei  ihm 
sagt  Herodes: 

„Zwei  Menschen,  die  sich  lieben,  wie  sie  sollen. 
Können  einander  gar  nicht  überleben. 
Und  wenn  ich  selbst  auf  fernem  Schlachtfeld  fiele : 
Man  brauchte  dir*s  durch  Boten  nicht  zu  melden. 
Du  fühltest  es  sogleich,  wie  es  geschehen, 
Und  stürbest  ohne  Wunde  mit  an  meiner  1^ 
Endlich  kommt  Mariana,  die  zwar  ihren  Gatten  hafst,  weil  er  ihren 
Bruder   töten    liefe,  äufserlich  aber  nichts  davon  merken  läfst  und  ihn 
bittet,  ihr  seine  Erlebnisse  zu  erzählen.  Er  tut  es,  sie  mit  zweihundert 
Versen  überschüttend,  was  wir  der  Heuchlerin  gönnen. 

Herodes  hat  in  Ägypten  das  Büd  Marianas  in  den  Händen  des 
darin  verliebten  Marcus  Antonius  gesehen,  der  aber  nicht  wufste,  wen 
es  vorstelle,  ganz  wie  Octavianus  bei  Calderon.  Der  Triumvir  hat 
zwar,  als  ihm  Herodes  sagte,  es  sei  das  Porträt  seiner  Frau,  seiner 
Liebe  entsag^,  aber  Herodes  ist  doch  unruhig  und  eifersüchtig  imd 
sucht  den  Josefo  darüber  auszuholen.  Es  geschieht  dies  in  einer  geheimen 
Unterredung,  die  von  einer  Seite  von  Lazaro,  von   der  andern  von 


802  Bfarcus  Landau. 


Mariana  hinter  dem  pano,  dem  unentbehrlichen  Requisit  der  spani- 
schen Bühne,  behorcht  wird.  Sie  begleiten  die  Unterredung  mit  ihren 
a  parte  Zwischenrufen,  reagieren  aber  nicht  weiter  auf  das  Vernommene. 
Zwischenfalle,  die  auf  den  Fortgang  der  Handlung  ohne  Einflufs  sind, 
gehören  zu  den  Eigentümlichkeiten  dieses  Stückes. 

Der  zweite  Akt  beginnt  wieder  mit  einer  Nachtscene,  zu  der  Jo- 
sefo  und  Herodes,  jeder  mit  Kerze  und  gezogenem  Degen,  heran- 
schleichen. Herodes  hält  aufserdem  noch  einen  Brief  in  der  Hand, 
(wieviel  Hände  hat  denn  der  Mann?),  der  ihm  auf  sonderbare  Weise, 
im  Schlafe,  zugekommen  ist.  Er  ist  an  Alexandra,  Marianas  Mutter, 
gerichtet,  kommt  von  Marcus  Antonius  und  betrifft  das  erwähnte 
Porträt.  Da  Herodes  zugleich  vom  Römer  aufgefordert  wurde,  nach 
Laodicea  zu  kommen,  um  sich  zu  verantworten,  so  sieht  er  im  ganzen 
eine  Intrig^ue,  um  ihn  zu  verderben  und  g^ebt  daher  dem  Josefo  den 
bekannten  Befehl,  wenn  Antonius  ihm  das  Leben  nehmen  würde,  Ma- 
riana zu  töten.  Diese  Unterredung  wird  von  Wutanlfallen  und  Hai- 
lucinationen  des  Herodes  unterbrochen,  in  denen  er  Josefo  £ur  Mar- 
cus Antonius  hält  und  ihn  zu  erstechen  versucht.  Dabei  läsft  er  es 
aber  auch  nicht  an  schwülstigen  Reden  fehlen  und  sagt  von  Marianas 

Tränen  sprechend 

me  eche  hidropico  a  beber 

a  las  fuentes  de  sus  ojos. 
Bald  nach  seiner  Abreise  läfst  sich  Josefo  verleiten,  Marianen 
den  Mordbefehl  zu  verraten  und  verspricht  ihr,  ihn  nicht  auszufuhren. 
Sie  läfst  dagegen  merken,  das  sie  ihn  noch  liebe,  aber  ihrem  Gatten 
treu  bleiben  werde  und  zankt  dann  in  nicht  königlicher  Weise  mit  Sa- 
lome.  Diese  verfallt  auf  eine  sonderbare  List,  um  über  die  Beziehun- 
gen ihres  Gatten  zu  Mariana  ins  Klare  zu  kommen.  Sie  schickt  ihr 
durch  Lazaro  einen  Liebesbrief  ohne  Adresse,  den  sie  einst  von  Jo- 
sefo erhalten  *).  Es  ist  dies  jedenfalls  eine  viel  unschuldigere  List, 
als  die  in  den  andern  Dramen  vorkommende  Beschuldigung  der  Gift- 
mischerei, bleibt  aber  ohne  Wirkung.  Der  Brief  fallt  zwar  in  Herodes 
Hände,  aber  der  furchtsame  Überbringer  gesteht,  dafs  er  ihn  von 
Salome  empfangen  hat  und  diese  giebt  zu,  dafs  sie  ihn  geschickt  habe, 
um  Mariana  auf  die  Probe  zu  stellen.  Bevor  diese  Aufklärungen  ge- 
geben werden,  haben  wir  noch  mancherlei  Sonderbares  zu  sehen  und 
zu  hören:  Nachtscenen,  ganz  lustspielmäfsig  mit  ausgelöschten  Lich- 
tern, umgestürzten  Tischen,    Verwechslungen,  Zusammenstöfsen,    Qui- 


*)    Bei  Tirso  de  Molina  operiert  Salome  mit    einem  anonymen  Brief  an    Herodes. 
(S.  oben.  S.  397). 


Die  Dramen  von  Herodes  and  Mariamne.     II.  803 

proquos  und  dergleichen.  Herodes  ist  gar  nicht  zu  Marcus  Antonius 
abgereist  und  schleicht  sich,  gar  nicht  königsmäfsig  mit  Laterne  und 
Degen  durch  eine  geheime  Tür  in  Marianas  Zimmer  ein,  um  sie  zu  be- 
lauschen, rauft  im  Dunkeln  mit  Lazaro,  und  das  Ganze  endet  mit 
allgemeiner  VerblüflFung. 

Trotz  der  gestörten  Nachtruhe  finden  wir  am  Beginne  des  dritten 
Aktes  Mariana  am  frühen  Morgen  singend  im  Garten,  wohin  auch 
Josefo  kommt  und  seinen  Gesang  anstimmt.  Das  Duett  wird  durch 
Lazaro  und  Marianas  Kammermädchen  Isabel  unterbrochen,  die  voll 
Angst  melden,  sie  seien  bei  einem  Tete-ä-tete  in  Marianas  Schlaf- 
zimmer von  dem  durch  die  geheime  Tür  mit  Degen  und  Laterne  ein- 
gedrungenen Herodes  überrascht  worden.  Dieser  und  Salome,  noch 
im  Neglige,  folgen  ihnen  auf  dem  Fufse.  Dafs  die  Eifersucht  des 
Herodes  durch  die  Morgenpromenade  seiner  Gattin  mit  Josefo  er- 
regt wird  und  dafs  Salome  sie  zu  schärfen  bemüht  ist,  das  ist  leicht 
begreiflich.  Es  kommt  zu  einer  lebhaften  Auseinandersetzung  zwischen 
den  Gatten,  in  deren  Verlauf  Mariana  ihrem  Manne  den  an  Josefo 
erteilten  Mordbefehl  vorwirft.  Dadurch  und  durch  die  Fürbitte  Ma- 
rianas für  Josefo  wird  die  Eifersucht  des  Herodes  aufs  höchste  ge» 
steigert  und  er  läfst  den  Josefo  ins  Gefängnis  bringen.  Mariana 
bittet  um  strenge  Untersuchung  und  beteuert  ihre  Unschuld. 

In  der  nächsten  Scene  finden  wir  Josefo  im  Gefängnis,  wo  ihn 
Mariana  mit  der  Laterne  besucht  und  dem  zu  Tode  Verurteilten  Ge- 
legenheit zur  Flucht  bietet.  Er  will  aber  lieber  sterben  als  durch 
die  Flucht  seine  und  ihre  Ehre  kompromittieren.  Dann  kommen  die 
Wachen  und  fuhren  beide  durch  verschiedene  Türen  ab.  Man  hört 
Josefos  Worte  „Ich  sterbe  unschuldig!"  und  Mariana  fallt  in  Ohn- 
macht. Der  Ohnmächtigen  erscheint  in  einer  Wolke  die  Fama  mit 
Lorbeer  gekrönt,  einen  Palmzweig  in  der  Hand.  Mit  den  Attributen 
anderer  Gottheiten  geschmückt,  begnügt  sie  sich  nicht,  Stadt-  und 
Weltneuigkeiten  zu  erzählen,  sondern  wagt  sich  an  das  Prophezeien. 
Sie  verkündet  Marianen  ihren  und  ihrer  Kinder  Tod,  sowie  den  des 
ganzen  Synedrium,  das  über  sie  richten  soll,  dann  die  Geburt  des 
Heilands  und  den  Kindermord  in  Bethlehem.  Die  Königin  erwacht 
aus  ihrer  Ohnmacht  und  sieht  in  Verzückung  die  heilige  Jungfrau 
mit  ihrem  Kinde  auf  der  Flucht,  wozu  ihr  Fama  die  nötigen  Erklärungen 
giebt. 

Von  einem  Verhör  und  einer  Verurteilung  Marianas  hören  wir 
nichts;  aber  in  der  nächsten  Scene  finden  wir  Herodes  bei  Tische, 
auf   dem    alle    Speisen    und    alles  Geschirr    mit    Blut    bespritzt    sind. 

Ztschr.  f.  ygl  Litt.-Gescb.  N.  P.  VIU.  20 


304  Marcus  Landau. 


Selbst  das  Wasser,  das  ihm  zum  Waschen,  und  die  Servietten,  die 
zum  Abtrocknen  gereicht  werden,  sind  blutig.  Salome  entschuldigt 
sich  weinend,  sie  könne  ihm  keine  andere  Servietten  geben,  alle  ihre 
holländische  Leinwand   sei  mit  dem  Blute    ihres  Gatten    getränkt. 

Pues  sangre  de  Joseph  mancha 
las  olandas  y  cambrayes. 

Der  anfangs  entsetzte  Herodes  findet  bald  seinen  Appetit  wieder 
und  läfst  sich  die  blutigen  Bissen  schmecken,  bis  man  draufsen  schreien 
hört:  „Justicia  cielos,  Justicia!^  Auf  die  Frage  des  Herodes,  was 
der  Lärm  bedeute,  schildert  ihm  Lazaro  ausfuhrlich  die  Hinrichtung 
Marianas.  „Du  betrügst  mich,  Schurke!"  schreit  der  wütend  werdende 
König.  Da  zieht  Salome  einen  Vorhang  weg  und  man  erblickt  den 
sitzenden  Rumpf  Marianas.  Herodes,  noch  wütender,  wirft  den  Tisch 
um,  läuft  mit  dem  Messer  im  Zimmer  herum,  so  dafs  alle  vor  ihm 
entfliehen  und  geht  endlich  ab,  mit  dem  Entschlüsse,  sich  zu  töten. 

Lazaro,  der  allein  auf  der  Bühne  geblieben,  verkündet,  dafs  die 
traurige  Geschichte  von  Herodes  und  Mariana  zu  Ende  sei,  „w^er 
näheres  erfahren  wolle,  der  lese  Philo,  Josephus  oder  die  Annalen 
des  Pineda". 

Man  kann  das  in  bald  schwülstiger,  bald  niedriger  Sprache  ge- 
schriebene Drama  die  extravaganteste  Behandlung  des  Mariamne- 
stoffes  nennen.  Die  Eifersucht  des  Herodes  ist  zwar  besser  motiviert 
als  in  vielen  der  anderen  Bearbeitungen,  aber  es  ist  eine  lustspiel- 
mäfsige  Motivierung,  wie  auch  das  ganze  Stück  trotz  des  schreck- 
lichen Ausgangs  mehr  den  Eindruck  eines  Lustspiels  als  einer  Tra- 
gödie macht.  Ja,  wiederholt  drängt  sich  beim  Lesen  die  Frage  auf: 
Haben  wir  es  mit  einem  ernstgemeinten  Stück  eines  Stümpers  oder 
mit  einer  Parodie  der  Dramen  Calderons  und  Tirso  de  Molinas  zu 
tun?  Gegen  letztere  Vermutung  spricht  freilich  das  sehr  lobende,  den 
„Soledades"  vorgedruckte  Empfehlungsschreiben  Calderons  vom 
12.  Juli  1658,  in  welchem  es  u.  a.  heifst:  »que  a  mi  corto  juido  me- 
rece  su  autor  sobre  las  gracias  de  averlo  escrito  la  licencia  que  pide 
de  imprimirlo". 

Tirso  de  Molinas  Mariadnes  und  Lozanos  Herodes  sind  un- 
fruchtbar geblieben,  aber  THermites  Mariamne  hat  die  Voltaires 
hervorgerufen  und  die  Mariene  Calderons  wurde  schon  1670  von 
Giacinto  Andrea  Cicognini  unter  dem  Titel  Mariena  owero  il  magg^or 
mostro    del   mondo   ins  Italienische   übertragen*).    Ein   halbes  Jahr- 


*)  J.  L.  Klein,  Geschichte  des  Dramas  V,  717  VI,  I»  58. 


Die  Dramen  voo  Herodes  ood  Mariamne.    ü.  805 

hundert  später  (1724)  wurde  in  Venedig  das  Musikdrama  La  Mariane 
oder  Eccessi  della  gelosia,  Text  von  Domenico  Lalli,  Musik  von 
Tomaso  Albinoni  aufgeführt*).  Nach  den  Namen  der  auftretenden 
Personen  —  Mariane,  Arminda,  Ottaviano,  Tolomeo  —  zu  urteilen, 
beruht  das  Stück  entweder  direkt  auf  Calderon  oder  auf  Cicogninis 
Bearbeitung.  Fast  gleichzeitig  mit  dieser  tauchte  das  Ehama  Cal- 
derons  in  Deutschland  auf.  Im  Jahre  1674  wurde  in  Dresden  von 
den  Hamburgischen  Komödianten  „Das  g^ofse  Ungeheuer  oder  der 
eifersüchtige  Herodes'*  aufgeführt,  und  damit  identisch  ist  wohl  das 
ebenda  1688  aufgeführte  Stück  „Vier  Fürsten  (Vierfürst)  Herodes"**). 
Ein  von  den  Jesuiten  1656  in  München  mit  grofsem  Beifall  auf- 
geführtes Schuldrama:  "Herodes  filiorum  suo.rum  camifex  (Alexander 
et  Aristobulus  Tragoedia)***)  dürfte  seinem  Titel  nach  nicht  zu  den 
Mariamne-Tragodien  gehören. 

X. 

Der  entsetzliche  Vielschreiber,  Pfarrer  Johann  Rist  (1607— 1667), 
aus  Pinneberg  in  Holstein,  „der  Rüstige,  wo  man  sein  bedarf"  in  der 
Fruchtbringenden  Gesellschaft  und  Gründer  des  Schwanenordens  an 
der  Elbe,  sagt  in  einem  Klagegedichte  über  „gar  zu  frühzeitiges  Ab- 
sterben Herrn  Ernst  Stapelen"  f):  „Herodes,  Wallenstein  und  Gustav 
waren  mein"  und  bemerkt  dazu  in  einer  Anmerkung  (Bogen  O. 
Blatt  2):  „Diese  sind  alle  gantz  neue  und  vor  einiger  Zeit  erfundene 
und  ausgearbeitete  Tragaedien,  zu  welchen  noch  gehören  meine 
Polymachia,  Irenochorus,  Berosiana,  Begomina  und  noch  andere  mehr, 
deren  aber  gleichwohl  keine  (aufser  dem  Herodes,  als  welcher  unter 
allen  die  älteste)  auflF  die  öffentliche  Bühne  ist  gebracht  worden". 

Da  der  Herr  Stapel  1635  starb  und  Rist  hier  den  Herodes  als 
seine  älteste  Tragödie  nennt,  so  mufs  sie  wohl  eine  Jugendarbeit  sein. 
Ob  sie  gedruckt  wurde,  giebt  er  nicht  an.  Ich  habe  sie  nicht  finden 
können  und  war  hierin  nicht  glücklicher  als  Gottsched,  der  in  seinem 
Nötigen  Vorrat  (I  200)   sagt,    er   habe  alle  diese  Stücke  niemals  ge- 


*)  T.  Wicl  im  Nuovo  Archivlo  veneto  1891  vol.  ü.  388. 
**)  Moritz  FQrstenau,   Zur  Geschichte   der  Musik    und   des  Theaters    am  Hofe   zu 
Dresden.    Dresden  1861,  I  244,  304.     S.  auch  Carl  Heine,  Das  Schauspiel  der  deutschen 
Wanderbühne  vor  Gottsched.     Halle  1889.     S.  10. 

♦**)  K.  V.  Reinhardstöttner  im  Jahrbuch  für  Münchener  Geschichte  III  (1889)8.  115. 
f)  Johannis  RistU  Holsati  Poetischer  Lust-Garte,  Hamburg  1638,  ohne  Paginiening. 
Das  Gedicht  6ndet  sich  auf  Blatt  7  von  Bogen  N. 

20* 


806  Marcos  Landau. 


sehen  **).  Für  diesen  Entgang  werden  uns  Klaj  und  Hallmann  mehr 
als  genügend  entschädigen. 

Einige  Jahre  nach  Rists  Lustgarten  ist  (1645  ^  Nürnberg)  des 
deutschen  Dichters  und  Pegnitzschäfers  Johann  Klaj  (1616 — 1656) 
„Herodes  der  Kindermörder,  nach  Art  eines  Trauerspiels  ausge- 
bildet und  in  Nürnberg  einer  Teutschliebenden  Gemeine  vorgestellt" 
erschienen,  geziert  mit  den  Porträts  von  Herodes  und  Mariamnel  Es 
kann  aber  dieses  Werkchen  in  „trochäischen  Versen  männlicher  und 
weiblicher  Art",  kaum  ein  Drama  und  noch  weniger  ein  Mariamne- 
Drama  genannt  werden.  Es  findet  sich  darin  keine  eigentliche  Hand- 
lung, denn  das  Wenige  das  geschieht  geht  hinter  der  Scene  vor  und 
wird  von  Boten  erzählt.  Es  besteht  g^öfstenteils  aus  langen  Reden, 
lyrischen  Ergüssen  und  Deklamationen  in  dem  bekannten  schwülstigen 
Stile  der  sogenannten  zweiten  schlesischen  Schule.  Jeder  Rede  wird 
nicht  einfach  der  Name  des  Redenden,  sondern  eine  kurze  Inhalts- 
angabe vorangesetzt.  Den  620  Versen  des  dramatischen  Gedichts  folgen 
bei  siebzig  Verse  über  den  traurigen  Zustand  Deutschlands  im  dreifsig- 
jährigen  Kriege  und  25  Seiten  mitunter  höchst  kurioser,  eine  sonder- 
bare Gelehrsamkeit  bietender  Anmerkungen.  Den  Beschlufs  machen 
Klaj's  Schäferkollegen  Philipp  Harsdörffer  mit  einer  Abhandlung  über 
das  Drama  im  Allgemeinen  und  Sigmund  von  Birken  (Betulius)  mit 
einem  Lobgedicht  auf  Klaj. 

Die  Schlufsbemerkung  (S.  54):  „Dieses  Trauergedicht  ist  mit 
einer  beweglichen  Musik  angefangen,  gesondert  und  geendigt  worden", 
läfst  annehmen,  dafs  dieser  „Herodes"  aufgeführt  oder  vielmehr  vor- 
deklamiert wurde.  Seinen  eigentlichen  Inhalt  büden  nicht  die  Schick- 
sale Mariamnes,  sondern  die  auf  Befehl  des  Herodes  aus  Furcht  vor 
dem  durch  den  Stern  und  die  Magier  aus  dem  Morgenlande  ver- 
kündeten neugeborenen  König  der  Juden,  ausgeführte  Ermordung  der 
Kinder  in  Bethlehem  und  die  darauffolgenden  Gewissensqualen  und 
Reue  des  Herodes.  Das  Stück  beginnt  schon  nach  dem  Tode 
Mariamne's,  deren  Todesursache  nicht  angegeben  wird  und  von  der 
Herodes  ziemlich  gleichgültig  sagt:  „als  ich  neulich  Weib  und 
Kinder  hingerichtet". 

Statt  der  lebenden  Mariamne  tritt  ihr  Geist  auf,  begleitet  von 
den  Geistern  ihrer  Kinder  „aus  dem  Abgrunde  der  Höllen",  um  dem 
Gatten  eine  posthume  Gardinenpredigt  zu  halten: 


**)  „Weder    ein  Herodes  noch  ein  glückseliges  Britanien  sind  bekannt  geworden". 
(Goedeke,  Grundrifs  2,  Aufl.  HI.  87. 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.     n.  807 

„Der  Höllenschlund  ist  aufgetan, 

Ich  Mariamnes  komm  heran, 

Mein  Antlitz  ist  mit  Blut  besprützet, 

Stix,  der  mit  Stank  und  Schwefel  hitzet, 

Stix,  der  mit  Feuerströmen  raucht, 
Auch  Acheron,  der  dampfft  und  schmaucht. 
Vermerkt  mit  allem  Höllgewürme. 
Herodes  Himmelmacht  Gestürme. 

Der  in  dem  blauen  Dache  wohnt. 
Wird  hier  im  minsten  nicht  verschont, 
Für  dem  der  Fürst  der  KlufFt  erschrikket 
Und  sich  zu  seinen  Füfsen  bükkeL 

Der  an  an  den  Menschen  ausgerast. 
Dem  Himmel  nach  dem  Kopffe  grast. 
Das  Haufs  ist  durstig  aufgetrieben, 
In  welchem  Ich  und  Kinder  blieben. 

Megera  hat  dein  Brautbett  mir 
Das  Hochzeidiecht  getragen  für. 
In  welchem  ich  funff  Söhn  erzeuget, 
Und  (wolte  Gott  niemal)  gesäuget. 

Die  Fruchtbarkeit,  der  Wangenliecht, 
Hat  mich  und  Kinder  hingericht. 
Die  Freunde  sind  dahingegangen, 
Wo  nimmer  nicht  ist  herzulangen. 

Fort,  fort,  ihr  Schwestern,  säumt  euch  nicht*), 
Werift  ihm  die  Funken  ins  Gesicht, 
Lafst  euer  Haar  verwirret  hangen. 
Auf,  foltert  ihn  mit  Feuerzangen." 


*)  Klaj  citiert  hier  aus  Heinsius: 

cur  adhac  cessant  faces 
Saevae  sorores?  .... 
and  aus  der  Medea  des  Seneca  (V.  13 — 15) 

Adeste,  adeste  sceleris  ultrices  deae 
Crinem  solutis  squalidae  serpentibus, 
Atram  cruentiß  manibus  amplexa  faceza. 


306  Marcus  Landau. 


Darauf   beginnen     die    „Plagegeister"    ihrer    AuflFordening    ent- 
sprechend dem  Herodes  zuzusetzen: 

Wir  Geister  aus  der  Höllen  *), 
Verfolgen  den  Gesellen, 
Er  will  sich  unterstehen. 
Ein  solches  zu  begehen, 
Was  alle  Welt  und  niemand  hat  erfahren. 
GreifFt  an,  greifft  an  und  schleppt  ihn  bei  den  Haaren, 
Stofst  ihm  die  Fakkeln  in  die  Augen, 
Er  mag  die  Drachenmilch  aussaugen, 
GifFtaufgelaufene  Nattern  zischen, 
Kein  Tröpflein  Wasser  soll  ihn  frischen. 
Die  er  mit  Blut  und  Mord  zum  Abgrund  wollen  schikken, 
Mufs  er  in  einem  Traum  mit  Furcht  und  Angst  erblikken." 
Gegen  die  höllischen  Geister  zeigt  Herodes  den   grofsmauligsten 

Trotz: 

„Zerzerret,  zerstukket 

Zerfleischet,  zerknikket. 

Rauchet  und  schmauchet, 

Rädert  und  ädert, 

Rekket  und  strekket, 

Henket,  ertrenket. 

Schwenket,  verrenket. 

Naget  und  plaget, 

Täuffet,  ersäu£fet, 
.    Foltert  imd  poltert, 

Senget  und  brennet, 

Zwakket,  zerhakket. 

Arm  und  Bein, 

Hin  und  wieder 

Meine  Glieder, 

Grofs  und  klein. 
Ich  bin  ja  keinem  unterthan. 
Will  stehn  bis  auf  den  letzten  Mann." 
Dann  läfst  er  die  Kinder  in  Bethlehem  töten  und  als  er  vernommen, 
dafs  sein  Anschlag  mifslungen  und  das  Kind  Jesu  nach  Ägypten  ent- 
kommen ist,  läfst  er  seine  eigenen  noch   lebenden   zwei  Kinder  grau- 
sam hinrichten. 


')  Heinsius; 

Sequimur  ultrices  Deae 

Sequimur  Tyrannum. 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Marianme.    II.  809 

Am  Schlüsse  verfluchen  ihn  die  Belhlehemitischen  Weiber  in  vier- 
zehn vierzeiligen  Strophen,  und  Klaj  zweifeh  nicht,  dafs  die  Zuhörer 
in  den  Fluch  einstimmen  werden. 

Die  Mordscenen  in  Bethlehem  werden  in  gröfster  Ausführlichkeit 
und  mit  dem  entsetzlichsten  Schwulst  geschildert,  mit  welch  letzterem 
Klaj  seinen  Zeitgenossen  THermite  weit  übertrifft.  Dafs  dieser  „be- 
rühmte  Frantzos"  ein  Trauerspiel  von  Mariamne  geschrieben  hat,  weifs 
der  deutsche  Dichter,  wenn  er  aber  hinzusetzt,  er  habe  sie  darin  „ver- 
glichen mit  Maria  der  jüngstverstorbenen  königlichen  Wittib  als  sie 
aus  Frankreich  geflohen",  so  scheint  er  es  nur  sehr  flüchtig  gelesen 
zu  haben  *).  Calderons  Drama  erwähnt  er  nicht,  doch  ist  es  auf- 
fallend,  dafs  er  Herodes  sagen  läfst,  er  wolle  das  nach  Ägypten  ent- 
flohene Jesuskind  nach  Memphis  verfolgen,  also  wie  der  Spanier 
Memphis  und  nicht  Alexandria  für  die  damalige  Hauptstadt  des 
Pharaonenlandes  hält. 

Als  seine  eigentliche  Quelle  nennt  aber  Klaj  Daniel  Heinsius: 
„Es  hat",  sagt  er  S.  29,  „der  edle  und  unvergleichliche  Niederländer 
Heins  von  diesem  Blutbade  ein  Trauerspiel  gemacht,  welchem  wir  in 
vielen  nachgegangen,  alldieweil  solches  kunstgefugte  Werk  je  und  je 
von  der  gelehrten  Welt  hochgehalten  worden". 

Die  Verse  des  Niederländers  werden  von  Klaj  mehrmals  im 
Original  angeführt  und  mit  solchen  Senecas  verglichen. 

In  Danielis  Heinsii  Poematum  editio  nova  Lugd.  Bat.  1621  Elzevir 
habe  ich  das  Trauerspiel  von  Herodes  „Herodes  infanticida"  nicht 
gefunden,  wohl  aber  in  der  Amsterdamer  Ausgabe  der  Poemata  von 
1649  S-  ^'^ — ^^*  ^  beginnt  mit  der  Geburt  Jesu  und  der  Ankunft 
der  drei  Magier  aus  dem  Morgenlande  imd  endet  mit  der  Abschlach- 
tung  der  Kinder  in  Bethlehem.  Mariamne  erscheint  nur  als  Geist, 
begleitet  von  Tisiphone  und  anderen  Furien  aus  der  Hölle  und  be- 
ginnt ihre  Rede  mit 

Adsum  recluso  noctis  ignavae  sinu, 
Coecisque  latebris,  sparsa  Mariamne  comam 
Notis  cruentae  caedis  etiamnum  tremens  .  .  . 

Eine  Benutzung  von  Calderons  Drama  als  Quelle ,  wie  sie 
A.  Farinelli  (Bd.  V.  dieser  Ztschft.  S.  187)  annimmt,  habe  ich  in  Heinsius 
Dichtung  nicht  wahrgenommen.     Wohl  aber  wurde   diese    von  Opitz 


*)  AlsrHermite  sein  Drama  schrieb,  befand  sich  König^in  Maria,  Witwe  Heinrichs  IV., 
in  der  Verbannung,  und  der  Dichter  wird  sich  wohl  gehütet  haben,  mit  ihrer  Verherr- 
lichung den  mächtigen  Minister  Ludwig  XHI.,  Kardinal  Richelieu,  herauszufordern. 


310  Marcus  Landau. 


ins  Deutsche  übertragen  und  scheint  auch  von  Andreas  Gryphius  zu 
seinem  epischen  Gedicht  „Dei    vindicis    impetus    et  Herodis  interitus** 
(1635)  benutzt  worden  zu  sein.     Auch    bei    ihm   erscheint    der    Geist 
Mariamne's  strafend  und  Unheil  verkündend  dem  Herodes,  und  Verse  wie 
Visa  Caput  moestum  per  hiantia  viscera  terrae 
Tollere  et  efFracta  Mariamnae  accedere  tumba 
•     ••••• 

Pectoris  ostentat  vulnus,  monumenta  nefandae 
Caedis  et  efTuso  concretos  sanguine  crines 
Funereas  quassat  flammas  u.  s.  w. 

scheinen  aus  einer  gemeinsamen  Quelle  mit  manchen  der  oben  citierten 
Klajs  geflossen  zu  sein. 

Einen  weiteren  Bezug  auf  die  Eifersuchtstragödie  hat  des  Gryphius 
Gedicht  nicht,  und  noch  weniger  hat  damit  dessen  ein  Jahr  vorher 
erschienenes  „Herodis  furiae  et  Racheiis  lacrymae"  zu  tun".  Eine 
Inhaltsangabe  davon  findet  sich  in  F.  W.  Jahns  Programm  „Ober 
Herodis  furiae"  etc.  Halle  1883*). 

XL 

Für  den  Mangel  an  Handlung  bei  Klaj  entschädigt  uns  der  Bres- 
lauer „Juris  Utr.  Candidatus  und  Praktikus  beim  Kaiserl.  und  König!. 
Oberambte"  Johann  Christian  Hallmann  (geb.  zwischen  1640-45, 
f  1704)  in  seiner  mit  Handlung  u.  Gräuelsfcenen  überladenen  Maria mne, 
deren  vollständiger  Titel  in  den  bei  J.  Fellgiebel  in  Breslau  erschienenen 
„Trauer-,  Freuden-  und  Schäffer-Spielen"  lautet:  „Die  beleidigte  Liebe 
oder  die  grofsmütige  Mariamne,  von  Joh.  Chr.  Hallmann  Erfundenes 
und  in  Hoch-Teutscher  Poesie  gesetztes  Trauerspiel"**).  In  dem  vom 
15.  Dezemb.  1670  datierten  Widmungsschreiben  an  den  Grafen  Christoph 
Leopold  V.  Schaffgotsch  sagt  Hallmann,  dafs  sein  Stück  bereits  einige 


*)  Diese  Mitteilungen  über  Gryphius  verdanke  ich  der  besonderen  Gefälligkeit 
des  Herausgebers  dieser  Zeitschrift  Herrn  Professors  Max  Koch.  S.  übrigens  noch 
A.  J.  van  der  AA  Biographisch  Woordenboek  der  Nederlanden,  Hartem  1867  Bd.  8  I 
S.  431,  wo  auch  eine  Ausgabe  des  Herodes  infanticida  von   1632  angeführt  ist. 

**)  Diese  undatierte  Ausg.  enthält  aufser  der  Mariamne  die  Trauerspiele  Sophia, 
Theodoricus  Veronensis,  Antiochus  und  Stratonice^  Katharina  (Gemahlin  Heinrichs  VIFI), 
einige  „Pastor eilen",  zwei  aus  dem  Italienischen  übertragene  Stücke  und  eine  Be- 
schreibung ,,All6r  Obristen  Hertzoge  über  das  gantze  Land  Schlesien".  In  der  Vorrede 
zum  Schäferspiel  Adonis  und  Rosibella  sagt  Hallmann,  dais  er  es  dem  Kaiser  Leopold  im 
November  1673  in  Wien  überreichte.  Die  Ausgabe  kann  also  nicht,  wie  es  in  der  AUg. 
Deutschen  Biographie  (X.  445)  nach  StoUe  heifst,  von  1672  sein. 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.     IL  311 

Mal  in  Breslau  aufgeführt  worden  sei.  Es  füllt  aufser  einer  unpaginierten 
Einleitung  von  14  Seiten  und  gelehrter  Anmerkungen  gleichen  Umfangs 
106  enggedruckte  Seiten.  Hallmann  nennt  als  seine  Haupt  quelle  den 
Josephus,  den  er  in  seinen  Anmerfcungen  oft,  mitunter  auf  griechisch 
citiert.  Aufserdem  dtiert  er  lateinische,  französische  und  italienische 
Werke,  aber  weder  Dolce  noch  PHermite.  Trotzdem  lassen  manche 
Einzelheiten  schliefsen,  dafs  er  diese  Dramen  kannte.  Im  Stile  ahmt 
er  seinen  Landsmann  und  Zeitgenossen  Lohenstein,  den  hochange- 
sehenen Syndicus  der  Stadt  Breslau  nach,  in  der  dramatischen  Form 
ist  der  Einflufs  des  damals  in  Mode  gekommenen  italienischen  Musik- 
dramas unverkennbar. 

Die  Handlung  geht  nach  seiner  Angabe  im  Jahre  der  Welt  3922, 
vor  Christi  Geb.  25  vor  sich,  „beginnt  mit  dem  anbrechenden  Morgen, 
wehret  den  Tag  und  die  Nacht  durch  bifs  auf  folgenden  Mittag",  was 
Gottsched  (Not.  Vorr.  I.  226)  zu  der  Bemerkung  veranlafst:  „Dieses 
Stuck  ist  besonders  in  Absicht  auf  die  Einheit  der  Zeit  fehlerhaft." 
Da  er  aufser  dieser  Einheitsverletzung  von  einigen  Stunden  nichts 
einzuwenden  hat,  nicht  einmal  gegen  die  häufigen  Scenenverwand- 
lungen,    so   hat    er  wohl  mehr  als  die  Einleitung  nicht  gelesen. 

Hallmann  war  so  rücksichtsvoll,  seinem  Stück  einen  kurzen  In- 
haltsauszug voranzuschicken.  Ich  will  daher  diesem  folgen  und  nur 
hie  und  da  einiges  aus  dem  Text  des  Stückes,  sowie  auf  dessen  Ver- 
hältnis zu  anderen  Mariamne-Dramen  Bezügliches  einschalten.  Vor 
allem  mufs  ich  aber  das  umfangreiche  Personenverzeichnis  mitteilen. 
An  „spielenden  Personen"  fuhrt  er  auf:  Herodes,  Mariamne,  ihre 
Mutter  Alexandra,  ihre  Kinder  Aristobulus  IV.  und  Alexander  III., 
ihren  Grofsvater  Hyrcanus,  gewesener  jüdischer  Hohepriester,  Phe- 
roras,  Bruder  und  Salome,  Schwester  des  Herodes,  Antipater,  dessen 
Sohn  von  der  verstofsenen  Frau  Dosis*),  Josephus,  Gemahl  Salomes, 
zwei  Verschnittene,  Sohemus  und  Philo,  Arsanes  „des  vertriebenen 
und  in  die  Mariamne  verliebten  Tyrdates  Königes  in  Parthien  Ab- 
gesandter, die  furnemsten  (12)  Rabbinen  des  grofsen  Synedrii"  mit 
Namen,  sechs  namenlose  Staats- Jungfern  Mariamnes,  zwei  Priester, 
Blutrichter  (Henker),  Mundschenk  und  Page  des  Königs,  Hauptmann 
der  königlichen  Leibwache,  dann  die  Geister  von  Aristobulus,  Jo- 
sephus, Hyrcanus  und  Mariamne  und  den  Berg  Sion  in  höchsteigener 
Person. 

Zu  den  „Schweigenden  Personen"    zählt  Hallmann    die  Wachen 


*)  So  schreibt  Hallmann  konsequent  statt  Doris. 


318  Marcus  Landau. 


Diener  u.  s.  w.,  „die  Leiche  Hyrcani",  der  also  in  dem  Drama  in  drei- 
facher Form,  als  Lebender,  als  Geist  und  als  Leiche  erscheint.  Schwei- 
gende Personen  sind  auch  die  sechs  „Eitelkeiten",  Ehre,  Reichtum, 
Wollust,  Stärke,  Schönheit  und  sonderbarer  Weise  auch  die  Keusch- 
heit. Dagegen  machen  die  „Reyen**  der  königlichen  Gnade,  der 
Frauenlist,  des  Todes,  der  Freiheit,  der  jüdischen  Priester,  der  Wald- 
nymphen, des  Baches  Kidron  u.  s.  w.  ziemlich  viel  Lärm,  da  sie  die 
Stelle  von  Chören  vertreten.  Auch  sonst  wird  mitunter  gesungen 
oder  eine  Rede  von  Musik  begleitet. 

Die    erste  Abhandlung    (so  nennt  Hallmann  die  Akte)   spielt  an- 
fangs im  Gebirge  um  Jerusalem.     Der  Berg  Sion  träg^  in  Begleitung 
von  „Violen  di  Braccio    und  di  Gamba"    einen  Gesang   vor,  in    wel- 
chem König  Herodes    stets  nur  als  Bluthund,    türkischer  Hund,    Ver- 
dammter Fuchs  u.  dgl.  angesungen  wird.     Und  dieser  Redefreiheit  er- 
freut sich  nicht  blos  der  hochansehnliche  Berg  Sion,  auch  der  kleine 
Bach  Kidron  nennt  den  König,  ohne  Furcht   vor  Polizei  und  Censur, 
einen  erbosten  Hund  und  kündigt  ihm  an  (Ende  von  Akt  IV): 
„Ja,  eh  du  dichs,  du  Mörder,  wirst  versehen, 
Wird  dir  der  Höllen  Mohr  den  krummen  Hals  verdrehen". 
Dadurch    dürfte  Herodes    aber    wieder    einen   geraden  Hals    be- 
kommen. —  Der  Mariamne  prophezeit  dagegen  der  Berg: 

„Vor  Tyrannen  werden  künfFtig  Engel  deine  Buhler  werden!" 
Nach  dem  Berg  Sion  erscheinen  Salome  und  Antipater  und 
bereden,  wie  Mariamne  mit  ihrer  ganzen  Familie  zu  vertilgen 
sei.  Pheroras  widerrät  zuerst  und  stimmt  ihnen  dann  zu.  Dabei 
entwirft  Antipater  ein  gar  verführerisches  Bild  von  der  Schönheit 
seiner  Stiefmutter: 

....  „Kein  Zeuxis  wird  sich  dürffen  unterstehen 
Der  Mariamnen  Pracht  mit  Farben  zu  erhöhen. 
Dem  gröfsten  Künstler  fallt  der  Pinsel  aus  der  Hand, 
Der  diese  Göttin  sich  zu  malen  unterwand. 
Denn  welche  Feder  kann  das  Alabast  der  Glieder, 
Wo  Türkis  und  Rubin,  als  festverknüpfte  Brüder, 
In  schönster  Anmut  spieFn,  entwerfen  auflfs  Papier?** 
u.  s.  w. 

Salome   aber  erklärt,   sie  wisse   nicht,    was   sie   hindern   könnte, 
ihrem  Bruder  vorzulügen: 

„Wie  Mariamne  sich  mit  meinem  Eh-Gemahl 
Durch  allzufreyen  Schertz,  der  meistens  aus  dem  Saal, 
-Der  reinen  Tugend  weicht,  oflEt  allzusehr  vergangen". 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.    11 .  818 


In  der  nächsten  Scene,  die  im  Zimmer  des  Herodes  spielt,  rühmt 
dieser  vor  dem  ganzen  Hof  sein  Glück,  seine  Macht  und  die  Schön- 
heit und  Tugend  Mariamnes,  wird  aber  von  Salome  unterbrochen,  die 
ihre  Schwägerin  coram  publico  des  Ehebruchs  mit  ihrem  Manne  an- 
klagt. Herodes  befiehlt  den  Josefus  in  den  Kerker  zu  werfen  und 
die  Chore  schliefsen  den  Akt. 

Im  zweiten  Akt  erzählt  Mariamne,  ungefähr  wie  bei  Dolce  und 
THermite  (S.  obenS.  1 86, 206)  ihren  Hofdamen  ihren  schrecklichen  Traum, 
worüber  diese  sie  zu  beruhigen  suchen.  Dann  folgt  eine  Scene 
zwischen  ihr  und  Herodes,  der  sich  als  feuriger  Liebhaber  zeigt  und 
sie  mit  so  schönen  Versen  wie: 

Blüh  Mariamne,  blüh!  Du  Muschel  schönster  Früchte! 
Blüh  Mariamne,  blüh!  Dein  hinmilisches  Gesichte 
Verwelke  nimmermehr!  Blüh  Mariamne,  blüh! 
ansingt.     Ungerührt  von  dieser  blühenden  Poesie  wirft  ihm  Mariamne 
den  dem    Josef  gegebenen    Befehl   vor,    sie  nach  seinem  Ableben  zu 
töten,    woraus  Herodes  sogleich  schliefst,    dafs  die  Anklage  Salomes 
der   Wahrheit   entspreche.     Er   befiehlt,     dem   Josef  sofort     im  Ge- 
fängnis r)den  Schädel  abzuhauen^,    und  in  der   nächsten  Scene   sehen 
wir  schon  die  Vollziehung  des  Urteils.     Josef  beteuert  vor  dem  Tode 
seine  und  Mariamnes  Unschuld;    dann  wird  sein  Kopf  dem  Herodes 
überbracht. 

Die  Scene  verwandelt  sich  in  einen  „Spatzier-Saal".  Alexandra 
und  Hyrcan  beschliefsen,  nach  Arabien  zu  entfliehen,  werden  dabei 
von  Pheroras  und  Antipater  belauscht,  die  dem  König  den  Anschlag 
verraten. 

In  einer  „lustigen  Gegend  mit  vielen  Gezeiten"  schliefsen  die 
singenden  Reyen  des  Lebens,  des  Todes  und  der  Freiheit  den  Akt, 
Letztere  setzt  dem  Tode  einen  Lorbeerkranz  auf  und  giebt  ihm  eine 
blaue  Fahne  mit  der  Inschrift  LIBERTAS. 

Im  dritten  Akt  werden  Hyrcan  und  Alexandra  von  Herodes  zum 
Tode  verurteilt  und  nur  letztere  auf  Bitten  Mariamnes  zu  lebens- 
länglichem Kerker  begnadigt  Wir  sehen  den  alten  Hohepriester 
von  seiner  Familie  Abschied  nehmen  und  erdrosselt  werden.  Die 
Henker  müssen  sich  beeilen, 

„Sonst  blitzt  der  Fürst  auflF  uns  mit  schwefellichten  Keilen". 
Während  der  letzten  Reden  Hyrcans  „werden  im  Verborgenen  in  ein 
dazu  gespieltes  PfeifF-Werck  von  zwei  Diskantisten  die  Worte 
„Heilig!   Heilig!    Heilig!  ist  der  Herr  Zebaoth.    Alle  Lande  sind 

seiner  Ehren  voll! 
zierlich  gesungen." 


314  Marcus  Landau. 


Auch  die  Totenfeier  Hyrcans  im  Tempel  wird  von  Chorgesang 
begleitet. 

Inzwischen  beredet  Salome  den  Mundschenk,  Mariamne  der  ver- 
suchten Vergiftung  des  Königs  anzuklagen.  Die  Scene  ist  ungefähr 
wie  die  entsprechende  bei  THermite  (oben  S.  207),  nur  verstärkt  Sa- 
lome  ihre  Uberredungskraft  durch  eine  „Handvoll  Geld",  die  sie  dem 
Schenken  giebt. 

Der  vierte  im  Schlafzimmer  des  Herodes  spielende  Akt  wird  durch 
ein  unter  Begleitung  von  Violen  und  Bratschen  gesungenes  Schlummer- 
lied eingeleitet.  Dann  erscheint  der  Geist  König  Davids  und  ängstigt 
den  schlafenden  Herodes  so  sehr,  dafs  er  voll  Schrecken  erwacht  und 
Mariamne  herbeirufen  läfst: 

„Dafs  sie  die  Traurigkeit  in  Freuden  uns  verkehr' 
Durch  ihre  Gegenwart  und  Zucker-süfse  Lippen!" 

Er  findet  aber  nicht  das  geringste  Entgegenkonmien  bei  der 
Königin,  die  auf  seinen  Vorschlag  „lafst  uns  der  Wollust  pflegen** 
antwortet : 

„Der  Nachen  deiner  Brunst  verfehlt  den  rechten  Port." 

Nachdem  sie  einige  Zeit'  mit  nautischen  Ausdrucken  disputiert 
haben,  droht  Herodes: 

„Wer  Fürst  und  Eh-Bett  trotzt,    wird  schmecken  bittre  Mandeln" 

und  Mariamne  benutzt  die  Mandeln  um  darauf 

„Man  mufs  die  Venus  nicht  in  Furien  verwandeln" 
zu  reimen. 

Herodes  wird  immer  zärtlicher,  bittet  um  Leistung  der  Liebes- 
pflicht oder  wenigstens  um  einen  Kufs,  worauf  Mariamne  mit  „dir 
Mörder  nicht!"  reimt  und  dann  als  rechte  shrew  ihn  mit  einen 
Schwall  von  Schimpfwörtern  überschüttet:  „Totschläger!  Lügen- 
freund! Patron  verfluchter  Laster!"  entfliefsen  ihren  süfsen  Lippen 
und  so  fort  sine  gratia,  durch  dreifsig  Verse  ihm  den  Tod  Aristobuls, 
Hyrcans  und  Josefs  vorwerfend.  Nun  verliert  auch  Herodes  die 
Geduld  und  beginnt  mit 

„Welch  TeufFel  reitet  dich,  vermaldeytes  Weib?" 
zu  wettern. 

In  dieser  Stimmung  trifft  ihn  der  unangemeldet  eintretende  Mund- 
schenk mit  der  Denunciation  von  Mariamnes  angeblichem  Vergiftungs- 
versuch. Das  bringt  den  Herodes  ganz  in  Wut  und  aufsein  Geschrei: 
„Mord!  Mord!  Mord!  Mord!  Mord!  Mord!  Man  will  den  Fürsten  töten, 

Mord!    Mord!    Mord!    Mord!    Mord!    Mord!« 
kommt  der  ganze  Hof  zusammengelaufen. 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Mariamne.    II.  815 


Salome  schiefst  nun  ihren  dritten  Pfeil  ab  und  klagt  Mariamne 
des  Ehebruchs  mit  dem  parthischen  Prinzen  Tyridat  und  mit  dem 
Verschnittenen  Sohem  an. 

Mit  dem  Partherprinzen  wird  eine  neue  Episode  eingeführt,  von 
der  sich  weder  bei  Josefus  noch  in  den  älteren  Dramatisierungen 
eine  Spur  findet.  Und  Tyridates,  obwohl  er  nicht  in  Person  erscheint, 
übt  einen  grofsen  Einflufs  auf  den  Gang  der  Handlung  aus.  Wie 
wir  nämlich  später,  ungeschickter  Weise  erst  im  fünften  Akt 
erfahren,  hatte  sich  der  aus  Partien  nach  Palästina  geflüchtete  Prinz 
oder  König  in  Mariamne  verliebt,  die  aber  ihrer  Tugend  nichts  ver- 
gab. Und  auch  seine  Liebe  war  eine  reine,  respektvolle.  So  sagt 
sein  Gesandter  Arsanes: 

„Hier  konnte  nun  mein  Prinz  die  Mariamne  schauen, 
Ob  deren  Göttligkeit  er  schleunig  ward  entzückt 
Und  in  das  Liebes-Seil,  doch  mit  Vernunft,  verstrickt." 

Gleichzeitig  verliebte  sich  aber  Salome  in  Tyrdates,  und  da  er 
ihre  Liebe  nicht  erwiederte,  griff  sie  gegen  ihn  und  Mariamne  zu 
allen  Mitteln  der  Verleumdung  und  er  mufste  Palästina  verlassen. 

Woher  hat  nun  Hallmann  diese  Episode?  Gewissenhaft  giebt  er 
in  einer  Anmerkung  an,  er  habe  sie  sowie  manches  Andere  aus  dem 
französischen  Roman  Cleopatre  genommen. 

In  der  Tat  finden  wir  auch  das  hier  Erzählte  sowie  die  Folterung 
von  Sohemus  und  Philo  in  dem  zwölfbändigen  1647 — 49  '^^  Paris  ge- 
druckten, dem  Herzog  von  „ Anguyen"  gewidmeten  anonym  erschienenen 
Roman  Cleopatre,  dessen  Verfasser  der  Gascogner  Gautier  de  Costes 
Seigneur  de  la  Calprenede  war.  Die  Episode  von  Tyridate  und 
Mariamne,  ihre  Briefe  und  unendlich  langen  Reden  nehmen  dort  das 
ganze  erste  und  einen  Teil  des  zweiten  Buchs  der  ersten  Abteüung, 
sowie  das  vierte  Buch  der  fünften  Abteilung,  im  ganzen  bei  vier- 
hundert Seiten,  ein.  Mariamne  ist  auch  hier  die  reine  verfolgte 
Tugend,  und  die  höchste  Gunst,  deren  sich  Tyridate  von  ihr  erhalten 
zu  haben  rühmen  kann  —  la  plus  grande  et  la  plus  signalee  faveur, 
que  j'ai  jamais  re9U  —  ist  ein  Kufs  auf  die  Stirne.  Sie  ist  wie 
alle  Heldinnen  der  französischen  Romane  des  siebzehnten  Jahrhunderts, 
mögen  sie  nun  Perserinnen,  Römerinnen,  Agyptierinnen  u.  s.  w.  sein, 
eine  vornehme  französische  Dame  vom  Hofe  Ludwig  XIIL,  er- 
scheint uns  aber  doch  naturwahrer  als  Hallmanns  Mariamne,  die  bald 
sanft  und  geduldig  ist,  bald  wie  ein  Fischweib  schimpft. 

Soheme  ist  bei  Calprenede  noch  ein  Mann  wie  alle  Männer,  und 
scheint    Hallmann    aus    eigener  WUlkür    die   fatale  Operation  an  ihm 


816  Marcot  Landau. 


vorgenommen  zu  haben.  Zur  Entschädigung  hat  ihn  dann  Voltaire, 
wie  wir  weiter  unten  sehen  werden,  zum  souveränen  Fürsten  gemacht. 
Was  das  Historische  in  dieser  Episode  betrifft,  so  mag  hier  die 
Bemerkung  genügen,  dafs  Tyridates,  ein  vornehmer  Perser,  als 
Gegenkönig  gegen  Phraates  IV.  aufgestellt,  von  diesem  aber  wieder 
verjagt  wurde  und  sich  (zur  Zeit  des  Kaiser  Augustus)  nach  Syrien 
flüchten  mufste,  von  er  vielleicht  auch  nach  Palästina  kam.  Calprenede 
hat  das  Wenige,  das  man  von  Tyridates  weiis,  mit  alleriei  fan- 
tastischen Zutaten  und  Liebesgeschichten  aufgebauscht. 

Doch  kehren  wir  zu  HaUmanns  Drama  zurück.  Herodes  läistSohem 
und  seinen  Kollegen  Philo  vorführen,   weil,    wie  Salome  meint, 

„difs  verschnittene  Paar 
Weifs  alle  Heimligkeit  dem  Fürst  zu  stellen  dar^. 
Die  Eunuchen,  die  in  gräfslichster  Weise  auf  der  Bühne  gefoltert 
werden,  wobei  Herodes  selbst  die  Henkersknechte  kommandiert: 
„Zieht,  foltert,  reckt  und  brennt!^  .  . .  Flöfst  heifs  geschmolzen  Pech 
in  den  verfluchten  Mund!  Streut  Salz  aufs  rohe  Fleisch  ^**  die  Eu- 
nuchen benehmen  sich  wacker  und  beteuern  ihre  und  Mariaomes  Un- 
schuld, bis  sie  unter  der  Tortur  den  Geist  aufgeben.  Trotzdem  wird 
Marianme  in  den  Kerker  geworfen,  wo  sie  ihre  Mutter  trifft  und  auch 
die  Gesellschaft  ihrer  „Staatsjungfem"  geniefst. 

Im  fünften  Akt  hält  Herodes  eine  Art  Probegericht  mit  den 
zwölf  Rabbinen  ab  und  klagt  Marianme  des  Mordversuchs  und  des 
Ehebruchs  an 

....  „weil  nicht  nur  Tyridat, 
Auch  ihr  Verschnittener  selbst  mein  Bett  entehret  hat." 
Mariamne  wird  hier  sowie  in  der  darauffolgenden  öffentlichen  Gerichts- 
sitzung ohne  Zeugenverhör  und  trotz  ihrer  Verteidigung  zur  Enthaup- 
tung im  Kerker  verurteilt.  Ein  Gnadengesuch  des  Tyrdates,  das 
sein  Abgesandter  Arsanes  überbringt,  macht  ihre  Sache  noch  schlim- 
mer. Auch  die  Bitten  ihrer  Kinder  und  Hofdamen  bleiben  ohne  Erfolg. 

Es  folgen  nun  die  recht  rührenden  Abschiedsscenen,  die  freilich 
mit  denen  der  Schillerschen  Maria  Stuart  sich  nicht  vergleichen  lassen« 
Mit  diesen  hat  eher  die  in  Trissinos  Sofonisba  einige  Ähnlichkeit. 

Mariamne  singt  ein  ergreifendes  frommes  Sterbelied,  zwei  Priester 
trösten  sie  und  unter  dem  Wehklagen  der  Umstehenden  fallt 
ihr  Haupt. 

Es  folgen  dann  Reue,  Angst  und  Gewissensbisse  des  von  Geister- 
erscheinungen geplagten  Herodes,  der  sich  den  Gespenstern  gegen- 
über viel  feiger  zeigt  als  der  Klajsche  (S,  oben.  S.  308).    Der  Geist 


Die  Dramen  von  Herodes  und  Afariamne.    n.  817 

Konig  Salomons  verkündet  den  ^Grofsen  Leopold^  als  künftigen  Hort 
der  Christenheit  und  Befreier  des  heiligen  Landes.     Palästina  ruft: 

„Es  lebe  Leopold,  des  Erden-Kreises  Zier! 
Es  lebe  Leopold  I  Er  siege  für  und  fürl" 
Das  Bild  des  Kaisers  erscheint,  und  wird  von  Palästina  und  Salomon 
mit  „demütigster  Ehrererbietung"  begrüfst. 

So  endet  das  Stück,  ganz  in  der  Weise  der  italienischen  Musik- 
dramen, mit  einer  Lobhudelei  für  den  Monarchen. 

Gottsched  (Not.  Vorr.  I  233)  erwähnt  noch  ein  fast  gleichzeitig 
(Halle  1673)  mit  Hallmanns  Mariamne  erschienenes  Trauerspiel  „Der 
verliebte  Mörder  Herodes  der  Grofse",  mit  einem  musikalischen  Nach- 
spiel. Ich  habe  aber  weder  das  Stück  finden  noch  den  Namen  des 
Vöfassers  erfahren  können.  Ebenso  unzugänglich  blieben  mir:  „He- 
rodes der  Kindesmörder"  in  einem  Singspiele  dargestellt  von  Joh, 
Ludwig  Faber  (Nürnberg  1675),  der  als  Pegnitzschäfer  Ferrando  I. 
hiefs  und  1678  in  seiner  Geburtsstadt  Nürnberg  starb,  sowie  des  säch- 
sischen Konzertmeisters  und  gekrönten  Poeten  Constantin  Christian 
Dedekind  (1628  — i697X'fcsingendes"  Trauerspiel,  „Stern  aus  Jakob 
und  Kindermörder  Herodeis",  Dresden  1676.  Nach  Goedeke  ist  Fa- 
bers Herodes  nach  Klaj  gearbeitet  und  bildet  Dedekinds  Trauerspiel 
den  zweiten  Teil  von  dessen  „Jesu  Geburt",  dürfte  also  auch  nur  den 
Kindermord  behandeln. 

Gervinus  fallt  ein  vernichtendes  Urteil  über  Dedekind,  den  er 
einen  „fortlebenden  Rist"  nennt  und  aus  dessen  Herodes  er  folgende 
Verse  citiert: 

„Donner  und  Hagel,   Hammer  und  Nagel, 

schmiedendes  Eisen, 

stechende  Spitzen,  Mässer  zum  Schlitzen 

will  ich  dir  weisen"  *), 
die  übrigens  auch  Klaj  gedichtet  haben  könnte. 

*}  Goedeke,  Grondrifs  III  220,  226  ;  Gervinus,  Geschichte  der  deutschen  Dichtung 
4.  Aufl.  m  442—3,  Moritz  FÜrstenau,  Zur  Geschichte  der  Musik  und  des  Theaters 
am  Hofe  zu  Dresden  11  115,  150;  Allg.  Deutsche  Biographie  V  S.  11. 

Wien. 

••• 


Deutschlands  und  Spaniens  litterarische  Beziehungen. 

(Spanien  und  die  spanische  Litteratur 
im  Lichte  der  deutschen  Kritik  und  Poesie.     III.  und  IV.  Teil.) 

Von 
Artur  Farinelli. 


lU.   Teil«). 

Spanien  und  die  spanleohe  Litteratur  nach  deutschen  Urteilen  am  Ausgang 

des  18.  Jahrhunderts. 

Was  deutsche  Reisende  am  Schlüsse  des  1 8.  Jahrhunderts  von  der 
Unkenntnis  der  Spanier  in  allem,  was  die  Kultur  fremder  Länder 
betraf,  berichten,  ist  wahrhaft  ergötzlich.  „Ein  Franziskaner,  Bibliothekar 
seines  Klosters",  sagt  der  Orientalist  Tychsen  in  seinem  „Abrifs  über 
den  Zustand  der  spanischen  Litteratur"  (1790)^)  „fragte  mich,  ob 
man  bey  uns  auch  von  der  Linken  zur  Rechten  schreibe^*.  „Ein 
anderer  Gelehrter  erklärte  sich  die  Nachricht,  die  ich  ihm  gegeben 
hatte,  dafs  in  Teutschland  das  Griechische  bekannter  und  geschätzter 
sey  als  in  Spanien,  daraus,  dafs  Griechenland  so  nahe  an  uns  gränze, 
und  also  die  Griechen  häuffig  zu  uns  kämen,  von  denen  wir  dann 
die  Sprache  durch  den  Umgang  lernten.  Und  dieser  war  Mitglied 
der  Akademie  der  Geschichte".  Wie  ein  Madrider  Alcalde  de  Corte 
einmal  gefragt  habe:  „was  für  eine  Sprache  in  Deutschland  gesprochen 
wurde",  erzählt  Kaufhold  in  seiner  interessanten  Reiseschilderung: 
„Spanien,  wie  es  gegenwärtig  ist"  (Gotha  1797.  I,  64).  —  Was  für 
eine  Sprache  der  Spanier  rede,  nach  welcher  Richtung  er  seine  Worte 
auf  Papier  schreibe,  haben  wohl  deutsche  Geisdiche  und  deutsche 
Staatsbeamte   zu   fragen    doch    wohl   niemals    nötig   gehabt.     Allein 


»)  Vgl.  N.  F.  Bd.  V.  S.  135  und  276  f. 

')  „Des  Herrn  Ritters  von  Bourgoing.    Neue  Reise  durch  Spanien  vom  Jahre  1782 
•bis  1788.     Aus  dem  Französischen.     Mit  einer  illuminierten  Charte,  Planen,  Kupfern  und 
einem  Anhange  des  Hrn.  Prof.  Tychsen  zu  Göttingen,    über  den    gegenwärtigen  Zustand 
der  spanischen  Litteratur**.     B.  II.     Jena  1790.     S.  329. 


Spanien  u.  die  spanische  Litteratur  im  Lichte  der  deutschen  Kritik  u.  Poesie.  III.    319 

auch  für  den  Deutschen  verstrichen  Jahrhunderte,  ehe  er  sich  ein 
klares,  sachliches  Urteil  über  Spaniens  Sitten,  Litteratur  und  geistiges 
Leben  bilden  konnte.  Kurz  vor  Schlufs  des  1 8.  Jahrhunderts  erteilten 
Franzosen  und  Engländer  den  Deutschen  Unterricht  in  den  „cosas 
de  Espana**.  Die  Übersetzungen  aus  fremden  Reiseberichten,  welche 
ganz  fabrikmäfsig  in  Leipzig  und  anderswo  für  die  Bedürfnisse  des 
neugierigen  Lesers  hergesteift  wurden,  bilden  eine  stattliche  Anzahl 
Bände,  die  heutzutage  unter  dem  Schutte  der  Zeit  vollkommen  be- 
graben liegen.  Barettis  „A  journey  from  London  to  Genua,  through 
England,  Portugal,  Spain  and  France"  (1770)*),  Bourgoings  „Tableau 
de  TEspagne  moderne"')  waren  in  Deutschland  am  meisten  bekannt 
und  verbreitet.  Mitunter  aber  wurden  auch:  Feyrons  „Essais  sur 
l'Espagne"  (1780),  Clarkes  „Letters  conceming  the  Spanish  nation" 
(1763),  die  Reisen  Twiss',  (1775),  Dalrymples  (1777),  Swinbumes 
('787)')  aai  Rate  gezogen.  Erst  nachdem  durch  Rousseaus  Schriften, 
besonders  durch  die  „Nouvelle  Heloise"  das  Naturgefühl  bei  den  ver- 
schiedenen gebildeten  Völkern  verinnerlicht  ward,  ergriflfen  auch  die 
Deutschen  den  Wanderstab  und  suchten  ihre  Sehnsucht  nach  der 
Fremde  durch  weite,  mühsame  Reisen  zu  stillen.  Langten  die  Mittel 
nicht  zum  Besuch  der  Fremde  selbst,  so  nahm  man  desto  begieriger 
die  Berichte  der  Freunde  über  die  besuchten  fernen  Gegenden  auf 
Die  Reisebeschreibungen  wurden  Mode  und  bildeten  am  Ausgange  des 
18.  Jahrhunderts  einen  wichtigen  Faktor  in  der  Entwickelung  des 
deutschen  Geistes.  Sie  verbreiteten  sich  in  den  weitesten  Schichten 
des  Volkes,  und  selbst  ein  Goethe  und  Schiller  haben  sich  gerne 
aus  Reiseberichten  Belehrung  und  Nahrung  für  ihre  Fantasie  geholt. 
Die  Frauenwelt  verlangte  Reiseeindrücke  und  Reiseabenteuer,  statt 
Romane  und  Erzählungen.  Lotte  Schiller  gelang  es,  ihre  Leidenschaft 
auch   ihrem    Gatten    mitzuteilen^).      Als   Archenholz'    „Reisen    durch 


^)  «Muster  von  jenem  Geheimnisse  zu  interessieren  sind  Barettis  Reisen  durch  Spa- 
nien und  Brydones  durch  beide  Sicilien**,  sagte  Herder  einmal.  Vgl.  K.  A.  Böttiger 
«Literarische  Zustände  und  Zeitgenossen**.     Leipzig  1838.     I,  108. 

*)  In  der  Vorerinnerung  zum  i.  B.  der  deutschen  Übersetzung  (Jena  1789)  wird 
ausdrücklich  bemerkt:  das  Werk  sei  «ohnstreitig  das  beste,  brauchbarste  und  zweck- 
mäßigste Buch,  das  Ar  Ausländer  je  Ober  Spanien,  diefs  wichtige  Land  erschienen  ist**. 

*}  Vgl.  H.  Oum^l:  «Les  Voyageurs  anglais  en  Espagne  au  XVIII.  si^cle.  Arthur 
Joong**.  Toulouse  1881.  („Extrait  du  Bulletin  de  la  societ^  academique  Hispano-Portu- 
gaise  de  Toulouse".) 

*)  ,Ich  lese  so  gern  Reisebeschreibungen**,  schrieb  Lotte  einmal  an  Fried.  Pr. 
y.  Stein  (Rudol&tadt,  30.  Nov.  1788)  „es  macht  eine  angenehme  Empfindung,  wenn 
Ztach^  f.  Tgl.  Litt-GMch.    N.  P.  YIII.  21 


(ttO  Artur  ParinelU. 


England  und  Italien'^  1787  zu  erscheinen  begannen,  brannte  Caroline 
Boehmer  so  sehr  vor  Begierde,  das  neue  Werk  zu  besitzen  und  zu 
lesen,  dafs  sie  in  ihren  Briefen  ausrief:  „Ich  sterbe,  wenn  ich  ihn 
nicht  kriege"*).  —  Natürlich  führte  die  Hauptströmung  nach  dem 
Lande,  wo  die  Citronen  blühen,  nach  Italien.  Doch  übte  auch  das 
Land  des  Lazarillo  und  Don  Quixote  auf  das  Gemüt  der  Deutschen  eine 
bezaubernde  Wirkung  aus  und  zog  manchen  Reisenden  dahin.  Man 
fluchte  zwar  immer  noch  über  die  elenden  Wege  in  Spanien,  über 
die  noch  elendere  Küche,  über  den  gänzlichen  Mangel  an  allen  äuüser- 
lichen  Bequemlichkeiten;  man  mufste  noch  immer  auf  der  Hut  sein, 
um  nicht  für  einen  Feind  der  Nation,  für  einen  Franzosen  gehalten 
und  als  solcher  mifshandelt  zu  werden,  um  nicht  als  Ketzer  in  die 
Hände  der  Inquisition  zu  fallen.  Allein  der  Reiz  der  Neuheit,  das 
Staunen  über  die  fremden  Sitten  und  das  fremde  Land  überwogen 
alle  diese  Beschwerden.  Auch  in  Spanien  wuchsen  Myrten,  blühten 
Citronen  und  glühten  im  dunklen  Laub  die  Gold-Orangen.  In  den 
Gärten  von  Cadix  glaubte  W.  y.  Humboldts  Gemahlin  die  Einfach- 
heit und  Schönheit  des  Goetheschen  Liedes  »Kennst  du  das  Land" 
erst  völlig  erkannt  zu  haben  ^.    Und  wie  hat  Christian  August  Fischer 

man  von  dem  kleinen  Fleck  Erde  auch  einen  grofeen  Theil  der  Welt  sehen  kann  nnd 
sich  dahin  versetzen.  Ich  denke,  Sie  werden  noch  einmal  hören,  dafs  ich  mit  einem 
Schiff  abgehe,  um  die  Welt  cu  umsegeln*.  Vgl.  ^Charlotte  von  Schiller  und  ihre 
Freunde*.  Stuttgart,  1860.  I,  433.  —  Dafs  Lotte  auch  Reiseschildenmgen  von  Spanien 
las,  erhellt  aus  ihrem  vom  37.  Mars  datierten  Brief,  I,  419.  —  Schiller  selbst  schrieb, 
nachdem  er  im  Winter  1797—^8  «viele  Reisebeschreibungen",  darunter  Niebuhrs  und 
Volneys  Reise  nach  Syrien,  gelesen,  an  Goethe  (Jena,  13.  Februar  1798),  er  habe  sich 
nicht  enthalten  können  zu  versuchen,  welchen  Gebrauch  der  Poet  von  der  Schilderung 
einer  Reise  machen  könne;  es  sei  ihm  bei  dieser  Untersuchung  der  Unterschied  zwischen 
einer  epischen  und  dramatischen  Behandlung  neuerdings  lebhaft  geworden**.  ^-  Goethe 
aber  antwortete  am  14.  Febr.  dem  Freunde  zurfick:  «Ich  bin  mit  Ihnen  völlig  aberzeogt, 
dais  in  einer  Reise,  besonders  von  der  Art,  die  Sie  bezeichnen,  schöne  epische  Motive 
liegen,  allein  ich  würde  nie  wagen,  einen  solchen  Gegenstand  zu  bdiandeln,  weil  mir 
das  unmittelbare  Anschauen  fehlt  und  mir  in  dieser  Gattung  die  sinnliche  Identifikation 
mit  dem  Gegenstande,  welche  durch  Besclireibungen  niemals  gewirkt  werden  kann,  ganz 
unerläüslich  scheint". 

*)  Caroline.  Briefe  an  ihre  Geschwister,  hig.  v.  G.  Waitz.  Leipzig  1S71.  II,  37. 
Auch  in  späteren  Jahren  behielt  sie  diese  ihre  Liebhaberei.  «Wenn  Du  keine  neue 
Bücher  kriegen  kannst«,  schrieb  sie  an  Jolle  Gotter  (18.  März  1804),  „so  lais  Dir  doch 
von  der  Bibliothek  alte  Reisebeschreibungen  oder  Geschichten  geben,  denn  der  Mensch 
lebt  nicht  vom  Brot  allein*. 

*)  Guillaume  de  Humboldt  et  Caroline  de  Humboldt.  Lettres  ä  Geoffiroi  Schwog- 
hauten.  Traduitet  et  annot^es  sur  les  originaux  in^dits  par  A.  Laquiante.    Paris-Nancy 


Spanien  u.  die  spanische  Litteratur  im  Liclite  der  deutschen  Kritik  u.  Poesie,  m.    8^1 

fiir  sein  Valencia  geschwärmt!  —  Wie  einst  italienische  Humanisten 
der  Renaissance:  Marineus  Siculus,  Petrus  Martir  von  Angera,  Nava- 
gero,  Castiglione,  Pier  Vettori  auf  Spaniens  Boden  den  Spuren  der 
entschwundenen  Kultur  des  Altertiuns  nachgingen*),  so  blieben  auch 
manche  Deutsche  des  i8.  Jahrhunderts  staunend  und  gedankenvoll 
vor  den  Trümmern  Sag^nts  und  Numancias  stehen.  Mit  den  Er- 
innerungen an  Schillers  Don  Carlos  verweilte  Caroline  v.  Humboldt 
am  Grabe  Philipps  II.  und  Elisabets  im  Escurial:  „Hier  war  es,  als 
Stande  ich  vor  dem  Sarge  bekannter  Personen*',  schreibt  sie  an  Lotte 
Schiller*).  Die  tiefe  symbolische  Bedeutung  des  Goetheschen  Frag- 
mentes: „Die  Geheimnisse",  „in  der  eine  so  sonderbare  hohe  und 
menschliche  Stimmung  herrscht",  hat  Wilhelm  v.  Humboldt,  wie  er 
selbst  gesteht,  erst,  nachdem  er  den  Einsiedlerberg  Monserrat  er- 
klommen, eingesehen  und  bewundert*).  Bekannt  ist,  wie  Goethe 
später  sein  Fragment  einen  „geistigen  Montserrat"  nannte  und  die 
Schilderung  Humboldts  wieder  für  den  Schlufs  des  II.  Faust  verwertete. 
Die  Beschreibung,  welche  Humboldt  von  dem  seltsamen,  vereinzelten 
Berge  gab,  erzeugte  unter  denDeutscheneineformlicheMontserratomanie. 
Für  den  Forscher  sind  nicht  allein  die  Beobachtungen,  die  Reise- 
eindrücke eines  so  klarblickenden,  tiefen,  weitumfassenden  Geistes 
wie  Wilhelm  v.  Humboldt  von  Wichtigkeit,  auch  die  Berichte  von 
minder  begabten  Reisenden  bieten  viel  des  Interessanten  und  Beach- 
tungswerten. Die  Reiseschilderungen  aus  Spanien  und  Portugal  von 
Kaufhold,  Fischer  und  Link,  um  blofs  diese  zu  erwähnen,  enthalten 
-wohl  gereifte  Urteile  über  Sitten  und  Litteratur.  Nicht  nur  als 
historische  Bilder  vergangener  Zeiten  gewinnen  sie  besonderen  Wert, 
sie  sind  auch  an  sich  lehrreicher  und  treffender  als  die  anmafsenden 
und  gesuchten  Urteile  gewisser  modernen  Kenner  Spaniens. 


1893  (Brief  vom  33.  Januar  1800).  „Cest  ici  que  j*ai  vralment  compris,  dans  sa  belle 
simplicit^  le  Lied  de  Goethe:  „Connais-tu*  ...  et  que  j^ai  senti  la  v^ritd  de  sa  po^ie 
....  je  ne  me  figurais    pas  Teffet  des  fruits  dor^  ressortaat  sur  le  feuillage  sombre**. 

^)  Charakteristisch  f&r  das  Interesse,  welches  Spanien  den  italienischen  Humanisten 
des  Cinquecento  erweckte,  sind  die  14  Fragen,  welche  Castiglione  seinem  Freunde  Ma- 
rineo  Siculo  über  die  Merkwürdigkeiten  Spaniens  stellte.  Vgl.  die  Anleitung  zu  der  von 
A.  Maria  Fabiö  besorgten  Ausgabe  ^Los  cuatro  libros  del  Cortesano,  compuestos  en  Italiano 
por  el  Conde  Baltasar  Castellon  y  agora  nuevamente  traducidos  en  lengua  castellana, 
por  Boscan*^,  in  ^Libros  de  antafio".    Madrid   1873.  S.  XXIII  ff. 

*}  Charlotte  von  Schiller  und  ihre  Freunde,  H,  182. 

•)  W.  V.  Humboldts  „Der  Montserrat  bey  Barcelona''  im  HI.  B.  der  Ges.  Werke, 
und  in  Goethes  Briefwechsel  mit  den  Gebrüdem  v.  Humboldt.    Leipzig  1876.    S.  166. 

21* 


822  Artur  Parinelli. 


xm. 

„Wer  in  Spanien  einigermafsen  bequem  reisen  will,  muls  sich  mit 
einem  Bette,  Küche  und  Keller  versorgen**,  behauptete  Goethes 
italienischer  Reiseführer  Volkmann  in  seiner  „Reise  durch  Spanien**  *). 
Mit  Möbeln  und  Küchengeräten  reiste  aber  der  Baedecker  des  vorigen 
Jahrhunderts  ungerne  und  so  hat  er,  wie  sein  Vorgänger  Martin  2Jeiller, 
seine  spanische  Reise  blofs  in  der  Studierstube  vollbracht.  Er  sammelte 
fleifsig  Materialien  aus  allen  möglichen  fremden  Reisebeschreibungen 
und  bereitete  anderthalb  Dezennien  nach  dem  Erscheinen  seines  viel- 
benutzten Werkes  „Historisch-kritische  Nachrichten  von  Italien**  ein 
bequemes  Reisehandbuch  über  Spanien,  welches  durch  die  Hände 
vieler  Deutschen  ging.  Humboldt  und  Goethe  haben  es  sicher,  Schiller 
hat  es  vielleicht  gelesen.  Da  es  Volkmann  an  eigener  Anschauung 
gebrach  und  er  blofser  Sammler  war,  mufste  er  oft  in  bedenklidie 
Irrtümer  verfallen.  Er  hat  sich  mit  Recht  den  Tadel  Kaufholds  zugezogen, 
der  (Spanien,  wie  es  gegenwärtig  ist  II,  286)  ihm  sein  „fabelhaftes  Zeug** 
vorwirft,  wodurch  das  Wahre  seiner  Erzählungen  so  sehr  verunstaltet 
worden  sei,  dafs  man  sich  nie  auf  ihn  verlassen  könne.  —  Volkmann 
gewährt  den  Spaniern  „Scharfsinn**  imd  „Tiefsinnigkeit**.  Er  hält  sie 
zu  allen  Wissenschaften  fähig  (I,  113),  er  glaubt  aber,  dafs  alle  Auf- 
klärung in  Spanien  keinen  Zutritt  haben  könne,  „so  lange  Mönche 
und  Inquisition,  denen  so  viel  an  Erhaltung  der  Finsternis  und  des 
Aberglaubens  gelegen  ist,  noch  so  starken  Einflufs  haben**  (Vorbe- 
merkung). Mit  der  Philosophie  in  Spanien  „sieht  es  kläglich  aus**. 
„Die  scholastischen  Grillen  haben  hier  ihren  Sitz,  und  Sophisterey 
heifst  Urtheil**  (I,  118).  Von  spanischer  Litteratur  hat  Volkmann  keinen 
Begriff.  Er  empfiehlt  die  „artigen  Nachrichten**  in  den  Briefen  Clarkes. 
Er  erwähnt  den  „Parnaso  Espanol**  des  Sedano  (1768 — 73)  und  kennt, 


1)  J.  J.  Volkmann:  „Neueste  Reisen  durch  Spanien  vorzüglich  in  Ansehung  der 
Kflnste,  Handlung,  Ökonomie  und  Manufakturen  aus  den  besten  Nachrichten  imd  neuem 
Schriften  zusammengetragen.**  Leipzig  1785  I,  123.  —  Die  zu  Berlin  und  Stettin  1785 
und  1787  erschienenen  2  Teile  einer  „Neueren  Staatskunde  von  Spanien**  enthalten  am 
Schlüsse  eine  Beschreibung  Spaniens  in  Rücksicht  auf  seine  Gebräuche,  Sprache  und 
Sitten.  Der  Verfasser  behauptet  unter  anderm:  Die  spanische  Nation  sei  berechtigt  ,im 
Rücksehen  auf  vergangene  Zeiten,  auf  Thätigkeit  und  Kultur  Anspruch  zu  machen,  ob 
sie  gleich  in  der  Parallele  mit  anderen  kultivierten  Nationen,  zumal  wo  kein  MOnchdium, 
sondern  die  Rechte  der  Vernunft  den  Geist  bilden,  bei  so  reichlichen  Naturgütem,  noch 
aufserordentlich  zurück  ist**.  Ein  in  diesem  Werke  erwähnter  „Versuch  einer  Staatsver- 
fassung von  Spanien**  (Hamburg  1783)  ist  mir  unbekannt 


Spanien  u.  die  spanische  Litteratur  im  Lichte  der  deutschen  Kritik  u.  Poesie,  m.     888 

vielleicht  auch  nur  dem  Titel  nach,  das  Velazquez-Diezesche  Werk, 
Er  spricht  von  „einer  grofsen  Menge  Dichter,  welche  in  Spanien  ge- 
diehen^, und  kümmert  sich  weder  um  ihre  Namen,  noch  um  ihre  Werke. 
Von  den  Dramen  Lope's  de  Vega  sagt  er  kurz  und  bündig  (I,  ii6): 
„Sie  sind  berühmt,  aber  es  mangeln  dramatische  Regeln^  ^). 

Die  Briefe  sind  mit  einer  kaum  glaubwürdigen,  tragischen  Liebes- 
geschichte verwoben  und  ausgeschmückt,  welche  der  Buchhändler 
Friedr.  Gotthelf  Baumgärtner  im  Jahre  1787  von  Spanien  aus,  wo  er 
als  Begleiter  des  sächsischen  Kammerrates  Frege  weilte,  an  einen 
Leipziger  Freund  sandte  und  später  im  eigenen  Verlag  druckte*). 
Baumgärtner  traf  in  Spanien  auch  mit  dem  Herder  so  sympathischen 
Prof.  Daniel  Gotthilf  Moldenhawer  aus  Kopenhagen  zusammen  (S.225)'). 
Seine  Eindrücke  sind  diejenigen  eines  oberflächlichen  Vergnügungs- 
reisenden, der  sich  um  eingehende  gründlichere  Kenntnis  des  fremden 
Landes  nicht  im  geringsten  kümmert.     Er  schreibt,  was  er  im  Augen- 


')  Volkmann  hat  später  das  zu  London  1791  erschienene  Werk  von  J.  Townsend 
„ Ae  joumey  through  Spain  in  the  years  1786  and  1787**  verdeutscht:  Es  erschien  17  Jahr 
vor  der  französischen  Obersetzung  des  Genfers  Pictet-Mallet.  „Reise  durch  Spanien  in  den 
Jahren  1786  und  1787  vornehmlich  in  Absicht  auf  Ackerbau,  Manufakturen,  Handlimg 
u.  s.  w.  V.  M.  Jos.  Townsend  übersetzt  und  mit  Anmerkungen  erl&utert**.  (2  Bde. 
Leipzig,  1792).  —  Imgleichen  Jahre  wie  Volkmanns  ^Reisen  durch  Spanien**  erschien 
eine  Obersetzung  der  Schrift  Cavanilles*  (Erwiderung  zum  Artikel  „Espagne*"  des  in 
Spanien  berühmt  gewordenen  Masson  de  Morvilliers)  «Don  Anton  Joseph  Cavanilles 
über  den  gegenwärtigen  Zustand  von  Spanien**  aus  dem  Französischen  von  Biester 
Berlin  1785.  —  Von  1781  stammt  bereits  der  Bericht  eines  Ungenannten:  „Von  den 
Stier-Gefechten  in  Spanien",  welcher  A.  L.  Schlözer:  „Briefwechsel  meist  historischen 
und  politischen  Inhalts"  T.  EX.  Göttingen  1781.  S.  68.  ff.  einverleibt  wurde.  Der  seltsame 
Bericht,  welcher  von  einem  Deutschen  herrühren  mag,  ist  mit  Anmerkungen  über  technische 
Ausdrücke  des  Tauromaquie  versehen.  S.  69  ist  vom  „klugen  Cervantes"  die  Rede, 
welcher  den  Geist  seiner  Nation  recht  wohl  erkannt  hätte  und  die  „irrende  Reiterei",  die 
„Abenteuerlichkeit**  der  Spanier,  die  sich  noch  in  den  Stiergefechten  abspiegelt,  persiflierte. 

*)  „Reise  durch  einen  Teil  Spaniens  nebst  der  Geschichte  des  Grafen  von  S. 
von  F.  G.  Baumgärtner.  Mit  Kupfern,,  Leipzig  (ohne  Druckdatum  —  1794?)  Am  Schlüsse 
des  Buches  ist  eine  Tirana  mit  den  zugehörenden  Noten  abgedruckt 

•)  Moldenhawer  hatte  schon  einige  Jahre  vor  Baumgärtner  (1784)  Spanien  besucht 
und  dort  eifrig  gesammelt.  —  Am  i8.  Juli  1784  schreibt  Knebel  in  seinen  „Tagebuch- 
blättem  und  Denkbüchem":  „Jüngst  bei  Herder,  wo  Herr  Moldenhauer  zugegen  war, 
der  kürzlich  eine  Reise  durch  Spanien,  England  etc.  gemacht  und  Reichthümer  von 
Kenntnissen  und  Saounlungen  mitgebracht  hat.  Wir  waren  glücklich  in  seinen  Erzählungen, 
in  seinen  Kenntnissen,  in  seiner  Bescheidenheit  und  sichtbaren  Tugend  und  Wärme  des 
Herzens.  Er  war  besonders  auch  Herdem  eine  höchst  liebliche  Erscheinung**.  Vgl.  H.  L. 
von  KnebeVs:  „Literarischer  Nachlais  und  Briefwechsel".  Leipzig  1840  in,  373. 


334  Altar  Farinelli. 


blick  empfindet,  was  ihm  eben  durch  den  Kopf  geht.  So  erzahlt  er 
umständlich  vom  aufserordentlichen  Hasse  der  Spanier  gegen  die 
Franzosen  und  von  ihrer  Liebe  zu  den  Deutschen.  Es  genügt,  sich 
als  Sachse  auszugeben,  als  Heimatsgenosse  der  verstorbenen  beliebten 
Konigin  Maria  Amalie*),  um  sich  die  gröfste  Achtung  beim  Spanier 
zu  erwerben  und  wohlwollend  von  ihm  bewirtet  zu  werden  (S.  260). 
Doch  sagt  Baumgärtner  anderswo  (S.  29)  dafs,  als  er  in  Tolosa  ver- 
weilte und  einigen  erklärt  hatte,  er  sei  ein  Sachse,  „so  wufsten  sie  nicht 
einmal,  dafs  es  ein  Land  in  der  Welt  gäbe,  welches  Sachsen  hiefs". 
In  einen  „blonden  Deutschen"  oder  in  einen  „munteren  Franzosen**, 
der  sich  natürlich  für  einen  Deutschen  oder  Engländer  ausgeben  mufs, 
verliebt  sich  ein  spanisches  Mädchen  oder  eine  Frau  sogleich.  Unser 
Reisender  brauchte  aber  gewifs  nicht  an  die  vielgerügte  spanische 
Eifersucht,  an  die  vergitterten  Fenster  der  Schönen  zu  erinnern,  um 
die  Tatsache  festzustellen  (S.  71):  „Man  darf  nur  als  Fremdling  in  der 
Provinz  ein  Weib  in  aller  Unschuld  küssen,  und  der  Mann  sieht  es, 
so  kann  man  auf  einen  tötlichen  Messerstich  sichere  Rechnung  machen**. 
Nebst  der  Eifersucht  ist  „der  unbegrenzte  Stolz"  die  „hervorstechendste 
Seite"  des  Charakters  des  Spaniers.  Über  die  eigentlichen  National- 
sitten der  Spanier  wird  in  diesen  Briefen,  wo  sehr  viel  von  Essen 
und  Trinken  die  Rede  ist,  wenig  gesagt.  Wirtshäuser  imd  Küchen 
sind  schlecht,  man  findet  darin,  „keine  Geräthe  weiter  als  zwei  Töpfe". 
Die  reichsten  Wirtshäuser  besitzen  deren  drei  (S.  39).  Die  Trachten 
weichen  von  dem  in  den  üblichen  Reiseschilderungen  Berichteten  merk- 
lich ab.  Baumgärtner  hatte  sich  alle  Spanier  mit  Degen  und  capa 
vorgestellt ;  er  ist  erstaunt,  sie  waffenlos  und  wie  gewöhnliche  Menschen 
gekleidet  zu  finden.  Die  Mantillas  der  Spanierinnen  aber  dünken  ihm 
sehr  spafsig.  Wenn  Frauen  in  die  Messe  gehen,  so  sieht  es  aus,  „als 
wenn  die  Kirche  mit  lauter  schwarzen  Zuckerhüten  besetzt  wäre"  (S.  25). 
Erinnerungen  an  historische  Vorfalle,  an  vergangene  Gröfse  be- 
schäftigen Baumgärtner  nicht.  Höchstens  sucht  er  da  und  dort  Wind- 
mühlen auf,  und  da  er  keine  antrifift,  schreibt  er:  „vielleicht  hat  sie 
Don  Quixot  alle  zerstört"  (S.  22).  Das  geistige  Leben  ist  in  Spanien 
gering.     „Hauptgeschäft"  der  Spanier,  meint  unser  Reisender,  ist  das 


^)  Mit  dem  Leben  dieser  Königin  endigte  H.  Plorec  seine  „Memorias  de  las  Reynas 
Catölicas^'  (II.  Ausg.  Madrid  1770  II,  1042  ff.).  Vgl.  jetzt  den  Artikel  „Maria  Josefii 
Amalia,  Herzogin  von  Sachsen,  Königin  von  Spanien**  in  v.  Sybels  Historischer  Zeit- 
schrift 189a.  — ' 


Spanien  n.  die  spanische  Litteratnr  im  Lichte  der  deutschen  Kritik  u.  Poesie.  UL    895 

Kirchengehen  (S.  35).  Er  gedenkt  eines  einzigen  Gelehrten,  des  grofsten 
in  seiner  Meinung,  des  Francisco  Perez  Bayer  (S.  283).  Und  doch 
ist  Baumgärtner  um  die  Zukunft  des  noch  vom  Schleier  der  Unwissen- 
heit umhüllten  Spanien  nicht  bange.  Er  glaubt  an  eine  natürliche  Be- 
gabung der  Spanier,  die  nur  der  Pflege  bedarf,  um  schöne  Früchte 
hervorzubringen.  Ja  er  glaubt  und  befurchtet  sogar,  dafs  die  Spanier 
einst  alle  übrigen  Völker  an  Gröfse  und  Macht  übertreflfen  werden. 
„Wenn  auch  die  Sonne  der  Kultur  über  den  Horizont  Spaniens  nur 
wenige  Strahlen  wirft^,  sagt  er  einmal  (S.  283)  „so  ist  zu  befurchten, 
dafs  es  für  uns  Nordländer  in  Spanien  immer  noch  zu  früh  tagen 
wird,  denn  wenn  die  Spanier  einmal  anfangen,  so  werden  sie  auch  in 
jeder  Art,  vermöge  ihres  Genies,  wichtige  Fortschritte  machen**. 

In  den  letzten  Dezennien  des  Jahrhunderts  werden  deutsche 
Reisende  häufiger.  Karl  Georg  Weisse,  bekannter  zu  seiner  Zeit 
unter  dem  schriftstellerischen  Pseudonym  Albus,  soll  im  Jahre  1791 
eine  originelle  Wanderung  nach  Spanien  unternommen  und  in  Bar- 
celona selbst  eine  Hofmeisterstelle  bekleidet  haben,  doch  scheint 
mir  alles,  was  er  in  seinem  Buch:  „Schicksale  und  Verfolgungen  in 
Deutschland  und  Spanien**  (Halle  1792)  von  seinen  unangenehmen 
Reiseerfahrungen,  von  den  erduldeten  Gewalttaten  der  Inquisition, 
von  seiner  Gefangenschaft  und  unerwarteten  Befreiung  und  Absege« 
lung  nach  Genua  erzählt,  viel  zu  abenteuerlich  und  märchenhaft,  um 
für  wahr  und  erlebt  zu  gelten  '). 

')  Nur  dem  Titel  nach  bekannt  ist  mir  die  Schrift:  MSendschrdben  eines  spanischen 

Esels  an  seine  Verwandten  in  Deutschland**  Madrid,    (Sicf) des   H.  Fr.  Bahrdt, 

miils  aber  wohl  unter  die  unsähligen  stachligen,  mit  Arglist  und  Chicane  strotzenden 
Schriften  des  originellen  boshaften  Theologen  gerechnet  werden.  Auch  von  den  „katho- 
lischen Fantasien-  und  Predigeralmanachen*"  des  nämlichen  Bahrdt  (Rom^  Madrid,  Lissabon, 
München  und  Nürnberg)  auf  Kosten  der  heiligen  Inquisition,  (4  Jahrgänge  1783  —  86)  sowie 
von  seinem  „Alvaro  und  Ximenes,  ein  spanischer  Roman",  Halle  1790  kann  ich  nur  den  Titel 
anftlhren..  —  In  G.  Franks  sorgfältiger  Studie:  «Dr.  Karl  Friedrich  Bahrdt,  ein  Bei- 
trag zur  Geschichte  der  deutschen  Aufklärung"  in  Raumers  « Historisches  Taschenbuch" 
IV.  Folge  Vn.  Jahrg.  (l^prig  1866)  S.  305  ff.  habe  ich  nichts  darüber  gefunden.  — 
Die  „Reisen  durch  Spanien  und  Portugal,"  (3.  Bde.  Wien,  Verlag  von  F.  H.  Schrämbl 
179a),  sowie  die  ein  Jahr  später  gedruckten  ^Memoiren  eines  Emigranten,  der  kein 
Emigrant  war,  auf  seiner  Reise  nach  Spanien,  im  Jahre  1791**.  Riga  1793  (auch  unter 
dem  Titel:  „Memoiren,  historische  und  galante  Romane  aus  den  Zeitaltern  Ludwigs  XIV., 
XV.  und  XVI.")  und  die  „Briefe  über  Holland,  England  und  Spanien  von  Herrn  Spaen, 
damaligem  holländischen  Ambassadeur  in  Lissabon**,  (m  Teile,  Amheim  1793)  sind  Ober- 
setzungen aus  dem  Französischen.  —  Die  im  Jahre  179a  in  Berlin  erschienene  „Reise 
von  Wien  nach  Madrid  im  Jahre  1790"  von  J.  Hagen,  mit  Kupfern,  ist  mir  nur  nach 
einem  kurzen  Bericht  in  der  ^Neuen  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek**  (1793)  m, 
315  fL  bekannt 


826  Artur  Farinelli. 


Während  die  Gröfsten  auf  dem  deutschen  Parnas  für  Italien 
schwärmten  und  eine  unbezwingliche  Sehnsucht  nach  den  sonnigen 
Gestaden  Hesperiens  fühlten,  mochten  sich  wohl  einige  EMchter  minderer 
Ordnung  Spanien  als  ihr  Arkadien  vorstellen  imd  lange  eine  Reise 
dorthin  planen,  ohne  sie  zur  Ausführung  bringen  zu  können.  So  ist  es 
wenigstens  Friedrich  Schulz,  dem  jetzt  verschollenen,  originellen  und 
tiefsinnigen  Verfasser  der  „Leopoldine"  und  des  Buches  „Über  Paris 
und  die  Pariser"  ergangen.  Nahe  an  seinem  Lebensende,  fühlte  er 
sich  mächtig  nach  Spanien  angezogen.  Er  wollte  Spaniens  Boden 
betreten  und  sich  an  seiner  Schönheit  laben.  Er  dachte  ernsthaft 
daran,  den  Rest  seines  Lebens  in  Spanien  zuzubringen,  und  besprach 
mit  Freunden  eifrig  seinen  Reiseplan.  „Sein  lebhaftester  Wunsch**, 
berichtet  uns  Richard  in  seiner  Selbstbiographie  *),  „war  nach  Spanien 
zu  gehen  und  in  Valencia  zu  leben;  mit  Begeisterung  setzte  er  mir 
diesen  Plan  in  meinem  Garten  auseinander".  Schulz  starb  jedoch  schon 
1789  zu  Mittau;  das  Land  seiner  Träume  zu  betreten  war  ihm  nicht 
vergönnt. 

Der  unsaubere,  viel  verspottete,  auch  von  Tieck  (Schriften.  B.  VI. 
S.  XLI)  getadelte  Grosse,  der  Verfasser  des  „Genius",  des  „Dolches** 
und  einer  Anzahl  der  fadesten  Erzählungen,  welcher  sich  bald  als 
Marquis  Grosse,  bald  als  Graf  von  Vargas  ausgab  und  weder  Mar- 
quis, noch  Graf,  noch  Vargas  war  und  niemals,  wie  oft  er  es  auch 
sonst  unverschämt  beteuerte,  ^  Spanien  mit  eigenen  Augen  gesehen 
hatte,  veröflFendichte  1794  gewisse  „Briefe  über  Spanien"*).  Er  hat 
sich  auch  darin  einfach  viel  fremdes  Gut  angeeignet.  Seine  Briefe 
sind  nichts  als  eine  klägliche  Kompilation  aus  älteren  Reiseaufzeich- 
nungen. In  der  Vorrede  wird  gegen  die  „faulen  Reisebeschreiber" 
losgezogen,  welche  so  wenig  auf  die  Schilderungen  der  Gebräuche 
und  des  Charakters  der  spanischen  Nation  Gewicht  legen.  Grosse 
selbst,  sobald  er  seine  trüben  Quellen  verläfst,  verliert  sich  in  Phrasen 
und  in  leerem  Wortschwall.  Er  will  den  Spaniern  wegen  ihrer  regen 
Einbildungskraft  ein  Lob  erteilen  und  drückt  sich  folgendermafsen 
aus  (S.  74):  „Der  Spanier  ist  im  ganzen  mit  einer  grenzenlosen 
Einbildungskraft,  mit  einem  durchdringenden  Scharfsinne  obgleich  mit 
einer    weniger    richtigen    Beurteilungskraft    versehen;    daher    rühren 


^)  H.    A.    O.    Reichard.     Seine  Selbstbiographie,    überarbeitet   und   herausgegeben 
von  Hermann  Uhden.  Stuttgart  1877  S.  240. 

*)  Karls  Marchese  von  Grosse:    « Briefe  Aber  Spanien."     Halle  1794. 


Spanien  u.  die  spanische  Litteratur  im  Lichte  der  deutschen  Kritik  u.  Poesie.  III.    327 

seine  Talente  für  alles,  was  Flug  und  Spannung  der  Seele  erfordert, 
sowie  besonders  für  einige  Wissenschaften**.  In  diesem  herrlichen 
Tone  ist  das  ganze  Buch  geschrieben.  Grosse  ist  selbst  ein  lächer- 
licher Don  Quixote,  ein  leerer  Schwärmer  und  Aufschneider  und 
macht  dabei  dem  Cervantes  Vorwürfe  (S.  55),  er  habe  durch  seinen 
Quixote  die  heroischen  Gesinnungen,  die  Energie  und  Ausdauer  der 
Seele,  die ,  Gröfse  und  über  alles  hinwegsehende  Fassung  seiner 
Nation,  zugleich  mit  seinem  abenteuerlichen,  aber  edlen  Heroismus 
zerstört. 

Weit  mehr  als  dieser  Marquis  Grosse  verdienen  drei  deutsche 
Reisende  unsere  Aufmerksamkeit:  Anton  Kaufhold,  Christian  August 
Fischer  und  Heinrich  Friedrich  Link.  Nur  der  zweite  unter  ihnen 
hatte  sich  einen  litterarischen,  nicht  eben  glänzenden  Ruf,  erworben. 
Kauf  hold  hat  zwei  Bände  über  Spanien  anonym  veröffentlicht.  Weder 
die  Zeitgenossen,  noch  die  Nachwelt  haben  seinen  Namen  gekannt. 
Ich  selbst  lernte  ihn  aus  der  „Neuen  allgemeinen  deutschen  Bibliothek^ 
(LV,  417)  und  Kayser  „Bücher-Lexikon"  (V,  282)  kennen.  Link  war 
als  Naturforscher,  vorzüglich  als  Botaniker  tätig.  Wer  diese  längst 
vergessenen  Reiseschilderungen  nachliest,  findet  unter  dem  Schutte 
veralteter  Anschauungen  eine  Menge  vorzüglicher  Beobachtungen, 
gediegene  Urteile  über  Litteratur  und  Sitten  der  unbekannten  Nation, 
welche  lebhaft  bedauern  lassen,  dafs  sie  bis  heute  von  dem  Kultur- 
historiker unberücksichtigt  gelassen  wurden.  Kaufholds  Reise  nach 
Spanien  fallt  in  die  Jahre  1790  und  91.  Fischer  hat,  falls  ich  nicht 
irre,  1797  zuerst  das  Land  seiner  Sehnsucht  betreten.  Er  ist  dann 
mehrmals  nach  Spanien  zurückgekommen.  Link  hat  ebenfalls  im  Jahre 
1797  als  Begleiter  des  Grafen  Joh.  Centurius  von  Hoffmannsegg  seine 
erste  spanische  und  portugiesische  Reise  angetreten.  Alle  drei  schrei- 
ben gewifsenhaft,  ohne  gelehrte  Prätensionen,  ihre  Eindrücke  nieder. 
Sie  urteilen  über  Menschen  und  Sachen  nach  eigener,  nicht  nach 
fremder  Anschauung.  Am  unparteiischsten  und  zuverlässigsten  ist 
wohl  Kaufhold,  ein  hellblickender,  nüchterner  Mensch,  den  ein  Aufent- 
halt von  mehr  als  18  Monaten  in  Madrid  niemals  aus  seiner  kühlen 
Beobachtung  ziehen  konnte.  Fischer  dagegen  läfst  oft  seiner  Begei- 
sterung freien  Lauf;  er  möchte  unter  Spaniens  Himmel  leben,  lieben, 
sterben;  er  war  litterarisch  gebildeter  als  Kaufhold,  und  schrieb  mit 
Wärme  und  Hingebung.  In  Frankreich  würdigte  man  seinen  Reisebe- 
schreibungen Spaniens  einer  Übersetzung.  Link  war  für  die  Portu- 
giesen eingenommen;  er  wollte    ihren    Ruf  von    den    derben   Schlä- 


8SS  Artor  Parinelli. 


gen,  die  sie  von  den  Engländern  erlitten,  retten.  —  Kaufhold  liefs 
seine  Reise  in  Gotha  1797  drucken'),  eigentlich  eine  zweibändige  Be- 
schreibung Madrids,  von  der  merkwürdigerweise  alle,  auch  die  gröfsten 
Reisebücherverschlinger,  schweigen  ') ,  obwohl  sie  in  gewisser  Hinsicht 
mehr  als  das  berühmte  „Tableau"  Bourgoings  bietet.  Vielleicht  fand 
sie  in  der  Stille  doch  zahlreiche  Leser,  und  haben  selbst  Goethe  und 
Schiller  darin  geblättert.  Manche  Stellen  dieses  unbekannten  Buches 
sind  nicht  veraltet  und  auch  dem  heutigen  Forscher  der  Kultur  Spa- 
niens noch  immer  zu  empfehlen.  Was  über  das  spanische  Theater 
berichtet  wird,  ist  frei  von  Vorurteilen,  wirklich  empfunden,  rückhaltlos 
ausgesprochen  und  ist  den  späteren  enthusiastischen,  aber  oberflächli- 
chen, kenntnisleeren  Nachrichten  Aug.  Wilhelm  und  Friedr.  Schlegels 
weitaus  vorzuziehen  und  nur  den  kostbaren  Berichten  eines  anderen 
deutschen  Reisenden,  Georg  Rists,  an  die  Seite  zu  stellen.  —  Fischer 
liefs  gerade  vor  Schlufs  des  Jahrhunderts  sein  Erstlingswerk  über 
Spanien  drucken^),  eine  anregende,  frisch  und  schön  geschriebene 
Reisebeschreibung,  welche  bald  eine  neue  Auflage  erlebte*),  von  Gra- 
mer, dem  Verdeutscher  von  Raynouards  Tragödie  «Les  Templiers", 
ins  Französische,  und  von  einem  Unbekannten  ins  Englische  übersetzt 
wurde').     Nach  Wilhelm  v .  Humboldts  Urteil  besitzt  sie  neben  andern 


')  Spanien,  wie  es  gegenwärtig  ist.  Bemerkungen  eines  Deutscheo  während  seines 
Aufenthaltes  in  Madrid  in  den  Jahren  1790 -i  791.     (3  Bde.,  Gotha  1797). 

')  Die  Reise  Kaufholds  ist  aber  in  der  bereits  erwähnten  »Neuen  Allg.  deutschen 
Bibliothek**  (1800)  (LV,  417 — 423)  im  allgemeinen  günstig  besprochen  worden.  ^Zwar 
kein  Bourgoing  und  kein  C  A.  Fischer**!  sagte  der  Rezensent,  ,,aber  doch  immer  ein 
achtungswerter  Augenzeuge,  der  uns  teils  durch  Bestätigung  früherer  Nachrichten,  teils 
durch  eigene  Beobachtungen  mit  den  Eigenheiten  eines  Landes,  das  wir  nicht  überflüssig 
genau  kennen,  bekannter  machen'*  (S    417). 

')  „Reise  von  Amsterdam  über  Madrid  und  Cadix  nach  Genua  in  den  Jahren  1797 
und  1798  von  Christian  August  Fischer^*,  Berlin,  Unger  1799.  Eine  lange,  sehr  anerken- 
nende Recension  der  Reise  Fischers  erschien  im  51.  Bd.  der  «Neuen  Allg.  deutschen  Bibl.* 
(1800  S.  S15  ff).  Der  schöne  Stil,  die  spannende  Erzählung,  die  weit  um&ssenden 
Kenntnisse  des  Verfassers  werden  darin  hervorgehoben  nnd  wichtige  Stellen  ans  dem 
Buch  mitgeteilt. 

*)  Die  zweite,  vermehrte  Auflage  (Berlin  1801)  enthält  im  33.  und  im  5a.  Brief 
wichtige  Zusätze  über  die  «Fortschritte  der  Kultur  in  Spanien"  und  eine  reiche  Nachlese 
über  die  Utteratur.  Dafür  werden  manche  Betrachtungen  über  Sitten,  Lebensart  nad 
Religion  der  Spanier  weggelassen. 

')  »Voyage  en  Espagne  auz  ann^es  1797  et  1798,  faisant  suite  au  Voyage  en  Espagne 
du  citoyen  Bourgoing,  par  C.  A.  Fischer.  —  Traducteur  C.  F.  Gramer.  Avec  un  appen- 
dice  sur  ia  mani^e  de  voyager  en  Espagne.  Avec  figures*.  2.  Vol.  Paris,  An  IX  (x 801); 
die  englische  Übersetzung  erschien  ein  Jahr  darauf:  »Travels  in  Spain  in  1797  and  1798 


S|>aiileii  u.  die  spanische  Litteratnr  im  Lichte  der  deutschen  Kritiic  u.  Poesie.  IIL     889 

Vorzügen  von  ihren  Vorgängern  besonders  den  treuer  und  anziehen- 
der Naturbeschreibungen  *).  Sogar  den  biederen  Knebel  entzückte  das 
Werk  Fischers.  Von  Ilmenau  am  i6.  Dezember  schrieb  Knebel  an 
Goethe:  ^Ich  ergötze  mich  indefs  an  einer  spanischen  Reise  von  Hm. 
Fischer  in  Dresden,  die  sehr  anmutig  geschrieben  ist,  uns  unter  ein 
frohes  Klima  versetzt  und  Bescheidenheit  und  Charakter  des  Verfassers 
verrat,  was  jetzt  so  selten  ist^*).  Nach  Bertuch  fiel  unserem  Fischer 
die  Rolle  eines  Vermitders  zwischen  Spanien  und  Deutschland  zu. 
Er  hat  eifirige,  ununterbrochene  Propaganda  für  Spanien  gemacht; 
und  Männer  der  Prosa  und  Männer  der  Dichtung,  Gelehrte  und  Un- 
gelehrte zum  Studium  des  lange  vernachlässigten  Landes  angespornt 
nO,  wer  das  wahre  Leben  des  Dichters,  des  Künsders,  des  Genusses 
leben  will  —  Lafst  ihn  in  jene  glücklichen  Länder  gehn!^  hat  er 
einmal  in  seinem  Gemälde  von  Valencia  (11,  173)  ausgerufen.  Im 
Jahre  1800  hat  er  gar  ein  „Neues  spanisches  Lehrbuch  über  politi-* 
sehe  und  merkantilische  Gegenstände"  in  Leipzig  veröffendicht,  eine 
Sammlung  spanischer  Zeitungsartikel  zum  kaufinännischen  Unterricht'). 
Ebenfalls  1800  gab  er  in  Jena  einige  Zusätze  und  Berichtigungen  zur 
Reise  Bourgoings  heraus  ^).  Dann  lieferte  er  „Spanische  Miscellen'', 
eigene  Übersetzungen  und  Bearbeitungen  aus  dem  Spanischen,  ein 
spanisches  Lesebuch,  spanische  Novellen  u.  s.  w.  In  seinen  zahlreichen 
Reisewerken  hat  er  immer,  wenn  er  nur  konnte,  seinem  geliebten 
Spanien  Platz  eingeräumt  Im  ersten  Teil  seiner  „Bergreisen**  (Posen 
1801)  hat  er  einiges  sehr  Interessante  über  die  Pyrenäen  und  das  Bas- 


by  F.  August  Fischer  with  an  appendiz  on  the  method  of  trayelling  in  that  country**. 
London  1803. 

')  W.  y.  Humboldts.  Gesammelte  Werke.  Berlin  1803  ^  I79  (Au&atz  Aber  den 
Mootserrat). 

')  Goethes  und  Knebels  Briefwechsel,  Leipzig  1851  I,  230. 

*)  Darin  ist  (S.  31  ff)  ein  interessanter  Aufsatz  über  die  „  Erweiterung  des  spani- 
schen Handels**  aus  dem  II.  Band  der  «Memorias  de  la  sociedad  econömica  de  Madrid** 
entnommen. 

^)  «Bourgoings  neue  Reise  durch  Spanien  in  den  Jahren  1782—1793,  oder  vollstän- 
di^^e  Übersicht  des  gegenwärtigen  Zustandes  dieser  Monarchie  in  allen  ihren  verschie- 
denen Zweigen.  HI.  Band,  welcher  Zusätze  und  Verbesserungen  zu  den  zwey  ersten 
enthält.  Ans  dem  Französischen  übersetzt  und  mit  Anmerkungen  begleitet  von  Christian 
Au^st  Fischer**,  Jena  1800.  —  Zwei  weitere  Arbeiten  über  Spanien,  welche  Fischer 
in  dieser  Obersetzung  verprach  (S.  335),  eine  ^Sammlung  der  besten  neuesten  spanischen 
Lustsspiele  in  Prosa '^  sowie  (S.  345)  eine  «yoUständige  Geschichte  und  Beschreibung 
der  spanischen  Stiergefechte  mit  Kupfern**,  sind  niemab  zu  Stande  gekommen. 


380  Artur  Farinelll 


kenland  berichtet.  In  seine  »Reiseabentheuer"  (2 Bd.)  hat  er  der  Odyssee 
seiner  allzuabenteuerlichen  Wanderungen  durch  Rufsland,  Holland,  Spa- 
nien, Italien  und  die  Schweiz,  farbenreiche  Schilderungen  von  Madrid, 
Cadix,  Malaga,  Valencia  und  die  Geschichte  seiner  Liebestandeleicn 
mit  einer  schönen  Spanierin  eingewoben  ^).  1802  sammelte  er  vier 
oder  fünf  in  verschiedenen  Blättern  zerstreut  gedruckte  Artikel  zu 
einem  Buche  „Gemälde  von  Madrid"  (Dresden).  Er  hatte  Erfolg  und 
gab  ein  Jahr  darauf  in  zwei  Bänden  die  Beschreibung  seiner  Lieblings- 
stadt, des  von  Friedrich  Schulz  geträumten  Paradieses,  das  „Gemälde  von 
Valencia"  heraus')  (Leipzig  1803.  Der  Schlufs  des  II.  Bandes  enthält 
die  Beschreibung  der  Balearischen  Inseln),  die  Gramer  1804  ins  Fran- 
zösische übersetzte  •).  Eine  „vollständige  Abhandlung  über  das 
Reisen  in  Spanien",  welche  Fischer  (Reise  von  Amsterdam  u.  s.  w. 
S.  504)  herauszugeben  versprach,  kam  nicht  zu  Sande.  Die  im  „Ge- 
mälde von  Valencia"  (II,  160;  257)  angekündigte  „pittoreske  Reise 
vonSpanien  ",welche  das  in  Labordes  „  Voyage  pittoresque"  und  das  von 
einem  Madrider  „Viaje  pintoresco"  Gebotene  verbinden  sollte,  ist  erst 
1809  und  18 10  in  Leipzig  erschienen^). 

*)  Fischers  „Neue  Reiseabentheuer*.  Posen  und  Leipzig  i8oa — 1803  in  4  TeÜen  be- 
handeln Ereignisse,  welche  anderen  berühmten  und  dunklen  fremden  Reisenden  vorge- 
kommen sind.  Spanien  kann  höchstens  die  vorletzte  Erzählung  (im  4.  Teil),  betitelt: 
^Der  Wanderer  in  den  Pyrenäen",  interessieren,  wo  eine  Bärenjagd  in  den  Pyrenäen 
beschrieben  wird. 

'j  Eia  Werk,  welches  A.  Jose  Cavanilles  „Observaciones  sobre  la  Historia  Natural 
geografia,  agricultura,  poblacion  y  fnitos  del  reino  de  Valenda**  (1795 — 1797)  viel  ▼«"- 
dankt.  —  Der  „Anhang  fiber  die  Mauren**,  in  Fischers  ^Gemälde  von  Valencia**  ist  ober- 
flächlich und  meistenteils  aus  dem  kläglichen  „Precis  historique  sur  les  Maures**  des 
Florian  entnommen. 

*)  nDescription  de  Valence  ou  Tableau  de  cette  Province,  de  ses  productions,  de 
ses  habitants,  de  leurs  moeurs,  de  leurs  usages  etc.  par  Chr.  Aug.  Fischer,  pour  &ire 
suite  au  Voyage  en  Espagne  du  m^me  auteur.  Trad.  G.  F.  Gramer**,  Paris  1804.  — 
In  Spanien  scheint  dies  Gemälde  Fischers  als  das  Werk  eines  Franzosen  aufgefaist  wor- 
den zu  sein.  So  ist  es  wenigstens  unter  der  Rubrik  „Literatura  francesa**  im  «Memo- 
rial  literario  6  biblioteca  periodica  de  ciencias  y  artes"*  II,  103  1  besprochen  worden, 
nOfrece**,  sagt  der  Recensent**  una  descripcion  pintoresca,  y  al  mismo  tiempo  agradable, 
exacta  €  instructiva  ....  Debemos  4  Mr.  Fischer  otros  escritos  interesantes  acerca  de 
Espaiia,  y  sobre  todo  una  descripcion  de  Madrid  que  se  puede  leer  con  fruto  y  placer  aun 
ä  pesar  de  lo  mucho  que  se  ha  hablado  en  este  particular".  —  Ich  bemerke  nur  nebenbei, 
dafs  im  III.  Band  (L*Espagne)  der  „Guide  des  voyageurs  en  Europe  par  Mr.  Reichard,  Con- 
seiller  deS.  M.  le  Duc  de  Saze  Gotha**  Weimar  1807  die  Reisewerke  Fischers  reichüdi 
benutzt  wurden. 

')  „Neuestes  Gemälde  von  Spanien  nach  Alezander  Laborde",  in  a  Bänden,  Leipzig 
1809 — x8io.  —  Im  Jahre  1820  wurde  es  auch  von  Goethe  gelesen.  Vgl.  die  „Tag- 
und  Jahres-Hefte*"  (i8ao)  in  „Goethes  Werke'S  Weim.  Ausg.  Abt.  I,  B.  36.  S.  176. 


Spanien  u.  die  spanische  Litteratur  im  Lichte  der  deutschen  Kritik  u.  Poesie,  m.    381 

„Ich  ergriflf  die  Feder  zur  Verteidigung  meiner  Portugiesen  und 
unbemerkt  wurde  aus  einer  Apologie  eine  Reisebeschreibung^,  hat 
Link*)  in  der  in  Kiel  1801  gedruckten  „Reise  durch  Frankreich, 
Spanien  und  Portugal^*  gestanden  ').  Sein  Beruf  als  Naturforscher  hat 
ihn  nicht  gehindert,  treffliche  Betrachtungen  über  das  geistige  Leben 
des  fremden  Volkes  zu  machen.  Sein  Buch  ist  nicht  etwa  eine  trockene 
Aufzeichnung  von  Pflanzengattungen,  nicht  ein  gelehrtes  Gerippe 
wie  die  Reise  des  Botanikers  Loefling;  es  ist  unterhaltend,  oft  span- 
nend, wenn  auch  nicht  immer  stilvoll  geschrieben  und  gewährt  dem 
Leser  stets  einen  erfreulichen  Einblick  in  die  Merkwürdigkeiten  des 
Landes,  in  ihre  mannigfaltigen,  entzückenden  Naturschönheiten  *).  Die 
eingestreuen  Nachrichten  über  die  portugiesische  Litteratur  lassen  be- 
dauern, dafs  Link  sein  (B.  I,  VHI)  versprochenes  Werk  über  die 
«portugiesische  Verfassung,  Litteratur  und  Sprache"  nicht  zu  Stande 
brachte.  (Im  III.  Teile  S.  197  ist  wieder  von  einem  geplanten  Werke 
über  die  „portugiesische  Litteratur  und  den  Zustand  der  Wissen- 
schaften im  Portugal^^  die  Rede.)  Auch  Link  hatte  wie  Knebel  und 
W.  v.  Humboldt  den  Zauber  der  Darstellung  Fischers  empfunden. 
y,Die  Schilderungen    des  Verfassers  (Fischer)    haben    mich    oft  durch 

*)  Ob  dieser  der  gleiche  Link  ist,  von  welchem  Caroline  in  einem  Briefe  an  Louise 
Gotter  (Göttingen,  12.  Januar  1781)  spricht,  kann  ich  nicht  mit  Bestimmtheit  sagen.  — 
Über  Links  schriftstellerische  Tätigkeit,  vergl.  die  «Münchener  Gelehrten  Anzeigen** 
▼om  Jahre  1851  Nr.  59—69.  —  Ein  Porträt  Links  steht  im  9.  B.  des  monumentalen, 
aber  äufserst  chaotischen  Werkes  des  Branco  Manoel  Bemardes  «Portugal  e  os 
Estrangeiros,  Lisboa  1879. 

*)  «Bemerkungen  auf  einer  Reise  durch  Frankreich,  Spanien  und  vorzüglich 
Portugal  von  Dr.  Heinrich  Friedrich  Link,  Prof.  zu  Rostock**,  I.  Teil,  Kiel  1801  (S.  IV). 
—  Ein  in.  Teil,  welcher  Zusätze  und  Berichtigungen  zu  der  Reise  nach  Portugal  ent- 
halten, erschien  zu  Kiel  1804.  —  Die  in  der  Vorrede  dieses  letzten  Bandes  erwähnte 
englische  Obersetzung  der  früheren  Reise  habe  ich  nirgends  auftreiben  können.  —  Ein 
Franzose,  behauptete  Link  (Vorrede),  wollte  sie  in  seiner  Sprache  übersetzen,  ^sur 
einige  (vielleicht  indiscrete)  Äulserungen  hielten  ihn  ab.  ^-  Links  „Flora  von  Portugal** 
st  1809  in  2  Teilen  erschienen.  —  Das  von  Link  (I,  225)  angeführte  „Neueste  Gemähide 
von  Lissabon"  eines  Franzosen  (herausgeg.  von  einem  Deutschen  Magister  Tilesius),  das 
auch  von  Goethe  („Tagebücher^*  ~  4.  April  1801  —  „Tableau  de  Lisbonne^')  gelesen 
wurde,  ist  mir  gänzlich  unbekannt. 

')  Links  Reise  in  der  „Neuen  allgemeinen  deutsch.  Bibl."  (1801.  LVIQ,  213  ff)  von 
einem  Eik  .  •  .  ,  der  selbst  in  Portugal  gewesen  sein  soll,  rühmlich  besprochen  worden : 
„Der  Verfasser  zeigt  sich  auf  allen  Seiten  als  ein  vortrefflicher  Kopf,  als  ein  Mann  von 
ausgebreiteten  Kenntnissen.  An  eine  fortlaufende  Reihe  botanischer  und  mineralogischer 
Bemerkungen  schliefsen  sich  so  viel  neue  Nachrichten  über  Sitten,  Ackerbau,  Verfassung, 
dais  der  Gelehrte  und  der  Dilettant,  der  Geograph  und  der  Philosoph  dieses  schätzbare 
Werk  mit  gleichem  Vergnügen  aus  der  Hand  legen  wird**. 


832  Artnr  Parindli. 


die  lebhafteste  Täuschung  in  jene  Gegenden  zurückgezaubert •*.  Sem 
Reisewerk  kann  würdig  an  die  Seite  der  Gemälde  Fischers  gesetzt 
werden.  Kein  Wunder,  dafs  Goethe,  nachdem  er  selbst  die  Reise 
Links  gelesen  und  unterhaltend,  lehrreich  gefunden  hatte,  sie  Schiller 
empfahl  (6.  März  1800):  „Ich  habe,  um  eine  empirische  Unterlage 
zu  meinen  Betrachtungen  zu  gewinnen,  angefangen  mir  ein  An- 
schauen der  europäischen  Nationen  zu  bilden.  Nach  der  Linkischen 
Reise  ^)  habe  ich  noch  manches  über  Portugal  gelesen  und  werde 
nun  nach  Spanien  übergehen^^  Ein  Jahr  darauf  (25.  März  1801) 
schickte  er  die  Reise  Links  an  Schiller.  „Ich  schicke  Ihnen  eine 
portugiesische  Reisebeschreibung,  welche  unterhaltend  und  lehrreich 
ist,  und  den  Wunsch  dieses  Land  zu  besuchen  wohl  schwerlich 
rege  machen  wird*). 

Ein  skizziertes  Bild  von  Spanien,  seiner  Bewohner  und  seiner 
Kultur,  nach  den  Reiseaufzeichnungen  Kaufholds,  Fischers  und  Links 
mag  hier  als  Einleitung  dienen  zu  den  im  folgenden  Jahrhundert  mir 
geringer  Sachkenntnis  niedergeschriebenen  Urteilen  der  Romantiker 
über  das  ferne  südliche  Land. 

„Ich  weifs^,  sagte  Kaufhold  (I,  128),  „dafs  Deutschland  in  stolzer 
Einbildung  seiner  Überlegenheit  in  allen  Zweigen  der  Wissenschaften 
mit  Verachtung  auf  den  Spanier  herabsieht  und  ihn  nicht  für  würdig 
hält,  ihm  die  Schuhriemen  aufzulösen**.  Die  verbreiteten  Reisebe- 
schreibungen stellen  immer  den  Spanier  und  sein  Land  so  hin,  „wie 
beide  in  den  Zeiten  des  Ritterwesens**  (Vorbericht  V).  Eine  Reise 
nach  Spanien  war  ein  grofses  Wagnis,  man  betrachtete  sie  „wie  eine 


')  Es  bleibt  immerhin  seltsam,  wie  Goethe  schon  im  Jahre  1800  von  der  Reise  Links 
sprechen  konnte,  da  ja  die  ersten  3  Bände  der  Reise  erst  i8ox  zu  Kiel  erschienen. 

')  Hier  ist  unzweifelhaft  von  der  Reise  Links  die  Rede.  Die  früher  erschienenen 
Beschreibungen  Portugals  von  den  80  er  u.  90  er  Jahren  waren  sämtlich  ungeniefsbare, 
trockene^  fabriksmäisig  verfertigte  Übersetzungen  aus  dem  Französischen  u.  EogllscheB. 
So  die  „Bi'i^c  ^^^  Portugal,  nebst  einem  Anhange  fiber  Brasilien.  Aus  dem  Pranxösischen. 
Mit  Anmerkungen  herausg.  v.  C.  M.  Sprengel'*,  Leipzig  1782.  Die  „Skizzen  der  Sitten 
und  des  gesellschaftlichen  Lebens  in  Portugal,  in  Briefen  von  dem  Kapitän  Arthur 
Wilhelm  Costigan  an  seinen  Bruder  in  London.  Aus  dem  Englischen^*,  II  Teile  1788 — 89. 
Die  „Bemerkungen  über  Marokko;  desgl.  über  Frankreich,  Spanien  und  Portugal.  Von 
einem  Officier,  während  seiner  Reise  durch  diese  Länder,  einigen  Freunden  in  Briefen 
mitgetheilt.  Ein  gedrängter  Auszug  aus  dem  Englischen**,  Leipzig  1 796  und  noch  folgende 
zwei  Reisen  aus  dem  Französischen:  „Des  Duc  du  Chätelet  Beschreibung  seiner  Reise  in 
Portugal*",  Leipzig  1799  und  das  „Tagebuch  einer  Reise  durch  die  Portugiesische 
Provinz  Alemtejo  mit  einer  Beschreibung  der  Stiergefechte  in  Portugal**.  HUdesheim  1799. 


Spanien  u.  die  spanische  Litteratur  im  Lichte  der  deutschen  Kritik  u.  Poesie,  m.    883 

Reise  an  das  Ende  der  Welt"  (Fischer,  Reise  von  Amsterd.  u.  s.  w. 
S.  503).  Hörte  man  von  Spanien  sprechen,  so  vernahm  man  nichts 
als  die  Wiederholung  alter  Vorurteile:  das  Land  sei  ganz  verwildert, 
seine  Einwohner  zeigen  wenig  geistige  Begabung,  sie  seien  nicht 
weiter  vorgeschritten  als  die  Hottentotten. 

Die  immerwährende  Absonderung  von  der  Fremde  erzeugt  Ab- 
neigung und  Hafs  gegen  alles  Fremdländische.  Die  Gastfreiheit  sagte 
Kaufhold  (I,  31)  ist  keine  Tugend  des  Spaniers.  Jeder  Reisende, 
den  er  erblickt,  ist  ihm  ein  Dorn  im  Auge.  Die  Abneigung  gegen 
den  Franzosen  übersteigt  jede  Grenze;  unglücklicher  Weise  hält  er 
jeden  Fremden  für  einen  Franzosen.  Schroff  und  feindselig  be- 
gegnet er  jedem,  der  in  sein  Land  eindringt*  —  Von  dem  äufseren 
Aussehen  des  Spaniers  giebt  uns  Kaufhold  eine  ganz  detaillierte 
Schilderung  (I,  262  ff.),  er  spricht  von  seinem  raschen  und  feurigen 
Gang,  welcher  ein  sehr  hitziges,  aufbrausendes  Temperament  ver- 
kündigt, von  seinen  Augen  „klein,  schwarz  .  .  .  voller  Feuer  und 
Leben";  Witz,  Satyre,  List,  Betrug  und  Feindschaft  sieht  man  in 
jedem  Auge  und  „das  Feuer,  das  dieses  über  das  ganze  Gesicht  ver- 
breitet, ist  abschreckend  und  fürchterlich".  Man  ist  gewohnt,  sich 
den  Spanier  als  ein  langsames,  träges,  untätiges  Volk  vorzustellen, 
alles  zeug^  dagegen  (I,  35)  von  Bewegung  und  Geschäftigkeit. 
Link  bemerkt  als  hervorstechende  Züge  der  Portugiesen  (III,  315): 
«^Lebhaftigkeit,  Geschwätzigkeit,  Höflichkeit,  Leichtsinn"  (I,  137).  Die 
Höflichkeit,  das  leichte,  muntere,  freundliche  Wesen  des  gemeinen 
Volkes  nimmt  sogleich  mehr  für  die  portugiesische  Nation  ein,  als  für 
die  spanische.  Das  Gegenteil  aber  findet  statt  so  bald  man  die 
hohem  Stande  kennen  lernt. 

Was  den  viel  gerügten  spanischen  Stolz  betrifft,  so  gehen  die 
Meinungen  unserer  Reisenden  auseinander.  Kaufhold  (I,  268  f.)  tadelt 
die  hohe  Meinung,  welche  jeder  Spanier  von  sich  hat:  „Er  brüstet 
sich  mit  den  Taten  seiner  Vorältem".  Fischer  dagegen  (Reise 
S.  222):  „Der  Spanier  kann  seine  Würde  fühlen,  aber  er  weifs  nichts 
von  Hochmut,  er  kann  ungerührt  scheinen,  aber  sein  Mitleid  ist  desto 
tätiger**.  Und  Link  (I,  95)  erklärt  geradezu:  „Man  denkt  sich  oft  in 
Deutschland  unter  dem  gemeinen  Spanier  ein  grobes,  stolzes  Wesen, 
welches  kaum  antwortet,  wenn  man  fragt.  Ich  versichere  meine  Lands- 
leute, dafs  man  nach  dieser  Schilderung  die  Spanier  in  Niedersachsen 
suchen  mufs*** 

Die  Sorglosigkeit  der  Spanier  in  allem,  was  die  Bequemlichkeiten 


384  Artur  Pariaelli. 


des  Lebens  betrifft,  ihre  schlechte,  elende  Wirtschaft  haben  Deutsche 
wie  Franzosen,  Engländer  und  Italiener  zu  allen  Zeiten  getadelt.  Fischer 
empfahl  in  dem  Abschnitt  „Über  das  Reisen  in  Spanien^^  (Anhang 
zur  Reise  S.  517)  mit  dem  Führer,  dem  Arriero,  einen  allgemeinen 
Akkord  iiir  Essen,  Trinken  und  Schlafen  zu  schliefsen.  —  In  allen 
Häusern  Spaniens  fehlen  praktische  Einrichtungen.  Die  Küche,  be- 
merkt Link  (I,  90),  befindet  sich  überall  im  Hintergrunde  der  Haus- 
flure, die  Zimmer  stehen  auf  den  Ställen.  In  Bilbao  findet  Fischer 
(Reise  S.  91)  in  allen  Häusern  die  Abtritte  in  der  Küche,  gerade  neben 
dem  Herde.  Nicht  reinlicher  ist  es  in  dieser  Beziehung  in  Lissabon. 
Link  erinnert  an  eine  von  Martin  Zeiller  geschilderte  Reiseerfahrung 
(Itin.  Hisp.  S.  28)':  „logierten  allda  bey  einem  Italiäner  und  hatten 
ziemliche  Tractation,  aber  schlechten  Wein  und  so  viel  Flöhe,  dafs 
sie  schier  verzagten".  Was  das  Gedeihen  des  letzteren  Ungeaefers 
in  Portugal  betrifft,  so  wufste  Link  „zuverlässig"  (I,  228  und  11,  88) 
dafs  »Junge  Frauenzimmer  bey  Besuchen  sich  einander  zum  Zeitvertreib 
die  Läuse  absuchen",  eine  Behauptung,  welche  er  später  im  III.  Teil 
seines  Werkes  zurücknehmen  mufste.  —  Wohlleben,  meinte  Kaufhold 
(I,  243),  ist  dem  Spanier  kein  Bedürfnis,  um  glücklich  und  zufrieden 
zu  leben.  Spanische  Mäfsigkeit  und  Nüchternheit  waren  längst  sprich- 
wörtlich. 

Im  Lobe  der  Spanierinnen,  ihrer  physischen  Reize,  sind  unsere 
Reisenden  einstimmig.  Sie  taugen  allerdings  sehr  wenig  zur  Ehe, 
sind  schlechte  Hausfrauen  und  haben  keine  Neigung  zum  Flatonismus 
(Gem.  V.  Mad.  S.  434).  Ihre  äufsere  Erscheinung  aber  wirkt  einneh- 
mend und  bezaubernd.  „Kleidung,  Anstand  und  Gang  hat  etwas  so 
Reizendes,  so  Einnehmendes  und  so  Anziehendes,  das  fast  unwider- 
stehlich ist  und  das  den  Spanierinnen  den  Vorzug  vor  den  Frauen- 
zimmern anderer  Nationen  beilegt"  (Kaufhold  I,  162).  Man  stellt  sie 
sich  gewöhnlich  als  Sklavinnen  der  Eifersucht  der  Männer  vor.  Die 
Spanierin  ist  dagegen,  sagte  Kaufhold  (I,  335),  „gleichsam  Königin". 
Und  Fischer  (Reise,  S.  267),  „Die  Weiber  sind  freier  als  irgendwo". 
Die  Spanierin  (204)  will  selbst  wählen,  nicht  sich  wählen  lassen;  sie 
übernimmt  die  Rolle  des  Mannes  und  ihm  bleibt  nichts  übrig,  als  sich 
ihr  hinzugeben  und  aufzuopfern.  Im  Theater  wird  die  Eifersucht 
lächerlich  gemacht,  wie  in  der  3aktigen  Comedia  „El  zeloso  de  Les- 
mes"  des  Vicente  Rodriguez  de  Arellano*).     Alles   ist  wild  und    un- 


*)  In  Deutschland  dagegen  schrieb  ein  Herr  Herbst  um  die  ^er  Jahre  ein  wahriiaft 
trauriges  Trauerspiel  über  spanische  Weiberrache,  betitelt:    ^^^^  ▼on  Consengra,    ein 


Spanien  u.  die  spanische  Litterator  im  Lichte  der  deutschen  Kritik  u.  Poesie.  III.     386 

gestüm,  alles  Laune  und  Eigensinn  bei  ihr.  Sie  empfindet  durch 
lauter  Extreme  (Gem.  v.  Mad.  S.  434).  Sie  bewahrt  wohl  eine 
schwärmerische  Anhänglichkeit  an  das  kirchliche  System  ihres  Landes, 
sie  zeigt  einen  Eigensinn,  der  nur  sich  selbst  nachgibt,  Rachsucht, 
glühende  Wollust;  dafür  verrichtet  sie  Wunder  von  Treue,  Anhäng- 
lichkeit, Seelenstärke  und  Heroismus.  Die  Valencianerinnen  sind  un- 
streitig die  schönsten  Weiber  von  ganz  Spanien  (Fischer,  Reise 
S.  446).  „Süfse,  bezaubernde  Geschöpfe",  ruft  der  hingerissene  Deutsche 
einmal  aus  (Gem.  v.  Valencia  II,  115),  „deren  Kleidung  das  schönste 
Symbol  eines  holden  Charakters,  eueres  paradiesischen  Landes,  eueres 
hesperischen  Himmels  ist  —  drey  mal  glücklich,  wer  von  euch  ge- 
liebt werden  kann".  Nicht  minder  warm  schlägt  Fischers  Herz  für 
die  Frauen  Madrids.  Er  belauscht  sie  im  Tanze  (Gem.  v.  Mad.  S.  458): 
„O  Weiber  von  Madrid!  In  diesen  Augenblicken  seid  ihr  allmächtig! 
Euere  schmachtende  Augen,  euere  verführerischen  Lippen,  dieser 
klopfende  Busen,  diese  zauberischen  Bewegungen  des  schönsten  Kör- 
pers! In  welcher  Sprache  fände  man  Worte  dafür!"  Wie  unsere 
Deutschen  die  Liebe  im  Süden  als  höchstes  Glück  sich  vorstellen, 
das  den  Menschen  hienieden  vergönnt  ist,  kann  man  sich  denken'). 
Kaufhold  (I.  317)  erzählt  eine  ergötzliche  Geschichte  zweier  Liebes- 
paare, eine  Art  Wahlverwandtschaft  niederer  Stände,  wobei  ein  alter 
und  ein  junger  Eseltreiber  ihre  Frauen  gegenseitig  vertauschten.  Wer 
die  Liebe  in  ihrer  ganzen  Schönheit  und  Holdseligkeit  kennen  lernen 
will,  sagte  Fischer,  der  eile  in  ihr  Vaterland,  „ins  zauberische  Valencia" 
(Gem.  V.  Val.  II,  215)*). 

Opfer  der  Weiberrache,  ein  Trauerspiel  in  5  Aufzügen  aus  der  spanischen  Geschichte 
des  elften  Jahrhunderts.     Dresden   1794**. 

*)  Spätere  deutsche  Reisende  haben  lange  nicht  wie  Frischer  für  die  Spanierinnen 
geschwärmt.  So  hat  der  Schweizer  Studer  im  Jahre  1807  folgendes  Bild  entworfen  (vgl. 
H.  Morf  ^Pestalozzi  in  Spanien**  im  „Neujahrs-Blatt  der  Hülfsgesellschaft  von  Winter- 
thur**.  Winterthur  1876.  S.  11.  Ins  Spanische  übersetzt  im:  „Boletin  de  la  Institucion 
Itbre  de  Enseiianza**,  B.  XI.  (1887):  „I^ic  Spanierin  ist  äufserst  stolz  und  eigensinnig, 
anmafsend,  ungenügsam,  intriguant  und  eifersüchtig.  Bigotismus  is{  zwar  dem  ganzen 
Volke  eigen,  eingesogen  mit  der  Muttermilch,  aber  ganz  besonders  zeichnen  sich  die 
Schönen  aus,  und  ihre  Andacht  trägt  den  Bonzenschwarm  Iberiens  im  Beichtstuhl  Früchte 
aller  Art.  Als  Gattin  ist  die  Spanierin  gewifs  nicht  zu  empfehlen.  In  ihrem  Wesen 
liegt  das  Reine,  Rdle,  Keusche  nicht,  das  in  dem  Herzen  eines  deutschen  Weibes  wohnt, 
und  Häuslichkeit  und  Weiblichkeit  sind  diesen  Ohren  ohne  Sinn". 

')  Der  Name  Valencia  allein  übte  auf  unseren  Fischer  einen  unbezwinglichen  Zauber, 
ähnlich  wie  ihn  der  Deutsche  noch  heute  empfindet,  wenn  der  Zigeunerhauptmann 
in  Wolffs  «Preciosa**    das  Zeichen;    „Auf   nach  Valencia"    zum   Aufbruch    giebt.      Köst- 

ZUchr.  f.  vgl.  Litt-Geach.    N.  P.  VIII.  22 


886  Artiir  Parinelli. 


Im  gesellschaftlichen  Verkehr  der  Spanier  ist  alles  lebhaft,  munter 
und  fröhlich.  Die  Schilderungen  düsteren,  finsteren,  geheimnisvollen, 
verhüllten  spanischen  Lebens  erscheinen  erst  später  in  deutschen  so- 
wohl wie  in  französischen  Reiseberichten.  Eine  freie  und  volle 
Ausgelassenheit  herrscht  in  den  Tertulias.  (Gem.  v.  Mad.  I,  441) 
Zwischen  beiden  Geschlechten  waltet  die  gröfste  Vertraulichkeit.  Keine 
Spur  von  ängstlicher,  klösterlichen  Steifheit.  Alles  atmet  hier 
Wonne  und  Freude.  Die  Quelle  der  Fröhlichkeit,  meinte  Kaufhold 
(I,  231)  liegt  in  dem  Spanier  selbst,  und  er  braucht  sie  nicht  erst 
wie  der  phlegmatische  Deutsche  aus  der  vollen  Flasche  herzuleiten. 
So  hat  der  über  die  spanische  Heiterkeit  hochentzückte  Kaufhold  im 
privaten  und  öflfentlichen  Leben  der  Spanier  eine  wahre  Arkadia  ge- 
sehen. Hatte  Voltaire  einige  Jahrzehnte  vor  ihm  im  „Essais  sur  les 
moeurs**  (Kap.  177)  von  Spanien  behauptet:  „Tout  le  monde  jouait 
de  la  guitarre  et  la  tristesse  n'en  etait  pas  moins  repandue  sur  la  face 
de  TEspagne",  so  fand  der  Deutsche  dagegen,  dafs  Guitarra  und 
Guitarreros  die  allgemeine  Fröhlichkeit  in  Spanien  nährten  und  unter- 
hielten. Nach  ihm  ist  kein  Spanier  ohne  Guitarra*),  keine  Spanierin 
ohne  Castanetas.  Den  spanischen  Typus,  den  später  die  französischen 
Romantiker,  die  Hascher  nach  der  Couleur  locale  in  die  Mode  brachten, 
erscheint  hier  schon  in  voller  Rüstung  (I,  180).  Wenn  das  Essen 
vorbei  ist,  so  geht  es  an  Spielen  und  Tanzen,  jeder  Spanier  versteht 
die  Guitarra  zu  spielen  und  träg^  dies  Lieblings-Instrument  überall 
mit  herum  (I,  36).  Überall  erschallt  die  mimtere  Guitarra  und  über- 
all tönen  Gesänge  wieder,  sowohl  in  Häusern  als  auf  Strafsen;  „der 
nämliche  Nationalgesang,  der  mich  des  Abends  in  Schlaf  wiegt, 
weckt  mich  auch  des  Morgens  wieder;    singend   legen   sich   hier  die 


lieh  ist,  was  sonst  Fischer  über  Liebe,  Brautwerbung  und  Hochzeiten  in  Valencia  be- 
richtet.  Köstlich  auch  sein  malsloser  Enthusiasmus.  Am  ergötzlichsten  ist  wohl  folgende 
Stelle  (Gem.  v.  Valencia  II,  131):  «Söfs  und  entzückend  hatte  das  junge  Weib  empfangen, 
leicht  und  fröhlich  vollendete  sie  ihre  Schwangerschaft.  Ohne  Schmerzen,  ohne  Gelahr 
geht  das  holde  Kind  aus  ihrem  SchoCs  hervor,  eine  schöne  Blüte,  die  ihre  Knospe  zer- 
sprengt! —  Welche  Eltern!  Welches  Vaterland!  —  Ach,  und  ihr  könnt  noch  fragen, 
warum  der  Genius  im  Norden  so  selten  ist?" 

')  Eine  Guitarre  aus  Spanien  hätte  W.  v.  Humboldt  an  Gottfried  Kömers  Frau  nach 
seiner  Reise  gebracht,  wenn  er  sich  nicht  überzeugt  hätte,  dafs  in  Spanien  selbst  alle 
guten  Guitarren  aus  England  kamen.  Vgl.:  „W.  v.  Humboldts  Ansichten  über  Ästhetik 
und  Litteratur.  Seine  Briefe  an  Christian  Gottfried  Köm  er  hrg.  v.  F.  Jonas".  Berlin  1880: 
(am  30.  Mai  1800).  Vgl.  auch  S.  107:  „Aus  Spanien  verschaffe  ich  Ihnen,  und  hoffent- 
lich bald,  ein  Packet  Nationalmusik,  die  merkwürdig  seyn  soll,    obgleich  Sie    das    Ohr 


Spanien  u.  die  spanische  Litteratur  im  Lichte  der  deutschen  Kritik  u.  Poesie.  HI.      837 

Mägde,  die  in  andern  Ländern  zum  Schweigen  verdammt  sind,  nieder 
und  singend  stehen  sie  wieder  auf,  und  frohe  Gesänge  erleichtern 
ihnen  alle  ihre  häuslichen  Beschäftigungen.  Alles  singt,  selbst  Kinder 
auf  der  Strafee,  und  alles  scheint  nur  Freude  und  Vergnügen  zu 
atmen".  Seltsam  gewifs  diese  spanische  Musikmanie  (Bf,  194).  »Der 
muntere,  feurige  Geist  der  Nation  stimmt  alles  zum  singen  imd  dichten" 
Ol  243)-  So  vergifst  der  nur  Liebe  und  Vergnügen  atmende  Spanier 
die  ganze  Welt,  seine  oft  knappen  Umstände,  seinen  Gram  und  seine 
Not  und  setzt  sich  im  gleichen  Rang  mit  den  Kindern  des  Glücks, 
mit  denen  er  gleiches  Vergnügen  geniefst. 

Für  die  Kunst  Spaniens  haben  unsere  drei  Reisenden  wenig  Ver- 
ständnis. Sie  wissen  von  den  vielen  Schätzen  der  spanischen  Malerei 
und  der  spanischen  Architektur  nichts  zu  berichten.  Höchstens  widmet 
Fischer  im  „Gemälde  von  Madrid"  einige  Seiten  einer  trockenen  Auf- 
zeichnung der  vorzüglichsten  Malereien,  welche  den  Residenzpalast 
schmücken.  Kaufhold  (I,  93)  prahlte,  dafs  er  mit  der  Reise  den 
Antonio  Ponz  (Fortsetzung  des  De  la  Puente)  in  der  Hand  da 
und  dort  herumirrte;  er  betrachtete  aber  gleichgütig  die  darin  ge- 
schilderten Gegenstände,  er  schilt  sogar  den  Spanier,  dafs  er  seine 
Nation  vollgepfropft  mit  Meisterwerken  hatte  schildern  wollen*). 

„Reiset  ruhig  nach  Spanien!  Die  Zeiten  der  Finsternis  sind  vorüber, 
die  Autosdafe  vergessen!  ...  Jude  oder  Heide;  Niemand  bekümmert 
sich  darum",  hatte  Fischer  (Gem.  von  Madrid  S.  332)  seinen,  Landes- 
genossen zugerufen.  Kauthold  dagegen  gibt  uns  noch  vor  Schlufs 
des  Jahrhunderts  ein  haarsträubendes  Bild  vom  Rückstande  der 
spanischen  Justiz  (I,  130  ff.)  und  dem  Druck  der  spanischen  Censur, 
von  der  grausamen  Gewalt  und  den  Taten  der  Inquisition.  Er  hebt 
die  Schattenseiten    hervor    und    häuft    Tadel    auf  Tadel    gegen    die 


niclit  angenehm  rührt,  mit  Guitarrenbegleitung  für  Ihre  Frau".  Sehr  interessant  und 
nunmehr  selten  ist  die  von  Fischer  (Reise.  S.  458)  angeführte,  mehrfach  wiedergedruckte: 
^»Coleccion  de  las  mejores  coplas  de  seguidillas  volos  y  tiranas,  para  cantar  d  la  guitarra, 
divididas  en  cinco  clases,  con  un  discurso  preliminar  sobre  el  bayle  espanol  y  müsica 
nacional".  (II  Ausg.  Madrid  1799;  III.  Madrid  1805  in  2  B.;  IV.  Madrid  i8i6).  —  ,,Der 
Spanier  mit  der  Mandoline"  ist  ein  Titel  eines  zu  Leipzig  1803  erschienenen  Buches  in 
2  Teilen  mit  Kupfern  von  Penzel. 

*)  Unbekannt  war  unseren  Reisenden  die  deutsche  Übersetzung  des  Werkes 
Palominos:  ,,Don  Antonio  Palomino  Velasco  Leben  aller  spanischen  und  fremden  Maler, 
Bildhauer  und  Baumeister,  welche  sich  in  Spanien  durch  ihre  Werke  berühmt  gemacht 
haben;  ins  Deutsche  übersetzt,  und  mit  dem  Leben  des  berühmten  Raphael  Mengs  ver- 
mehrt".    Dresden  1781. 

22* 


838  Artur  ParinelU. 


priesterliche  Intoleranz,  gegen  den  beschränkten  mönchischen  Geist, 
der  alles  Blühen  und  Gedeihen  in  Dämmen  halte.  Sein  düsteres  Bild 
schmückt  er  noch  mit  der  Erzählung  von  bedenklichen  Tatsachen  aus. 
Er  ist  Zeuge  von  manchen  Greueltaten  gewesen,  und  während  er 
anfanglich  von  seinem  Aufenthalte  in  Madrid  Erquickung  und  Trost 
empfand  und  gestanden  hatte  (I,  38),  es  sei  ihm,  als  ob  er  wirklich 
neues  Leben  bekäme,  verabschiedet  er  sich  von  der  Hauptstadt  wie  ein 
Vogel  von  seinem  Käfig;  es  sind  ihm,  sagt  er,  Zentnerlasten  von 
seiner  Brust  gefallen  und  blickt  zurück  (II,  384)  auf  das  stolze,  üppige 
Madrid,  „wo  geistlicher  und  weltlicher  Despotismus  die  Menschheit  in 
eiserne  Fesseln  geschlagen  hat,  die  nun  ihre  Niederträchtigkeit  und 
ihre  Schande  in  schwelgerischen  Vergnügen  zu  vergessen  sucht". 

„Der  Spanier",  meinte  Kaufhold  (II,  184),  „ist  von  Natur  aus 
scharfsinnig,  feurig  und  zu  jeder  Wissenschaft  geschickt;  es  bedürfte 
also  nur  eines  Stofses  von  oben  herab,  um  den  Geist  der  Nation  zu 
wecken".  Ahnlich  sagte  Fischer  (Reise.  S.  329):  „Könnten  die 
Spanier  alle  Fächer  ungehindert  bearbeiten,  sie  würden  den  übrigen 
Nationen  in  Allem  nacheifern".  Statt  aber  das  Genie,  die  natürlichen 
Anlagen  zu  fördern,  werden  sie  in  ihren  Keimen  erstickt.  „Der  hiesige 
Mönchsgeist  ist  die  gefahrliche  Klippe,  an  der  schon  so  manches 
litterarisches  Unternehmen  gescheitert  ist"  (Kaufhold  11,  199).  Der 
Spanier,  der  nach  Aufklärung  strebt,  hat  eine  herkulische  Arbeit  vor 
sich  (I,  305);  die  Vernunft  wird  als  die  gefahrlichste  Feindin  ver- 
schrien (I,  297).  Helle  Köpfe  müssen  gleich  der  Finsternis  anheim- 
fallen. 

Über  die  Religion  in  Spanien  hat  J.  Georg  Rist  in  seinen  „Lebens- 
erinnerungen" am  Anfang  des  Jahrhunderts,  am  schönsten  und  tref- 
fendsten geurteilt.  Die  Religion,  meinte  Kauf  hold  (I,  271),  ist  dem 
Spanier  nichts  als  eitle  Ceremonien,  die  nur  die  Sinne  füllen,  das 
Gehirn  erhitzen  und  das  Herz  leer  lassen.  „Liebe  und  Bigotismus 
und  Bigotismus  und  Liebe  sind  die  zwey  Hauptbeschäftigungen  des 
Spaniers;  nimm  ihm  diese,  und  du  hast  ihn  zu  einem  Klotze  gemacht". 
Ahnlich  Link  (I,  84):  „Die  Religion  ist  der  Stolz  und  die  Belustigung 
der  Spanier"  und  (I,  236)  :  „Man  geht  in  die  Messe,  weil  man  keinen 
anderen  Spaziergang  hat;  man  liebt  die  Ceremonien  der  Religion, 
weil  man  Zeitvertreib  sucht;  man  folgt  den  Prozessionen,  wie  man  zur 
Oper  läuft**.  In  der  Beobachtung  des  Äufserlichen  der  Religion  über- 
treffen aber  die  Portugiesen  noch  die  Spanier.  Eine  Frage  wurde 
einmal  von  einem  Portugiesen  aufgeworfen  (I,  237),  ob  es  eine  gröfsere 


Spanien  a.  die  spanische  Litteratur  im  Lichte  der  deutschen  Kritik  u.  Poesie,   m.     339 

Sünde  sei,  am  Fasttag  Fleisch  zu  essen  oder  das  sechste  Gebot  zu 
übertreten,  und  der  Schlufs  war  allgemein,  das  letztere  sei  eine  Kleinig- 
keit gegen  das  erstere^). 

Moderne  Ideen  können  schwerlich  in  Spanien  Eingang  finden. 
Die  Bildung  zeigt  seit  Jahrhunderten  keinen  Fortgang.  Vor  jedem 
fremden  Willen  bewahrt  man  eine  heilige  Scheu  (Kauf hold  I,  302). 
Von  fiüher  Jugend  an  hat  man  dem  Spanier  Mifstrauen  gegen  fremde 
Schriftsteller  eingeflöfst,  „er  flieht  sie  daher  so  wie  die  Pest".  An 
keiner  Universität  sind  öflfentliche  Lehrer  für  firemde  Sprachen  an- 
gestellt (II,  175)-  Die  Bibliotheken  sind  reich  an  Bänden  und  inhalt- 
lich arm.  In  neueren  Zeiten  hat  man  zwar  mehr  Mittel  für  die  Er- 
werbung fremder  Bücher  verwendet  als  ehemals  (II,  166)"  die  besten 
englischen  und  französischen  Autoren  sind  zwar  in  den  zwei  öffent- 
lichen Bibliotheken  (zu  Madrid)  vorhanden,  aber  als  Ketzer  sind  sie 
gleich  räudigen  Schaafen  aus  der  guten  Herde  ausgesondert"  (I,  302). 
Besonders  verworfen  waren  Werke  phUosophischen  Inhalts.  Fragt 
einer,  sagt  Kaufhold  nach  einem  Buch  über  französische  oder  eng- 
lische Philosophie,  so  antwortet  ihm  der  Bibliothekar  mit  einem 
Achselzucken:  „esto  es  libro  prohibido".  Auch  die  politischen 
Wissenschaften  sind  in  bedenklichem  Rückstande.  „In  Absicht  auf  Politik" 
(Kaufhold  I,  268)  „ist  der  Spanier  eine  wahre  Null!"  Er  schleppt 
eine  passive  Existenz  durch  das  bürgerliche  Leben  hin.  Staatsange- 
legenheiten, sowohl  innere  als  äufsere,  gleiten  wie  die  Bilder  des 
Traumes  an  seiner  spiegelglatten  Seele  vorbei,  ohne  eine  bleibende 
Spur  zu  hinterlassen. 

Dafs  sich  bereits  am  Schlüsse  des  Jahrhunderts  Deutsche  in 
Spanien  niedergelassen  hatten,  erzählt  Kaufhold  umständlich.  „In 
allen  spanischen  See-  und  etwas  ansehnlichen  Landschaften  sind 
deutsche  Kaufleute  etabliert"  (Kaufhold  I,  547).  Seit  undenklichen 
Zeiten  hatten  Böhmen  den  Weg  nach  Spanien  und  Portugal  einge- 
schlagen. Gewöhnlich  kamen  sie  ganz  jung  nach  Spanien,  sie 
heirateten  dann  in  ihrer  Heimat,  sobald  sie  ein  wenig  Geld  in  der 
Fremde  zusammengebracht  hatten,  und  kehrten  dann  wieder  zu  ihrem 
Geschäfte  zurück.  Germanische  Elemente  waren  vor  allem  in  die 
Armee  eingedrungen.     Den    fremden    deutschen  Soldaten   im  Dienste 

')  UndKaufliold  (I,  217  f.):  n^^^  Messe  an  Festtagen  zu  versäumen,  ist  ihm  (dem 
Spanier)  eine  der  gröfsten  Sünden;  die  Fastengesetze  hält  er  mit  gewissenhafter  Pünkt- 
lichkeit; dagegen  ist  es  ihm  nur  Kleinigkeit,  seinen  Mitmenschen  zu  verraten,  seinen 
Feind  zu  ermorden  und  selbst  an  Festtagen  Löcher   in    das  sechste  Gebot  zu  machen". 


840  Artur  FarinellL 


Spaniens  zog  Kaufhold  die  einheimischen  vor.  Die  ersteren  (I,  607) 
sind  „langsam",  „unbehülflich"  und  „schwerfallig",  die  letzten  dagegen, 
voll  „Feuer  und  Leben".  Die  Behauptung  Kaufholds:  Die  OflSciere 
„seien  lauter  gebohrene  Schweizer",  ist  wohl  nicht  stichhaltig. 
Fischer  hat  (Reise.  S.  360  ff)  interessante  Nachrichten  von  der  Be- 
schaffenheit der  spanischen  Armee  gegeben.  Die  sogenannten  Schweizer- 
regimenter und  wallonischen  Garden  sind  fast  aus  lauter  Deutschen 
und  Österreichern  zusammengesetzt.  So  ist  das  neue  Schweizer- 
regiment  Kurton  (1792)  „ganz  aus  Österreichern  errichtet  worden 
und  ebenso  findet  man  auch  bey  anderen  Regimentern  oft  ein  Drittefl 
Österreicher  in  den  Compagnien"  ^).  Von  dem  barbarischen  Rekruten- 
handel in  Spanien,  welcher  besonders  von  den  Familien  Redling, 
Betschland,  Rütimen,  Schwollen  in  grofsem  Mafsstabe  betrieben 
wurde,  ist  schon  früher  (II.  Teil)  die  Rede  gewesen.  —  In  Portugal 
(Link  I,  143  f.)  hat  eigentlich  der  Graf  von  Schaumburg-Lippe,  Herders 
und  Zimmermanns  ^)  langjähriger  Freund  und  von  dem  letzten  in  der 
„Einsamkeit"  gepriesen,  eine  eigentliche  ständige  Armee  geschaffen. 
Der  Name  dieses  „aufserordentlichen  Mannes"  (o  conde  de  Lippe  — 
o  gran  conde)  war  stets  im  ganzen  portugiesischen  Volke  mit  Ver- 
ehrung ausgesprochen  ').  In  portugiesischen  Dienst  stand  auch  (Link 
I,  144),  der  Prinz  von  Waldeck,  „der  liebenswürdigste  Mann,  den 
Deutschland  Portugal  schenken  konnte".  —  Manche  öffentliche  Stellen 
in  der  Halbinsel  werden  von  Deutschen  verwaltet.  Im  Berg-  und 
Minenbau  besonders  haben  sich  Deutsche  eingeschlichen.  Ein  Deutscher 
(Kaufhold  II,  205)  ist  Direktor  in  der  Almaden,  das  Ministerium  hat 
ihn  beauftragt,  junge  Leute  im  Bergwesen  zu  unterrichten.  Deutsche  sind 
es,  welche  die  Naturwissenschaften,  die  Mineralogie  vorzüglich,  in  Spanien 
pflegen  (Link  I,  109).  Der  chursächsische  Gesandte,  Baron  von  Forell,  ein 
Mann  von  vorzüglichen  Kenntnissen,  unterstützt  Gelehrte  in  Spanien, 
ist  selbst  ein  eifriger  Sammler,  er  veranlafst  Christian  Herrgen,  dem 
wir   später    als  Professor    in  Madrid    und  als  Bekannten  W.  v.  Hum- 


')  Vgl.  das  Kapitel:  „Die  Schweizerregimenter  in  spanischen  Diensten**  in  A.  Maag: 
„Geschichte  der  Schweizertruppen  im  Kriege  Napoleons  I.  in  Spanien  und  Portugal". 
Kiel  1893.  I,  17  ff. 

')  Vgl.  auch  R.  Ischer,  Joh.  Georg  Zimmermanns  Leben  und  Werke.  Litterarhisto- 
rische  Studie.     Bern  1893.     S.  129,  135. 

•)  Ein  interessantes  Urteil  über  den  Grafen  von  Schaumburg-Lippe  fmdet  sich  in 
den  „Briefen  von  Carlyle  an  Varnhagen  v.  Ense.**  Deutsche  Rundschau  1891  April, 
S.  115. 


Spanien  u.  die  spanische  Litteratar  im  Lichte  der  deutschen  Kritik  u.  Poesie.  lU.    341 

boldts  begegnen  werden  *),  Wedemanns  „Handbuch  der  Mineralogie" 
ins  Spanische  zu  übersetzen  ^).  Zu  den  korrespondierenden  Mitgliedern 
der  Akademie  der  Wissenschaften  in  Lissabon  zählt  obenan,  seines 
Vornamens  wegen,  Abraham  Kastner  (Link  III,  199). 

Akademien  und  Universitäten  sind  in  Spanien,  nach  Kaufhold,  in 
elendem  Zustande;  die  Begriffe  von  Aberglauben  und  Dummheit,  wozu 
der  Grund  schon  in  den  unteren  Schiden  gelegt  wird,  werden  erst  recht 
in  diesen  höheren  Anstalten  ausgebildet.  Besser  sind  die  Schulen  in 
Portugal.  Die  Universität  Coimbras,  sagte  Link  (II,  27  f.)  zählt  mehr  als 
800  Studierende,  sie  „übertrifft  bey  weitem  alle  spanische  Uni- 
versitäten (Salamanca  nicht  ausgenommen):  ja,  es  giebt  wahrlich 
sehr  viele  Universitäten  in  Deutschland,  welche  in  Rücksicht  der 
zweckmäisigen  Anstalten  ihrer  sehr  verachteten  portugiesischen  Schwester 
weit  nachstehen  müssen."  —  Unter  den  Professoren  der  Universität 
Coimbras  traf  Link  (II,  37  ff.)  einige  helldenkende,  lebhafte  Männer, 
welche  durch  die  portugiesische  Höflichkeit  noch  liebenswürdiger 
wurden,  mit  der  französischen  und  englischen  Litteratur  vertraut 
waren.  Der  Botaniker  Brotero  (Link  I,  39)  kannte  auch  die  Schriften 
der  Deutschen  und  studierte  Hedwig  ').  Ein  Mann  der  Wissenschaft 
konnte  sich  aber  schwerlich  sowohl  in  Spanien,  wie  in  Portugal  einen 
Namen  machen  (Link  I,  114). 

Ein  solches  Bild  von  Spanien  haben  Kauf  hold,  Fischer  und  Link  un- 
mittelbar vor  Anbruch  des  neuen  Jahrhunderts  entworfen.  Beinahe  zur 
gleichen  Zeit  wie  unsere  drei  Reisenden  betreten  zwei  der  gröfsten,  der 
klarsten,  der  tiefsinnigsten  Deutschen  das  schöne,  verkannte  Land: 
Alexander  und  Wilhelm  v.  Humboldt.  Ihre  Reiseerinnerungen  aber,  die 
Briefe  des  letzteren  vornehmlich,  welche  an  Freunde  und  Bekannte  in 
die  Heimat  geschickt  wurden,  müssen  später  im  Zusammenhange  mit 


')  ^S^*  «Goethes  Briefwechsel  mit  den  Gebrüdern  v.  Humboldt**.  S.  173  und 
Fischer,  Reise.  S.  246. 

')  Vgl.  den  Artikel  über  Herrgen  In  Eug.  Maffei  y  Ramon  Rua  Figueroa:  „Apuntes  para 
una  Biblioteca  espaAola  de  libros,  folietos  y  artfculos,  impresos  y  manuscritos,  relativos 
al  conocimiento  y  explotadon  de  las  riquezas  minerales  y  4  las  ciencias  auxiliares**. 
Madrid  1871  I,  351  ff. 

*)  Auch  des  Valencianers  Cavanilles  gedenkt  Link  in  seiner  Reise.  Er  gehört  zu 
den  geschätztesten  Gelehrten  Spaniens  (I,  113).  „Schade  aber,  dafs  er  sich  von  zwey 
Fehlem  der  spanischen  Schriftsteller  nicht  losmachen  kann.  Er  ist  zu  streitsüchtig  — 
und  seine  spanischen  Schriften,  besonders  seine  sonst  vortreffliche  Reisebeschreibung 
vom  Königreich  Valencia  ist  in  einem  schwülstigen  Styl  geschrieben*^. 


843  Artur  Farinelli. 


Goethes  Beschäftigung  mit  Spanien  und  mit  der  spanischen  Litteratur 
besprochen  werden  *). 

XIV. 

Über  spanische  Litteratur  flössen  die  Urteile  der  Deutschen 
vor  dem  Auftreten  der  Romantiker  äufserst  spärlich.  Vernünftige 
Urteile  überhaupt  dürfen  wir  nur  von  unseren  Reisenden  erwarten, 
welche  lange  im  Lande  selbst  verweilt  hatten,  mit  der  fremden  Sprache 
mehr  oder  weniger  vertraut  waren.  Was  wir  sonst  da  und  dort, 
meist  unter  dem  Schutte  veralteter,  unverdaulicher  gelehrter  Abhand- 
lungen finden,  bietet  zwar  ein  gewisses  historisches  Interesse;  im  grofsen 
und  ganzen  ist  sie  dem  Geschichtsschreiber  der  Litteratur  von  geringem 
Nutzen  und  beinahe  wertlos. 

Calderon  war,  trotz  Gerstenbergs  begeisterten,  aber  rasch  ver- 
rauschenden Lobes,  den  Deutschen  vor  1800  ein  leerer  Name  und 
harrte  noch  auf  die  Apotheose  der  Romantiker.  Für  Lope  war, 
Ende  der  80er  Jahre,  Butenschön  begeistert,  aber  gewifs,  ohne  ihn 
je  gelesen  zu  haben.  Die  kümmerliche  Geschichte  des  Studiums  der 
Poesie  Lope's  in  Deutschland  bis  Grillparzer  habe  ich  anderswo  er- 
zählt^). —  Nur  Cervantes  „Don  Quixote"  behielt  seine  unverwüst- 
liche Macht,  ergötzte  und  belehrte  selbst  die  gröfsten  unter  den 
deutschen  Dichtem.  Auch  die  „Novelas  exemplares*'  und  der  „Per- 
siles**  fanden  Leser  in  den  Übersetzungen  des  Grafen  Julius  von 
Soden.    —   Nach    Mainhardts   verstümmeltem    Fragment    einer   Über- 


*)  Wilhelm  v.  Humboldt  spricht  einmal  in  einem  seiner  Briefe  an  Goethe  (Rom, 
IG.  Dezember  1802)  von  Uhden  (Job.  Dan.  Wilh.  Otto),  welcher  Goethe  empfohlen 
sein  wollte  und  ^seinen  zwölfjährigen  Aufenthalt  in  Spanien  vortrefflich  benutzt, 
eine  ungeheure  Menge  Materialien  und  selbst  viele  Sachen  gesammelt**  hatte  und  sehr 
gut  über  alles,  was  Goethe  nur  irgend  wünschte,  Auskunft  geben  konnte.  Hier  liegt 
gewifs  entweder  ein  lapsus  Humboldts  oder  ein  Druckfehler  im  Text  vor.  Es  soll  statt 
Spanien,  Italien  heifsen.  Uhden  hatte  ja  Anfangs  der  90  er  Jahre  Italien  bereist  und 
war  bis  zu  seiner  Abberufung  nach  Berlin  (Dezember  1802),  königlicher  Resident  in  Rom. 
Alle  Kunstgelehrtcn  Italiens  seiner  Zeit  waren  durch  Freundschaft  mit  ihm  verbunden. 
Vgl.  Neuer  Nekrolog  der  Deutschen  (1835  XIII,  85—88). 

Auf  die  scharfsinnigen  Bemerkungen  über  Spanien,  seine  Kultur  und  seine  Re- 
gierung des  Sandoz-Rollin,  preufsischen  Gesandten  am  spanischen  Hofe,  die  noch  als 
Ms.  im  geh.  Staatsarchive  zu  Berlin  aufbewahrt  bleiben,  hat  H.  Baurogarten  in  der 
Hauptsache  seine  ^Geschichte  Spaniens  zur  Zeit  der  französischen  Revolution**,  Berlin 
i86i  gestützt.     Vgl.  das  Vorwort  S.  VII. 

')  In  der  Einleitung  meines  Buches  „Grillparzer  und  Lope  de  Vega*.     Berlin  1894. 


Spanien  u.  die  spanische  Litteratur  im  Lichte  der  deutschen  Kritik  u.  Poesie.  III.     343 

Setzung  von  Camoes  Lusiade  hatte  Siegraund  von  Seckendorf  (nicht 
Gerstenberg,  wie  Buchholz  in  seinem  „Handbuch  der  spanischen 
Sprache  und  Litteratur.  Poetischer  Teil".  Berlin  1804.  S.  68  behauptet) 
den  I.  Gesang  des  berühmten  Epos  für  Bertuchs  „Magazin  der  spanischen 
und  portugiesischen  Litteratur"  übersetzt.  Vater  Gleim  las  Camoes 
wie  er  an  Heinse  berichtet,  (Halberstadt,  16.  Januar  1779)  im  Jahre 
1779  in  der  englischen  Übersetzung  Mickles  (II.  Ausg.  Oxford  1778): 
„Ich  lese  mit  grofsem  Vergnügen,  aber  leider  zu  oft  unterbrochen:  The 
Lusiad,  translated  from  the  original  Portuguese*  of  Luis  de  Camoens 
by  Mickle**  *).  —  Von  kleineren  Gestirnen  der  spanischen  und  portu- 
giesischen Litteratur  ist  kein  Strahl  nach  Deutschland  gedrungen, 
wenn  auch  hie  und  da,  meist  nach  französischen  Berichten,  dies  oder 
jenes  Buch  angeführt  wurde.  Die  weitläufigen  Rubriken  über  die 
ganze  Litteratur  der  iberischen  Halbinsel  lieferten  nur  verstümmelte 
Namen.  So  ist  schon  in  der  Albrecht  von  Haller  gewidmeten  deutschen 
Übersetzung  des  „Aparato  para  la  historia  natural  Espafiola"  des 
Torrubia  ein  „Anhang  über  die  portugiesische  Litteratur"  (S.  137  ff.) 
aus  der  Feder  des  uns  schon  bekannten  Christoph  Gotdieb  von  Murr 
eingerückt  ^,  ein  ziemlich  wüster  Kram,  worin  aus  allen  Wissenschaften, 
aus  der  alten  und  neuen  Litteratur  Titeln  von  Büchern  verzeichnet 
werden.  Obwohl  Murr  aus  dem  20 bändigen  Werke  des  Luiz  Antonio 
Verney  „Verdadeiro  methodo  de  estudar",  welches  am  besten  über  die 
portugiesische  Litteratur  unterrichten  sollte,  aufmerksam  macht,  hat  er 
selbst,    so  oft  er  Camoes,  Ferreira,    Sa  de  Miranda  und  die   neueren 


*)  „Briefe  zwischen  Gleim,  Wilhelm  Heinse  und  Johann  von  MQller  —  hrsg.  v.  Körte". 
Zürich  1806.  1,  390.  —  Eine  dritte,  verbesserte  Ausgabe  der  Übersetzung  Mickles  er- 
schien zu  London   1798. 

')  „Des  Vaters  Josephs  Torrubia.  Vorbereitung  zur  Naturgeschichte  von  Spanien. 
Aus  dem  Spanischen  übersetzt  und  mit  Anmerkungen  begleitet,  nebst  Zusätzen  und  Nach- 
richten, die  neueste  portugiesische  Litteratur  betreffend,  von  Christoph  Gottlieb  v.  Murr". 
Halle  1773.  Murr  gab  auch  später  von  Zeit  zu  Zeit  in  seinem  „Journal  zur  Kunstge- 
schichte und  zur  allgemeinen  Litteratur**  einige  verwirrte  Nachrichten  und  Misccllen  über 
die  portugiesische  Litteratur.  Im  XIV.  Teil  (Nürnberg  1787)  werden  einige  lateinisch 
geschriebene  Bemerkungen  eines  Jesuiten  über  die  von  Prof.  Sprengel  zu  Halle  aus  der 
französischen  Obersetzung  in  Deutschland  bekannt  gemachten  „Letters  on  Portugal**, 
dann  einige  „Responsiones  ad  Epigrammata  Joannis  de  Iriarte"  (1771),  im  XVI.  Teil 
(1788):  „Varia  de  vita  P.  Gabrielis  Malagrida,  und  Excerpta  nonnulla  Ulyssiponensi- 
bus"  u.  s.  w.  mitgeteilt.  S.  137  der  Obersetzung  Torrubias  ist  von  einigen  „älteren 
Nachrichten  von  der  portugiesischen  Litteratur**,  in  Herrn.  Blacksfords  „neuern  Schriften 
der  Ausländer  und  der  Deutschen**  (Wien  177 1)  die  Rede,  welche  ich  nicht  kenne.  Es 
wird  wohl  eine  Übersetzung  aus  fremden  Berichten  sein. 


BU  Artur  FarineUi. 


Jose  de  Sousa,  Domingo  dos  Reis  Quita  erwähnt,  die  trockene  Ge- 
schichte Diezes  vor  Augen.  Er  liefert  nichts  als  ein  hohles  Gerippe 
von  Namen.  So  verzeichnet  er  unter  anderen  die  ,,Noticias  de  Por- 
tugals^ des  Manuel  Severim  de  Parias,  die  ,,Bibliotheca  Lusitana^^  des 
Barbosa  Machado  (Lisbona  1759),  die  „Gazeta  Litteraria"  des  Fran- 
cisco Bernardo  de  Lima  (Porto  1760)  und,  die  Kunst  betreffend,  die 
„Raridades  das  Naturaleza  e  da  Arte"  (Padilla  1759)^)-  —  Die  Vor- 
rede zur  „Portugiesischen  Grammatik"  (Frankfurt  a.  d.  O.  1778)  des 
Johann  Andreas  von  Junk  (1763  war  er  Officier  im  Dienste  Portugals) 
brachte  auch  einiges  über  Camöes*)  und  die  Obersetzung  der  ganzen 
Episode  der  Inez  de  Castro.  Junk  hat  aber  den  Geist  der  Dichtung 
des  grofsen  Portugiesen  völlig  mifsverstanden;  er  hat  nur  Tadel  auf 
Tadel  angehäuft  und  eine  seichte,  nahezu  triviale  Kritik  geliefert,  welche 
einige  Zeitgenossen  empörte'). 

Als  der  Göttinger  Professor  T.  C.  Tychsen,  Heynes  Lieblings- 
schüler, der  Vater  der  durch  ihren  frühen  Tod,  durch  die  Liebe  und  die 
Elegien  Ernst  Sdnulzes  berühmt  gewordenen  Caecilie*),  die  um  1784, 
zur  Zeit  seiner^it  Prof.  Moldenhawer  aus  Kopenhagen  unternommenen 
gelehrten  Reise  durch  Spanien,  niedergeschriebenen  Aufzeichnungen 
über  den  gegenwärtigen  Zustand  der  Wissenschaft  und  Litteratur  in 
Spanien  als  Anhang  zum  II.  B.  des  von  Hofrat  Kayser  übersetzten 
Gemäldes  Bourgoings,  einrückte^  (1790),  machte  der  Übersetzer  den 
Leser  aufmerksam  (S.  V  der  Vorerinnerung),  dafs  eine  so  interessante 
Übersicht   „die    der  Litterator   bis  jetzt  noch    nirgends  fand*',    „blos 


*)  Die  im  Gothaischen  Theater- Journal  für  Deutschland  (1778)  gegebenen  Nach- 
richten über  die  ^Komödie  im  Portugal**  konnte  ich  leider  nicht  lesen. 

^)  Die  kleine  Schrift  Wilhelm  Storcks:  nCamoens  in  Deutschland.  Bibliographische 
Beiträge  zur  Gedächtnisfeier  des  Lusiadensängers**.  Kolozvar  1879,  aus  welcher  K.  v. 
Reinhardstoettner  einen  Auszug  in  portugiesischer  Sprache  machte:  („A  Pigura  poetica 
de  Camo^s  em  Allemanha".  Porto  1889)  ist  mir  nur  dem  Titel  nach  bekannt.  In  Joaquim 
de  Vasconcellos  Jubiläumsschrift  „Camoes  em  AUemanha.  Ensaio  critico  em  memoria 
do  terceiro  centenario.  Porto  1880**  wird  blos  die  Litteratur  des  19.  Jahrhuaderts  be- 
rücksichtigt. 

9)  Gegen  Junk  äulserte  sich  auch  Bouterwek  in  seiner  nC^eschichte  der  spanischen 
Poesie  und  Beredsamkeit**  (1804)  S.  154  y. 

*)  £.  Franzos  nEmst  Schulze  und  Caecilie  Tychsen**.  Deutsche  Dichtung  1890^93 
und  1894  „Ernst  Schulze  und  Adelheid  Tychsen**. 

')  „Des  Herrn  Ritters  von  Bourgoing  Neue  Reise  u.  s.  w.  mit  einem  Anhang 
des  Hrn.  Prof.  Tychsen  zu  Göttingen  über  den  gegenwärtigen  Zustand  der  spanischen 
Litteratur**.  B.  II.  (Jena  1790).  Auf  S.  343  bemerkt  Tychsen  ausdrücklich:  nHier  be- 
schliefse  ich  diesen  Aufsatz,  den  ich  schon  vor  fünf  Jahren  entworfen  hatte**. 


Spanien  u.  die  spanische  Litteratur  Im  Lichte  der  deutschen  Kritik  u.  Poesie.   III.     345 

Teutscher  Fleifs  und  Teutsche  Gelehrsamkeit,  welche  die  wissenschaft- 
lichen Reichtümer  fremder  Nationen  besser  kennt,  als  ihre  eigenen 
Besitzer,  liefern  konnte".  Trotz  dieser  Aufschneiderei  kommt  uns 
Tychsens  Bericht  recht  bescheiden  und  mager  vor.  Im  Sammeln  von 
Nachrichten  war  der  Göttinger  Professor  Reufs  behilflich,  welcher  im 
Jahre  1788  eine  spanische  Schrift  über  das  Inquisitionsgericht  über- 
setzte und  mit  Anmerkungen  versah').  In  der  allgemeinen  Un- 
wissenheit in  spanischen  Dingen,  welche  in  Deutschland  damals 
herrschte,  konnten  Tychsen  wie  Bertuch  als  Ratgeber  gelten  und  ihre 
Leistungen  leicht  übertrieben  werden.  Tieck,  der  unter  den  Roman- 
tikern mit  spanischer  Dichtkunst  am  besten  vertraut  war,  wurde  von 
Tychsen  zuerst  ins  Spanische  eingeführt.  Köpke  berichtet^),  dafs 
der  Göttinger  Professor  Vorlesungen  über  die  spanische  Litteratur 
hielt,  eine  Behauptung,  die  ich  sonst  nicht  zu  bekräftigen  vermag'). 
Der  mit  „teutscher  Gelehrsamkeit"  verfafste  Bericht  enthält  mehr 
Lob  als  Tadel  für  die  Spanier,  ein  „edles  und  geistvolles  Volk"  frei- 
lich, ein  Volk,  welches,  wenn  es  seine  litterarischen  Institute  vervoll- 
kommnen, die  Erziehung  verbessern  würde,  „keinem  der  übrigen  ge- 
bildeten Völker  unsers  Weltteils  nachstehen  würde"  (S.  343),  das 
aber  leider  gegen  jede  ausländische  Kultur  sich  verschlossen  zeigt  und 
eine  „fast  orientalische  Gleichgültigkeit"  (S.  328)  gegenüber  allem, 
was  in  der  Fremde  geschieht,  bewahrt.  —  In  einer  Zeit,  meinte 
Tychsen    (S.  343),  in  welcher  das  Poetische  zu  verschwinden  drohte. 


*)  ^Sammlung  der  Instruktionen  des  spanischen  Inquisitions-Gerichts.  Gesammelt  auf  / 
Befehl  des  Kard.  D.  Alonso  Manrique.  Aus  dem  Spanischen  übersetzt  v.  J.  D.  Reuü^. 
Nebst  einem  Entwurf  der  Geschichte  der  spanischen  Inquisition  v.  L.  T.  Spittler**.  Haii- 
nover  1788.  —  Spittlers  Bericht  geht  der  Obersetzung  Reufs'  voran.  Mit  Recht  wird 
auf  die  französischen  Einflüsse  in  der  modernen  Kultur  Spaniens  Nachdruck  gelegt. 
S.  LXI  ff.:  „Alles,  was  von  Aufklärung  nach  Spanien  kam,  kam  offenbar  nur  die  Pyrenäei 
herüber.  .  .  .  Eben  die  Schriftsteller,  die  zu  Frankreichs  politisch-religiöser  AufkJdrCfng 
am  meisten  gewürkt  haben,  sind  auch  unmittelbar  die  Lehrer  der  Spanier  geworden, 
weil  in  Spanien  fast  blos  französische  Lektüre  ist**.  Die  Schrift  endigt  mit  dem  unum- 
schränkten Lobe  des  „grolsen  Grafen  Campomanes**. 

^  K.  Köpke:  Ludwig  Tieck,   Erinnerungen  aus  dem  Leben  des  Dichters.     Leipzig, 

1^55'     h  151. 

')  Von  Tychsen  rührt  ein  Aufsatz  „Ober  die  alten  Kunstwerke  in  Spanien  **  (aus 
einem  Briefe  an  Hrn.  Hofr.  Heyne)  her,  in  der  von  Tychsen  selbst  und  A.  H.  L.  v.  Heeren 
redigierten  „Bibliothek  der  alten  Litteratur  und  Kunst  mit  ungedruckten  Stücken  der 
Escurialbibliothek  und  andern**.  I.  B.  I.  Stück.  Göttingen,  1786.  S.  90  ff.  —  Die  merk- 
würdigste Sammlung  von  Altertümern  in  Spanien  hat  Tychsen  in  Valencia  in  der  erz- 
bischöflichen Bibliothek  gesehen  (S.  looj. 


346  Artur  Farinelli. 


die  Vernunft  vorherrschend  war,  das  Genie  beschränkt,  die  kritische 
Wagschale  alles  wog  und  die  Dichter  in  dem  Mafse  weniger  wurden, 
wie  die  Philosophen  sich  vervielfältigten,  blieb  doch  Spanien  seiner 
alten  Überlieferung  treu  und  behielt  ein  gutes  Erbteil  seiner  alten 
Poesie.  Einen  Vorteil  haben  noch  die  Spanier  vor  den  Deutschen, 
„dafs  sie  noch  immer  ihre  alten  Dichter  schätzen,  da  bey  uns  gewöhnlich 
nur  das  Neueste  gesucht  wird  und  gefallt"  *).  Bourgoing  hatte  sich  um  die 
neuere  Litteratur  Spaniens  nicht  bekümmert;  Tychsen  in  seinem  An- 
hang berücksichtigt  blos  diese.  Er  spricht  rückhaldos  sein  Lob  aus; 
mit  starker  Überschätzung  sieht  er  überall  Talent  und  gute  Anlagen. 
Er  ist  in  Spanien  mit  den  jüngeren  Schriftstellern  und  Dichtem  zusam- 
mengetroffen^) und  will  nun  ihre  Namen  seinen  Vaterlandsgenossen 
verkündigen.  Am  vertrautesten  scheint  er  mit  dem  spanischen  Theater 
zu  sein.  Leider  gibt  er  kein  selbständiges  Urteil  über  die  erwähnten 
Stücke.  Von  Moratin  dem  älteren  nennt  er  die  „Hormesinda",  die 
„Lucrecia",  „Guzman  elbueno**  und  die  Satire  „Über  die  Fehler  des 
Theatergeschmacks"  („El  desengano  al  teatro  espanol");  vonColomes 
den  „Coriolan",  die  „Ines  de  Castro"  den  „Scipio",  von  Lopez  de 
Ayala  die  „Numancia  destruida".  Auch  den  „Sainetes"  des  Ramon  de 
la  Cruz    wird    Lob    gespendet.     Die  Lyrik   ist  durch  Iriarte,    dessen 

*)  Die  schönen,  prunkvollen  Ausgaben  spanischer  Dichter  des  16.  Jahrhunderts, 
welche  zur  Zeit  der  Reise  Tychsens  die  Druckereien  Madrids  und  Valencias  verlieisen, 
haben  sicher  unseren  Deutschen   zu  diesem  Urteil  bewogen. 

^)  Tychsen  hatte  sich  leider  in  eine  Polemik  mit  spanischen  Gelehrten  verwickeli, 
welche  sich  jahrelang  fortschleppte  und  welche  deutliche  Spuren  auch  in  den  Madrider 
Blättern  hinterlassen  hatte.  —  Einzelne  Verteidigungsschriften  Tychsens  sind  von  Spanlero 
übersetzt  worden.  So  kenne  ich  eine:  ^Carta  latina  del  Senor  D.  Olao  Gerardo  Tych- 
sen al  111  ^  Senor  D.  Francisco  Perez  Bayer,  con  su  traduccion  Castellana**  (Madrid 
17S6)  und  eine  „Vindicacion  de  la  refutacion  escrita  en  Castellano  por  el  Seöor  D.  Olao 
Gerardo  Tychsen  del  Consejo  de  S.  A.  S.  el  Duque  de  Mecklemburg,  traducida  fiel- 
mente  de  Latin  por  D.  Thomas  Fermin  de  Arteta"  (Madrid  1787).  Folgendes  Geständnis 
Tychsens  entnehme  ich  aus  einem  Briefe  an  Arteta:  „Raro  de  vestris  novis  Litterariis 
ccrta  notitia,  rarissime  ipsa  scripta  ad  nos  perveniunt,  nee  ullis  saepe  sumptibus  et  curis 
comparari  possunt,  ut  saepius  expertus  sum:  in  ephemeridibus  quidem  Gallids  libri  his- 
panici  Interim  recensentur.  Sed  tot  falsa  saepe  mixta,  et  jejune  dicta  reperi,  ut  levem 
his  fidem  tribuam**.  —  Im  „Memorial  literario"  (Oktober  1705;  S.  33 — 50)  steht  eine 
ziemlich  derbe,  linkische  „Historia  de  la  carrera  de  las  opiniones  del  Sr,  Tychsen  sobre 
las  monedas  Hebreo  Samaritanas**. 

Wie  Tychsen  geriet  auch  J.  J.  Hey  deck  in  Streit  mit  spanischen  Gelehrten  w^en 
seiner  „Ilustracion  de  la  inscripcion  Hebrea  que  se  halla  en  la  Iglesia  del  Trdnsito  de 
la  Ciudad  de  Toledo**  (Madrid  1795).  Vgl.  darüber  den  III.  Bd.  der  n^emorias  de 
la  Real  Academia  de  la  Historia"  (Madrid  1799,  S.  31  fi). 


Spanien  u.  die  spanische  Litteratur  im  Lichte  der  deutschen  Kritik  u.  Poesie,  m.    347 

Fabeln  und  Gredicht  über  die  Musik  auch  in  Deutschland  Beifall  fan- 
den, durch  Menendez  Valdes,  durch  Cadalso  vertreten.  Auch  werden 
die  lateinischen  Dichtungen  einiger  Spanier  wie  Marineros,  Ortegas*) 
und  andere  angeführt.  Den  Schlufs  der  Abhandlung  bildet  ein  „Ver- 
zeichnis einiger  Schriften,  die  in  den  letzten  Jahren  in  Spanien  heraus- 
gekommen sind".  Diese  sonst  recht  fleifsige,  bibliographische  Über- 
sicht über  die  verschiedenen  Zweige  der  Litteratur  und  der  Wissenschaft 
interessiert  uns  nur  insofern,  als  sie  Muster  fiir  spätere,  ähnliche, 
trockene  Schriftenrubriken  wurde,  und  weil  sie  bereits  einige  Werke 
angibt,  wie  der  ,.Parnaso  Espanol"  des  Sedano,  die  „Coleccion  de 
Poetas  Espanoles"  des  Ramon  Fernandez  (Pedro  de  Estala),  den 
„Ensayo  de  una  biblioteca  espanola"  des  Sempere  y  Guarino,  die 
„Coleccion  de  escritores  castellanos"  des  Sanchez,  die  „Memorias**  des 
Sarmiento,  den  „Teatro  histörico-critico  de  la  eloqüencia  espanola" 
des  Capmany,  welche  später  die  von  Begeisterung  fiir  die  spanische 
Dichtung  hingerissenen,  trunkenen  Romantiker  nicht  umsichtig  genug 
durchblätterten. 

Ende  der  8oer  Jahre  wollte  ein  Deutscher,  dessen  Name  heutzu- 
tage zu  den  verschollenen  gehört,  seine  Landsleute,  Jünglinge  insbe- 
sondere, die  sich  mit  den  schönen  Wissenschaften  beschäftigten,  auf 
eine  Quelle  aufmerksam  machen,  „aus  der  sie  unzählige  Goldkörner 
schöpfen  könnten".  Diese  Quelle  war  die  spanische  Litteratur,  der 
Deutsche  war  Johann  Friedrich  Butenschön*).  Eine  Übersetzung  aus 
dem  „Persiles  y  Sigismunda"  des  Cervantes'),  als  Einleitung  dazu: 
einige  abgedroschene  Phrasen  über  das  Leben  des  grofsen  Spaniers 
und  ein  sogenannter  „Versuch  über  die  spanische  schöne  Litteratur" 
sind  ebensoschnell  vergessen  worden,  wie  sein  im  Jahre  1791  erschie- 
nener ,, Alexander  der  Eroberer",  ein  Gegenstück  zu  Meissners  „Alci- 
biades",  und  der  5  Jahre  darauf  veröffentlichte  „Petrarca".  Ein  Denk- 
mal edler  Liebe  und  Humanität",  worin  er  auch,  um  seine  Ausdrücke 


*)  Die  Verdienste  Ortegas  als  Botaniker  wurden  bereits  in  der  „Wiener  Zeitung" 
(3.   Juni  1786)  hervorgehoben. 

')  Über  Butenschön  (Allg.  deutsche  Biographie  III,  650)  kenne  ich  nur  die  spärlichen 
biographischen  Nachrichten  bei  Heindl  „Biographien  der  berühmtesten  und  verdienst- 
vollsten Pädagogen  und  Schulmänner  aus  der  Vergangenheit^*  (Augsburg  1860,  S.  68  IT.), 
worin  der  Leistungen  Butenschöns  im  Spanischen  nicht  gedacht  wird. 

•)  J.  Fr,  Butenschön.  „Leiden  zweyer  edlen  Liebenden"  nach  dem  Spanischen  des 
Don  Miguel  de  Cervantes  Saavedra,  —  nebst  dem  merkwürdigen  Leben  dieses  berühm- 
ten Spaniers  und  einem  Versuche  über  die  spanische  schöne  Litteratur**  (Heidelberg  1789). 
Das  vorige  Citat  auf  S.  36. 


848  Artur  Parinelli. 


zu  gebrauchen,  kleine  Blumen  aus  fremden  Gärten  in  den  seinigen 
verpflanzte  und  die  Gleichgiltigkeit  andrer  gegen  alles  Edle  und 
Grofse  in  überlegenem  Tone  schalt*).  Übrigens  hat  Butenschon 
seinen  lobenswerten  Vorsatz  niemals  ernst  genug  aufgefafst,  denn  nach 
dieser  seiner  ersten  Leistung  im  Spanischen  hat  er  nichts  weiteres  im 
gleichen  Fache  geliefert  und  die  spanischen  Goldkörner  mitten  in  dem 
Haufen  der  Sandkörner  ruhen  lassen. 

Die  Verdeutschung  des  „Persiles"  scheint  mir  einen  Ruckschritt 
zu  bedeuten  gegenüber  der  7  Jahre  vorher  (Ansbach  1 782)  erschiene- 
nen  Übersetzung  Sodens,  welche  Butenschön,  wie  er  selbst  gesteht 
(S.  32),  so  gut  wie  die  von  einem  Unbekannten  in  Ludwigsburg  1746 
erschienene  erst  nach  Abdruck  des  I.  Buches  seiner  Verdeutschung 
kannte  und  benutzte.  Eher  hat  er  sich  mit  der  italienischen  Über- 
setzung des  Francesco  Elio  (Venedig  161 9)  zu  behelfen  gewufst.  Das 
schöne  Werk  des  Spaniers  ist  da  verkürzt,  dort  verlängert,  oft  mifs- 
verstanden  und  entstellt  worden.  Die  drei  letzten  Bücher  sind  stark 
und  kümmerlich  zusammengeschrumpft,  auch  der  Gang  der  Geschichte 
ist  nicht  unbedeutend  verändert  worden.  Verdeutschen  mufste  man 
den  Persiles  gewifs,  ihn  von  vielen  überflüssigen  Reden  befreien;  Bu- 
tenschön hat  ihn  aber  elend  verstümmelt.  Und  doch  behauptete  der 
Übersetzer  von  seiner  Leistung  kühn  und  frech  (XXXII):  ^,Durch  Weg- 
werfung der  oft  äufserst  unwichtigen  Episoden  gewann  das  Ganze 
gewifs  an  Interesse,  der  Geist  des  Cervantes,  der  auch  auf  die- 
sem Werke  ruht,  ist  weniger  mit  Wolken  umgeben". 

Was  Butenschön  über  das  Leben  Cervantes'  berichtet,  ist  meist 
nach  dem  recht  flachen,  geistlosen  Vorbericht  Florians  zu  seiner 
Übersetzung  der  „Galatea"  entnommen.  Es  war  zu  erwarten,  dafs 
der  Deutsche  noch  mehr  als  der  Franzose  den  Mund  voll  des  Lobes 
nehme  (XXII),  „Cervantes  ward  durch  seinen  Don  Quixote  auf  ewig 
ein  Wohlthäter  des  ganzen  menschlichen  Geschlechtes**.  Den  „Persiles" 
charakterisiert  aber  Butenschön  nicht  näher;  er  zieht  vor,  einige 
„Empfindungen  bey  dem  Grabe  des  unglücklichen  Cervantes"  nieder- 
zuschreiben, wo  er  den  Spanier  als  Erretter  der  Jugend  dem  Shake- 
speare gegenüberstellt  und  auf  Cervantes  gefeiertes  Haupt  folgenden 
Kranz  von  verwelkten  Versen  flicht: 


*)  Eine  interessante  Recension  dieses  abgeschmackten  „Petrarca"  ist  in  A.  W.  Schle- 
gels „Sämmtlichen  Werken"  hrsg.  v.  Böcking  X,  204  ff.  zu  lesen. 


\ 


Spanien  u.  die  spanische  Litteratur  im  Lichte  der  deutschen  Kritik  u.  Poesie.  lU.     349 

Aber  beim  Winke  des  sanften  Cervantes  lacht 

Hoch  der  Greis  und  das  Kind.  Im  Taumel  der  Freude 

Sieht  die  Matrone  den  Kufs  nicht, 

Den  die  schlaue  Enkelin  nahm  imd  gab. 

Britte,  Männern  pochte  das  Herz,  wenn  du  sprachest, 

Jünglinge  streckten  den  Arm  nach  der  Krone  aus. 

Die  das  Verdienst  allein  erringt. 

Und  vergossen  die  Träne  der  Tugend  I 

Aber  im  Himmel  umarmen  nun  Selige 

Ihren  Retter  vom  Tajo,  der  sie  dem  Schlünde 

Eines  schwarzen  Drachen  entrifs. 

Der  die  edelsten  Herzen  zerfleischte. 

Lächelnd  stehn  sie  um  ihn,  lächelnd  umarmen 

Sie  nun  den,  der  aus  ihren  düstern  Gesichtern 

Sonnen  hervorrief  —  sie  jauchzen. 

Und  Gott  reicht  ihm  lächelnd  die  Krone. 

Ein  chaotisches  Zeug  ist  Butenschöns  „Versuch  über  die  spanische 
schöne  Litteratur",  worin  recht  viel  trübes  Wasser  aus  Florians  Quelle 
fliefst.  Aus  Velazquez-Dieze  „Geschichte  der  spanischen  Litteratur", 
ja  sogar  aus  dem  gegen  die  Anklagen  Tiraboschis  und  Bettinellis  ge- 
richtete, „Saggio  apologetico",  des  Lampillas  (1778 — 81),  selbst  aus  der 
einschläfernden,  langatmigen  „Historia  litteraria"  der  Padres  Mohe- 
danos  wird  geschöpft.  Vom  Ritterwesen,  Orientalismus  und  vom 
arabischen  Geschmack  wird  gefaselt,  die  Werke  der  Spanier  (XXXVII) 
mit  den  „alten  zwar  ungeheuren,  doch  soliden  und  oft  äufserst  edlen 
gothischen  Gebäuden"  in  Vergleich  gezogen.  Die  spanische  Sprache, 
die  sich  durch  „Stärke  und  Bündigkeit"  auszeichnet,  erhält  den 
Vorzug  vor  der  französischen,  in  welch  letzterer  „Rousseau  und  die 
faden  französischen  Dichterlinge"  schrieben  (LV).  Eine  Verteidigung 
und  Rettung  der  Vertreter  der  „soliden  Wissenschaften"  in  Spanien 
wird  versucht.  Zum  Uberdrufs  werden  einige  hmkende  Übersetzungen 
(darunter  2  Gedichte  des  Villegas)  in  die  biographischen  Angaben 
der  Dichter  verflochten.  Vor  dem  „göttlichen  Villegas",  welcher  in 
Deutschland  früher  von  Dieze,  dann  von  Bertuch,  der  in  Wielands 
„Teutschen  Merkur"  ein  paar  Dutzend  erotische  Lieder  in  prosaischer 
Übersetzung  einrückte,  gepriesen  wurde,  neigte  Butenschön  bewundernd 
und  andächtig  das  Haupt.  Über  die  andern  Dichter  urteilt  er  flach, 
•wiederholt    das    fade    Geschwätz    anderer,    ohne    die    besprochenen 


350  Artur  Farinelli. 


Werke  selbst  gelesen  zu  haben.  Doch  hatte  Butenschön  den  Mut, 
den  Lesern  zu  erklären  (S.  XXXVII),  dafs  ,»Lope  de  Vega  und  Calderon 
Männer  waren  wie  Shakespeare  und  Goethe".  „Umstände  und  innerer 
Drang  machten  sie  eher  zu  Dichtern,  als  sie  Schüler  der  Ordnung 
und  regelmäfsiger  Schönheit  geworden  waren".  Was  er  von  Calderon 
sagt,  ist  aus  Dieze  entnommen.  Über  Lope  spricht  er  anfanglich 
mifsbilligend  (XXIII):  „Lope  de  Vega  war  nun  durchdrungen,  seine 
unzähligen  Schauspiele  überschwemmten  ganz  Spanien  und  ersäuften 
fast  durchgängig  den  Geschmack  an  regelmäfsiger  Schönheit".  „Lope 
besafs  mehr  Klugheit,  die  Umstände  zu  seinem  Vorteile  zu  benutzen, 
als  warme  Liebe  für  die  schönen  Wissenschaften".  Sein  „Arte  nuevo" 
ist  „ein  unedles  Werk".  Fünfzig  Seiten  weiter  aber  ergiefst  er  sich 
in  Lobsprüchen  über  den  Fenix  de  los  Ingeniös  und  bedauert 
(S.  LXXVI),  dafs  die  Grenzen  seines  Versuches  ihm  nicht  erlauben  „Bei- 
spiele aus  irgend  einem  vortrefflichen  Stück  des  Lope  anzuführen, 
so  wenig  als  es  beym  Calderon  geschehen  konnte".  „Ich  werde  aber 
nächstens  ein  paar  von  den  besten  Schauspielen  dieser  grofsen  Dichter 
für  die  deutsche  Bühne  bearbeiten,  vielleicht  findet  das  Publikum  dann, 
wenn  die  Arbeit  glücklich  ausfallt,  überzeugende  Beweise,  wie  sehr 
Lope  und  Calderon  seine  Aufmerksamkeit  verdienen".  Dafs  Buten- 
schön diese  Arbeit  niemals  unternahm,  haben  wohl  wenige  bedauert. 
Litterarische  Schätze  können  überhaupt  nicht  ohne  ein  gründ- 
liches Studium  der  fremden  Sprache  verstanden,  genossen  und  ge- 
würdigt werden.  Die  spanische  Sprache  war  den  Deutschen  vor  den 
Romantikern  und  noch  zu  ihrer  Zeit  gar  zu  spanisch.  Es  fehlten  die 
unentbehrlichsten  Hilfsmittel,  um  sie  zu  erlernen,  es  fehlten  gute 
Grammatiken  und  Wörterbücher.  Die  Bahrdtsche  Grammatik  (zu- 
erst in  Erfurt  1778  erschienen)  ist  zwar  mehrmals  von  zehn  zu  zehn 
Jahren  aufgelegt  worden,  zum  zweiten  Male  im  Jahre  1 788  ^),  ein 
drittes  Mal  im  Jahre  1797^),    ein    viertes  Mal    10  Jahre  darauf    1807, 


^)  „Kurzgefaßte  Spanische  Grammatik,  worinnen  die  richtige  Aussprache  und  alle 
zur  Erlernung  dieser  Sprache  nötigen  Grundsätze  abgehandelt  und  erläutert  sind,  dais 
ein  jeder,  der  lateinisch  versteht,  diese  Sprache  in  ein  paar  Wochen  ohne  Lehrmeister 
zu  lernen  im  Stande  ist,  nebst  einigen  Geprächen  und  kleinen  Gedichten  des  Vi]I^;as, 
Boscan  und  Garcilasso.     II.  sehr  vermehrte  und  verbesserte  Ausgabe",  Erfurt  1788. 

')  Erfurt,  vermehrt  und  verbessert  v.  L.  H.  Teucher.  —  Als  ein  «bequemes  Mittel 
sowohl  für  Deutsche  zur  Erlernung  des  Spanischen,  wie  für  Spanier  zur  Erlernung  des 
Lateinischen"  hat  der  nämliche  Teucher  eine  kaum  brauchbare  spanische  Über- 
setzung des  Comenius  zu  Leipzig  1794  herausgegeben:  „La  excelente  Puerta  de  las 
Leng^as,  6  Introduccion  al  estudio    de   ellas,    por    muchifsimas    descripciones    de    cosas 


Spanien  u.  die  spanische  Litteratur  im  Lichte  der  deutschen  Kritik  u.  Poesie,   m.  351 

die  Wagner'sche  „Spanische  Sprachlehre"  druckte  man  in  Leipzig  1 795 
zum  zweiten  Mal  (ein  drittes  Mal,  Leipzig  1828);  beide  Grammatiken 
aber  waren  dürftig,  sehr  mittelmäfsig  und  konnten  Niemanden  zu 
ernsthaftem  Studium  anspornen  *).  Noch  bedenklicher  stand  es  mit 
den  portugiesischen  Grammatiken.  Die  bereits  erwähnte  Sprachlehre 
Jungs  (1778)  wimmelte  von  Irrtümern  und  war  wenig  zu  brauchen. 
Abraham  Meldolas'  „Neue  portugiesische  Grammatik"  (Hamburg  1785) 
war  noch  läppischer  und  kindischer  als  die  von  Jung  und  kleidete 
ihre  Lehre  in  altväterliche  Katechismusmethode,  in  Fragen  und 
Antworten.  Man  mufste  sich  mit  Vieyra's  englisch-portugiesischer 
Grammatik  behelfen.  —  Was  die  Wörterbücher  betrifft,  so  war  man 
vor  dem  Erscheinen  von  C.  A.  Schtnid  „Spanisch-Deutsches,  Deutsch- 
Spanisches  Handwörterbuch"  (2  Bde.  Leipzig  1795 — 1796)  aufSobrino 
und  Sejournant,  Vieyra  und  Cormon  angewiesen.  Das  bereits  1726 
bis  1739  erschienene  „Diccionario  de  la  lengua  castellana"  der  spanischen 
Akademie  hatte  einigen  imponiert.  Kaufhold  (I,  48)  wünschte,  dafs 
man  daraus,  zum  Gebrauch  der  Deutschen,  einen  Auszug  mache.  Es 
kam  nicht  dazu.  Noch  1820  gestand  Soden,  dafs  in  der  Übertragung 
mancher  schwierigen  Stellen  in  den  Stücken  Lope's  de  Vega,  fünf 
Wörterbücher  von  Sobrino  bis  Wagner  ihn  im  Stich  gelassen  hatten. 
Was  fleifsige,  bequeme,  aber  dürre,  skelettartige  deutsche 
Kompendien  und  Encyklopedien  der  allgemeinen  Litteratur,  noch  vor 
1800  über  Spanien  bringen,  ist  meist,  Blankenburgs  Zusätze  zu  Sulzer 
möchte  ich  ausnehmen,  billiger  Kram,  eine  oUa  podrida,  um  das  den 
Deutschen  so  sympathisch  gewordene  Wort  zu  gebrauchen,  aus  allen 
möglichen  und  unmöglichen  Werken.  Aus  den  dramaturgischen 
Kompendien  des  Riccoboni,  des  Signorelli,  auch  aus  Lessings  Drama- 
turgie, aus  Quadrios  „Storia  e  ragione  d'ogni  poesia",  aus  Flögeis 
„Geschichte  des  Groteskkomischen"  wurde  am  liebsten  Material  ge- 
nommen und  mosaikartig  zusammengestellt.  —  In  den  vier  ersten 
Bänden    der    „Theorie    und   Litteratur   der   schönen  Wissenschaften" 


corporales  y  morales.  Obra  traducida  del  Latin  de  Juan  A.  Comenio  por  Luis 
Henrique  Teucher  y  por  el  mismo  aumentada  de  un  Indice  de  vocablos  espaAol  y 
aleman**  (auch  mit  dem  nebenbei  gedruckten  deutschen  Titel). 

')  In  Wien  war  bereits  1777  eine  mir  unbekannte  spanisch-deutsche  Grammatik, 
, .Grundsätze  zur  Erlernung  der  spanischen  Sprache,  aufs  neue  übersehen  und  verbessert 
V.  Don  Fernando  Navarro,  Lehrer  der  spanischen  Sprache  und  Litteratur  auf  der  k.  k. 
Universität  zu  Wien",  erschienen.  1790  erschien  eine  „Spanische  Sprachlehre  Mind 
Chrestomathie  von  Johann  Baptista  Calvi,  Lektor  der  spanischen  und  italienischen 
Ztschr.  C  vgl.  Litt-Gewib.    N.  F.  VDI.  23 


869  Artur  PaiinellL 


hatte  J.  Joachim  Eschenburg  von  fremden  Völkern:  die  Italiener, 
die  Franzosen  und  die  Englander,  nicht  aber  die  Spanier  berücksichtigt. 
Im  V.  Bande  (Berlin  und  Stettin  1790)  holte  er  das  Versäumte  oadi 
und  räumte  den  Spaniern  Platz  ein,  wenn  er  auch  an  Erfolg  beim 
Publikum  zweifelte  und  im  Vorbericht  den  Leser  aufinerksam  machen 
zu  müssen  glaubte:  „Meine  Recensenten  wird  es  freilich  noch  mehr 
befremden,  in  diesem  fünften  Bande  sogar  einige  spanische  und 
portugiesische  Stucke  anzutreffen^.  Über  spanische  Romanzen  holte 
Eschenburg  bei  Bertuch  Rat  und  druckte  in  seinem  Buche  (S.  127  ff.) 
den  „Rio  verde**  aus  Hitas  „Guerras  dviles**.  Als  Proben  der  portu- 
giesischen und  spanischen  Epik  gibt  er  (8.269  ff.)  den  i.  Gesang  der 
„Lusiade**  in  der  Übersetzung  Seckendorfs  und  einen  Auszug  der 
„Araucana**  (XXIIl  Ges.)  ErciUas,  aus  einem  mir  nicht  näher  bekannten 
„Essay  on  epic  poetry*.  —  Drei  Jahre  darauf  (1793)  erschien  ein 
Vn.  Band,  der  sich  mit  dramatischer  Dichtung  befafste,  und  ein 
Kapitel  (S.  127  ff.)  über  das  spanische  Lustspiel  („Ursprung  und 
Fortgang  des  Lustspiels  überhaupt  und  besonders  des  Lustspiels  bei 
den  Spaniern*').  Wir  lernen  darin,  was  allgemein  und  die  einzelnen 
Dramatiker  betrifft,  nicht  viel  mehr  als  aus  dem  Velasquez-EMezeschen 
Werke  und  aus  einem  Kapitel  im  „Tableau^^  Bourgoings:  („Über  den 
Zustand  der  spanischen  Bühne'*).  —  Lope  de  Vega  wird  in  zwei  nichts 
sagenden  Seiten  abgefertigt  (132  f.).  Von  Calderon  wird  richtig  (S.  135) 
die  kunstvolle  Führung  der  Intrigue  hervorgehoben.  Die  von  ihm 
entworfenen  Charaktere  „sind  wenigstens  treue  und  richtige  Kopien 
der  Sitten  und  Eigenheiten  seines  Zeitalters,  wenn  sie  gleich  dem 
heutigen  Zuschauer  etwas  romanhaft  und  abenteuerlich  vorkommen. 
Nur  der  Dialog  hat  allzu  viele  Ungleichheiten  und  verfallt  gaür  zu  oft 
ins  Gesuchte  und  Erkünstelte**. 

Reichhaltiger,  gediegener,  wenn  auch  nicht  auf  eigener  An« 
schauung  beruhend,  sind  die  von  Friedrich  von  Blankenburg  in 
seinen:  „Litterarische  Zusätze  zu  Johann  G^org  Sulzers  allgemeine 
Theorie  der  schönen  Künste**  (3  Bde.,  Leipzig  1798)  der  spanischen 
Litteratur  gewidmeten  Abschnitte.  Über  das  Leben  und  die  Werke 
der  einzelnen  Dichter,  z.  B.  Cervantes',  Quevedos  u.  s.  w.  erfisüiren 
wir   freilich  nicht  viel  mehr  als  aus  dem  Jöcherschen  Lexikon.     Das 


Sprache  zu  Göttingen",  Hefanstädt  1790.  Diese  und  die  vorher  dtierten  Gramniatikeo 
sind  in  der  nützlichen,  aber  sehr  unvollständigen,  wenig  geordneten  „Biblioteca 
histörica  de  la  fllologia  castellana*^  des  Conde   de  la  Vifiaza.     Madrid  1893,    Oberseheo. 


Spanien  u.  die  spanische  Litteratur  im  Lichte  der  deutschen  Kritik  u.  Poesie,    m.  S5S 


lange  Kapitel  über  die  Komödie  aber,  welches  von  Lessings  Ideen 
ganz  durchtränkt,  mit  Lessingschen  Worten  da  und  dort  geschmückt 
ist,  verdient  unsere  besondere  Aufmerksamkeit.  Sein  historisches 
Material  hat  Blankenburg  meist  aus  den  italienischen  Kompilatoren, 
aus  dem  niemals  genug  gewürdigten  Napoli  Signorelli  geholt;  er 
schöpft  aber  auch  aus  Quadrio,  aus  Andres,  aus  der  Reise  Barettis, 
aus  dem  Prolog  des  „Theatro  Espanol"  des  Garcia  de  la  Huerta. 
Er  verteidigt,  ganz  im  Sinne  Lessings,  die  Eigentümlichkeiten  des 
spanischen  Dramas:  „die  Q>media  sind  freilich  nicht  nach  den  klas- 
sischen Mustern  eingerichtet,  aber  dafür  atmen  sie  mehr  Leben  und 
Wahrheit,  als  manche  nach  diesen  Mustern  ängstlich  zugeschnittene 
Stücke  der  Italiener«  (I,  288).  Richtig  hat  er  (I,  303)  die  Stärke  der 
spanischen  Dramatik  nicht  in  der  Charakterentwickelung,  nicht  in  den 
logischen  und  konsequenten  Schilderungen,  sondern  in  der  Situations* 
komik  und  im  Verwicklungsthema  gefunden,  gesteht  aber  doch  (I, 
309),  dafs  „ungeachtet  alles  Erfindungsgeistes  derselben,  Einförmigkeit 
in  den  Stücken  entsteht«.  „Die  einmal  angelegten  und  angenommenen 
Auftritte  oder  Situationen,  so  unnatürlich  sie  auch  im  Grunde  herbei- 
geführt seyn  mögen,  sind  an  und  für  sich  selbst,  öfters  äufserst 
interessant  oder  komisch,  so  wie  gröfstenteils  sehr  glücklich  ausge- 
führt und  der  eigentümliche  frühere  Zustand  der  Sitten  und  Lebens- 
weise dieses  Volks  macht  jene  Unwahrscheinlichkeit  nicht  blos  be- 
greiflich, sondern  rechtfertigt  solche  auch  zum  Teil".  Ganz  richtig  und 
im  Sinne  Tiecks  tadelt  Blankenburg  den  Abt  Andres,  weil  er  das 
spanische  und  englische  Theater,  Lope  und  Shakespeare  nebeneinander 
gestellt  hatte.  Um  ja  nicht  irregeführt  zu  werden,  sollte  man  sich 
„aller  Vergleichung  zwischen  dem  spanischen  Theater  und  der 
Komödie  der  anderen  Völker  Europas  enthalten«.  Dafs  die  Spanier 
zur  Hervorbringung  reiner,  scharf  geschiedener  tragischer  oder 
komischer  Stücke  sich  untauglich  erweisen,  beständig  das  Tragische 
mit  dem  Komichen  vermischten,  war  nach  Blankenburgs  Meinung  im 
Charakter  der  Nation  selbst  begründet.  —  Die  Autos,  die  von  Cal- 
deron  insbesondere,  bezeichnete  er  im  Vergleich  zu  den  Mysterien 
und  Moralitäten  andrer  Völker  als  wahre  Meisterstücke  (I,  286). 
Calderon  selbst  beurteilt  er  wie  Signorelli.  Meisterhaft  versteht  der 
Spanier  seine  Stücke  zu  verwickeln  (I,  299),  die  Erwartung  der  Zu- 
schauer bis  auf  den  letzten  Augenblick  zu  spannen,  „in  der  Sorgfalt 
und  Fülle  der  Ausarbeitung  überhaupt,  übertrifft  er  den  Lope  weit«. 
Lope    warf  er    (I,    295)    mit  Unrecht    einen    „ebenso    hochtrabenden 

23* 


354  Artur  Farinelli. 


als  erkünstelten  Styl"  vor,  mit  Unrecht  nannte  er  ihn,  wie  später 
auch  die  Romantiker^  welche  Lope  niemals  lasen,  einen  „von  dem 
Beifall  berauschten"  Dichter,  welcher  dadurch  zum  „Verderber  des 
guten  litterarischen  Geschmackes"  wurde.  Die  Gaben  eines  wahrhaft 
grofsen  Dichters  konnte  er  ihm  doch  nicht  absprechen,  „und  wenn 
gleich  viele  von  den  seinigen  (Stücken)  beynahe  unter  der  Kritik  sind, 
wenn  gleich  mitten  unter  rührenden  Stellen,  niedrige  und  possierliche 
vorkommen  und  seine  Fürsten  öfters  wie  das  gemeinste  Volk  und 
gemeine  Menschen  wie  Fürsten  oder  vielmehr  wie  gebildete  und  ge- 
lehrte Leute  bey  ihm  sprechen,  ....  so  läfst  sich  ihm  doch  nicht 
das,  was  den  Dichter  zum  Dichter  macht,  nicht  Erfindungsgeist  und 
Darstellungsgabe  absprechen". 

1799  hat  Joh.  Gottfried  Eichhorn  die  I.  Hälfte  seiner  „Litterär- 
geschichte"  herausgegeben  und  darin,  gestützt  auf*die  „Bibliothek"  des 
Nicolas  Antonius,  auf  das  Werk  von  Velazquez-Dieze,  auf  Bertuchs 
„Magazin**,  auf  Montiano  y  Luyandos  „Discurso",  auf  Bourgoings 
„Gemälde**,  ein  äufserst  konfuses,  von  Irrtümern  wimmelndes  Kapitel 
über  die  „Schönen  Redekünste  der  Spanier**  eingeschaltet  *).  Dichter 
und  Prosaisten  werden  nach  Gruppen  angeführt,  und  dann  und  wann  irgend 
ein  allgemeines  seichtes  Urteil  aus  fremder  Quelle  hinzugetan.  So  wird 
im  Abschnitt  über  das  Lustspiel  (§  232)  hervorgehoben,  wie  unter 
den  24000  Lustspielen  der  Spanier  kein  einziges  bekannt  sei,  „das 
die  Prüfung  der  Kritik  durchweg  aushalten  könne**.  —  Indessen 
meint  Eichhorn,  machte  die  geringe  Bekanntschaft  der  spanischen 
Litteratur,  die  ganz  eigene  Fabel  ihrer  Komödien,  ihre  sinnreiche  Ver- 
wickelung, ihre  vielen  neuen  und  sonderbaren  Theaterstücke,  die 
mannigfaltigen  Situationen,  die  gut  angelegten  und  zuweilen  auch  gut 
gehaltenen  Charaktere,  die  stellenweise  unleugbare  Würde  und  Stärke 
des  Ausdrucks  —  dieses  und  anderes  —  die  spanischen  Theater- 
Dichter  als  Quellen  brauchbar,  aus  denen  sich  das  dramatische  Genie 
des  Auslandes  bereichern  konnte.  Lope  (Eichhorn  schreibt  beständig 
Lopez)  und  Calderon  sind  die  Hauptrepräsentanten  dieses  Lustspiels. 
Unter  den  unzähligen  Stücken  des  ersten  ist  „trotz  einzelner  ausge- 
zeichneter Intriguen  und  trefflicher  Situationen,  vielleicht  kein  einziges, 

*)  Joh.  Gottfried  Eichhorn,  „Litterärgeschichte."  I.  Hälfte  Göttingen  1799  §  226  ff. 
—  In  der  13  Jahre  später  erschienenen  11.  Hälfte  (Göttingen  i8ia)  hat  er  in  einem 
gleich  betitelten  Kapitel  (§  76  ff.)  das  früher  Gesagte  wörtlich  wiederholt  und  seine  An- 
gaben erweitert.  —  Vgl.  auch  Eichhorns  „Geschichte  der  Litteratur",  Göttingen  1807. 
Teil  IV,  Abt.  I. 


Spanien  u.  die  spanische  Litteratur  im  Lichte  der  deutschen  Kritik  u.  Poesie.   III.   355 

das  nicht  gegen  die  Regeln  der  Kunst  verstiefse".  Regelmäfsiger  in 
der  Erfindung  und  Ausarbeitung,  reicher  in  der  Verwickelung,  fester 
in  der  Durchfuhrung  wirklicher  Charaktere,  nennt  Eichhorn  die  Lust- 
spiele „des  sogenannten  spanischen  Terenz,  Calderon  de  la  Barca". 
In  dem  kleinen  Abschnitt  über  das  Trauerspiel  kehrt  Lope  wieder, 
welcher  nach  Christobal  de  Virues  „sudelte".  Cervantes  erscheint 
dann  als  einziger  Vertreter  der  Satyre,  des  Romans  und  der  Novelle 
der  Spanier  (§  234).  „In  seiner  Reise  nach  dem  Parnafs,  hält  er 
(Cervantes)  ein  schreckliches  Gericht  über  die  schlechten  Dichter; 
doch  arbeitete  der  Dichter  unbekümmert  um  die  Regeln  der  Poetik 
und  daher  sieht  das  Ganze  mehr  einer  komischen  Epopöe,  als  einer 
Satyre  ähnlich".  Es  folgt  eine  leere  Phrase  über  den  Quixote,  eine 
andere  über  die  „kleinen  lustigen  Erzählungen,  welche  unter  dem 
Namen  der  Novellen  bekannt  sind".  Die  Epopöe  (§  235)  wird  durch 
Camöes  allein  vertreten.  Die  Lusiade  aber,  „so  grofs  die  Sensation 
war,  welche  dieses  Heldengedicht  bey  seiner  Erscheinung  machte,  so 
kann  die  Kritik  doch  nur  einzelne  Stellen  seiner  Schilderungen  für 
vorzüglich  erkennen"  *). 

Selbständige,  nicht  von  dem  Chaos  fremder  Bücher  und  Abhand- 
lungen geborgte  Urteile  über  spanische  Litteratur,  die  Frucht  eigener 
Lektüre  und  eigener  Anschauung,  finden  wir  zu  dieser  Zeit  blos  in 
den  Schriften  unserer  Reisenden:  Kaufholds,  Fischers  und  Links. 

Der  erste  widmet  in  seiner  Reisebeschreibung  ein  Kapitel  der 
Sprache  und  Litteratur  der  Spanier,  ein  anderes  speziell  dem  spa- 
nischen Theater').  Kaufhold  liest  die  Spanier  zum  Vergnügen,  als 
Dilettant;  er  nimmt  weder  Partei  für  die  spanischen,  noch  für  die 
deutschen  Dichter,  darum  sind  seine  Urteile,  ungeachtet  keiner  sie 
noch  der  Achtung  würdig  gefunden,  für  uns  sehr  schätzenswert.  Dafs 
er  der  Lektüre  fremder  Werke  keinen  reinen  Genufs  abgewinnen 
konnte,  ist  ihm  nicht  zu  verargen.  In  Sachen  des  litterarischen  Ge- 
schmacks ist  ein  jeder  sein  eigener  Herr.  Dafs  die  spanische  Litte- 
ratur so  wenig  in  Deutschland  gewürdigt  wurde,  dafs  man  gegen  sie 


')  In  dem  zu  Leipzig  1793  erschienenen  U.  B.  der  ^  Nachträge  zu  Sulzers  allgemeine 
Theorie  der  schönen  Künste*  oder  ),Charaktere  der  vornehmsten  Dichter  aller  Nationen", 
hat  ein  Herr  Schatz  zu  Gotha  die  „Araucana"  des  Ercilla  (II.  B.,  I.  Stück  Nr.  VI, 
S.  140 — 349)  natürlich  nach  fremden  Berichten,  besprochen. 

')  Im  II.  B.  S.  205  sehier  Reise  erwähnt  KauFhold  ein  Werk  des  Schweden 
Liberto  Wolters  Vonsichielm  über  Spanien,  welches  zu  Madrid  1 725  in  spanischer  Sprache 
erschienen  ^ein  soll,  und  über  welches  ich  keine  Auskunft  erteilen  kann. 


356  Artur  Parinelli. 


immer  so  ungerecht  gewesen  war,  ärgert  unseren  Deutschen.  „Ist 
es  doch  ausgemachte  Sache",  meint  er  (II,  i86),  „dafs  die  Spanier 
unter  den  europäischen  Nationen,  die  gegenwärtig  auf  einer  höheren 
Stufe  der  Geisteskultur  stehen,  die  ersten  waren,  welche  sich  um  die 

Litteratur   bekümmerten Die  Spanier   hatten    ein  Theater    und 

gute  Schriftsteller,  noch  ehe  weder  Franzosen  noch  Engländer  etwas 
dergleichen  aufweisen  konnten".  Er  gibt  Nachrichten  über  ein  Dutzend 
Dichter,  unter  ihnen  die  gröfsten:  Cervantes,  Lope,  Calderon,  Gön- 
gora,  Quevedo.  Die  sonst  sehr  unvernünftig  verfafste  Dichtersamm- 
lung: „Parnaso  Espanol"  des  Sedano  bot  ihm  Stoff  zu  reichhaltiger 
Lektüre.  Von  Cervantes  kennt  er  nicht  nur  den  Quixote,  dessen 
Geist  in  Übersetzungen  „leider  verhunzt  worden  ist",  sondern  auch 
einige  Novellen,  welche  ihm  nicht  alle  von  gleichem  Werte  scheinen; 
Cervantes  hat  darin  (II,  195)  „die  Sitten  seines  Zeitalters  mit  seinem 
gewöhnlichen  Witze  und  munterer  Laune  geschildert;  Galanterie  und 
Ritterauftritte  machen  immer  die  Hauptbestandteile  davon  aus";  die 
zwölf  noch  aufbewahrten  Comedias  sind  „in  dem  Geschmack  der 
Theaterstücke  seiner  Zeit;  Engel,  Teufel  und  Zauberer  sind  auf  eine 
sonderbare  Art  miteinander  verwebt".  —  So  wie  Cervantes  hatte  auch 
Lope(z)  de  Vega  (II,  196  ff.)  „viel  mit  den  Launen  des  Glückes  zu 
kämpfen;  er  versuchte  die  civile  und  militärische  Laufbahn,  aber  ohne 
glücklichen  Erfolg,  endlich  wählte  er  den  geistlichen  Stand,  und  dann 
fing  sein  Glück  und  sein  Ruhm  an".  Woher  Kaufhold  die  Nachricht 
entnahm,  dafs  Lope's  poetischer  Geist  dem  Dichter  nicht  nur  Ansehen, 
„sondern  auch  grofse  Reichtümer"  erwarb,  weifs  ich  nicht.  (II,  197): 
„Seine  Werke  sind  aber  keineswegs  schulgerecht  und  können  daher 
keineswegs  als  Muster  zur  Nachahmung  dienen;  es  sind  lauter  Original- 
stücke,  worin  der  Verfasser  blos  dem  Drange  einer  feurigen  schöpfe- 
rischen Fantasie  gefolgt  ist".  Lope's  Nachfolger  hätten  leider  nur 
blos  seine  Fehler  nachgeahmt,  „ohne  von  dem  grofsen  Geist  ihres 
Vorgängers  beseelt  zu  seyn,  ....  durch  diese  Aftergenies  ist  der 
gute  Geschmack  in  Spanien  ganz  verdorben  worden".  Das  „vortreff- 
lichste", was  Lope  de  Vega  im  komischen  Fache  geliefert  hat,  ist 
seine  „Katzenepopee"  („Gatomaquia").  „Ich  habe  dieses  Gedicht  mit 
sehr  vielem  Vergnügen  gelesen,  aber  dabei  immer  bedauert,  dafs  der 
grofse  Dichter  den  Reichtum  seines  Geistes  an  den  Heldenthaten  von 
ein    paar  Katern   verschwendet  hat"    (198)').    —    Calderon    (II,  197) 

*)  Lope's  ^Gatomaquia**  wurde  erst  von  A.  Herrmann  im  24  Bde.  v.  Herrigs  „Archiv 
f.  neuere  Sprachen^*  (1858)  ins  Deutsche  übersetzt:  „Der  Kater.  Ein  komisches  Helden- 
gedicht V.  F.  Lope  Felix  de  Vega  Carpio". 


Spanien  u.  die  spanische  Litteratur  im  Lichte  der  deutschen  Kritik  a.  Poesie.   III.  357 

wird  in  einem  Satze  abgefertigt.  Kaufhold  hat  offenbar  nichts  von 
ihm  gelesen.  Von  Moreto  erwähnt  er  blos  das  Stück  „Der  Cavalier" 
{JSL  Caballero*^  —  in  der  ,,Segunda  parte  de  las  Comedias  de  D. 
Augustin  Moreto",  Valencia  1676),  welches  für  vorzüglich  gehalten 
wird«  Gongora  (II,  198)  „hat  satyrische  lyrische  Gedichte  geschrieben, 
die  hier  sehr  geschätzt  werden,  aber  sehr  schwer  zu  verstehen  sind". 
An  Garcilasos  und  Boscans  Gedichte  kann  derjenige,  der  sie,  „um 
sich  aufzuheitern,  liest",  kein  Behagen  finden.  Quevedos  Hauptver- 
dienst war  „ein  oft  beifsender  Witz,  gute  originelle  Laune  und  gfrofse 
Menschenkenntnis".  Von  anderen  Dichtern  und  Prosaisten  bekommen 
wir  nicht  viel  mehr  als  die  leeren  Namen  zu  hören.  Sarmiento,  Florez, 
Burielf  Isla,  Iriarte  tmd  andere  werden  auf  einen  Haufen  zusammen- 
geworfen. EMe  Censur  ist  die  drohende  gefahrliche  Klippe,  an  wel- 
cher alle  Talente  Spaniens  scheitern.  Die  Journale,  welche  „oft  Ge- 
schmack und  Witz  ihrer  Verfasser"  zeigen,  leiden  besonders  darunter, 
„so  wie  sie  nur  von  ferne  etwas  von  Aufklärung  blicken  lassen, 
werden  sie  von  der  hämischen  Inquisition  unterdrückt".  Das  beste 
litterarische  Werk  der  Spanier  sind  für  Kaufhold  „Die  Anfangsgründe 
der  Geschichte  vom  Pater  Isla,  Verfasser  der  Satyre  auf  die  schlechten 
Prediger".  Mariana,  Solis,  Herrera  haben  nicht  mit  philosophischem 
Geiste  geschrieben. 

Weit  wichtiger  und  treffender  sind  die  Bemerkungen  Kaufholds 
über  das  spanische  Theater.  Ohne  Fachmann  zu  sein,  zeigt  er  hier 
einen  reinen,  gesunden  Geschmack.  Er  hat  einige  Stücke  der  Spanier 
aus  der  klassischen  Periode  gelesen  und  einigen  modernen  AufHihrungen 
derselben  beigewohnt;  er  hat  sich  nicht  von  dem  prunkvollen  Aufseren 
verblenden  lassen,  sondern  tief  ins  Wesen  des  Dramas  geblickt.  Er 
urteilt  allerdings  vom  nüchternen  protestantischen  Standpunkt  aus.  Das 
Unnatürliche,  Übermenschliche,  das  Unwahrscheinliche  überhaupt  in 
der  spanischen  Comedia  hat  schon  er,  wie  später  Grillparzer,  der 
beste  Kenner  der  spanischen  Dramatik  unter  den  Deutschen,  aus  den 
besonderen  Anlagen  im  Charakter  des  spanischen  Volkes,  aus  der 
Leichtgläubigkeit  und  regen  Fantasie  des  Publikums,  erklärt.  Die 
Mängel,  die  Kaufhold  mit  gleicher  Schärfe,  wie  Joh.  Georg  Rist, 
rügt,  haften  eben  wirklich  dem  Drama  der  Spanier  an  und  waren 
Schuld  an  seinem  raschen,  plötzlichen  Untergehen.  —  Um  die  feine 
Beobachtungsgabe  dieses  gänzlich  verschollenen  Deutschen  zu  zeigen, 
soll  hier  einiges  aus  seinem  Elapitel  üb^r  das  spanische  Theater  wort" 
lieh  wiedergegeben  werden, 


358  Artur  Farinelli. 


(I,  193  fF.):  „Um  moralischen  Wert  des  Schauspiels  bekümmert 
sich  der  Spanier  wenig;  Belehrung  und  Bufspredigten  erwartet  er 
nicht  von  der  Bühne;  dazu,  glaubt  er,  sey  die  Kanzel  und  die  Pfaffen 
da ;  ihm  würde  es  daher  lächerlich  vorkommen,  wenn  man  die  Schau- 
spieler als  Sittenlehrer  aufstellen  wollte Der  Spanier  sieht  das 

Theater  als  einen  Belustigungsort  an,  wo  er  für  sein  baar  Geld  durch 
lustige,  komische  Auftritte  aufgeheitert,  entweilt  seyn,  und  sein  Zwerg 
feil  erschüttert  haben  will;  oder  aber,  wo  durch  Darstellung  aufser- 
ordentlicher  Begebenheiten  Sinne  und  Seele  ganz  erschüttert,  und 
gleichsam  aus  ihren  Angeln  gehoben  werden ;  vermöge  seines  National- 
charakters liebt  er  das  Grofse,  das  Feierliche,  das  Aufeerordentliche 
und  Übernatürliche  in  sehr  hohem  Grade;  Engel  und  Teufel,  Zauberer 
und  Zauberinnen,  die  die  Pläne  der  Menschen  in  den  Staub  treten, 
aufserordendiche  Helden,  die  mit  übermenschlichen  Thaten  glänzen 
und  gleich  reifsenden  Fluthen  alles  mit  sich  fortwälzen,  jedes  Hinder- 
niss,  jede  noch  so  drohende  Gefahr  wie  Kartenhäuser  vor  sich  nieder- 
werfen, die  alles  mit  Furcht  und  Schrecken  erfüllen  und  nur  durch 
Unterwerfung  unter  ihre  Befehle  versöhnt  werden  können,  das  sind 
des  Spaniers  Lieblingpscenen,  die  oft  auf  die  seltsamste  Art  noch  mit 
Religion  gepaart  sind;  der  Engel,  oder  Schutzheilige,  der  gewaffiiet 
vor  dem  Helden  herzieht,  kämpft  für  ihn  nur  zum  besten  der  christ- 
lichen Religion,  und  der  Held,  erhaben  über  menschlichen  Stolz, 
rühmt  sich  seiner  Thaten  niu*,  in  sofern  er  dadurch  zur  Verherrlichung 
seines  Gottes  gewirkt  hat.  Sein  Glauben  an  die  Wunderkraft  der 
Heiligen  reifst  ihn  oft  zu  den  abentheuerlichsten  Darstellungen  hin, 
und  zuweilen  läfst  er  den  fürchterlichen  Teufel  oder  sonst  einen  bösen 
Geist  auftreten,  ihn  alles  verheeren,  Schrecken  und  Verderben  ver- 
breiten, und  dann,  wenn  fast  alles  verloren  ist,  so  erscheint  plötzlich 
erweicht  durch  das  Flehen  der  gedrängten  Christen,  ein  Engel  oder 
Schutzheiliger,  der  den  schrecklichen  Feind  zu  Boden  schlägt,  und 
durch  übermenschliche  Kraft  alles  Verderben  wieder  gut  macht;  die 
Gröfse  der  Gefahr  dient  nur  dazu,  irni  seinen  siegreichen  Thaten  mehr 
Glanz   und    Herrlichkeit   zu  geben,    und   sich    ewige    Ehriurcht    und 

Achtung  bei    den  Zuschauem  zu  erwecken Dieser  Hang   zu 

aufserordentlichen  Auftritten,  zu  erschütternden  Heldenscenen  zeigt 
noch  in  dem  jetzigen  Spanier  die  Grundzüge  seines  Heldengeschlechts, 
das  in  vorigen  Zeiten  durch  aufserordentliche  Thaten  in  der  alten  und 
neuen  Welt  Staunen  und  Bewunderung  erregt  und  alle  anderen  Na- 
tionen verdunkelt  hat  .  .  •  .  und  der  stolze  Spanier  brüstet    sich  mit 


Spanien  u.  die  spanische  Litteratur  im  Lichte  der  deutschen  Kritiic  u.  Poesie.   III.  359 

dem  Ruhme  seiner  Ahnen  und  vergifst  gern  darüber  seine  jetzige  Un- 
tätigkeit ....  Aber  eben  dieser  Hang  der  Nation  ist  Ursache»  dafs 
jene  theatralischen  Stücke  keinen  Beifall  erhalten  können,  wo  der 
Verfasser  die  Gröfse  seines  Talentes  durch  genaue  Charakterisierung 
des  Menschen,  durch  sprechende  Schilderung  menschlicher  Leiden- 
schaften darlegt,  mit  ungewöhnlichem  Scharfsinn  und  Beobachtungs- 
geist die  verborgensten  Winkel  des  menschlichen  Herzens  erspähet 
und  die  geheimsten  Triebfedern  von  Tugend  und  Schande,  von  Gröfse 
und  Schwäche  an  das  Licht  zieht,  und  durch  lebhafte  anschauende 
Gemähide  täglicher  Auftritte  Belehrung  und  Besserung  seiner  Leser 
und  Zuschauer  beendzweckt;  dergleichen  Scenen,  so  nutzenvoll  sie 
auch  immer  seyn  und  so  viel  Geistesgröfse  des  Verfassers  sie  immer 
verraten  mögen,  sind  doch  nicht  nach  dem  Geschmacke  des  ver- 
wöhnten Spaniers;  zu  einfach  in  ihrer  Darstellung  fehlt  solchen  Stücken 
das  Wimderbare  und  Abentheuerliche,  wovon  die  ganze  Nation  all- 
gewaltig beherrscht  wird".  —  Kaufhold  sieht  leider  wie  Moratin,  wie 
Iriarte  das  Heil  des  spanischen  Theaters,  die  Rettung  des  guten  litte- 
rarischen Geschmacks  in  der  Nachahmung  der  Franzosen.  Und  so 
lobt  er  die  Jüngeren,  welche  die  alten  Stücke  aus  der  Bühne  zu  ver- 
drängen suchten,  wenn  auch  trotz  ihrer  Anstrengung  das  Volk  an 
seinen  Lieblingen  haften  blieb:  „nie  sind  daher  die  Bühnen  voller, 
als  wenn  ein  Stück  aufgeführt  wird,  wo  übernatürliche,  magische 
Scenen,  aufserordentliche,  blendende  und  täuschende  Dekorationen 
notwendig  machen".  Regelmäfsige  Stücke,  in  welchen  die  Handlung 
einheitlich,  logisch  entwickelt  wird,  haben  keinen  Erfolg.  Das  Publikum 
liebt  leidenschaftlich  das  Theater.  Es  giebt  Schauspiele  im  Uberflufs. 
„Alle  Buchläden  und  Bücherkräme  sind  damit  angefüllt".  Sie  bilden 
die  einzige  gangbare  Lektüre.  Die  Granden  haben  ein  Theater  in 
ihren  eigenen  Schlössern,  wo  sie  „bei  feierlichen  Angelegenheiten  Schau- 
spiele mit  grofser  Pracht  aufFühren".  (Vgl.  auch  Fischer,  Gem.  von 
Madrid,  S.  425.)  Das  Volk  unterhält  sich  am  meisten  bei  der  Auf- 
führung komischer  Stücke  und  derber  Possen,  „je  mehr  das  Zwerg- 
fell erschüttert  wird,  desto  mehr  gefallt  das  Stück".  Zauberstücke, 
von  welcher  Art  sie  auch  sein  mögen,  haben  Glück  beim  Publikum. 
„La  Sortija  de  Giges"  wiu*de  36  Mal  hintereinander  aufgeführt.  Kauf- 
hold hat  einer  Aufführung  des  „Diablo  predicador"  im  Sitio  de 
Aranjuez  beigewohnt  und  schreibt  darüber*):  (I,  199)  „Diese  alberne. 


*)  Ober  den  „Diablo  predicador**  berichtet  auch  Baretti:    „A  Joumey  from  London 
to  Genova**  m,  S.  a8.  Vgl.  Aber  das  Stück  einen  geistreichen  Artikel  von  Viell-Castel  in 


360  Artur  FarineiU. 


abgeschmackte,  sinnlose  und  höchst  unanständige  Vereinbarung  vom 
Christuskinde  und  dem  Erzengel  Michael  mit  dem  Teufel,  und  von 
diesem  wieder  mit  den  Mönchen,  geht  ganz  gegen  allen  gesunden 
Menschenverstand,  gegen  allen  Geschmack  und  Achtung  für  die  Re- 
ligion; und  doch  wird  das  von  göttlicher  und  weltlicher  Obrigkeit 
geduldet".  Was  den  Vortrag  der  Schauspieler  betrifft,  so  ist  dieser 
ihrem  Nationalcharakter  angemessen  ^lebhaft  und  feuriges  In  ko- 
mischen Rollen  sind  spanische  Schauspieler  (I,  205)  „voller  Leben 
und  Thätigkeit,  alles  ist  in  Bewegung,  alles  handelt  mit  •  .  Sie  haben 
darin  einen  grofsen  Vorzug  vor  den  deutschen  Spielern,  die,  wenn 
sie  das  Ihrige  gesagt  haben,  gleich  Bildsaulen  dastehen'^  Der  Fremde 
hat  Mühe  und  braucht  geraume  Zeit,  bis  er  den  spanischen  Geschmack 
zu  ertragen  lernt.  Was  dem  Deutschen  im  Drama  die  Hauptsache 
ist,  ist  dem  Spanier  Nebensache^).  (I,  205):  „Der  Inhalt  der  Stücke 
ist  oft  sehr  sonderbar,  die  Darstellung  schwübtig,  mit  Bombast  und  eitlem 
Prunk  überladen  und  zuweilen  von  einer  Feierlichkeit,  die  ins  Steife  fallt. 
„Das  Publikum  ist  an  das  Wunderbare  gewöhnt  und  läfst  sich  in  seiner  Ein- 
bildung durch  das  Unnatürliche  und  Kindische  der  Darstellung  nicht 
stören".  In  den  Lust-  und  Possenspielen  herrscht  zuweilen  so  viel  Über- 
triebenes, dafs  es  ins  Gemeine,  Pöbelhafte  und  fast  Ausgelassene  über- 
geht; zudem  ist  alles  in  Versen  geschrieben,  und  diese  abgemessene, 
künstliche,  gezwungene  Sprache  streitet  nicht  selten  gegen  die  Natur 
der  Verhandlung  und  ist  häufig  Ursache,  dafs  man  in  den  spanischen 
Stücken  so  viel  pleonastisches  Zeug,  einen  Schwall  hochklingender 
Worte,  die  zwar  anders  ins  Ohr  schallen,  aber  nichts  neues  an  Empfin- 
dungen und  Sentenzen  enthalten,  antrifft.^  —  Den  wunden  Fleck  der 
spanischen  Dramatik  hat  kein  Fremder  so  fiiih  und  so  richtig  erkannt, 
wie  unser  Kauf  hold. 

So  ausfuhrlichen  Bemerkungen  über  die  spanische  Litteratur,  vor- 
züglich über  das  spanische  Theater,  begegnen  wir  in  den  Reisebüchem 


der  „Revue  des  deux  Mondes**    15.  Juni  1840  und  Schack:  „Gescbichte  der  dramatlsrhcn 
Litteratur  und  Kunst  in  Spanien**  U,  632  ff. 

')  Sehr  vemflnftig  über  das  spanische  Theater  schrieb  der  in  Deutschland  viel  ge- 
lesene Giuseppe  Baretti  in  seiner  bereits  erwähnten  Reise  III,  37:  »the  present  race  of 
play-wrights  in  France  and  England  ....  instead  of  neglecting  or  contemniog  the 
dramatic  compositions  of  Spain,  would  not  do  amiss  to  read  many  of  them,  espedally 
those  of  de  Vega  and  Calderon,  not  to  Imitate  them  at  all,  bvt  to  irarm  aad 
^  fecunds^t^  tbeir  own  cold  apd  barren  Imagination", 


Spanien  u.  die  spanische  Litteratur  im  Lichte  der  deutschen  Kritik  a.  Poesie,    m.   361 

Fischers  nicht.  Dieser  gab  am  Schlufs  seiner  „Reise  von  Amsterdam 
über  Madrid  und  Cadix  nach  Genua"  einen  Zusatz  über  die  wichtig- 
sten im  letzten  Dezennium  des  Jahrhunderts  erschienenen  spanischen 
Werke  der  Litteratur  und  der  Wissenschaft.  Es  sind  trockene  Nach- 
richten, die  sich  direkt  an  Tychsens  Aufzeichnungen  (Anhang  zur  Reise 
Bourgoings)  anschliefsen,  die  gleiche  Einteilung  beibehalten  und  eigent- 
lich als  eine  Fortsetzung  von  diesen  letzten  angesehen  werden  müssen. 
Leider  werden  den  oft  entstellten  Büchertiteln  keine  Jahreszahlen 
beigelugt,  offenbar,  weil  Fischer  selbst  aus  verschiedenen  zerstreuten 
Blättern,  welche  nur  unbestimmte  Angaben  enthielten,  schöpfte.  Wäre 
die  y,Biblioteca  periödica  anual  para  utilidad  de  los  libreros  y  literatos", 
welche  1 784  zu  erscheinen  anfing,  nicht  schon  ein  Jahr  darauf  einge- 
stellt worden,  so  hätte  Fischer  Mühe  und  Zeit  erspart,  Zeitungen  wie 
die  „Miscelänea  instructiva  y  curiosa",  die  „Anales  de  literatura, 
ciencias  y  artes*',  welche  den  „Espiritu  de  los  mejores  diarios  de 
Europa"  fortsetzen,  den  „Semanario  erudito  y  curioso",  den  „Correo 
literario  de  Murcia",  den  „Mercurio  histörico  y  politico",  den  „Correo 
literario  deGerona"  den  „Correo  de  Aragon",  den„Caton  Compostelano" 
und  andere  noch  zu  durchblättern.  Aus  den  dürren,  katalogartig  zusam- 
mengereihten Namengerippen  konnte  der  deutsche  Leser  freilich  keine 
klare  Einsicht  in  die  litterarische  Produktion  des  entlegenen  Spanien 
gewinnen.  Fischer  selbst  hat  das  eingesehen  und  in  den  folgenden 
Jahren  das  Bestreben  gezeigt,  mit  eigenen  Übersetzungen,  diwch  Aus- 
züge aus  den  verschiedenen  spanischen  Werken  der  Unkenntnis  seiner 
Landsleute  nachzuhelfen.  —  Was  im  „Gemälde  von  Madrid"  (S.  419  flf) 
über  das  Theater  der  Spanier  gesagt  wird,  kann  sich  mit  Kaufholds  Be- 
richten nicht  im  entferntesten  messen.  Von  den  alten  Bühnenklassikern 
scheint  Fischer  noch  einen  sehr  mangelhaften  Begriff  zu  haben.  Das 
spanische  Theater  sollte  nach  ihm  durch  Entlehnungen  von  auslän- 
dischen Dramen  gereinigt  werden.  „Nichts  mehr  von  Autos  Sacra- 
mentales  und  den  übrigen  Albernheiten,  die  bis  zum  Ekel  wiederholt 
worden  sind!  Die  fortschreitende  Bildung  der  Nation  ist  endlich  auch 
an  ihrem  Theater  zu  bemerken;  schon  kann  man  Hamlet  und  Julius 
Cäsar,  Alzire  und  Merope  auf  den  spanischen  Bühnen  sehen,  einer 
Menge  trefflicher  Originalarbeiten,  besonders  im  komischen  Fach,  nicht 
zu  gedenken."  Unter  dieser  Menge  meinte  Fischer  vielleicht  die  Erst- 
lingsstücke des  Leandro  Fernändez  de  Moratin,  den  damals  und  später 
die  Spanier  als  ihren  Moliere  feierten,  und  der  eben  damals  schlagenden 
Erfolg  erlangte.    Im  Lobe  der  spanischen  Schauspieler  stimmt  Fischer 


362  Artur  Farinelli. 


mit  Kauthold  überein.  In  tragischen  Rollen  sind  sie  zwar  sehr  un- 
natürlich (S.  422),  „aber  in  komischen  spielen  sie  wirklich  musterhaft. 
Die  Damen  besonders  zeigen  eine  bezaubernde  Leichtigkeit...  Am  besten 
gefallen  die  spanischen  Schauspieler  freilich  in  den  Saynetes,  jenen 
kleinen  Farcen,  wo  alles  national,  alles  Natur  zu  seyn  pflegt.  Diese 
werden  mit  einer  Wahrheit,  Lebendigkeit  und  Laune  gespielt,  die  dem 
strengsten  Richter  nichts  zu  wünschen  übrig  lassen  wird." 

Mit  Recht  hat  aber  Fischer  der  Dramatik  der  Spanier  ihre  Er- 
zählungslitteratur  weit  vorgezogen,  und  diese  für  den  Geschmack 
der  Deutschen  angemessener  gefunden,  eifrig  gepflegt  als  Muster  der 
Nachahmung  empfohlen.  Er  selbst  hat  die  Verdeutschung  einiger 
Muster  der  satirisch-komischen  Novellistik  der  Spanier,  eine  „Samm- 
lung komischer  Romane  der  Spanier"  unternommen,  wo  er  die  Quint- 
essenz des  spanischen  Geistes  geben  wollte.  Leider  ist  sie  nicht 
weiter  als  bis  zum  ü.  Bande  gediehen.  Er  hat  die  „Vida  del  Gran 
Tacano"  des  Quevedo,  den  „Guzman  de  Alfarache**  des  Mateo  Ale- 
man  übersetzt.  Dem  ersten  gab  er  den  Titel:  „Abentheuer  und 
Streiche  eines  spanischen  Kniff-  und  Pfiff-Genies"  (Leipzig  1801),  den 
zweiten  nannte  er:  „Geständnisse  eines  Weltkindes"  (Leipzig  1802). 
Er  folgte  nicht  sklavisch  dem  Original,  er  verdeutschte  es  im  wahren 
Sinne  des  Wortes;  dem  allzu  spanisch  Fremdartigen  gab  er  eine 
deutsche  Färbung;  er  wollte  auf  den  Leser  nie  ermüdend  wirken 
und  schrieb  in  einem  munteren,  lebhaften  Stil;  \50r  allem  wufste  er  die 
Scheere  vortrefflich  zu  handhaben  und  schnitt  rechts  und  links,  wo 
es  ihm  passend  dünkte,  besonders  im  „Guzman",  wo  die  Erzählung 
schleppend,  der  Gang  der  Begebenheiten  durch  unnötige  moralisierende 
Betrachtungen  unterbrochen  wird;  er  zwängte  die  zwei  starken  Oktav- 
bände des  Originals  in  einen  kleinen  Duodezband  zusammen.  Diese 
Verdeutschungen  haben  es  wahrlich  nicht  verdient,  gänzlich  verschollen 
zu  sein.  Auch  den  beiden  Diktatoren  der  litterarischen  Kritik  in 
Deutschland:  August  Wilhelm  und  Friedrich  Schlegel,  die  sich  doch 
am  spanischen  Schelmenroman,  am  „Lazarillo"  besonders,  ergötzten, 
sind  die  Arbeiten  Fischers  entgangen.  —  Und  so  kam  es,  dafs  die  ver- 
nünftigsten Leistungen  des  besten  Kenners  Spaniens  seiner  Zeit  mit 
in  den  Haufen  seiner  schlüpfrigen,  obscönen  Erzählungen  gerechnet 
wurden  und  seinen  traurigen  Ruf  als  Verderber  der  Sitten  im  deutschen 
Leserkreis  nicht  zu  retten  vermochten. 

Seltsam  genug  ist  es,  wie  ein  mir  unbekannter,  obscurer  Recen- 
sent  des  verdeutschten  „Gran  Tacaho"  Fischers  in  der  „Neuen  allge* 


Spanien  u.  die  spanische  Litteratur  im  Lichte  der  deutschen  Kritik  u.  Poesie.    III.  863 

meinen  deutschen  Bibliothek"  (LXXIII,  320  ff)  der  stark  gewürzten 
Satire,  dem  übersprühenden  Geist  der  spanischen  Erzählung,  dem 
schlagenden,  beUsenden  Witz,  den  Quevedos  Held  bei  jeder  Gelegen- 
heit entfaltet,  einen  tiefen  philosophischen  Gehalt  unterlegte  und  gar 
als  Vorboten  der  modernen  deutschen  Philosophie,  als  bittere  Persiflage 
des  leeren  deutschen  Idealismus  betrachtete.  (S.  321).  „Es  zeigt  sich, 
dafs  schon  zu  Quevedos  Zeiten  in  Spanien  transcendentale  Philosophen 
und  Idealisten  und  gar  schnurrige  Originalpoeten  vorhanden  waren: 
ebenso  wie  jetzt  in  Jena,  in  Penig  und  in  anderen  Orten**.  Von  dem 
Philosophen,  dem  Don  Pablo  beim  Verlassen  der  Universität  Alcalas 
auf  der  Landstrafse  begegnet,  meint  der  Recensent,  man  möchte  dar- 
auf schwören:  „er  müfste  aus  der  jetzt  neuesten  deutschen  Schule 
seyn".  Bald  werden  Anspielungen  an  Schellings  transcendentale  idea- 
listische Naturwissenschaft,  an  seine  Lehre,  dafs  die  Intelligenz 
als  das  blos  Vorstellende,  die  Natur  hingegen  als  das  blos  Vorstell- 
bare ursprünglich  gedacht  werde,  gefunden,  bald  sollen  die  einge- 
streuten Gespräche  in  Quevedos  Schelmenromanen  an  Fichtes,  an 
Steffens,  an  Hegels  Wissenschaftslehre  erinnern.  Wird  ein  Dichter 
vorgeführt,  welcher  seine  Arche  Noah,  ein  vierzehnaktiges  Stück,  in 
dem  Hasen,  Ratten,  Esel,  Schweine,  Füchse  als  spielende  Personen 
fungieren,  als  sein  Meisterwerk  rühmt,  so  soll  diese  Arche  Noah 
gerade  so  ein  Stück  sein,  „wie  unseres  vielgelobten  Hrn.  Tiecks  schöne 
Schauspiele:  „Genoveva,  das  rote  Käppchen  und  das  Ungeheuer 
oder  der  verzauberte  Wald".  Die  Spitze  des  Romans  aber  ist  gegen 
die  in  Nebel  und  Abstraktionen  gehüllten  modernen  Philosophen  ge- 
richtet. „Man  sieht  wohl",  so  schliefst  der  Recensent  (S.  322),  „es 
geschieht  nichts  neues  unter  der  Sonne,  und  das  neueste  deutsche 
Zeitalter  der  Philosophie  und  Poesie  ist  schon  vor  200  Jahren  in 
Spanien  dagewesen,  ja  sogar  —  schon  verlacht  worden". 

Die  von  Fischer  versprochenen  Verdeutschungen  moderner  litte- 
rarischer Satiren  der  Spanier,  der  bitteren  Erzählung  desFernan  Gutierrez 
de  Vega  „Los  Enredos  de  un  lugar,  ö  Historia  de  los  Prodigios  y 
Hazaüas  del  celebre  Abogado  de  Conchuela,  del  Licenciado  Tarugo, 
del  famoso  Escribano  Carrales  u.  s.  w.  (Madrid  1778  —  81  in  3  Bde.), 
der  humoristischen  Verspottung  des  Adelsstolzes  in  Asturien  und 
Biscaya  des  Alonso  Bernardo  Ribera  y  Sarrea:  „Historia  fabulosa  del 
distinguido  caballero  Don  Pelayo  Infanzon  de  la  Vega,  Quixote  de 
la  Cantabria"  (1792 — 99  in  3  Bde.)  kamen,  so  viel  mir  bekannt, 
nicht  zu  Stande. 


864  Artur  FarinelU. 


Aus  der  8  Oktavbände  starken  „Coleccion  de  novelas  escogidas 
compuestas  por  los  mejores  ingeniös  espafloles"  (Madrid  1785 — 1794)9 
welche  später  oft  und  mit  vielem  Nutzen  von  Clemens  Brentano  und 
Sophie  Mereau  durchblättert  ward,  hat  Fischer  im  Jahre  1801  fünf- 
zehn der  besten  gewählt,  frei  übersetzt  und  in  einem  kleinen  Bande 
„Spanische  Novellen"  (Berlin  1801)  drei  Jahre  vor  den  ,,Spanischen 
und  italienischen  Novellen**  der  Mereau  herausgegeben  *).  Heute  noch 
können  diese  im  frischen  Tone  geschriebenen  Erzählungen  mit  mehr 
Nutzen  und  Vergnügen  gelesen  werden  als  manche  seichte  Produkte 
der  modernen  Romanlitteratur '). 

Fischers  „Spanisches  Lesebuch**  ist  schon  früher  besprochen 
worden').     In    Berlin    1805     erschienen    von   diesem    unermüdlichen 

*)  Von  den  « Spanischen  und  italienischen  Novellen"  der  Sophie  Mereau  ist  der 
erste  Band»  enthaltend  3  der  „lehrreichen  Ersählungen  und  Liebesgeschichten  der 
Dona  Maria  de  Zayas  und  Sotomayor**  zu  Penig  1804  erschienen.  Der  zweite  folgte 
zwei  Jahre  später  (Penig  z8o6)  und  ist  wie  der  erste,  im  grossen  und  ganzen,  eigene 
Arbeit  Clemens  Brentanos.  Vgl.  R.  Steig,  „Achim  von  Arnim  und  die  ihm  nahe  standen". 
Stuttgart  1894,  h  158.  —  Mit  dem  Titel  ^Spanische  Novellen**  taufte  auch  der  uns 
schon  bekannte  Marquis  Grosse  einige  seiner  eigenen  geistlosen  Erfindungen,  welche  in 
2  Teilen  zu  Berlin  erschienen:  „Spanische  Novellen  von  Grosse,  Verfasser  des  Genius** 
I.  Teil,  Berlin  1794.  H.  Teil,  Berlin  1796.  —  Bereits  1791  erschien  eine  deutsche,  von 
niemand  noch  erwähnte  freie  Übersetzung  des  originellen  Schelmenromans  Solörzanos 
«La  Gardufia  de  Sevilla  y  Anzuelo  de  las  Bolsas**  (Logrofio  1634;  letzte  Ausgabe 
Barcelona  1887  in  der  „Biblioteca  cldsica  espafiola**)  mit  dem  Titel  , Donna  Rufina.  Aus 
dem  spanischen  des  Dom  (sicl)  Alonso  Castillo  de  Solorzano".  Wien  1791,  in  2  Bde. 
mit  2  hübschen  Titelkupfem,  einer  Einleitung  über  das  Leben  Sol6rzanos  und  einem 
Verzeichnis  seiner  Schriften.  Der  Deutsche,  dem  vermutlich  die  französische  Über- 
setzung vorlag,  hat  selbst  der  unvollendeten  Erzählung  des  Spaniers  einen  eigenen,  nicht 
eben  geschickten  Schlufs  gegeben. 

*)  Eine  Besprechung  dieser  Novellen  findet  sich  in  der  „Neuen  allgemeinen 
deutschen  Bibliothek**  (1802)  LXDC,  363  f.  „Man  kann  es  diesen  Novellen,  sagt  der 
Recensent,  auf  den  ersten  Blick  ansehen,  dafs  sie  auf  echtem  spanischen  Grund  und 
Boden  gesammelt  sind,  so  sehr  sind  Sittencharakter  und  Handlungen  national**.  Als 
Probe  der  „äu&erst  simpel,  natürlichen  und  flieisenden  Diction**  Fischers  wird  ider  An- 
fang  der  I.  Novelle  ^Der  Gefangene**  angeführt. 

*)  Ohne  Namen  des  Verfassers,  aber  wie  ich  vermute,  Fischers  Arbeit,  sind  die  zu 
Dresden  1799  erschienenen  „Spanisch-deutsche  Gespräche  über  Gegenstände  des  ge- 
meinen Lebens,  der  Politik  und  der  Handlung**.  —  Die  20  Jahre  vorher  erschienenen 
„Vermischte  Aufsätze  in  spanischer  Prosa  mit  beygefügter  Erklärung,  der  schweren 
Wörter  und  Redensarten  zur  Übung  für  Anfänger**.  Frankfurt  und  Leipzig  1779  kenne 
ich  nur  aus  einer  Angabe  bei  Aug.  Burkhardt  „Anleitung  zur  Bücherkunde  in  allen 
Wissenschaften**.  Bern  1797,  S.  373.  —  Vom  Verfasser  der  „Spanischen  Sprachlehre** 
Wagener  rührt  auch  ein  recht  mageres  „Spanisches  Lesebuch  für  Anfänger  nebst  einem 
Wörterbuch  über  die  darin  enthaltenen  Aufsätze**  her.     Hamburg  1793. 


Spanien  o.  die  spanische  Litteratnr  im  Lichte  der  deutschen  Kritik  u.  Poesie,   m.  865 

Forscher  Spaniens:  ,,Spanische  Miscellen^^  meistens  naturwissenschaft- 
lichen Inhalts,  blos  Auszüge  aus  den  seltensten  spanischen,  ameri- 
kanischen Zeitungen,  wo  unter  den  Berichten  über  Tauben-  und 
Pferdezucht,  über  Erdbeben  und  derartiges,  auch  Nachrichten 
zweier  Schriften  von  Spanien  über  die  deutsche  Litteratur  enthalten  sind. 

Rührend  gewifs,  diese  ununterbrochene  Propaganda  Fischers 
für  sein  geliebtes  Spanien  I  Sein  Herz  hing  stets  voll  Liebe  und  Be- 
wunderung an  dem  fernen,  lang  verkannten,  mifsachteten  Lande.  Er 
hat  sich  nicht,  wie  die  Romantiker  vor  und  nach  ihm,  in  leeren 
Wortschwall  verloren  und  seine  Bewunderung  in  nichtssagenden, 
Superlativen,  stark  kolorierten  Adjektiven  Ausdruck  gegeben;  er  hat 
wirklich  lur  seine  Liebe  und  sein  Ziel  gehandelt;  er  hat  seine  Feder 
in  den  Dienst  der  Spanier  gesetzt;  er  hat  auch  das  Trockenste  nicht 
gescheut,  wenn  daraus  nur  ein  praktischer  Nutzen  für  seine  Lands- 
leute und  für  seine  Spanier  gezogen  werden  konnte.  Obgleich  seine 
Schriften  veraltet,  sollte  doch  sein  Andenken  als  eines  der  tätigsten 
Vermitder  zwischen  Deutschland  und  Spanien,  in  fernen  Jahrhunderten 
fortleben. 

Link  hat  am  Schlufs  des  ü.  Bds.  seiner  Reise  (S.  229)  einen  An- 
hang „Über  die  portugiesische  Litteratur  und  Sprache''  beigefügt. 
Es  sind  Bemerkungen  eines  Dilettanten,  welche  doch  von  feinem 
Geschmack  und  poetischem  Gefühl  zeugen,  nach  aufmerksamer  Lektüre 
niedergeschrieben  wurden  und  sich  über  Altes  und  Neues  erstrecken. 
Wie  leicht  zu  erwarten,  stellt  Link  seine  Portugiesen  auch  in  litte- 
rarjscher  Hinsicht  hoch  über  die  Spanier  (S.  235).  „Portugal  rühmt 
sich  mit  Recht,  die  gfröfsten  Dichter  der  Halbinsel  hervorgebracht  zu 
haben  und  Spanien  mufs  ihm  ohne  allen  Zweifel  nachstehen.  Was  ist 
Ercilla,  was  sind  alle  spanischen  Epopöendichter  gegen  Camöes,  der 
mit  den  ersten  italienischen  Dichtern  wetteifern  kann.  Die  Ulyssipo 
des  Sousa  Macedo  würde  sich  noch  immer  mit  Ercillas  Araucana 
messen  können''.  Link  ist  ein  grofser  Verehrer  Camöes;  wandert  er 
in  der  von  Byron  so  gern  bereisten  Provinz  Alemtejo  durch  das 
romantische  Tal  Montijos,  so  will  die  Erinnerung  an  die  auch  von  Julius 
V.  Soden  im  Jahre  1784  dramatisierte  Geschichte  der  Inez  de  Castro  ^) 

^  Die  auch  Jus  Italienische  flberaettte  (nicht  su  verwechseln  mit  der  Übersetzung 
TOD  Colom^s  Stflck:  «Agnese  di  Castro.**  Livomo  1789)  «Ignez  de  Castro  —  Trauer- 
spiel in  5  Akten**,  München  1784  (U.  Aufl.  Berlin  1787)  Sodens  wurde  selbst  in  Berlin 
im  Desember  1786  cur  Darstellung  gebracht.  Vgl.  C.  Schäffer  und  C.  Hartmann  ^Die 
königlichen  Theater   in  Berlin.    Statistischer  RQckblick   auf  die  künstlerische  Thätigkeit 


866  Artur  Farinelli. 


nicl^t  schwinden  und  er  ruft  begeistert  aus  (II,  43):  „Wenn  die 
Dichtung  hin  und  wieder  helle  Funken  in  Portugal  erscheinen  lälst, 
so  ist  es  dein  Werk,  schönes  Thal!"  Er  wird  vom  Zauber  der 
Sprache  in  der  „Lusiade"  hingerissen;  nachdem  er  ein  paar  Strophen 
aus  dem  3.  Gesang  übersetzt  hatte,  gesteht  er,  dafs  das  Deutsche 
nicht  im  Stande  sei,  die  Schönheit  des  Originals  wiederzugeben.  Un- 
umschränktes Lob  zollt  er  aber  dem  Epos  nicht.  Er  findet  da  und 
dort  zu  tadeln.  „Selbst  die  Episode  in  der  Lusiade  von  Camöes  hat 
bey  vortrefflichen  Stellen  eine  Anrede  der  Inez  an  Alfonso,  die 
man  absichtlich  nicht  schlechter  hätte  machen  können".  —  Von  mo- 
dernen, zeitgenössischen  Dichtern  nennt  er  (II,  240)  den  drolligen 
Manoel  Barbosa  de  Bocage,  den  er  nur  als  Lyriker,  nicht  als  Dra- 
matiker kennt  und  dessen  „sanfte,  zarte  Sprache"  die  „Fülle  von 
schönen  Ausdrücken"  er  doch  zu  sehr  hervorhebt ').  Aus  den  zu 
Lissabon  1 794  erschienenen  „Rimas"  des  Bocage  citiert  er  das  Sonett 
über  den  Zustand  von  Indien  und  fugt  seine  Übersetzung  hinzu.  Auch 
die  „Poesias  lyricas"  des  Medina  (Lissabon  1797)  sind  ihm  bekannt 
(S.  243).  Er  vermifst  aber  darin  die  Fülle  und  Stärke  der  Lyrik 
Bocages.  „Sanfte  Empfindungen,  vorzügliche  Schilderungen  von 
schönen  Gegenden",  geraten  dem  Verfasser  besser.  Das  komische 
Heldengedicht  des  Joäo  Jorge  de  Carvalho:  „Gaticanea  ou  cruelissima 
guerra  entre  os  caes  e  os  gatos"  (Lissabon  1794)  findet  Link  mit 
Recht  zu  einfaltig  und  platt.  Im  allgemeinen  sind  Sonette,  Oden, 
Schäfergedichte  am  liebsten  in  Portugal  gepflegt.  (S.  237):  „Die 
meisten  Gelegenheitsgedichte,  alle  Gedichte  aus  dem  Stegreife  sind 
Sonette".  An  Romanen  findet  der  Portugiese  keine  Freude.  Beliebt 
und  volkstümlich  ist  nur  die  „Historia  de  Carlos  Magno  ou  de  doze 
Pares  de  Fran^a",  wovon  unaufhörlich  neue  Ausgaben  gemacht 
werden.  Novellen  werden  meistens  aus  der  5  bändigen  Sammlung 
„Lances  de  Ventura,  Acasos  da  Desgra^a  e  Heroismos  da  Vertude, 
Novelas    ofFerecidas    a    NaQäo    portugueza    para    seu    divertimento** 


und  die  Personal- Verhältnisse  während  des  Zeitraums  vom  5.  Dezember  1786  bis 
31.  Dezember  iSSs".  Berlin  1886,  S.  98.  —  Auf  Houdar  de  la  Mottes  Stück  und 
Zingarellis  Oper  «Ines  de  Castro**,  baute  später  Heinrich  Keller  sein  in  Zürich  1805 
(acht  Jahre  nach  der  „Noche  ■  terrible,  ö  Ines  de  Castro",  des  Juan  Maria  Rodrfguez) 
erschienenes  funfaktiges  Trauerspiel  ,Ines  del  Castro".  Vgl.  B.  Wyss:  „Heinrich 
Keller  der  Züricher  Bildhauer  und  Dichter",  Frauenfeld  1891  S.  47  ff.  —  Bereits  im 
Jahre  1771  war  in  Wien  ein  sogenanntes  Originaltrauerspiel  „Pedro  und  Ines**  aufgeführt. 
*)  Vgl.  die  von  Brag^  besorgte  Ausgabe  Bocages  «Obras  poeticas**  (7  B.)  Porto 
i87^__76j  und  Braga,  „Bocage.     Sua  vida  e  epoca  litteraria".     Porto  1876. 


Spanien  m  die  spanische  Litteratur  im  Lichte  der  deutschen  Kritik  u.  Poesie   IlL    86? 

(Lissabon  1794)  gelesen.  EMe  Prosa  ist  in  Portugal  weit  schlechter 
als  die  Poesie.  Der  Stil  in  den  meisten  prosaischen  Schriften 
(S.  243)  ^hat  zwar  nicht  den  Schwulst,  den  die  Spanier  noch  nicht 
ablegen  können,  ist  aber  verwickelt,  undeutlich,  voll  Wiederholungen 
und  Abschweife**.  Die  Wissenschaft  ist  sehr  im  Rückstande.  Ein 
Schriftsteller  fangt  noch  immer  seine  wissenschaftliche  Untersuchung 
von  Adam  oder  der  Sundflut  an.  Rafael  Bluteau  ist  für  Link  „der 
absurdeste  aller  absurden  Schriftsteller**.  In  der  Philologie  wird  nichts 
geleistet.  (S.  248):  „In  Spanien  erscheinen  doch  noch  von  Zeit  zu  Zeit 
prächtige  Ausgaben  von  den  klassischen  Schriften  der  Alten,  hier  nur 
unbedeutende,  fehlerhafte  Abdrücke  für  die  Schuljugend**.  Nach  dem 
Erscheinen  von  Barbosa  Machados  bekanntem  Werke  „Bibliotheca 
Lusitana**  wurde  die  Litteraturgeschichte  vernachlässigt.  Die  von  der 
Akademie  veröflfentlichten  „Memorias  de  Litteratura  portugueza**  ent- 
halten im  Fache  der  Litteraturgeschichte  blos  eine  magere  und 
dürftige  Abhandlung  über  die  bukolische  Dichtung  *).  —  Für  Link 
ist  das  Theater  schlecht  in  Spanien  und  ebenso  schlecht  in  Portugal 
(I,  104):  »Auf  den  beiden  Theatern  in  Madrid  werden  meistens 
schlechte  Stücke,  von  meistens  schlechten  Schauspielern  gegeben**. 
In  Lissabon  ist  nur  die  italienische  Oper  im  Aufschwung.  „Kein 
Frauenzimmer  darf  das  Theater  betreten  (I,  232);  ihre  Rollen  werden 
von  Männern  gemacht,  welche  kaum  den  Bart  verbergen  können**. 
(In  den  Zusätzen  im  III.  B.  aber,  S.  193:  „Übrigens  haben  die  Theater 
in  Lissabon  dadurch  eine  gfrofse  Verbesserung  erhalten,  dafs  man  dem 
Frauenzimmer  wiederum  erlaubt  hat,  sie  zu  betreten**.)  „Die  Schau- 
spieler sind  überdies  zum  Theil  Handwerker,  ein  Schuster,  der  am 
Tage  sein  Handwerk  trieb,  spielte  unter  anderen  Komikern  den  Alten 
und  war  nicht  der  schlechteste  Schauspieler**.  Meistens  gibt  man 
Übersetzungen  aus  dem  Italienischen,  seltener  Nachahmungen  von 
Stücken  aus  anderen  Sprachen  und  noch  seltener  Originale**  (III.  B. 
S-  193:  „oft  werden  aber  die  Übersetzungen  von  Moliere  gegeben, 
welche  grofsen  Beyfall  haben**)  *). 


')  Link  hatte  offenbar  blos  den  i.  Bd.  der  „Memorias**  (Lisboa  1792)  gelesen, 
welcher  (S.  i  ff.)  die  ^Memorias  sobre  a  Poesia  BucoHca  dos  Poetas  Portugueies**  ent- 
hält. Im  2.  und  in  den  folgenden  Bänden  hätte  Link  wenigstens  die  Aufsätze  des 
Antonio  Ribeiro  dos  Santos  „Da  Litteratura  Sagrada  dos  Judeos  Portuguezes**  hervor- 
heben müssen. 

')  Diese  Nachrichten  bestätigen  die  Mitteilungen  von  Braga  im  6.  Bde.  meiner 
„Historia  da  litteratura  portugueza"  —  «A  BaixaComedia  e  a  Opera  (Porto  1872).  —  Aus 

ZtachT.  f.  vgl  Litt.<Geacfa.    N.  P.    VI II.  ^ 


868  Artur  FarinellL 


Als  eine  Fortsetzung  von  Tychsens  und  Fischers  Nachrichten  über 
den  „gegenwärtigen  Zustand  der  spanischen  Litteratur**  dürfen  die  im 
August  1801  im  „Intelligenzblatt  der  allgemeinen  Litteratur-Zeitung*' 
(Nr.  149;  152;  155 — 158)  unter  dem  Titel:  „Spanische  Litteratur  zu  Ende 
des  achtzehnten  Jahrhunderts"  erschienenen  Artikel  eines  Dr.  Escher 
betrachtet  werden,  dessen  Leistungen  im  Spanischen  ich  sonst  nicht 
näher  kenne.  Es  wird  hier  wiederum  versucht,  eine  Lanze  zu  Gunsten 
der  vernachlässigten  Spanier  zu  brechen,  —  Trotz  Bourgoing,  Fischer 
und  anderen,  welche  zur  Entschuldigung  und  zum  Ruhme  der  Spanier 
gesprochen  haben,  denken  sich  doch  viele  Deutsche  diese  Nation  in 
Rücksicht  auf  wissenschaftliche  Bildung  so  zurück,  dais  man  es  kaum 
der  Mühe  wert  finde,  ihre  Schriftsteller  zu  würdigen.  —  Werden 
einige  Fächer  vernachlässigt,  ist  der  Buchhandel  in  Spanien  wenig  ent- 
wickelt, so  ist  „das  kirchliche  System  des  Landes**  daran  schuld. 
Auch  gegen  die  Anklage  der  Vernachlässigung  und  Geringschätzung 
alles  Fremdländischen  sucht  Escher  die  Spanier  zu  verteidigen.  Es 
sei  dies  ein  gewöhnliches  Vorurteil.  Laut  dagegen  sprechen  ^mehrere 
ihrer  Journale,  die  Nachrichten  von  ausländischen  Schriften,  Ent- 
deckungen u.  s.  w.  enthalten  .  .  .  Französische  Bearbeitungen  eng- 
lischer und  deutscher  Schriften  dienen,  wenn  nicht  zur  Grundlage  von 
Übersetzungen,  doch  als  Quellen  des  Studiums  ihres  Inhalts".  — 
Sehr  mager,  blos  die  litterarische  Produktion  der  Jahre  1799  und 
1800  umfassend,  ist  die,  nach  Tychsens  angegebenem  Schema,  einem 
Herbarium  ähnliche  Übersicht  über  die  zeitgenössische  Litteratur  der 
Spanier.  Mit  ein  paar  Worten  und  Namen  wird  die  moderne  Dichtung 
abgefertigt,  welche  nach  Escher,  der  alten  an  „Feuer  und  Fruchtbar- 
keit^ nachsteht,  aber  doch,  „wie  Bourgoing  bemerkt",  mehr  Geschmack 
zeigt.  Die  Theorie  der  Kunst  wird  eifriger  als  ehedem  studiert.  (Eben 
im  Jahre  1799  erschienen  Losada's  „Elementos  de  Poetica".)  Für 
die  Fabel  zeigen  die  Dichter  Spaniens  eine  besondere  Vorliebe.  Nach 
Iriarte  und  Samaniego  druckte  Ibanez  de  la  Renteria  im  Jahre  1800 
die  2  Bde.  seiner  „Fabulas  en  verso". 


den  80  er  Jahren  stammen  zwei  deutsche  Übersetzungen  aus  dem  Portaglesischea, 
welche  hier  im  Anschluls  an  Links  Urteilen  erwähnt  werden  dürfen:  178a  verdeutschte 
ein  H.  V.  Z.  das  Stück  „O  Ciosa"  des  Ferreira,  welches  1825  ins  Eng^lische,  1835 
ins  Französische  übersetzt  wurde.  —  1788  erschien  zu  Rotenburg  der  «Briefwechsel 
einer  portugiesischen  Nonne*",  eine  Übersetzung  der  fünf  Liebesbriefe  der  Nonne  Marianna 
Alcoforado ;  über  sie  vgl. '  Luciano  Cordeiro :  „Soror  Marianna  a  freira  portugueza*. 
Lisboa  1890. 


Spanien  u.  die  spanische  Litteratur  im  Lichte  der  deutschen  Kritik  u.  Poesie,   m.    369 

Im  gleichen  Jahre  mit  Eschers  Artikel,  als  bereits  die  Romantiker 
Spanien  wie  ein  neuentdecktes  Land  den  Deutschen  vorgeführt  hatten, 
gab  Friedrich  Buchholz  in  Berlin  den  I.  Band  seines  Werkes  „Hand- 
buch der  spanischen  Sprache  und  Litteratur"  (Prosaischer  Teil) 
heraus*).  Es  ist  eine  fleifsige  Kompilation,  die  gegenüber  dem 
Lesebuch  Bertuchs  einen  Fortschritt  bezeichnet,  ein  ziemlich  dicker 
Band,  welcher  Stücke  aus  alten  und  neuen  Schriftstellern  in  chrono- 
logischer Reihenfolge  enthält,  eine  Art  Lemcke'sches  „Handbuch"  doch 
ohne  seine  Tiefe  und  Gründlichkeit.  Der  poetische  Teil  erschien 
3  Jahre  später  und  soll  im  Zusammenhange  mit  der  gleichzeitig  er- 
schienenen „Geschichte  der  spanischen  Poesie  und  Beredsamkeit" 
Bouterweks  besprochen  werden.  —  In  der  Vorrede  wird  das  Werk 
mit  mächtigen  Posaunentönen  als  eine  neue  und  wohltätige  Leistung  ver- 
kündigt. Die  Deutschen  erhalten  wegen  ihres  Kaltsinns  und  ihrer  Gleich- 
giltigkeit  gegen  alles,  was  Spanien  betraf,  und  wegen  ihres  andauernden, 
einseitigen  Studiums  der  Franzosen  und  der  Engländer  eine  derbe, 
moralische  Lektion.  Einem  deutschen  Gelehrten  und  Fachmann  ist 
unter  den  Prosaisten  Spaniens  höchstens  Cervantes,  unter  den  Dichtern 
höchstens  Boscan  bekannt.  Südliche  Dichtung  überhaupt  wird  für 
die  Entwickelung  des  deutschen  Geistes  nicht  für  notwendig  erachtet. 
Man  glaubt  mit  Unrecht,  dafs,  weil  in  Spanien  weniger  als  in  Deutsch- 
land gedruckt  wird,  dort  eine  geringere  Masse  von  Ideen  im  Umlauf 
sei,  dafs  die  Spanier  in  der  Geisteskultur  den  Deutschen  nachstehen. 
Zählte  ja  Spanien  „gegen  1300  Dichter  und  mit  diesen  einen  Lope  de 
Vega,  dessen  sämtliche  Werke  allein  eine  Bibliothek  von  Dichtern 
aufwiegen  könnten,  so  zahlreich  und  so  gut  sind  sie"  (S.  IX).  Diesem 
überfruchtbaren,  vortrefflichen  Lope  hat  aber  Buchholz,  nach  seinem 
später  erschienenen  poetischen  Teil  des  Handbuches  zu  schliefsen,  nie 
gekannt  und  gelesen.  Die  so  übel  verschrieene  Inquisition  nimmt 
Buchholz  in  Schutz.  Es  ist  ungerecht,  wenn  man  sie  als  einen  consessus 
von  Höllenrichtern  betrachtet,  welcher  über  alles  Schöne  und  Grofse 
das  Verdammungsurteil  ausspricht.  „Die  ganze  spanische  Litteratur 
widerlegt  das  Urteil"  (VI).  In  allen  Litteraturgattungen  wetteifert 
Spanien  mit  Deutschland.     „Die   Auszüge    aus    dem   Amadis   mögen 


1)  F.  Buchholz:  ^Handbuch  der  spanischen  Sprache  und  Litteratur.  Sammlung 
interessanter  Stücke  aus  berühmten  spanischen  Prosaisten  und  Dichtem,  chronologisch 
geordnet  und  mit  Nachrichten  von  den  Verfassern  und  ihren  Werken  begleitet.  I.  Prosaischer 
Theil".  Berlin  1801.  —  Eine  kleine,  unbedeutende  Recension  dieses  I.  T.  brachte  die 
„Neue  allg.  BibUotbek'<  (1802)  LXIX,  243. 

24* 


870  Artur  ParinelÜ. 


beweisen,  dafs  in  Spanien  schon  vor  beinah  400  Jahren  bessere  Ritter- 
romane  geschrieben  werden  als  in  dem  letzten  Jahrzehnt  des  so  eben 
verflossenen  Jahrhunderts  auf  deutschem  Grund  und  Boden  entstanden 
sind;  und  die  Auszüge  aus  Huarte's  Examen  de  los  ingeniös  mögen 
zeigen,  dafs  die  spekulative  Philosophie  schon  vor  250  Jahren  daselbst 
sehr  wesentliche  Fortschritte  gemacht  hatte.  Um  sich  zu  überzeugen, 
dafs  die  Spanier  auch  einen  Swift  und  Butler  haben,  lese  man  die 
Werke  des  Saavedra  Faxardo  und  des  Quevedo  Villegas"  (XI).  — 
Da  spanische  Werke  immer  noch  zu  den  gröfsten  Seltenheiten  in 
Deutschland  gehörten,  war  das  Handbuch  Buchholz*  ein  bequemes 
Hülfsmittel,  um  einen  Überblick  über  die  prosaische  Litteratur  der 
Spanier  zu  gewinnen.  Zu  seiner  Zeit  mag  es  durch  die  Hände  vieler 
gegangen  sein.  Schillers  Freund,  Chr.  G.  Körner  hat  später  Calderon 
aus  dem  IL  Teil  des  Handbuches  Buchholz'  kennen  gelernt.  —  Nebst 
Sedanos  „Parnaso  Espanol^^  dienten  Buchholz  als  Quellen  zu  seinen 
knappen  biographischen  Abschnitten:  Diezes  Geschichte,  selbst  Schottus« 
Nicolas  Antonio,  Mayans  y  Siscar,  Baretti.  Die  Nachrichten  über 
Cervantes  sind  aus  der  Biographie  des  Vicente  de  los  Rios  geschöpft. 
Die  Wahl  der  Stücke  aber  ist  nicht  immer  eine  glückliche.  Aus  Capmanys 
„Teatro  histörico  critico  de  la  Eloqüencia  espaiiola"  (Madrid  1786 
—  1794)  hätte  Buchholz  bequemer  schöpfen  und  bessere  Beispiele 
entnehmen  können.  Das  Mifsverhältnis  des  Werkes  ist  augenfällig; 
den  modernen  wie  Ulloa,  Campomanes  und  Munoz  wird  übermäfsig 
Platz  eingeräumt;  der  erste  ist  mit  etwa  100  Seiten  vertreten,  während 
bessere  Schriftsteller  aus  früheren  Jahrhunderten  kaum  eine  Er- 
wähnung finden.  Von  Cervantes  hat  aber  Buchholz  nicht  blos  Aus- 
züge aus  dem  „Quixote",  sondern  auch  ein  Kapitel  des  „Persües" 
(Lib.  III  Kap.  VI)  und  eine  Novelle  aus  dem  Schatze  der  „Novelas 
exemplares"  mitgeteilt. 


IV.  Teü. 

Deutschland  und  die  deutsche  Litteratur  im  Lichte  der  spanischen  Kritik  in 

der  2.  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts. 

Es  war  in  den  bis  jetzt  besprochenen  Schriften  der  Deutschen 
so  viel  und  so  oft  von  der  Gleichgiltigkeit  der  Spanier  gegenüber 
allem,  was  nicht  einheimisch  war,  die  Rede,  dafs  im  Leser  wohl  der 
Wunsch  rege  geworden  sein  dürfte,  zu  vernehmen,  was  Spanien  gegen 
Schlufs  des  vorigen   Jahrhunderts  von  Deutschland   wirklich  kannte. 


Deutschland  u.  die  deutsche  Litteratur  im  Lichte  der  spanischen  Kritik  u.  Poesie.  IV.  371 

Waren  die  Klagen  der  Deutschen  begründet?  Stand  wirklich  zwischen 
Spanien  und  Deutschland  eine  chinesische  Mauer,  welche  zu  durch- 
dringen kein  Spanier  sich  getrauen  sollte?  —  Vom  gewaltigen  Auf- 
schwung der  deutschen  Litteratur  zur  Zeit  Winckelmanns,  Lessings 
und  des  jungen  Goethe  hatten  sämtliche  romanische  Nationen  kaum 
einen  Begriff.  Prankreich  erhielt  zwar  häufige,  doch  unklare  Berichte 
über  die  litterarische  Produktion  Deutschlands  in  Melchior  Grimms 
„Correspondance  litteraire*',  im  „Journal  etranger",  im  „Mercure  de 
France^',  in  anderen  Zeitschriften,  in  Übersetzungen  und  Kompendien  ^). 
Erst  die  Reise  M«  de  Staels  im  Jahre  1803  und  vollends  ihr  Buch 
,»De  TAllemagne"  (1810)  haben  Licht  in  das  Chaos  gebracht.  —  Was 
die  Italiener:  Denina,  Bertola,  Bettinelli,  Bianconi  und  ein  paar  andere  von 
deutscher  Litteratur  berichteten,  ist  meist  oberflächlich  und  einseitig 
geschrieben;  das  Wertlose  wird  oft  auf  Kosten  des  wahrhaft  Grofsen 
und  Schönen  gepriesen*).  Die  Reise  der  Stael  und  Aug.  Wilh.  Schlegels 
nach  Italien,  welche  viele  noch  heute  als  Ausgangspunkt  für  eine 
grundlichere  Kenntnis  von  Deutschlands  Kultur  und  Litteratur  an- 
nehmen, hat  in  dieser  Hinsicht  wenig  genützt,  und  die  frühere  eng- 
herzige Meinung  nicht  mehr  zu  ändern  vermocht.  —  Spanien  mufste, 
auch  seiner  isolierten  geographischen  Lage  wegen  tiefer  als  Italien  in 
der  Kenntnis  deutschen  Wesens  stehen.  Wenn  dann  und  wann  vor 
Schlufs  des  Jahrhunderts  deutsche  Namen  und  deutsche  Schriften  in 
spanischen  Zeitungen  genannt  werden,  so  war  das  nur  ein  Abklatsch 
aus  fi-anzösischen  Berichten.  Die  wenigen  Übersetzungen  von  deutschen 
Werken,  welche  die  Spanier  in  dieser  Zeit  geliefert,  sind  ausnahms- 
los nach  französischen,  abgedroschenen  Berichten  verfertigt  worden. 
Hat  ja  Spanien,  selbst  in  unserem  Jahrhundert  Deutschland  blos  im 
Spiegel  des  Staelschen  Werkes  gesehen,  die  Urteile  der  geistreichen, 
genialen  Pranzösin  ohne  weitere  Prüfung  und  Kritik,  ohne  eine  eigene 
Anschauung    des  Besprochenen  zu  gewinnen,    als  unfehlbares  Dogma 


*)  Vgl.  Th.  Süpfle:  „Geschichte  des  deutschen  Kultur einflusses  auf  Frankreich*, 
I,  1 37  ff. ;  11,  I  ff.,  ein  gründliches  Werk,  mit  dem  sich  nicht  vergleichen  läist  die  kläg- 
liche Schrift  P.  Meifsners:  ^Der  Einfluis  deutschen  Geistes  auf  die  französische  Litteratur 
des  18.  Jahrhunderts**.     Leipzig  1893. 

*)  Vgl.  T.  Thiemann:  „Deutsche  Kultur  und  Litteratur  des  18.  Jahrhunderts  im  Lichte 
der  zeitgenössischen  italienischen  Kritik".  Oppeln  x886.  —  G.  Piergili:  „II  Foglio 
azzurro  e  i  primi  romantici**  in  der  „Nuova  Antologia*".  1 886  (August).  —  Interessant  und 
neu  sind  die  Berichte  Acerbis  (Direktor  der  „Biblioteca  Italiana")  Qber  Klopstock  und  die 
deutsche  Litteratur,  welche  mein  Freund  Luzio  mitteilte.  Vgl.  „Aus  Klopstocks  letzten 
Jahres,  Auizeichnangen  eines  Italieners*":  Deutsche  Rundschau  1894(7), 


872  Axtur  Farinelli. 


angenommen.  Begegnet  man  ja  in  sogenannten  gelehrten  spanischen 
Abhandlungen  der  dreifsiger,  der  vierziger  Jahre  immer  noch  den 
Namen  deutscher  Dichter  im  merkwürdigsten  chaotischen  Durchein- 
ander und  als  Repräsentanten  bald  klassischer,  bald  romantischer 
Poesie*).  Mufste  ja  Harzenbusch  noch  1841  gestehen,  dafs  Spanien 
im  Allgemeinen  eine  mittelmäfsige  Kenntnis  von  der  Litteratur  Frank- 
reichs besitze  und  von  den  anderen  nichts  wüfste^). 

XV. 

Im  18.  Jahrhundert')  hatten  spanische  Gelehrte  eine  nicht  viel 
bessere  Vorstellung  von  Deutschland  wie  das  gemeine  Volk,  das, 
wie  Tychsen  berichtet,  Deutschland  „als  einen  kleinen  Bezirk**  in  der 
Welt,  „wo  noch  Finsternis  herrscht",  betrachtete*).  —  Feijöo  hatte 
im  Jahre  1728  im  „Theatro  crftico  universal"  die  Spanier  vor  Nach- 
ahmung   fremder  Kultur   gewarnt.     „In  jeder  Hinsicht   verlieren    wir 


*)  Ich  entsinne  mich  noch  eines  Artikels:  „Sobre  ciisicos  y  romänticos**  in  den 
«Carlas  E^paAoIas  6  sea  Revista  historica,  teatral,  artistica,  critica  y  literaria*"  Vol.  V. 
Madrid  1832.  (Unterschrieben:  El  consabido)  S.  31  ff.,  wo  derartiges  gefaselt  wurde, 
Schiller  und  Schlegel  (wohl  August  Wilhelm)  „crfticos  eminentes**  bald  als  Romantiker, 
bald  als  Klassiker  figurieren  und  folgenden  herrlichen  Schlu(s  enthält:  S.  36  „Concluyo 
diciendo  que  ni  Schiller,  ni  Schlegel,  ni  yo,  ni  hombre  alguno  racional  hemos  sostenido 
nunca  que  las  reg  las  deben  despreciarse"*.  —  In  der  Biographie  des  Juan  Nicasio  Gallego 
(nGaleria  de  espanoles  c^lebres  contemporin^os**  por  Nicomedes  Pastor  Diaz,  T.  VIII. 
Madrid  1845,  S.  56)  ist  die  Rede  von  der  Verbreitung  in  Spanien  des  »gusto  aleman 
que,  aunque  por  el  conducto  poco  puro  de  traducciones  francesas  han  propagado  en 
el  Ocidente  de  Buropa  las  obras  de  Schiller,  Kotzebue,  Goethe  y  otros,  ha  abierto  sin 
duda  este  nuevo  rumbo  d  las  ideas  y  mdximas  literarias**  u.  s.  w. 

*)  .  .  .  nosotros  solo  tenemos  en  general  una  mediana  noticia  de  la  literatura  fran- 
cesa;  de  las  demds  nada  sabemos"*  im  «Semanario  pintoresco  BspaAol**.  Madrid  1841.  S.  203. 

*)  Aus  dem  vorigen  Jahrhundert  stammt  ein  interessantes  Werk  über  Poetik  eines 
Spaniers  (eigentlich  böhmischen  Ursprunges),  welches  da  und  dort  auch  die  deutsche,  ja 
sogar  auch  die  ungarische  Poesie  berücksichtigt.  Es  ist :  Joannis  Caramuelis.  Primus  Cala- 
mus.  Tomus  II.   Ob  oculos  exhibens  Rhythmicam  quae  Hispanicos,  Italicos,  Galileos,  Germa- 

nicos,  etc.     Versus  metitur,    eosdemque    concentu  exomans,  viam    aperit,  etc 

II.  Ausgabe.  Campaniae  1668.  Vgl.  S.  382  ff.  und  die  ^Metametrica**  des  nämlichen 
Caramuel,  Anhang  S.  21  ff. 

^)  Tychsen  im  erwähnten  „  Anhang  über  den  gegenwärtigen  Zustand  der  spanischen 
Litteratur"  S.  330.  —  K.  Ph.  Moritz  erzählt  in  seinen  „Reisen  eines  Deutschen  in  Italien 
in  den  Jahren  1786  bis  1788".  Berlin,  1792  (am  17.  März  1788),  wie  ein  spanischer 
Mönch  bei  Neapel  sich  mit  ihm  im  „abscheulichen  Latein**  unterhielt,  „und  versichert 
mir  mit  Zuverlässigk^t^  daüs  d^r  König  von  Preufsen  als  ein  guter  katholischer  Christ 
gestorben  sey". 


Deutschland  u.  die  deutsche  Litteratur  im  Lichte  der  spanischen  Kritik  u.  Poesie.  IV.  373 

-  — —  -    ■      -  -  —  -  —  -  -  ■  ■  ■  ■ 

Spanier  im  Verkehr  mit  den  Fremden,  am  meisten  aber  in  der  Nach- 
ahmung fremder  Sitten.  Wir  entnehmen  von  ihnen  die  schlechten  und 
vernachlässigen  die  guten"  *).  In  einem  Kapitel  des  nämlichen  „Theatro" 
(Tomo  I,  Discurso  XV,  §  2  „Mapa  intelectual  y  cotejo  de  naciones" 
S.  271  f.)  kam  er  auf  die  Deutschen  zu  sprechen,  welche  trotz  der 
Behauptung  eines  französischen  Jesuiten  „so  viele  vortrefiliche  Schrift- 
steller in  allen  Gattungen  der  Litteratur  besitzen,  dafs  man  sie  un- 
möglich aufzählen  kann^^).  Und  er  meint,  blos  die  allerhöchsten 
Bergspitzen  (solo  los  montes  de  mayor  eminencia)  in  seinem  „Mapa 
literario  de  Alemania"  zu  berühren,  wenn  er  Rabanus  Maurus  und 
Gaspar  Schoppius  nennt;  der  erste:  ein  hellleuchtendes  Gestirn,  der 
gröfste  Theologe  seiner  Zeit,  in  allen  Wissenschaften  bewandert, 
Dichter  und  Redner,  wie  Italien  selbst  keinen  solchen  hervorgebracht 
hat;  der  zweite:  ein  Blitz  oder  Wirbel  (rayo  ö  torbellino)  der  Kritik, 
ein  Schrecken  für  die  Gelehrten  seiner  Zeit,  welcher  sechzehnjährig 
Bücher  schrieb,  die  von  Erfahrenen  bewundert  wurden*). 


')  Fray  Benito  Geronimo  Feijöo:  «Theatro  critico  universal  —  Discurso  Sezto  — 
Las  Modas**.  T.  U.  (Madrid  1728)  S.  149;  „Fatales  somos  los  Espafioles.  De  todos 
modos  perdemos  en  el  comercio  con  los  Estrangeros;  pero  sobre  todo  en  el  träfico  de 
costumbres.  Tomamos  de  ellos  las  malas;  y  dexamos  las  buenas.  Todas  sus  enfer- 
medades  morales  son  contagiosas  respecto  de  nosotros**. 

')  «Empezando  por  Europa,  los  Alemanes,  que  son  notados  de  ingenio  tardos,  y 
groseros  en  tanto  grado,  que  el  Padre  Domingo  Bonhursio  Jesuita  Frances,  en  sus  con- 
▼ersaciones  de  Aristios  y  Bugenio,  propone  como  disputable,  si  es  posible  que  haya 
algun  hello  espiritu  en  aquella  nacion,  tienen  en  su  defensa  tantos  autores  excelentes 
en  todo  g^ero  de  letras  que  no  es  posible  numerarlos.** 

*)  Den  Deutschen  war  bereits  im  1 8.  Jahrhundert  der  Name  Feijöo  und  einzelnes  aus 
seinen  Schriften  bekannt.  —  Ein  Bruchstück  des  „Theatro  critico*",  offenbar  auf  Grund- 
lage der  französischen  Übersetzung  d^Hermillys:  „Kritik  gemeiner  Irrtümer,  von  Benito 
Feijöo  B.  I  —  aus  dem  Spanischen  übersetzt  von  L.  Harscher  von  Almendingen  *"  er- 
schien zu  Gotha  1791.  Es  ging  aber,  so  viel  mir  bekannt,  nicht  weiter  als  bis  zum 
ersten  Bande.  —  Die  im  Jahre  vorher  (Leipzig  1790)  erschienene  Übersetzung  aus 
Fetjöos;  «Diätetik,  vorzüglich  für  Studierende,  übersetzt  von  Michaelis*",  kenne  ich  nur 
dem  Titel  nach.  —  Dafe  vor  den  50  er  Jahren  eine  deutsche  Übersetzung  des  „Theatro 
critico"  zu  Stande  kam,  wie  Feijöo  vennutet,  bezweifle  ich  sehr.  Feijöo  selbst  sagt  in 
den  „Cartas  eruditas  y  curiosas**  B.  in  (Madrid  1750)  Kap.  XIV:  „Sobre  las  traduccio- 
nes  de  las  Obras  del  Autor  en  otros  Idiomas**  S.  170  f.  .  .  .  aunque  se  me  diö  no- 
ticia  de  la  traducdon  Alemana,  no  s^  si  le  d^  entero  assenso.  Esta  me  vino  por  medio 
de  Don  Joseph  Garcia  Tufion,  Capellan  de  el  Jll.  Seäor  Nuncio  de  Espaäa;  y  4  este 
por  un  Roman,  Oficial  de  la  Nundatura,  que  le  assegurö,  que  el  Eminentissimo  Car- 
denal  Bezzozi  (Besozzi)  tenia  el  Theatro  critico  en  lengua  Alemana.  Si  hay  esta  tra- 
duccion,  es  verisimil,  que  sea  Autor  de  e|la  ^1  VarondeSchomber^,  residente  enDresda, 


374  Artur  FarinelH. 


Der  Vater  der  modernen  spanischen  Kritik  Ignacio  Luzan  *),  ein 
klarblickender^  vorurteilsloser  Mensch,  den  man  unbilligerweise  auch 
von  Seite  berufener  Litterarhistoriker  getadelt  und  lächerlich  gemacht 
hat,  soll,  nach  dem  Zeugnis  seines  Sohnes  Antonio,  welcher  die  Bio- 
graphie des  Vaters  als  Einleitung  zur  2,  Ausgabe  der  berühmten 
„Poetica"  veröffentlichte,  das  Deutsche  gelaufig  gesprochen  und  ge- 
schrieben und  Korrespondenten  in  Deutschland  gezahlt  haben  *).  Luzan 
hat  zwar  italienische,  französische,  auch  englische  Dichter,  unter  den 
letzten  vorzüglich  Milton  und  Pope,  fleifsig  gelesen  und  Beispiele  aus 
ihren  Werken  (ur  seine  Poetik  verwertet,  —  er  hat  ein  sehr  interessantes 
Buch  über  seine  Reise  nach  Paris  geschrieben  •),  —  er  .war  in  der 
italienischen  Litteratur  wie  zu  Hause  und  hat,  in  der  Jugend  besonders, 
fast  ausschliefslich  italienisch  geschrieben  und  gedichtet  *),  —  von 
seinem  Studium  und  irgend  welcher  Kenntnis  deutscher  Utteratur 
finde  ich  in  seinen  Schriften  nicht  die  geringste  Spur. 

Luzäns  Nachfolger:  Nasarre,  Velazquez,  Montiano  y  Luyando 
und  ihre  Genossen  waren  engherzige  Gelehrte  mit  der  Perücke  des 
Pedanten,  die  kein  Gefühl  für  wahre  Poesie  besafsen,  Altes  und  Neues, 
das  nicht  ein  französisches  Gepräge  trug,   unerbittlich  verwarfen  und 


porque  este  docto  Cavallero  hi  trece,  6  catorce  aAos  pidlö  d  un  corresponsal  suyo 
Espafiol  un  resumen  de  mi  vida,  coo  las  circunstancias  de  nacimiento,  patria,  nombres, 
y  calidad  de  mis  padres,  edad,  tiempo  en  que  recibf  el  santo  Hdbito,  estudios  empleos  y 
honores,  que  tuve  en  la  Religion,  etc.  lo  quäl  no  veo  para  que  pudiesse  ser,  sioo  para 
estampar  estas  ooticias  en  la  frente  de  alguna  traduccion  de  mis  obras".  Pdjöos  «Car- 
tas**  enthalten  da  und  dort  zerstreut  einige  Nachrichten  über  Deutschland.  Im  II.  B. 
Kap.  14  (auch  B.  V.  Kap.  XXIII)  ist  von  der  Trunksucht  der  Deutschen  die  Rede.  Im  IV.  B 
13.  Kap.  wird  der  „incomparable  Saxon  Gofredo  Guillermo  Baron  de  Leibniz  mit  „otros 
muchos  grandes  hombres  ....  los  Reuclinos,  los  Tritennos,  los  Clavios,  los  Kepleros, 
OS  Kircherios**  genannt. 

*)  Vgl.  Femdndez  y  Gonzalez:  „Historia  de  la  crftica  literaria  en  Espaiia  desde 
Luzdn  hasta  nuestros  dias".  Madrid  1867  und  Gumersillo  Laverde:  ^Ensayos  erfticos 
sobre  Filosofia,  Literaturae  instniccion   publica  Espaäolas".     Lugo  1868.     S.  43^  flf. 

•)  „Aprendi6  la  lengua  alemana  que  hablaba  y  escribia  corrientemente*  Vgl.  ^La 
Po^tica  6  Reglas  de  la  Poesia  en  general  y  de  sus  principales  especies,  por  D.  Ignacio 
de  Luzdn.  Madrid  1789.  B.  I  S.  XII.  —  Im  B.  I.  S.  43  der  „Poetica"  selbst  ist  von 
den  dramatischen  Regeln  die  Rede  ^que  han  explicado  y  reßnado  los  autores  Latisos, 
Franceses,  Ingleses,  Alemanes,  y  nuestros  mismos  Espatioles"*. 

'j  „Memorias  literarias  de  Paris:  actual  estado  y  metfaodo  de  sus  estudios*^ 
Madrid  1751. 

*)  Eine  eigene,  bereits  vollendete  Studie  über  Luzin  gedenke  Ich  später  zu  ver- 
OffeQtlicheq. 


Deutschland  u.  die  deutsche  Litteratur  im  Lichte  der  spanischen  Kritik  u.  Poesie.  IV.  375 

einer  vernichtenden  Kritik  preisgaben.  Kaum,  dafs  einige  darunter 
einen  gewissen  Geschmack  für  englische  Poesie  bewiesen,  einzelnes 
aus  Milton  (bereits  1754  von  Alonso  Dalda  spanisch  übersetzt)  von 
Thompson,  Young  lasen  und  übersetzten,  wie  denn  auch  viele  der  nach 
Italien  ausgewanderten  spanischen  Jesuiten,  entschieden  die  besten 
Kopfe  ihrer  Nation,  nebst  der  italienischen  auch  die  englische  Litteratur 
eifrig  pflegten.  —  Der  originelle  Mariano  Jose  Nipho,  eine  wahre 
Bibliothekmaus,  welcher  auf  die  Jagd  aller  bibliographischen  Selten- 
heiten ging,  seine  drolligen  Bücher  aus  allen  möglichen  Zeitungen, 
aus  einheimischen  und  fremden  Berichten,  mosaikartig  zusanunenstellte, 
welcher  Korrespondenten  in  verschiedenen  Ländern  zählte,  eine  „Estafeta 
de  Londres**  unter  anderem  schrieb,  wird  wohl  da  und  dort  auch  von 
deutschen  Schriften  vernommen  haben.  Ob  er  sich  hierüber  irgendwie 
geaufsert  hat,  ist  mir  nicht  bekannt  ^).  —  Don  Jose  de  Cadalso,  ein  fein, 
zartfühlender  Dichter,  mit  der  englischen  Litteratur  wohl  vertraut, 
welcher  Milton  und  Young  zu  seinen  Lieblingsdichtern  zählte,  warnte 
ironisch  die  Spanier  in  den  „Eruditos  ä  la  violeta"  vor  dem 
Studium  der  fremden  Sprachen.  ^Ich  bitte  euch  dringend,  dies  Studium 
nicht  für  ernst  zu  nehmen,  denn  um  Französisch,  Englisch,  Italienisch 
und  Deutsch  zu  lernen,  sind  vier  Menschenleben  erforderlich ').  Am 
besten  wird  sein,  wenn  man  vorgibt,  das,  was  man  nicht  kann,  doch 
zu  kennen.  Fragt  dich  einer  über  die  Beschaffenheit  der  deutschen 
Sprache,  so  antworte,  „dafs  es  eine  sehr  rauhe  Sprache  ist,  lobe  aber 
ihr  Alter"«*  •). 


*)  Eine  Fortsetzung  der  „Estafeta  de  Londres",  den  „Correo  general  historico 
literario  y  economico  de  la  Europa,  6  Memorias  sobre  la  ^gricultura,  Literatura,  Artes 
y  Comercio  de  Francia,  Olanda,  Alemania,  ^Inglaterra,  y  particularmente  de  Espada'* 
vermochte  ich  selbst  in  Spanien  nicht  aufzutreiben. 

*)  n^^os  eruditos  4  la  violeta  6  curso  completo  de  todas  las  ciencias,  dividido 
en  siete  lecciones  para  los  siete  dias  de  la  semana  compuesto  por  D.  Josef  Vasquez*' 
Madrid  1772.  S.  53:  ,fOs  pido  encarecidamente  no  teneis  este  estudio  de  veras,  porque 
esto  de  aplicarse  d  la  Francesa,  Inglesa,  Italiana  y  Alemana  pide  cuatro  vidas'*. 

')  ^-  53  D^^l  aleman  decid  que  es  lengua  mui  4spera,  pero  alabad  su  antiguedad". 
-  -  In  Cadalso's  „Cartas  Marruecas"  (Mad.  1 793).  Kap.  XXIX  ist  auch  von  der  „aspereza 
del  Aleman**  die  Rede.  Im  Kap.  LXIV  bespricht  Cadalso  die  Einführung  Schweizerischer 
Costfime  in  Spanien,  welche  jedoch  den  französischen  weichen  mufsten.  —  Charakteristisch 
für  das  geringe  Interesse,  welches  die  Spanier  für  deutsche  Litteratur  hatten,  ist  Capmanys 
„Discurso  Preliminar"  zu  seinem  „Teatro  histdrico-critico  de  la  Eloquencia  espanola** 
(Madrid  1786),  wo  oft  von  Italien,  England  und  Portugal  die  Rede  ist  und  Deutschland 
(I.  88  ff.)  mit  ein  paar  nichtssagenden  Worten  abgefertigt  wird.  . 


d76  Artur  FarinelU. 


Die  Bibliotheken  in  Madrid  und  in  anderen  Städten  Spaniens 
waren,  wie  auch  deutsche  Reisende  mehrmals  betonten,  blutarm  an 
Werken  der  fremden  Litteratur.  Ein  Wunder  noch,  wenn  unter  den 
lateinisch  geschriebenen  Werken  der  Deutschen  diejenigen  Wolfe  zu 
treffen  waren  ').  Ein  Wunder  auch,  wenn  ein  spanischer  Grelehrter 
mit  den  Gelehrten  fremder  Nationen  verkehrte  und  mit  deutscher 
Wissenschaft  vertraut  war,  er  mufste  denn  ein  Naturforscher  sein. 
So  sind  einige  spanische  Bücher  mineralogischen  Inhalts,  welche 
meistens  Mitarbeiter  der  n Anales  de  historia  natural^  Ende  des  i8. 
und  Anfangs  des  19.  Jahrhunderts,  herausgaben,  wie  die  „Elementos 
de  Orictognosia'S  der  „Tratado  de  Cristalografia^^  des  Andres  Manuel 
del  Rio,  die  „Pianos  geognosticos  de  los  Alpes  y  de  la  Suiza  con 
sus  descripciones^^  (Ms.  von  1804)  und  andere  noch  auf  Grundlage 
deutscher  Werke  verfafst  worden  und  sind  zum  Teil  Übersetzungen. 
Christian  Herrgen  hatte  von  der  spanischen  Regierung  im  Jahre  1798 
eine  Lehrkanzel  in  Madrid  erhalten.  —  Ausländer  waren  es,  welche, 
um  wenigstens  durch  einen  Faden  mit  der  fernen  Heimat  verknüpft 
zu  sein,  eifrige  Propaganda  für  die  Errichtung  von  Lesezirkeln  in 
den  verschiedenen  Städten  Spaniens  machten.  So  war  bereits  zur 
Zeit  der  ersten  spanischen  Reise  Fischers,  in  Cadiz,  wo  später  der 
tref&iche  Bohl  von  Faber  wirkte,  durch  die  Bemühung  von  Ausländem 
ein  Lesezimmer,  die  sogenannte  Camorra  im  ehemaligen  italienischen 
Opernhause  errichtet  worden,  wo  man  die  besten  fremden  Zeitungen 
zu  lesen  bekam  ^). 

Reisefaul  ist  der  Spanier  seit  dem  Sinken  seiner  politischen  und 
geistigen  Macht  immer  gewesen.  Er  hat  selbst  höchst  selten  das 
gemütliche  Herumschlendern  im  eigenen  Lande  verstanden  und  ge- 
nossen.  Jenseits  der  Heimat  lag  eine  Ode  für  ihn.  Die  Sehnsucht 
nach  der  Fremde,  ein  Übel,  welches  stark,  übermäfsig  stark  die  Ger- 
manen, Deutsche  sowohl  wie  Engländer,  überfiel  und  an  ihren  Herzen 
nagte,  hat  den  Spanier  nie  ergriffen.  y,Scheint  es  doch,  dafs  fremde 
Länder  und  Sitten  den  Spanier  nicht  genug  interessieren,    um   sie  zu 

')  Dais  in  der  Hausbibliothek  eines  spanischen  Officiers  Hallers,  Ge&neis,  Rabeners 
und  Bürs^ers  Schriften  nebst  den  Werken  Rousseaus  und  Voltaires  zu  finden  waren,  be- 
richtet irgendwo  Karl  Georg  Weifse  in  seinem  wenig  glaubwürdigen  Buche  „Schicksale 
und  Verfolgungen  in  Deutschland  und  Spanien^*.    Halle  179a. 

*)  C.  A.  Fischer:  „Reise  von  Amsterdam  u.  s.  w."  S.  41 1.  —  Nachrichten  &ber  diesen 
Lesezirkel  suchte  ich  in  A.  de  Castro;  „Historia  de  Cddiz  y  su  provinda."*  Cadiz  1858 
vergebens. 


Deutschland  u«  die  deutsche  Litteratur  im  Lichte  der  spanischen  Kritik  u.  Poesie.  IV.  377 

bemerken  oder  zu  beschreiben!  Wir  haben  wenigstens  zwanzig  Reisen 
nach  Spanien  übersetzt,  aber  dort  kennt  man  keine  Reise  nach  Teutsch- 
land^* hat  Tychsen  einmal  ausgerufen  (Anhang  zu  Bourgoing  S.  329). 
Tychsen  wufste  vielleicht  nicht,  wie  gern  die  Spanier  zu  Hause  hockten, 
wie  gern  sie  andern  den  Wanderstab  überliefsen.  Reiseschilderungen 
haben  auch  die  Spanier  meistens  kalt  gelassen.  Noch  in  den  50^ 
Jahren  wollte  ein  Mitarbeiter  der  Madrider  „Revista  historica  teatral,  ar- 
tistica,  critico-literaria**  den  Spaniern  eine  Nachricht  von  Wien  geben 
und  brachte  —  die  Übersetzung  eines  Kapitels  von  Madame  de  Stael 
„De  r  Allemagne"  *)•  —  Wenn  dann  durch  politische  und  religiöse 
Wirren  Spanier  haufenweise  ihre  Heimat  verlassen  und  jahrelang  auf 
fremder  Erde  herumirren  muüsten,  so  war  die  Sehnsucht  nach  dem 
fernen  Vaterlande  unbezwinglich  und  nie  und  nimmer  zu  stillen;  nur 
die  nach  Italien  Ausgewanderten  haben  durch  rastloses,  energisches 
Schaffen,  und  indem  sie  Sprache  und  Sitten  des  fremden  Landes  an- 
nahmen, ihre  Schmerzen  zu  lindern  gewufst. 

Aus  den  höchst  seltenen,  spärlichen  Berichten  von  spanischen 
und  portugiesischen  Reisenden  in  Deutschland  am  Schlufs  des  18.  Jahr- 
hunderts ist  wenig  Erfreuliches  und  Interessantes  zu  entnehmen. 

Aus  dem  Jahre  1757  ist  uns  eine  schöne  und  lange  Epistel  eines 
mir  sonst  nicht  näher  bekannten  Schlofsherm  von  Avües  erhalten, 
in  der  ausführlich  über  eine  im  Jahre  1755  unternommene  Reise  nach 
Wien,  Frankfurt  a.  d.  O.,  Berlin,  berichtet  wird  und  treffliche  Beob- 
achtungen über  den  Hof  und  die  Armee  Friedrich  des  Grofsen,  über 
Hochzeitsgebrauche,  über  das  Privatleben  des  Königs  enthalten  sind'). 
Fast  gleichzeitig  mit  der  Ankunft  des  Grafen  von  Aranda  in  Berlin,  ge- 
langt der  Castellan,  Ende  August  1 755,  von  einem  westfälischen  Diener 
begleitet,  in  die  Hauptstadt  Preufsens.  Er  ist  dem  Minister  de  Touche 
und  dem  General  Conde  de  la  Puebla  empfohlen,  wird  selbst  dem 
Könige  vorgestellt  und  wird  überall  mit  Achtung  und  Wohlwollen 
empfangen.     Er  ^besucht   fleifsig   die  Abendgesellschaften,   läfst   sich 


<J  »Cartas  Espafiolas**  (Madrid  1831,  S.  308  ff)  «Descripcion  de  Viena  por  Ma- 
dame de  Staä**.  ^  Doch  finde  ich  im  „Memorial  literario*'  (Madrid  1803  IV,  377  ff.)  eine 
^Descripcion  de  Dresde  y  de  sus  alrededores,  sacada  de  una  obra  publicada  nuevamente 
en  Berlin*. 

')  «Carla  del  castellano  de  Avil^  4  un  amig^o  suyo  en  Madrid,  sobre  la  presente 
guerra  de  Alemania,  la  corte  y  estados  del  Key  de  Pnisia,  su  vida,  tropa,  gobiemo  etc.** 
im  «Epistolario  £spafiol"(6iblioteca  de  autores  Bspafioles  LXII,  184  ff.).  Der  Brief  ist 
von  Ovledo,  den  14.  Dezember  1757  datiert. 


378  Artur  Farlnelll. 


gerne  in  Unterredungen  über  Religion  und  Politik  ein  und  verteidigt, 
so  gut  es  ihm  gelingt,  die  Ehre  und  den  Ruf  seines  Vaterlandes, 
wenn  er  auch  bemerken  mufste,  dafs  einige  seiner  Landsleute,  welche 
ihre  Heimat  selbst  nicht  kannten,  die  geringschätzenden  Urteile,  die 
erfundenen  Fabeln  der  Fremden  nachschwatzten  und  gar  bitteren  An- 
klagen über  den  Verfall  ihrer  Nation  Vorschub  leisteten.  Den  Fest- 
lichkeiten, welche  bei  Gelegenheit  der  Hochzeit  des  Fürsten  Ferdinand 
in  Hannover  gehalten  wurden,  wohnt  unser  Reisender  bei;  er  unter- 
richtet uns  über  die  verschiedenen  Hoftrachten,  über  das  Hofceremo- 
niell;  er  besucht  fleiCsig  das  Theater  und  urteilt  über  die  an  den 
Hochzeitstagen  aufgeführten  Stücke^).  —  Nach  einem  kurzen  Besuche 
in  Leipzig  kehrt  er  an  den  Hof  zurück.  Er  ist  voll  Bewunderung  für  den 
grofsen  König,  dessen  intimes  Leben  er  näher  kennen  lernt;  er  spricht 
von  der  rastlosen  Tätigkeit  des  Monarchen  (apenas  le  cuentan  cuatro 
horas  de  suefto),  von  seiner  französischen  Lektüre  mit  dem  Abbe 
de  Prades,  von  seinen  musikalischen  Leistungen,  von  seinen  eigenen 
prosaischen  und  poetischen  Werken*),  er  urteilt  über  seinen  Stü*). 
Am  meisten  aber  imponierte  dem  Spanier  die  strenge  Disdplin 
der  preufsischen  Armee,  welche  (S.  190)  „aus  Automaten  und  nicht 
aus  Menschen  zu  bestehen  scheint^^  —  Dieser  interessante  Bericht  lälst 
lebhaft  bedauern,  dafs  eine  zweite  Epistel,  welche  am  Schlufs  der 
ersten  in  Aussicht  gestellt  wird  (S.  192),  nicht  erhalten,  oder  überhaupt 
nicht  geschrieben  wurde,  worin  der  asturische  Schlofsherr  uns  über  „den 


')  (S.  188).  „AI  siguiente  dia  28  de  septiembre  se  celebrö  la  boda  con  una  opcreu 

£1  templo  de  Amor  .  .  .  .  el  papel  de  Vulcano  en  ocasion  de  boda  era  bien 

digno  de  cHtica;  repartieron  Hbretes,  una  llana  era  en  italiano  y  la  otra  traducida  es 
prosa  francesa.  La  compafiia  de  operantes  era  muy  buena,  y  entre  las  mujeres  muy 
sobresaliente  la  primera,  que  era  la  famosa  Astrua;  los  bailes  muy  magniticos,  habia 
en  ellos  dos  primeras  celebres  bailarinas,    la  Denis,   italiana,  y  la  Cossue,  francesa  etc. 

AI  dia  siguiente  29,  hubo  las  mlsmas  fiestas,  con  la  diferencia  que  en  lug:ar  de 

la  opercta  s^ria  hubo  opera  bufa,  la  intitulada  La  Maestra  de  escuela,  traducida 
en  aleman  la  llana  correspondiente,  con  un  gran  baile  de  pantomima  etc.* 

*)  „El  Rey  se  ha  entretenido  por  sf  en  componer  algunas  obras  de  espiritu,  la 
intitulada  Le  Philosophe  sans  souci,  en  prosa  y  verso,  tres  volümenes  en  cuarto 
real,  dicen  es  cosa  muy  buena;  solo  se  han  tirado  veinte  y  cuatro  ejemplares,  que  ei 
Rey  ha  regalado  d  personas  de  su  particular  estimadon';  tambien  ha  escrito  la  Vida  de 
SU  padre,  de  la  que  se  han  tirado  poquisimos  ejemplares;  si  yo  me  hubiera  detenido 
roas  tiempo  quizis  hubiera  logrado  estas  obras*. 

*)  „Su  estilo  ds  bastante  nervioso,  rdpido  y  claro,  y  se  da  un  aire  al  de  Voltaire, 
con  quien  trat6  mucho;  todas  sus  obras  son  en  franc^s,  que  le  habla  perfectameote, 
como  tambien  el  italiano,  y  conoce  su  fuerza**. 


Deutschland  a.  die  deutsche  Litteratur  im  Lichte  der  spanischen  Kritik  u.  Poesie.  IV.  379 

Hof,  die  Regierung,  den  Zustand  der  Wissenschaften,  Kunst  und  Sitten 
und  andere  Merkwürdigkeiten^^  unterrichtet  hätte,  die  er  während  seines 
kurzen  Aufenthalts  in  Deutschland  zu  beobachten  Gelegenheit  hatte. 

In  Wien,  wo  schon  im  Jahre  1 734  Francisco  Xavier  de  Oliveira, 
als  Sekretär  des  portugiesischen  Gesandten  Conde  de  Tarouca,  er- 
schien^), hatte  sich  von  1768  bis  1774  D.  Joäo  Carlos  de  Braganpa, 
Herzog  von  Laföes,  der  Begründer  der  „Academia  Real  das  Sciencias 
de  Lisboa^  (^779)  '^^  einem  stattlichen  Palaste,  von  einem  grofsen  Kreise 
Bekannter  umgeben,  niedergelassen.  Er  war  ein  enthusiastischer  Be- 
wunderer Glucks^),  ein  Beschützer  Mozarts,  ein  Freund  Burneys  und 
Metastasios,  ein  feinsinniger  Kunstkenner  und  selbst  ein  begabter  Kom- 
ponist*). Bei  Kaunitz  und  selbst  bei  dem  grofsen  Friedrich  stand  er  in 
hohem  Ansehen.  —  Ebenfalls  in  Wien,  wo  so  viele  Musiker  und  Musik- 
freunde aller  Nationen  in  den  letzten  Jahrzehnten  des  vorigen  Jahr- 
hunderts ein  zweites  Heim  fanden,  wo  der  Valencianer  Martini  gleichzeitig 
mitMozart  mit  seinen  melodienreichen,  aber  geistesleeren  Opern  Triumphe 
feierte^),  hat  lange  Jahre  hindurch  der  Abbe  Antonio  da  Costa  gelebt, 
mit  Kummer  und  Not  auf  seiner  Geige  gespielt  und  Noten  geschrieben  ^). 
Weder  in  der  Heimat,  noch  in  Italien,  noch  in  Österreich,  in  keiner 
der  „cinco  na^öes  differentes^,  welche  er  durchwanderte,  hat  dieser 
Portugiese  Ruhe  und  Befriedigung  finden  können.  Seine  in  Rom  und 
in  Wien  geschriebenen  Briefe,  die  eine  pietätvolle  Hand  sammelte 
und  herausgab*),  wenn  sie  auch  Interessantes  über  die  musikalischen 
Zustände  seiner  Zeit  enthalten,  sind  nicht  weniger  als  schmeichelhaft 
für  den  Italiener  und  für  den  Deutschen  und  dürfen    wohl,    will   man 


*)  Die  «Cartas  familiäres,  historicas,  politicas  e  criticas**  des  Cavalleiro  Francisco 
Xavier  de  Oliveira,  welche  in  3  Bänden  1855  erschienen,  konnte  ich  leider  nicht  lesen. 
—  Bis  Anfang  der  80  er  Jahre  hat  Oliveira  Wien  mehrmals  besucht 

*)  Die  Partitur  seiner  Oper:  „Paris  und  Helena**  ist  Gluck  dediziert. 

>)  Man  lese  fiber  ihn  den  Aufsatz  J.  Vasconcellos:  „D.  Joao  Carlos  de  Bragan^a, 
segundo  Duque  de  Lafoes**  im  «Plutarcho  Portuguez**  (B.  II.  H.  VII,  S.  49  ff.).  Nach 
seiner  Rückkehr  nach  Portugal  hat  der  Herzog  von  Lafoes,  Wien,  sowie  London,  Paris 
und  Rom  besacht 

*)  Über  Martini,  den  man  auch  in  Wien  ,lo  Spagnoletto**  nannte,  finden  sich  interes- 
sante Mitteilungen  in  Lorenzo  da  Ponte  „Memorie**  Nuova-Yorca  1829,  B.  I.  T. 
11,  S.  70;  96  tt). 

')  Einige  seiner  Kompositionen  dürften  noch  als  Ms.  in  der  Wiener  Hof-Bibliothek 
aufbewahrt  sein. 

*)  «Cartas  curiosas  do  Abbade  Antonio  da  Costa  annotadas  e  precedidas  de  um  en- 
saio  biographico  por  Joaquim  de  Vasconcellos.**     Porto.    1878. 


880  Artur  Farinelli. 


sie  irgendwie  entschuldigen,  als  Ausdruck  gereizter  Stimmung  aufge- 
gefafst  werden.  Hat  Costa  in  diesem  oder  jenem  einen  Fdiler  ent- 
deckt, so  glaubt  er  sich  berechtigt  über  die  ganze  Nation  seinen  er- 
habenen Tadel  auszusprechen.  In  einem  von  Wien,  24.  Dezember  1774 
datierten  Brief  wollte  Costa  eine  Charakteristik  der  Deutschen  liefern, 
imd  reihte,  nach  Art  der  in  Italien  verfafsten  Episteln,  Schmähungen 
an  Schmähungen  aneinander  (S.  64  ff.).  Durch  beschränkten  Verstand, 
durch  Gefühls-  und  Empfindungslosigkeit,  durch  Mangel  an  Grofsmut, 
an  Bescheidenheit,  an  Aufrichtigkeit  und  Edelmut,  durch  eine  Geld- 
gier, welche  zu  niedrigen  Handlungen  führt,  durch  Excentridtät, 
Neid  und  Rachsucht,  sollen  sich  die  Deutschen,  nach  dem  Urteil 
Costas,  von  den  übrigen  Völkern  auszeichnen^).  Man  gelanget  mit 
Mühe  an  den  Schlufs  der  Epistel  und  man  findet  nur  einen  Trost  in  den 
Schmähungen,  mit  welchen  d^  gute  portugiesische  Abbe  sein  eigenes 
Vaterland  selbst  hat  beschenken  wollen.- 

Als  Begleiter  von  hohen  Herrschaften,  von  D.  Jose  de  Silva 
Bazan,  Marques  de  Sta.  Cruz  und  seines  Bruders  D.  Pedro  de  Silva, 
durchwanderte  1 780  und  8 1  Don  Jose  de  Viera  y  Clavijo,  Arcediano  von 
Fuerteventura,  Verfasser  eines  sehr  brauchbaren  vierbändigen  Werkes: 
„Noticias  de  la  historia  general  de  las  islas  de  Canarias'^  (Madrid  1 778 
bis  83)  und  eines  schnell  verschollenen  Gedichtes  in  6  Gesängen  ^Los 
aires  fixos"  (Las  Palmas  1775),  einen  Teil  von  Deutschland  und 
Österreich  und  schrieb  dann  in  einem  erst  1849  erschienenen  Buche  seine 
Reiseeindrücke  nieder  ^).    Ein  trostlos  trockenes,  kindisches,  unverdau- 


')  Nur  eine  Stelle  aus  diesem  merkwürdigen  Brief  sei  hier  wörtlich  angeiiUirt:  S.  64  f. 
«V.  M,  ter4  ouvido  dizer  que  os  Allemaes  6  gente  muito  romba  de  jui2o  e  a  meu  Ter 
nao  Ihe  faz  injuria  quem  o  die;  eu  ao  menos  achei-a  tal,  mais  do  que  esperaya, 
porque  suppunha  grande  encarecimento  nas  informa^oes  dos  italianos,  e  outras  na^öcs 
que  teem  para  si  que  f6ra  d'ellas  näo  ha  juizo  fino;  com  effeito  estes  homens  sao  de 
pouquissinfa  vivesa  de  cabe^a  e  de  cora^ao  no  considerar  as  cousas,  e  sentil-as;  dälbe 
poucos  passos  o  espirito;  pasmados  e  insensiveis  föra  de  modo;  d*onde  V.  M.  podetirar 
fadlmente  que  no  seu  cora9ao  ha  menos  bondade,  e  menos  maldade,  ....  mas  n^essa 
bondade  eu  näo  vejo  nada  da  que  6  digna  de  estima9ao  considerave! ;  quiero  dizer 
d*aquillo  que  se  chama  virtudes  finas,  como  sinceridade,  rasgo,  modestia,  generosidade 
&  latina,  ou  nobreza  de  ac^oes  u.  s.  w.**  ^ 

*)  „Viajes  i  Pranda,  Plandes,  Italia  7  Alemania  en  los  afios  de  1777  i  1781 
de  D.  Jos6  de  Viera  y  Clavijo,  escritos  por  el  mlsmo.**  Santa  Cruz  de  Tenerife  1849. 
—  Unbekannt  ist  mir,  ob  die  „observaciones  de  Uteratura  y  bellas  artes  dignas  de 
memoria*^,  welche  der  aus  dem  hohen  spanischen  Adel  stammende  D.  Juan  Pablo  AragoD 
Azlör  in  seiner   um    das  Jahr  1777  unternommenen  Reise   durch  Deutschland  „notierte^S 


Deutschland  u.  die  deutsche  Litteratur  im  Lichte  der  spanischen  Kritik  u.  Poesie.  IV.  881 

liches  Tagebuch,  dafs  meist  von  Kirchendienst,  von  Mahlzeiten,  von 
faden  Besuchen  spricht.  Der  Leser  erhält  gleich  viel  Belehrung,  ob 
er  das  Buch  offen  oder  geschlossen  hält.  Naturschönheiten  üben  auf  Viera 
y  Clavijo  keine  Anziehung  aus.  Eine  Stadt  ist  ihm  ebenso  gleichgültig 
wie  die  andere.  Er  datiert  sein  Geschreibsel  von  Graz,  Wien,  München, 
Augsburg,  Ulm,  Mannheim,  Worms,  Koblenz,  Bonn,  liefert  aber  als 
^Ergebnis  seiner  Beobachtungen  so  g^t  wie  nichts.  In  Ulm  (S.  57) 
sieht  er  gewisse  Leute,  welche  den  Boden  ihres  Hauses  wuschen, 
und  schliefst  daraus,  dais  die  Ulmer  recht  höfliche  und  anständige 
Leute  sein  sollen  ^).  Die  meiste  Zeit  hat  er  in  Wien  zugebracht.  Hier, 
wo  der  Herzog  von  Lina,  spanischer  Gesandter  am  russischen  Hofe, 
ein  halbes  Jahrhundert  zuvor  die  traurige  Rolle,  welche  Spanier 
vom  Stande  am  Hofe  und  in  der  Gesellschaft  spielten,  bedauerte  ^, 
rühmt  er  das  splendide,  gastfreundliche  Leben  gfrofser  Herrschaften; 
er  lernt  Metastasio  kennen,  welcher  trotz  seines  vorgerückten  Alters 
g^ofee  Lebhaftigkeit,  frisches  Gedächtnis  und  Liebe  zu  den  spanischen 
Büchern  zeigte"  (November  24;  1780.).  Von  Wien  selbst  entwirft 
Viera  y  Clavijo  in  einem  vom  10.  Juni  1781  datiertem  Briefe  seiner 
„Cartas  familiäres"  folgendes  Bild:  „Es  gibt  hier  gute  Strafsen, 
schöne  Plätze,  eine  grofse  Anzahl  Kutschen,  wohlhabende  Leute,  eine 
vortreffliche  Beleuchtung  in  der  Nacht  mittelst  kristallener  Laternen. 
Ein  glänzender  Adel,  ein  offenes  Wesen,  freundliche  Gastmähler  bei- 
nahe jeden  Tag,  so  dafs  wir  mehr  als  20  Unterhaltungen,  oder,  wie 
wir  sie  nennen,  sehr  gewählten  Tertulias  von  Damen  und  Kavalieren 
beigewohnt  haben«  Ein  aufserordentlich  frommes  Volk,  keine  sehr 
schöne  Kirche,  nicht  weniger  als  4000  Professoren  der  Musik,  wie 
man  mir  versicherte,  schöne  Paläste,  eine  grofse  Bibliothek"  •). 


und  von  welcher  in  einem  phrasenreichen  Discurso  des  Marquis  de  Moiins  „Contestacion 
al  discurso  del  duque  de  Villahermosa'*  („Memorias  de  la  Academia  Bspaflola**.  Madrid 
1884  Vm,  80)  die  Rede  ist,  irgendwo  aufbewahrt  blieben. 

*)„...  me  parederon  muy  corteses  y  aseados,  pues  vimos  muchos  que  estavan 
lavando  el  suelo  de  sus  casas*^ 

*)  „Diario  del  Viaje  4  Moscovia  del  Embajador  Duque  de  Liria  y  X^ca  (1727 
bis  30)"  in  „Coleccion  de  documentos  in^ditos  para  la  historia  de  Espafla"  Madrid  1 889. 
S.  43  „Un  Espafiol  de  nacimiento  ....  hace  el  mds  infeliz  papel  en  Viena  que  se  puede 
imaginär;  ....  Es  muy  rare  que  un  espafiol  est^  convidado  i  alguna  fiesta,  d  menos 
que  sea  algun  Ministro*'. 

*)  wCartas  familiäres  escritas  por  D.  Jos^  Viera  y  Clavijo*.  Anhang  zur  ^Reise** 
S.  19:  Diese  Reise  durch  Österreich  und  Deutschland  erwähnt  auch  Viera  y  Clavijo  im 
nProloge*«  des  4.  B.  seiner  ^Noticias  de  la  historia  general    de   las  islas   de  Canarias**, 


8B9  Artur  Parinelli. 


Im  Sommer  1 793  unternahm  der  begabteste  Dramatik^  Spaniens 
seiner  Zeit:  Leandro  Femändez  de  Moratin  eine  Reise  nach  Italien, 
nachdem  er  bereits  längere  Zeit  in  Paris  und  in  London  verweilt 
hatte,  nachdem  er,  Dank  der  Unterstützung  des  Ministers  Godoy,  sich 
in  das  Theater  Frankreichs  und  Englands  gründlich  eingearbeitet  hatte. 
Er  ging  von  London  aus  über  Ostende,  Brüssel,  Köln,  Frankfurt, 
Freiburg,  Schafihausen,  Zürich,  Luzem,  über  den  St.  Gotthard,  nach 
Mailand,  Parma  und  Bologna.  Seine  Reiseeindrücke  schrieb  er  in  Form 
von  Tagebüchern  in  aller  Hast,  ohne  jede  Überlegung  nieder.  Lange 
nach  dem  Tode  des  Dichters  wurden  sie  von  seinem  Verehrer  Manuel 
Silvela  gesammelt  und  als  „Obras  postumas^^  herausgegeben^.  Sie 
sind  meistens  von  trostloser  Trockenheit  und,  was  die  Anmerkungen 
über  Deutschland  und  die  Schweiz  betrifft,  so  unbedeutend,  dafs  man 
sie  auch  gerne  unveröffentlicht  gesehen  hätte  ').  —  Deutschlands  Kultur 
und  Litteratur  sind  Moratin  gänzlich  unbekannt.  Er  reist  durch  klassische 
Gegenden,  durch  Goethes  Vaterstadt  und  sieht  alles  mit  gleichgiltigem 
Auge;  er  erwähnt  nicht  einen  Dichter,  nicht  einen  Schriftsteller;  er, 
welcher  zu  den  feinsten,  schärfsten  und  gründlichsten  Geistern  Spaniens 
gehörte,  der  über  England  und  die  englische  Litteratur  manche  fein- 
sinnige Urteile  gefallt  hatte,  der  später  das  italienische  Theater  scharf 
und  richtig,  wie  kaum  ein  Italiener  zu  seiner  Zeit  analysieren  sollte; 
er  fährt  in  Deutschland  eiligst  von  Stadt  zu  Stadt;  er  zeichnet  im 
trockensten  Tone  auf  und  reiht  nach  Art  eines  gezifferten  Gegenstands- 
kataloges  die  Gegenstände,  die  ihn  am  meisten  interessieren,  aneinander. 
Und  was  ihn  in  Deutschland  interessiert,  ist  das  materielle,  nicht  das 
geiistige  Leben.  Er  hat  kein  Verständnis  für  die  bildende  Kunst,  für 
die  Kunst  überhaupt^).     Der  Kölner  Dom  läfst  ihn,  so  wie  später  der 

(Madrid  1783)  ...  «ya  por  los  afios  de  1780  y  81  haciendo  todo  el  giro  de  Italia 
pasando  ä  Viena  de  Austria,  donde  pennanecf  cincö  meses  (bis  zam  Beschlüsse  der 
Hochzeit  des  Marquis  von  Santa  Cruz  mit  der  Gräfin  Biaria  Anna  von  Waldstein)) 
viajando  despues  por  la  Baviera,  la  Suavia  y  ciudades  del  Hajo  Rin,  y  dando  en  fin  la 
vuelta,  por  Bruselas  y  Paris  d  nuestra  Corte**.  Vgl.  auch  A.  Morel-Fatio.  Etudes  sur 
TEspagne.  D.  S^rie  ^Grands  d*Espagne  et  petits  princes  allemands**  etc.  Paris  189a 
Appendice  V.  S.  380  f. 

*)  „Obras  pöstumas  de  D.  Leandro  Ferndndez  de  Moratin,  publicadas  de  Orden 
y  ä  expensas  del  Gobierno  de  S.  M."  Madrid  1867  ^Vlaje  de  Italia*  I,  271  ff. 

*)  „Parece  el  inventario  de  un  escribano**  nennt  Men^ndez  y  Pelayo  mit  Recht 
die  Reiseerinnerungen  Moratins  in  der  „Historia  de  las  ideas  est^ticas  de  Espaöa**. 
T.  III.  V.  n.  S.  239. 

*)  Auch  anderen  begabten  Spaniern,  Moratins  Zeitgenossen,  erschien  die  ganze 
deutsche  Kunst   nicht  viel  mehr  als  Barbarismus.     Während   z.  B.    Albrecht    Dürer   in 


Deutschland  u.  die  deutsche  Litteratur  im  Lichte  der  spanischen  l^tik  u.  Poesie,  IV.  i&i 

Dom  zu  Mailand  kalt,  und  er  schreibt  darüber  (I,  282):  „Die  Kathedrale 
ist  ein  gothisches  Werk,  welches,  wenn  es  vollendet  g^ewesen  wäre', 
zu  den  riesenhaftesten  Bauten  Europas  zählen  würde;  man  findet  sehr 
alte  Bilder  darin  und  einen  ungeheuren  S.  Christophorus^^  Kein  Wort 
mehr  als  das.  Vielleicht  hat  sich  Moratin  die  Mühe  erspart,  das 
Innere  des  riesenhaften  Münsters  zu  betreten,  worin  Vincenzo  Carducho 
anderthalb  Jahrhundert  früher  „pocas  luzes  y  mucha  tristeza,  sin 
ninguna  hermosura^  fand*).  Dafür  läfst  er  sich  in  den  „posadas^^ 
Deutschlands,  die  er  etwas  besser  findet  als  die  spanischen,  das  Essen 
und  Trinken  wohl  schmecken  und  rühmt  in  einer  Kneipe  Oppenheims 
die  „sopa  con  huevo  desleido,  ä  la  alemana^^  den  „buen  asado  de 
camero^^  Er  findet  oft  Ähnlichkeit  mit  spanischen  Gegenden,  die  Ebene 
bei  Köln  erinnert  ihn  an  die  Felder  Alcaläs,  so  wie  die  Stadt  Zürich 
Alcalä  selbst  gleiche,  Mannheim  erinnert  an  Aranjuez,  die  Umgebungen 
Schaffhausens  an  Guipuzcoa.  Überall  findet  er  grofse  Reinlichkeit; 
nur  die  „atmösfera  espesa^^  der  „pestilente  humo  de  tabaco'^  in  den 
Ka£feehäusern  ist  ihm  unleidlich.  Es  scheint  ihm  ganz  sonderbar, 
dals  Frauen  in  Deutschland  Feldarbeiten  verrichten,  dafs  sie 
in  allem  wahre,  treue  Gefährtinnen  der  Männer  sind.  —  In  Köln 
fallen  ihm  die  krummen  Gassen,  die  alten  Häuser  mit  ihren 
„frontispicios  puntiagudos  y  repiqueteados^^  auf.  Er  findet  Wappen- 
schilde an  allen  Ecken,  einen  sehr  zahlreichen  Adel.  ,|Aus  Mangel 
an  Laternen  müssen  in  der  Nacht  recht  viele  Zusammenstöfse 
stattfinden*^     Ein  naturhistorisches  Kabinet,  wo  man  ihn  wohlwollend 


früheren  Zeiten  grolse  Bewunderung  in  Spanien  fand,  von  Carducho  („DÜlogo  de  la 
pintura**),  von  Pacheco  („Arte  de  la  pintura")  gepriesen  wurde.  (Vgl.  ein  interessantes 
Kapitel:  „Influeoda  de  Dürer  na  Peninsula  e  especialmente  em  Portugal**  im  Buche 
J.  Vasconcellos*  „Albrecht  Dfirer  easua  influencia  na  peninsula**  Porto  1877.  „Archeologia 
artistica**  (V.  I  T.  I.  S.  55  ff.)  konnte  Azara,  der  Herausgeber  der  Werke  Mengs,  skrupellos 
folgendes  über  den  grofsen  deutschen  Meister  drucken:  „si  hubiera  nacido  en  Italia,  habria 
llegado  i  mayor  perfecdon;  pero  ni  ^1,  ni  sus  imitadores  podian  salir  del  barbarismo,  no 
viendo  otras  formas  que  las  de  las  figuras  de  su  pais,  ni  otros  ropages  que  los  extra- 
vagantes de  su  tiempo**.  Vgl.  „Obras  de  D.  Antonio  Rafael  Menge  publicadas  p.  D.  J. 
Nicolas  de  Aiara**.  Madrid  1780  S.  363.  —  S.  90  werden  die  Niederländer  „groseros 
imitadores  de  la  Naturaleza**  genannt. 

')  V.  Carducho:  „Di^ogo  de  la  pintura,  su  defensa,  origen,  essSda,  definidon, 
modos  y  diferencias.  Madrid  1633.  f.  19.  —  Anders  freilich  urteilte  über  den  Kölner  Dom, 
über  die  Kunstdenkmäler  Deutschlands  überhaupt,  der  in  Berlin  begrabene,  Alexander 
von  Humboldt  und  Tieck  wohlbekannte,  fein  und  tiefiühlende,  liebenswürdige  Dichter 
Enrique  Gil  in  seinen  Reiseerinnerungen  durch  Deutschland.  Vgl.  „Obras  en  prosa  de 
D.  Enrique  Gil  y  Carrasco**.  Madrid  1883  I,  461  ff. 

Ztschr.  t  vgl.  Litt.-Geflch.    N.    P.  Till.  25 


384  Artur  t^arinelU; 


empfangt,  bringt  ihn  in  Entzücken.  Bonn,  Koblenz,  die  reizenden 
Rheinufer  entlocken  ihm  nichts  weniger  als  enthusiastische  Schilderungen. 
Über  Mainz  eilt  er  schnell  hinweg  und  notiert  sich  nur,  dafs  die  Stadt 
von  den  Preufsen  halb  zerstört  sei.  In  den  Staaten  des  Markgrafen 
von  Hessen-Cassel  ist  ihm  doch  nicht  der  schändliche  Menschen- 
handel entgangen,  der  immer  rüstig  weiter  getrieben  wurde,  wenn  er 
auch  den  deutschen  Patriotismus  tief  verletzte,  Schubart  ihn  mit  bitterem 
Hohn  in  verschiedenen  Briefen  und  besonders  im  vielgesungenen, 
markigen,  unvergänglichen  „Kaplied"  (1787)  brandmarkte  und  Schiller 
in  „Kabale  und  Liebe"  rügte.  „Der  Markgraf,  sagt  Moratin  (I,  285) 
„handelt  mit  Menschen,  unterrichtet  seine  Soldaten,  dann  vermietet  er 
sie  so  und  so  viel  per  Stück  jedem  beliebigen  Fürsten,  der  sie  auf 
eine  gewisse  Zeit  verlangt.  ...  Es  gibt  Zeiten,  in  welchen  er  sie 
sämtlich  ausliefert,  ohne  dafs  einer  unter  ihnen  lebendig  heimkehre,  als- 
dann läuft  ihm  viel  Geld  in  die  Kasse  ein.  Dieses  Geschäft  zeigt,  dafs  das 
Schicksal  der  Menschen  nicht  gar  so  verschieden  ist  von  dem  der  Kalber, 
wie  man  denkt"  *).  —  Im  „grofsen,  bevölkerten,  reichen  Frankfurt"  fallt 
unserem  Moratin  nichts  mehr,  als  das  Judenviertel,  dessen  Einwohner 
„narigudos,  aceitunados,  hediondos"  und  die  Jüdinnen  „tan  bonitas 
como  ellos"  auf.  kein  bemerkenswertes  öffentliches  Gebäude  in  der 
Stadt,  der  alte  Teil  ist  gar  häfslich.  Mannheim  hat  dem  Spanier 
besser  gefallen.  Die  neuen  Paläste,  die  breiten  Strassen,  der  Markt- 
platz, das  Rathaus,  das  Theater,  die  Bildergallerie,  worin  er  fast  aus- 
schh'efslich  Gemälde  aus  der  Verfallzeit,  eines  Guido,  Carracdo, 
Caravaggio,  Luca  Giordano  bemerkt,  haben  ihm  imponiert.  Von 
Mannheim  nach  Schwetzingen,  Rastatt,  Freibiu"g  bis  zur  schweizerischen 
Grenze  sind  die  Aufzeichnungen  Moratins  unbedeutend;  wenn  er  da 
den  Fleifs  und  die  Reinlichkeit  der  Einwohner  lobt,  dort  sich  an  der 
üppigen  Vegetation  erfreut  oder  die  Kunstarmut  bedauert,  den  Mangel 
an  den  sonst  sehr  zahlreichen  Kreuzen  auf  Strafsen  und  Brücken 
hervorhebt  und  einmal  vom  gewaltigen  Schnauz  eines  Husaren  spricht, 
der  sein  ganzes  Zimmer  in  Schatten  steckte,  so  ist  uns  das  alles  recht 
gleichgihig.  In  Freiburg  erfreut  den  Spanier  die  grofse  Offenherzig- 
keit, die  Einfachheit  und  Fröhlichkeit  der  Einwohner«     Schaffhausen  *) 


*)  Ober  diesen  Menschenhandel  vgl.  Kapp:  „Der  Soldatenhandel  deutscher 
Fürsten  nach  Amerika**  (2.  Auflage)  Berlin  1874  und  Minor:   „Schiller**  ü,  I47ff;  6oi£ 

')  Ober  <lie  Reise  Moratins  durch  die  Schweiz  und  dtn  Gotthard  nach  Belliniona 
und  Lugano  sprach  ich  bereits  im  ^Bollettino  storico  della  Syizzera  Italiana**  1893. 
„Leandro  Femdndez  de  Moratin  e  il  Canton  Ticino". 


Deutschland  a.  die  deutsche  Lltteratur  im  Lichte  der  spanischen  Kritik  tu  Poesie.  IV.  886 

ist  eine  kleine,  armselige  und  schmutzige  Stadt.  In  Zürich  (I,  295) 
sind  die  Häuser  nichts  weniger  als  elegant,  die  Strafsen  sind  schlecht 
bepflastert,  krumm  und  dunkel.  Kein  Kaifeehaus,  kein  Versammlungs- 
lokal, keine  Bibliothek,  die  mehr  als  50  Bände  enthält.  Moratin  sieht 
hier  ein  Arkadien,  das  idyllische  Land  des  Idyllendichters  Gessner. 
Die  Züricher  selbst  sind  von  vortrefflicher  Natur,  für  die  dramatische 
Kunst  erweisen  sie  sich  aber  als  untauglich.  Die  Frauen  sind  häfs- 
lieh,  sie  kleiden  sich  blos  an,  um  nicht  nackt  zu  erscheinen.  In 
Luzern,  wie  überall  in  der  Schweiz,  ist  Mangel  an  Schauspiel-  und 
und  Kafleehäusern,  an  Kutschen,  an  prunkvollen  Palästen.  Die  Sitten 
der  Schweizer  sind  einfach,  das  Volk  aber  ist  entkräftigt,  die  Freiheit 
ist  überall  gefährdet. 

Im  gleichen  Jahre  wie  Moratin  hat  der  gelehrte  Verfasser  der 
„Origine,  Progressi  e  stato  attuale  di  ogni  Letteratura^S  der  Abbe 
Juan  Andres  Deutschland  besucht  und  seine  Reise  nach  Wien  in 
einer  ausfuhrlichen  Epistel  an  seinen  Bruder  Karl  beschrieben.  Andres, 
einer  der  hellsten  Köpfe  unter  den  spanischen  Ausgewanderten  in 
Italien,  ein  bienenfleifsiger  Forscher,  Verfasser  des  wertvollen,  heute 
noch  brauchbaren  „Catalogo  dei  Codici  mss.  della.  famiglia  Capilupi^S 
(Mantova  1 797)  ein  liebenswürdiger,  zu  jedem  Dienst  bereiter  Mensch  hatte 
leider  von  Deutschland  und  von  der  deutschen  Litteratur  eine  durch  und 
durch  oberflächliche  Kenntnis  und  in  seinem  grofsen  Werke,  so  oft  er 
deutsche  Schriften  besprach,  blos  Phrasen  an  Phrasen  aneinandergereiht. 
Was  mein  gelehrter  Freund  Menendez  („Historia  de  las  ideas  esteticas^* 
T.  III,  V.  n,  S.  iio)  fest  behauptet:  Andres  habe  Lessing  und  Klop- 
stock  in  der  Originalsprache  gelesen,  möchte  ich  ernsthaft  bezweifeln. 
Doch  stand  Andres  in  Deutschland  in  hohem  Ansehen.  Herder  hatte  ihn 
bei  Gelegenheit  seiner  italienischen  Reise  kennen  gelernt  und  Ende  1789 
oder  Anfangs  1790  an  Goethe,  als  dieser  sich  zur  zweiten  italienischen 
Reise  anschickte,  geschrieben,  er  solle  doch  den  Abbate  Andres,  den 
Verfasser  der  Storia  d*ogni  Letteratura  besuchen,  der  ihm  sehr  dienst- 
fertig sein  würde  *).  Geming  widmet  in  der  Beschreibung  seiner 
„Reise  durch  Osterreich  und  Italien^,   ein  Kapitel   der  Charakteristik 


')  Goethe -Jahrbuch  Vm,  37.  —  In  seiner  zweiten  italienischen  Reise  gelans^ 
Goethe  in  der  Tat  bis  nach  Mantova,  doch  scheint  er  nach  dem,  was  er  von  hier  aus 
an  Herder  schreibt,  den  liebenswfirdigen  Spanier  nicht  besucht  zu  haben.  „Aus 
Herders  Nachlafs",  Frankfurt  a.  M.  1856,  I.  123. 

25* 


886  Artur  Parindll. 


unseres  Spaniers  •).  Andres  „Origine  e  progressi"  war  in  Deutsch- 
land ein  sehr  verbreitetes,  vielgelesenes  Buch.  Wie  oft  Herder  in 
litterarhistorischen  Fragen  sich  auf  Andres  stützte  ist  bereits  erwähnt 
worden  (II.  Teil)*).  —  Grundlage  für  sämtliche  Urteile  Andres'  über 
die  deutsche  Litteratur  sind  die  berühmten,  geistsprühenden  Briefe 
Friedrichs  des  Grofsen:  „De  la  litterature  allemande*^  Jerusalems 
Schrift  über  die  deutsche  Sprache  und  Litteratur  und  Bielefelds 
„Progres  des  Allemands*^  Aus  seinem  Ärmel  hat  der  Spanier 
deutsche  Namen  geschüttelt,  die  nichts  als  leere  Namen  bedeuten. 
Im  gleichen  Haufen  werden  Dichter  ersten  und  minderen  Ranges 
zusammengeworfen.  Böttiger  erscheint  (III.  T.  11,  S.  97)  neben  Goethe 
und  Wieland,  Gessner  neben  Klopstock,  Kotzebue  neben  Goethe  und 
Schiller  (II,  249).  Das  Lob  über  dieses  oder  jenes  litterarische  Er- 
zeugnis ist  regelmäfsig  von  einer  Zensur  begleitet  und  die  Zensur 
überwiegt  meistens  das  Lob.  —  Im  deutschen  Pamass  war  alles  dunkel 
und  leer  vor  Opitz.  Erst  nach  Meister  Martin  „hat  Deutschland  einige 
Blüten  hervorgebracht"  (II,  54).  Logau,  Fleming,  Canitz,  Brockes, 
Günther,  Wemicke  werden  stramm  wie  Soldaten  nebeneinander 
gereiht)  sie  sollen  die  „felici  albori  della  poesia  alemanna"  ver- 
kündigen. Es  folgen  Bodmer  und  Hagedom,  beide  „Patriarchen  der 
deutschen  Poesie",  hierauf  Geliert  (II,  56),  dessen  Gedichte  das  Herz 
rühren  und  in  Entzückung  bringen,  dann  Lessing,  welcher  mit  Geliert 
um  die  Palme  ringt  und  sie  in  der  Fabel  sowohl  wie  in  der  Dramatik 
wirklich  erlangt;  nach  Lessing:  Klopstock  der  Homer,  Ramler 
der  Horaz,  Gleim  der  Tyrtaeus  der  Deutschen.  Denis,  Gessner  und 
Haller  haben  dann  „von  der  Höhe  der  Alpen  zarte  und  sufse, 
erhabene  und  volltönende  Gesänge  in  ganz  Europa  erschallen  lassen'. 
Wieland  hat  Sprache  und  Poesie  auf  einen  solchen  Grad  der  Voll- 
kommenheit gebracht,  dafs  sie  kaum  höher  gelangen  können.  Es 
folgen  Nicolai,    Voss,    die  Stolberg,    ein   paar  andere.     Nur  Goethe 

^)  J.  J.  Geroing:  ^Reise  durch  Österreich  und  Italien**,  Prankfurt  a.  M.  1802.  T.  m 
S.  363  ff,  wo  behauptet  wird,  dals  Andres  Herder  und  Goethe  von  Angesicht  sah. 

*)  Die  1.  Ausgabe  des  Werkes  Andr^^  blieb  mir  leider  unzugänglich.  Ich  benutzte 
die  vermehrte  5,  verbesserte  von  Pisa:  ^I^eir  origine,  progressl  e  stato  attuale  di  ogni 
Letteratura  di  Giovanni  Andr^.  —  Nuova  edizione  conforme  all*  ultima  di  Roma  coo 
giunte  e  correzioni  dell'  autore,  Pisa  1829.  —  Recht  dürftig  werden  die  Urteile  Andres' 
bei  Thiemann  „Deutsche  Kultur"  u.  s.  w.,  S.  42  ff,  7a;  86  besprochen.  —  Ch 
Aug.  Fischer  hatte  bereits  in  seinen  ,,Spanische  Miscellen",  Berlin  1803  I,  221  ff.  im 
Kapitel  „Über  die  Poesie  der  Deutschen",  der  Seltenheit  und  Lächerlichkeit  wegen, 
Andres*  Urteile  über  die  deutsche  Litteratur  gesammelt 


Deutschland  u.  die  deutsche  Litteratur  im  Lichte  der  spanischen  Kritik  u.  Poesie.  IV.  887 

und  Schiller  fehlen  in  der  Rubrik.  Der  Geist  der  deutschen  Sprache, 
sagt  dann  Andres  (II,  157)  ist  zu  verschieden  von  dem  der 
romanischen,  als  dafs  wir  nicht  allein  nachahmen  und  folgen,  sondern 
selbst  die  wahren  Schönheiten  der  deutschen  Dichter  gänzlich  ge- 
nieisen  können.  Er  tadelt  dann  in  den  Schriften  der  Deutschen  die 
zu  grofse  Ausführlichkeit,  die  metaphysischen  Gedanken,  die  ofi: 
ajBfektierten  Ausdrücke  (als  ob  er  die  Deutschen  mit  den  Spaniern 
verwechselt  hätte)  und  wünscht  mehr  Behendigkeit  des  Stiles,  mehr 
Natürlichkeit,  Feinheit  und  Zartheit  der  Gefühle.  —  Im  Abschnitt 
über  das  Theater  kehrt  er  wieder  zu  den  Deutschen  zurück.  Er 
fafst  die  Urteile  anderer  zusammen,  fangt  mit  der  Neuber  an  und 
endigt  mit  Kotzebue.  So  konfus  wie  nur  möglich  wird  der  Produktion 
von:  J.  E.  Schlegel,  Cronegk,  C.  F.  Weisse  (der  deutsche  Crebillon) 
und  Lessing  gedacht.  Lessings  „Freigeist"  (er  übersetzt  „Spirito  forte") 
und  „Miss  Sara  Sampson^^  bedeuten  ihm  viel.  Diese  letzte  bürger- 
liche Tragödie  möchte  er  auf  die  Höhe  der  besten  weinerlichen 
Stücke  der  Franzosen  stellen,  wenn  sie  nur  mit  den  ausgedrückten 
feinen,  zarten,  edlen  Gefühlen  weniger  Metaphysik  enthielte  und  die 
Handlung  geschürzter  wäre.  „Emilia  Galotti"  lobt  er  nur,  weil  das 
Stück  auf  allen  Theatern  grofsen  Erfolg  hatte.  „Minna"  und  „Nathan^^ 
kennt  Andres  nicht.  Nach  Lessing  erwähnt  er  Brawe,  AyrenhoflF, 
CoUin,  Schiller  und  Goethe.  Von  Schiller,  der  schon  längst  ge- 
storben war,  als  Andres  sein  Werk  verbessert  und  vermehrt  wieder 
herausgab,  wurden  nur  „Don  Carlos^^  und  „Wallenstein^^  genannt, 
beide  „eher  politische  Gemälde,  als  Dramen^S  Lächerlich  und  seicht 
ist,  was  sonst  noch  von  Schillers  Vorzügen  und  Schwächen  gesagt 
wird.  Goethe  ,,ein  gelehrter,  feinsinniger  und  schönerer  Geist  als 
Schiller"  ist  blos  mit  der  „Iphigenie"  vertreten.  Natürlich  giefst  der 
Spanier  seinen  Tadel  auch  auf  den  gröfsten  deutschen  Dichter 
und  wirft  ihm  eine  zu  grofse  Freiheit  und  Unabhängigkeit  in  der 
Anwendung  dramatischer  Regeln  vor,  einen  Hang  zum  Philosophischen 
und  eine  Raffinatesse,  welche  dem  Theater  eher  schadet,  als  nützt 
Kotzebue,  der  am  Schlufs  des  Jahrhunderts  überall  in  Europa  mafs- 
losen  Erfolg  erzielte,  mufste  in  den  Augen  Andres\  mehr  bedeuten 
als  Goethe  und  Schiller.  Doch  wird  auch  an  ihm  Kritik  ausgeübt 
und  ihm  Trivialität,  Mischung  des  Erhabenen  und  Komischen,  die 
lockere  Intrigue  vorgeworfen.  —  Andres  hat  auch  seine  Meinung  über 
die  deutsche  Philosophie  nicht  verschweigen  wollen.  Mendelssohn  (er 
hat  stets  Jerusalems  Schrift  vor  sich)  zieht  er  Kant  und  Fichte  vor  (VI, 


868  Aftur  ParinellL 


370  ff.,  doch  gesteht  er  Kant  wohl  einen  tiefen,  scharfen  Verstand  zu 
III.T.  111,8.39),  allein  die  Liebe  zum  Neuen,  der  Ehrgeiz,  in  philosophischen 
Spekulationen  über  andere  glänzen  zu  wollen,  sollen  ihn  auf  krumme, 
domige  Wege  gefuhrt  haben  „dove  non  trovasi  che  pochisstmi 
firutti  e  molti  bronchi,  triboli  e  oscuritä^S  —  In  der  bukolischen 
Dichtung  (II,  150)  soll  den  Deutschen  ihr  Phlegma,  die  Gabe  einer 
peinlichen  genauen  Naturbetrachtung  zu  gute  gekommen  sein.  — 
EKe  deutsche  Sprache  findet  Andres  (III.  T.  II,  S.  39)  nicht  gefeilt 
genug  und  für  die  Beredsamkeit  wenig  tauglich  ^). 

Wertvotter  als  diese  durchaus  unselbständigen  Urteile  über  die 
deutsche  Litteratur  ist  der  oben  erwähnte  Brief,  den  der  Verfasser  der 
nOrigine^  von  Wien  aus  an  seinen  Bruder  in  Spanien  schrieb.  Hier 
spricht  Andres  über  Menschen  und  Dinge  aus  eigener  Anschauung; 
er  urteilt,  über  Gelehrte,  mit  denen  er  meist  zusammengetroffen  ist 
Die  Epistel  wurde  unter  dem  Titel:  „Carta  del  Abate  D.  Juan  An- 
dres ä  SU  hermano  D.  Carlos  Andres  dandole  notida  de  la  literatura 
de  Viena^  in  Madrid  1 794  gedruckt  (vollendet  wurde  sie  in  Mantova  am 
30.  November  1793)  und  ist  auch  den  bekannten  „Cartas  familiäres^  An- 
dres' einverleibt,  ins  Italienische  und  ins  Deutsche  übersetzt  worden').  — 
Land  und  Leute,  das  bunte,  bewegte  Treiben  des  sonnigen,  heiteren, 
gemütlichen  Wien  haben  keine  Anziehungskraft  auf  den  Spanier  aus- 
üben können.  Er  hat  im  Januar  1793  als  Begleiter  des  Sohnes  des 
Marquis  Bianchi    seine  Reise   angetreten  und    bloa    zwei  Monate    des 


')  nUna  certa  trasposizione  stentata  ed  oscura  delle  proposUioni  e  dei  versi,  im 
pesante  afiastellamento  di  parentisi,  una  nojosa  diffusione  di  tutto  lo  Stile  rende  b 
maggior  parte  degli  scritti  tedeschi  diflficÜi  e  disgustosi  agli  stessi  nazionali''. 

')  „Cartas  familiäres  i  sa  hermano  D.  Cdrlos,  dandole  notida  de!  viaje  que  hizo 
i  varias  ciudades  de  Italia  en  los  afios  1785  —  88  y  91  7  de  la  literatura  de  Vieoa* 
Madrid  1791 — 94.  —  In  Weimar  1793  erschien  eine  a-bändige  Übersetxung  davon  von 
C.  A.  Schmid :  «Don  Joan  Andr^  Reise  durch  verschiedene  Städte  Italiens  in  den  Jahren 
1785  und  1788  in  vertrauten  Briefen  an  seinen  Bruder  Don  Carlos  Andr^".  —  Ob 
diese  Übersetzung  fortgesetzt  wurde,  ist  mir  nicht  bekannt  —  Geming  „Reise**  III,  263 
spricht  von  einer  deutschen  Übersetzung  des  letzten  Bandes  von  Andr^  ,  Litterarge- 
schichte",  welche  „ehestens  fertig  werden  soll*,  und  in  welcher  Andres  „sein  voriges 
Urteil  Ober  Teutschlands  Litteratur  .  .  .  freundlich  berichten*  sollte,  und  wdche,  meines 
Wissens,  niemals  zu  Stande  gekommen  ist.  —  Im  gleichen  Jahre  wie  die  italienische 
Übersetzung  des  Briefes  Ober  Wien  «Lettera  sulla  letteratura  Viennese"  von  Prof.  Luigi 
Brera  (1795)  ist  die  deutsche  erschienen:  „Sendschreiben  des  Abate  Andres  über  das 
Litteraturwesen  in  Wien.  Mit  vielen  wichtigen  Zusätzen  des  Herrn  Doktor  Aloys  Brera, 
aus  dem  Spanischen  ins  Deutsche  übersetzet"  (von  Jos.  Richter).  Wien  1795.  Ich 
eitlere  zugldcb  aus  dem  spanische»  Original  und  aus  der  deutschen  Übexsetzung. 


Deutschland  u.  die  deutsche  Litteratur  im  Lichte  der  spanischen  Kritik  u.  Poesie.  IV.  889 


Strengsten  Winters  in  der  Hauptstadt  verlebt.  Seiner  Lebensweise 
gemäfs  hockte  er  lieber  auch  in  Wien  in  der  Bibliothek,  als  dafs  er 
sich  mit  Menschen  im  Freien  zurecht  fand.  Er  hat  selten  die  Nase 
aufserhalb  geschlossener  Räume  gesteckt,  er  hat  auf  die  schöne  Stadt 
nur  einen  flüchtigen  Blick  geworfen,  nichtsdestoweniger  will  er  be- 
haupten, dafs  Wien  in  Ansehung  der  bildenden  Künste  sehr  wenig 
bietet,  dafs  alle  Paläste,  derjenige  des  Fürsten  Lichtenstein  und  des 
Prinzen  Eugen  ausgenommen,  geschmacklos  sind,  dafs  die  Kirchen 
unschön  sind,  der  Stephansturm  merkliche  Fehler  aufweist  und  mit  einem 
Walde  vergleichbar  ist,  wo  es  zwar  einige  angenehme  und  schöne 
Pflanzen  gibt,  der  aber  gröfstenteils  aus  Gebüschen  und  Dornen  be- 
steht. Wissenschaftliche  Sammlungen,  Archive,  Museen  sind  in  Wien, 
wie  überall  die  Liebhaberei,  das  Lebenselement  Andres'.  Er  vermag 
den  Staub  der  Bücher  nicht  von  sich  abzuschütteln.  Er  wird  mit  dem 
Abbe  Eckel,  Verfasser  des  „Catalogus  Musei  caesarei  Vindobonensis 
nummorum  veterum",  der  „Doctrina  num.  vet."  bekannt,  der  ihm  unter 
anderem  seine  noch  ungedruckte  Lobschrift  auf  Bayer  zeigt,  worin 
er  den  gelehrten  Spanier  gegen  Tychsens  Angriffe  verteidigt.  Er 
kennt  auch  den  Hofrat  Schmid,  Direktor  des  kaiserlichen  Archivs, 
Verfasser  der  „klassischen^^  Geschichte  der  Deutschen,  er  ist  befreun- 
det mit  Prof.  Jacquin,  Verfasser  des  „Hortus  botanicus  Vindobon.", 
der  ihn  mit  Wohlwollen  empfangt  und  mit  g^ofser  Achtung  von 
Ortega  und  Cavanilles  spricht  und  bedauert,  seit  langer  Zeit  den 
Briefwechsel  mit  den  Spaniern  abgebrochen  zu  haben.  Mit  Ärzten 
und  Naturforschem  sowohl,  wie  mit  Litteraten,  Dichtern  und  Philo- 
logen tritt  Andres  in  Verbindung.  Er  gibt  statistische  Angaben  über 
die  Verfassung  der  Lehranstalten;  er  unterrichtet  über  die  Gattungen 
der  öffentlichen  Vorlesungen;  er  gibt  uns  einen  Namenkatalog  von 
Professoren  aus  allen  Fakultäten.  Das  alles  ist  fleifsig,  gewissenhaft 
niedergeschrieben,  aus  sicheren  Quellen  geschöpft,  bietet  für  uns  aber 
kein  Interesse  mehr.  —  Wien  kann  aber  nicht,  meint  Andres,  als 
eigentliche  gelehrte  Stadt  angesehen  werden,  es  fehlen  Akademien, 
die  wissenschafdichen  Anstalten  anderer  grofser  Städte;  Kriegs- 
kanzleien, Zeughäuser,  Kasernen  und  andere  militärische  Einrichtungen 
machen  in  Wien  die  Kollegien  und  Akademien  aus.  Die  „schönen 
Wissenschaften"  jedoch,  die  vormals  in  Wien  nicht  blühten,^  findet 
Andres  nunmehr  in  ihrem  höchsten   Glänze.*)  —  Ein  Triumvirat    der 

')  Am  Schiasse  der  Epistel  aber  bricht  Andr^  in  Klagen  aus  Ober  die  n^uy  mal 
parada  literatura  de  Viena  .  .  .  reducida  d  dos  6  tres  poetas  y  Üteratos  saperficiales**. 
Einer  unter  den  verschiedenen  Widersprüchen  in  der  ^Carta**  des  Spaniers. 


390  Artur  FarineUI. 


Reform  des  guten  litterarischen  Geschmackes  in  Wien  findet  der  Spa- 
nier in  Denis^  Sonnenfels  und  Retzer.  Mit  Denis  war  Andres  intim 
befreundet  und  wechselte  auch  später  nach  seiner  Rückkehr  nach 
Italien  mit  ihm  Briefe.  Denis  gehörte  in  die  Zahl  der  guten  Schrift- 
steller, deren  Werke  man  sowohl  in  gebundener  als  ungebundener 
Rede  für  klassische  hält.  Er  sei  einer  der  ersten,  welche  in  Wien 
den  guten  Geschmack  in  der  deutschen  Prosa  und  Dichtkunst  ein- 
führten. Von  Sonnenfels  werden  die  „Briefe  über  die  Schaubühne" 
erwähnt,  die  zierliche  Sprache,  der  reizende  Stil,  die  kraftvolle  Beredt- 
samkeit  gelobt.  Seinem  litterarischen  Eifer  und  der  Gründlichkeit 
seiner  Schriften  verdankt  das  deutsche  Theater  in  Wien  seine 
Umschaffung.  Sein  „Mann  ohne  Vorurteil"  bekämpfte  im  Tone  einer 
gewählten  Satire  die  Vorurteile  eines  jeden  Standes,  und  seine  „The- 
rese  und  Eleonore"  brachte  dem  schönen  Geschlechte  Grundsätze 
der  Sittlichkeit  und  des  guten  Geschmackes  bei.  Unter  die  vorzüg- 
lichsten Schriftsteller  Wiens  zählt  auch  General  von  Ayrenhoff,  der 
Verfasser  des  „Postzuges",  des  einzigen  deutschen  Theaterstücks, 
welches  vor  Friedrichs  des  Grofsen  strengem  Richterstuhl  Gnade 
fand*).  Als  eine  andere  Zierde  des  wienerischen  Parnasses  gilt 
Alxinger,  von  dem  Andres  die  seltene  Gabe  hat  rühmen  hören:  hohen 
Schwung  mit  äufserster  Korrektheit,  Delikatesse,  Leichtigkeit  und 
höchste  Sprachremigkeit  zu  verbinden.  Zu  den  jüngeren  begabten 
Dichtem  zählte  Haschka,  dessen  Ode  auf  den  Tod  Ludwigs  XVI. 
(verfafst,  während  Andres  in  Wien  war),  für  ein  Meisterstück  der 
deutschen  Dichtkunst  gilt.  Dafs  der  gute  Abbe  Andres  über  Blumauers 
berühmte  Parodie,  die  er  nur  aus  den  Berichten  anderer  kennen  ge- 
lernt hatte,  die  Nase  rümpfte,  versteht  sich  von  selbst.  „Unter  seinen 
übrigen  poetischen  Werken  hat  ihm  seine  travestierte  Aneis  einen 
grofsen    Namen   gemacht;    er   setzt    darin   die  Geistlichkeit   und   die 


')  S.  96.  «Como  has  visto  en  el  opuscolo  del  rey  de  Prusia,  que  traduxo  ahi  tu  amigo 
Don  Josef  Malleut  y  Romeu,  sobre  la  literatura  alemana**  (in  der  deutschen  Übersetzung 
der  Carta  Andr^*  erscheint  der  Name  des  Katalanen  in  der  verstümmelten  Form  (S.  154) 
Malente  Romen).  Diese  auch  sonst  nur  von  Jos.  Hager  ^ Reise  von  Wien  nach  Madrid*^, 
Berlin  1892  (vgl.  «Neue  allgem.  deutsche  Bbl.  III,  317)  erwähnte  spanische  Übersetzung 
der  Schrift  Friedrichs  II.  «De  la  litt^rature  allemande**  erschien  7  Jahre  vor  der  Ab- 
fossung  'der  Epistel  Andr^\  «Discurso  sobre  la  literatura  Alemana,  los  defectos  que  se 
le  pueden  objetar,  quales  son  las  causas,  y  quales  los  medios  para  corregirlos;  escrita 
en  Franc^  por  Federico  0.  Rey  de  Prusia  y  traducida  al  Castellano  por  D.  J.  J.  M.  R. 
Mildrid  1787. 


Deutschland  u.  die  deutsche  Litteratur  im  Lichte  der  spanischen  Krittle  u.  Poesie.  IV.   391 

Mönche  ins  Lächerliche  und  unterhält  durch  solche  Possen,  die  wider 
Sittlichkeit  und  Religion  sündigen.  Dieses  Gedicht  ist  zwar  voll  Witz, 
allein  ich  kann  es  nicht  billigen,  dafs  man  den  Verstand  und  die 
Dichtkunst  auf  solche  unwürdige  .Gegenstände  verwende".  —  Auch 
über  die  grofse  Verbreitung  der  italienischen  Litteratur  in  Wien  gibt 
uns  Andres  Auskunft.  Es  gebe  eine  italienische  Kirche,  ein  italienisches 
Theater;  die  Theaterdichter  und  selbst  die  ersten  Hofmänner  seien 
Italiener,  monatlich  gebe  der  junge  Marquis  Valari,  ein  Cremoneser, 
ein  Blatt,  den  „Mercurio  italiano",  heraus,  welches  als  Vermittler 
zwischen  deutscher  und  italienischer  Litteratur  diene.  —  Auch  Spa- 
nier fänden  in  Wien  oft  ein  zweites  Heim.  So  habe  Huerta,  spanischer 
Legationsrat  am  österreichischen  Hofe,  sein  „philosophisches  Werk 
über  die  kastilianische  Synonime"  in  Wien  veröffentlicht  (die  bekannte 
„Coleccion  de  Sinönimos"  des  Jose  Lopez  de  la  Huerta).  Am  Schlufs 
der  Epistel  stellt  Andres  noch  ein  paar  allgemeine  Betrachtungen 
über  den  Zustand  der  Kultur  in  der  Hauptstadt  an ;  er  sieht  so  trübe 
in  die  Zukunft,  dafs  er  vergifst,  was  er  selbst  zum  Lobe  der  Wiener 
Gelehrten  gesagt  hatte,  und  findet  um  sich  eine  Öde:  „Kein  Theologe, 
kein  Geschichtsschreiber,  kein  Jurist,  kein  Astronom  und  Mathema- 
tiker, kein  wahrer  Redner,  welcher  in  Europa  den  Namen  Wien  ver- 
breitet. Den  litterarischen  Erzeugnissen  wird  in  Wien  lange  nicht 
jene  Achtung  gezollt,  welche  sie  in  anderen  Ländern  erlangen.  Auch 
finden  Litteraten  wenig  Schutz  und  Hilfe.  Im  Adelstande,  der  halb 
aus  Baronen,  halb  aus  Ratsherren  besteht,  g^bt  es  auch  Gelehrte 
darunter,  doch  leben  sie  meist  zurückgezogen  und  scheinen  die  Öffent- 
lichkeit zu  scheuen;  ihr  Studium,  ihre  Bildung  verschafft  ihnen  kein 
Ansehen.  Alte  Schriftsteller  werden  wenig  studiert.  Man  verläfst 
die  guten  Quellen.  In  den  letzten  Jahren  taucht  kein  junger  Mann 
auf,  welcher  bedeutende  Fortschritte  in  der  Wissenschaft  hoffen  läfst 
Aus  Mangel  an  Gelehrten  und  tief  denkenden  Männern  wird  die  Wiener 
Litteratur  übel  zu  stehen  kommen" ').  —  Das  schrieb  Andres  nieder, 
zwei  Jahre,  nachdem  Grillparzer  das  Licht  der  Welt  erblickt  hatte. 
Der  Spanier  war  zum  Glück  für  Österreich  ein  schlechter  Prophet^). 


'j  Dieses  und  mehr  als  dieses  hat  der  deutsche  Übersetzer,  auf  welchen  gewifs  der 
Druck  der  Zensur  lastete,  übersprung^en.  Während  Andres  mit  pessimistischen  Gedanken 
schlols,  hat  Richter  die  Epistel  durch  und  durch  optimistisch  geendigt. 

^)  Mit  Andres*  Epistel  sind  die  mir  bekannten  Reiseerinneningen  der  Spanier  in 
Deutschland  erschöpft.  Leider  ist  mir  das  „Itinerario  de  su  viaje  cientifico  ä  Alemania" 
(1798}  des  Naturforschers  Diego  de  Larrafiaga,  welcher  lange  mit  Francisco  de  la  Garsa 


893  Artur  ParinelU. 


An  Hülfsmitteln,  das  Deutsche  zu  erlernen,  an  Grammatiken  und 
Wörterbüchern  ist  in  Spanien  immer  fühlbarer  Mangel  gewesen.  In 
den  90  er  Jahren  erschien  zwar  eine  ^Gramätica  alemana,  compuesta 
para  la  nacion  Espafiola",  ein  Werk  des  Beichtvaters  am  Madrider 
Spitale  D.  Antonio  de  Villa;  es  war  aber  ein  ungeordnetes,  weitschwei- 
figes Buch,  das  die  französischen  Handbücher  noch  immer  unentbehrlich 
machte.  Vom  gleichen  Priester  erwartete  man  ein  spanisch-deutsches 
Wörterbuch,  das  jedoch,  so  viel  ich  weifs,  niemals  erschienen  ist  Unter- 
dessen, berichtet  Fischer  (Reise  von  Amsterdam  u.  s.  w.S.251),  ist  die  Er- 
scheinung des  inLeipzig  herausgekommenen  (1795)  „Spanisch-Deutsches, 
Deutsch-Spanisches  Wörterbuch"  als  eine  grofse  Merkwürdigkeit  an- 
gezeigt worden.  —  Besseres  Glück  hatte  in  Spanien,  wie  bereits  her- 
vorgehoben, das  Englische,  für  dessen  Erlernen  selbst  ein  Jovellanos, 
der  hellste  Kopf  und  der  beste  Prosaist  Spaniens  seiner  Zeit  die 
„Rudimentos  de  Gramatica  inglesa"  und  ein  mir  unbekannter  Verfasser, 
Ende  der  90er  Jahre,  ein  sogenanntes  „Diccionario  nuevo  y  completo 
de  las  lenguas  Espa/iola  e  Inglesa,  Inglesa  e  Espafiola"  ')  herausgaben. 
—  Dichter  und  Kritiker  zeigen  um  diese  Zeit  eine,  man  möchte  sagen, 
gezwungene  Vorliebe  für  englische  Litteratur,  welche  mit  leerem  Wort- 
schwall, in  begeisterten  Phrasen  in  Zeitschriften  zumal  Ausdruck  &nd 
So  hat  nicht  allein  Moratin  der  Jüngere  dem  englischen  Theater  eif- 
riges Studium  gewidmet,  auch  Joseph  Calderon  de  la  Barca,  der  fünf 
Jahre  lang  von  1793  — 1798  den  „Memorial  literario"  dirigierte,  lieferte 
zahlreiche  Übersetzungen  aus  dem  Englischen  und  rückte  im  14.  Bd. 
der  „Continuaciondel  Memorial"  (März  1797)  einige  „Reflexiones  sobre 
el  teatro  Ingles"  ein,  worin  er  die  Fruchtbarkeit  englischer  EKchter 
hoch  rühmte^)  und  gar  Congreve  und  Wicherley  höher  als  Moliere 
stellte').     Höchst   zweifelhaft   bleibt,    ob  Don  Juan  Melendez  Valdes, 


in  Kärnten,  Böhmen  und  Tyrol  studiert  und  praktiziert  hatte  (vgl.  den  ihm  gewidmeten 
Artikel  in  dem  bereits  angeführten  Werke  des  Eugenio  Maffei  und  Ramon  Rua  Figueroa 
I«  389)  unzugänglich  gewesen.  —  Ponz  „Viaje  fuera  de  Espana**,  welches  als  Anhang 
zum  bekannten  „Viaje  de  Espafia**  (x8  Bde.  1794  vollendet)  erschien,  berücksichtigt 
blos  Frankreich,  England  und  die  Niederlande. 

')  Nicht  zu  verwechseln  mit  Barettis  bekanntem  Wörterbuch. 

*)  „El  ingenio  po^tico  de  esta  nadon  es  semejante  ä  un  arbol  silvestre  muy  copado, 
que  brota  hacia  todas  partes  con  suma  fiierza*. 

*)  Shakespeare  selbst  ist  viel  später  als  Milton  in  Spanien  eingedrungen.  Dais 
französische  Übersetzungen  die  erste  Kenntnis  der  Dramen  des  Briten  verschafften,  war 
zu  erwarten.  «Hemos  salido  ya  de  los  vergonzosos  tiempos"  sagt  D.  Lopez  in  einem 
unvollendet  gebliebenen  Artikel :  «Shakespeare  en  Espafla**  auf  die  modernen  Obersetcer 
anspielend,    „Revista  hispano-americana**  Afio  II.  T.  VIII  (Madrid  1882,  S.  41)  «en  que 


Deutschland  u.  die  deutsche  Litteratur  im  Lichte  der  si>anischen  Kritik'u.  Poesie.  IV.  893 

neben  Jose  Quintana,  der  begabteste  spanische  Lyriker  seiner  Zeit, 
( Wilhekn  v.  Humboldt  lernte  ihn  auf  seiner  Reise  nach  Madrid  kennen  ^), 
die  deutschen  Dichter  las  und  auf  sich  wirken  liefs.  In  der  Vorrede 
zum  ILund  in.  Bd.  seiner  Gedichte  (Valladolid  1797)  bekennt  er  allei(- 
dings:  „Meine  poetischen  Hervorbringungen  dürfen  blos  als  Versuche 
angesehen  werden,  sie  mögen  unseren  guten  Talenten  ein  Sporn  sein,  um 
mit  mehr  Feuer,  mit  anderen  edleren  Tönen,  mit  reicherem  Wissen, 
mit  besseren  Anlagen  die  Poesie  in  ihrer  ganzen  Würde  zu  umfassen 
und  unsere  Muse  an  die  Seite  derjenigen  zu  stellen,  welche  Pope, 
Thompson,  Young,  Racine^  Roucher,  Saint-Lambert,  Haller,  Uz,  Gra- 
mer und  andere  zu  erhabenen  Gesängen  begeisterte,  worin  das  Nütz- 
liche mit  dem  Angenehmen  gleichen  Schritt  hält  und  das  Ergötzen 
von  Humanisten  und  Philosophen  bildet^*);  die  drei  letztgenannten 
Deutschen  Dichter  waren  aber  vermutlich,  obgleich  etwas  von  Uz  ins 
Spanische  übersetzt  war,  Melendez  blos  leere  Namen.  Melendez  war 
anfanglich  ein  Zögling  der  Franzosen  und  der  Engländer.  Die  letzten 
insbesondere  bewunderte  er  mafslos.  Er  wollte  seiner  Lyrik  einen 
philosophischen  Gehalt  geben.  Er  machte  aus  Pope  und  Young 
(Vgl.  „La  Noche  y  la  Soledad^)  ein  eifriges  Studium  und  ging  so 
weit,  zu  gestehen,  dafs:  vier  Verse  von  Popes  „Essay  on  man"  mehr 
wiegen  und  mehr  belehren  als  alle  seine  eigenen  Dichtungen. 

Spanische  Dramenfabrikanten  am  Schlufs  des  Jahrhunderts  haben 
sich  nie  um  sorgfaltiges,  getreues  Studium  des  behandelten  historischen 
Stoffes  bekümmert.  Wenn  sie  Handlungen  aus  fremden  Gegenden 
auf  die  Bühne  brachten,  so  machte  ihnen  die  Wiedergabe  der,  den 
Franzosen  nachgerade  so  teueren  „couleur  locale"  nicht  im  geringsten 
Sorge.  Sie  schrieben  maschinenmfäsig,  fantasie-  und  vernunftlos, 
meist   nach   französischen   Schablonen.     Ob    die   Handlung   im  alten 


se  publicaban  obras  inglesas  traducidas  del  ingl^s  al  franc^  y  de  esta  lengua  al 
castellaDo".  (Vgl.  auch  C.  Michaelis  de  Vasconcellos  „Shakespeare  in  Portugal*^  im  „Jahr- 
buch der  deutschen  Shakespeare-Gesellschaft^^  15    Jahrg.  S.  266  ff.). 

')  «Valdes  ist  einer  der  neuesten  Dichtem,  die  zu  uns  nach  Deutschland  gelangt 
sind**,  schrieb  Platen  an  Fugger  von  Briangen  aus  den  39.  Februar  1820. 

')  nD^e  pues  d  mls  composiciones  el  nombre  de  pruebas,  6  primeras  tentativas;  y 
sirvan  de  despertar  nuestros  buenos  ingeniös,  para  que  con  otro  fuego,  otros  mas 
nobles  tonos,  otra  copia  de  doctrina,  otras  disposidones  los  abracen  en  toda  su  digni- 
dad :  poniendo  nuestras  Musas  al  lado  de  las  que  inspiraron  ä  Pope,  Thompson,  Young, 
Racine,  Roucher,  Saint-Lambert,  Haller,  Uz,  Cramer  y  otros  c^lebres  modernos  sus  sub* 
Ihnes  composiciones,  donde  la  utilidad  camina  &  par  del  deleyte,  y  que  son  i  un  tiempo 
las  delicias  de  los  humanistas  y  filösofos*. 


394  Aiiur  Farioelli. 


Rom ,  in  Russland,  Deutschland  oder  Spanien  spielte,  war  fiir  sie 
einerlei.  Ihre  Menschen  waren  weder  Römer  noch  Russen,  weder 
Deutsche  noch  Spanier.  Von  der  Sucht  nach  fremden  Helden  der  mo« 
dernen  spanischen  Komödiendichter  sag^e  Moratin  („Obras  postumas^ 
I,  131):  „Hacen  ä  los  personages  de  sus  dramas,  irlandeses,  rusos, 
escandinaos,  ulanos  ö  valacos;  suponen  la  scena  en  Schaffhausen,  en 
Hansgeorgenstadt,  en  Sichartskirchen,  en  Pfaflenhofen  ö  en  Schwaben- 
münchen;  pero  {  a  quien  podrän  enganar  con  este  artificio?^.  — 
Von  den  verschiedenen  Dramen,  welche  die  Handlung  nach  Deutsch- 
land versetzen,  seien  hier  nur  folgende  erwähnt:  ^Guillermo  de  Hanau**, 
„El  imperio  de  la  verdad  6  el  Sepultiwero**,  „Cumplir  dos  obüga- 
cionesy  Duquesa  de  Saxonia*"  (eine  grausige  Geschichte),  „El  tirano 
de  Ormuz",  „El  Fenix  de  los  Criados,  6  Maria  Teresa  de  Austria*, 
„Sitio  y  Toma  de  Breslau",  „Los  carboneros  de  Holbach**,  «Ma- 
tilde  de  Orleim"  etc.  Vergebens  donnerte  Leandro  Femander  de 
Moratin,  welcher  durch  seine  Hamlets-Ubersetzung  Wilhelm  v.  Hum- 
boldt bekannt  wurde '),  gegen  diese  Stümper.  Sie  schrieben  im  gleichen 
Stil  rüstig  weiter.  Luciano  Francisco  Comella  hatte  in  der  Wahl  der 
Stoffe  sowohl,  wie  in  der  Benennung  seiner  dramatischen  Helden, 
Erstaunliches  geleistet.  Er  hat  meistens  Ereignisse  aus  der  modernen 
Geschichte  in  Scene  gesetzt.  Sein  Theater  winunelt  von  extravagao- 
ten  Individuen  aller  möglichen  Nationen;  sein  General  Stoffel,  sein 
Herr  Konrad  Kruger,  sein  General  Swieten,  sein  Hauptmann  Roth, 
seine  Kadetten  Neis  und  KevenhüUer,  sein  Theodor  von  Württemberg, 
um  nur  einige  Deutsche  darunter  zu  nennen,  haben,  wie  ihre  Genossen, 
kein  Vaterland,  sie  sind  gestaltlose  Geschöpfe  der  Einbildung  Cornelias. 
Seine  Vorliebe  für  deutsche  Helden  erklärt  sich  zum  Teil  durch  seine 
Heirat  mit  einer  Deutschen:  Maria  Teresa  Beyermon,  einem  EMenst- 
mädchen    eines   spanischen    Granden,    die   ihn   dem  Spotte    und  dem 


i)  W.  V.  Humboldt,  Ges.  Werke.  Bd.  V,  Briefe  an  P.  A.  Wolf,  S.  150,  berichtet, 
dafs  Moratin  ihm  seine  prosaische  Obersetzung  des  Hamlet  ( vielleicht  noch  im  llano- 
skript)  gezeigt  und  ihn  gebeten  habe,  er  möge  sie  mit  dem  Original  vergleicheD  und  ihio 
dann  seine  Bemerkungen  darüber  sagen«  „Ich  werde  mich  jetzt  an  diese  Arbeit  macfaen**, 
fügt  Humboldt  hinzu.  —  Nach  einer  Äulserung  an  Schlabrendorf  (Anhang  zu  „W.  t. 
Humboldts  Ansichten  über  Ästhetik  und  Litteratur**  a.  a«  O.  S.  129):  «Moratin  hat  neulich 
den  Hamlet  übersetzt,  er  sagt  in  der  Einleitung  ganz  deutlich,  daüs  Dinge,  wie  sie  sich 
die  noch  barbarischen  Engländer  gefallen  lassen,  in  Spanien  nicht  g^uldet  werden 
würden**,  scheint  Humboldt  wirklich  diese  unerfreuliche  Arbeit  vorgenommen  zu  haben. 


Deutschland  u.  die  deutsche  Litteratur  im  Lichte  der  spanischen  Kritik  u.  Poesie.  IV.  895 

Hohn  seiner  Theaterkollegen  aussetzen  sollte^).  In  seinem  Haschen 
nach  Darstellung  fremden  Geistes  und  fremder  Sitten  hat  der  arm- 
selige sein  bischen  Verstand  eingebüfst  und  sich  den  Ruhm  der  Lächer- 
lichkeit erworben ').  Er  schrieb  unter  anderem  eine  „Maria  Teresa  de 
Austria  en  Landaw^,  worin  die  Königin  als  Bäuerin  verkleidet,  das 
abenteuerlichste  Zeug  verrichtet,  einen  „Federico  II.  Rey  de  Prusia, 
drama  en  tres  actos",  im  Coliseo  del  Principe  zuerst  aufgeführt,  das 
zu  seinen  Haupt-  und  Kraftstücken  zählte.  Die  Figur  des  grofsen 
Königs  ist  darin  so  elend  verunstaltet,  die  Geschichte  in  eine  so  sinn- 
lose Fabel  umgewandelt,  das  Ganze  ist  ein  so  miserables  Machwerk, 
dafs  wir  Mähe  haben  zu  begreifen,  wie  es  zu  seiner  Zeit  selbst  in 
Italien  und  in  Portugal  Erfolg  haben  konnte*). 

Die  Taten  des  grofsen  Friedrich  hatten  auf  die  Spanier  immer 
gewaltigen  Eindruck  gemacht.  D.  Ignacio  Lopez  de  Ayala,  der  Ver- 
fisisser  der  „Numancia  destruida'S  fing,  offenbar  auf  Grundlage  eines 
fremden  (französischen)  Werkes,  eine  „Historia  de  Federico  el  Grande^^ 
an,  kam  aber  nicht  über  den  ersten  Band  hinaus  (Madrid  1767*).  — 
AlleS)  was  in  Frankreich  über  Friedrich  II.  geschrieben  und  ge- 
faselt wurde,  fand  in  Spanien  begierige  Leser.  Die  in  den  80  er  und 
90  er  Jahren  übersetzten  Schriften  über  das  Leben,  die  Werke,  die 
Taten  und  Gedanken  Friedrichs   sind  Legion.    Es  erschienen  (1785): 


')  Ich  verdanke  meinem  Freunde  Cotarelo  y  Mori  die  Kenntnis  einiger  kleinen  Ar- 
tikel von  Chr.  Box-Thom:  «Comella  contra  Moratin",  die  nächstens  mit  anderen  in 
einem  Buche  erscheinen  werden. 

*)  Ein  treffendes  Urteil  über  diesen  spanischen  Kotzebue  niederer  Ordnung  in  „Obras 
literarias  de  Manuel  Slvela**  (Madrid  1890,  S.  512  ff).  —  Cornelia  verfalste  auch  einen 
«Werter*  (eine  Übersetzung  aus  dem  Französischen),  und  einen  ,,£1  tirano  Gesler", 
vrelche  ich  leider  nur  dem  Titel  nach  kenne. 

s)  Comellas  Stück,  welches  durch  Andolfati  für  die  italienische  Bühne  bearbeitet 
worden  ist  („Federico  II  re  di  Prussia.  dramma  di  Luciano  Francesco  Comella**  —  in  «11 
teatro  modemo  applaudito**  (Venezia  1796,  Bd.  6),  «piacque,  place  molto  ancora  In 
Ispagna  ma  non  tanto  per6  quanto  in  Italia*,  sagen  einige  einleitende  «Notizie  storico- 
critiche*  über  das  Stück,  «ogni  quäl  volta  vien  rappresentato  suUe  scene  italiane,  diletta, 
intenerisce,  e  sembra,  per  cosf  dire,  sempre  nuovo*S  -—  Von  einer  portugiesischen  Ober- 
setzung des  Stückes  Comellas  durch  Felix  Moreno  de  Monroy  spricht  Braga  in  seiner 
«Historia  do  theatro  portuguez**  a.  a.  O.  S.  45  ff. 

*)  Tychsen,  (Anhang  zu  Bourgolng,  S.  329)  erwähnt  «eine  kurze  Lebensgeschichte 
der  Kaiserin  Maria  Theresia,  aus  dem  Französischen",  die  mir  nicht  bekannt  ist;  — 
Fischer,  „Reise  von  Amsterdam"  u.  s.  w.,  S.  285)  verzeichnet  eine  «Vida  de  Joseph  II. 
Emperador  de  Alemania**  in  4  Bdn.  «Es  scheint«*,  bemerkt  der  Reisende,  «ein  Original- 
werk zu  seyn,  wobei  aber  die  ausländischen  Materialien  benutzt  sind**. 


896  Artar  ParinelU. 


die  ,,Pensamientos  escogidos  de  las  maximas  filosoficas  de  Federico  11*^ ; 
(1787)  die  „Pasages  escogidos  de  la  vida  privada  de  Federico  11  Rey 
de  Prusia  .  .  .  sacada  de  un  anönimo  frances^^;  (1787)  die  „Cartas 
sobre  el  Patriotismo,  segun  el  original  impreso  en  Berlin,  traducidas 
al  Castellano^^  etc.,  wo  viel  von  Friedrich  die  Rede  ist;  (1787)  ein 
„Elogio  del  Rey  de  Prusia  escrito  en  Frances  por  el  Conde  de  Gtii- 
bert,  y  traduddo  al  Castellano;  (1788)  eine  „Instrucdon  reservada 
.  •  ,  del  Rey  de  Prusia  a  su  sobrino  .  .  .  traducida  de  un  manuscrito 
frances";  (1788)  eine  vierbändige  „Vida  de  Federico  11  Rey  de 
Prusia  .  .  .  traducida  del  frances;  (1789)  die  „Coleccion  de  las 
guerras  de  Federico  II  el  Grande  en  veinte  y  seis  planos.  Dada 
ä  luz  en  Aleman  y  Frances  por  Don  Luis  Müller  (Abrifs  der  Schlachten 
Friedrichs  II)  y  traducida  por  Don  Francisco  Patemö"  Malaga  1789; 
(1793)  „El  .Arte  de  la  Guerra,  Poema  escrito  por  Federico  II  Rey 
de  Prusia  .  .  traduddo  en  verso  Castellano  por  D.  Genaro  Figueroa". 
Den  Tod  des  Königs  hat  Bernaldo  de  Quiros  in  Sonetten  betrauert*). 
In  den  90  er  Jahren  wollte  ein  mir  unbekannter  Spanier  seine  Lands- 
leute mit  Zimmermanns  „Gespräche  mit  Friedrich  11^*  bekannt  machen 
und  übersetzte  sie  („Dialogos  de  Federico  II  Rey  de  Prusia  con  el 
Dr.  Zimmermanns^)  aus  dem  .  .  .  Portugiesischen^.  Die  portugiesische 
Übersetzung  selbst  war  nach  dner  englischen  verfertigt  worden  •)• 

Die  Spanier  waren  in  der  Wende  des  Jahrhunderts  mit  ihren 
dgenen  politischen  Wirren  zu  viel  geplagt,  um  sich  um  die  Ereignisse 
in  Deutschland  zu  kümmern.  Auch  für  die  gewählten  Kreise  gUch 
Deutschland  einer  noch  nicht  entdeckten  Insel.  Höchstens  waren  bis 
zu  ihnen,  wie  Fischer  (Gem.  von  Madrid  S.  459)  versichert,  deutsche 
Walzer  gedrungen,  welche  sie  mit  ihren  Nationaltänzen  bereits  vor 
Schlufs  des  Jahrhunderts  zu   tanzen    anfingen,    dazu  noch  ein  bischen 


')  Obras  po^ticas  de  D.  Jgnacio  de  M^ras  Queypo  de  Llano  (Psendonym)  Bd.  I, 
Madrid  1797.  ^-  Dem  genialen  Ver&sser  des  „Pray  Gerundio**,  Francisco  de  Isla,  war 
Friedrich,  dessen  Taten  der  Spanier  in  den  »Cartas  femiliares**  (II.  Ausgabe,  D,  9»  ff., 
136  ff.;  V,  256  ff.;  VI,  31,  50)  verfolgte,  nicht  sympatlüsch. 

•)  Vgl.  Fischer,  Rdse  u.  s.  w.,  S.  285. 

*)  Die  mir  bekannte  englische  Übersetzung  „Zimmermann*s  Solitnde  witfa  respect 
to  its  influence  upon  the  Mind  and  the  Heart"  datiert  von  1796. 

Das  sonst  fleüsig  verfalste  Buch  R.  Ischers:  „J.  G.  Zimmermanns  Leben  und 
Werke",  Bern  1893,  entbehrt  leider  einer  sorgfältigen  Bibliographie  der  Obersetzungen 
der  Werke  des  berühmten  Brugger  Arztes  ins  Französische  und  in  andere  Sprachen. 
Eine  spanische  Obersetzung  der  „Einsamkeit**  (La  Soledad)  von  Pedro  Espina  j 
Martinez    erschien  zu  Madrid  1873. 


Deutschland  u.  die  deutsche  Litteratur  im  Lichte  der  spanischen  Kritik  u.  Poesie.  IV.  897 

deutsche  Musik.  Ich  habe  früher  *)  die  Bewunderung  Iriartes  für  Haydn 
hervorgehoben  und  Stellen  aus  seinem  Gedicht  „La  Müsica"  ange- 
führt^- Die  Buchhändler  in  Madrid,  sagt  Fischer  (Reise  von  Amster- 
dam u.  s.  w.  S.  319)  „kündigen  täglich  neue  Musikalien  der  besten 
deutschen  und  italienischen  Komponisten  an".  „La  müsica"  sagte 
Capmany  („Discurso  preliminar"  zum  „Teatro  .  .  de  la  eloquencia 
espafiola''  S.  10 1)  vemos  que  quiere  huir  de  Italia  para  casarse  con 
los  alemanes". 

Die  Madrider  Zeitungen'),  die  monatlichen  und  wöchentlichen  Blätter 
anderer  spanischen  Städte,  brachten  selten  Nachrichten  und  Besprechungen 
fremder,  es  sei  denn  französischer  Werke.  Aus  französischen  Blättern 
meist  aus  dem  „Journal  etranger",  dem  „Journal  des  savants",  der 
„Correspondance  litterarire^^  Grimms  und  Meisters,  dem  „Journal 
encyclopedique",  dem  „Magazin  encyclopedique"  und  dem  „Mercure 
de  France^^  schöpften  sämtliche  spanische  litterarische  Blätter.  Der 
„Espiritu  de  los  mejores  diarios"  (1787 — 1793)  (sogar  der  Titel 
stammte  aus  dem  französischen  „Esprit  des  joumaux^^),  sowie  der 
„Correo  Literario  de  la  Europa,  en  el  que  se  da  notida  de  los  libros 
nuevos,  de  las  invenciones  y  adelantamientos  hechos  en  Francia  y 
otros  reinos  extranjeros"  (1781-— 1787)  gaben  jahrelang  Übersetzungen 
und  Auszuge  aus  dem  Französischen.  Weit  selbständiger  und  reich- 
haltiger war  der  „Memorial  literario",  der  sich  volle  24  Jahre  erhielt 
(1784 — 1804).  Iß  seinem  7.  B.  (S.  88 — 96)  ist  aus  der  Feder  von  J.  E. 
(Joaquin  Ezquerra)  ein  Aufsatz  über  Kant:  „Noticia  literaria  sobre 
Mr.  Kant  y  sobre  el  estado  de  la  Metafisica  en  Alemania",  der  allem 
Anschein  nach  einen  englischen  Bericht  zur  Grundlage  hat*). 

*)  In  meinem  H.  Teil  „Spanien  u.  s.  w."  (2^tschr.  für  vgl.  Litt.-Gesch.  N.  F.  V,  324). 

*)  Ein  groises  Werk  über  Iriaite  wird  E.  Cotarelo  y  Mori  noch  in  diesem  Jahre 
▼eröfientlichen.  —  Iriarte  hat  auch  Campes  „Robinson'*  aus  dem  Französischen  übersetzt: 
„El  nuevo  Robinson,  historia  moral,  reducida  i.  diilogos  para  instruccion  y  entretenimiento 
de  niflos  y  jöyenes  de  ambos  sdzos,  escrita  recientemente  en  Aleman  por  el  Setior  Campe, 
traducida  al  Ingles,  al  Italiano,  al  Frances,  y  de  este  al  Castellano  con  varias  correc- 
donespor  D.  Tomas   de  Iriarte**.  Madrid  1789  (2  Bd.). 

*)  Einen  äuiserst  mageren  Artikel  über  den  „Periodismo  madrilefio  1788 — 1888** 
enthält  das  Büchlein  des  M.  Ossorio  y  Bemard  „Papeles  viejos  6  Investigaciones  literarias** 
Madrid  1890.  —  Weit  nützlicher  ist  die  Zusammenstellung  v.  E.  Hartzenbusch  „Apuntes 
para  un  catdlogo  de  periödicos  madrilefios  desde  el  afio  1661  al  1870.  Madrid  1894. 

^)  In  einem  seiner  Briefe  an  Goethe  schrieb  W.  v.  Humboldt  im  November  1799: 
die  Kantische  Philosophie  sei  auch  in  Madrid  wenigstens  dem  Namen  nach  bekannt. 
„Wenn  ich  nicht  fürchtete,  von  Ihnen  als  Missionar  verlacht  zu  werden,  so  möchte  ich 
Ihnen  sagen,  dais  ich  noch  heute  einem  Spanier  die  alleinseligmachende  Lehre  gepredigt 


898  Artixr  Farinelli. 


Alle  geistigen  Erzeugnisse  Englands  und  Deutschlands  sind  den 
Spaniern  durch  Frankreich  zugekommen.  Nach  dem  Französischen 
sind  ausnahmslos  die  spärlichen  Übersetzungen  aus  deutschen  EKchtern, 
welche  vor  1800  in  äufserst  verstümmelter  Form  in  Spanien  erschienen; 
wahre  Verunglimpfungen,  welche  den  verdorbenen  litterarischen  Ge- 
schmack jener  Zeit  getreu  abspiegelten.  Die  Neigung  der  spanischen 
Musensöhne  zur  bukolischen  und  beschreibenden  Dichtung  entschied 
meistens  die  Wahl.  Der  Übersetzer  brauchte  sich  nicht  im  geringsten 
um  die  Kenntnis  der  Sprache  des  Originals  zu  kümmern,  die  fremde, 
bereits  verwässerte  Vorlage,  die  er  noch  nach  seinem  DGnken  und 
Können  mifshandelte,  war  ihm  mehr  als  genug. 

Die  überaus  günstige  Aufnahme,  welche  Salomon  Gessners  Ge- 
dichte in  Frankreich  fanden,  das  uneingeschränkte  Lob,  welches  Hinen 
in  französischen  Zeitschriften  gespendet  wurde,  bewog  den  Spanier 
Pedro  Lejeusne,  seine  Landsleute  mit  einer  Übersetzung  des  „Tod 
Abels^^  zu  versehen  ^).  Das  Gedicht,  welches  ganz  und  gar  die  franzö- 
sische  Übersetzung  Hubers  „La  Mort  d'Abel"  (Paris  1 760)  zur  Grund- 
lage hatte,  fand  Leser  und  Bewunderer,  denn  bereits  drei  Jahre  darauf 
(1788)  erschien  zu  Oviedo  eine  zweite  „muerte  de  Abel",  eine  Nach- 
ahmung der  vorhergehenden,  obgleich  in  Versen  geschrieben*).  Im 
Jahre  1803  wurde  dann  Legouves  gleichnamige  Tragödie  übersetzt 
und  am  30.  Mai  in  Madrid  im  Theater  de  los  Cafios  del  Peral  darge- 
stellt*). Im  Jahre  1796,  nachdem  Juan  Lopez  bereits  im  „Memorial 
literario"  vom  Juni  1794  (S.  460  ff.)  ein  Idyll  „Palemon"  „ä  imitactoo 


habe.  Aber  auch  in  der  Philosophie  haben  die  Franzosen  hier  alles  angesteckt**.  —  DzSs 
Kantsche  Ideen  selbst  vor  dem  Erscheinen  des  g^ofeen  Königsberg^ers  die  Spanier,  Tor- 
zflglich  Luis  Vives,  Francisco  Sanches,  Pedro  de  Valencia  beschäftigten,  behauptet 
M.  Menendez  y  Pelayo,  doch  mit  Übertreibung,  in  seinem  schönen  Aufsatze:  „De  los 
oHgenes  del  criticismo  y  del  escepticismo,  y  espedalmente  de  los  precursores  espanoles 
de  Kant**  in  ,yRevista  de  Espafia**  Juni,  Juli,  August  1891  (auch  als  2.  Siudieim  Men^dcz: 
„Ensayos  de  crftica  filosöfica**  Madrid  1892).  —  Die  Nachrichten  über  Kant  im  ,yMemorial 
literario**  III,  38  und  IV,  4  sind  unbedeutende  Auszüge  aus  Merders  und  Tracys 
Schriften  Ober  deutsche  Philosophie. 

>}  „La  muerte  de  Abel.  Poema  moral  en  prosa  en  cinco  autos,  su  autor  Mr. 
Gesnero.     Traducido  al  Castellano  por  Don  Pedro  Lejeusne**.  Madrid  1785. 

')  „La  muerte  de  AbeL  Poema  moral  que  en  cinco  cantos  en  versos  endecasflabos 
escribio  D.  Joaquin  Joseph  Queypo  de  Llano  y  Vald^**.     Oviedo,  1788. 

')  „La  muerte  de  Abel.  Tragedia  en  tres  actos,  escrita  en  Prances  por  G.  LegouYe, 
y  traducida  en  castellano  por  D.  Antonio  Savinon**.  Madrid  1803.  Vgl.  darüber  Quin- 
tanas*  Zeitschrift.  „Variedades  de  ciencias,  literatura  y  artes  I,  45.  —  Im  gleichen  Jahre 
erschien :  „La  muerte  de  Abel  vengada,  tragedia  en  tres  actos,  acomodada  al  teatro 
espafiol  por  Dofia  Magdalena  Femandez  y  Figuero. 


Deutschland  u.  die  deutsche  Litteratur  Im  Lichte  der  spanischen  Kritik  u.  Poesie.  IV.  899 

de  uno  de  Gesnero"  eingerückt  hatte,  wurden  einige  Idyllen  Gessners  als 
Ankündigung  veröffentlicht.  Vom  guten  Erfolge  ermutigt,  gab  der 
Übersetzer  ein  Jahr  darauf  in  einem  schön  gedruckten,  mit  einem  treff- 
lichen Kupfer  geschmückten  Band,  24  Idyllen  Gessners  heraus:  „Idilios 
de  Gesner  en  prosa  y  verso  por  el  traductor  del  Primer  Navegante" '). 
Madrid  1797.  (Imprenta  de  Sancha).  Für  den  „Primer  Navegante"  ^) 
sowohl  wie  far  die  „Idilios^^  haben  dem  Spanier  unzweifelhaft  die  vom 
Züricher  Heinrich  Meister  besorgten  „Oeuvres  de  Salomon  Gessner 
traduits  de  TAUemand"    (A  Zürich    chez  l'auteur,    1777)   vorgelegen. 

Ende  der  80er  Jahre  erschien  (wie  ich  aus  Fischers  Reise  von 
Amsterdam  u.  s.  w.  S.  311  Nr.  11  und  aus  dem  „Memorial  literario" 
(Juli  1787)  XI,  362,  entnehme)  in  Madrid,  von  Bernardo  Maria  de 
Calzada,  dem  Übersetzer  von  Addisons  „Cato",  eine  spanische  Über- 
setzung von  Uz:  „Die  Kunst  stets  fröhlich  zu  sein":  „Arte  de  ser 
feliz,  dividido  en  4  epistolas  morales  en  prosa,  escrito  en  Aleman,  su 
autor  Utz:  con  mas  otras  dos  epistolas,  la  una  intitulada  la  Riqueza 
y  la  Gloria,  y  la  otra  el  amigo  de  los  hombres,  ambas  escritas  en  el 
mismo  idioma:  su  autor  Gellart ^  (sie),  welche  vermutlich  aus  der 
französischen  Übertragung  Hubers  in  dem  „Choix  de  poesies  allemandes" 
(Paris  1766,  III,  298  ff.;  IV,  185  ff.)  fliefst  »)• 

Für  Wielands  „Oberon"  zeigten  die  Portugiesen  mehr  Sinn  als 
die  Spanier.  Eine  spanische  Übersetzung  des  „Oberon**  ist  im 
18.  Jahrhundert  meines  Wissens  nicht  zu  Stande  gekommen^).  Dafür 
hat  der  originelle,  aber  ungründliche  Francisco  Manoel  do  Nascimento 
(bekannter  unter  dem  arkadischen  Namen  Filinto),  welcher  trotz  seiner 
ausgesprochenen  Gallophobie,  Racine,  Voltaire,  Gresset  und  andere 
Franzosen  mit  schönen  portugiesischen  Versen  umkleidete  *),  eine  Über- 

0  ^S^*  n^^  primer  oavegfante.     Poema  en  dos  cantos  de  G6sner*.     Madrid  1796. 

')  Daus  Gessners  Idyllen  in  Spanien  grofses  Glück  machten,  bezeugt  auch 
W.  ▼.  Humboldt,  Er  schreibt  an  Schlabrendorf  (Mai  1800}  von  Valencia  aus:  „Sie (die 
Spanier)  klagen  über  Mangel  an  Empfindung  und  Herz  und  geraten  in  Entzücken  über 
Gessners  Idyllen**.  Vgl.  W.  v.  Humboldt,  Ansichten  a.  a.  O.  S.  129.  Vgl.  auch  Moratin, 
nObras  pöstumas**  I,  105),  und  ein  chaotischer  Artikel:  „La  tumba  de  Gdsner  en  Zürich" 
in  „El  semanario  pintoresco  espafiol"  1849  S.  43. 

*)  Im  Memorial  literario^'  (1801)1,133  findet  sich  ein  aus  dem  Französischen  über- 
setztes Gedicht:  „La  Luciemaga,  fdbula  del  aleman  Pfeflfer". 

^)  Von  der  spanischen  Übersetzung  des  nOberon"  des  Calderon  de  la  Barca,  an 
welcher  Graf  v.  Schack  («Ein  halbes  Jahrhundert**.  Stuttgart  1888  I,  367)  nmehr  Behagen 
als  an  dem  Original**  fand,  wird  später  die  Rede  sein. 

*)  Zum  Lohn  dafür  haben  die  Franzosen  einen  Band  seiner  eigenen  lyrischen  Gedichte 
fibersetzt.  Vgl.  „Po^ies  lyriques  de  Francisco  Manoel  de  Nacimento,  traduites  en  Fran- 
9ais",    Paris  1808. 

ZtMhr.  f.  vgl.  Litt  Gesch.    N.  F.  VIIL  26 


400  Artur  Parindll. 


setmng  von  Wielands  Epos  unternommen,  ohne,  wie  er  selbst  gesteht, 
ein  Wort  deutsch  zu  verstehen  *).  Er  hat  sich,  wie  Pereira  da  Silva  in 
seinem  deklamatorischen,  inhaltsleeren  Buche  über  „Filinto  Elysio^ 
(Rio  de  Janeiro  1891,  S.  87)  versichert,  mit  der  kläglichen  Übersetzung 
des  Grafen  de  Borch  „Oberon  pöeme  en  douze  chants^'  (Basel  1798) 
zu  helfen  gewufst ').  —  Aus  Links  Reisebeschreibung  (II,  236) 
erhalten  wir  von  einer  zweiten,  wenn  auch  nicht  veröflfentlichten 
portugiesischen  Übersetzung  des  „Oberon"  Nachricht.  „Es  ist  viel- 
leicht nicht  unangenehm  zu  hören",  schreibt  Link,  „dafs  die  verwittwete 
Gräfin  von  Oeynhausen,  eine  Tochter  des  Marquis  von  Alomo,  also 
eine  gebohrene  Portugiesin,  viele  Gesänge  von  Wielands  Oberon  sehr 
glücklich  ins  Portugiesische  übersetzt  hat.  Schade,  dafs  sie  sich  noch 
nicht  entschliefsen  kann,  sie  öffentlicht  bekannt  zu  machen" '). 

Man  begreift,  dafs  in  der  Zeit  des  trosdosesten  Ver&lls  der 
spanischen  Bühne,  als  das  erfinderische  Genie  und  die  dichterische  Em- 
pfindung erlahmt  waren,  die  Bühnenklassiker  des  16.  und  17.  Jahr- 
hunderts, die  gröfsten  darunter:  Lope,  Tirso,  Mira  de  Amescua, 
Alarcon,  Moreto,  Calderon,  von  der  allwissenden  zeitgenössischen 
Kritik  mit  Geringschätzung,  sogar  mit  Verachtung  angesehen  wurden 
und  regelmäfsige,  wie  man  sie  nannte,  aber  fade,  stumpfsinnige  Stücke 
nach  firanzösischen  Schablonen  dem  Publikum  zur  Unterhaltung  darge- 
boten wurden;  man  begreift,  dals  sich  die  Spanier  die  Bühnen  fi-emder 
Nationen  als  Goldgrube  vorstellten,  woraus  sie  nach  Bedarf  plündern 
könnten.  —  Moratins  Stück  „La  Comedia  nueva  ö  el  Cafe",  welches 
zuerst  am  7.  Februar  1792  zur  Darstellung  kam,  gegen  die  Theater- 
pfuscher Spaniens,  gegen  Valladares,  Comella,  Conchas,  Moncines 
und  Genossen  gerichtet  war,  eine  köstliche  witzvolle  Satire,  „la  mäs 
asombrosa    sätira   literaria   que  en  ning^na   leng^  conozco"  wie  sie 


*)  „Ja  d*aquS  advirto  os  Senhores  Criticos,  que  näo  comprendo  uma  s6  palavra  de 
Alemao  linguagem,  em  que  este  Poema  foi  origfinalmente  escripto*^  Prolog  zur  Über- 
setzung des  „Oberon"  im  3.  B.,  S.  5  der  „Obras  completas  de  FiÜnto  Elysio"  (2.  Ausg.) 
Paris  1817.  —  Auf  diese  Übersetzung  stützt  sich  in  der  Hauptsache  Garrets  Gedicht 
„Donna  Branca". 

^  Die  Übersetzung  Filintos  von  etwa  38  Oden  Ramlers  befindet  sich  blos  in  der 
3.  Ausg.  seiner  Werke  (Lisboa  1836 — 40),  die  mir  nicht  zugänglich  war. 

*)  Von  einer  portugiesischen  Übersetzung  des  „Hermann  oder  das  befreiie 
Deutschland"  Schönaichs"  spricht  Link  in  seiner  Reise  II,  245.  —  Als  Vorlage  wird 
wohl  die  in  Paris  1 769  erschienene  französische  Übersetzung  Rydous :  „Arminius  ou  la 
Germanie  d^livr^e,  pöeme  heroTque  par  le  baron  de  Schonaich"  gedient  haben. 


Deutschland  a.  die  deutsche  Litteratur  im  Lichte  der  spanischen  Kritik  u.  Poesie.  IV.  401 

Menendez  nennt  ^),  war  auch  in  Deutschland  bekannt.  Im  Jahre  1800, 
fünf  Jahre  nach  der  italienischen  Übersetzung  des  Napoli  Signorelli 
hatte  sie  Manuel  Ojamar  (Anagramm  von  Ramajo),  der  lange  Zeit 
in  Dresden  verweilt  hatte,  mit  einer  deutschen  Übersetzung  zur  Seite 
neu  veröffentlicht*).  —  Eine  gewisse  Zensurkommission,  welche  den 
Zweck  einer  Reinigung  des  spanischen  Theaters  verfolgte,  zu  welcher 
anfanglich  Moratin  zählte,  später  aber,  als  die  Konmiission  Unsinn  auf 
Unsinn  stiftete,  seine  Entlassung  einreichte,  hatte  in  den  Jahren  1800 
und  1801  sechs  Bände  eines  „Teatro  nuevo  espanol"  drucken  lassen, 
welche  in  der  Hauptsache  aus  kläglichen  Übersetzungen  fremder  Stücke 
besteht.  Wir  finden  darin  unter  anderen:  (B.  IV)  Lessings  „Minna  von 
Barnhelm^^  unter  dem  Titel:  „Los  amantes  generosos.  Comedia  en  dnco 
actos.  Compuesta  en  Frances,  sobre  un  modelo  Aleman,  por  M. 
Rochon  de  Chabannes  (»Les  amans  genereux")  y  traducida  por  D.  G. 
F.  R."  •).  (B.  ni)  Schillers  „Kabale  und  Liebe"  („El  amor  y  la  intriga**)  *). 
(B.n)  Kotzebues  „Die  Versöhnung  oder  Bruderzwist"  („La  Reconciliacion 
6  los  dos  hermanos".  (B.  VI,  1801)  Brandes  „Der  Graf  von  Olsbach" 
(„El  Conde  de  Olsbach")  nach  französischen  Übersetzungen  bearbeitet. 
Der  federgewandte,  auf  alle  edlen  und  gemeinen  Instinkte  der 
Zuschauer  spekulierende,  dem  blendenden  Effekt  nachhaschende 
Kotzebue,  den  die  Spanier  zu  einem  Kot — bue  (nach  dem  französischen 


^)  „Historia  de  las  ideas  est^ticas*'  T.  m.  V.  II,  S.  228.  Der  feinsinnigre  Juan 
Valera  in  seinen  „Disertaciones  y  juicios  literarios**  (,,Obras*',  Madrid  1 890.  —  ,,Coleccion 
de  escritores  castellanos**.  LXXXTV,  171  f.)  nennt  die  „Comedia  nueva"  Moratins  eine 
„gradosisima  sätira  literaria,  donde  no  sabe  uno  de  qu6  admirarse  mäs,  si  del  ingenio, 
sal  itico  y  rico  tesoro  de  chistes  del  autor,  6  de  su  mezquina  crftica*'. 

')  «Das  neue  Lustspiel  oder  das  Caffeehaus,  in  zwei  AufzQgen,  aus  dem  spanischen 
des  Leandro  Femandez  de  Moratin,  Obersetzt  von  Manuel  Ojamar**.  —  Spätere  Über 
Setzungen  von  A.  v.  Halem  (Bremen  1835),  von  A.  Schuhmacher  (in  „Dramatische 
Bibliothek  des  Auslandes**.  Wien  1842  B.  VII).  Eine  unbedeutende  Recension  der  ersten 
Übersetzung  findet  sich  in  der  Gothaschen  „Belletristischen  Zeitung  auf  das  Jahr  1800^*. 
1 1  Stück  (15.  März)  S.  86  f.  —  Einige  Jahre  vorher  War  ebenfalls  zum  Zwecke  des  Sprachunter- 
richts das  Rühr-Stflck  Jovellanos  „El  Delincuente  honrado"  von  einem  mir  nicht  näher 
bekannten  Josef  Leonini  verdeutscht  und  unter  dem  Titel:  „Der  edle  Verbrecher.  Ein 
Schauspiel  in  5  Aufzügen"  in  Berlin  1796  herausgegeben. 

')  Auch  Lessings  „Emilia  Galotti",  auf  welche  Antonio  Gutierrez  in  den  50  er  Jahren 
seine  wirkungsvolle  Tragödie  „Un  duelo  &  muerte**  gründete,  war  schon  vor  Schluls 
des  Jahrhunderts,  wie  mir  mein  Freund  Menendez  y  Pelayo  versichert,  ins  Spanische  nach 
einer  französischen  Vorlage  übersetzt. 

*)  Leider    ist   in  dem  Exemplar  des  höchst  seltenen  „Teatro  nuevo"  das  ich  in  der 

Biblioteca    de    San    Isidro  in  Madrid    benutzte,    dieses  Stück  herausgerissen  worden,   so 

dafe  ich  es  nur  nach  seinem  Titel  anführen  kann. 

26* 


40S  Artur  Parinelli. 


Kotz— bue)  umtauften,  erlangte  wie  in  Deutschland,  Frankreich,  Italien 
und  England  *),  so  auch  in  Spanien  unverdienten  Beifall.  Zu  ver- 
wundern ist,  dafs  Kotzebues  Stück  „Die  Spanier  in  Peru  oder  Rollas 
Tod",  aus  dem  Sheridan  1799  sein  berühmtes  „Pizarro" ')  und  Julius 
Graf  von  Soden  mit  mehr  Anlehnung  an  die  Geschichte  sein 
„Franzesko  Pizarro  oder  der  Schwur  im  Sonnen-Tempel"  schufen,  ein 
Stück,  welches  südliches  Kolorit  zeigt  und  südliche  glühende  Leiden- 
schaften schilderte,  keine  Bearbeitung  für  die  spanische  Bühne 
fand.  Dafür  haben  aber  „Menschenhafs  und  Reue"  und  „Der  Bruder- 
zwist" weiche  spanische  Herzen  und  Augen  gerührt  und  manche  stille 
Versöhnung  in  Familienkreisen  bewirkt  •).  Das  Stück  kam  nach  zwei 
verschiedenen  Übersetzungen  im  Jahre  1800  in  den  Madrider  Theatern 
zur  Auffuhrung.  Dionisio  de  Solis,  welcher  später  Alfieris  Dramen: 
„Oreste"  und  „Virginia"  in  pompöse  kastilische  Verse  umkleidete, 
lieferte  eine  dreiaktige  „Misantropia  y  Arrepentimiento,  traducido  del 
Frances,  puesto  en  verso  y  arreglado  a  nuestro  teatro".  Gleichzeitig 
erschien  von  einem  D.  A.  G.  A.  „La  Misantropia  y  el  Arrepenti- 
miento, drama  en  5  actos  en  Prosa  del  Teatro  aleman  de  Kot — büe 
refundido  y  arreglado  a  la  escena  por  la  ciudadana  Mole  (Julie  Mole) 
Actriz  del  Teatro  Frances,  y  traducido  fielmente  en  Prosa  castellana"*). 


')  Vgl.  Süpfle  ^,Beiträg>e  zur  Geschichte  der  deutschen  Litteratur  in  England  im 
letzten  Drittel  des  18.  Jahrhunderts"  in  dieser  Zeitschrift  N.  F.  VI,  326. 

*)  Vgl.  Bahlsen  „Kotzebues  Peru-Dramen  und  Sheridans  Pizarro".  Berlin  1893. 

*)  So  behauptet  der  Komiker  Mariano  Querol  in  einem  1 8 1 1  an  den  „Gobiemo  de  la 
Regencia"  in  Cadiz  gerichteten  Schreiben:  (Ossorio  y  Bernard  „Papeles  Viejos".  —  ,,Un  hal- 
lazgo  bibliogrifico  en  defensa  del  teatro".  S.  90)  „muchos  de  los  habitantes  de  este  noble 
pueblo  son  testigos  de  haber  visto  la  primera  representacion  de  la  comedla  titulada 
Misantropia  y  arrepentimiento,  por  lo  que  se  vieron  muchos  matrimonios  que 
estaban  separados  por  bagatelas,  reunidos  otra  vez  y  estrecharse  en  los  lazos  de  himeneo. 
Por  la  representacion  de  la  nombrada  La  reconciliacion  de  los  dos  hermanos 
diversas  familias  enemistadas  volverse  &  pacificar,  olvidando  las  dicordias  domdsticas 
que  habian  causado  su  enemistad**. 

^)  Diese  zweite  spanische  Übertragung  von  „Menschenhafs  und  Reue"  fehlt  In  der 
sonst  fleifsig  zusammengestellten  Bibliographie  bei  C.  Rabany:  „Kotzebue,  sa  vie  et  son 
tempSf  ses  oeuvres  dramatiques".  Paris,  1893,  S.  458,  wo  aber  die  in  Paris  1841 
erschienene  portugiesische  Übersetzung  des  Coetemo  Lopes  de  Moura:  „Misantropia  e 
arrependimento"  aufgezeichnet  wird.  —  Die  weitläufige  Kritik  über  Kotzebues  „Menschen- 
hafs und  Reue",  welche  in  dem  „Memorial  literario"  erschien,  worin  vom  Dichter  lobend 
gesprochen,  der  Plan  des  Stückes  und  die  sententiöse  Sprache  des  Originals  getadelt 
werden,  hat  C.  A.  Fischer  in  seinen,  uns  schon  bekannten  „Spanische  Miscellen"  Berlin 
1803  I,  304  ff.  „Von  Kotzebues  Schauspiele  in  Madrid"  eingerückt.  —  Von  Kotzebue 
erschienen  ebenfalls  nach  dem  Französischen  einige  Übersetzungen  von  „El  ano  mas 
memorable  de  mi  vida  por  D.  T.  R."  2  Bände  (Bladrid  1805)  wie  ich  aus  dem  „Memorial 


Deutschland  u.  die  deutsche  Litteratur  im  Lichte  der  spanischen  Kritik  u.  Poesie.  IV.  403 

Was  haben  die  Spanier  von  Schiller  und  Goethe  vor  Anfang  des 
neuen  Jahrhunderts  gekannt?  Ihre  Namen  kaum.  Ihre  Dichtung  lag, 
wie  es  heute  noch  zum  Teil  der  Fall  ist,  den  Spaniern  fern.  Das 
„Teatro  nuevo"  enthielt  zwar  ein  Stück  Schillers  „El  Amor  y  la  in- 
triga"^,  aber  es  ist  nach  dem  Französischen  fabrikmäfsig  bearbeitet,  nach 
der  1799  erschienenen  Übersetzung  von  La  Marteliere  „L'Amour  et 
rintrigue".  —  Schillers  „Don  Carlos",  welcher  vor  1800  in  drei  fran- 
zösischen  Übersetzungen :  von  Mercier,  La  Marteliere  und  Adrien  Lezay 
und  in  einer  Nachahmung  des  Marie  Joseph  Chenier  (Philippe  11.)  vorlag, 
hat  keinen  Spanier  vor  dem  19.  Jahrhundert  zur  Bearbeitung  angespornt. 
Vielleicht  verursachte  in  dem  Stücke  der  kühne  Charakter  des  Posa,  der 
darin  ausgesprochene  Tyrannenhafs,  das  dunkle  Licht,  das  auf  Spanien 
fiel,  starke  Bedenken  *).  Das  Publikum  hätte  vielleicht  protestiert,  die 
Regierung  die  Darstellung  verboten.  Aus  diesem  Grunde  hat  auch 
glaube  ich,  Dionisio  de  Solis  Alfieris  „Filippo"  nicht  zu  übersetzen 
gewagt^).    Erst  um  die  Mitte  unseres  Jahrhunderts,  als  Schiller  inuner 


literario"  (1805)  I,  245  f.)  entnehme,  wo  viel  von  den  „dulces  Idgrimas  que,  (die  Werke 
Kotxebues),  arrancaron  d  todos  los  corazones  sensibles^',  gefaselt  wird.  Im  gleichem 
,,Memorial**  I,  137  ist  eine  ,)Noticia  de  una  novela  de  Kotzebue  titnlada:  „Villiams  y 
Juanita*^  und  VII,  142  eine  unbedeutende  Anzeige  von  Kotzebues  „Blinde  Liebe"  und 
„Die  Heimkehr**  zu  treffen.  —  Aus  dem  „Journal  6tranger**  ist  zum  groisen  Teil  die 
„Notlcia  acerca  de  la  poesia  ditir^bica'*,  welche  der  „Memorial"  I,  320  ff.  brachte,  wo 
auch  von  Gerstenberg  „oficial  Dinamarques  .  .  .  bien  conocido  de  todos  los  literatos  que 
miran  con  el  aprecio  que  merece  la  llteratura  alemana"  die  Rede  ist  und  (S.  362)  die 
Übersetzung  des  Gedichtes  „Der  Taback"  enthält. 

')  Dais  eine  spanische  Übersetzung  des  nI)on  Carlos**  Schillers  um  die  Mitte  unseres 
Jahrhunderts  in  Cadiz  und  anderswo  aufgeführt  wurde,  teilt  mir  wiederum  Men^ndez  y 
Pelayo  mit. 

^)  In  den  20er  Jahnen  erschien  jedoch  in  Spanien  eine  gänzlich  verfehlte  Übersetzung 
des  Dramas  Alfieris  („Felipe  II.  tragedia  en  cinco  actos  del  conde  Victor  Alfieri").  Was 
der  Spanier  Arteaga  über  Alfieris  „Filippo**  in  seinen  „Le  rivoluzioni  del  Teatro  musi- 
cale  Italiano"*,  Bologna  1782  (7  Jahre  später  auch  verdeutscht:  „Stephan  Arteagas  Ge- 
schichte der  italienischen  Oper,  von  ihrem  Ursprung  an  bis  auf  gegenwärtige  Zeiten 
übersetzt  und  mit  Anmerkungen  begleitet  v.  L.  Nicolaus  Forkel**.  Leipzig  1789.  2.  B. — 
II.  B.  S.  297  ff.  enthält  Nachrichten  von  der  deutschen  Oper)  und  ausführlicher  noch  in 
der  «Lettera  deir  Abate  Stefano  Arteaga  a  Monsig.  Antonio  Gardoqui  intomo  il  Filippo** 
(im  letzten  Bande  von  Alfieris  Werke,  Piacenza  181 1  eingerückt)  vorwirft,  drückt  gewifs 
die  Meinung  der  meisten  Spanier  damaliger  Zeit  aus,  welche  sich  lieber  an  Diego  Xi- 
menes  de  Encisos  Stück  „El  principe  Don  Carlos**  hielten,  und  hätte  ebensogut  auf 
Schillers  „Don  Carlos**  Bezug  haben  können.  Vgl.  auch  eine  Anmerkung  vonSchack: 
„Ein  halbes  Jahrhundert**.  HI,  99.  —  Da  hier  Arteaga  genannt  wurde,  so  will  ich  nur 
nebenbei  bemerken,  daüs  sein  Werk:  ninvestigaciones  filosöficas  sobre  la  Belleza 
Ideal,  considerada  como  objeto  de  todas  las  artes  de  imitaciön**,  Madrid  1789,  mit- 
unter auch  Spuren  von  Kenntnis  der  Schriften  der  Deutschen  (Lessing  und  Winckel- 
mann)  zeigt  « 


404  Artur  Farinelli. 


noch  in  der  chaotischsten  Verwirrung  bald  als  Klassiker,  bald  als 
Romantiker,  immer  ohne  eine  nur  entfernte  Ahnung  seines  Schaffens, 
mit  anderen  nicht  minder  ignorierten  deutschen  Dichtem  von  unklugen 
Kritikern  genannt  wurde,  sind  einige  seiner  Dramen  ins  Spanische 
übersetzt  worden.  Die  Leistungen  des  Gil  y  Zarate,  Hartzenbuschs, 
des  Infanten  de  Palacio,  des  Gerardo  de  la  Puente,  Sebastian  de  Se- 
guras,  J.  Ixarts,  Eduardo  de  Miers  und  ihre  Beurteilung  sind  hier 
noch  nicht  am  Platze. 

Woher  Goedecke  (Grundrifs  IV,  683)  die  Nachricht  hat,  dafs  in 
Madrid  im  Jahre  1800  bereits  eine  spanische  Übersetzung  von  Goethes 
„Wilhelm  Meister*'  erschien,  kann  ich  nicht  sagen.  Weder  habe  ich 
diese  Übersetzung  irgendwo  gesehen,  noch  fand  ich  sie  in  irgend 
einer  spanischen  Schrift  erwähnt.  Die  erste  französische  Übersetzung 
der  „Lehrjahre"  von  L.  Levelinges:  „Alfred  ou  les  annees  d'appren- 
tissage  de  Wilhelm  Meister"  war  in  Paris  erst  1802  erschienen.  Dafs 
Goethes  „Meister"  in  Spanien  früher  als  in  Frankreich  übersetzt  wurde, 
ist  mir  sehr  zweifelhaft  *).  Werthers  Leiden  ist  nach  aller  Wahrschein- 
lichkeit das  einzige  Werk  Goethes,  welches  in  Spanien  damals  Ein- 
gang fand.  Es  circulierte  zunächst  in  schlechten  französischen  Über- 
setzungen und  machte  einen  grofsen  nachhaltigen  Eindruck,  nicht  einen 
so  erschütternden  jedoch  wie  in  den  Nachbarländern  Frankreich ')  und 
Italien').  Im  Jahre  1803  konnten  es  die  Spanier  in  einer  direkten 
Übersetzung  aus  dem  Deutschen  aus  der  Feder  des  sprachgewandten 
Arragoniers  Jose  Mor  de  Fuentes  lesen  und  geniefsen  („Werther, 
traducido  del  aleman  de  Goethe".  Paris  1803).  Bald  darauflieferte 
der  nämliche  Fuentes,  der  sich,  nach  seiner  Übersetzung  des  Horaz, 
(Madrid  1 798)  viel  mit  deutscher  und  englischer  Litteratur  abgab  und 
selbst  deutsche  Verse  schrieb*),  in  seiner  Novelle  „La  Serafina"  eine 
recht  schlechte  Nachahmung  des  Goetheschen  Romans.  In  den  folgenden 
Jahren  wurde  „Werther"  immer  mehr  ein  Lieblingsbuch  der  Spanier. 

')  Mir  ist  blos  folgende  Übersetzung  aus  Goethes  ^Lehrjahren**  bekannt:  ^Wflhelm 
Meister  por  Goethe.  Version  castellana  de  J.  de  Fuentes.  Anos  de  aprendizaje*^  Ma- 
drid 1880. 

')  Vgl.  J.  Groüs  „Les  imitations  fran9aises  de  Werther**  in  „Revue  politique  et  litte- 
raire"  1894  (No,  13). 

*}  «Den  Werther  lieben  sie  (die  Spanier)  zwar  auch,  aber  in  französischer  Über- 
setzung**, schrieb  W.  v.  Humboldt  in  dem  erwähnten  Briefe  an  Schlabrendorf.  „An- 
sichten'*  S.  129. 

*)  Über  die  Übersetzungen  und  die  Studien  Mor  de  Fuentes  soll,  wie  mir  Menendet 
y  Pelayo  mitteilt,  das  autobiographische  kleine  Werk  Fuentes*  nBosquejillo  de  ml  Tida*, 
das  ich  nicht  auizutreibeQ  vennochte,  Interessantes  und  Wichtiges  enthalten. 


Deutschland  u.  die  deutsche  Litteratur  im  Lichte  der  spanischen  Kritik  u.  Poesie.  TV.  405 

^^■^^■^— ^^^-^i^  ■■^■■^  ■■  ■!■  I  !■■■»  Uli  I  ■  —        ■  -■<  ■iiMi.ii  ■■■■■■i.—.^ 

Es  erschien  eine  Übersetzung  nach  der  anderen  und  Neudrucke  der 
älteren  von  Fuentes*).  Die  „pasiones^^  oder  „cuitas"  des  Werther 
wurden  bald  auch  in  Spanien  Mode.  Man  brachte  sie  früh  auf  die 
Bühne.  Der  leichtsinnige  Cornelia  hatte  sich  gleich,  wie  wir  sahen, 
des  wirkungsvollen  Stoffes  bemächtigt.  Noch  in  jüngster  Zeit  hat 
eine  dramatische  Bearbeitung  „El  suicidio  de  Werther"  Furore  ge- 
macht^). Wollte  ein  spanischer  Kritiker  den  Mund  voll  nehmen  und 
den  grofsen  Namen  Goethe  aussprechen,  so  wufste  er  kein  anderes 
Werk  des  deutschen  Dichters  anzuführen,  als  eben  den  „Werther"« 
So  tat  es  in  den  20  er  Jahren  der  Abbe  Jose  Marchena  in  seinen 
„Lecciones  de  filosofia  moral  y  eloquencia"  (Bordeaux  1820),  so  taten 
andere  früher  und  später.  Die  Hauptwerke  der  Goetheschen  Muse 
blieben  noch  lange  und  lange  den  Spaniern  unter  verschlossenem 
Riegel').  Über  das  Leben  des  Dichters  wollte  keiner  unterrichtet 
werden.  Der  „Memorial  literario"  brachte  zwar  im  Jahre  1802  (II, 
102  flf.)  einige  Anekdoten  über  das  Leben  Goethes,  „autor  del  jöven 
Werter  y  de  muchas  otras  obras",  sie  waren  aber  gar  zu  fabelhaft  und 
fantastisch  und  übrigens  aus  einem  Artikel  des  „Monthly  Magazine^^ 
geschöpft.  Da  sollte  Goethe,  welcher  „Liebeselegien  mit  der  Glut  und 
der  Wollust  eines  Properz  gedichtet  und  eine  Novelle,  Wilhelm  Meister 
betitelt,  geschrieben,  wo  Frauencharaktere  vortrefflich  gemalt  werden", 
Goethe  sollte  niemals  wirklich  verliebt  gewesen  sein,  und  weü  es  ausge- 
machte Sache  ist,  dafs  die  Ehe  ein  Talent  erdrückt  und  erstickt,  so  hat  er 
nie  heiraten  wollen,  wenn  er  auch  grofses  Glück  bei  Damen  gehabt  hat. 
Das  war  den  Spaniern  vorgefaselt,  nachdem  Goethe  mit  der  Vulpius 
etliche  glückliche  Jahre  der  Ehe  verbracht  hatte.  Reinecke  Fuchs 
wird  hier  in  ein  „Reynaldo*'  verwandelt.    Die  „Iphigenie**  soll  aus  idylli- 


')  Ich  kenne  eine  Ausgabe  von  Valencia  18 19  (nicht  1820,  wie  bei  Goedecke  IV, 
651  zu  lesen  Ist)  „Las  pasiones  del  joven  Verter,  escritas  en  alemanporel  celebre  Goßthe, 
autor  de  Hernan  y  Dorotea**. 

^)  «El  Suicidio  de  Werther:  Drama  en  cuatro  actos  y  versos,  original  de  D.  Joaquln 
Dicenta.  Estrenado  con  extraordinario  aplauso  la  noche  del  23  de  Febrero  de  1888 
en  el  teatro  de  la  Princesa^^     Madrid  1888. 

')  Der  „Memorial  literario*^  von  1801  (I,  12  ff.)  sprach  bewundernd  über  Goethes 
^Hermann  und  Dorothea**  in  einer  Anzeige  der  französischen  Übersetzung  des  Betaube;  er- 
wähnte auch  die  Luise  Vofs'  und  nannte  die  Nation  glücklich  (S.  14)  „cuyas  costum- 
bres  dom^sticas  pueden  ser  objeto  digno  del  pincel  de  los  poetas  .  .  .  Felix  la  nacion 
que  puede  contemplar  con  gozo  y  satisfacion  interior  el  reflejo  de  su  propia  imagen**. 
—  Goethes  „Götz  von  Berlichingen**  hat  der  den  Romanisten  wohlbekannte  Mild  y 
Fontanals  in  seiner  Jugend  übersetzt,  doch,  wie  mir  sein  Schüler  und  Herausgeber  seiner 
Werke  Menendez  y  Pelayo  versichert,  nicht  zu  Ende  gebracht. 


406  Artur  Farinelli. 


sehen  Betrachtungen  in  den  Wäldern  Jenas  entstanden  sein.  Venus 
weit  mehr  als  Bacchus,  sagt  unser  drolliger  Bericht  am  Schlüsse,  habe 
Goethe  begeistert  und  entflammt*).  —  Als  in  den  30er  Jahren  ein 
ungeschickter  Mitarbeiter  des  „Semanario  pintoresco"  nach  der  üb- 
lichen Plünderung  des  Buches  der  Madame  de  Stael:  „De  TAllemagne** 
einen  Artikel  über  Goethe  zusammenschmierte,  so  klagte  er  laut,  es 
sei  doch  ein  undankbares  Geschäft,  das  Leben  eines  Mannes  zu  schil- 
dern, das  so  arm  an  dramatischen  Vorfallen  war  und  gar  wenig  Neuig- 
keiten und  Kontraste  bot*). 

Ziehen  wir  die  Summe  von  dem,  was  Spanien  am  Ausgange  des 
18.  Jahrhunderts  von  Deutschland  und  von  der  deutschen  Litteratur 
gekannt  hat,  so  wird  uns  begreiflich,  dafs  einige  Deutsche  mit  einem 
Gefühl  der  Überlegenheit  auf  die  in  fremden  Sachen  so  übel  unterrich- 
teten Spanier  hinabschauten,  sich  über  die  Ungelehrsamkeit  der  spa- 
nischen Gelehrten  lustig  machen  konnten  und  kühn  behaupteten,  sie 
seien  doch  die  einzige  Nation,  die  sich  um  Kenntnis  fremden  Wesens 
und  fremder  Sitten  kümmerten.  —  Zwischen  dem  Geist  beider  Völker, 
des  Deutschen  imd  des  Spaniers,  lag  eben  damals  wie  noch  jetzt  eine 
tiefe  Kluft.  Hätten  auch  deutsche  Geistesprodukte  ungehinderter» 
nicht  durch  die  Vermittelung  Frankreichs,  in  Spanien  eindringen 
können,  so  wären  sie  doch  niemals  recht  gewürdigt,  niemals  recht 
genossen,  nie  wären  sie  als  Gemeingut  der  Nation  den  eigenen  Er- 
zeugnissen einverleibt  worden.  —  Und  doch  glaubte  an  der  Scheide- 
grenze beider  Jahrhunderte  der  gröfste  Deutsche,  der  je  Spaniens 
Boden  betrat:  Wilhelm  von  Humboldt,  der  überall,  in  allen  Dingen 
nach  tiefer,  grundlegender  Charakteristik  drang,  er  der  die  Menschen 
in  verschiedenen  Nationen  und  Zeitaltem  in  beständigen  Vergleich 
stellte,  dafs  ein  enges  Band  der  geistigen  Verwandtschaft  Spanien  und 
Deutschland  umschlinge.  Und  wie  er  von  Rom  aus  (am  25.  Februar 
1804  —  „Goethes  Briefwechsel  mit  den  Gebrüdem  von  Humboldt")  an 

^)  Im  gleichen  Bde.  des  «MemoriaP*  (II,  311  ff.)  befinden  sich  auch  einige  „Antelotas 
de  la  vida  de  W.  F.  (sicl)  Mozart,  traducidas  de]  Aleman**.  Die  im  folgenden  Bde.  (lU,  134) 
enthaltene  nNoticia  acerca  de  Goethe**,  sowie  die  „Noticia  concerniente  al  celebre  Autor 
Dramitico  Schiller**  (UI,  378)  sind  gamc  unbedeutende  Berichte  aus  französischen  Zei- 
tungen. —  In  einem  Aufsatze  ,De  Ossian  y  de  una  nueva  traduccion  espanola  de  sus 
poemas**  in  den  „Variadades  de  ciencias  u.  s.  w.**  III,  351  f.  ist  auch  von  Goethe  die  Rede. 

*)  „Goethe"  im  „Semanario  pintoresco**.  Madrid  1837  (IV.  Jahrg.  —  24.  Dezember 
S.  399  -—  mit  beigefügtem  Porträt)  „es  un  trabajo  ingrato  el  hacer  la  historia  de  una 
vida  como  la  suya,  en  donde  faltan  aquellos  acontedmientos  dramiticos,  aquellos  lances 
de  extraordinaria  novedad,  aquellos  raros  contrastes  y  rasgos  singulares,  que  son  tan 
cömodos  elementos  para  un  articulo  biogrifico**. 


Deutschland  u.  die  deutsche  Litteratur  im  Lichte  der  spanischen  Kritik  u.  Poesie.  IV.  407 

Goethe  schrieb :  „Die  spanischen  Gegenden  wirken  im  ganzen  wie  die 
deutschen",  so  hatte  er  vier  Jahre  vorher,  von  Valencia  aus  an  Schla- 
brendorf  geschrieben  (7.  März  1800):  „Unter  den  mittäglichen  Nationen 
aber  scheinen  die  Spanier  eine  besondere  Stelle  einzunehmen;  sie 
haben  offenbar  mehrere  Charakterseiten,  die  man  nordische  zu  nennen 
geneigt  sein  möchte,  einige,  die  sie  uns  Deutschen  sehr  nahe  bring*en". 
Eine  gewagte  Behauptung,  welche  hier  zuerst  ausgesprochen  wurde, 
welche  hunderte  von  Deutschen  später  wiederholten,  die  nie  müde 
wurden,  die  „wunderbare  Ähnlichkeit  des  deutschen  und  spanischen 
Charakters'^  wie  sie  Friedrich  de  la  Motte-Fouque  nannte*),  zu  rüh- 
men, eine  Behauptung,  welche,  wie  wir  in  der  Folge  sehen  werden, 
von  den  tatsächlichen  Verhältnissen,  von  den  verschiedenen  Anlagen 
beider  Nationen,  Lügen  gestraft  wurde. 

Innsbruck. 


*)  «Ein  Wort  ober  Fr.  Schlegels  £:esaminelte  Gedichte**  in  MGeföhle,  Bilder  und  An- 
sichten V.  Friedrich  Baron  de  la  Motte-Fouqu^**.     Leipzig  1819.     H,  151. 


-••■ 


NEUE  MITTEILUNGEN. 


-••- 


Die  erste  Verdeutschung  des  12.  Lukianischen  Toten- 

gesprächs 

—  nach  einer  urteztlichen  Handschrift  — 
von  Johann  Reuohlin  (1495)  und  Verwandtes  aus  der  Folgezeit'*'). 

Eingeleitet  und  erläutert  durch 
Theodor  Distel. 


Man  sollte  sich  schämen,  Fremdes  ins  Deutsche  zu 
mischen.    (Nach  Reuchlln  z.  d.  Tusk.,  1501}. 

In  einem  früheren  Bande  *)  habe  ich  meine  bisher  völlig  unbekannten 
zwei  Reuchlinfunde  bereits  angekündigt.  Überaus  fruchtbar  war 
„der  gelehrteste  Mann  Deutschlands,  ja  aller  Länder"*)  als  Schöpfer 
hellenischer  „Überläufer"')  nach  Deutschland,  besonders  während  der 
Monate  Juli  und  August  vor  vierhundert  Jahren:  die  erste  Olynthika, 
das  folgende  Gespräch .  und  die  zwei  ersten  Philippiken  wandte  er 
damals  in  unsere  Muttersprache.  Kühne  Unternehmungen  fürwahr! 
Sollte  doch  die  Lutherische  Bibelübersetzung  (N.  T.)*)  erst  über 
sieben  und  zwanzig  Jahre  später  erscheinen,  ungelenk  zeigte  sich  noch 
die  deutsche  Sprache  und  war  nur  besser  als  die  römische,  wie  Lpriti 
meint,  zum  Schimpfen  geeignet,  Hilfsmittel  fehlten  fast  gänzlich.  Über- 
haupt ist  unser  Humanist  der  erste  Deutsche,  der,  nach  Jahrhunderten 
—  im  Auslande  —  wieder  Griechisch  lernte^).  Viel  leichter  würden  ihm 
die  Arbeiten  geworden  und    besser    gelungen  sein,  hätte  er  in's  La- 

*)  Die  einschlagende  Litteratur  darf  ich  hier,  einschl.  Klüpfels,  G.  Voigts, 
K.  F.  Stalins,  Ulmanns,  Froudes  bezüglichen  Werken  im  allgemeinen  als  bekannt 
voraussetzen;  man  vgl.  auch  den  betr.  Artikel  des  vortrefflichen  Reuchlinforschers 
Geiger,  i.  d.  A.  D.  B.  und  Schmidt:  hist.  litt,  de  TAlsace  .  .  .  (1879),  im  Register. 
Brunet  kennt  den  Lukiandruck  v.  1496  z.  B.  i.  d.  k.  Bibll.  zu  München  und  Stuttgart  nicht. 

»)  N.  F.  III.  (1890),  360  ff.  Das  N.  F.  IV.  (1891),  316  Anm.  Bemerkte  erledigt  sich 
nunmehr:  die  erste  Verdeutschung  der  Olynthika  wird  ein  Anderer  mitteilen,  auch  sie  ist  nach 
einer  Handschrift  „ gedichtet**  worden,  der  erste  Druck  erst  1504  (Venedig)  in  Fol.  erschienen« 
Melanchthon  übersetzte  u.  A.  diese  Rede  in^s  Lateinishe,  sein  Schwiegersohn,  Peucer 
gab  sie  (1562)  heraus.     Hiemach  verdeutschte  Riccius  sen.  (Mscr.  Dresd.). 

*)  So  sein  Zeitgenosse  Bebel  über  ihn. 

•)  So  treffend  R.  z.  d.  Tusk. 

*)  An  ihr  hat  Melanchthon,  Reuchlins  (hier  R.)  Grofsneffe,  wacker  geholfen. 

^)  Beherrschte  doch  der  Satz  „Graeca  sunt,  non  leguntur!'*  eine  lange  Vorzeit. 


Die  erste  Verdeutschung  des  zwölften  Lukianischen  Totengespräcbs,  409 

teinische*)  übertragen ^  doch  der  „an  Verstand  und  Tugend"^)  un- 
vergleichliche Graf,  beziehungsweise  Herzog  Eberhard  im  Barte  zu 
Württemberg,  dem  er  die  Werke  der  Griechen  verstandlich  machen 
wollte  —  pafeten  doch  die  Reden  eines  Demosthenes  so  vortrefflich 
auf  die  Zeit  des  „grofsen"  Reichstages  •)  —  verstand  bekanntlich 
der  Römer  Sprache  nicht.  So  mufste  Reuchlin  wohl  oder  übel  aus 
der  Not  eine  Tugend  machen  und  wir  danken  ihm  dies  aufrichtigst. 
Auch  der  nachher  zu  erwähnende  Ringman,  ein  Elsasser,  befand  sich, 
dem  Kaiser  gegenüber,  in  der  gleichen  Lage. 

Meine  beiden  Funde  nun  sind  etwa  gleichzeitige  Abschriften*)  von 
einer  ungebildeten*)  Hand,  die  Niederschriften  des  Übersetzers  selbst 
aber,  wie  diejenige  der  Philippenverdeutschung  untergegangen. 

Nach  der  Handschrift  des  Urtextes  ist  leider  vergeblich  geforscht 
worden,  betreflfs  der  unten  besprochenen  Stelle:  ini  rc  rpauaw  könnte 
sie  genau  nachgewiesen  werden').  — 

Unter  BeihiBe  eines  tüchtigen  „Griechen",  Angermann-Plaueni.V., 
habe  ich,  der  Archivar,  der  schon  vor  über  sechsundzwanzig  Jahren  zur 
Universität  ging,  um  die  Rechte  zu  studieren,  anfangs  die  Vorlage  be- 
arbeitet, dann  die  meisten  griechischen,  lateinischen  und  deutschen 
Texte  zur  Hand  gehabt  und  gefunden,  wie  schlimm  es  mit  der  Kenntnis 
der  Originalsprache  bei  einem  Reuchlin,  der  zu  der  ersten  Olynthika 
hierin  „das  Feld  zu  behalten"  und  im  folgenden  „stracks  bei  dem  Sinne" 
geblieben  zu  sein  vermeint,  beschaffen  war.  Ja!  überaus  grofs  ist  der 
Fortschritt  in  der  Wissenschaft  seit  dem  Reformationsvorabende.  — 

Am  nächsten  21.  Juli  ist  der  vierhundertjährige  Gedächtnistag  der 
von  Württemberg  erlangten  Herzogswürde''),  dazu  soll  die  damalige 
Reuchlinsche  Festschrift  endlich  bekannt  werden.  Der  „Schreiber" 
in   der  herzoglichen  Kanzlei,    der   einem  Geheimen  Rate  glich,    hätte 

^)  Ich  unterlasse  nicht,  auf  die  bisher  übersehene  in  Zedlers,  nicht  wieder  erreich- 
tem, groüsen  Universallexikon  enthaltene  Nachricht,  nach  welcher  R.  insbesondere  «Luciani 
aliquot  mortuarum  dialog^  et  de  concilio  deorum**  ins  Lateinische  gewendet  hat,  hinzu- 
weisen.    Diese  Übertragungen  (Mscr.)  sind  nicht  auf  uns  gekommen. 

')  Kaiser  Maximilian  I.  (29.  Mai  1498)  am  Grabe  des  am  24.  Februar  1496 
verstorbenen  Freundes. 

»)  R.  zur  Olynth,  pr.  und  Geiger:  R,s  Briefw.  Jedem  Fürsten  wurden  sie  zum 
Lesen  empfohlen. 

*)  Zu  dem  früher  erwähnten  Aufbewahrungsorte  füge  ich  noch  an:  §  Büchersachen. 
Die  beiden  Stücke  sind  zu  der  Handbibliothek  der  genannten  Behörde,  unter  H.  184  a 
und  b  gebracht  worden. 

*)  Man  vgl.  nur  Anm.  64. 

*)  Auch  Ringman  (Philesius,  hier  Rm.,  sein  Vorname  ist,  nach  Zedier,  Ma- 
thias; man  vgl.  auch  Schmidt  a.  a.  O.)  ist  —  wie  denkwürdig!  —  derselben  Hand- 
schrift, nicht  einem  der  bereits  1507  erschienen  gewesenen  Drucke  (Florenz  1496,  Venedig 
1503,  in  Foll.)  gefolgt.  War  doch  sein  Lehrer,  Wimpheling,  ein  Freund  R.s.  Ein 
Degen  «steht  ehrfurchtsvoll**  vor  diesem  „rohen  Versuche**,  obwohl  er  die  erste  Ausgabe 
des  Buches  nicht  gekannt  hat.  Ich  besitze  photographische  Platten  zu  dem,  vop^  ihm,  aus 
Liebe  für  seinen  Helden,  erweiterten  Gespräche,  sowie  von  der  Vorlage  und  d^  genannten 
beiden  ersten  Originaldrucken.  Abzüge  dieser  Denkmäler  werden  in^s  Bismar  lUseum  ge- 
langen; man  vgl.  vorläufig  d  Kat  der  betr.  Bhrengesch.  zum  i.  April  V        No.  836. 

')  Das  Diplom  ist   z.  B.  abgedruckt    bei  Sattler  (1768)  Nr.  a'  Erhebungs- 

Akt  fand  an  demselben  Tage  statt.   Im  K.  Jagdschlosse  Bebenhausen  bei '  ^en  wird  noch 

das  Schwert  der  damals  verliehenen  Würde  gezeigt.    Unter  anderem  Wimpheling 

den  jungen  Herzog  mit  seinem  bekannt  gegebenen  Carmen  heroicii        .,  welches  Wolf 


410  Theodor  Distel. 


freilich,  nach  dem  aus  dem  Überreichungsschreiben  ersichtlichen  Grunde 
besser  getan,  das  übernächste  Gespräch,  welches  Alexander  mit 
seinem  Vater  allein  hält,  zumal  dieses  noch  kürzer,  als  jenes ^)  ist, 
zu  wählen.     Vielleicht  lag  ihm  dasselbe  aber  nicht  mit  vor.  — 

Erwägt  man,  dafs  die  Kunde  von  dem  freudigen  Ereignisse 
mehrere  Tage  brauchte,  ehe  sie  von  Worms  nach  Tübingen,  wo 
Reuchlin  auch  damals  war^,  gelangen  konnte,  so  sind  wir 
berechtigt,  die  erste  Wiedergeburt  des  von  dem  Samosatensen 
geschaffenen  Rangstreites  in  das  Ende  des  gedachten  Monats  zu  setzen. 

Wie  nun  die  beiden  unheimlichen  Verdeutschungsabschriften  aus 
dem  Juli  1495  nach  Sachsen  gelangt  seien,  bestimme  ich,  nachdem 
ich  die  einschlagende  Korrespondenz  amtlich  bearbeitet  habe,  dahin: 
Herzog  Albrecht,  der  Stammvater  des  Sächsischen  Königshauses, 
hat  die  Reuchlinischen  Sendungen ^  vom  13.  Juli  und  i.  August 
gedachten  Jahres  bei  Eberhard  d.  Alt.  gesehen  und  sie,  in  seiner*) 
Reisekanzlei,  für  seinen  gelehrten  Sohn,  Georg,  und  zwar  noch  vor 
Eingang  der  erwähnten  Philippiken^)  abschreiben  lassen.  Da 
die  so  entstandenen  Zeilen  nicht  nachgeprüft  worden  sind,  wird  der 
Empfanger  kaum  Etwas  damit  haben  beginnen  können.  Zu  meiner 
Arbeit  war  genaue  Kenntnis  der  Reuchlinischen  Hand  und  Schreib- 
weise erforderlich.  Sind  die  Anmerkungen  zur  Übersetzung  dem  Einen 
zu  knapp  dem  Anderen  zu  breit  gehalten,  so  bemerke  ich,  dafs  ich  hier 
nur  für  klassisch  Gebildete  und  mit  der  gesamten  Humanistenlitteratur 
Vertraute  schreibe,  bezw.  superflua  non  nocent  und,  wie  Hildebrand 
sich  mir  gegenüber  einmal  äufserte,  man  nicht  Alles  geben  mufs,  was 
man  ermittelt  hat,  der  Leser  doch  auch  die  Freude  des  Selbstfindens 
geniefsen  will. 

Zum  Schlüsse  noch  ein  Wort  über  die  Reuchlinbilder.  Thor- 
waldsen  hat  in  der  Walhalla  die  schlafende  Frau  von  Rembrandt, 
die  auch  Lamey  wiedergiebt,  und  Donndorf  am  Lutherdenkmale 
zu  Worms,  nach  seiner  Mitteilung  an  mich,  eine  Fantasiefigur 
geschaffen:  ein  wahres  und  gutes  Portrait  des  groisen  Humanisten 
giebt  es,  nach  Mitteilung  von  Seidlitz*,  überhaupt  nicht. 

I.   Das  Reuohlinisohe  Beiwerk*). 

a)  Überreichungsschreiben  an  Herzog  Eberhard  i.  B. 
zu  Württemberg  [Tübingen]  i.  August  1495. 

„Dem  durchleuchten,  hochgebornen  fursten  und  hem,  hem  Eber- 


von  HermansgrQn  an&ngs  von  R.  gewünscht  hatte.  Der  ^wahre  Grund,  weshalb 
dieser  ablehnte,  dOrfte  in  der  gerade  von  ihm  fertig  gestellten  Übersetzung  des  Gesprächs 
des  „Spottvogels  aller  Schreiber**  zu  finden  sein. 

')  Man  vgl.  dazu  Rentschs  kürzlichst  erschienene  Programmarbeit :  Ludanstudien. 

*)  Eine,  mir  im  K.  S.  Hauptstaatsarchive  vorgelegene  Wormser  Präsenzliste  fuhrt 
Reuchlin  überhaupt  nicht  auf. 

*)  EinWürttemberger  würde  wenigstens  R.s  Namen  inuner  gleich  geschrieben  haben. 
Zur  „Rede**  lautet  er  „Reuchling**  (g  ähnelt  dem  Abkürzungszeichen  för  us). 

*)  Sonst  wären  wohl  auch  diese  abschriftlich  mit  nach  Sachsen  gekommen  und 
—  erhalten.    Herzog  Heinrich  z.  S.  war  übrigens  mit  seinem  Vater  in  Worms. 

*)  Ganz  Unwesentliches  lasse  ich  unberücksichtigt,  in  (  )  setze  ich  Überflüssiges, 


Die  erste  Verdeutschung^  des  zwölften  Lukianischen  TotengesprSchs.  411 

harten,  dem  eltem,  herzogen  zu  Wirtemberg  und  zu  Tecke  etc.,  graven 
zu  Mumpelgarten,  meinem  gnedigen  herren,  erbeut  ich,  Doctor  Johannes 
Reuchlin,  mine  undertenige,  gehorsam,  willig  dinst  allezeit')  zuvoran. 
Gnediger  furste  und  herre,  in  kurzvorruckten  tagen  hat  euer  fürstlich 
gnade  durch  Demosthenes^),  den  hochvorrumten  redener,  von  mir  aus 
krichsscher  sprach  in  das  swebischs-teutschs  gebracht'),  wol  mögen 
versten,  wie  sich  Philippus,  des  grofsen  Alexanders  vater  umbgethan 
hat,  bis  er  zu  hohen  ern  und  wirden,  auch  zu  vil  landen  und  leuten 
komen  ist.  So  sich  nun  niemanthalb  *)  wil  geborn,  vor  euern  herz[o]k- 
Uchen  wirden,  mit  dem  auch  unser  allergnedigister  her,  der  romischs 
konig  ietzo  von  neuen  dingen  [e.  f.  g.]  begabt')  ([hat]),  das  ich  euer 
[f.  g.]  vil  glucks  wu([nsche  al]s  ein  Schreiber  aus  euer  gnad([en  c])anzlei 
nit  ([mit])  leren  henden  zu  erschinen  und  aber  die  kurzzeit*)  solichs 
mines  wissens  kain  lang  arbeit  hat  mögen  erleiden,  haben  ich  mir 
vorgenomen,  ein  kleins  buchelein,  das  Lucianus  von  dem  grofsen 
Alexander,  des  obgemelten  Philippus  sone''),  als  man  sagt,  und  von 
Hannibal  und  Scipio  in  kriechescher  sprach  mit  wenig  Worten  begriffen 
und  geschrieben  hat,  denselben  euern  fürstlichen  gnaden  zu  em  und 
ergetzlichkeit  auch  in  unser  teutschs  zu  wenden,  indem  ich  nichts  sun- 
ders darzu,  noch  darvon  gethan  habe,  alle([i])n,  das  ich  bei  dem 
sunne  stracks  beleiben  ([b])in^),  das  wolle  euer  fürstliche  gnade,  umb 
seiner  klein*)  willen,  nit  verachten,  gleich  dem  eteln  stein'®),  daraus 
man  dick  die  dein  für  die  grofsen  erkieset*').  Damit  thue  ich  mich 
euer  fürstlichen  gnaden  und  dieselbige  got,  dem  allermechtigen,  ge- 
treuelich  bevelhen.  Geschrieben  an  (I)  sant  Peterstag  ad  vincula  anno 
M.C.C.C.C.  XCquinto". 

b)  Die  „Vorrede«. 

„Lucia([nus  ei])n  krichscher  schre([ib])er  und  aller  Schreiber 
spotfog([el])  hat  under  andern  seinen  werken  auch  etliche  kurzschriften 
von  dem  gespreche  der  toten  gemacht,  derselben  eine  ist  difs  buchlin 

Eigenes  und  Falsches,  in  [  ]  Ausgelassenes,  in  ([  ])  Zerstörtes,  Schreibfehler  sind  durch 
ein  ^f*  kenntlich  gemacht.  Wörterbücher  ziehe  ich  i.  d.  Rgl.  nicht  an,  Satzzeichen,  die 
in  der  Vorlage  vollends  sinnlos  stehen,  sind  neu  eingefügt  worden« 

')  Bei  Anm.  31  und  65  c  gekürzt. 

^  Es  steht  „dem  Ostenes".  Schon  hiemach  ist  auf  den  Bildungsgrad  des  Ab- 
schreibers zu  schliefsen. 

8)  Am  13.  zuvor  hatte  R.  die  erste  olynthische  Rede  an  den  damaligen  Grafen  ge- 
sandt. Die  Olynthika  Hegt  in  einer  Abschrift  von  der  Hand  des  Gesprächskopisten 
vor.     Die  R.scbe  Philippikenverdeutschung  ist  gänzlich  untergegangen. 

*)  J.  Sinne  „keineswegs". 

')  Es  steht  nbctab[t]**.  Kaiser  Maximilian  I.  ernannte  Eberhard  (man  vgl.  oben) 
zum  Herzoge, 

•)  Zu  „Kurzzeit*  palst  „Langweil*.  Waren  dofch  schon  mehrere  Tage  vergangen, 
ehe  die  Freudennachricht  nach  Tübingen  gelangen  konnte. 

'')  Man  vgl.  die  vorige  Seite  (oben). 

■)  Hierher  sei  nur  ein  „?*  gesetzt. 

•)  „Kleinheit". 

*•)  Generell. 

")  Dieses  Bild  ist  allerliebst  In  dem  Überreichungsschreiben  zur  Rede  schreibt  R. 
„bey  cleyner  gäbe  wolle  e.  g.  grofsen  willen  vorstan**. 


412  Theodor  Distel. 


von  Alexander,  Hannibal,  als  parthien,  und  Minos,  als  dem  richter  in 
der  helle  sagende*).  Denn  dieser  Minos  ist  ein  gerechter  konig  ge- 
wesen zu  Creta,  das  man  itzo  Candia')  heischt'),  und  hat  sein  under- 
tanen  gut  ordenung  und  Satzung  gemacht,  deshalb  in  die  porten  als 
ein  aufrichten,  fiirnam^)  vogt,  mitsampt  zwaien  andern,  Eacus  und 
R(h)adamanthys  genant,  zu  riechten  aller  sphein*)  in  der  helle  benent 
haben.  Vor  demselben  Minos  werden  nun  Alexander  der  grofs  und 
Hannibal  von  Cart(h)ago  unains,  wer  vor  dem  and([em])  gan,  sitzen 
ader  stain  soll,  denen*)  undermisch([et])  zuletzst'')  Scipio  und  sagt  den 
zank  Alexander  also  an^. 

2.    Die  Verdeutschung. 

„Alexander,  Hannibal,  Minos,  Scipio. 

A.    Man  sol  mich  über  dich  setzen,  'du  afrikanischer  man,  von  Libyen 

herkomen,  bann*^)  ich  bin  besser,  denn  du. 
H.     Nain,  nit  alsol'^)   Man   sal    mich  über  dich  setzen  und  wil  (ich) 

mich  darumb  Minos  entscheiden  lossen,  Minos  gib  ortel*^). 
M.    Wer  seit  ir? 
A.    Der  ist  Hannibal  von  Cart[h]ago,  so  bin  ich  Alexander,  Phüippus 

sone. 
M.    Su  mer  got')!    So    seit   ir  beide   nit  zu  verachten.     Aber  bes") 

seit  ir  stritik? 
A.    Wer  ob*)  dem  ander [n]  sitzen  soll.    Dieser  wil  sagen *^),  er  sei  ein 

besser  hauptman'),    dann   ich,    so  main   ich,    als  das*)  aller  weit 

kunt  und   wissen[t]  ist,    das    ich   nit    allem    diesem   der**)  kriege 


*)  Erweiterung:  des  Urtextes. 

«)  Heute  „Kriti". 

')  Schwab,  iür  heifst  (eiscdn,  ahd.  vgl.  Grimm,  hier  Gr.). 

*)  Es  steht  ^ftirman",  vgl.  ndenen**  (nachher). 

>)  Pluralbildung   fQr    spenne    (von  span  =  Zwist);    1555  der  Pleonasmus:    spenn 
und  irdungen  (irr  .  .,  Gr.). 

•)  Es  steht  «denen**,  vgl.  „fiirman**  (vorher). 

^)  Zur  Form,  die  nachher  mehrmals  wiederkehrt,  vgl.  Gr. 

^)  Wann.     (1471   Arnold  Bestveling,  d.  i.  der  Westfale,  im  heutigen  Kgr.  Sachsen 
Ähnliches    1519;    1557  Wascha  für  Pascha,    1735   Wase  für  Base;    in  Leipzig,  Dresden 
u.  s.  w.    hört   man   lewen   für   leben,    nie   aber  b  f&r  w;    hier    auch  mehrere  Beispiele 
dazu,  sowie  gebesen,  neben  gewesen). 
*h)  „Handelnd*. 

^o)  Ob  fiiv  6ÖV  ,  .  ,  Zu  den  Lukianpartikeln  vgl.  man  die  Festschrift  z.  50 jähr.  Dr.- 
Jub.  Ludwig  Friedländers  (1895),  163fr. 

'd)  Man  vgl.  Anm.  1.     Die  Worte  und  wil  .  .  .  ortel  hat  gewöhnlich  A. 

•)  Näml.  helfe.     Markgraf  Heinrich  von  Osterreich  (f  1177)    führt  übrigens  den 
Beinamen  Jochsamer,  nicht  Jasomirgott. 

*)  Gen.  weswegen. 

*)  Ober,  ober, 
*h)  Behauptet 

^)  Wie   minderwerthig    heute I    (Hildebrand:    Vom  deutschen  Sprachunterr.     1890, 
213  f.:  Feldherr). 

*)  Wie  das  (dieses). 

T)  Betreffs  der. 


Die  erste  Verdeutschung  des  swölften  Lukianischen  Totengesprächs.  413 

und  streite  vorgehe,  sunder  gar  nach®)  allen  denen,  die  je  vor 
mir  gelebt  haben. 

M.  Wol  anl  So  thu  euer  jeder  ime*)  selber  sin  wort  besonder,  einer 
nach  dem  andern,  und  du  von  Libya  fach^®)  zum  ersten  an. 

H.  Ein  ding,  Minos,  komet  mir  jetzo  zu  nutz,  das  ich  auch  hieniden**^) 
die  kriechische  sprach  gelernet  habe,  damit  mir  joch*')  der  in  dem- 
selben nit  etwas  vorthun").  Nun  sage  ich,  das  die  am  aller- 
meinsten")  zu  preisen,  zu  loben  und  mehr  eren  wert  sein,  die 
vom  anfang  nichts  odir  wenig  gewesen  und  doch  zu  gfrofsen 
dingen  komen,  auch  durch  iren  eigen  tugend'*)  wirdig  geach[t] 
sint,  das  sie  solten  über  ander  leut  herschen  und  regeren.  Also 
bin  ich  ernsdich  ^•)  mit  einer  deinem  habe**)  ausgezogen  und  in 
(H)Iberien  komen,  aldoch  *^)  ich  dan  von  meinem  bruder  zu  einem 
ubervogt")  gemacht  worden  bin,  und  ist  mir  desselbs*®)  grofs 
ere  widerfaren,  dan  ich  bin  vor  den  besten  geacht  und  gehalten 
gewesen.  Ich  hab  die  Celtib[e]ros  uberobert*')  und  die  Gallos 
in  occident  uberbunden,  ich  habe**)  durch  das  hochschneibietz**) 
gebrochen  und  was  man  Eridanus  leit**),  das  han  ich  alles  durchlofen 
und  so  vil  der  stet  gerumpt  und  so  viel  der  leut  fluchtig  gemacht  und 
Italien  in  der  eben  **)  eingenomen  und  bin  schier  in  der  vorstat  der 
verrumpten  Stadt  Rom  komen  und  habe  auf  ein  tag  erschlagen,  das 
man  ir  goldene  ringe,  so  sie  in  (!)  den  fingern  getragen  haben,  [mit] 
sumem**)  hat  müssen  ausmessen  und  aus  den  toten  die  brück 
über    die    wasser    machen.      Das    als**)    han    ich    gethan    und 

*)  Noch,  bezw.  auch  f, 

•)  Der  isset  .  .  ,  ihm  selber  .  .  .  (Luther). 

*•)  Fähe,  fange, 
'•h)  Man   vgl.    hierzu   die   Anm.   in    der   vorzflglichen    Verdeutschung   Wielands 
(hier  W.). 

*i)  Ja;  mhd.,  noch  oft  im  Nhd. 

")  Darin  vorthue.  f«  Die  Übersetzung  ist  ungenau  (Ärre),  auch  ^ipem^at  = 
etwas  als  Gewinn  (z.  B.)  Ar  sich  davontragen;  man  vgl.  die  Baseler  und  die  Reitzische 
Latinisierung. 

^)  Dialekt,  für  meist;  ob  das  folgende  ernstlich  auch  hierher  gehört?  Man 
vgl.  Anm.  I. 

1«)  Männl. 

")  Der  Schwaben  was  eine  grofse  hab  (Uhland),  der  .  .  .  schar  (Liliencr.). 

«•)  Allda  (?). 

")  Etwa  Unterfeldherr  (2,  5). 

")  Daselbst. 

'•)  Ueberwältigt,  auch  sonst  i.  Gebr. 

*•)  Nicht  bin,  vgl.  Apostelgesch.  27,  21. 

**)  HoheSchnee-Spitzen  =  Hörner  (bietz,  butz,  Pike,  pico,  peak,  bouton,  Butte, 
Butze,  Boze,  österr.  =  Knospe,  pizzo,  piz.  Auch  comu  das  Korn  an  der  Flinte  u.  s.  w. 
sei  hier  mit  erwähnt.  In  Schwaben  heifst  ein  hochgelegenes  Dorf  (bei  Ehingen)  Biz; 
Schmid:  Schwab.  W.  B.  (1831). 

•*)  Am,  f,  Po,  Rm.  verwechselt  den  Flufs  mit  der  Rhdne. 

*»)  Liegt;  noch  i.  Gebr. 

M)  Das  flache  Land  von  .  .  (W.). 

'*)  Rm.:  mit  sestern,  d.  i.  m.  Scheffeln:  summer  (simmer,  Luther  braucht  die, 
wohl  hebräsierende  Form  sirarl)  =  Geflecht,  dann  Getreidemafs.  Das  Ereignis  selbst 
ist  hier  nicht  zu  prüfen. 

**)  Nachher:    Alles,  auch  Rm.  hier  als. 


414  Theodor  Distel. 


dennocht***)  mich  nit,  weder  Hammoms*®),  noch  keins  andern  g^ottes 
sone  genenet.  Ich  hab  auch  keinen  got  aus  mir  wollen  lassen 
machen,  noch  meiner  mutter  träum  herfurgezogen"^),  sunder  in*^ 
albe[re]t  begert,  ain  menschs  zu  sein  und  mich  des  öffentlich 
bekent  und  bewisen;  ich,  alzt'^)  zu  den  vemunftigisten  hauptleuten 
geschetzt  und  geglichet  •*)  worden  und  hab  mich  under  die  streit- 
barsten ritter  (1)  ingemust'').  Ich  het  mich  nit  gebunschet  mit  den 
Med(i)ern,  noch  mit  den  Armeniern  zu  streiten,  die  viel  ehe 
doren'*)  jQien,  dann  man  sie  jatzet**)  und  einem  jeden,  der  inen 
der**)  sig  zumutet,  dem  ergeben  sie  sich  behende.  Aber 
Alexander  hat  am  ersten  sein  veterlich  furstenthum  angenomen, 
das  geraeret  und  in  die  weite  gebreitet,  durch  den  lauf  des 
glucks,  doch,  so  (sie)  '*')  balde  er  einen  sig  hat  behalten  und  den 
unglückseligen  Darius  zu  Jossen**)  und  zu  Arbelis**)  gefangen, 
ist  er  von  veterlicher  wirde  [abjgestanden  und  hat  gemainet, 
man  sol  ine  anbeten  und  hat  sich  eines  medischen  wesens  ange- 
nomen,  g^ut  fru[n]den  in  den  geselschaften  und  zeichen^")  zu  tot 
geslagen  und  eins  teils  zu  to(i)t  gefangen  ^^).  Ich  hab  aber  ge- 
herschet  nit  mir,  sunder  meinem  vaterlant  zu  g^t  in  gemein 
und,  so  die  feinde  mit  merklicher  grofser  schiffung  ^^  gein 
Libyen  zu  gefaren  sein  und  man  deshalb  noch  mir  geschicket 
hat,  bin  ich  gehorsam  gewesen  und  han  mich  selber  widerumb 
als  ein  burger  gemacht.  Da  ich  auch  vorurtailt  bin  worden,  hab 
ich  solichs  gedultiglich  gelieden.  Und  das  alles  han  ich  gethon 
ain  geborner  barbarus  und  krischer  kunst  ungelernt.  Man  hat 
mir  nie  müssen  Homerus  bucher  furlesen,  alsdem  ^*)  so  hab  ich  kain 
Aristotües^^)  gehapt,  der  mich  als  ein  Schulmeister  underwisen  hat, 
sunder  mich  allein  gebrucht  angebomer,  guter  natuer**)-    Das  ich**) 


*^  Dennoch,  auch  nachher;  vgl.  Gr. 

'^  Mit  und  ohne  sp.  asp.  1.  Gebr.  (Ammun  =  der  Verborgene). 
«8b)  Träume   auf  meiner  Mutter  Unkosten  (W.),    Traumgesichter  der  Mutter   su  er- 
zählen (Fischer);  zur  Stelle  vgl.  man  Anm.  i. 

»•)  Sundern.  f- 

**)  Das  engl,  already  bezw.  allbott  (semper,  saepe)? 

*')  Gekürzt,  wie  smch  nachher,  obersächs.  höchst  (Hochzeit). 

*^  Ihnen  gleichgestellt. 

")  Inngemischt.  f. 

•*)  Do  von.  f. 

**)  Cz  können  leicht  mit  g  verwechselt  werden. 

»•)  Den.  f. 

*7)  Eine  Art  Dittographle  zu  so. 

M)  Sollte  R.S  Vorlage  'loamS  gehabt  haben?   Rm.:  by  Ipsio  (I). 

••)  Auch  d.  Mehrz.  i.  Gebr.' 

^)  Zechen,  f.     Rm.:  im  den  glochen  (gelagen)  und  zechen. 

^')  Sinn:  fing  sie,  um  sie  zu  tödten. 

^*)  Flotte  mufste  damals  noch  lange  umschrieben  werden. 

*»)  Aisdan.  f. 

^^)  Zu  den  Tuskul.  richtig,  wie  auch  unten  Carthago,  man  vgl.  jedoch  zu  letzterer 
Schreibweise  oben. 

*^)  Dieses  Wort  gefiel  einem  Hildebrand  sehr;  Rm.  eigenschaft,  vgl.  Gr.  Vier 
Monate  vor  seinem  Tode  schrieb  er  mir  noch  „Was  macht  Xhv  Reuchlin  ?  Wie  gern  läse 
ich  die  .  .  .  Arbeit  nochl" 

*•)  Ist,  t. 


Die  erste  Verdeutschung:  des  zwölften  Lukianischen  Toten^esprächs.  416 

die  Sache,  danimb  ich  mein  besser  zu  sein,  dan  Alexander. 
Und,  ob  er  hubscher  ist  und  sein  haupt  in  ein  cosdiche*')  ge- 
bunden hat,  das  veleicht  die  Mazedones  für  schone  und  hoch- 
geachten  (!)  noch  dan^^)  sol  er  billich desselben  halben  einen  (sie!) 
eteln  strei[t]barn  man,  der  sein  ding  vilmehr  uf  vemunft,  dan  auf 
das  gluck  gesetzt  hat,  nit  furgewelet  werden. 

M.  (hat  ime  dannocht  unhöflich  sein  rede  gethan  ferrer  *^  und  bafs'*), 
dan  einem  Libyer  zustat)  '•^)  Nun  Alexander,  was  sagstu**o)  darzu? 

A.  Es  wolt  sich  wolgeburn,  lieber  Minos,  das  ich  einem  so  verwegen 
man  kein  antwort  auf  sein  rede  gebe,  dann  das  gemein  geschrei 
und  der  lumet**)  moch  ich**)  des  wol  berichten**^),  was  ich  für  ein 
konig  und  dar  vor*')  ein  rauber  were,  jedoch,  so  hab  acht,  ob 
ich  eins  kleinen  ubertreflfens  für  den  sei.  Als  ich  noch  gar  junk 
bin  gewesen,  habe  ich  mich  zu  den  dingen  genehert  und  ist  mir 
das  regement  zeruet**)  und  widerwertig  in  die  hende  gewachsen. 
Ich  hob  die  durch  acht  und  [bann]  vervolget,  [die]  meinen  vater 
han  tot  geschlagen,  und  daran  han  müssen  ganz  [krichen-]  lant 
forchten,  dem  Verlust  nach**)  der  Tebier,  bin  doch  zuletzsten  von 
inen  zum  hauptman  aufgenomen  worden  und  hab  mich  das*^) 
mazedonischen  regements  nit  lassen  benugen,  so  vil  mir  des 
mein  vater  gelossen  het,  sunder  das  ganz  erterich  für  mich  ge- 
nomen  und  han  mir  laids  gedaicht,  wo  ich  das  nit  gar  under 
mich  solt  bringen.  Mit  einem  deinen  zug  bin  ich  in  Asian  ge- 
zogen und,  im  grossen  streit  zu  (!)  Tegranico  *'),  da  han  ich  das 
feit  behahen,  Lydram*®)  ingenomen,  Jonian  und  Phrygiam  ge- 
wonen  und  also  in  und  in  hin  im  fufsstapfen  alle  ding  erobert,  bis 
ghen  Josson^^^)  kommen  bin,  aldo  hat  nun  Darius  [mich]  erwart 
[mit]  *®®)  vilmalu  zehentausent  mannen.   Des  mogent  ir,  lieber  Minos, 


*^  Sächl.  Hauptw.,  näml.  Binde. 

**)  Danach. 

'••)  Komp.  von  ferre  =  sehr. 

•')  Desgl.  von  wohl. 
**h^  Zu  der  Parenthese  sind  die  verschiedenen  Urtexte  zu  vergl. 
••o)  Derartige  Zusammenziehungen  sind  gewöhnlich,    auch  hier  kehren    solche  öfters 
wieder. 

'*)  Leumund  (vgl.  Gr.). 

'*)  R.  hat  wohl  mac  dich  geschrieben, 
"h)  Vielleicht  hat  R.  ij  xoorq  .  .  .  vorgelegen,  dM$at  dann  Opt. 

^  Der  für. 

**)  Zerrüttet. 

")  Nach  dem  Verluste  der  Thebaner.     Abweichungen  vom  gr.  Texte! 

5«;  Des.  f. 

")  Dieser  Flüchtigkeits(?)- Fehler  kommt  auf  R.s  Rechnung,  der  Urtext  (im  re 
Vpavtxw)  mag  verleitet  haben,  die  Partikel  zum  Namen  zu  ziehen.  Rm.  ebenso  by  Theo- 
gonio,  seine  Ausgaben  von  1552  an  zeigen  noch  Granio  Die  Achtung  beanspruchenden 
Urtexte  von  1496  und  1503  sind  auch  hier  korrekt.  Rm.  und  seine  späteren  Heraus- 
geber wufsten  jedenfalls  nichts  von  dem  Siege  A.s  über  die  Perser. 

"*)  Lydian.  f.     Griech.  und  lat.  Akkuss.  neben  einander  1 
•^bj  Die  ganze  Stelle  ist  ungenau  wiedergegeben. 

Ztschr.  f.  Tgl.  Litt-Gescb.    N.  F.  VIII.  27 


I 


416  Theodor  Distel. 


darbi  noch  ingedenk  sin,  das  ir  wissent,  wie  vil  toten  ich  euch 
einstags  haingeschickt  ^•)  hab,  dan  der  schifFmann**)  sag^,  das  er 
auf  dieselben  fart  nit  schiff  gnung  gehabt  hab,  sundem  mufste 
zerrissen  pracketi'*)  wider  pletzen*^),  darinen  er  vil  uberfurt. 
Das  hab  ich  alles  gethan  und  an  meinem  selbs  lib  schaden  ge- 
nomen  und  wunden  empfangen,  und,  das  ich  dir  nit  viel  von  den 
grofsen  taten  sage,  die  ich  in  Tyro  und  Arbelis  begangen  han, 
so  bin  furaus  bis  in  Indien  geruckt  und  han  das  grofse  mere  für 
ein  margstein  meiner  oberkait  gesetzt  und  in  ire  elephanten  ab- 
gewonnen und  Porus  gefangen,  bin  darnach  über  das  wasser 
Tanais  komen  und  durch  die  Scythier*'),  die  nit  wol  nit  zu 
verachten  sind,  gezogen,  mit  einem  grofsen  raisigen  zug*'^)  und 
han  den  frunden  guts  gethan  und  den  feinden  ubels.  Ob  mich 
dann  die  leut  für  ein  got  hetten  wellen  halten,  das  inen  villeicht 
zu  vorzihen  gebesen,  solche  grofse  taten  angesehen,  die  sie  an 
mir  befunden  haben;  und  zu  ende  der  sach,  so  bin  ich  gestorben 
Begir  der**)  konig,  aber  der  ist  gestorben  in  der  flucht  bei 
Prusia,  dem  fursten  von  Bithynia  und  hat  sein  ende  genomen,  als 
sich  einem  solchen  boslistigen  und  tyrannischen  man  gezimpt,  dan, 
wie  er  Italian  erob[e]rt  hab,  ist  nit  no(i)t'*®)  darvon  vil  zu  sagen, 
besunder  mit  keiner  macht  ist  es  zugangen  allein  mit  bosheit,  Un- 
glauben •*)  und  aufsatz*'),  aber  auf  rechts  und  redlichs  ist  nichts 
dagewesen.  Das  er  mir  aber  zu  ung^t  authept,  wie  ich  erzogen 
und  aufkommen  bin®'^),  bedunkt  mich,  er  wolle •^°)  vergessen,  was  er' 
mit  sines  gleichen  •*^)  zu  Capua  gethan,  und,  wie  er  die  zeit  des 
kriegs  in  libslust  vorzert  habe.  Ich  han  auch  nie  vÜ  auf  die 
occidentischen  gehalten,  darumb  bin  alzt  gein  Orient  berait  ge- 
wesen. Was  ist  grofs  daran  erjak[t],  ob  ich  Italien  an  bluet- 
vergiefsen  ingenomen  und  Libyen  überwunden  hab,  bis  gein 
Gadria'*).  Es  hat  mich  kains  Streits  no(i)t  bedaucht,  an  die  ende, 
da  man  mir  jetzunt  gehorsam  was,  und  mich  mit  namen  ain  hem 
nanten.  Das  ist  mein  rede.  Nun,  lieber  Minos,  en[t]scheide  uns 
dan  des'***)  und  dergleichen  machstu  wol  von  andern  auch  xmder- 
richt  werden. 


")  KorrektureD  im  Worte:  heimgeschickt. 
••)  So  wird,  wie  auf  der  Hand  liegt,  CharoD  bezeichnet. 

•*)  Bracke  (frangibulum),  bzw.  b2Lrke.  f.    Den  Begriff  zerrissen  hat  R.  irrig  in 
a^edia^  gelegt^  er  dachte  wohl  an  das  lat.  scida  für  scheda. 
*^  Auch  bletzen  =  ausbessern. 

•*b)  R.  hat  wohl  ßej'oh^  ticToa  gelesen. 

•*)  Das  Abkürzungszeichen  für  en  ist  vom  Abschreiber  nicht  beachtet  worden,    B 
konnte  leicht  für  R  gelesen  werden:  als  regierender  König  {SamXetMov), 
*^h)  Nach  Gr.  kommt  im  Schwab,  auch  nout  und  noat  vor. 
•*o)  Untreue  wäre  hier  am  Platze. 

^)  Noch  i.  alt.  Nhd.  ziemlich  häufig. 
•*h)  R.  wird  Tpo^v  (nicht  rpu^v)  gelesen  haben. 
«*c)  Er  wolle  steht  zweimal,  einmal  getilgt  (I). 
•'d)  Desgl.  iTatpoez  (nicht  kratpat^)  sc.  avv&v, 

^)  Gadira  für  Gadeira (Gades),  man  vgl.  das  oben  zu  furnam  und  denen  Gesagte, 
••b)  Gen. 


Die  erste  Verdeutschung  des  zwölften  Lukianischen  Totengespräcbs.  417 


Sc.  Thu  gemache,  fare  nit  füre  vor,  (und)  ehe  du  mich  auch  gehört 
habest. 

M.  Guter  frunt,  wer  bistu,  ader  von  wannen  körnest,  das  du  auch  zu 
den  Sachen  wilt  reden? 

Sc.  Ich  bin  ain  italischer  hauptman,  Scipio  genant,  der  Carthago 
zurstert  und  Africam  mit  merglichen  streiten  gewonnen  hat. 

M.    Was  wilt  nun  du  sagen? 

Sc.  Das  ich  minder  bin,  dann  Alexander,  und  besser,  dan  Hannibal, 
dan  ich  han  in  ube[r]zogen  und  bin  ime  ubergelegen  und  er  ist 
durch  mich  in  ein  schantliche  flucht  gebracht;  wie  mag  er  nun 
so  unverschampt  sin,  das  er  sich  gedar*'')  mit  Alexander  umb 
den  Vorgang  [zu]  zanken,  so  doch  der  Scipio,  der  im  ange- 
sigt^®),  han  mich  selber  nit  vormut,  etwas  zu  setzen  gegen 
Alexandem. 
Warlich!    Du  redest  weislich,  Scipio,  und  darumb  so  erkenne  ich 

M.  Alexandern  für  den  ersten,  nach  demselben  dich,  zuletzst  wil  es 
auch  gefallen,  so  sei  Hannibal  der  dritt,  denn  er  ist  auch  nicht 
zu  verachten". 

Eine  Schlufsnachricht  meldet  noch,  dafs  Reuchlin  seine  Festgabe 
eigenhändig  geschrieben  gehabt  hat. 


Möchte  meine  kleine,  aber  mühsame  Arbeit  nicht  nach  der  Lampe 
riechen  und  ich  immerhin  mehr  geboten  haben,  als  von  einem  Nicht- 
philologen  zu  erwarten  ist:  mich  hat  sie  erfreut  und  gefördert,  da  ich 
bei  ihr  Gelegenheit  fand,  mich  weit  und  breit  umzutun.  Mein  (?) 
Bestes  gebe  ich  wenigstens  damit.  —  Niemand  wolle  mit  mir  in's 
Gericht  gehen!  Sollte  je  Reuchlins  Niederschrift  gefunden  werden, 
so  hoffe  ich,  dafs  meine   Konjekturen  grofsenteils  Stand  halten. 

Mit  dem  Reuchlintexte,  glaube  ich,  ein  neues,  nicht  zu  unter- 
schätzendes Lehrmittel  für  den  griechischen  und  deutschen  Unterricht 
dargebracht  zu  haben.  Wem  mein  Beiwerk  nicht  genügt,  der  kann 
es  nun  leicht  verbessern,  habe  ich  doch  eigentlich  nur  für  den  Wort- 
laut der  Vorlage  aufrukommen.  Ich  kann  nicht  passender,  als  mit 
Eberhards  Wahlspruche  „Attempto"  schliefsen.  — 

Blase witz  -  Dresden. 


•')  Getraue,  mhd.,  bis  in's  17.  Jhrh.,  vgl.  Gr.:  turren. 
*^)  Jemandem  ansiegen  bis  auf  W.  herab,  vgl.  Gr. 


27* 


418  Radolf  Schlösser. 


Gotter  und  die  Karschin. 


Von 
Rudolf  Schlösser. 


V 


on  dem  Briefwechsel  zwischen  Friedrich  Wilhelm  Gotter  und  Anna 
Louisa  Karschin  haben  sich  im  ganzen  drei  Stücke  erhalten: 
erstens  die  Abschrift  einer  poetischen  Epistel  der  Karschin  an  Gotter, 
welche  mit  dem  übrigen  Nachlasse  der  Cotterschen  Familie  eine 
Enkelin  des  Dichters,  Frau  Caroline  von  Zech  geb.  Schelling  in  Gotha, 
bewahrt,  und  zweitens  zwei  Briefe  Gotters  an  die  Karschin,  die  mit 
Varnhagens  Handschriftensammlung  in  den  Besitz  der  Königlichen 
Bibliothek  zu  Berlin  gelangt  sind.  Die  Schriftstücke  scheinen  mir  der 
Veröflfendichimg  wert  zu  sein,  einmal  weil  über  die  Beziehungen  Gotters 
zu  der  „deutschen  Sappho"  bisher  nichts  bekannt  war,  dann  aber 
auch  deshalb,  weil  die  beiden  Briefe  des  jungen  Dichters  einen  Charakter 
tragen,  welcher  von  dem  seiner  sonstigen  Briefe  wie  auch  seiner  poe- 
tischen Erzeugnisse  aufs  merkwürdigste  abweicht. 

Wie  Gotter  mit  der  Karschin  in  Berührung  kam,  läfst  sich  aus  dem 
Briefwechsel  der  beiden  leicht  feststellen,  wenn  man  einige  Gottersche 
Familienbriefe  in  Zweifelsfallen  zu  Rate  zieht:  darnach  war  die  Karschin 
mit  einer  Cousine  Gotters,  der  Frau  von  Knobloch  in  Berlin,  eng  ver- 
bunden und  hatte  auch  des  Dichters  damals  eben  verstorbenen  Stief- 
bruder*) Avemann,  welcher  preufsischer  Offizier  gewesen  war,  näher 
gekannt.  Sei  es  nun,  dafs  diese  Verwandten  Versuche  des  jungen 
Poeten  der  Karschin  in  die  Hände  spielten  oder  dafs  Gotter  selbst  im 
Vertrauen  auf  ihre  freundschaftlichen  Beziehungen  zu  den  Seinen  das 
Urteil  der  Dichterin  über  seine  Werke  anrief  —  genug,  im  Herbste 
1768  kamen  zwei  Gedichte  Gotters  der  Karschin  zu  Gesichte,  und  diese 
hatte  natürlich  nichts  eiligeres  zu  tun,  als  dem  jungen  Kollegen,  der 
\  sich   zu  jener  Zeit   als  Hofmeister    der   beiden  Lausitzer  Barone  von 

Riesch  in  Göttingen  aufhielt,  mit  einer  poetischen  Epistel  zu  beglücken. 
Ich  teile  sie  hier  nach  der  erwähnten  Abschrift  mit,  welche  von  Gotters 
Schwester  Auguste  herrührt: 

Von  der  Frau  Karschin,  an  meinen 
Bruder  Gotter  bey  gelegenheit  zweyer  von  ihm  ver- 
fertigter Oden  an  den  Prinz  Ferdinand  von  Br.[aunschweig]**) 

und  an  Hrn.  Ayrer  in  Göttingen. 

*)  Wenn  man  ihn  so  nennen  darf;  Gotters  Stiefmutter  war  in  erster  Ehe  mit  efnem 
Konsistorialrat  Avemann  verheiratet  gewesen. 

*♦)  Was  es  mit  dieser  Ode,  über  welche  in  der  Epistel  so  weitschweifig  gehandelt 
wird,  (ur  eine  Bewandnis  hatte,  weifs  ich  nicht  zu  sagen,  sie  hat  sich  nicht  erhalten. 


Gotter  und  die  Karschin.  419 


Mein  liebenswürdiger  geliebter  Junger  Freund 
in  den  (I)  Apollo,  der  die  Schwestern  und  die  Brüder 
von  seiner  Götterzucht,  der  Seele  nach  vereint, 
ich  las  das  jüngste  las  das  schönste  deiner  Lieder 
und  ward  entzückt  darob,  der  Weise  Sulzer  sprach, 
Hört,  dieser  Jüngling  singt  den  Teutschen  Flaccus  nach 
Und  lasset  keinen  Gott  und  keine  Göttin  rauschen 
Der  Greis  den  Er  besang  erhielt  ein  feinres  Lob 
Als  mancher  Sieger  den  einst  Pindars  Lied  erhob, 
Und  Ferdinand  der  Held  wird  sanft  und  lächelnd  lauschen 
Auf  seinen  Schild  gelehnt  der  um  und  um  mit  Laub 
Von  Lorbeer  ist  becränzt,  wird  hören  wie  der  Sänger 
Ihn  gleich  den  [!]  Hercul  prelfst,  viel  priefsen  ihm  [!]  schon  länger 
im  ausgedehnten  Thon,  doch  allen  blieb  er  taub, 
Den  Glaucus  nur  und  dem  der  Gotters  Nahmen  führet, 
Hat  Er  sein  Ohr  geneigt,  so  sprach  der  weise  Mann, 
dem  [!]  selber  mein  Gesang  schon  lange  nicht  mehr  rühret 
Weil  ich  so  schön  nicht  singen  kan, 
Bey  Friedrichs  Ruhm  und  Friedrichs  Leben, 
Zehn  mahl  zehn  Lieder  wollt  ich  den  [I]  Vulcanus  geben 
Für  diesen  einzigen  Gesang, 
Wenn  er  von  meiner  matten  Leyer 
Herab  gethönet  war,  mir  fehlt  der  Jugend  Feuer. 
«        So  wie  ein  müder  Greis  mit  Zwang 

Und  kalten  Lippen  küfst,  so  sing  ich  itzt  und  nenne 

Mich  nur  noch  rühmenswerth  weil  ich 

Den  Werth  von  andern  Dichtem  kenne 

Denn  hätte  nicht  die  Muse  mich 

Verlassen,  würd  ich  wohl  von  Mitleid  ganz  durchdrungen 

Nicht  hingeflohen  sein  bey  deiner  Julie 

So  Thränen  nasses  Grab?*)     Hätt*  ich  sie  nicht  gesungen 

Die  Klagen  einer  Frau?**)    die  nirgends  an  der  Spree 

Nicht  eines  Avemanns  nicht  einer  Julie 

Volkomnes  Herze  weifs  zu  finden  und  zu  lieben 

Und  noch  die  Schatten  küfst  die  ihr  in  Briefen  blieben. 

Gotter,  der  damals  in  dicfiterischen  Dingen  noch  nicht  sehr  an- 
spruchsvoll gewesen  zu  sein  scheint,  geriet  über  dieses  Schreiben  in 
grofse  Freude.  Er,  der  sich  sonst  in  seinen  Briefen  einer  sehr  ver- 
ständigen und  klaren  Prosa  bedient,  und  auch  später  die  dichterische 
Epistel  nie  anders  als  in  scherzhaftem  Sinne  zu  Privatmitteilungen 
gebraucht,  wandelt  in  seiner  Antwort  an  die  „Sappho**  auf  Bahnen, 
wo  man  ihn  anzutreffen  nicht  gewohnt  ist.  Die  Vers-  und  Prosa- 
mischung im  Briefe,  wie  sie  die  Halberstädter  liebten,  das  Lieblings- 
metrum Kleists,  Ramlers  Schwidst,  ja,  selbst  einige  Requisiten  aus  der 
Rüstkammer  der  Barden  und  ein  preufsischer  Patriotismus,  den  man 
sonst  an  ihm  nicht  kennt  —  alles  mufs  herhalten,  um  die  „grofse 
Karschin"  zu  verherrlichen  und  sie  des  Gotterschen  Dankes  zu  ver- 
sichern.    Der  Brief  lautet: 

Madame, 
Sie,  die  der  Pöbel  unter  den  Vornehmen  mit  gaflfendem  Erstaunen 
und  die  kleine  Zahl    schöner  Geister  mit   stillem  Gefühle    bewundert, 
Sie,    die   geliebteste    des    Appolls    unter   seinen  deutschen    Töchtern 

*)  Gotters  Schwester  Julie  war  am  23.  Msu  1767  gestorben. 
*•)  Frau  von  Knobloch. 


490 


Rudolf  Schlösser. 


\ 


miissen  es  am  besten  wissen,  welche  unnennbahre  Freude  es  ist,  von 
Kennern  —  Meistern  gelobt  zu  werden.  Ich  will  Ihnen  also  die  Be- 
wegungen nicht  beschreiben,  die  Ihr  poetischer  Brief  in  mir  hervor- 
brachte, wie  ich  dem  gütigen  Schicksaal  danckte,  das  meine  Lieder 
Ihnen  und  unsres  feinsten  Weltweisen  Augen  in  einer  glücklichen 
Stunde   zugeführt,  wie  meine  ganze  Seele  glühte  — 


So  glühtest  du  —  so  schwoll  dein  Herz 
VoD  Amphionschem  Stolz,  dein  Blick 
Schofs  Feuerflammen,  weit  umher. 
Es  sträubte  sich  dein  Haar  empor, 
Wie  Pythiens  geweyhtes  Haar, 
Wann  Delos  Gottheit  in  ihr  stürmt. 
Als  du,  mit  Hyparenen  (?)  nicht. 
Nein,  mit  der  Feinde  schwarzem  Blut 
Getränckt,  von  ihren  Leichnahmen 
Umthürmt,  die  Thaten  Friedrichs  sangst, 
Und  eine  schwarze  Wolke  schnell. 
Mit  Donnerschall,  vor  dir  zerriss 
Und  alle  Barden  grauer  Zeit 
Aus  dem  geborstnen  Schoolse  goss. 
Wie  einst  die  Helden  Griechenlands 
Ein  Ross  von  Holz.     Sie  standen  da, 
In  strahlenloser  Majestät, 
Gleich  einem  schattenreichen  Hayn, 
Von  Faunen  und  Dryaden  voll; 


Ein  Löwen-Raub  war  ihr  Gewand, 

Ihr  HauptSchmuck  Laub ;  es  hielt  ihr  Arm 

Die  mofsumwundne  Leyer  hoch, 

Die  Muth  und  Unerschrockenheit 

Und  HeldenTod  fürs  Vaterland 

Den  Galliern  ins  Herze  schlug; 

Sie  stimmten  in  dem  Schreckens-Ton, 

Vor  welchem  unverwundet  noch 

Roms  ausgeartet  Heer  entfloh. 

So  feig,  als  jüngst  der  Gallier 

Unwürdige  Nachkommenschaft, 

Des  unbekannten  Rossbachs  Spott, 

Geschreckt  vom  Trommel- Ton  entwich; 

Sie  salbten  dich  zu  dem  Gesang; 

Von  ihren  Lippen  flofs  dein  Ruhm, 

Wie  Honigseim,  den  weisen  Bart 

Herab;  sie  nannten  dreymahl  dich 

Die  erste  der  Bardinen  —  und 

Du  sangst  — 


Aber  dancken  mufs  ich  Ihnen,  meine  berühmte  Freundin,  dancken 
für  das  Andenken,  das  Sie  meiner  verewigten  Julie  widmen.  Ach, 
Sie  würden  sie  noch  mehr  betauert  haben,  wann  Sie  ihr  vortrefliches 
Herz  ganz  gekannt  hätten. 

Ich  klage  noch  immer 
Immer  um  Sie  —  mein  trauriges  Leben 
Ist  noch  immer  von  Ihr  ein  einziger  langer  Gedanke*). 

Nur  sie  zu  besingen  hat  mir  so  wenig  als  Ihnen  gelingen  wollen. 
Wann  ich  mich  niedersezte,  las  ich  nach  meiner  Gewohnheit  Hallers 
Ode  auf  Mariannen,  machte  das  Buch  zu  und  gab  meinen  Vorsaz  au£ 
Er  soll  reiferen  Jahren  vorbehalten  bleiben. 

Auf  Freund  Avemann  lege  ich  Ihnen  eine  Grabschrift  bey**), 
oder  wie  Sie  es  sonst  nennen  wollen;  für  ein  Inscription  ist  es  wohl 
zu  lang.  Ich  fuge  noch  andre  Kleinigkeiten  hinzu.  Das  Lied  an 
Cronegks  Schatten  verdient  Ihre  Aufmercksamkeit,  we^en  seiner  Ver- 
anlassung. Soll  ich  es  Ihnen  gestehen?  Ich  habe  dieses  liebenswürdigen 
Dichters  unvollendetes  Trauerspiel  =  Olint  und  Sophronia  auszu- 
führen unternommen;  Ja,  erschrecken  Sie  nur,  ich  habe  es  gewagt 
einem  Cronegck  nachzusingen.  Vielleicht  wag  ich  es  auch  mich  dem 
Publiko  zu  zeigen. 


*)  Die  Verse  stehen  im  IV.  Gesänge  des  , Messias**,  778 — 780;  doch  lautet  Vers  779 
daselbst:    „ Immer  um  siel    Mein  Leben  voll  Qual,  mein  trauriges  Leben.** 
**)  Die  Beilagen  fehlen  sämtUcb. 


Gotter  und  die  Karschia.  421 


Doch  ach!    mich    schreckt   der   Haufe  Cerberisch  liegen  sie  und  lauren  nur  auf 

▼on  Barbaren,  Beute; 

Der  Famens  Tempel  streng  bewacht;  Ihr  Kopf  ist  hundert  Augen  voll, 

Viel  lieber  wollt*   ich  in   der  schwarzsten  -  Ihr  Athem  Gift  —  o  schfitze  mich,    Apoll, 

Nacht  Mit  deinem  Göttlichen  Geleite 

Durch  Scyllen  und  Charibden  fahren;  Vor  diesem  Volck,  noch  unerbittlicher 

Ihr  weiter  Schlund  zermalmt,  verschling^  Als  Pluto  selbst,  dem  Volck  der  Kritiker! 
Den   Jüngling,    der   zu    kühn    hinauf  zur 

Göttin  dringt; 

Und  Sie  schweigen  jetzt,  grofse  Karschin?  Sie  haben  Recht.  Es 
ist  süfs  auf  Lorbern  auszunihn. 

So  ruht  der  Vater  deutscher  Helden  Es  pranget  an  den  heiigen  Eichen 

Im  weichen  Arme  von  Thusnelden  Der  Vogel  Jupiters,  das  Zeichen 

Auf  dem  erkämpften  Eigentum;  Von  Roms  Ruin  und  Hermanns  Ruhm. 

Die  Frau  Professorin  Heyne*),  eine  vorzüglich  würdige  Frau,  die 
die  Empfindung  ihres  Vaters,  des  Einzigen  Lautenisten  Weifse  geerbt 
hat,  trägt  mir  auf  Ihnen  zu  sagen,  Madame,  dafs  sie  sich  für  glücklich 
schäzt  unter  Ihren  Verehrern  zu  seyn,  denWerth  der  Oden:  an  Gott 
bey  Mondenschein**)  und  auf  Kleistens  Tod***)  fühlen  zu  können. 
Dies,  Madame,  ist  auch  längst  der  Stolz 

Göttingen  Ihres  gehorsamsten 

d.  21.  Septbr;  Dieners 

1 768.  Joh.  Fried.  Wilh.  Gotter. 

[Ein  Bogen  Quart.  Alle  4  Seiten  sind  beschrieben.] 

Der  zweite  Brief  datiert  erst  ein  Jahr  später  und  zeichnet  sich 
weniger  durch  auffallenden  Ton  aus.  Gotter  hatte  im  Herbst  1769 
Göttingen  verlassen  und  seine  Zöglinge  in  ihre  sächsische  Heimat 
geleitet,  wo  er,  ohne  es  erwartet  zu  haben,  verabschiedet  wurde.  Er 
kehrte  nun  in  seine  Vaterstadt  Gotha  zurück,  nachdem  er  zuvor 
Dresden  besucht  und  sich  in  Leipzig  mehrere  Wochen  aufgehalten 
hatte.  Diese  Reise  war  Schuld,  dafs  er  zwei  Briefe  der  Karschin 
längere  Zeit  unbeantwortet  liefs  und  ihr  auch  für  ihre  Beiträge  zu 
dem  frisch  im  Entstehen  begriffenen  Musenalmanach  erst  verspätet 
dankte.     Er  schreibt: 

Gotha  den  19.  Decemb.  69. 

Für  zwey  freundschaftliche,  liebe  Briefe,  meine  theuerste  Karschin 
und  für  die  schönen  Lieder,  mit  welchen  Sie  den  Musenalmanach  f) 
zu  beschenken  beliebt  haben,  sage  ich  Ihnen  den  verbindlichsten 
Dank.  Unser  Freund  Boie,  der  itzt  das  Vergnügen  Ihrer  persönlichen 
Bekanntschaft  geniefstf  f ),  wird  Ihnen  die  Hindernisse  erzählen,  die  mich 


*)  Therese  Heyne,  geb.  Weifs,  die  Gattin  des  Philologen  Chr.  Gottlob  Heyne. 
**)  Karschin,  Gedichte  1764,  S.  3  ff. 
***)  Ebenda  S.  155  ff. 

t)  Gemeint  sind,  wie  aus  dem  folgenden  hervorgeht,  Beiträge  zimi  Almanach  von 
1770,  der  im  Januar  dieses  Jahres  erschien. 

ff)  Boie  reiste  am  15.  Des.  von  Göttingen  nach  Berlin  und  kam  dort  den  91.  an. 
(Weinhold,  Boie,  S.  34  f.). 


432  Rudolf  Schlösser. 


abgehalten  haben  dieses  eher  zu  thun  und  ich  weifs  Sie  dencken  zu 
gut  von  mir,  als  dafs  Sie  diesen  Verzug  einem  Mangel  an  Höflichkeit 
zuschreiben  sollten.  Ich  habe  auf  meiner  kleinen  Reise  nach  Sachsen 
die  würdigen  Männer  alle  kennen  lernen,  die  Sie  und  ich  so  sehr 
lieben  und  verehren,  und  meine  Thränen  fliefsen  itzt  gedoppelt  um 
denjenigen  den  jedes  fühlbare  deutsche  Herz  beweinet,  da  ich  den 
Menschenfreund  von  Angesicht  gesehen  habe*).  Mehr  als  Eine 
unvergefsliche  Stunde  ist  mir  in  seinem  vortreflichen  Umgang  ver- 
flossen. Er  dankte  mir  beym  Abschied  für  meine  Bekanntschaft  und 
umarmte  mich  mit  der  Zärtlichkeit  eines  Vaters.  Verzeihen  Sie  dafs 
ich  Ihnen  diese  kleine  Umstände  erzähle.  Wer  sich  Gelierten  gekannt 
zu  haben  nicht  mit  Enthusiasmus  rühmt,  ist  dessen  nicht  werth. 

Nun  sieht  er  auf  des  Schmerzens  HQlle  Als  ein  verklärter  Sohn  das  Weib  das  ihn 
Mit  unaussprechlich  heitrer  StiUe  Seebär, 

In  seinem  Fluge  noch  herab,  Ihn  führen  zu  dem  rauchenden  Altar, 

Nun  trocknen  Engel  ihm  von  Wangen  Wo  Thränen,  die  er  hier  geweint, 

Des  Todes  Schrecken  ab.  Mit  Wünschen  aller,  die  ihn  kennen 

So   zärtlich  wird  sein  Cronegk  ihn   em-  Mit  frommer  Mütter,  Väter,  Töchter,  Söhne 

pfangen.  Dank  vereint 

Ein  süfser  Weyhrauch!  brennen. 

Ich  wünschte  etwas  von  der  heiligen  Begeisterung  zu  haben,  mit 
welcher  Sie  auf  Kleistens  Aschenkruge**)  weinten,  oder  dafs  Sie, 
meine  liebe  Karschin  dem  frömmster  (!)  unsrer  Dichter  wie  Sie  ihn 
in  einem  Briefe  an  Hn.  Reich  in  I^eipzig  nannten  ein  Grab-Lied  sangen. 
Ihre  Lieder  für  die  jüngste  Tochter  Ihrer  Freundin***)  haben  mich 
entzückt.  Es  sind  die  schönsten  Empfindungen  in  der  einfachsten 
Sprache  ausgedrückt.  Mein  kleiner  Neffe,  der  Schwester  Sohn  unsres 
verewigten  Freimd  Avemannsf)  soll  sie  beten  lernen,  sobald  er 
lallen  kann.  Seine  Mutter  hat  sie  nicht  ohne  Thränen  angehöret. 
Das  Gleichnis  mit  Reh  und  Wölfenff)  ist  eine  Kleinigkeit,  die  schon 
abgedruckt  war,  als  ich  Ihren  Brief  erhielte.  Wie  kömmt  es  dafs 
Ihnen  nicht  lieber  das  Lamm  eingefallen  ist?  Vielleicht  weil  es  zu 
oft  gebraucht  ist.  Wenn  Sie  mir  von  denen  der  Frau  von  K.fff) 
gesungenen  Liedern  eines  oder  das  andre  schicken  wollen  so  werden 
Sie  sich  Ihren  Gotter  sehr  verbinden.     Ich  weifs  nichts   süfseres  als 


*)  Gotter  traf  am  30.  Oktober  in  Leipzig  ein  und  verweilte  dort  4  Wochen,  sah 
also  Geliert  noch  ganz  kurz  vor  seinem  Tode  (13.  Dez.).  Er  war  ^jede  Woche  einige- 
male  bey  ihm*^  und  konnte  sich  schmeicheln,  „ einen  Antheil  an  seiner  Freundschaft 
erworben  zu  haben**  (an  Kestner,  23.  Dez.  1769).  Geliert  bot  ihm  gleich  beim  ersten 
Besuche  eine  neue  vorteilhafte  Hofmeisterstellc  an  (an  Boie,  8.  Nov.  1769). 
*♦)  Vergl.  Karschin,  Gedichte  1764,  S.  155  flf. 
***)  Die  Lieder  stehen  im  Musenalmanach  für  1770  und  heifsen:  Bittgesang  für  ein 
fünig^^"?^  ^°^  (^'  1^5  ^Oi  G^bct  eines  kranken  Kindes  (S.  166  ff.);  Danklied  eines 
gesund  gewordenen  Kindes  (S.   168  ff.). 

f)  Also  ein  Sohn  von  Gotters  Stiefschwester, 
ff)  In   dem   ^ Gebet  eines  kranken  Kindes"  heilist  es  S.  167:    „Achf  ich  zittre  vor 
dem  Schmerz,  wie  das  Reh  vor  Wölfen  zittert". 

fj-f)  Im  Musenalmanach   für   1770  steht  S.  77   ein  Gedicht  der  Karschin:    „An  die 
Frau  von  Knoblauch", 


Das  Manuskript  von  Kraszewskis  Dante-Übersetzung.  423 

das  an  Ihren  Bruder*),  das  dem  Musen  Almanach  einver-  [halb 
abgeschnitten:]  leibt  worden  ist. 

[Ein  Bogen  kl.  Quart.  Blatt  2  ist  von  der  Mitte  an  abgeschnitten. 
S.  4  war  unbeschrieben.  Darauf  jedoch  noch  ein  Rest  der  Adresse: 
ä  Mada Madame]. 

Weiteres  von  dem  Briefwechsel  zwischen  Gotter  und  der  Karschin 
scheint  sich  nicht  erhalten  zu  haben  und  es  fragt  sich  auch,  ob  Gotters 
Begeisterung  für  sie,  die  schon  in  dem  zweiten  Briefe  etwas  abgekühlt 
erscheint,  sehr  lange  vorhielt.  Bei  seinem  Freunde  Boie,  mit  dessen 
Ansichten  Gotter,  wenigstens  damals  noch,  gewöhnlich  übereinstimmte, 
war  dies  nicht  der  Fall;  er  schreibt  schon  am  22.  Januar  1770  an 
Gotter  über  die  Karschin:  „Es  ist  eine  gute  Frau,  wenn  sie  gleich 
oft  schlechte  Gedichte  macht".  Ein  ebenso  komisches  wie  gerechtes 
Urteil,  welches  die  Nachwelt  vollauf  bestätigt  hat. 

.  Jena. 


-•••- 


Das  Manuskript  von  Kraszewskis  Dante-Übersetzung. 


Von 
Albert  Zipper. 


Über  Kraszewskis  Verhältnis  zu  Dante  liefse  sich  ein  recht 
interessantes  Buch  schreiben.  Kraszewski  hat  sich  zu  wieder- 
holten Malen,  kürzer  oder  länger,  über  den  grofsen  Florentiner  und 
seine  Werke  ausgelassen,  hat  über  dies  Thema  unter  allgemeinem 
Beifalle  öffentliche  Vorlesungen  gehalten,  hat  Dante  übersetzt. 

In  der  Übersetzung  Kraszewskis  brachte  die  Zeitschrift  Biblioteka 
Warszawska  1866  die  drei  Schlufsgesänge  der  „Divina  Commedia". 
In  der  gelegentlich  des  Schriftsteller- Jubiläums  Kraszewskis,  in  Warschau 
erschienenen  Publikation  lesen  wir  (S.  CII),  dafs  Anton  Stanislawski, 
welcher  1857  mit  Kraszewski  bekannt  worden  und  demselben  den 
I.  Gesang  der  Commedia  in  der  eigenen  Übertragung  vorgelegt  habe, 
von  ihm  aufgefordert  worden  sei,  zur  Vollendung  dieser  schwierigen 
Aufgabe  alle  Kräfte  einzusetzen.  Kraszewski  habe  ihm  bei  jener 
Gelegenheit  erklärt,  dafs  er  selbst  eine  Übertragung  des  Danteschen 
Riesenwerkes  versucht,  aber  die  Arbeit  aufgegeben  habe.  Des 
Weiteren    wird   daselbst  berichtet,    Kraszewski   habe    indessen    seine 


•)  Gemeint  ist  das  Gedicht  im  Musenalmanach  S.  113:  „An  Herrn  *  *  ***,  welches 
einen  Bruder  nach  Berlin  beruft,  um  den  neugeborenen  Sohn  seiner  Schwester  zu  sehen. 


i24  Albert  Zipper. 


Übersetzung  später  dennoch  zu  Ende  geführt,  trotzdem  aber  Stani- 
slawskis auch  zu  Ende  gebrachte  Übersetzung  mit  inniger  Freude 
begrüfst  und  in  der  Druckerei,  welche  er  damals  in  Dresden  gegründet, 
veröffentlicht.  Auch  habe  Kraszewski  Stanislawski  gegenüber  erklärt, 
er  werde  nun  seine  eigene  Übersetzung  nicht  mehr  veröffentlichen. 

Dies  ist  alles,  was  bezüglich  der  Kraszewskischen  Danteübersetzung 
zu  allgemeiner  Kenntnis  kam.  Auf  eine  Anfrage  bei  Rittergutsbesitzer 
Herrn  Franz  von  Kraszewski,  erhielt  ich  die  Antwort,  das  Manuskript 
der  Danteübersetzung  seines  Vaters  sei  in  seinem  Besitze,  und  er 
hatte  die  Güte,  mir  selbes  einzusenden. 

Das  Manuskript  stellt  sich  dar  als  ein  in  schwarzes  Papier  mit 
Lederrücken  und  Lederecken  gebundenes  Buch  in  Folioformat.  Der 
Rücken,  ziemlich  defekt,  trägt  in  Golddruck  den  Namen:  Dante.  Das 
Manuskript  bestand,  wie  zu  ersehen,  ursprünglich  aus  loo  losen  Bogen, 
I  — 12  und  45 — lOO  starkes  Schreibpapier  gewöhnlichen  Formats, 
13 — 44  starkes  Briefpapier  grofsen  Quartformats.  Diese  Bogen  sind 
dann  von  Kraszewski  selbst  mit  Bleistift  numeriert  und  zum  Buch- 
binder gegeben  worden. 

Die  100  Bogen  enthalten  auf  je  2 — 4  engbeschriebenen  Seiten  eine 
Übersetzung  der  Commedia,  und  zwar  jeder  Bogen  einen  Gesang. 

Die  Übersetzung,  welche  auf  diesen  Bogen  zu  lesen,  ist  der 
erste  Entwurf  Dabei  ging  Kraszewski  in  der  Weise  vor,  dafs  er 
das  Original  möglichst  wörtlich  übersetzte,  keineswegs ^  in  Versen, 
sondern  zunächst  ohne  Rücksicht  auf  Metrik,  und  diese  Übersetzung 
so  hinschrieb,  dafs  je  eine  Zeile  derselben  je  einer  Zeile  Dantes  ent- 
spricht. Dieser  erste  Entwurf  zeigt  verhältnismäfsig  wenig  Korrekturen. 
Hie  und  da  finden  sich  Fragezeichen,  doppelte  oder  dreifache  Über- 
setzung eines  Ausdrucks  oder  einer  Stelle,  eine  sachliche  Anmerkung. 
So  findet  sich  zu  „Inferno"  XVI.  15.  angemerkt,  dafs  Fieron  und 
König  Johann  (Philalethes)  diese  Stelle  mifsverstanden  hätten.  Zuweilen 
trifft  man  auf  Bleistiftnotizen,  die  Kraszewski  offenbar  bei  Wieder- 
vornahme des  Originals  hinzufügte. 

Erst  bei  der  Umgiefsung  des  Rohmaterials  in  die  endgiltige  Form 
arbeitete  Kraszewski  unter  mannigfachen  Veränderungen  den  Ent- 
wurf in  die  iisUbigen  Verse  um,  welche  im  Polnischen  dem 
Danteschen  Verse  entsprechen,  aber  reimlos.  Diese  Umarbeitung 
erfuhren  jedoch  in  dem  vorliegenden  Manuskripte  blofs  die  Gesänge 
I. — IV.  des  „Inferno",  und  da  ist  auch  das  vom  Übersetzer  gebrauchte 
Löschblatt  liegen  geblieben.  Auch  blofs  bei  diesen  4  Gesängen  ist 
unter  dem  Datum  des  ersten  Entwurfes,  welches  am  Schlüsse  jedes 
Gesanges  ersichtlich,  auch  das  Datum  der  Überarbeitung  zu  lesen. 
Dafs  Kraszewski  jedoch  auch  Weiteres  überarbeitet  hat,  davon  zeugen 
mit  Tinte,  seltener  mit  Bleistift  gemachte  metrische  Bearbeitungen  ver- 
schiedener Stellen,  zuweilen,  wo  genügend  Raum  war,  auf  dem  Papier 
des  ersten  Entwurfes,  also  in  das  gebundene  Buch  hineingeschrieben, 
oder  aber  auf  besonderen,  teilweise  anderweitig  beschriebenen  Zetteln 
und   Bogen,   von   denen  eine  Anzahl   in   dem   Buche  liegt.     Solche 


Das  Manuskript  von  Kraszewskis  Dante-UberseUung.  425 


metrische  Bearbeitungen  finden  sich  zu  folgenden  Gesängen:  „Inferno 
XV.,  XXXIV.,  „Purgatorio"  L,  IV.,  VI.,  XI.  (vollständig),  XXVII., 
XXVIIL,  XXXI.,  «Paradisq«  III.,  XVU.,  XXXL,  XXXII.,  XXXffl. 
Offenbar  bediente  sich  der  Übersetzer  mit  Vorliebe  besonderer  Zettel, 
weil  die  dichtgedrängten  Zeilen  des  ersten  Entwurfes  nicht  Raum 
liefsen  für  die  Überarbeitung,  insbesondere,  da  Kraszewski  manche 
Stelle  zwei  und  dreimal  umarbeitete. 

Zu  Anfang  1863  verliefs  Kraszewski  auf  Befehl  der  Regierung 
den  Boden  seines  Heimatlandes.  Von  Warschau  ging  er  nach  Dresden 
und  liefs  sich  daselbst  nieder.  In  Dresden  unternahm  er  1864  die 
Übersetzung  Dantes.  Auch  über  seinem  Haupte  schwang  der  Fluch 
der  Verbannung  die  unheilschweren  Fittige  wie  über  dem  grofsen 
Florentiner.  Er  versenkte  sich  in  dessen  Lebenswerk.  Kein  Tag 
vergeht,  ohne  dafs  er  einen  oder  mehrere  Gesänge  im  ersten  Entwurf 
hinschriebe.  In  13  Tagen  (27.  Februar  bis  10.  März)  war  „die  Hölle*^ 
in  weiteren  13  (11.  bis  23.  März)  „das  Fegefeuer",  in  22  Tagen 
(24.  März  bis  14.  April)  „das  Paradies"  im  ersten  Entwürfe  fertig. 
Diese  Schnelligkeit  nimmt  Keinen  Wunder,  der  mit  Kraszewskis  Art 
zu  arbeiten  bekannt  ist.  Wie  immer,  beschränkte  er  sich  natürlich 
auch  damals  ganz  und  gar  nicht  auf  eine  einzige  Beschäftigung,  sondern 
Romane,  Novellen,  Korrespondenzen  u.  s.  w.  nahmen  ihn  zu  gleicher 
Zeit  ein. 

Nach  dem  Abschlufs  des  ersten  Entwurfes,  der  jetzt  zum  Buch- 
binder gewandert  sein  mufs,  tritt  eine  dreimonatliche  Pause  ein.  Erst 
den  15.  Juli  wird  der  I.,  den  16.  der  IL  und  III.,  den  22.  Juli  der 
IV.  Gesang  in  metrische  Form  gebracht,  der  I.  Gesang  findet  sich 
sogar  zum  Unterschiede  von  dem  Entwurf  grofs  und  deutlich 
geschrieben,  offenbar  in  endgiltiger,  far  den  Druck  bestimmter  Kopie 
dem  Buche  eingeklebt.  Dann  hören  leider,  wie  schon  oben  bemerkt, 
alle  Daten  der  Überarbeitung  auf;  erst  aulF  dem  losen  Bogen,  welcher 
die  metrische  Bearbeitung  des  „Paradiso"  XXXL  enthält,  finden  wir 
neben  dem  14.  April  1864,  dem  Datum  des  Entwurfes,  das  Datum  der 
Umarbeitung:  den  15.  Februar  1865. 

Nach  all  dem,  was  bisher  dargelegt  wurde,  scheint  keinem  Zweifel 
zu  unterliegen,  dafs  Kraszewski  die  metrische  Übersetzung  der  ganzen 
„Divina  Commedia"  vollendet  habe.  Sowohl  der  erste  Entwurf,  wie 
die  metrische  Redaktion  wurden  offenbar  systematisch  von  Gesang  zu 
Gesang  gearbeitet.  Mit  dem  Frühjahr  1865  war  das  vor  einem  Jahre 
begonnene  Werk  fertig.  1866  erschienen  in  der  „Biblioteka  Warszawska" 
die  letzten  3  Gesänge  der  „Commedia",    „Paradiso  XXXI  — XXXIII. 

Dafs  Kraszewski  an  die  Herausgabe  seiner  Übersetzung,  und  zwar 
in  einer  illustrierten  Ausgabe,  gedacht  und  seine  Arbeit  vollendet 
haben  mufs,  dafür  finden  wir  noch  einen  Beweis  in  einem  dem  „Pur- 
gatorio"  vorgeklebten  Bogen,  worin  10  Holzschnitte  aufgezählt  und 
die  zugehörigen  Stellen  in  der  metrischen  Übersetzung  Kraszewskis 
citiert  werden.     Die  Stellen  sind  den  Gesängen  I.  (2  Stellen),  IV.,  V., 


i26  Albert  Zipper. 


XITL,  XIX.,  XX.,  XXVIl,  XXVra.  und  XXXIII.  des  „Purgatorio" 
entnommen. 

Leider  dürften  die  Zettel  und  Bogen,  auf  denen  Kraszewski 
die  endgiltige  Redaktion  niederschrieb,  verloren  gegangen  sein,  was 
in  Anbetracht  dessen,  dafs  die  Manuskripte  Kraszewskis  Legion  waren 
und  dafs  seine  Bibliothek  und  seine  Papiere  vielfach  herumwanderten, 
leicht  erklärlich  ist.  Wohl  wäre  zu  wünschen,  aber  erscheint  kaum 
erfüllbar,  dafs  die  losen  Zettel,  die  ja  am  leichtesten  verloren  gehen, 
als  unnötig  weggeworfen  werden  konnten,  sich  fanden  und  die  ganze 
Übersetzung  Kraszewskis  bekannt  würde. 

Dem  Manuskript  vorgeklebt  ist  von  Kraszewskis  Hand  der  g^ofs 
und  deutlich  geschriebene,  für  den  Druck  bestimmte  Titel:  [Komedja 
Boska  [Danta  [Alighieri  [przeklad  wierszem  miarowym  [J.  I.  Kra- 
szewskiego.  (Die  göttliche  Comödie  des  Dante  Alighieri,  metrische 
Übersetzung  von  J.  I.  Kraszewski.)  Und  darunter  folgendes  Motto, 
welches  auch  auf  das  Titelblatt  kommen  sollte: 

E  pero  sappia  ciascuno,  che  nulla  cosa  per  legame  musaico  ar- 
monizzata  si  puö  della  sua  loquela  in  altra  trasmutare  senza  rompere 
tutta  sua  dolcezza  e  armonia.  Dante.  Convito  T.  I.  c.  7. 

Auf  einem  anderen  beigeklebten  Blatte  sehen  wir  eine  von  Kra- 
szewski gezeichnete  Kopie  des  bekannten  Danteporträts  (Dante  im 
Alter).  Auch  auf  einem  der  Manuskriptzettel  findet  sich  eine  Zeich- 
nung Kraszewskis,  der  Malen  und  Zeichnen,  letzteres  bis  in  seine 
letzten  Lebenstage,  als  Liebhaber  mit  Erfolg  trieb. 

Inwieweit  das  hier  auf  Grund  des  Manuskripts  Mitgeteilte  die  zu 
Anfang  erwähnte  Stelle  der  Jubiläums-Publikation  berichtigt,  bedarf 
nicht  weiterer  Auseinandersetzung. 


Lemberg. 


BESPRECHUNGEN. 


-•••- 


RUDOLF  SCHWARTZ:  Esther  im  deutschen  und  neulateinischen 
Drama  des  Re/ormationszeitalters.  Eine  litterarhistorische  Unter- 
suchung. Oldenburg  und  Leipzig  o.  J.  ft8p4j,  Schulzesche  Hof- 
Buchhandlung  und  Hof'Buchdruckereu    2jy  S.     8^.    4  Mk. 

Während  diejenigen  biblischen  Stoffe,  die  sich  im  Reformations- 
zeitalter einer  grofsen  Beliebtheit  erfreuten,  wie  Josef  und  der  ver- 
lorene Sohn,  eine  Reihe  von  Dramatikern  anzogen,  die  eine  t)edeutende 
dramatische  Leistung  aufzuweisen  haben,  hat  der  Estherstoff  zwar  auch 
eine  Reihe  von  dramatischen  Bearbeitungen  gefunden,  aber  nur  wenige, 
die  den  Ansprüchen  an  ein  Kunstwerk  genügen.  Man  kann  eigentlich 
nur  Naogeorgs  Hamanns  und  dem  ihm  nachgebildeten  Drama  des 
Chryseus  ein  verdientes  Lob  zusprechen;  alle  übrigen  Dichter,  die 
sich  mit  dem  Estherstoff  beschäftigt  haben,  sind  unbedeutend.  Das 
hat  auch  der  Verfasser  der  vorliegenden  Untersuchung  erkannt  und 
die  Urteile,  die  er  über  die  einzelnen  Dramatiker  fallt,  sind  richtig 
und  zutreffend.  So  heifst  es  von  Hans  Sachs,  dafs  seine  dramatische 
Technik  noch  auf  einer  sehr  tiefen  Stufe  stehe,  und  ebenso  in  Bezug 
auf  die  zweite  Hans  Sachsische  Bearbeitung,  dafs  der  Dichter  in 
23  Jahren  als  Dramatiker  keine  merklichen  Fortschritte  gemacht  habe ; 
von  Voith,  dafs  seine  Technik  noch  auf  einer  niedrigeren  Stufe  stehe 
als  die  des  Hans  Sachs,  dafs  von  dramatischer  Entwicklung  keine 
Spur  zu  finden  sei;  ebenso  von  Pfeilschmidt;  von  Pfeffer,  dafs  sein 
Drama  ein  durchaus  kompilatorisches  Machwerk  sei;  von  Murer,  dafs 
sein  Stück  über  das  Niveau  der  Mittelmäfsigkeit  nicht  hinausgehe;  von 
der  Berner  Hester,  dafs  sie  eine  litterarische  Bedeutung  kaum  be- 
anspruchen könne  u.  s.  w.  Es  war  daher  sehr  fraglich,  ob  es  sich 
lohnte,  eine  so  eingehende  Analyse  aller,  auch  der  vielen  unbe- 
deutenden und  wertlosen  Estherdramen  zu  geben,  wie  es  der  Ver- 
fasser getan  hat.  Referent  hat  selbst  einmal,  nachdem  er  schon  ver- 
schiedene Estherdramen  besprochen  und  beurteilt  hatte,  den  Gedanken 
gehabt,  eine  zusammenhängende  Darstellung  zu  liefern,  aber  er  ist 
davon  wieder  abgekommen,  weil  er  sich  von  dem  für  die  Litteratur- 
geschichte  zu  erhoffenden  Ertrage  nicht  viel  versprach.  Indessen  da 
der  Verfasser  der  vorliegenden  Arbeit  sich  einmal  der  grofsen  Mühe 


428  Besprechung^en. 


unterzogen  hat,  jede  dramatische  Bearbeitung  des  Estherstoffes  auf 
ihren  ästhetischen  Wert  oder  Unwert  hin  zu  prüfen,  so  wollen  wir 
seinen  Eifer  anerkennen,  zumal  da  wir  ihm  bezeugen  können,  dafs  er 
mit  klarem  Verständnis  und  mit  liebevoller  Hingabe  den  an  sich 
spröden  Gegenstand  behandelt  hat.  Dabei  hat  er  keine  Mühe  gescheut, 
den  bisdahin  noch  unbekannten  Standort  manches  Estherdramas  aus- 
findig zu  machen  und  sich  das  betreffende  Exemplar  selbst  von  fi-emd- 
ländischen  Bibliotheken  zu  erbitten;  ja  selbst  die  nur  handschriftlich 
vorhandenen  hat  er  eingesehen  und  einer  Analyse  unterzogen,  um 
eine  möglichst  ausgiebige  Vollständigkeit  zu  erzielen.  Zwar  wird  inuner 
nur  der  Standort  des  einzigen  vom  Verfasser  benutzten  Exemplares 
angegeben,  und  nur  dann  und  wann  wird  nach  Goedeke  oder  Roth- 
schild ein  zweites  oder  drittes  nachgewiesen ;  aber  es  war  ja  nicht 
seine  Absicht,  eine  Bibliographie  des  betreffenden  Dramas  zu  geben, 
und  wir  können  schon  zufrieden  sein,  dafs  Goedeke  in  dieser  Be- 
ziehung mehrfach  vervollständigt  ist.  Ich  will  nur  erwähnen,  dals  das 
Drama  des  Chryseus  und  des  Mauricius  auf  der  Leipziger  Universitats- 
bezw.  Stadtbibliothek  sowie  in  Berlin  vertreten  ist. 

Bei  dem  anerkennenswerten  Bestreben,  die  litterarische  Zusammen- 
gehörigkeit der  einzelnen  Estherdramen  und  ihrer  Abhängigkeit  von 
einander  festzustellen,  sah  sich  der  Verfasser  veranlaist  jedem  Drama 
eine  ausfuhrliche  Analyse  zu  widmen;  das  Ergebnis  hat  er  in  einem 
Seite  171  aufgestellten  Stammbaum  in  graphischer  Darstellung  ge- 
geliefert, aus  dem  ersichtlich  ist,  dafs  nur  Hans  Sachs,  Voith  und 
Naogeorg  selbständig  gearbeitet  haben  und  dafs  sie  von  den  nach- 
folgenden benutzt  worden  sind.  Es  ist  jedoch  nicht  recht  klar,  warum 
der  Verfasser  sich  entschlossen  hat,  diejenigen  Dramen,  die  unter  sich 
in  einem  engeren  Abhängigkeitsverhältnisse  —  Konnex  oder  organischem 
Konnex,  sagt  der  Verfasser  —  in  zwei  Gruppen  zu  verteilen,  während 
doch  eigentlich  drei  durch  die  oben  genannten  Urheber  bestimmte 
Gruppen  entstehen.  Richtiger  wäre  es  dann  gewesen  zu  sagen:  zur 
ersten  Gruppe  gehören  Hans  Sachs  und  Voith  mit  ihren  Ausläufern, 
zur  zweiten  Naogeorg  mit  seinen  Übersetzern  und  Uberarbeitem. 
Unter  den  letzteren  befindet  sich  der  Verfasser  eines  bisher  noch  un- 
bekannten, in  der  königlichen  Hof-  und  Staatsbibliothek  zu  München 
handschriftlich  erhaltenen  Jesuitendramas  aus  der  Zeit  von  1576 — 79, 
und  Caspar  Wolfs  Drama,  das  die  Universitäts-Bibliothek  zu  Basel  in 
einer  Handschrift  bewahrt  und  auf  das  bereits  Bächtold  aufmerksam 
gemacht  hat.  Wolfs  Drama  ist  von  Schwartz  im  Anhang  abgedruckt 
worden.  Desgleichen  war  das  Drama  eines  unbekannten  Verfassers 
von  der  stolzen  Vasthi,  das  Schwartz  in  Darmstadt  fand,  bisher  un- 
bekannt. 

In  einem  dritten  Abschnitt  werden  diejenigen  Dramen  behandelt, 
die  kein  bestimmtes  Abhängigkeitsverhältnis  erkennen  lassen.  Es  sind 
lateinische  Bearbeitungen,  von  denen  einige  bei  Goedeke  nicht  ge- 
nannt sind,  wie  Eutrachelius  (1549),  Fabronius  (1600  —  aus  einer  Hand- 
schrift der  Casseler  Liandesbibliothek  — )  und  Zevecotius  (1623).     Die 


Besprechungen.  429 


Jesniten-Scenarlen,  die  die  Jahre  1627  — 1683  umfassen,  sind  den  Hof- 
und  Staatsbibliotheken  zu  München  und  Wien  entnommen.  Zuletzt 
folgt  noch  eine  Übersicht  über  die  dramatischen  Behandlungen  des 
JEstherstoffes  aus  späterer  Zeit,  obgleich  dies  aufserhalb  des  Rahmens 
der  vorliegenden  Untersuchung  lag. 

Vermifst  haben  wir  ungern  biographische  Nachweise  über 
die  einzelnen  Dramatiker.  Es  ist  doch  immerhin  lehrreich,  zu 
wissen,  mit  wem  wir  es  tun  haben.  Die  meisten  sind  zwar 
Geistliche  oder  Schulmeister  gewesen,  aber  warum  soll  man 
nicht  erfahren,  wo  und  in  welcher  Stellimg  sie  gelebt  und  gewirkt 
haben?  Referent  hat  sich  bei  seinen  litterarischen  Untersuchungen 
jedesmal  danach  umgesehen,  welche  Stellung  der  betreffende  Drama- 
tiker im  Leben  eingenommen  hat;  es  lassen  sich  dann  mancherlei 
Schlüsse  auf  seine  Umgebung,  auf  seine  Zeitgenossen  u.  a.  machen. 
Goedekes  grofs  angelegtes  Werk  würde  eher  einem  Bücher-  oder 
Schriftenverzeichnis  als  einem  litterargeschichtlichen  Grundrifs  gleichen, 
wenn  darin  nicht  auch  das  biographische  Moment  stets  berücksichtigt 
worden  wäre.  Natürlich  bei  Männern  wie  Hans  Sachs  und  Naogeorg 
hätte  der  Hinweis  auf  die  hervorragendsten  Biographien  genügt;  aber 
auch  die  andern  alle  flöfsen  uns  ein  litterarisches  Interesse  ein, 
dem  Schwartz  nicht  entgegenkommt.  Und  hätten  nicht  Pfeilschmidt 
und  Pfeffer  sich  selbst,  der  eine  als  Geiger  und  Buchbinder  zu  Cör- 
bach,  der  andere  als  Schreib-  und  Rechenmeister  in  Braunschweig, 
auf  den  Titeln  ihrer  Dramen  genannt,  so  würden  wir  sicherlich  nicht 
erfahren,  in  welcher  Lebensstellung  diese  grofsen  Dramatiker  ge- 
standen haben. 

Von  Druckfehlern  möchte  ich  verbessern:  S.  91  Z.  i  divitiae,  S.  124 
Z.  21  Termini,  S.  142  Anm.  i  secundum,  S.  226  Z.  16  besitzt,  S.  256 
Anm.  5  No.  IV,  i,  S.  265  letzte  Z.  251  statt  25. 

Wilhelmshaven.  Hugo  Holstein. 


Letteratura  Norvegtana  del  Doit  Santi  ConsoH,  Docente  privaio  in 
Catania.  Mt'lano,  Ulr.  Hoepli  xSg^  (Manuali  Hoepli  CXLVIJ 
XVI  ^o  S.  i6\ 

Die  bekannte  und  mit  Recht  gerühmte  Sammlung  Hoepli,  die  ein 
hervorragendes  populäres  Bildungsmittel  des  modernen  italienischen 
Geisteslebens  geworden  ist  (vgl.  das  kundige  Urteil  Scartazzinis,  Beil. 
zur  Allg.  Zeitung  1893  No.  97),  bringt  in  ihrem  neuesten  Bändchen 
eine    norwegische  Litteraturgeschichte;    ein   erfreuliches   Zeichen    der 


430  BesprechoDg^en. 


Steigenden  Aufmerksamkeit,  die  man  in  Italien  der  jüngsten  der 
germanischen  Litteraturen  zuwendet,  zugleich  ein  ehrenvolles  Zexig- 
nis  für  den  umfassenden  redaktionellen  Blick  der  Leitung:  dieser 
Sammlung. 

Der  Verfasser  hat  den  Begriflf  »Norwegische  Litteratur*  in  weitestem 
Umfange  gefafst,  und  fuhrt  den  StoflF  in  drei  Perioden  (Altnorw.  Litt-, 
Dänische  Periode,  Das  XIX.  Jhr.)  wohlgegliedert,  klar,  und  z-  T.  mit 
überraschender  Reichhaltigkeit  seinen  Lesern  vor;  nicht  leicht  dürfte 
ein  bedeutenderer  Schriftstellemame  des  modernen  Norwegen  vermilst 
werden.  Den  Anspruch  originaler  Untersuchungen  und  Ergebnisse  an 
ein  Werkchen  mit  dem  Zwecke,  den  die  ganze  Sammlung  hat,  stellen 
zu  wollen,  wäre  unbillig.  Genug  an  dem,  dafs  der  Verfasser  verstanden 
hat,  mit  Fleifs  und  Umsicht  sich  in  einen  Teil  des  ihm  sprachlich  wie 
geographisch  so  endegenen  Stoff  einzuarbeiten  und  ihn  seinen  Lesern 
geschickt  und  zweckentsprechend  darzubieten.  Kein  Vorwort  giebt 
darüber  Aufschlufs,  unter  welchen  Umständen  der  Verfasser  die  Arbeit 
zu  vollfuhren  hatte,  ob  er  in  der  Lage  war,  in  Skandinavien  seine 
Vorarbeiten  zu  machen,  oder  sich  auf  die  Werke  beschränken  mufste, 
die  ihm  in  seiner  Heimat  zugänglich  waren,  was  zu  wissen  für  die 
Billigkeit  des  Urteils  über  die  Mängel  des  Werkes  nicht  unwichtig  wäre. 
Auch  über  die  Quellen,  an  die  er  sich  gehalten,  ist  nichts  direkt  ge- 
sagt, während  es  doch  auch  dem  Buche  nur  zum  Vorteil  hätte  ge- 
reichen können,  mit  einer  kleinen  ausgewählten  Bibliographie  versehen 
zu  werden,  an  statt  der  in  Noten  gegebenen  zufalligen  Hinweise,  die 
den  Leser  schwerlich  fördern.  Am  schlechtesten  beraten  war  der 
Verfasser  jedesfalls  in  der  Altnorwegischen  Periode;  von  der  ganzen 
modernen  wissenschaftlichen  Litteratur  über  dieselbe  scheint  er  keine 
Kenntnis  zu  besitzen;  für  die  Eddafragen  wird  beständig  auf  Bergmann 
hingewiesen,  und  die  sonstigen  litterarischen  Hinweise  in  den  Noten 
sind  ähnlichen  Schlages:  Torfaeus,  Schöning,  Suhm,  und  andere 
antiquierte  Autoritäten.  Dem  entspricht  auch  die  gänzlich  veraltete 
und  unbrauchbare  Darstellung  der  betreffenden  Periode  im  Texte, 
begleitet  von  offenbarer  Unkenntnis  der  Sprache,  die  in  Citaten  zu 
Tage  tritt:  Die  altnordische  Sprache  habe  gewöhnlich  „danska  tüngu" 
geheifsen;  der  Verfasser  der  Heimskringla  heifst  in  den  Noten  S.  14 
„Snorra  Sturlasyni"  (sie!  als  Nominativ  gebraucht);  u.  ähnl.  mehr.  Es 
hiefse  den  betreffenden  Abschnitt  neu  schreiben,  wollte  man  hier  alle 
die  groben  und  kleinen  Fehler  des  Buches  korrigieren.  Ein  paar 
Proben  genügen.  Die  sog.  Eddagedichte  gehen  in  das  „siebente 
und  achte  Jahrhundert"  zurück  (S.  24);  was  hier  der  Verfasser  zusetzt, 
nimmt  er  an  anderer  Stelle,  indem  er  den  Codex  Regius  erst  in  den 
Anfang  des  vierzehnten  Jahrhunderts  setzt  (S.  28).  Wer  das  Lied 
von  Skirnis  Werbung  mit  Lokasenna  und  Harbardslied  als  eine  Ver- 
spottung des  alten  Götterglaubens  in  eine  Reihe  stellt  (S.  30,  31)  hat 
es  schwerlich  gelesen;  so  wenig  als  jemand,  der  von  einem  Gegen- 
satze der  Formen  im  Alt-  und  Neuisländischen  spricht  (S.  15),  jemals 
einen    neuisländischen  Text    oder  eine  neuisländische  Grammatik  an- 


j 


Besprecfaungen.  481 


gesehen  hat.  In  diesem  Abschnitte  ist  der  Verfasser  seiner  Aufgabe 
ganz  und  gar  nicht  gewachsen,  und  man  mufs  im  Interesse  des  Buches 
nur  dringend  wünschen,  dafs  er  diese  Partie  von  Grund  auf  neu  be- 
arbeitet und  sich  hierbei  besser  informiert.  Sollte  er  aber  nicht  vor- 
ziehen, sie  ganz  fallen  zu  lassen?  Es  ist  eine  schöne  Sache  um  den 
nationalen  Sinn  der  Norweger,  der  sie  antreibt,  so  viel  als  möglich  von 
der  altisländischen  Litteratur  für  ihr  Land  in  Anspruch  zu  nehmen;  was 
aber  die  nüchterne  Kritik  Norwegen  zuzusprechen  in  der  Lage  ist,  ist 
so  wenig,  dafs  es  nicht  zu  einer  altnorweg^schen  Litteraturschilderung 
ausreicht,  die  mit  der  unvergleichlich  reicheren  isländischen  Litteratur 
untrennbar  verwachsen  ist.  Kann  jemand  die  in  Norwegen  gedichteten 
Eddalieder  getrennt  von  den  isländischen  Teilen  der  s.  g.  poetischen 
Edda  behandeln?  kann  die  Entwicklung  der  norwegischen  Skalden- 
poesie von  der  Islands  gesondert  dargestellt  werden?  Zum  Begriffe 
einer  nationalen  Litteratur  gehört  doch  mehr  als  die  blofse  geogra- 
phische Abgrenzung.  Entweder  wird  im  vorliegenden  Falle  ein  Litterar- 
historiker  sich  darauf  beschränken  müssen,  rein  äuiserlich  aus  der 
westnordischen  Litteratur  alle  Werke  und  Dichter  auszusondern,  die 
in  Norwegen  zu  Hause  sind,  oder  er  mufs  die  gesamte  isländische 
Litteratur  mit  hereinziehen,  wenn  er  nicht  auf  die  litterarhistorische 
Entwickelungsdarstellung  verzichten  will.  Consoli  schwankt  zwischen 
beiden  Gesichtspunken:  für  eine  blofs  norwegische  Litteraturgeschichte 
giebt  er  zu  viel,  für  eine  allgemein  westnordische  zu  wenig.  Das 
gleiche  gilt  mutatis  mutandis  auch  für  die  zweite  Periode,  die  Zeit 
der  s.  g.  „gemeinschaftlichen  Litteratur"  („Faelles-litteratur"),  d.  h.  die 
vier  Jahrhunderte  von  der  Kalmarischen  Union  bis  zur  Lostrennung 
Norwegens  von  Dänemark  1814.  Eine  norwegische  Nationallitteratur 
giebt  es  in  diesem  Zeiträume  nicht,  die  wenigen  Norweger,  die  littera- 
risch aufgetreten  sind,  haben  entweder  rein  provinzielle  Bedeutung 
oder  sie  nehmen  ihren  Platz  in  der  dänischen  Litteratur  ein,  wo  allein 
sie  litterarhistorisch  gewürdigt  werden  können.  Das  beste  Beispiel 
hierfür  ist  der  gröfste  Sohn  Norwegens  in  diesen  vier  Jahrhunderten, 
Ludwig  Holberg,  dessen  Ehrenname  „Vater  der  neueren  dänischen 
Litteratur"  alles  besagt.  Vorbedingungen  wie  Wirkungen  seiner 
litterarischen  Tätigkeit  liegen  in  der  dänischen  Litteratur,  und  daran 
können  die  paar  Norvagismen  seiner  Sprache,  auf  die  sich  Consoli 
(unter  Verweis  auf  Dietrichson)  beruft,  nichts  ändern.  Auch  hier 
bietet  sich  nur  die  Alternative,  entweder  die  dänische  Litteratur  mit 
in  Betracht  zu  ziehen,  oder  auf  eine  wirkliche  Litteraturgeschichte  zu 
verzichten.  Das  Geburtsland  allein  giebt  eben  noch  keinen  hinreichen- 
den Grund  für  die  litterarische  Einreihung  eines  Autors  ab. 

Von  norwegischer  Litteratur  kann  man  erst  seit  dem  Erwachen 
des  norwegischen  Nationalbewufstseins  reden,  und  mit  der  Darstellung 
der  ersten  Anfange  desselben,  die  sich  in  der  Gründung  der  Nor- 
wegischen Gesellschaft  in  Kopenhagen  1772  manifestieren,  hat  auch 
eine  norwegische  Litteraturgeschichte  zu  beginnen;  alles  vorhergehende 
kann  und  soll  nur  einleitungsweise  kurz  berührt  werden.     Wenn  der 

Ztachr.  t  rgl  Litt-G«Kh.    N.  P.  Vlll.  28 


489  Besprecbnngfen. 


Verfasser  hierüber  eine  kompetente  norwegische  Stimme  zu  hören 
wünscht,  so  sei  er  auf  die  Darstellung  von  J.  E.  Sars  in  seinem  grofsen 
Werke  „Udsig^  over  den  norske  Historie",  oder  auch  desselben  Autors 
Büchlein  „Historisk  Indledning  til  Grundloven"  verwiesen,  wo  er  eine 
allgemein  historische  Begründung  der  oben  ausgesprochenen  Meinung 
finden  kann.  Fafst  man  in  diesem  Sinne  den  Begriff  Nationallitteratur 
tiefer,  so  wird  man  schwerlich  die  norwegische  Litteratur  eine  der 
ältesten  und  reichsten  Europas  nennen  können,  wie  es  Verf  S.  i  tut, 
und  wird  von  früheren  Perioden,  in  denen  wir  nichts  speziell  nor- 
wegisches zu  erkennen  vermögen,  absehen.  Das  Ersparnis  von  fast 
hundert  Seiten,  die  Perioden  gewidmet  sind,  welche  teils  in  der  islän- 
dischen, teils  in  der  dänischen  Litteratur  ihren  Schwerpunkt  haben, 
wird  bei  einer  Neuauflage  dem  Verf.  Gelegenheit  geben,  die  Behand- 
lung der  eigentlichen  norwegischen  Litteratur,  seiner  dritten  Periode, 
voller  und  tiefer  auszugestalten,  und  über  eine  stellenweise  recht  dürre 
Aufzählung  von  Namen  und  Daten  zu  heben.  Die  Quellen,  denen  der 
Verf.  in  diesem  Abschnitte  folgt,  waren  ungleich  besser  als  die  für 
die  erste  Periode  benutzten,  und  man  kann  hier  den  Fleifs,  die  Um- 
sicht und  geschickte  Anordnung  seiner  Kompüation  nur  loben.  Der 
Abschnitt  ist  reich,  nur  zu  reich  an  mitgeteiltem  Stoffe;  was  das 
Kapitel  „La  prosa  scientifica  moderna^  mit  Aufzählung  nicht  blofs 
historisch-ästhetischer  Prosawerke,  die  man  sich  noch  gefallen  lassen 
könnte,  sondern  auch  zoologischer,  medizinischer,  juridischer  etc.  Ab- 
handlungen norwegischer  Gelehrter  in  einem  Abrifs  der  Litteratur 
zu  tun  hat,  ist  unldar,  wenigstens  pflegt  man  den  Begriff  ,Litteratur^ 
gewöhnlich  nicht  auf  Werke  wie  „Histoire  naturelle  des  crustaces 
d'eau  douce  de  Norvege",  „Über  die  provisorische  Behandlung  frischer 
Wunden"  oder  gar  Abhandlungen  über  die  Bereitung  des  Bieres 
(S.  264)  auszudehnen.  Dagegen  vermifst  man  die  schärfere  Charak- 
terisierung der  litterarischen  Strömungen.  Die  von  Henrik  Jäger  glück- 
lich genannte  „Hulder-Romantik"  ist  nicht  hinreichend  gekennzeichnet 
und  abgegrenzt;  der  Einflufs  von  Georg  Brandes*  Lehren,  der  zum 
Beispiel  in  der  Entwicklung  Bjömsons  so  scharf  und  ausgeprag^t  zu 
Tage  tritt,  und  überhaupt  der  gesamten  norwegischen,  wie  dänischen 
Litteratur  seit  1870  eine  neue  Richtung  gegeben  hat  —  ob  zu  ihrem 
Heile  oder  nicht,  mag  hier  unerörtert  bleiben  —  wird  nirgends  er- 
wähnt; und  ähnliches  mehr. 

Vieles  von  den  Mängeln,  die  getadelt  werden  mufsten,  beruht 
wohl  auf  den  besonderen  Verhältnissen,  unter  denen  der  Verf.  arbeiten 
mufste  und  die  sich  unserer  Kenntnis  entziehen.  Immerhin  bliebe  zu 
wünschen,  dafs  dem  Verf.  vergönnt  wäre,  bei  einer  Umarbeitung  sein 
Werk  von  den  Flecken  zu  befreien  und  namentlich  die  ganz  ver- 
unglückte erste  Periode  einfach  radikal  abzuschneiden,  die  jetzt  durch 
den  ungünstigen  Eindruck,  den  sie  hervorruft,  dem  sonst  brauchbaren 
und  verläfslichen  Büchlein  starken  Eintrag  tut.  Vielleicht  emancipiert 
sich  dabei  der  Verf.  auch  ein  wenig  von  seinen  norwegischen  Quellen 


Besprechungen.  483 


und  deren  Gesichtspunkten:  die  Behauptung,  dafs  die  politische  Tren- 
nung Norwegens  von  Dänemark  eines  der  wichtigsten  Ereignisse  der 
Geschichte  Europas  im  19.  Jahrhundert  sei  (pg.  7)  klingt  stark,  als  ob 
sie  aus  dem  Munde  eines  ,,norsk  Nordmand^^  stamme,  wird  aber 
schwerlich  viele  Anhänger  finden. 

Breslau.  Otto  L.  Jiriczek. 


-•••- 


ADOLF  STERN:  Studien  zur  Lüteraiur  der  Gegenwart.  Mit  neun- 
zehn  Porträts  nach  Originalaufnahmen.  Dresden.  Verlag  von 
V.  W.  Esche,  18g $.     VIII.  44^  S.  Lex.  8\   Mk.  10, $0;  geb.  12,^0. 

Unter  den  Versuchen,  den  Verlauf  unserer  litterarischen  Ent- 
wickelung  in  den  letzten  fünfzig  Jahren  geschichtlich  darzustellen,  ge- 
bührt der  Vorzug  noch  immer  der  Arbeit  Sterns  mit  der  er  i886 
Vilmars  „Geschichte  der  deutschen  Nationallitteratur"  bis  auf  die  Gegen- 
wart fortführte,  nachdem  er  soeben  im  6.  und  7.  Bande  seiner  „Ge- 
schichte der  neueren  Litteratur"  ähnliches  für  die  gesamte  europäische 
Litteratur,  die  deutsche  eingeschlossen,  geleistet  hatte.  Der  Anhang  zu 
Vilmar,  „Die  deutsche  Nationallitteratur  vom  Tode  Goethes  bis  zur 
Gegenwart",  ist  inzwischen  (Marburg  1894)  in  dritter  manigfach  ver- 
besserter und  bereicherter  Auflage  erschienen.  Je  mehr  sich  aber  für 
die  historische  Betrachtung  dabei  die  „führenden  Geister"  aus  der 
kaum  übersehbaren  Masse  der  neueren  Schriftsteller  hervorhoben, 
desto  mehr  mufste  Stern  auch  das  Bedürfnis  empfinden,  die  Charakte- 
ristik der  einzelnen  weiter  auszuführen  als  ihm  innerhalb  des  streng 
gezogenen  Rahmens  möglich  war.  Der  Wunsch  mufste  um  so  stärker 
sich  geltend  machen,  als  Stern  mit  mehr  als  einem  der  leitenden  Dichter 
persönlich  befreundet  war.  Aus  seinem  Briefwechsel  mit  Hebbel  hat 
Bamberg  im  zweiten  Bande  der  Hebbelschen  Briefsammlung  Mitteilung 
gemacht.  Stern  ist  als  Dichter  durch  Hebbel  gleichsam  in  die  Litteratur 
eingeführt  worden.  Mit  der  Charakteristik  Hebbels  eröflfnet  er  nun 
als  kritischer  Essayist  seine  Porträts  aus  der  Litteratur  der  Gegen- 
wart. Freilich  gehören  von  den  neunzehn  Charakterköpfen  bereits 
sechs  als  Menschen  der  Vergangenheit  an:  Hebbel,  Frey  tag,  Bodenstedt, 
Storm,  Keller,  ScheflFel.  Aber  der  g^öfste  Teil  ihrer  Werke  und  ihr 
Einflufs  sind  noch  in  der  Gegenwart  voll  Leben.  Ja  Sudermann  und 
Hauptmann  schulden  der  von  ihnen  Gröfseres  erwartenden  Zukunft 
erst  noch  ihre  Taten.  So  sind  es  wirklich  Ansprüche  der  Gegenwart, 
denen  Sterns  geistvolle  Studien  gerecht  zu  werden  streben.  Aufser 
den   bereits  genannten    sind   von  deutschen  Dichtern    noch    Fontane, 

88* 


484  Besprechuns^en. 


Baumbach,  Seidel,  Wildenbnich  und  Rosegger  behandelt,  von  schwedi- 
schen Viktor  Rydberg  und  Graf  Snoilsky.  Alfons  Daudet  ist  als 
Vertreter  der  neueren  französischen,  Walter  Besant  als  Vertreter  der 
neuesten  englischen  Litteratur  eingeführt.  Ibsen  und  Tolstoi  sind  nicht 
blofs  die  hervorragendsten  Erscheinungen  der  norwegischen  und 
russischen  Litteratur  unserer  Tage;  sie  haben  auf  unsere  eigene 
Litteratur  wahrend  des  letzten  Jahrzehnts  so  starke  Einwirkung  aus- 
geübt, dafs  sie  wenigstens  vorübergehend  Bürgerrecht  in  ihr  bean- 
spruchen können.  Zu  ihnen  sollte  sich  eigentlich  Zola  gesellen.  Aber 
Stern  erhebt  ja  keinen  Anspruch  darauf,  eine  systematische  Auswahl 
zusanunenzustellen.  Das  Buch  ist  aus  einzelnen  Vorträgen  hervorge- 
gangen. Innere  Neigung  und  vielleicht  auch  äufsere  Anlasse  haben 
Stern  bestimmt  gerade  diese  litterarischen  Charakterköpfe  zu  zeichnen. 
Und  für  die  Ausfuhrung  der  Zeichnung  wissen  wir  ihm  rückhaltlos 
Dank  und  Anerkennung. 

Diese  Essays  sind  nicht  nach  einer  Schablone  gehalten.  Fein- 
sinnig weifs  Stern  seine  Darstellung  der  jeweilig  behandelten  Indivi- 
dualität anzupassen.  So  wird  bei  Hebbel  aller  Nachdruck  auf  die 
Vorführung  der  Persönlichkeit  gelegt,  wie  sie  aus  den  Tagebüchern 
und  Briefen  in  herber  Gröfse  sich  erhebt,  bei  den  Romanschriftstellern 
steht  die  charakterisierende  Inhaltsangabe  ihrer  Hauptwerke  im  Vorder- 
grunde, und  erst  von  ihnen  aus  wird  der  Verfasser  selbst  beleuchtet. 
Die  Ausbildung  menschlicher  und  dichterischer  Eigenart  durch  alle 
Wandlungen  ihres  Lebensganges  wird  bei  Keller,  Scheflfel,  Bodenstedt 
veranschaulicht.  Besonders  Scheffel  ist  ausgezeichnet  charakterisiert. 
Bodenstedt  scheint  mir  etwas  überschätzt  zu  sein.  Sein  mifsglückter 
„Alexander  in  Korinth**  ist  zudem  keine  eigene  Dichtung,  sondern 
nur  eine  Bearbeitung  Lylys.  Aber  treflfend  wird  sein  Schaffen  doch 
wieder  charakterisiert  durch  Sterns  Urteü:  „Sein  Talent  behielt  einen 
improvisatorischen  Zug,  was  zu  gleicher  Zeit  einen  Vorzug  und  einen 
Mangel  bedeutete".  Etwas  zu  hart  will  mir  das  Urteil  über  Freiligrath 
(S.  i8)  scheinen,  ein  „unbequemer  Störenfried  bei  dem  Picknick  der 
zeitgenössischen  Litteratur".  Aber  um  Zustimmung  zu  jeder  Einzelheit 
handelt  es  sich  ja  auch  nicht.  Lie  poetische  Lebensempfindung  und 
das  gesunde  künstlerische  Genufsverlangen,  die  unbefangene  Würdi- 
gimg des  Lebensvollen  bezeichnet  Stern  selbst  als  das  Entscheidende 
in  der  Beurteilung  der  litterarischen  Erscheinungen.  Und  diese  Eigen- 
schaften verbinden  sich  bei  ihm  mit  gründlichster  Kenntnis  der 
modernen  Litteraturen,  einem  durch  eigenes  dichterisches  Schaffen 
gefestigten  Eindringen  in  die  poetische  Technik.  Die  modische  Me- 
thode, „die  für  jede  poetische  Erfindung  und  jede  lebendige  Gestalt 
eines  Dichters  am  liebsten  gedruckte  Quellen  fände"  verurteflt  er 
ebenso  wie  ,Jenen  deutschen  Gelehrtengeist,  der  im  Grunde  genommen 
alle  lebendige  Kunst  und  Dichtung  als  eitles  Spiel  mifsachtet".  Diese 
Mifsachtung  hat  ja  zu  jener,  lange  Zeit  als  vornehm  geltenden  Igno- 
rierung der  ganzen   nachgoetheschen  Litteratur  geführt,    die   sich  für 


Besprechungen.  486 


Litteratur  und  Litteraturgeschichte  als  gleich  schädlich  erwiesen  hat 
und  jetzt  in  der  Hauptsache  glücklich  überwunden  scheint.  Sterns 
„Studien  zur  Litteratur  der  Gegenwart"  sind  selbst  ein  erfreulicher 
Beweis  der  zwischen  lebendiger  Litteratur  und  Litteraturgeschichte 
gewonnenen  Fühlung.  Und  die  prächtige  Ausstattung,  welche  die  Ver- 
lagshandlung dem  Buche  angedeihen  liefs,  zeigt  wenigstens  von  der 
HoflFnung,  dafs  auch  weitere  Leserkreise  ernste  Belehrung  über  die 
bedeutenderen  Erscheinungen  der  Unterhaltungslitteratur  verlangen. 
Die  Fachgenossen  werden  sich  an  der  formvollendeten  Darstellung 
und  feinsinnigen  Beurteilung  erfreuen,  mit  der  Stern  altbekannte  Ge- 
stalten und  die  etwas  fremderen  schwedischen  Dichter  ihnen  aufs  neue 
so  anziehend  vor  Augen  zu  stellen  wufste. 

Breslau.  Max  Koch. 


-•••- 


HEITMÜLLER,  FERDINAND:  Adam  Gottfried  Uhlüh;  Holländische 
Komödianten  in  Hamburg  1^40  und  ly^i.  Hamburg  und  Leipzig, 
Vo/s,  i8p4.  X,  ijj  S.  S^.  (Litzmanns  Theatergeschichtliche 
Forschungen  Bd.  8.) 

Durch  seine  1891  erschienene  Schrift  ^Hamburgische  Dramatiker 
zur  Zeit  Gottscheds  und  seine  Beziehungen  zu  ihm^  (von  mir  besprochen 
im  Litteraturblatt  für  germanische  und  romanische  Philologie  1893 
S*  '55)  ^^  sich  Heitmüller  als  Forscher  auf  theatergeschichtlichem 
Gebiete  bereits*  vorteilhaft  bekannt  gemacht.  In  dem  vorliegenden 
Hefte  sind  zwei  Abhandlungen  vereinigt,  deren  erste  einem  fast  ver- 
gessenen Schauspieler  und  Dichter  des  vergfangenen  Jahrhunderts, 
Adam  Gottfried  Uhlich,  gewidmet  ist.  Er  war  „einer  von  jenen 
akademisch  gebildeten  jungen  Leuten,  die  mit  einem  geringen  schau- 
spielerischen Talent  ein  etwas  gröfseres  schriftetellerisches  vereinigten, 
die  infolge  dessen  zum  Theater  drängten  und  die  eben  durch  diese 
Doppelbegabung  für  jeden  strebsamen,  mit  der  Zeit  fortschreitenden 
Bühnenleiter  einen  unschätzbaren  Gewinn  bildeten":  so  charakterisiert 
ihn  in  Kürze  Litzmann  in  seiner  Biographie  Schröders  (i,  11).  Mit 
liebevoller  Hingabe  ist  Heitmüller  nun  Uhlichs  Lebensbeziehungen  und 
seiner  schriftstellerischen  Betätigung  nachgegangen  und  es  ist  ihm  ge- 
lungen, aus  einer  Menge  weitzerstreuten,  bisher  unbekannten  Stoffes, 
wenn  auch  hie  und  da  ihm  unaufhellbare  Punkte  geblieben  sind,  eine 
monographische  Skizze  zusammenzustellen,  die  den  Eindruck  eines  ge- 
schlossenen Ganzen  macht.  Gewifs  ist  Uhlichs  Wechsel-  und  dornen- 
voller Lebensweg  geradezu  typisch  für  eine  grofse  Gruppe  von  gut- 
beanlagten   Existenzen,    die   damals  nicht  zur  Entwicklung  und  Reife 


486  Besprechttfis^eB. 

kamen.  Ob  der  Verfasser  seine  Abhandlung  mit  Glück  in  zwei  Teile 
„Leben"  und  „Werke"  zerlegt  hat,  möchte  ich  bezweifeln:  das  Un- 
zulängliche dieser  technischen  Anordnung  macht  sich  durch  die  vielen 
Verweisungen  auf  die  spätere  Besprechung  der  Werke  im  voraus- 
gehenden Lebensabrifs  und  noch  mehr  durch  die  Verstreuung  der 
höchstinteressanten  Briefe  Uhlichs  an  Gottsched  in  bdde  Abschnitte 
deutlich.  In  Uhlichs  wechselvollem  Leben  nimmt  naturgemäfs  unser 
gröfstes  Interesse  seine  Beziehung  zu  Gottsched  in  Anspruch,  auf 
deren  Entwicklung  HeitmüUer  auch  ein  Hauptgewicht  legt;  die  nach 
Gervinus'  etwas  scharfem  Ausdruck  „erbärmlichen"  Theaterstucke 
werden  in  einigen  typischen  Vertretern  eingehend  besprochen,  auch 
Proben  aus  ihnen  mitgeteilt.  Besonderer  Dank  gebührt  dem  Wieder- 
abdruck der  tiefempfundenen  „Beichte  eines  chrisdichen  Komödianten" 
(S.  94).  Bei  der  Au&ählung  von  Uhlichs  dramaturgischen  Arbeiten 
S.  91  hätten  die  Angaben  aus  seinen  Briefen  an  Gottsched  S.  18  und  19 
wieder  mitberücksichtigt  werden  sollen,  dafs  er  eine  Übersetzung  von 
Riccobonis  Reflexions  sur  tous  les  theätres  de  l*£urope  begonnen 
und  „Regeln  für  Schauspieler",  um  Goethes  Titel  zu  wählen,  „Ver- 
schiedene Anmerkungen,  insoweit  sie  den  Komödianten  angehen",  zu- 
sammengestellt hat;  von  beiden  Ausarbeitungen  scheint  nichts  durch 
den  Druck  bekannt  geworden  zu  sein.  —  Im  einzeben  habe  ich  fast 
nichts  zu  bemerken.  Die  S.  3  Anm.  4  zum  Schlufs  erwähnte  Angabe 
Löwens,  Uhlich  sei  aus  Beigern  gebürtig,  wird  mit  seiner  dortigen 
Tätigkeit  als  Advokatenschreiber  (S.  6)  irgendwie  zusammenhängen. 
S.  40  vorletzte  Zeile  verlangt  der  Vers  „Heldenmut".  —  Eine  allge- 
meine Ausstellung  mufs  ich  an  den  sprachlichen  Sammlungen  machen, 
die  Heitmüller  hie  und  da  aus  Uhlichs  Schriften  giebt.  Schon  in  der 
Besprechung  seines  früheren  Werkchens  habe  ich  Heitmüllers  Auf- 
fassung verschiedener  sprachlicher  Formen  tadeln^  müssen,  die  er  als 
willkürliche,  des  Metrums  wegen  vorgenommene  Änderungen  auffafst, 
während  es  nichts  anderes  als  Dialekteigenheiten  der  Dichter  sind; 
so  bezeichnet  er  auch  hier  fälschlich  als  „des  Verses  wegen  vorge- 
nommene Wortumbildungen"  Formen  wie  „brachtst",  „machtst",  „er- 
hübe" (S.  50),  „Wiesenwachs",  „sich  wegern",  „redte",  „Ungelücke" 
(S.  65),  wgnug",  „Bräutgam",  „mindste",  „zärtlichs"  (S.  69);  an  der 
letzten  Stelle  spricht  er  sogar  von  „willkürlicher  Elision  des  bestinunten 
Artikels"  in  Wendungen  wie  „sich  in  nächsten  Graben  stürzen",  wo 
doch  dialektische  Assimilation  aus  „in'n"  vorliegt  wie  so  oft  beim 
jungen  Goethe.  Nicht  auffällig,  wie  Heitmüller  S.  61  und  69  meint, 
sind  für  die  Sprache  des  vorigen  Jahrhunderts  „anstehen"  und 
„Hinderniss"  als  Femininum;  nur  graphisch  ist  der  Wechsel  von  „-gen" 
und  „-chen"  im  Diminutivsuffix,  deren  Nebeneinander  Heitmüller  nicht 
erklären  kann  (S.  50,  65,  69,  85).  „Dahlen"  endlich  (S.  43,  61)  be- 
deutet nicht  „küssen",  sondern  überhaupt  „tändeln"  von  Verliebten 
und  begegnet  auch  im  Werther  (Der  junge  Goethe  3,  283). 

Die  zweite  Abhandlung  schildert  Spielplan  und  Charakter  zweier 
holländischer   Komödiantentruppen,   die  1740  und  1741    in    Hamburg 


Besprechungen.  4S7 


spielten;  eingeleitet  wird  sie  durch  einen  kurzen  Überblick  über 
holländische  Truppen  in  Hamburg  vor  jenem  Zeitpunkt.  Der 
Charakter  des  holländischen  Theaters,  wie  es  auch  noch  zu  Georg 
Forsters  Zeiten  war,  der  es  in  den  Ansichten  vom  Niederrhein  schildert, 
lieg^,  wie  bekannt,  vor  allem  in  der  besonderen  Betonung  des  deko- 
rativen imd^mimisch-orchestischen  Teils  der  Bühnenwerke,  die  bald 
genug  zur  Übertreibung  wurde;  dieselben  Eigenheiten  zeigen  auch  die 
Stücke  jener  Wandertruppen,  die  der  Verfasser  kurz  mustert.  Unter- 
suchungen vergleichend-litterargeschichtlicher  Natur  hat  derselbe  nicht 
beigefügt,  über  welche  ja  an  dieser  Stelle  vor  allem  zu  berichten  sein 
würde.  —  Die  Bühnenkunst  der  holländischen  Rhetoriker  (Rederykers) 
betreffend  (S.  loi),  kann  auf  te  Winkels  Aufsatz  in  Pauls  Grundrifs 
der  germanischen  Philologie  2,  i,  481  verwiesen  werden,  wo  auch 
weitere  Litteratur  angegeben  ist. 

Weimar.  Albert  Leitzmann. 


•••- 


Kurze  Anzeigen. 


Schon  wiederholt  hatte  ich  Gelegenheit  in  dieser  Zeitschrift  (VI,  144;  YD,  233 
und  490)  die  trefflichen  MSrchensammlungen  von  Jacobs,  wobei  Herausgeber,  Künstler 
und  Verleger  ihr  Bestes  taten,  zu  rühmen.  Dem  ersten  Bande  der  keltischen  Volkssagen 
folgte  nun  ein  zweiter,  gleich  angelegt,  ausgeführt  und  ausgestattet:  More  celtic  fairy 
tales,  selected  and  edited  by  Josef  Jacobs,  illustrated  by  John  D.  Batten.  London, 
David  Nutt  1894.  X,  334  S.  8^  Von  den  ao  Stücken  sind  die  meisten  gälischer  Her- 
kunft, irisch  oder  schottisch,  zwei  kymrlsch.  Die  Anmerkungen,  kurz  gehalten,  geben 
doch  die  nötigen  Nachweisungen.  Die  Bilder  sind  wie  immer  stilvoll  und  von  köst- 
lichem Humor  erfüllt.  Die  in  den  zwei  Bänden  veröffentlichten  46  keltischen  Sagen 
gewähren  nur  eine  kleine  Auslese,  während  die  87  englischen  die  wesentlichsten  Typen 
darbieten.  Jacobs  ist  sich  dessen  wohl  bewufst,  er  ist  im  englischen  Märchenschatze 
auch  mehr  zu  Hause,  aber  auch  seine  keltische  Auswahl  verdient  alles  Lob. 

Rostock.  Wolfgang  Golther. 

Das  in  den  Anmerkungen  zu  Reuchlins  Obersetzung  (S.  410)  erwähnte  Gynmasial- 
programm  „Lucianstudien**  von  Johannes  Ren t seh  (Plauen  i.  V.  1895)  besteht  aus  zwei 
Teilen:  einer  anziehend  und  treffend  durchgeführten,  vergleichenden  Charakteristik  von 
Lucian  und  Voltaire  und  einer  reichhaltigen  Übersicht  ^Das  Totengespräch  in  der  Lit- 
teratur".  Von  Aristophanes  „Fröschen"  bis  zu  den  Ausläufern  in  unserm  Jahrhundert, 
bei  denen  freilich  der  bedeutendste  Nachzügler,  Grillparzer  (Werke  XI,*  175  und  197), 
unerwähnt  geblieben  ist,  werden  die  satirischen  und  erzählenden  Gespräche  im  Hades 
in  ihren  wichtigsten  Erscheinungen  charakterisiert.  Wie  Lucian  im  Altertum  als  der  be- 
deutendste Vertreter  der  ganzen  Gattung  erscheint,  so  beginnt  sie  auch  erst  mit  seiner 
Wiederentdeckung  im  15.  Jahrhundert  in  den  neueren  Litteraturen.  In  der  neueren 
deutschen  Litteratur  sind  Schillers  Hadesgespräche  in  den  Xenien  und  Goethes  Farce 
„Götter,  Helden  und  Wieland **  die  bekanntesten  Totengespräche  geworden.  Zu  Goethes 
Satire  hat  Alfred  Schöne  in  den  Anmerkungen  seiner  Rede  „über  die  Alkestis  des 
Euripides"  (Kiel  1895,  Universitätsbuchhandlung)  einen  kleinen  aber  nicht  unwichtigen 
Beitrag  geliefert.  Goethes  Anführungen  aus  dem  Euripides  stimmen  nicht  mit  dessen 
Wortlaut  überein;  Goethe  läfst  Herakles  von  der  Todesgöttin  sprechen,  während  bei 
Euripides  Thanatos  ein  männlicher  Gott  ist.  Bnimoy  bemerkt  auch  zu  seiner  Übersetzung 
(1733)  ausdrücklich  „ce  personnage  est  masculin**.  Goethe  hat  weder  Brumoys  französische 
noch  David  Christoph  Seyboldts  deutsche  Übersetzung,  deren  „Verfasser  ganz  im  Bann 
von  Wieland  steht**,  benutzt,  sondern  die  lateinische  von  Ämilius  Portus  (Heidelberg  1 597) 
in  der  Thanatos  wirklich  durch  mortuorum  reginam  —  Goethes  „Königin  der  Toten*^ 
wiedergegeben  ist. 

Wie  Schönes  Kaiserrede  über  die  Alkestis  führt  auch  die  Richard  Försters 
über  „Iphigenie**  (Breslau  1895)  in  höchst  anziehender  und  belehrender  Weise  von  der 
antiken  Sage  und  Dichtung  durch  die  verschiedensten,  besonders  französischen  Bc:art>ei- 
tungen  hindurch  bis  zu  Goethes  Neudichtung  der  Taurischen  und  Schillers  Übersetzung 
der  Aulidischen  Iphigenie.  Von  Lagrange  „Oreste  et  Pilade"  (1699),  meint  Förster, 
habe  Goethe  die  Liebe  des  Thoas  zu  Iphigenie  übernommen,  einige  Motive  von  Guy- 
mond de  la  Touche  (1757),  Einzelheiten  sogar  aus  der  einst  verspotteten  Behandlung 
von  Wielands  Alkeste  (?). 

Die  Geschichte  der  Wiederbelebung  der  älteren  deutschen  Litteratur  bei  der  ,«vod 
Anfang  an  Gelehrte  und  Dichter  zusammenwirkten**  (vgl.  Golther  VI,  275  f.)  bat,  so  in- 
teressant das  Thema  ist,  bisher  doch  nur  wenig  eingehendere  Untersuchungen  aufzuweisen. 
Um  so  erfreulicher  ist  es,  dafs  der  neueste  treffliche  Herausgeber  und  Biograph  Tiecks, 
Gotthold  Klee  seiner  auch  selbständig  (Meyers  Volksbücher  Nr.  1028/9)  erschie- 
nenen Lebensbeschreibung  Tiecks  ein  eigenes  Programm  „Zu  Ludwig  Tiecks  germa- 
nistischen Studien**  (Bautzen  1895)  folgen  liefs,  das  zusammen  mit  Bernhard  Steiners 
Untersuchung  über  Tiecks  Bearbeitung  der  Volksbücher  (Berlin  1893),  diese  wichtige 
dichterisch-wissenschaftliche  Tätigkeit  des  Romantikers  nun  ziemlich  erschöpfend  dar- 
stellt. Da  die  Anzahl  der  gedruckten  Briefe  Tiecks  nicht  sehr  grofs  ist,  gewinnen  die 
durch  Klee  zum  erstenmale  veröffentlichten  Briefe,  in  denen  Tieck  an  A.  W.  Schlegel, 
von  der  Hagen,  den  Verleger  Mohr  über  seine  Bearbeitung  der  Minnesänger  und  des 
Heldenbuches  berichtet,  doppelte  Bedeutung. 

Von  der  bei  G.  J.  Göschen  erscheinenden  N.  P.  der  ^ Deutschen  Litteraturdenkmale 
des  18.  u.  19.  Jahrh.**  (deren  ausführlicher  Prospekt  dem  Hefte  beiliegt),  ist  als  Fort- 
setzung der  von  K.  Redlich  besorgten  wichtigen  Göttinger  Musenalmanache  (s.  S.  143) 
der  Almanach  auf  1771  herausgekommen. 


-•••- 


Die 

byzantinischen  Quellen  von  Gryphius'  „Leo  Armenius". 


Von 
August  Heisenberg. 


Die  Quellen  des  „Leo  Armenius*  sind  bis  jetzt  nicht  genügend 
untersucht  worden.  Die  Gryphiusforscher  haben  sämtlich  den 
Standpunkt  eingenommen,  den  H.  Palm*)  folgendermafsen  kennzeichnet: 
„Der  Dichter  ist  der  Darstellung  seiner  Quelle  Schritt  für  Schritt 
gefolgt;  er  bekennt  in  der  Vorrede  selbst,  iiicht  nötig  gehabt  zu  haben, 
andere  Erfindungen  in  seinen  Stoff  zu  mischen.  Die  einzige  Abweichung 
von  der  historischen  Darstellung,  dafs  er  das  Kreuz,  welches  der 
sterbende  Kaiser  ergriffen,  zu  demselben  gemacht  habe,  an  dem  Christus 
gekreuziget  worden  sei,  hält  er  für  so  erheblich,  dafs  er  sich  deshalb 
besonders  entschuldigt".  Dennoch  ist  eine  genauere  Untersuchung 
schwerlich  ohne  Nutzen;  aus  einem  Vergleiche  des  Dramas  mit  den 
Quellen  läfst  sich  besser  als  auf  irgend  eine  andere  Weise  ein  Urteil 
über  die  dramatischen  Absichten  und  Fähigkeiten  des  Dichters  gewinnen. 
Wir  wollen  es  indessen  den  Litterarhistorikern  von  Fach  überlassen, 
dieses  Urteil  zu  fallen  und  die  Folgerungen  aus  unserer  Untersuchung 
zu  ziehen,  wir  begnügen  uns  im  allgemeinen  damit,  die  tatsächlich 
vorhandenen  nicht  geringen  Abweichungen  des  Dramas  von  den 
Quellen  festzustellen. 

Es  sind  dies  die  zwei  byzantinischen  Historiker  Georgios  Kedrenos 
und  Johannes  Zonaras.  Beide  lebten  um  die  Wende  des  ii.  Jahr- 
hunderts, dieser  etwa  fünfzig  Jahre  später  als  jener.  Beide  erzählen 
also  die  Schicksale  des  Kaisers  Leo  Armenius,  der  von  813 — 820 
regierte,  nicht  aus  eigener  Anschauung,  sondern  nach  älteren  Quellen; 
Zonaras    folgt    im    allgemeinen    der    Darstellung    des    Kedrenos.     Im 


*)  Kürschners  Deutsche  Nationallitteratur,     Bd.  29    S.   IV.  —   Vgl.    L.    Parisers 
Besprechung  von  Wysockis  umfongreichem  Werke,  S.  485. 

Ztschr.  f.  vgl.  Litt-Geach.    N.  P.  VIII.  29 


i40  August  Heisenberg^. 


Übrigen  brauche  ich  hier  die  Quellen  dieser  beiden  Schriftsteller  nicht 
zu  untersuchen.  Ebenso  ist  es  für  unseren  Zweck  gleichgültig,  dafs 
das  Bild,  welches  uns  diese  beiden  Historiker  von  Leo  entwerfen, 
nicht  vollständig  ist.  Uns  sind  aufser  ihren  Geschichtswerken  noch 
eine  Reihe  von  anderen  Quellen  erhalten,  mit  deren  Hilfe  wir  die 
Charakteristik  dieses  in  mehr  als  einer  Beziehung  hervorragenden 
Kaisers  trefflich  ergänzen  können.  Aber  A.  Gryphius  nennt  als  seine 
Gewährsmänner  Kedrenos  und  Zonaras*),  andere  hat  er  nicht  gekannt 
oder  jedenfalls  nicht  benutzt;  sie  kommen  daher  für  uns  nicht  in  Betracht 
Um  ein  ganz  klares  Bild  von  der  Vorlage  des  Dichters  zu  geben, 
teilen  wir  den  Bericht  des  Kedrenos  mit,  von  dem  Zonaras  nur  in  der 
Anordnung  abweicht,  dem  aber  Gryphius  am  meisten  gefolgt  ist. 
Vorauszuschicken  ist,  dafs  auch  Leo  sich  mit  Gewalt  des  Trones  be- 
mächtigt hatte.  Sein  Vorgänger,  der  Kaiser  Michael  Rhangabe,  hatte 
Unglück  im  Kampfe  mit  den  Bulgaren;  infolge  dessen  fiel  das  Heer 
von  ihm  ab  und  rief  auf  Betreiben  des  Michael ,  eines  der  Unterfeld- 
herrn, den  General  Leo  den  Armenier  zum  Kaiser  aus.  Michael 
Rhangabe  verzichtete  auf  die  Krone  und  ging  ins  Kloster,  Leo  über- 
häufte nach  seiner  Tronbesteigung  seinen  Freund  Michael  mit  den 
höchsten  Ehren.     Nun  erzählt  Kedrenos  folgendes**): 

1.  Mt^a^X  de  6  i(  ^Apuoplotß  äel  roc^  Ifiitpotr^eu  iTrexrseuoßsvo^  iid  vo  jaeKov  i:poßaafar>ßy 
diaßoXiju  ia^e  xa^attixntü^'  hq  TOUTf^v  el  xal  du{r^spw<:  o/juo^  disoffeunzfieuo^  ixTr^rsTW 
Ttapä  ßaatXiu}^  raxTtxä  dtddaxeof  tov  öttö  X^^P^  kaov.  i^v  dk  6  Mt^ai^X  od  vatz  SXXm^ 
mitratiz  xaxtacq  imppeT^^  fsovov,  dXJC  ivotret  xal  yXwmrrj^  dxoX/iüiav,  xai  vä  iuSk»  -r^c 
6.  xapdia^  ix^aoXi^eaf  dovdfiBvoq  fioaTfjpui,  iXäXee  yap  toav  rd  rtaptardfiBvov  eec  roofMj^payiq, 
dnepptTTTei  dk  xal  xar*  auroo  rou  ßaaiXiw^  Xoyotjq  oox  ed7:pe7xt^,  dTxtXjUßu  a^j-np  ts 
xat^atpemv  T^q  ßamXeia^  xal  r^  olötou  auf^uyip  ydfwv  iTZureuov  ävomou.  Sixp  ö  ßaadso^ 
wjv^av6(xevoq  izpwTov  fikv  edfir^^duo}^  iTxtpävo  irapaTzpoaTWtoüpsvo^  r^v  yvÄötv,  dTsoarfi^sat 
ToÖTOif    T^c   d^üpoyktücaia^   xal    t&u    xaxwv   ßouXeußdrwv  ßouh'tpzvo^'    jJ^Jb«   ydp   ahrdfif 

10.  dJUr/UmQ  v6<m  dxoXdöXw  yXibaaiQ  dooXeuouTa.  a*^  de  xal  Toipaeueasai  xcd  d^zseiocc  oTqn 
-napetxot  )^pwpjevoq  eö^uq  ßkv  i^apvoofievov  eSpurxe  Td  Xsyofxsva,  ddeta^  dk  itdXof  tttv- 
^y^xora  tw\>  xard  axomv  jirj  d^undpLevov ,  imi^iy^atv  advip  axojoouq  xal  wvaxooara^ 
XeX7^i96rto^,  oirtve^  imXXdxt^  iv  eumj^iaiq  xcu  fxh^atq  ßeraxtifoußsvov  r&v  ^ps'joiv  utso  tw 
oiuoij  xaraXaßSuzeq  xal  röiq  izporipov^  fidXa  "Kpo^^/uaq  imTv^ifievou  xavd&i^Xov   ?aEWK/<ir 

15.  T^  ßaoiXeX,  i/iveTo  de  T:po<j^7jxi^  Tzurrsoic  tu/v  diaßaXXoßivtov  tw  Mt^a^X  xai  6  'E^- 
ßooXto^,  dv^p  ^pevTjpyjq  xal  amn^&T^q  rw  ßamXei,  obx  äyvannoq  dk  np  Mfj^a^X.  ooro^ 
TzoXXdxiq  iiaa^eiv  aövdv  r^^  d^upooroptaq  im^eiprqaat:,  xal  itapao^eaa^  atjrob*,  xai  pa^ 
oSvioq  dxaipwq  itappy^mdZeai^at  xal  elq  itpou'jrrov  kaurbv  avvw^etu  xofduvov   leapaxaXsaaQ 


*)  Bibliothek  des  litter.  Vereins   in   Stuttgart  CLXII.     Andreas  Gryphius  Trauer- 
spiele,  herausgegeben  von  H.  Palm.     Tübingen  1882  S.   14. 

**)  Georgius  Cedrenos  ed.  J.  Bekker.     Bonnae  1839  S.  61  ff. 


Üie  byzantinischen  Quellen  von  Gryphius'  „Leo  Armenius*^  441 

1.  iTcst^  fiif  iiKtde,  d^la  mzvra  rä  xar'  oötov  ri&iqai  rw  ßaadeL  xcu  J^  Tcpd  puä^  ijfJiipc^ 
T^  xarä  adpxa  Xptarou  wo  ^oö  ^fjJöv  yevvi^asw^  de^dpsifoq  rdq  ßT^vuaei^  6  ßaurdsöt; 
iid  ß^fiaro^  re  iv  tocc  äaijxpTjTsioiq  ixct&tae,  xoi  dxptßi^^  i^erourrij^  rwv  ßjjuo&evrwy 
i^ero.  äJUaxeTtu  towov  ropayvldo^  ö  M^ca^X,  aört^  xaraßicdm  ÖTtd  t^c  ii'apysta^  ribv 
5.  iAej^wv  äpayxaa^et^'  xcu  ipij^^  ix^iperai  xar^  ajbrou  Tojpt  xaraarpiipat  rijv  Z*tnjv, 
ifißhid'ivroq  iv  rj  TLtifiiytp  rou  iv  rw  TcaXaTup  XourpoO,  ehai  dk  x(ü  adr^  &swpdu  töv 
ßaunXia  rou  dpdfiaro^»  ^yero  pku  ohv  t^v  iid  ^^dvarov  deofitun)^,  bTttsto  dk  xal  6  ßa- 
aOjsbq  ^ear^?  e&foc  dpcpfWfAieva^  roo  dpwfiivou.  iv  oatp  dk  ro  ftsTa^b  miprrifutß&f  dtdim^fiay 
il  ßaaüÜ^  ßeodoata,    rd  rou  'Apaaß^p  ■^üyärpiov,   fxa^ouaa  r6  piXXov  izpa^^^vat  i^ecac 

10.  /A£Ta  OTmudtjq  ort  mXJi^  rou  ^akdpou,  -Kopaßax^f&v  re  xdx  pjoiftxbv  xotou/Jiivrjf  rdv  ßaunHa 
TS  xaraXaßouaa  äldurropd  t£  xal  ^ofid^oy  äitsxdXEt  dtq  oddk  ri^p  ^etav  •^fiipav  äyst  dta 
^tdouq,  rou  ^sioo  ßiXlav  awfiaToq  pLeraa^eiu,  xou  r^^  ^Pß'^  dtBxutkuey,  ouroq  dk  vut 
^e<p  fjti)  'TTpoaxpouüat  dedotxtbq,  rb  fuv  mipaxP^f^^  itaXofrpoimv  aönp  ri^v  (narv^ptav  ißpd- 
ßsooBf   ailhipov  da  roec  ^tom  itepc&ei^  voo  M^ai^X,    xal  r^^  x^oföc  kawnp  ri^v  <ppoupav 

15.  iiarpitpa^t  Ttp  Tsama  r^v  abxou  ^uJlaxi^v  äifari^T^ai.  npd<:  ^k  r^v  aoZoyov  iToarpa^el^ 
i^  ^'iyw  fiiu.  St  yvvat,  Ttu^  adt^  ßoj^Biatq  icsur&^  iitoa^aa  d>^  ixiXsuaaq'  ab  dk  oöx 
el^  fiaxpäv  i7t6^ei  xcu  ttz  tij^  ißi^  vrjduoq  ßkaarfifiaTa  rä  diüoßtjoofieva,  el  xou  tr^/iepov 
jue  Tou  dpxtprfifxaroq  ijXeoi^ipmüa^^\  oOno  tv  ßiXXov,  el  xal  mppw  izpo^nx^  ^v  im- 
Ttyota^  äXi^i^^  äne^oißaaz, 

20.     Im  folgenden  erzählt  Kedrenos  mehrere  Vorzeichen,  die  auf  Leos 
Tod  hindeuteten.     Dann  fahrt  er  fort  (S.  64,  16): 

oiq  ärtaat  deifiaToufisvo^  6  ßaaiXeb^  iiaiXXBTo  re  rtp  diei  xat  xijv  fpo^^v  ixupicuuevo.  dtb 
xaJt  äj'poTo^o^  dtersXet  laxp*  oXt^u  r^v  uuxra.  ao^Tspa  rotvov  fj  ßamkixatrspa  ßooXeu- 
üdfisvo^  r^v  iid  x^  itaToav  ipipooaav   mjXida  dtappj^^a^  xarsaxöiTet  rä  ivdov.    el<Fekßwv 

25.  dk  efe  Ti  dwpdrtoy  d'iafxa  dpa  slq  ixTtXT^^tu  od  t^v  Tu^ouaau  äyov  rrördv  slde  yäp  röv 
fikv  xardxpyrov  im,  anßddoq  ift/rpfXijq  ndyo  /le/aXonpsTOü^  duaxetfievou,  rdu  dk  -mimav  iid 
$j)pou  xaraxXofopzvov  rou  iödcpouq.  TKpiepyoTEpov  dk  TtpooeX^wu  iTcsaxÖTtet  rdv  Mt^aijX, 
sl  OTtep  ^tXet  iv  rot?  xuptacvofiivot^  xal  r^v  ^wrjv  äß^tßoXov  fyoum  yivta^atf  imizdXatov 
rtva  xal  i/ißepqjLvov  bm^wxret  ümfov  fj  roövavTtov  ä<pp6vrtda  xal  i^^v,    th^  ^ebpev  äviratq 

30.  b-m^vra  (xak  yäp  ob3*  iita^fuvo^  oötüv  dtuituuiai  ufj^uasv)^  elq  ßßt^ova  äv^^^rj  ^ufjjbv 
Toec  'Kap'  iXm/Sa  Touroeq  ^sdfxam,  xai.  äw^Ei  xarä  a^oXi^Vf  deevdv  oöx  aönp  fwvov  äXXä 
xai  TW  TKima  emaeüov,  Kai  raura  fikv  6  ßaatXso^,  oöx  iXa^e  dk  raura  toüc  ^^pl  'n^*' 
miToav,  dXXd  te?  r&v  TcpoxoiTtov  roo  Mt^a^X  ix  r&v  <potvix&v  ^topaüdpsvo^  ifißddwv 
dTr^jrystXe  wdvra  aa^^.    occ  ixisa&et^  xal  fuxpou  detv  ix^pove^  ol  Txpl  rbv  Ttamav  ye- 

35.  vofisvot  iaximovro  mb^  äv  röv  xivduvov  dta^oyoiBv.  Ö7:sXaß7:sv  äprt  ijfsipa,  xal  axsTnrsrat 
wn^cv  Toubfds  6  Mt^ay^X^  &^  (pu^^txd^  Teva?  xy^Xi^aq  ßouXerat  rtvt  rmv  &eo^ptXtov  i^ayo- 
peuüat  dta  ßeoxrurwo,  dv  fierd  raura  na  rou  xavtxXeiou  rtrifiy^xev  d^uojüLart,  iTteri- 
rpamo  youv  roüro  yevitr&at  rxLpd  ßaaiXiw^.  ö  ^k  M^a^X  ddetaq  Xaßofievoq  Xiyei  npöq 
röv   ßeoxrurrov   "xatpoq.   St   ßeoxrtare,    Toe?  üuvwfmratq  ina'KstXrjijat^    &q  bI  p.^    rdj^ufv 

40.  OTXUüoomv  i^tXia^at  rou  xtvduvou  "Sj/iä^,  itdvra  rd  r^  npä^eto^  dvaxaXuipat  rm  ßamXei.'" 
xal  rou  ßeoxrurrou  tb^  ixeXeuff&Tj  imc^aavro^,  dq  dytuviav  oö  r^v  ru/ouimv  ivineaov  ol 
auvunope^,  xal  dteaxoimuvro  mu?  äv  aörot  re  aat&ehv  xai  röv  oaov  oödirao  i^avetv  xiv- 
duveuaavra  dtamixKuev.  (tdTtrouaof  oÖv  ßouXijv  ijrt^  aörou^  re  ippuaaro  xaX  np  M^ad^X 
Tzpöq  rj  ßaöiXeuf  xal  rr^v  Cttnjv  i^apiaaro.    i6o^  iixxpdrei  rore,  ytxij,   ü>tn:ep  vuv,  ivdov 

45.  rwv  ßaatXeüov,  ixrore  Xaßöv  ri^v  dp^v,  ßivecv  rouq  iv  r^  ixxXjjata  rou  TozXariou  (pdXXovraq 
jÜLTiptxouqf   dX}^  iv  Toc«?  Idiot/^  c^buH^  itept  dk  rpirjjv  ^uXaxj^v  rfj^  vuxrö^  dyetpcir^ai  xavd 

29* 


442  August  Heisenberg:. 


tfuveuy^eaaof,  xeä  iv  neve  axoreoK/f  r^  ixxXtimaq  ^/j^tfovrrc  votsup  tö  ow/^ij/na.  i^edi^ot^va. 
4bz  ^6  üfxvoq  ^7xpa6f€To,  ^^  dk  loapijv  xai  ö  ßaatXso^  xat  r^z  bfiyw^^  i^^p^et*,  wq 

Tcire  &ij  ü^rmj^üaüfTt^  d^poou  oi  auvwftprai  ix  ptkv  t^  icptorr^^  i^pdpTm^w  'Kp€M^}^ 
Tcpd^  rAv  Tou  xX-f^pou  i^ap^ou  dtfotdayTj^ivn^,  erre  -KopdfMOfov  dura  nlT  ßaunXät  xava 
rv^v  atüjaaTtx^v  ipu^ipstatf,  sht  r§  mpi  r^v  xe^aX^if  bpfiuf,  "KEptßokj'  ^v  ydp  ^  &pa 
xpofuü^q  TE  xai  )[$tßipto^  xai  Aä  toöto  iu  TxptfiXT^puiai  mhfTS^  dtexapripouu  aTe]ra>af 

10.  repoc^  idkovz  raq  xs^PoXä^  d^urdrotiz  fteptxaXu'TrrouTeq.  dJUC  6  ßkv  voo  x^poo  xa^ijytfwnf 
rinß  xhlkwjiy  dneaKfaWf  rov  mXov  r^c  x£^aXij^  d^ekmv  xai  r^  <paXdxpa  rr^v  cutTT^pioD/ 
'KpayimrwüodpxsKiZ'  6  dk  ßaatXeu^  ovvauMfusuo^  Tijq  imßooXi^  slq  rd  Üdura  toü  ^oma~ 
avrjpioü  shri^,  xai  r^v  roö  ^ofiLtan^ptou  OEtpdv  ^tapitdaa^,  ^  &q  Ttve?  Xifown  &am 
araupQv,  rd^  ßoXdq  riov  Tdr^rTouTiov  ids^ero,    dDi   oi  auvw/WTOt  d^poot  xai  od  xa&*  iva 

16.  imdpafwurs^y  ö  pkv  xard  T^g  xe^aX"^  äXXoq  xavd  rmv  anXäj^vwv  xai  SUXo^  dJLlitj[6^ 
TOU  awjnam^  xaTsrtrpwaxov.  xai  ^po^ou  ßiv  roa  dvria^e,  nc^  f9euti  araopw  Tag  vuv 
^t^dfu  dpfid^  ditoxpoüSfiMvo^'  Ttdyro^su  ^ä*^  i^rjptov  ßampßvo^  xai  Tzpo^  rd^  rpwastq 
d'HoxapmVf  rtXturmov  iva  ttvd  y^e^ropTtäidv  iiapepovTa  IXav  tijv  tUij/i^v,  opxw  r^^  ztS 
vatp    ivotxouariq  xartdiofut  /dpcro^  xai   ^uaaa^ai  i^tXtndpei'    rijq   twv   Kpa^ißun/ecwy 

dO.  ohro^  6  j'swädaz  wpßtjvo  j^evusäz*  dXJC  o/%  "o^/  opxtov*  elmov  '^dXXd  fp6»w¥  xoMpo^ 
TtaUi  xard  r^  X^*P^  duofraua^  7cXij/:^v,  ^  p^  pi&yoy  r^  xXstdö^  vaoTrpt  diampLaf^ 
dXXd  xai  rd  xipaq  avuaTtorefaiiv  tou  araupou.  dTtoripyet  di  rec  aitroö  xai  n^v  xc^cbli^, 
^Ifirj  xaTaTKTtovrjpeifou  rtäq  "Tdrj/m^  xai  dxXiäaavro^. 


Nach    einer  kurzen   Charakteristik   des  Kaisers   heilst  es  weiter 
26.     (S.  67,  20): 

difiQpTIfUvou  dk  roö  Aiovro^  oi  diHQpTjxdre^  aupovre^  rdv  rouvoo  vexp^  dyj^XjBt»^  M,  tuv 
ZtxuXwu  sl^  rdv  lintddpofjtov  i^ya^ov^  itavrbq  adtoi^  ixpojpTjpiuou  ^oßoo  dta  z6  r^ 
ßaaiXetou   adX-^u   onXm^  oixetot^  näuvoi^su   ixpti^pa^^ijvaL    xarioTtaaau  dk  t&v  ßaatXßw» 

xai    ri)v   aörou  ya/isr^v  auv   tdiz  naoapai  rexvoe?  adr^c V  dk  Mi^a^X  rijq  ix 

30l  toü  Tvnaa  <ppoüpdz  dvev^eec  Ifrc  roii^  Ttodaq  iv  atdyjpoitedat^  fya>v  xarta^p^/iivoo^  &ia  rd 
r^v  xXoit  T&v  at^pwv  iv  np  x6Xma  tou  Aiovro^  ^oXdrTta&at,  o5rwq  d*^  efys  yctrra  ranr 
atdr^pwv  ird  t^  ßaaiXttov  ixä^tae  ^povov,  xai  Ttapd  mivTwv  viov  Tiw^  livTunf  iv  vm  na- 
Xarup  dyaYopeu^Elz  repoaexovi^dfj. 

Den  Verlauf  der  Handlung  hat  Gryphius  im  grofsen  und  g^zen 
nicht  geändert  und  konnte  ihn  nicht  wohl  ändern.  Der  Stoff  ist  so 
reich  und  an  sich  so  dramatisch,  dafs  es  nur  geringfügiger  Zusätze  und 
Verknüpfungen  bedurfte,  um  ein  wirkungsvolles  Schauspiel  zu  geben. 
Von  der  fünften  Scene.  des  ersten  Aktes  an,  in  der  Michael  gefangen 
genommen  wird,  spielt  sich  denn  auch  das  Drama  in  der  von  Kedrenos 
vorgezeichneten  Weise  ab.  Gleichwohl  sind  einige  Abweichungen 
charakteristisch.  Der  Dichter  läfst  das  Schauspiel  beginnen  mit  einer 
Unterredung  Michaels  und  des  Krambonites,  den  er  „den  von  Krambe** 
nennt  und  neben  Michael  zum  Führer  der  Verschworenen  macht.   Sie 


Die  byzantinischen  Quellen  von  Gryphius'  «»Leo  Armenius".  448 

&ssen  mit  einigen  Freunden  den  Entschlufs,  Leo  noch  vor  dem  Weih- 
nachtsfeste zu  ermorden.  So  war  die  Sache  der  Anhänger  Michaels 
mit  der  seinen  unauflöslich  verknüpft,  und  ihr  energisches  Eingreifen 
später  durch  ihre  eigene  Sicherheit  bedingt.  In  der  zweiten  Scene 
treten  Leo  und  die  Hofbeamten  Exabulios  und  Nikander  auf.  Leo 
zeigt  die  Absicht  Michael  mit  dem  Tode  zu  strafen,  aber,  und  dies 
ist  eine  bemerkenswerte  Abweichung  von  den  Quellen,  er  zeigt  sich 
zaudernd  und  bedenklich,  er  furchtet  das  Urteil  des  Heeres  und  des 
Volkes,  bei  dem  Michael  in  grofsem  Ansehen  steht.  Davon  lesen 
wir  bei  den  Historikern  nichts;  da  ist  Leo  langmütig,  aber  nicht  un- 
entschlossen. Im  Drama  fordert  er,  man  solle  noch  einmal  versuchen, 
Michael  zur  Abbitte  und  zum  Gehorsam  zu  bewegen,  und  in  der  fol- 
genden Scene  sind  es  Nikander  und  Exabulios,  die  für  Leo  handeln. 
Der  erstcre  ist  eine  von  Gryphius  frei  erfundene  Figur.  Er  hat  den 
Exabulius  bei  Kedrenos  in  zwei  Personen  zerlegt  und  dem  Nikander 
einen  energ^chen,  durchgreifenden,  dem  Exabulios  einen  bedächtigen, 
vorsichtigen  Charakter  gegeben.  Nicht  Leo  sendet,  wie  bei  Kedrenos, 
dem  Michael  Späher  und  Horcher,  sondern  verhält  sich  ganz  passiv. 
Die  beiden  Höflinge  beschliefsen,  Exabulios  solle  noch  einmal  den 
Michael  in  Güte  zum  Gehorsam  ermahnen  und  Nikander  solle  dieser 
Unterredung  mit  Bewaffneten  verborgen  beiwohnen.  Die  nächste 
Scene  zeigt  die  Unterredung.  Michael,  der  den  Exabulios  für  seinen 
Freund  hält,  spricht  sich  in  seiner  gewohnten  unvorsichtigen  Art  offen 
aus  und  enthüllt  seinen  Plan,  den  Kaiser  zu  töten.  Darauf  wird  er  in 
Fesseln  geschlagen.  Nicht  der  Wein  hat  ihm,  wie  in  den  Quellen 
erzählt  wird,  die  Zunge  gelöst;  im  Drama  hält  er  den  Exabulios  für 
einen  Gesinnungsgenossen  und  legt  sich  deshalb  keine  Mäfsigung  auf, 
er  wird  ein  Opfer  nicht  nur  seiner  Zügellosigkeit,  sondern  auch  seines 
allzugrofsen  Vertrauens  gegen  einen  vermeindichen  Freund. 

Der  Anfang  des  zweiten  Aktes  fuhrt  uns  in  die  Gerichtssitzung. 
Aus  den  wenigen  Worten  des  Kedrenos  (S.  441  Z.  4  ff.)  hat  der  Dichter 
eine  vortreffliche  Scene  geschaffen.  Hier,  wo  die  Rhetorik  am  Platze 
ist  und  von  selbst  dramatisch  wirkt,  befand  sich  Gryphius'  Kunst  auf 
ihrem  eigensten  Boden;  diese  Scene  ist  vielleicht  die  beste  und  wir- 
kungsvollste im  ganzen  Drama.  Michael  wird  von  den  Richtern  ein- 
stimmig zum  Tode  verurteilt.  Da  erbittet  er  eine  Stunde  Aufschub, 
um  von  seinen  Kindern  schriftlich  Abschied  zu  nehmen.  Dies  fehlt 
im  Berichte  der  Historiker,  und  der  Dichter  hatte  wohl  mehrere 
Gründe  diese  Episode  einzuschieben«     Erstens  gewann  er  so  Zeit  für 


444  August  Heisenberg. 


den  nun  folgenden  Monolog  Leos,  der  ihn  uns  in  seiner  Befriedigung 
über  den  Triumph,  doch  nicht  ganz  frei  von  Sorgen  zeigt,  zweitens 
wurde  es  nun  wahrscheinlicher,  dafs  die  Kaiserin  inzwischen  von  dem 
Urteilsspruch  erfahren  konnte.  Auf  einen  dritten  Grund  werde  ich 
sogleich  zurückkommen.  Theodosia  sucht  Leo  auf  und  bittet  (ur  das 
Leben  des  Verurteilten.  Sie  macht  Leo  auch  hier  wie  bei  Kedrenos 
auf  die  Heiligkeit  der  Zeit  aufinerksam,  die  eine  Hinrichtung  für  jetzt 
wenigstens  verbiete,  aber  sie  macht  noch  anderes  geltend.  Sie  wünscht 
nicht  blofs  Aufschub  der  Urteilsvollstreckung,  sie  bittet  überhaupt  um 
Schonung  des  Gefangenen.  Sie  hält  dem  Kaiser  vor,  wie  viel  er 
Michael  zu  verdanken  habe,  wie  hoch  sein  Ansehen  beim  Volke  sei, 
und  fleht  Leo  bei  seiner  Liebe  zu  ihr  an,  ihr  diesen  Wunsch  zu  er- 
füllen. Zunächst  weist  Leo  sie  ab.  Michael  erscheint  wieder,  vor- 
bereitet zum  Tode.  Da  begnadigt  ihn  Leo,  und  man  erkennt  deutlich, 
da{s  nicht  religiöse  Bedenken  für  ihn  allein  mafsgebend  sind,  sondern, 
ebenso  sehr  die  Liebe  zu  seiner  Gemahlin,  die  ihr  keinen  Wunsch 
versagen  mag.  Das  ist  eine  sehr  charakteristische  Änderung  des 
Dichters.  In  der  Einleitung  zum  „Leo  Armenius"  sag^  er  wörtlich*): 
^Diejenigen,  welche  in  diese  ketzerey  gerathen,  als  koennte  kein  trauer- 
spiel  sondern  liebe  und  bulerey  vollkommen  seyn,  werden  hierbey 
erinnert,  dafs  wir  diese  den  alten  unbekandte  meynung  noch  nicht  zu 
glauben  gesonnen  und  desselben  werk  schlechten  ruhms  würdig 
achten,  welcher  unlängst  einen  heiligen  märtyrer  zu  dem  kampff  ge- 
führet und  demselben  wider  den  grund  der  Wahrheit  eine  ehefrau 
zugeordnet,  welche  schier  mehr  mit  ihrem  bulen,  als  der  gefangene 
mit  dem  richter  zu  thun  findet  und  durch  mitwürckung  ihres  vatem 
eher  braut  als  wittbe  wird.  Doch  um  dafs  wir  derselben  gunst 
nicht  ganz  verlieren,  versichern  wir  sie  hiermit,  dafs  aufs  eheste  unser 
Chach  Abas  in  der  bewehrten  beständigkeit  der  Catharine  von 
Georgien  reichlich  einbringen  sol,  was  dem  Leo  nicht  anstehen  koennen, 
welcher,  da  er  nicht  von  dem  Sophocles  oder  dem  Seneca  auffge- 
setzet,  doch  unser  ist".  So  verwahrt  sich  Gryphius  dagegen,  im 
„Leo  Armenius"  seinem  Publikum,  von  dem  er  voraussetzt,  dafs  es 
LiebesafFairen  und  Sentimentalität  verlange,  Zugeständnisse  zu  machen, 
wie  Corneille  in  seinem  „Polyeucte"  getan  hatte.  Gleichwohl  ist  der 
Abschied  Michaels  von  seinen  Kindern  ein  solches  Zugeständnis  des 
Dichters  an  seine  Zuschauer,  die  der  Rührung  nicht  entbehren  mögen, 
ebenso  wie  die  Scene  zwischen  Leo  und  Theodosia,  die  mit  den 
zärtlichen  Worten  beginnt; 


Die  byzantinischen  Quellen  von  Gryphius*  „Leo  Armenius".  445 

Theodosia:    Mein   Licht!      Leo:    Mein   Trost!      Th.:    Mein    Fürst! 

L.:    Mein  Engel!     Th.:    Meine  Sonn! 
Leo:    Mein    Leben!      Th.:    Meine    Lust!      L.:    Mein  Aufenthah    und 
Wonn! 

Wenn  der  Dichter  auf  diese  Weise  ein  ganz  neues  Motiv  ein- 
fugte, war  es  natürlich,  dafs  er  die  prophetischen  Worte,  die  Leo  bei 
Kedrenos  (s.  o.  S.  441,   16)  der  Kaiserin  zuruft,  unbenutzt  liefs. 

Bei  Beginn  des  dritten  Aktes  kommt  der  nania^^  ein  Wort,  das 
übrigens  nicht,  wie  Palm  meint*),  einen  Geistlichen,  sondern  den 
obersten  Palasthüter  bezeichnet**),  und  übergiebt  Leo  die  Kerker- 
schlüssel. Die  wenigen  Worte  des  Historikers:  8tb  xcu  ä^poTn^o^  dttziket 
Tzap  5Arj)^  TTjv  vöxza  (s.  o.  S.  441,  22 f.)  sind  dem  Dichter  der  Anlafs  zu 
einer  umfangreichen  Scene  geworden.  Unter  Saitenspiel  sinkt  Leo  in 
Schlaf.  Da  erscheint  ihm  der  Geist  des  verstorbenen  Patriarchen 
Tarasios,  der  ihm  Unheil  androht  und  seinen  Begleiter,  einen  gewissen 
Michael,  auffordert,  den  Kaiser  zu  ermorden.  Dieser  Traum  ist  keine 
freie- Erfindung  von  Gryphius;  auch  die  Historiker  erwähnen  ihn  im 
Zusammenhang  mit  anderen  Vorzeichen,  die  auf  Leos  Tod  hindeuten. 
Aber  indem  sich  der  Dichter  zu  eng  an  seine  Quellen  anschlofs, 
hat  er  Unklarheiten  nicht  vermieden.  Der  Zuschauer  erfahrt  nicht, 
wer  Tarasios  war  und  in  welcher  Beziehung  er  zu  Leo  stand.  Wenn 
Gryphius,  wovon  später  noch  die  Rede  sein  wird,  darauf  verzichtete, 
sein  Drama  sich  auf  dem  Hintergrunde  eines  grofsen,  weltgeschicht- 
lichen Ereignisses  abspielen  zu  lassen,  so  hätte  er  die  Wirkung 
wenigstens  dadurch  vertiefen  können,  dafs  er  nicht  wie  Kedrenos  den 
Tarasios,  sondern  den  von  Leo  abgesetzten  Patriarchen  Nikephoros 
ihm  hätte  erscheinen  lassen.  Freilich  berichten  uns  die  Quellen,  dafs 
Nikephoros  in  der  Verbannung  den  Kaiser  überlebt  hat,  aber  das 
wäre  für  den  Zuschauer  völlig  gleichgiltig  und  für  den  Dichter  kein 
Hindernis  gewesen. 

Der  weitere  Verlauf  des  Dramas  entspricht  ziemlich  genau  dem 
Gange  der  Handlung  bei  den  Historikern.  Der  Kaiser  sucht  den 
Gefangenen  auf  und  findet  ihn,  anstatt  im  armseligen  Kerker,  be- 
schützt imd  verehrt  von  seinen  Hütern ;  nach  seiner  Rückkehr  kündigt 
er  dem  Nikander  und  Exabulios,  die  mit  dem  Aufschub  keineswegs  ein- 


*)  In  den  Anmerkungen  zur  Stuttgarter  Ausgabe  S.  71. 
**)  cf.  Du  Gange,   Glossarium  ad  Scriptores  Mediae  et  Infimae  Graecitatis  tom.  II, 
S.   iioi. 


446  August  Heisenberg. 


verstanden  sind,  seinen  Entschlufs  an,  die  Verräter  aufs  streng^ste  zu 
bestrafen.  In  der  letzten  Scene  dieses  dritten  Aktes  entwirft  Michael 
ganz  wie  bei  Kedrenos  seinen  Rettungsplan. 

Der  vierte  Akt,  der  im  ganzen  eine  freie  Erfindung  des  Dichters 
ist,  zeigt  uns,  wie  die  Verschworenen  in  der  Stadt,  nachdem  sie  von 
Michaels  Verhaftung  erfahren  haben,  ihre  Vorbereitungen  treffen.  Aus 
den  wenigen  Andeutungen  der  Quellen  hat  Gryphius  hier  einige  drama- 
tische Scenen  geschaffen.  Zwei  Verschworene  treffen  sich  vor  dem  Hause 
des  durch  seine  Zauberkünste  bekannten  Jamblichus,  und  trotz  des  Ab- 
ratens  des  einen,  der  über  die  Wahrsagerei  spottet,  beharrt  der  andere 
bei  seinem  Entschlüsse,  die  Geister  zu  befragen.  In  ausfuhrlichster  Breite 
zeigt  uns  die  zweite  Scene  die  Beschwörung  des  höllischen  Geistes 
durch  Jamblichus;  der  Verschworene  erhält  die  Gewifsheit  vom  Unter- 
gange  des  Kaisers  in  der  Kirche.  Hierfür  boten  die  Quellen  dem 
Dichter  keine  Vorlage,  hier  hat  er  wiederum  dem  Geschmacke  seiner 
Zeit,  die  an  solchem  Spuke  Gefallen  fand,  Rechnung  getragen  und  ist 
seinen  eigensten  Neigungen  für  solche  Dinge  gefolgt*). 

Durch  den  günstigen  Bescheid  des  höllischen  Geistes  sicher  ge- 
macht fassen  nun  die  Verschworenen  im  Hause  des  „von  Krambe** 
den  Plan,  sich  als  Priester  verkleidet  in  die  Kirche  zu  schleichen  und 
den  Kaiser  am  Altare  zu  ermorden. 

Im  Aufbau  des  letzten  Aktes  ist  der  Dichter  von  seinen  Quellen 
abgewichen.  Die  Tatsachen  vollziehen  sich  zwar  hier  auch  wie  bei 
den  Historikern,  aber  der  Dichter  hat  sie  hinter  die  Scene  verlegt. 
Er  fuhrt  uns  in  das  Gemach  der  Kaiserin,  die  von  Sorgen  beunruhigt 
wird.  In  dem  Augenblicke,  als  sie  sich  anschickt  zur  Kirche  zu 
gehen,  stürzt  der  Oberpriester  herein  und  meldet  in  höchster  Eüe  den 
Überfall;  ein  bald  ihm  folgender  Bote  berichtet  ausfuhrlich  die  Er- 
mordung Leos,  fast  wörtlich  nach  der  Darstellung  bei  Kedrenos.  Ich 
will  hier  nicht  entscheiden,  ob  der  Dichter  es  sich  nicht  zutraute,  die 
Ereignisse  in  der  Kirche  dramatisch  zu  gestalten  oder  ob  ihn,  was 
vielleicht  wahrscheinlicher  ist,  das  Vorbild  der  antiken  Botenreden  hier 
beeinflufst  hat. 

Anders  als  bei  Kedrenos  schliefst  die  Handlung  bei  Gryphius. 
Die  Kaiserin  Theodosia  trifft  mit  den  Verschworenen  und  mit  Michael 


*)  „Er  glaubte  an  Astrologie,  Vorbedeutungen  und  Geister,  schrieb  über  Chiro- 
mantik,  und  Ho£Emannswaldau  hatte  einen  Traktat  de  spectris  von  ihm  in  Händen,  von 
dem  er  auch  mehrfoch  in  seinen  Vorreden  und  Noten  redet**.  Gervinus,  Gesch.  d.  poet. 
Nat.-Litt.  d.  Deutschen      ITI.  3.  Aufl.  S.  435. 


Die  byzantinischen  Quellen  von  Gryphiua*  ^Leo  Armenius*S  ^  447 

selbst  zusammen  und  zeigt  lange  eine  bewundernswerte  Stärke  des 
Charakters,  bis  sie,  da  die  Leiche  ihres  Gemahls  gebracht  wird,  in  Wahn- 
sinn fallt.  Michael  besteigt  wie  bei  Kedrenos  in  Ketten  den  Tron, 
mit  einer  Huldigung  für  den  neuen  Kaiser  endet  das  Drama. 

Gryphius  hat  sich  in  der  Durchfuhrung  der  Handlung  aufs  engste 
an  seine  Quellen  angeschlossen.  Hin  und  wieder  hat  er  die  losen 
Fäden  enger  geknüpft,  zuweilen  die  Wahrscheinlichkeit  des  Verlaufes 
durch  eine  leichte  Änderung  erhöht;  rhetorische  Scenen  hat  er  mit 
besonderem  Fleifse  und  Geschick  ausgearbeitet,  einzelnes,  was  seiner 
persönlichen  Eigenart  am  meisten  entsprach,  wie  die  Beschwörungs- 
scene,  eingeschoben,  zuweilen  auf  die  Forderung  der  Zuschauer,  in 
Rührung  versetzt  zu  werden,  Rücksicht,  genommen.  In  der  Charakte- 
ristik  ist  er  ähnHch  zurückhaltend  gewesen.  Nur  einmal  hat  er.  wie 
wir  sahen,  aus  dem  einen  Exabulios  zwei  Personen  gemacht  und  die 
Eigenschaften,  die  jener  bei  den  Historikern  hat,  Bedächtigkeit  und 
Entschlossenheit«  auf  zwei  Personen  verteilt.  Den  griechischen  Titel 
TramojQ  hat  er,  wohl  um  dem  Träger  mehr  Persönlichkeit  zu  verleihen, 
in  den  Eigennamen  Papias  verwandelt,  der  Zauberer  Jamblichus  und 
die  Palastdame  Phronesis  sind  freie  Erfindungen  des  Dichters.  Charak- 
teristischer aber  für  ihn  ist  das,  was  er  seinen  Quellen  nicht  entlehnt  hat. 

Kedrenos  und  Zonaras  bieten  uns  ein  viel  mannigfaltigeres 
Charakterbild  des  Kaisers  Leo.  Die  Unentschlossenheit,  die  im  Drama 
seine  einzige  hervorstechende  Eigenschaft  ist,  zeigt  er  in  den  Quellen 
nur  in  dem  Augenblicke,  als  Theodosia  in  ihm  religiöse  Bedenken 
erreget.  Leo  wird  bei  Kedrenos  als  ein  sehr  fester,  fast  harter 
Charakter  geschildert,  der  überall  mit  gröfster  Energie  durchgriff. 
Den  Patriarchen  Nikophoros,  der  sich  seinen  Wünschen  nicht  fügte, 
hatte  er  abgesetzt,  die  widerstrebende  Priesterschaft  mit  Gewalt  unter- 
drückt*). Die  Verwaltung  des  Reiches  war  so  vortrefflich,  dafs  selbst 
sein  Gegner  Nikephoros  ihm  in  dieser  Beziehung  Bewunderung  zollte**). 
Wenn  er  gegen  Michael  nicht  eher  auftrat,  sondern  immer  Nachsicht 
übte,  so  lag  das  nicht,  wie  bei  Gryphius,  an  einem  Mangel  an  Ent- 
schlossenheit, sondern  an  seiner  Freundschaft  zu  dem  Empörer.  Er 
hatte  ihn  zu  den  höchsten  Ehren  erhoben  und  suchte  ihn,  da  er  den 
tüchtigen  Kern  in  Michaels  Natur  erkannt  hatte,  auf  jede  Weise  zu 
halten.     Erst   als   alles    vergeblich  war,    brachte    er   seine  Freundes- 


*)  Georgias  Cedrenos  ed.  J.  Bekker  tom.  H,  S.  56  ff. 
*♦)  ebd.  S.  59. 


448  Aagust  Heisenberg. 


empfindungen  der  politischen  Notwendigkeit  zum  Opfer.  Die  Nach- 
richten des  Kedrenos  ferner*),  dafs  Leo  von  kleineif  Eitelkeiten  nicht 
frei  war,  dafs  Michael  die  Ehe  des  Kaisers  mit  der  Theodosia  für 
unerlaubt  erklärte  (s.  o.  S.  440,  7),  hat  Gryphius  nicht  verwendet.  Bei 
ihm  haben  wir  eine  Palastrevolution,  die  keine  anderen  Motive  hat 
als  das  Mifsvergnügen  eines  einzigen  Mannes,  der  sich  nicht  genug 
gewürdigt  glaubt  und  sich  zu  höheren  Dingen  berufen  fühlt.  Dazu 
richtet  sich  der  Anschlag  gegen  einen  Herrscher,  von  dem  man  nur 
Gutes  und  Lobenswertes  hört.  Nach  den  Quellen  aber,  die  auch 
Gryphius  benützt  hat,  war  es  eine  grofse  Partei,  die  gegen  Leo 
arbeitete,  es  war  die  Partei  der  Bilderverehrer.  Seitdem  die  Kaiserin 
Irene  im  Jahre  797  die  Regierung  übernommen,  wurden  die  Ikono- 
klasten  unterdrückt  und  die  Bilderverehrung  in  alter  Pracht  wieder- 
hergestellt, und  ebenso  blieb  Leos  Vorgänger  Michael  Rhangabe  ein 
Freund  der  Bilder.  Leo  selbst  aber  trat  bald  nach  seiner  Tronbe- 
steigung  erst  heimlich,  dann  offen  gegen  diese  „Götzendienerei**  auf, 
der  Patriarch  Nikephoros,  der  wie  sein  Vorgänger  Tarasios  ein  An- 
hänger der  Bilderverehrung  war,  wurde  abgesetzt  und  verbannt,  die 
Bilder  entweder  zerstört  oder  vom  Kaiser  heimlich  beseitigt.  Ein 
neuer  Patriarch  Theodotos  sanktionierte  die  Verfügungen  Leos,  in 
alle  mafsgebenden  Stellen  der  Hierarchie  wurden  Ikonoklasten  ge- 
bracht. Wie  grofse  Hoffnungen  die  Bilderverehrer  auf  den  neuen 
Kaiser  Michael  setzten,  geht  deutlich  daraus  hervor,  dafs,  wie  Kedrenos 
erzählt,  der  verbannte  Patriarch  Nikephoros  ein  Schreiben  an  ihn 
richtete,  in  dem  er  um  Wiederherstellung  des  Bilderdienstes  bat. 
Und  in  der  Tat  kam  Michael,  der  in  Glaubenssachen  ganz  indifferent 
war,  den  Orthodoxen  soweit  entgegen,  dafs  er  völlige  Religionsfreiheit 
gewährte.  Erst  auf  diesem  grofsen  geschichtlichen  Hintergrunde  ge- 
winnt die  Erscheinung  des  Bilderfreundes  Tarasios  ihre  rechte  Be- 
deutung. Andreas  Gryphius  aber  hat  auf  diesen  welthistorischen 
Hintergrund  verzichtet. 


München. 


!  *)  Georgius  Cedrenos  ed.  J.  Bekker  tom.  U,  S.  60. 

i 


-•••- 


Uhlands  „Harald"  und  Zaleskis  ,^ubor^^*). 


Von 


Albert  Zipper. 


ZU  den  bekanntesten  Gedichten  des  polnischen  Dichters  Josef 
Bohdan  Zaleski  gehört  die  Ballade  „Lubor^.  Der  Inhalt  der 
i6  Strophen  ist  in  Kürze  folgender: 

Der  alte  tapfere  Feldherr  Lubor  heifst  sein  Heer  Nachtruhe  halten, 
er  selbst  aber  reitet  auf  schwarzem  Rosse  in  einen  finstern  Tann. 
In  Gedanken  durchläuft  er  sein  in  Streit  und  Krieg  verbrachtes  Leben 
und  sinnt  auf  neue  Feldzüge.  Er  hört  nicht,  wie  unfern  an  einer  alten 
Eiche  die  Elfen  zusammenkommen.  Eine  von  ihnen  giebt  in  heftigen 
Worten  ihrem  Ingrimm  Ausdruck,  wie  Lubor  schon  so  lange  Jahre 
nichts  anderes  als  Krieg  treibe,  wie  so  viele  Mütter  und  Bräute  um 
seinetwillen  ihre  Söhne,  ihre  Geliebten  beweinen;  genug  sei's  des 
Ruhmes,  und  Zeit  zu  rasten,  bald  solle  er  die  Augenlider  schliefsen 
und  für  immer  einschlummern.  Die  Elfen  enteilen,  Lubor  indes  nichts 
ahnend  reitet  weiter,  und  macht  erst  an  einem  Bache  halt,  aus  dem 
er,  von  Durst  gepeinigt,  trinkt.  Jedoch  in  dem  Augenblick  über- 
mannte ihn  Schlummer,  er  liefs  das  Pferd  laufen  und  schlief  ein  auf 
einem  Felsen  —  für  ewig.  Das  Rofs  kehrt  ins  Lager  zurück,  die 
Krieger  suchen  ihren  Feldherrn,  finden  ihn  jedoch  nicht  und  beklagen 
ihn  für  tot.  Lubor  aber,  regungslos  wie  ein  Steinbild,  liegt  seit 
Menschengedenken  auf  dem  Felsen  da;  jedoch,  wann  ein  Gewitter  den 
Wald  durchbraust,  da  erwacht  er  und  zieht  das  verrostete  Schwert. 

Wer  diese  Dichtung  von  Lubor  liest  und  Uhlands  „Harald"  im 
Gedächtnis   hat,    dem   mufs    die  Ähnlichkeit   beider   Balladen   in  die 


*)  Da  Herr  Prof,  Dr.  J.  Tretiak  in  der  Sitzung  der  philologischen  Klasse  der 
Krakauer  Akademie  der  Wissenschaften  vom  3.  April  1895  eine  Abhandlung  mit  zum 
Teil  ähnlichem  Inhalte  vorgelegt  hat,  bestätigen  wir  auf  Wunsch  Herrn  Prof.  Zippers, 
dafs  seine  Arbeit  bereits  im  Februar  eingesandt  worden  ist.     Die  Red. 


460  Albert  Zipper. 


Augen  springen.  Auch  bei  näherer  Vergletchung  ergiebt  sich  trotz 
der  Unterschiede,  die  nicht  minder  augenscheinlich  sind,  eine  Anzahl 
den  beiden  Gedichten  gemeinsamer  Einzelheiten,  die  zusammengenommen 
nicht  blofs  einen  zufalligen,  sondern  einen  notw'endigen  ursachlichen 
Zusammenhang  zwischen  der  Ballade  Uhlands  und  der  Zaleskis  er- 
geben. Da  „Harald",  vom  Dichter  für  ein  Feendrama  bestimmt,  den 
lo.  März  1811  geschrieben  worden,*)  in  welchem  Jahre  der  polnische 
Dichter  (geb.  1802,  gest.  1886)  erst  neun  Lenze  zählte,  so  kann  dies 
blofs  in  dem  Sinne  gelten,  dafs  in  „Harald"^  das  primäre,  bedingende, 
in  „Lubor"  das  sekundäre,  bedingte  Moment  zur  Erscheinung  kommt. 

Die  inhaltliche  Ähnlichkeit  beider  Dichtungen  brauch*  ich  nicht 
näher  zu  berühren,  da  über  diesen  Umstand  die  oben  gegebene  ge- 
drängte Inhaltsangabe  von  „Lubor**  jeden,  der  „Harald**  kennt  oder 
aufschlägt,  genügend  belehrt.  Jedoch  nicht  diese  inhaltliche  Ähnlich- 
keit, sondern  erst  die  nun  zu  erörternden  formalen  Berührungspunkte 
sind  ausschlaggebend  für  die  Beurteilung  des  gegenseitigen  Verhältnisses 
der  beiden  Balladen. 

Da  mufs  denn  zuerst  erwähnt  werden,  dafs  das  Metrum  von 
„Lubor**  mit  dem,  in  welchem  „Harald"  verfafst  ist,  gemein  hat: 
I.  die  Zahl  der  Verse,  2.  die  metrische  Gleichheit  und  gröfsere  Länge 
der  ersten  und  dritten,  ebensolche  Gleichheit  und  verhältnismäfsige 
Kürze  der  zweiten  und  vierten  Zeile,  3.  den  Reim  in  der  zweiten  und 
vierten  Zeile.  Vollkommene  metrische  Kongruenz  läfst  die  grund- 
sätzliche Verschiedenheit  deutscher  und  polnischer  Versmessung  kaum 
zu;  jedoch  kommen  die  poetischen  Formen  von  „Lubor"  und  „Harald" 
einander  genug  nahe,  was  um  so  bedeutender  in  die  Wagschale  fallt, 
wenn  man  beobachtet,  wie  manche  andere  Balladen  Zaleskis  einen 
ganz  und  gar  verschiedenen  metrischen  Bau  zeigen. 

Der  angeführten  metrischen  Analogie  tritt  aber  zur  Seite  voll- 
kommene Gleichheit  in  anderer  Beziehung.  Uhland  hat  in  den 
Strophen  i,  7,  9  und  13  im  Reim  den  Namen  des  Helden  „Harald** 
und  paart  damit  3  mal,  nämlich  in  Strophe  i,  9  und  13  (der  Anfiuigs- 
und  Endstrophe  und  einer  in  der  Mitte  des  Gedichts)  den  Reim 
„Wald".  Ganz  ebenso  finden  wir  in  Zaleskis  „Lubor**  —  und  diese 
Identität  kann  unmöglich  dem  Zufall  in  die  Schuhe  geschoben 
werden  —  in  den  Strophen  i,  9  und  16,  also  wieder  in  der  Anfangs-, 
der  Endstrophe  und  einer  in  der  Mitte  des  Gedichts,    zusammen  wie- 

•)  Vgl.   Zeitschrift  Bd.  I,  S.  389   Hermann    Fischers    Untersuchung    «Uhlands 
Beziehungen  zu  ausländischen  Litteraturen". 


Uhlands  „Harald"  und  Zaleskis  ,,Lubor''.  451 

derum  3  mal,  in  der  zweiten  Zeile  den  Namen  des  Helden  („Labor, 
der  alte,  tapfere  Feldherr")  und  in  der  vierten,  damit  reimenden  den 
„finsteren  uralten  Wald".  Uhland  sagt  „der  alte  Held",  „der  kühne 
Held",  „der  stolze  Held"  —  Zaleski  spricht  ganz  analog  von  „Lubor, 
dem  alten,  tapferen  Feldherm";  „dem  wilden  Wald",  „dem  weiten 
Wald"  Uhlands  entspricht  „der  finstre  uralte  Wald"  Zaleskis. 

Die  zweite  Strophe  der  Uhlandschen  Ballade  berichtet  von  den 
Kriegern  Haralds: 

Sie  tragen  manch  erkämpfte  Fahn\ 
Die  hoch  im  Winde  wallt, 
Sie  singen  manches  Siegeslied, 
Das  durch  die  Berge  hallt 

Auch  die  zweite  Strophe  der  polnischen  Ballade  schildert,  wie 
die  in  der  Schlacht  erkämpften  Fahnen  im  Winde  rauschen,  wie  die 
Kriegslieder  im  Walde  widerhallen. 

An  das  Uhlandsche 

Was  rauschet,  lauschet  im  Gebüsch? 

klingt  in  Str.  4  von  „Lubor"  an  der  Ausdruck:  „etwas  flüchtet  im 
Dickicht";  und  ganz  wie  Uhland  seine  Str.  6  beginnt: 

Es  ist  der  Elfen  leichte  Schaar, 

beginnt  Zaleski  Str.  5  mit  dem  Verse: 

Es  war  die  Schaar  der  argen  Elfen. 

Die  Vergleichung  der  Uhlandschen  Zeilen: 

Vom  Felsen  rauscht  es  frisch  und  klar. 


(Er)  trinkt  vom  kühlen  Quell: 

Doch  wie  er  kaum  den  Durst  gestillt. 

Versagt  ihm  Arm  und  Bein; 

Er  mufs  sich  setzen  auf  den  Fels, 

Er  nickt  und  schluounert  ein. 

Er  schlummert  auf  demselben  Stein 

Schon  manche  hundert  Jahr  .  .  . 

mit  den  entsprechenden  Sätzen  Zaleskis: 

„Er  hört  den  Bach  fernher  rauschen  .  .  .  Und  als  er  getrunken, 
ward    er    ein    anderer;    der  Schlununer   begann    seine  Augenlider  zu 


46S  Albert  Zipper. 


schliefsen,  er  schlummerte  ein  auf  dem  Felsen,  er  schlummerte  ein  für 
die  Ewigkeit  .  .  .  seit  Jahrhunderten  in  einer  Stellung  versteint ** 

ergiebt   in    den    aufeinanderfolgenden  Einzelheiten  vielfache  Ähn- 
lichkeit in  der  Darstellung  wie  im  Stil. 
Der  letzten  Strophe  Uhlands  endlich: 

Wann  Blitze  zucken,  Donner  rollt, 

Wann  Sturm  erbraust  im  Wald, 

Dann  greift  er  träumend  nach  dem  Schwert, 

Der  alte  Held  Harald. 

entspricht  wieder  ganz  und  gar  die  letzte  Zaleskis: 

„Wann  von  Norden  her  das  furchtbare  Gewitter  donnert  durch 
den  finstern,  uralten  Wald,  schrickt  auf  und  greift  nach  dem  rostigen 
Schwert  Lubor,  der  alte,  tapfere  Feldherr." 

Zu  guterletzt  verdient  angesichts  des  bisher  Ausgeführten  erwähnt 
zu  werden,  dafs  der  Titel  des  polnischen  Gedichtes  ganz  ebenso  wie 
der  des  deutschen  nichts  als  den  blofsen  Namen  des  Helden  enthält; 
dieser  Art,  seine  Romanzen  und  Balladen  zu  betiteln,  bedient  sich 
jedoch  Zaleski  sonst  nur  ganz  ausnahmsweise. 

Die  angeführten  Analogien  beider  Balladen  lassen  die  Abhängig- 
keit „Lubors"  von  „Harald"  als  Tatsache  erscheinen.  Erklart  wird 
sie  durch  den  Umstand,  dafs  Zaleski  Werke  der  deutschen  Litteratur 
in  der  Originalsprache  las,  wovon  in  der  Sammlung  seiner  Dichtungen 
die  Übersetzungen  von  4  Goetheschen  und  2  Schillerschen  Gedichten 
dauerndes  Zeugnis  ablegen.  Während  Zaleski  in  seinen  Balladen  die 
heimische  Volkssage  als  seine  Quelle  zu  bezeichnen  pflegt  („ukrainische 
Ballade",  „nach  einem  ukrainischen  Volksliede"),  bezeichnet  er  die 
einzige  Ballade  „Lubor"  ganz  allgemein  als  „Ballade  nach  einer  Volks- 
sage", was  ja  auch,  wenn  wir  „Lubor"  als  Variation  von  Uhlands 
„Harald"  auffassen,  in  dem  der  Dichter  ein  paar  Sagenmomente  frei 
verknüpfte,  in  gewissem  Sinne  das  Richtige  trifft.  Sollte  jedoch  auch 
die  Forschung,  was  meines  Wissens  bis  nun  nicht  geschehen,  eine 
slavische  Volkssage  von  entsprechendem  Inhalt  auffinden  und  die 
Möglichkeit  nachweisen,  dafs  sie  der  polnische  Dichter  gekannt  habe, 
so  wird  dadurch  die  in  gegenwärtigem  Artikel  nachgewiesene  Tat- 
sache der  Abhängigkeit  des  Zaleskischen  „Lubor"  von  Uhlands 
„Harald"  nicht  wesentlich  berührt     werden  können. 

Lemberg. 

.«•  — ■ -^ 


Dante  in  der  deutschen  Litteratur 

bis  zum  Erscheinen  der 
ersten  vollständigen  Übersetzung  der  Divina  Commedia  (1767/69).*) 

Von 
Emil  Suls:er-Geblng. 


3.    Dante  in  der  deutschen  Schwanklitteratur. 

Auch  auf  einem  andern  Gebiete  ist  nun  aber  Dante,  ich  möchte 
sagen  mittelbar  in  die  deutsche  Litteratur  eingedrungen.  In 
Italien  liefen  allerhand  kurze  Erzählungen  über  den  grofsen  Dichter 
um,  Berichte  besonders  über  treffende  Antworten,  die  er  in  rascher 
Geistesgegenwart  gegeben,  und  Ahnliches.  „Dante  fu  tenuto  ne*  suoi 
tempi  per  huomo  di  prontissimo  ingegno  nel  rispondere  d^improviso" 
sagt  Domenichi  in  seiner  Anekdotensammlung**),  die  auch  über  den 
grofsen  Poeten  Manches  zu  erzählen  weifs.  So  finden  wir  auch  in 
Poggios  Sammlung  der  Facetien,  die  wir  mit  dem  runden  Jahre  1450 
als  abgeschlossen  betrachten  dürfen***),  mehrfach  seinen  Namen  und 
wenigstens  eines  dieser  Geschichtchen  ist  in  die  deutsche  Schwank- 
litteratur übergegangen.  Wir  treffen  es  zuerst  lateinisch  an  bei  Sebastian 
Brant  Der  elsässische  Populär-Didaktiker,  um  eine  Bezeichnung  W. 
Scherers  zu  gebrauchen,  erzählt  die  Anekdote,  deren  vielleicht  älteste 
Fassung  f )  handschriftlich  vorliegt  von  Michele  Savonarola,  dem  Grofs vater 
des  berühmten  Dominikaners  (im  Codex  CV  der  Bibliotheca  Estense  zu 


♦)  Vgl.  S.  323  f. 
**)  Detti  e  fiattl  di  diversi  Signori.     Venezia  1563,  Bl.  106,  2. 
***)  Gaspary,  Gesch.  der  ital.  Litt  II,  295  f.,  Anm. 

t)  Ich  verdanke  die  folgenden  Nachweise  dem  Schriftchen  von  Papanti:  Dante 
secondo  la  tradizione  e  i  Novellatorl,  Livomo  1873.  Wo  die  Stelle  genau  citiert  ist, 
habe  ich  selbst  nachgeprüft. 


454  Emil  Sulger-Gebing:. 


Modena).  Ebenfalls  lateinisch  finden  wir  sie  femer  bei  Petrarca  (rerum 
memoran darum,  lib.  II*)  bei  Poggio  in  den  Facetiae**),  italienisch  im 
Novellino,  bei  Carbone,  Vespasiano  u.  A.  Bei  Brant  steht  sie  in  latei- 
nischer Fassung  in  dem  Werke:  „Esopi  appologi  sive  mythologi  cum 
quibusdam  carminum  et  fabularum  additionibus  Sebastianus  Brant/^ 
Sine  loco  et  anno  ***).  Jedenfalls  dürfen  wir  das  mir  leider  unzugäng- 
liche Buch  noch  ins  Ende  des  XV.  oder  spätestens  in  die  ersten  Jahre 
des  XVI.  Jahrhunderts  setzen,  und  haben  als  wahrscheinlich  anzu- 
nehmen, dafs  die  Fassung  Poggios  einfach  von  Brant  übernommen 
und  abgedruckt  wurde  f).  Die  deutsche  Übersetzung  liegt  mir  vor  m 
der  Ausgabe  „Friburg  im  Brissgaw,  Durch  Stephanum  Melechum  GraflF 
jm  Jar  MDXLV"ff)  unter  dem  Titel:  „Esopus  Leben  und  Fabeln  mit 
sampt  den  Fabeln  Aniani,  Adelfonsi  und  etlichen  SchimpfFreden  Pogij. 
Darzu  auszüge  schöner  fabeln  und  exempeln  Doctors  Sebastian  Brant, 
alles  klärlich  mit  schönen  figuren  und  registern  angestrichen"  f ff). 
Hier  steht  auf  Blatt  CXXXI  genau  nach  Poggio  die  Geschichte  von 
der  Antwort  Dantes  an  einen  Hofnarren  Cangrandes  der  ihn  damit 
aufgezogen  hatte,  dafs  der  Dichter  bei  all  seiner  Weisheit  so  bedürftig 
bleibe,  während  er,  der  Narr,  ihm  an  Reichtum  so  weit  übertreffe. 
„Do  sprach  Dantes:  Wann  ich  find  einen  herren,  der  mir  gleich  ist 
und  meinen  sitten  gleichförmig  als  du  den  deinen  funden  hast,  so  wirt 
er  mich  auch  reich  machen.  Ein  schwer  und  weise  antwurt,  Dann 
allweg  erfreuen  sich  die  herren  der  Menschen  gwonheit,  beiwonung 
und  geheimsamkeit,  die  jn  gleich  sind."  Über  Dantes  Persönlichkeit 
giebt  nur  der  einleitende  Satz  eine  spärliche  Auskunft,  der  zugleich 
durch  Danebenstellung  des  Originals  als  Probe  der  Übersetzung 
dienen  mag: 


*)  Opera  omnia.     Bas.  1554.  S.  480. 

**)  Als  56.  Poggii  Florentini  Opera.     Argentinae  1513.  fol.  163, 
•*•)  So  citiert  Scart.  (1.  c.  U.   144)  und  setzt  hiniu  (Ulm   1480?)  —  Bei  Goedeke  * 
I.  390  finde  ich  den  Titel  angegeben:    Mythologi  Esopi    clarissiml    fabulatoris    una  cum 
Aniani  et  Remicii  quibusdam  fabulis  per  Sebastianum  Brant  etc.  Basileae  1501. 

t)  So   falst   wenigstens    den  Vorgang   Reinh.  Köhler  (Jahrb.   f&r  roman.  u.  engl. 
Sprache  u.  Litt.  N.  F.  ü.  427). 

f  t)  MOnchener  Staatsbibliothek, 
ttt)  Nach  Reinh.  Köhler  (1.  c.)  rührt  die  Obersetzung  nicht  von  Brant  her.  Er  sagt: 
«Diese  von  Brant  gesammelten  Geschichten  und  Fabeln  (d.  h.  die,  welche  Brant  dem 
lat.  Esopus  zugefügt  hatte)  sind  nun,  von  einem  unbekannten  Obersetzer  ins  Deutsche 
übersetzt,  seit  1535  den  Ausgaben  des  Steinhövelschen  deutschen  Äsops  beigefikgt 
worden.**  Auch  Goedeke  (Grundr.  'LS  370)  giebt  die  Ausgaben  nur  unter  dem  Stein- 
hövelschen  Esopus  an,  ohne  den  genauen  Titel  anzuführen. 


Dante  in  der  deutschen  Litteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.     U.  465 

Seb.  Brant  (resp.  sein  unbek.  Über-  Poggio. 

Setzer). 
Dantes    Aligerius    ein    poet    zu  Dantes    aligerius    poeta    noster 

Florentz  ward  etwan    lang  ufFge-  Florentinus  aliquamdiu  sustentatus 

halten  zu  Veron  und  erzogen  von  est  Veronae  opibus  Canis  veteris 

dem    gut  Canis  des   alten  fürsten  Principis    della    scala,    admodum 

von  der  leitern,  der  vast  fry  was.  liberalis.  (Opera,  Argentinae  151 3. 

fol.  163.) 

Also  sehr  enger  Anschlufs  an  das  Original,  der  durch  die  ganze  Er- 
zählung durchgeht  und  nur  gelegentlich  durch  Beifügung  synonymer 
Worte  durchbrochen  wird.     Man  vergleiche  noch: 

so  doch  denselben  als  ein  unge-  Cum  illum  veluti  beluam  insul- 

lert  fiech  Dantes  der  gelert,  weifs  sam  Dantes  vir  doctissimus  sapiens 

und  sittig  man  (als  billich  was)  ver-  ac  modestus,  ut  aequum  erat,  con- 

schmecht  und  verachtet.  temneret. 

Oder  zu  dem  o^)en  citierten  letzten  Satze  die  lateinische  Fassung: 
Gravis  sapiensque  responsio.  Semper  enim  domini  eorum  consuetu- 
dine  (wofür  deutsch  „gewonheit,  beiwonung  und  geheimsamkeit")  qui 
sibi  sunt  similes  delectantur. 

Von  Sebastian  Brant  wandert  der  Stoff  weiter  zu  Hans  Sachs. 
Vielleicht  angeregt  durch  Herolds  Monarchey  schrieb  der  Nürnberger 
Meistersänger  am  7.  März  1563  seine  Historia:  Dantes  der  Poet 
von  Florentz,  die  aber  erst  1579  im  V.  Buch  seiner  Gedichte 
(pag.  CCLXXVIII)  gedruckt  wurde.  Die  oben  erzählte  Geschichte 
von  Dantes  Antwort  an  den  Hofnarren  Cangrandes  ist  hier  umrahmt 
von  einer  Einleitung,  die  eine  kurze  Lebensskizze  des  Dichters  geben 
will,  und  einem  „Beschlufs",  der,  60  Verse  lang,  die  spiefsbürgerliche 
Moral  des  „gleich  und  gleich  gesellt  sich  gern"  in  gar  behaglicher 
Breite  vorträgt.     Die  ersten  Zeilen  desselben: 

Doktor  Sebastianus  Brant, 

Der  thut  uns  die  Geschieht  bekandt 

bezeichnen  die  Quelle  für  die  eigentliche  Schwankerzählung,  die  Sachs 
übrigens  vielleicht  auch  aus  direkterer  Überlieferung  kannte.  In  dem 
Verzeichnis  seiner  Büchersammlung*)  nämlich  finden  wir  zunächst  einen 
einzigen  Titel,  der  ein  italienisches  Original  bezeichnen  könnte:  „Cento 
Novelle  Johannis  Bocacij",  richtiger  werden  wir  auch  hier  eine  Uber- 

*)  Veröffentlicht  von  K.  Goedeke  im  Archiv  fQr  Litt.-Gesch.  VII.  1—6. 
Ztflchr.  f.  Tgl.  Litt.-Gesch.    N.  P.  VIII.  3Q 


466  Emil  Sulger-Gebingr. 


Setzung  annehmen.  Der  Titel  derjenigen  von  Steinhövel  heifst  z.  B.  in 
der  Ausgabe  von  1490:  „Cento  novelle.  Das  seind  die  hundert  neuen 
Fabeln**  u.  s.  w.,  in  der  von  1535:.  „Centum  Novella  Johannis  Boccaccii** 
etc.*).  —  Es  folgen  mehrere  Übersetzungen  aus  dem  Italienischen, 
nämlich  „Franciscus  petrarcha  von  payderlej  glueck  und  unglueck 
2  puch****),  „Franciscus  petrarcha  gedenkpuoch,  4  puecher*****),  „Joannes 
Bocacius  die  99  durchlewchting  frawen**f)  endlich  „Joannes  Bocius 
(sie!)  von  der  unglueckhafftigen  person  9  puecher**ft).  Davon  ergiebt 
nur  das  zweite  Werk  von  Petrarca  eine  Ausbeute  für  Dante:  im 
II.  Buch  der  nach  Art  des  Valerius  Maximus  zusammengestellten  Rerum 
memorandarum  steht  die  Erzählung  von  Dantes  Antwortf  f  f  )ohne  jedoch 
abweichende  Züge  zu  der  Poggio-Brantschen  Version  zu  liefern,  so 
dafs  es  zweifelhaft  bleibt,  ob  Sachs  auch  aus  dieser  immerhin  direkteren 
Quelle  geschöpft  habe.  Von  seinem  deutschen  Vorbild  verzeichnet  er: 
„Esopus  seine  4  puecher  und  ander  fabel  aufserhalb**,  wohl  sicher 
die  oben  genannte  Ausgabe,  und  „Sebastianus  prant  fabel**,  womit 
dasselbe  Buch  ein  zweites  Mal  genannt  sein  dürfte. 

Wichtig    sind    nun   für  uns  besonders  die  Einleitungsverse  seiner 
Historie.     Sie  lauten: 

Als  Dantes  Aligorius, 

Der  hoch  Poet  Laureatus, 

Wohnet  in  der  Statt  zu  Florentz, 

Ehrlich  und  wol  mit  reverentz. 

Der  von  seiner  missgoenner  schar 

Fälschlichen  angeklaget  war, 

Ausz  der  Statt  on  schuld  ward  vertriben. 

Der  darnach  ist  ein  Zeitlang  bliben 

Zu  Paris  auff  der  hohen  Schul, 

Da  er  besasz  der  Künsten  Stul, 

Ein  Poet  und  sinnreicher  Dichter, 

Künstlicher  Carmina  ein  Schlichter, 

Da  er  macht  manch  löblich  Gedicht, 

Nemlich  ein  Buch  darinn  bericht 

Ganz  artlich,  subtil  und  gering, 

*)  Goed.  «  I.  368. 
♦•)  de  remediis  utriusque  fortunae. 
**♦)  rerum  memorandarum  über. 

f)  de  claris  mulieribus. 
ff)  Boccaccios  de  casibus  virorum  Illustrium  libri  IX. 
fff)  Opera  omnia.    Basileae  1554.    S.  480. 


Dante  in  der  deutschen  Litteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.    II.  457 

Htmlisch,  Hellisch,  Irdische  ding, 
Künstlich  beschrib  und  declarirt 
Mit  scharpfiem  sinn  umb  speculirt, 
Welliches  noch  wird  hoch  geacht, 
Bey  den  Glehrten  künstlich  verbracht, 
Und  nach  dem  er  ausz  Frankreich  zug. 
Er  sich  zu  Canis  Grandi  schlug, 
Dem  Herrn  von  der  Leitern  zu  Bern, 
Der  glehrte  Leut  bei  jm  het  gern 
An  seinem  Hof,  der  sie  thet  speisen, 
Und  g^ten  willen  jn  beweisen  u.  s.  w. 

Wo  haben  wir  nun  die  Quelle  für  diese  Angaben  zu  suchen?  Es 
liegt  nahe,  und  auch  Scartazzini  weist  darauf  hin*),  an  die  vier  Jahre 
vorher  erschienene  Monarchey  Herolds  zu  denken,  deren  Bekannt- 
schaft wir  wohl .  bei  Hans  Sachs  voraussetzen  dürfen.  Zunächst  finden 
wir  Übereinstimmung  in  der  Darstellung  der  Verbannung,  sowie  des 
Aufenthalts  bei  Cangrande,  der  sich  allerdings  auch  aus  der  Schwank- 
vorlage direkt  ergab.  Auffallend  erscheint  auch  die  Wiederkehr  der 
Worte  wol  und  ehrlich,  allerdings  umgestellt  (Herold:  „wol,  erlich, 
auffrecht,  doch  streng  und  prachtig  hielt  er  sich";  Sachs:  „ehrlich 
und  wol  mit  reverentz").  Dagegen  stimmt  nicht  die  Reihenfolge  der 
Aufenthaltsorte:  Herold  läfst  Dante  von  Verona  aus  nach  Paris  gehen, 
während  Sachs  ihn  erst  von  Paris  aus  zu  Cangrande  kommen  läfst; 
darauf  ist  jedoch  kaum  grofses  Gewicht  zu  legen,  da  schon  die  ge- 
reimte Form  dem  Nürnberger  Meister  gröfsere  Freiheit  vertattete  und 
er  gar  wohl  berechtigt  war,  nur  das  ihm  Wichtige  herauszuheben. 

Am  meisten  Schwierigkeiten    macht   der  Vers    „da  er  besafs  der 

Künsten  Stuhl",  d.  h.  Sachs  läfst  Dante  in  Paris  Professor  sein.    Woher 

kann    er   diese  Auffassung    haben?     Die  Sache    wäre   ja    an  sich  bei 

dem  damals  etwa  vierzigjährigen  Dante  überaus  wahrscheinlich,    aber 

keine  der  bekannten  Quellen  für  sein  Leben  bezeugt  es.    Es  ist  schon 

eine  Streitfrage  unter  den  neueren  Danteschriftstellern,  in  welche  Zeit 

man  die  Reise  nach  Paris  zu  setzen  habe,   ob  vor  die  Verbannung  aus 

Florenz,  wo  sie  dann  allerdings  den  Charakter  einer  Studienreise  tragen 

müfste    (diese    Auffassung    vertreten    z.   B.   Scheffer-Boichorst**)  und 

Wegele***))  oder  ob  erst  in  die  Zeit  des  Exils,  wobei  es  auch  schwer 

*)  1.  c.  I.  la. 
**)  Aus  Dantes  Verbannung.     Strasburg  1882.     S.  249  ff. 
♦♦*)  Dante  Alighieris  Leben  und  Werke,  3.  Auflage,  Jena  1879.     S.  94  ff. 

80* 


458  Emil  Sulger-Gebing. 


fallt,  Sie  genauer  zu  fixieren.  Bezeugt  ist  sie  unter  den  älteren  wich- 
tigsten Autoren  von  Villani  im  IX.  Buche  seiner  Chronik  (die  aber 
erst  1577  zum  ersten  Male  in  Florenz  gedruckt  wurde)  von  Boccaccio 
in  der  vita  di  Dante*),  sowie  bei  dem  oben  (S.  223)  erwähnten  Gio- 
vanni da  Serravalle  **).  Im  Allgemeinen  neigt  man  heute  der  Auf- 
fassung zu,  sie  in  diese  spätere  Zeit  zu  setzen,  und  Scartazzini 
verficht,  allerdings  nur  mit  Wahrscheinlichkeitsgründen ,  die  An- 
sicht, dafs  Dante  in  der  Tat  zu  Paris  Professor  gewesen  sei***). 
Das  neuerdings  von  Denifle  und  Chatelain  herausgegebene  Chartu- 
larium  Universitatis  Parisiensis  ergiebt  keinen  Aufschlufs.  Die  einzige 
Stelle,  die  in  den  alten  Zeugnissen  sich  wenigstens  einigermafsen 
dahin  deuten  liefse,  und  die  auch  Hans  Sachs  gekannt  haben  kann, 
steht  in  einem  andern  Werke  Boccaccios,  nämUch  in  seiner  Schrift 
„de  genealogia  Deorum"  Buch  XV,  Cap.  6f),  wo  es  unter  Anderm 
von  Dante  heifst:  Fuit  enim  inter  cives  suos  egregia  nobilitate  ve- 
rendus,  et  quantumcunque  tenues  essent  illi  substantiae,  et  a  cura 
familiari,  et  postremo  a  longo  exilio  angeretur,  semper  tarnen 
Physicis  atque  Theologicis  doctrinis  imbutus  vacavit  studiis,  et  adhuc 
Julia  fatetur  Parisius,  in  eadem  saepissime  adversus  quoscumque  circa 
quamcumque  facultatem  volentes  responsionibus  aut  positionibus  suis 
objicere  disputans  intravit  gymnasium.  Diese  Stelle,  die  ja  zunächst 
nur  besagt,  dafs  Dante  in  Paris  als  gewaltiger  Disputator  in  ver- 
schiedenen Disziplinen  bekannt  war,  ist  die  einzige,  welche  allenfalls 
den  weiteren  Schlufs  erlaubt,  dafs  er  das  nicht  als  Lernender,  sondern 
als  Lehrender  getan  habeff),  wie  ja  auch  eine  Lehrtätigkeit  zu 
Ravenna  in  seinen  letzten  Lebensjahren  zum  mindestens  sehr  wahr- 
scheinlich ist.  Boccaccio  wenigstens  berichtet  in  der  vita:  e  quivi 
(sc.  a  Ravenna)  colle  dimostrazioni  sue  fece  piü  Scolari  in  poesia  e 
massimamente  nella  volgare.  (1.  c.  S.  3 1 )  Falls  wir  Hans  Sachs  (auf  welchem 
Umwege  aber?)  eine  Kenntnis  dieser  Stelle  zuschreiben  dürften,  so 
läge  ja  der  weitere  Schlufs,    dafs    der  Dichter    auch    in  Paris    schon 


*)  Der  erste  Druck  steht  in  der  Ausgabe  der  Commedia,  Venedig  1477. 
**)  Die  betreflfende  Stelle    aus    dem  ungedruckteo  Commentar  ist  citiert  bei  Tira- 
boschi,  storia  della  letteratura  italiana  V.  444.     (Venedig  1795.) 

***)  So  besonders:  „Prolegomeni  della  Div.  Com."  (1890)  S.  95  ff.  und  „Dante- 
Handbuch"  (1892),  wo  er  der  Frage  (S.  122  ff.)  ein  eigenes  Kapitel:  ,, Student  oder 
Docent?**  widmet.  Vergl.  auch  „Dante  in  Germania"  II.  344  ff. 
f)  Basler  Ausgabe  v.  1532  S.  389. 
ff)  Dafs  Boccaccio  selbst  es  nicht  so  gefafst,  scheint  mir  evident,  da  er  sich  sonst 
selbst  widerspräche.  Er  sagt  in  der  vita:  „se  n*and6  a  Parigi;  e  quivi  tutto  si  diede 
allo  studio  e  della  filosofia  e  della  teologia  (Ausgabe  v.  Macri  Leone  S.  29). 


Dante  in  der  deutschen  Litteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.     11.  459 


„der  Künsten  Stuhl"  besessen,  für  ihn  nahe  genug!  Aufserdem  aber 
bleibt  blofs  die  Annahme  einer  allerdings  kühnen,  immerhin  durch 
den  Reim  erklärlichen  poetischen  Licenz  übrig. 

Ebenfalls  sehr  auffällig  ist  des  Weiteren  der  Vers  über  die  Commedia: 
Himmlisch,  Hellisch,  Irdische  ding;  denn  Purgatorio  (bei  Herold 
ganz  richtig  „vom  fegfewr")  so  einfach  mit  „irdische  Dinge"  zu  be- 
zeichnen, wäre  zum  mindesten  höchst  ungewöhnlich.  Man  könnte 
zunächst  an  die  vita  nuova  oder  mit  mehr  Wahrscheinlichkeit  noch 
an  die  Monarchie  denken,  aber  dem  widerspricht  der  Zusammenhang 
(Nemlich  ein  Buch  darinn  etc.).  Ein  Ausweg  liefse  sich  finden:  be- 
kanntlich befindet  sich  in  Dantes  Darstellung  der  Berg  des  Purgatorio 
in  der  Tat  auf  der  Erde,  nämlich  bei  den  Antipoden  korrespondierend 
mit  Jerusalem  auf  unserer  bewohnten  Hälfte.  Wäre  also  irgend  eine 
direkte  Bekanntschaft  des  Hans  Sachs  mit  der  Commedia  anzunehmen, 
so  könnte  man  hierin  eine  genauere  örtliche  Bezeichnung  der  drei 
Reiche  sehen  („hellisch"  d.  h.  das  Inferno  unter  der  Erde;  „irdisch" 
d.  h.  das  Purgatorio  auf  der  Erde;  „himmlisch"  d.  h.  das  Paradiso 
über  der  Erde).  Da  nun  aber  eine  solche  nähere  Bekanntschaft  nicht 
vorausgesetzt  werden  darf,  da  sie  doch  wohl  auch  sonst  Spuren  in 
der  Dichtung  des  Nürnberger  Meisters  hinterlassen  hätte,  so  bleibt 
zur  Erklärung*),  solange  nicht  eine  neue  Quelle  mit  ähnlichem  Aus- 
drucke erschlossen  wird,  wieder  nur  die  leidige  poetische  Licenz  übrig, 
die  hier  allerdings  um  so  härter  erscheint,  als  es  sich  nicht,  wie  im 
vorigen  Fall,  um  den  Reim  handelt. 

Wichtig  ist,  dafs  die  angeführten  Verse  bezeugen,  Dante  sei  zur 
Zeit  des  Hans  Sachs  bei  den  Gelehrten  hoch  geachtet  gewesen,  ein 
Ausdruck,  der  mit  dem  Superlativ  „celeberrimus"  in  dem  oben  mit- 
geteilten Brief  des  Oporinus  völlig  übereinstimmt.  Freilich  viel  weiter 
als  auf  den  Namen  und  die  Titel  der  Werke,  kann  sich,  abgesehen 
von  der  Monarchia,  die  Bekanntschaft,  worauf  sich  diese  Berühmtheit 
gründete,  damals  in  Deutschland  noch  nicht  erstreckt  haben. 

Diese  selbe,  von  Hans  Sachs  behandelte  Facetie  Poggios  findet 
sich  gemeinsam  mit  zwei  andern  auf  Dante  bezüglichen  des  gleichen 
Autors  in  einem  Buche,  das  überhaupt  eine  reiche  Fundgrube  für  das, 
was  jene  Zeit  von  unserm  florentinischen  Dichter  wufste,  abgiebt, 
nämlich  in  dem  mehrbändigen  lateinischen  Werke  des  Basler  Medizin- 
professors Theodor  Zwinger  (1533  —  1588)  „Theatrum  vitae 
humanae",  das  zuerst  1565  in  19,  dann  1571  in  20  und  endlich  1586 

*)  Hat  H.  Sachs  nicht  vielleicht  aus  konfessionellen  Bedenken  das  den  Anhängern 
Luthers  ärgernisgebende  Fegfeuer  durch  irdische  Ding  ersetzt?    Vgl,  S.  463  (M.  K.). 


460  Emil  Sulger-Gebing. 


in  29  Büchern  (Zwinger  nennt  sie  volumina,  die  dann  nochmals  in 
libri  abgeteilt  sind)  zu  Basel  gedruckt  wurde.  Ich  bediene  mich  dieser 
letzten,  als  der  vollständigsten  Ausgabe*);  Neuauflagen  derselben 
erfolgten  1596  und  1603.  -^.n  nicht  weniger  als  15  Stellen,  die  sich 
auf  Vol.  I  bis  Vol.  XXI  verteilen,  finden  wir  Dantes  Namen  in  den 
gewichtigen  Folianten  vor.  Da  druckt  Zwinger  in  engstem,  zumeist 
ganz  wörtlichem  Anschlufs  folgende  Facetien  Poggios  ab:  die  70. 
(Dante  fragt  einen  Uberlästigen ,  welches  das  gröfste  Tier  sei?  — 
dieser  antwortet:  der  Elefant,  und  Dante  repliziert:  so  verlafs  mich, 
Elefant)  in  Vol.  I,  lib.  i  (S.  24)**),  dann  die  oben  besprochene  56- 
in  Vol.  XIV,  lib.  i  (S.  2891)***),  endUch  die  57.  (die  Höflinge  Can- 
grandes  werfen  beim  Essen  alle  Knochen  unter  Dantes  Stuhl,  um  ihn 
lächerlich  zu  machen;  als  das  beim  Aufstehen  sichtbar  wird,  sagt 
Dante  ruhig:  die  Hunde  haben  die  Knochen  mitgegessen,  ich  nicht 
also,  da  ich  kein  Hund  bin)  in  Vol.  XIV,  lib.  3  (S.  2966).  An  anderem 
Orte  (S.  1698)  erzählt  Zwinger  nach  Josephus  die  gleiche  Geschichte  noch 
einmal  als  am  Hofe  des  Ptolemäers  Epiphanes  zu  Alexandria  geschehen, 
wo  der  junge  Hircanus  die  Antwort  giebt,  und  fugt  bei,  man  habe  die 
Anekdote  dann  auch  auf  Dante  übertragen.  —  Die  übrigen  Stellen, 
die  sich  alle  auf  wenige  Zeilen  beschränken,  erzählen  von  Dantes  Exil 
bei  Cangrande  und  in  Ravenna,  bei  Giudo  von  Polento  und  Maruello 
Malaspina  (S.  793,  11 70  und  2926),  überall  als  Quelle  Volaterranus 
nennend;  von  einer  angeblichen  Gesandtschaft  Dantes  nach  Venedig 
im  Auftrage  Guidos,  um  Frieden  zu  stiften,  was  jedoch  mifslungen, 
aus  Gram  über  diesen  Mifserfolg  sei  der  Dichter  gestorben  (S.  494 
und  746):  auch  hier  ist  Volaterranus  der  Gewährsmann;  von  der 
Monarchie  und  Dantes  Verdammung  als  Ketzer  nach  seinem  Tode 
mit  einem  Hinweis  aufBartolus  (S.  1023);  von  seinem  Verhalten  beim 
Herannahen  Heinrichs  des  VII.  (S.  2823)  mit  Anfuhrung  des  Sabelli- 
cusf).  Endlich  wird  dreimal  in  ganz  gleicher  Weise  eine  Anekdote 
über  die  Zerstreutheit  des  Dichters  erzählt  (S.  3821,  3822  und  3854), 


*)  Die  Auflage  von  1565  bildet  einen  starken  Folianten  von  1428  Seiten,  die  Ton 
1586  hat  4  Foliobände  mit  insgesamt  4373  Seiten! 
*♦)  Das  ganze  Werk  ist  durchpaginiert. 
***)  Diese   Facetie   findet   sich    ebenfalls  lat.  noch    1638    in  Monumenta   illustrium 
vironim  et  elogia  (Amsterdam  1638)  von  Marcus  Zuerius  Boxhomius,    Prof.  der  Bered- 
samkeit in  Leyden  (1612 — 1663). 

t)  Antonius  Coccius  SabelUcus  (f  1506)  Rapsodiae  historiarum  Enneadum  ab 
urbe  condita.  Venedig  1498  u.  1504.  Die  Stelle  über  Dante  (Enneade  IX,  lib.  VII) 
steht  in  der  Pariser  Ausgabe  von  15 16/ 17  in  Bd.  11.  fol.  259. 


Dante  in  der  deutschen  Litteratur  dte  15.  bis  17.  Jahrhunderts.    II.       461 

die  Aenea  Silvios  Kommentar  zu  Antonius  Panormita  entnommen  isf"). 
Am  wichtigsten  für  uns  ist  die  folgende  Notiz  in  Vol.  IV,  lib.  3,  als 
deren  Quelle  .  wiederum  Volaterranus  erscheint  (S.  1155):  Dantes 
Aligerius  Florentinus,  Hetrusca  Lingua  Lucretius  alter**)  vir  doctissi- 
mus  et  in  Theolog^  scholastica  versatissimus  scripsit  de  Purgatorio, 
de  Inferno,  de  Paradiso.  Hierin  liegt  ein  direktes  Zeugnis  für  die 
Hochachtung,  welche  die  Gelehrten  laut  Hans  Sachs  dem  italienischen 
Dichter  entgegenbrachten,  und  besonders  der  bei  Volaterranus  nicht 
gegebene  Vergleich  mit  Lucrez,  dem  von  den  Männern  der  Renaissance 
so  hochgeschätzten  Lehrdichter,  wiegt  schwer,  mag  er  auch  von 
Gyraldus  übernommen  sein. 

Ganz  vereinzelt  steht  gegen  Ende  des  Jahrhunderts  noch  ein 
Zeugnis  über  Dante,  das  seiner  ganzen  Fassung  nach  besser  an  den 
Anfang  der  Lexikographenreihe  eines  Hoffmann,  König,  Freher  im 
folgenden  Säkulum  gehörte,  chronologisch  aber  hier  noch  eingereiht 
werden  mufs.  Sein  Verfasser,  ein  Rechtsgelehrter  wie  Wolfius,  ist 
Nicolaus  Reusnerus(i  545 — 1602,  Prof.  in  Strafsburg  u.  Jena,  woselbst 
er  als  Rektor  magnificus  gestorben).  Von  ihm  erschien  1591  zu  Basel, 
wo  er  1583  sich  den  Doktortitel  erworben  hatte,  das  mit  zahlreichen 
Porträts  geschmückte  Büchlein:  „Icones  sive  imagines  vivae  literis 
Cl.  Virorum  Italiae,  Graeciae,  Germaniae,  Galliae,  Angliae,  Ungariae". 
Auf  Blatt  A,  7  finden  wir  denn  auch  Dantes  Bild  mit  der  Unterschrift: 

Conditor  Etruscae  Linguae,  bonus  esse  Poeta 
Glorior:  Ingenium  Comica  musa  probat. 

deren  letzter  Satz  allein  schon  beweist,  dafs  der  Verfasser  die  Com- 
media  nicht  gelesen  hat,  die  er  allerdings  nachher  im  Texte  richtiger 
als  „Heroica  Comoedia  illa^  bezeichnet.  Er  giebt  im  Anschlufs  an 
die  Elogia  des  Paulus  Jovius***)  unter  Anhäufung  von  lobenden  Bei- 
wörtern, die  Nachrichten,  dafs  Dante  in  Florenz  unter  den  höchsten 
Beamten  gesessen,  bald  aber  —  „fato  nescto  quo  (!)"  —  verbannt 
worden  sei  und  sich  „foetibus  ingenii  egreg^is  ac  imprimis  Heroica 
Comoedia  illa,    Platonicae  eruditionis  lumine  plena^   (auch  dies  nach 


*)  Enea  Silvio  Piccolomini  (1405 — 1464)  schrieb  seinen  Comment.  in  libros 
Antonii  Panormitae  poetae  de  dictis  et  factis  Alphonsi  regis  memorabilibus  im  Jahre  1456 
(Gaspary,  Gesch.  d.  ital.  Litt.  II.  isS). 

**)  Derselbe  Vergleich  findet  sich  bei  dem  Ferraresen  Lilius  Gregorius  Gyraldus 
(t  1553)  i°  seinen  Dialogi  de  historia  Poetarum  (Basileae  1545  S.  667  f.},  die  Zwinger 
wohl  gekannt  hat. 

***)  Venetüs  1546.    S.  6.    Die  Ausdrücke  oft  wörtlich  von  Jovius  übernommen. 


462  Emil  Sulger-Gebing. 


Jovius)  berühmt  gemacht  habe,  und  nennt  am  Schlüsse  Jahr  und  Ort 
seines  Todes,  sowie  sein  Alter.  Dann  aber  folgen,  und  das  bildet 
bei  Reusner  immer  die  Hauptsache,  die  Grabschriften  und  Lobgedichte. 
Zunächst  die  dem  Dichter  selber  zugeschriebene  (s.  S.  245),  dann 
die  bei  der  Renovierung  des  Grabmals  1483  von  Bernardo  Bembo, 
dem  Vater  des  berühmten  Kardinals,  verfafste.  An  diese  reihen  sich 
fünf  Disticha  des  Constantinopolitanischen  Poeten  Michaelis  Marullus, 
der  sich  seit  1453  in  Italien  aufhielt  (+  1500):  sie  sind  dessen  Epi- 
grammen und  Hymnen  in  4  Büchern  entnommen,  die  1 504  in  Bologna, 
1508  in  Strafsburg  gedruckt  wurden*).  Den  Schlufs  bilden  drei 
Disticha  des  brabantischen  Canonicus  Joh.  Latomus  (1525 — 1578),  der 
späteren  Auflagen  der  elogia  des  Jovius  verschiedene  Epigframme  bei- 
gefugt hat**).  Da  die  beiden  erstgenannten  Grabschriften  ebenfalls 
bei  Paulus  Jovius  abgedruckt  sind,  so  hat  also  Reusner  mit  Ausnahme 
der  Verse  des  MaruUus  ausschliefslich  aus  diesem  geschöpft. 

4.  Zeugnisse  undUbersetzungsversuche  imXVII.  Jahrhundert. 

Während  wir  so  im  XVI.  Jahrhundert  dem  Namen  und  der  Gestalt 
Dantes  auf  deutschem  Boden  in  verschiedener  Weise  begegnen,  immer 
aber  so,  dafs  nur  für  die  Monarchia  eine  direkte  Bekanntschaft  mit 
seinen  Schriften  angenonmien  werden  kann,  zeigen  sich  im  XVII. 
aufser  Zeugnissen  über  ihn  die  ersten  Versuche  metrischer  Nachbil- 
duttgen  von  Stellen  aus  der  Commedia,  zunächst  nur  aus  zweiter 
Hand,  d.  h.  als  Citate  in  übersetzten  Werken  mit  übersetzt,  dann 
auch  schon  nach  freier  Wahl  in  selbständiger  Weise. 

Ein  Zeugnis***)  steht  hier  billig  voran,  das  an  der  Schwelle  des 
neuen  Jahrhunderts  eine  hochstehende  deutsche  Persönlichkeit  für  den 
grofsen  Dichter  abgelegt  hat.  Es  beweist  die  Bekanntschaft  eines 
deutschen  Fürsten,  der  zugleich  in  litterarischen  Dingen  eine  führende 
Stellung  innehatte,  mit  Dante  und  ist  deshalb  ein  bedeutsames  Zeichen 
für  dessen  Bekanntwerden  auch  diesseits  der  Alpen.  Der  Gründer 
und  langjährige  Vorstand  der  fruchtbringenden  Gesellschaft  Fürst 
Ludwig  von  Anhalt-Cöthen  (1579-1650)  verfafste  eine  gereimte 
Beschreibung  seiner  in  den  letzten  Jahren  des  XVI.  Jahrhunderts  unter- 
nommenen   italienischen  .Reise. f)      Während    dieses  lange  dauernden 

*)  Die  Verse  auf  Dante  stehen  in  der  Strafsburger  Ausgabe  auf  Blatt  f  i. 
**)  Die  Verse    des  Latomus  auf  Dante    stehen    z.  B.  in    der  Basler  Ausgabe   des 
Jovius  von  1577,  S.  11. 

•••)  Nachgewiesen  von  Joh.  Bolte  in  der  Zeitschrift  filr  vergl.  Litt.  Gesch.  I,   164. 
t)  Gedruckt  erst  1716  in  Beckmann,  Accessiones  historiae  Anhaltinae,  Zerbst  17 16, 

5.  165 — 292.  Goedeke  (Grundr.  '  III.  73)  giebt  die  Dauer  der  Reise  von  1598  bis  1604  an. 


Dante  in  der  deutschen  Litteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.     II.  468 

Aufenthalts  im  Vaterlande  Dantes,  der  ihm  die  Aufnahme  in  die 
Accademia  della  Crusca  einbrachte  und  jedenfalls  auch  die  erste 
Anregung  zu  seiner,  erst  1643  veröffentlichten  Übersetzung  der  trionfi 
des  Petrarca  gab,  kam  er  auch  nach  Neapel  und  traf  auf  einem  Aus- 
fluge nach  Pozzuoli  mit  einem  Spafsmacher  Namens  Dante  zusammen. 
Von  ihm  berichtet  er  folgendermafsen: 

Er  von  der  Freundschaft  sich  aus  den  Poeten  gab, 
Der  aus  Florentz  sehr  wol  gefuhrt  den  Dichterstab*) 
Drey  schöne  Bücher  hat  Reimweise  wol  geschrieben, 
In  reiner  Tuscier  sprach,  und  die  sehr  hoch  getrieben. 
Vom  Fegefeur,  der  Hell,  und  von  dem  Paradies 
Die  letzten  deren  zwey  gar  klar  sind  und  gewiss. 
Das  fegefeur  allein  von  Pfaffen  ist  erfunden  u.  s.  w. 

Es  folgt  eine  heftige  Stelle  gegen  Papst  und  Priesterschaft,  die 
sich  durch  solchen  Gewissenszwang  blofs  bereichern  wollten,  und 
dann  spricht  er  weiter  von  Dante: 

Sonst  die  Erfindung  ist  hoch  dieses  Manns  zu  preisen 
Der  sehr  viel  gutes  dings  hat  drinnen  wollen  weisen. 
Wiewol  die  spräche  wird  gehalten  etwas  schwer, 
Und  guter  lehren  vol  sein  buch  ist  doch  noch  mehr 
Zu  achten,  weil  darbey  viel  kunst  hat  angeleget 
Und  mühe  dieser  Mann,  der  immer  davon  treget 
Den  nachruhm  mit  dem  lob,  in  dem  ihm  niemand  gleicht. 
Viel  münder,  als  man  sagt,  das  wasser  keiner  reicht. 

Es  mag  zweifelhaft  erscheinen,  ob  der  Fürst  die  Commedia  selbst 
näher  gekannt  hat;  die  Zeile  über  die  „schwere  Sprache",  welche 
doch  auf  fremdes  Urteil  sich  bezieht,  spricht  kaum  dafür.  Jedenfalls 
hat  er  in  Italien  des  Dichters  Lob  vernommen  und  vom  Inhalte  der 
grofsen  Trilogie  wenigstens  die  allgemeinen  Umrisse  kennen  gelernt. 
Interessant  ist  die  heftige  Ablehnung  des  katholischen  Purgatorio: 
der  fürstliche  Dichter,  der  sich  hier  so  stark  gegen  Papst  und  Pfaffen- 
heit  ausspricht,  kann  die  Stellen  Dantes  gegen  sie  kaum  gekannt 
haben;  er  würde  sonst  wohl  wenigstens  mit  einer  Bemerkung  darauf 
hingedeutet  haben. 

Auch  nach  seiner  Rückkehr  und  in  seiner  Stellung  als  Vorstand 
der  fruchtbringenden  Gesellschaft,    wo    es    ihm    nahe    gelegen    hätte. 


*)  Dazu  am  Rande:    , Dante  Alghieri.     Tn  Lingua  Toscana  dal  Purgatorio,  Inferno, 
Paradiso." 


464  Emil  Sulger-Gebing:. 


gelegentlich  auf  den  italienischen  Dichter  hinzuweisen,  scheint  er  das 
nicht  getan  zu  haben,  wenigstens  findet  sich  in  dem  von  Krause  ver- 
öffentlichten Buche  „Der  fruchtbringenden  Gesellschaft  ältester  Ertz- 
schrein"  (Leipzig  1855)  weder  der  Name  Dantes  noch  irgend  ein 
Hinweis  auf  sein  Gedicht. 

In  einem  historischen  Werke  über  die  angebliche  Schenkung 
Constantins  des  Grofsen,  das  anonym  1610  zu  Augsburg  gedruckt 
wurde  und  den  Titel  trägt:  „Constantini  M.  Imp.  Donatio  Sylvestro 
Papae  Rom.  inscripta:  non  ut  a  Gradano  truncatim,  sed  integre 
edita"  u.  s.  w.  —  werden  auf  dem  letzten  Blatt  anhangsweise  nach 
andern  älteren  Zeugnisse,  welche  der  Schenkung  Erwähnung  tun 
(z.  B.  aus  dem  Sachsenspiegel,  der  Historia  Guicciardinis)  diejenigen 
Terzinen  Dantes  im  Urtext  abgedruckt,  welche  auf  den  römischen 
Kaiser  Bezug  nehmen,  also  Inf.  XIX.  115  -117  und  Par.  VI.  i  — 9. 
Der  Verfasser  des  Jakob  I.  von  England  gewidmeten  Buches  ist  der 
als  Gelehrter  und  Staatsmann  in  Diensten  Friedrichs  IV.  von  der 
Pfalz  weitbekannte  Markward  Freher*)  von  Ausburg  (1565 — 1614), 
dessen  schriftstellerische  Tätigkeit  eine  sehr  ausgedehnte  war.  Hier 
zum  ersten  Male  tritt  der  Fall  ein,  dafs  Verse  Dantes  in  einem  in 
Deutschland  gedruckten  und  von  einem  Deutschen  verfasften  Werke 
in  der  Ursprache  angeführt  werden.  Wie  weit  der  Verfasser  den 
Dichter  selbst  gekannt  hat,  ist  aus  diesem  einen  Zeugnis  nicht  zu  er- 
schliefsen,  immerhin  wird  es  wahrscheinlich,  dafs  er  die  Divina 
Commedia  selber  in  Händen  gehabt  habe. 

Eine  direkte  Bekanntschaft  mit  Dante  erscheint  auch  bei  dem 
Manne,  dem  wir  seit  Herold  zum  ersten  Male  wieder  unter  den  Ge- 
lehrten ein  deutsches  Zeugnis  über  ihn  verdanken,  wenigstens  nicht 
völlig  ausgeschlossen,  wenn  sie  auch  kaum  sehr  wahrscheinlich  ist 
Der  fleifsige  Aegidius  Albertinus  (geb.  1560  zu  Deventer,  seit  1596 
Hofi-atssekretär  und  später  Bibliothekar  Herzog  Max  L,  gest.  1620 
zu  München)  erwähnt  ihn  in  einer  seiner  zahlreichen  Schriften**),  die 
zum  einen  Teil  Bearbeitungen  spanischer  Vorbilder,  zum  andern  Original- 
werke, d.  h.  aus  allen  möglichen  geistlichen  und  weltlichen  Autoren 
kompilierte  Encyklopädien  sind,  nämlich  in  dem  chronikartigen  Buche : 
„Der  Teutschen  recreation  oder  Lusthauss,  Darinn  das  Leben  der 
allerfurnembsten    und  denkwürdig^sten  Mans:  und  Weibspersonen,  so 


*)  Joecher,  Gelehrtenlexicon  II.  736  f. 
**)  LiliencroD  kennt  deren  51.  (Einl.  zu  s.  Ausgrabe  von  „Lucifers  Königreich  and 
Seelengejaidt"  in  Kürschners  deutscher  Nat.  Litt.  Bd.  26.  S.  VIII— XX). 


Dante  in  der  deutschen  Litteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.     II.  465 

von  Anfang  der  Welt  hero  gelebt,  sambt  deme,  was  sie  sonderbares 
geredt  oder  begangen"  u.  s.  w,,  München  161 2*).  Im  dritten  Teile, 
der  handelt  „von  Ottone  bis  auf  Carolum  den  fünfften"  steht  zum 
Jahre  13 14  folgende  Notiz**):  „Dantes  Algerius  ein  Florentinischer 
Poet.  Dantes  Algerius,  ein  fiirtreflflicher  Poet,  componirte  ein  seltzames 
Buch,  welches  hatte  drey  theyl.  Der  erst  handlete  von  der  Höllen, 
der  ander  vom  Fegfewr,  und  der  dritt  vom  Paradeyss,  und  waren 
erfüllt  mit  Platonischen  concepten.  Sein  Epitaphium  lautet  also :  Jura 
Monarchiae"  etc.  (s.  S.  245).  Die  Erwähnung  der  Platonischen  Lehre 
macht  als  Quelle  für  die  kurze  Notiz  Paulus  Jovius  wahrscheinlich, 
dem  Albertinus  auch  die  Grabschrift  am  bequemsten  entnehmen  konnte. 
Er  verstand  übrigens  Italienisch  und  eine  Kenntnis  der  Commedia  er- 
scheint daher  nicht  ausgeschlossen.  Unwahrscheinlich  ist  sie  mir  be- 
sonders deshalb,  weü  sich  in  einem  andern  seiner  Bücher,  in  „Lucifers 
Königreich  und  Seelengejaidt"  (München  161 9),  das  sich  sogar  im  An- 
ordnungsprinzip mit  Dante  begegnet  (die  Sünder  werden  nach  den 
7  Hauptsünden  besprochen),  keine  Spuren  solcher  Kenntnis  nachweisen 
lassen,  obgleich  sie  sich  gerade  hier  hätte  verraten  müssen. 

Mag  aber  auch  bei  Markward  Freher  und  Aegidius  Albertinus 
die  Möglichkeit  einer  direkten  Bekanntschaft  offen  bleiben,  so  ist  da- 
gegen eine  solche  von  vorneherein  ausgeschlossen  bei  den  ersten 
Übersetzern  einzelner  Terzinen  aus  der  Div.  Com.  Diese  ersten  Ver- 
suche finden  sich  in  Übertragungen  ganzer  italienischer  Werke,  in  die 
solche  Stellen  als  Citate  eingefugt  waren  und  somit  übersetzt  wurden, 
wie  alles  andere  eben  auch.  Hier  ist  zu  nennen  Georg  Friedrich 
Messerschmid,  ein  Elsässer  Schriftsteller,  der  neben  anderen  Über- 
tragungen und  einem  selbständigen  satirischen  Werke  „von  des  Esels 
Adel  und  der  Sau  Triumph**  {1617)***)  im  Jahre  1615  das  uns  hier  be- 
rührende Buch  veröffendichte:  „Sapiens  stultitia.  Die  kluge  Narrheit. 
Ein  Brunn  des  Wollustes:  Ein  Mutter  der  Frewden:  ein  Herrscherin 
aller  guten  Humoren.  Von  Antonio  Maria  Spelta,  Poeta  Regio **  u.  s.  w. 
Da  steht  zunächst  im  ersten  Teile  (S.  48)  in  einem  Abschnitt  über  die 
toskanischen  Dichter  der  Satz:  „Dantes  ist  mehr  ohn  Zierlichkeit, 
dann   Geschicklichkeit",  und  der  zweite  Teil,  der  einen  neuen  in  der 


*)  Auf  die  Stelle  über  Dante  weist  hin  Reinbardstoettner,  Volksschriftsteller  der 
Gegenreformation  in  Altbayem  [Forschungen  zur  Kultur-  und  Litteraturgeschichte  Bayerns. 
II.  Buch  1894.  S.  loi]. 
**)  S.  1043. 
***)  Goedeke,  Grundr.  -  II.  586  u.  Gervinus  Gesch.  d.  deutsch.  Litt.  ■  III.  82. 


466  Emil  Sulger-Gebing. 


Fassung  abweichenden  Titel  zeigt*),  bringt  folgende  zwei  Über- 
setzungen Dantescher  Terzinen.  Im  siebenten  Kapitel  „Schwarzkünsder, 
Zauberer  und  Wahrsäger"  wird  (^S.88j  eine  Zaubergeschichte  von  Michael 
Scot  erzählt.  „Von  diesem  hat  der  Italiänisch  Poet  Dantes  schreibende 
von  der  HöU,  also  gesagt: 

Dantes  Quell  altro  che  ne'  fianchi  e  cosi  poco 

Cant.  20**)  Michaele  Scotto  fü  che  veramente 

De  le  Magiche  frode  seppe  il  gioco. 

Der  nechst  aufF  dieser  Seiten  sitzt, 
Ist  gwesen  Michael  Scot;  von  witz 

Auff  böss  Practic  sehr  abgericht 

Das  Spiel  das  kundt  er  ganz  artlicht. 

Im  zwanzigsten  Kapitel  „Narrheit  der  Klugen"  heifst  es  (S.  201): 
„Wozu  dienet  dann  nun  solcher  Stoltz?  solcher  Pracht?  solche  Ehr 
Geitz  und  Ruhmsucht?  Dantes,  schreibende  von  dem  Purgatorio ***) 
sagt  also: 

O  superbi  Christian'  miseri  e  lassi 

Che  della  vista  e  della  mente  infermi 

Fidanza  havete  ne'  ritrosi  passi; 
Non  v'accorgete  voi,  che  noi  siam  vermi 

Nati  a  formar  Tangelica  farfalla, 

Che  vola  alla  giustizia,  senza  chermi? 
Chi  de  Tanimo  vostro  in  alto  galla; 

Poiche  siete  quasi  entomata  in  difetto;  (sic!)f) 

Si  come  verme  in  cui  Formation  falla? 

O  stoltze  arme  Christen  mein, 

Ihr  krank  je  an  dem  Gemüth  sein: 

Die  ihr  sucht  in  der  Weidich  PVewd 

Ein  TrosthofFnung.     O  grosses  Leid! 
Gedenckt  jhr  nicht,  dass  wir  Wurm  sein? 
Mein  wer  kompt  in  die  Frewde  ein 

Ohn  schertz,  Spott,  Verachtung  und  Pein? 


*)  Bei  Goedeke,  Grundr.  '  II.  585  steht  dieser  Titel  unter  23  c  als  eine  neue  Aus- 
gabe; in  dem  mir  vorliegenden  Exemplar  der  Münchener  Staatsbibliothek  folg^t  dieser 
Titel  und  der  zweite  Teil  unmittelbar  auf  den  ersten  (unter  23  a)  und  das  Regster  ist 
für  beide  gemeinsam. 

**)  V.   115  -117.     ***}  X.   121  -  129. 
t)  Richtiger;  Di  che  Tanimo  vostro  in  alto  galla? 

Poi  siete  quasi  entomata  in  difetto  (andere  Lesart:  Voi  siete  ecc.) 


Dante  in  der  deutschen  Litteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.     II.  467 


Was  g' denkt  jhr  doch,  O  arme  Leuth? 

Es  find  sich  doch  darnach  die  zeit, 
Dass  jhr  ohn  Glied,  Haut,  unterscheid 
Seyd  gleich  wie  ein  Wurm.    O  gross  Leyd!"*) 

Diese  Übersetzungen,  deren  Fehler  und  Ungenauigkeiten  auf  den 
ersten  Blick  in  die  Augen  fallen,  sind,  so  unlesbar  sie  uns  heute  er- 
scheinen und  so  wenig  sie  dem  Gehalte  des  Originals  gerecht  werden, 
wichtig  als  die  ersten,  welche  Dantesche  Verse  in  metrischem  deut- 
schem Gewände  zeigen. 

Schon  etwas  besser  sind  die  sich  chronologisch  anreihenden  Über- 
tragungen eines  Ungenannten.  Sie  stehen  in  der  anonymen,  von 
dem  Frankfurter  Buchhändler  Lucas  Jennis  veranlafsten  Übersetzung 
eines  Hauptwerkes  des  lateranensischen  Chorherren  Tommaso  Garzoni 
(1549 — 1589),  das  1585  und  1595  zu  Venedig  gedruckt  wurde.  Der 
deutsche  Titel  lautet:  „Piazza  universale,  das  ist:  Allgemeiner  Schaw- 
platz  oder  Marckt,  und  ZusammenkunfFt  aller  Professionen,  Künsten, 
Geschafften,  Händeln  und  Handtwercken,  so  in  der  gantzen  Welt 
geübt  werden"  u.  s.  w.  Frankfurt  a.  M.  161 9.  Auch  hier  haben  wir 
es  also  mit  Citaten  zu  tun,  die  zwei  Stellen  des  Inferno  und  drei  des 
Paradiso  beibringen.  In  der  dem  ersten  vorangehenden  Bemerkung 
lesen  wir,  soweit  mir  bekannt  zum  ersten  Male  in  einem  deutschen 
Buche,  den  Namen  Beatrice.  Es  heifst  im  XXV.  Discurs:  Von  den 
Theologen  (S.  152):  „Der  herrlich  und  Mysteriosus  poeta  Dantes 
Florentinus  hat  unsere  Theologiam  nicht  ohne  sonderliche  bedeutung 
einem  Weibe  Beatrici  vergliechen,  welche  jhn  von  einer  Sphaera  zur 
anderen,  bis  für  den  Thron  Göttlicher  Majestet  gefuhret  und  beleitet, 
davon  er  also  sagt: 

Quivi  la  mia  donna  vidi  si  lieta 

Come  nel  lume  di  quod  (sie!)  ciel  si  mise 

Che  piü  lucente  se  ne  fe  il  pianeta  etc.**). 

Das  ist: 

Alda  ich  meine  Leiterin  hoch  sähe  erfrewet 

Da  sie  sich  wolgemuth  zu  dess  Himmels  Liecht  nahet, 

Ward  klar,  wie  ein  Planet  in  seinem  besten  Schein  etc." 

Im  LXXXVIII.  Discours:  Von  Verleumbdern,  Afterredem  und  miss- 
günstigen   Murmurern    heifst    es    (S.    511):    „Hierher    gehöret    auch 

*)  Die  zweite  Stelle  abgedruckt  bei  Scartazzini  1.  c.  II.  89  und  bei  Reinh.  Köhler, 
1.  c.  158. 

*♦)  Par.  V.  94—96. 


468  Emil  Sulg:er-Gebmg:. 


des  Dantis  Gedicht,  da  er  in  seiner  Hellen  unter  anderen  auch  die 
Schwätzer  und  Verleumbder  zeiget,  wie  dieselbige  von  einem  sonder- 
lichen TeuflFel  mit  einem  Schwert  so  wunderlich  zerhauWen  und  zer- 
fleischet werden,  da  er  sagt: 

Un  diavolo  e  qua  dentro  che  n*accisma, 
Si  crudelmente  al  taglio  della  spada 
Rimettendo  ciascum  di  questa  risma*) 

Das  ist: 

Ein  TeufFel  ist  darinn,  der  mit  eim  blossen  Schwerdt 

Die  Schwätzer  grewlich  hauwet,  wie  sie  dessen  wol  werth: 

Darfur  sich  jeder  hüt,  der  Fried  und  Ruh  begert." 

Im  CXVI.  Discurs:  Von  Müssiggängern  und  Pflastertrettem  heifst 
es  (S.  628):  „Derhalben  auch  Dantes  fiirgibt,  dafs  sie  in  der  Höllen 
wohnen  unnd  sich  alda  Ewiglich  beklagen  sollten,  da  er  sagt: 

Quivi  sospiri  pianti  e  amar  quia  (sie!) 
Risconan  (sie!)  per  laer  senza  stelle, 
Ond'io  al  comminciar  ne  lagrimai**) 

Das  ist: 

Alda  hört  man  im  finstem  Ort, 
Nichts,  als  heulen,  und  kläglich  Wort, 
Dern,  so  durch  Müssigang  verarmbt. 
Das,  als  ich*s  hör,  es  mich  erbarmbt." 

Im  CXLIV.  Discurs  endlich:  „Von  Spiegelmachem  und  Polierern 
(S.  685):  „Wie  man  dann  ein  schönes  Theologische  Gleichnus  bey 
dem  Dante  in  seiner  Comedia  findet,  da  er  sag^: 

Su  sono  specchi,  voi  chiamate  Troni, 
Onde  rifulgi  a  noi  Dio  giudicante.***) 

Das  ist: 

Droben  seind  klarer  Spiegel,  die  jhr  zwar  Thronen  nennet 
Darinn  der  Gerechte  Gott  mit  seinem  Gericht  erscheinet. 

und  anderswo  sagt  er  widerumb: 


•)  Inf.  XXVIII.  37-39. 

*•)  Inf.  in.  22—24.     Die   mehrfachen  Fehler    im  ital.  Text    erklären    sich  daraus, 
dals  der  Frankfiirter  Setzer  die  fremde  Sprache  nicht  verstand,  dagegen  wohl  mit  Latein 
besser  Bescheid  wufste  (quod,  quia).     Das  quia  für  guai  allerdings  des  fehlenden  Reimes 
halber  besonders  auffällig.    V.  23  lautet  richtig:  Risonavan  per  Taer  senza  steUe. 
*♦•)  Par.  IX.  61,  62. 


Dante  in  der  deutschen  Litteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.     11.  469 


Tu  dici  vero  che  minori  e  grandi 

Di  questa  vita  miran  nello  speglio 

In  che  prima  che  pensi  il  pensier  pandi*) 

Das  ist: 

Du  sagest  recht  unnd  wol,  dass  beydes  gross  und  klein 
Sich  in  dem  Spiegel  klar  dieses  Lebens  besehen  \ 

Alda  sie  durch  den  Glantz  unnd  dessen  hellen  Schein, 
All  jhr  heimlich  Gedancken  bald  oflFenbahret  sehen.**)" 

Die  Art  der  Übersetzungen  ist  eine  ungleiche,  bald  in  gereimten 
Versen,  bald  in  versartig  abgesetzt  gedruckter  Prosa.  Auch  die 
Versbehandlung  ist  ungleich  Inf.  XXVIII,  37 — 39  wird  die  Terzine 
in  drei  Alexandrinern  mit  durchgehdhdem  Reim  wiedergegeben,  wäh- 
rend  als  Übertragungen  von  Inf.  III,  22 — 24  und  von  Par.  XV.  61 — 63 
Vierzeilen  eintreten,  und  zwar  dort  vierhebige  Verse  mit  der  Reim- 
stellung aa  bb,  hier  aber  wieder  Alexandriner  mit  der  Reimstellung 
ab  ab  und  dem  Wechsel  männlichen  und  weiblichen  Ausgangs.  In- 
haltlich wird  zur  Verdeutlichung  hie  und  da  zugefugt,  so  die  Verse 
„dem  so  durch  Müssigang  verarmbt"  und  „Alda  sie  durch  den  Glanz 
unnd  dessen  hellen  Schein",  ebenso  die  Halbzeile  „wie  sie  dessen  wol 
wert";  die  ersteren  wohl  hauptsächlich,  um  aus  der  Terzine  einen 
Vierzeiler  zu  gewinnen.  Im  Übrigen  aber  ist  mit  einer  gewissen  Ge- 
schicklichkeit der  Inhalt  eines  italienischen  Verses  ziemlich  genau 
durch  den  entsprechenden  deutschen  wiedergegeben.  Inf.  XXVIII.  39 
ist  unübersetzt  geblieben  und  dafür  eine  inhaldich  sehr  freie  Umschrei- 
bung gegeben. 

Chronologisch  reiht  sich  hier  ein  Zeugnis  an,  das  nichts  Neues 
bringt,  aber  um  seines  Verfassers  willen  bedeutungsvoll  erscheint. 
Kein  Geringerer,  als  Martin  Opitz  (1597  — 1639)  nennt  Dante  in 
seiner  vom  28.  Dezember  1628  datierten  Vorrede  und  Widmung  an 
Fürst  Ludwig  von  Anhalt,  die  dem  Bande:  „Martini  Opitzij  Weltliche 
Poemata,  zum  Viertenmal  vermehrt  und  übersehen  herausgeben.  Franck- 
furt  am  mayn  bei  Thomas  Matthias  Götzen.  1644"***)  vorangeht.  Darin 
giebt  er  eine  Art  Abrifs  der  römischen  Litteraturgeschichte  zur  Kaiser- 
zeit, spricht  dann  von  Karls  des  Grofsen  Bemühungen  und  von  der 
ritterlichen  Poesie,  wobei  er  eine  Reihe  Fürsten  und  Herren  aufzählt. 


♦)  Par.  XV.  61-63. 
**)  Diese  letzten  4  Zeilen  bei  Scartazzini  1.  c.  H.  33  u.  bei  R.  Köhler  1.  c.  S.  158. 
***)  Die  Ausgrabe  stimmt  genau  mit   der  von   Goedeke,  Grundr.*   III.  49  unter  94) 
angegebenen,  nur  dafs  bei  Goed.  das  „Weltliche**  im  Titel  fehlt 


470  Emil  Sulger-Gebingf. 


Der  folgende  Abschnitt  aber  lautet:  „Die  Florentiner,  als  sie  in  ihrem 
Dantes,  dem  ersten  Lichte  der  Hetnirischen  Sprache,  so  ein  edles 
und  grosses  Gemüt  vSahen,  erhüben  sie  ihn  zu  dem  höchsten  Ampte 
und  ob  jhn  wol  nachmals  das  undanckbare  Vaterlandt,  welches  er  die 
Mutter  der  Liebe  nennet,  verstiess,  ward  er  doch  hergegen  der  fur- 
treflflichsten  Comedie  halber,  die  er  in  seinem  Elend  (wo  Ruhm  und 
Ehr  ein  Elend  ist)  geschrieben,  zum  Bürger  in  gantz  Italien  ange- 
nommen". Die  Stelle  über  „Florentz,  die  Mutter  der  Liebe"  ist  in  der 
Erinnerung  an  jene  dem  Dante  zugeschriebene  Grabschrift  (s.  S.  245) 
verfafst,  und  das  fuhrt  auch  auf  die  Quelle  fiir  Opitzens  kurze  Be- 
merkungen: es  ist  Paulus  Jovius,  in  dessen  „elogia"  (Venetiis  1546, 
S.  6)  sich  nicht  nur  fiir  sie  alle  das  lateinische  Vorbild  findet  (man 
vergl.  besonders  den  Satz:  „ut  abdicata  patria  totius  Italiae  civitate 
donaretur"),  sondern  auch  zum  Schlüsse  die  Grabschrift  abgedruckt  ist. 
Doch  hat  vielleicht  Opitz  direkt  nur  aus  Reusner  (s.  S.  461  f.)  geschöpft 
und  somit  die  Aufserungen  des  Jovius  nur  aus  zweiter  Hand  erhalten. 
Im  nächsten  Zeugnisse,  das  uns  begegnet,  wird  einmal  ausnahms- 
weise auf  eine  Schrift  Dantes  hingewiesen,  die  sonst  in  Deutschland, 
wie  dies  ihrem  Inhalte  nach  selbstverständlich  erscheint,  kaum  ge- 
nannt, geschweige  denn  näher  gekannt  wird,  auf  den  Tractat  de  vul- 
gari  eloquio.  Der  unruhige,  auf  verschiedenen  Gebieten  schriftstelle- 
risch tätige  Jesuit  Melchior  Inchofer  (geb.  zu  Wien  1584,  gest.  zu 
Mailand  1648),  der  seinem  Orden  wie  der  Kirche  öfters  zu  schaffen 
machte,  gab  1635  zu  Messina  seine  Schrift  „Historiae  Sacrae  Latini- 
tatis  Libri  VI"  heraus,  worin  er  unter  Anderm  als  wahrscheinlich  zu 
erweisen  sucht,  dafs  Christus  mitunter  lateinisch  gesprochen  habe  und 
dafs  die  Seligen  im  Himmel  sich  lateinisch  unterhalten.  Ein  zweiter 
Druck  erschien  in  München  1638  „Apud  Melchiorem  Segen,  Biblio- 
polam".  Ich  benutze  diese  Ausgabe.  Inchofer  giebt  in  seinem  dritten 
Buche  („de  cultu  linguae  vulgaris")  in  den  Kapiteln  III  (S.  115),  VI 
(S.  126 — 129)  und  VIII  (S.  135)  knappe  zum  Teil  wörtliche  Auszüge 
aus  den  Kapiteln  XI,  XII,  XIII,  XV  (nicht  XIV,  wie  Inchofer  am 
Rande  anfiihrt)  XVII,  XVIII  und  XIX  des  ersten  Buches  in  Dantes 
genanntem  Werke;  es  sind  zumeist  Stellen,  die  sich  auf  die  Charak- 
teristik der  verschiedenen  italienischen  Dialekte,  oder  auf  des  Floren- 
tiners Unterscheidungen  des  vulgare  I^tinum  und  vulgare  proprium, 
sowie  weiterhin  auf  die  des  vulgare  illustre,  aulicum  und  curiale  be- 
ziehen. Ein  Urteil  über  den  Dichter,  dessen  Bemühungen  um  die 
Schaffung    einer    italienischen  Schriftsprache    er  einmal,    nicht    gerade 


Dante  in  der  deutschen  Litteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts,    tl.  471 


mit  grofser  Anerkennung,  streift*),  gfiebt  er  mit  einem  Hinweis  auf 
die  Stelle  des  Lilius  Gyraldus**)  am  Schlüsse  des  sechsten  Kapitels, 
das  auch  die  meisten  Auszüge  enthält.  Da  schreibt  er  (S.  129):  Atque 
haec  omnia  in  Dante  hinc  inde  sparsa,  ejusdem  tarnen  verbis  collegi- 
mus,  ut  imago  quaedam  esset  ejus  philosophiae,  quam  si  posteri  dili- 
genter  intuiti  fuissent,  quibus  initüs  et  progressibus  sermo  vulgaris 
Italiae  qui  hodie  viget,  prorepserit,  probe  perspicerent.  Ex  universa 
porro  Dantis  structura,  necessario  consequitur,  ipsum  aut  omnem  re- 
pudiare  voluisse  Latinitatem,  aut  destructam  in  sua  deformitate  stabi- 
lire:  aut  denique  quod  ipse  non  videtur  inficiari,  alii  vero  etiam  af&r- 
mant,  novam  ex  diversis  conflare  linguam,  quae  latina  vulgaris  adeoque 
mixta  esset,  proinde  neque  semper  integro  habitu  cum  latina  inces- 
sisset.  Von  Dante  dem  Dichter  ist  also  bei  Inchofer  überhaupt  nicht 
die  Rede,  nur  den  Philosophen  und  Sprachforscher  fafst  der  Autor 
ins  Auge,  wie  es  bei  dem  Thema  seines  Buches  allerdings  am  nächsten 
lag.  Immerhin  hätte  er  auf  das  grofse  Gedicht,  das  vor  Allem  dazu 
beitrug  die  lingua  vulgaris  zu  einer  litterarisch  anerkannten  zu  machen, 
hinweisen  können.  Seine  Worte  scheinen  auch  nicht  sehr  einflufsreich 
gewesen  zu  sein,  da  wir  nur  ein  einziges  Mal  ihn  später  als  Quelle 
ffir  eine  Angabe  über  Dante  citiert  finden  werden. 

Als  Dritter  in  der  Reihe  der  Übersetzer,  zugleich  als  Erster,  der 
selbständig  eine  freigewählte  Stelle  aus  der  Commedia  nachdichtete, 
folgt  Christian  Brehme  aus  Leipzig  (geb.  1613,  seit  1629  Kammer- 
diener und  bald  auch  Bibliothekar  des  Kurfürsten  von  Sachsen,  gest. 
1667  als  Bürgermeister  von  Dresden).  Im  Jahre  1639  veröffentlichte 
er  ein  dünnes  Bändchen  Gedichte  „gedruckt  zu  Leipzig  bei  Fried. 
Lanckischen  S.  Erben"  unter  dem  Titel  „C.  Brehmens  allerhandt 
Lustige,  Trawrige  und  nach  Gelegenheit  der  Zeit  vorgekommene 
Gedichte.  Zu  Passirung  der  Weyle  mit  dero  Melodeyen  mehrentheils 
auffgesetzt".  Darin  steht  auf  Blatt  o:  „Aus  des  Dantes  Italiänischen. 
Der  ist  ein  Thor,  der  seinen  Sinn  zutrawet 
Und  auflf  VernunflFt  so  grosse  Stücken  bawet 

*)  S.  135:  Hoc  (aus  der  Mischung  fremder  und  eigener  Elemente  eine  neue  hei- 
mische Sprache  zu  bilden)  sane  inter  alia  fuit  Danthis  et  praeceptum  et  praecipuum 
institutttm,  ut  qui  dicere  consuevisset,  in  quolibet  idiomate  esse  aliquod  pulchrum,  in 
nullo  omnia  pulchra,  ex  multis  unum  formosum  quod  ipse  praestare  conatus  est,  concin- 
nandum  judicavit. 

**)  Lilius  Gregorius  Gyraldus  aus  Ferrara  (1479  — 1552)  spricht  von  Dante  am 
Schluls  des  V.  Dialoges  seiner  „de  historia  Poetarum  Dialogi  X'^  Basileae  1545. 
S.  667  f.    In  den  Opera,  Basel  1580.  II.  224  f.    Eine  Prachtausgabe  die  Opera  Lugd.  1696. 

Ztichr.  f.  vgl.  Litt.  Gesch.    N.  P.  YlII.  31 


47t  Emn  Sulger-Gebingr. 


Zu  g^runden  aus,  was  jenes  Wesen  sey, 

Da  drey  ist  eins  und  ein  einfaches  drey: 
I>enn  wann  Vernunfft  koennt  alle  Sach  ergründen 
Wehr  ohne  Noth  die  heiige  Magd  zu  finden: 

Ohnnöthig  wer's  dass  sie  ein  Sohn  geborn: 

Drumb  der  Verstand  hierinnen  ist  verlohrn*)". 

Eine  freie  Übertragung  von  Purg.  III,  34—39: 

Matto  e  chi  spera  che  nostro  ragione 

Possa  trascorrer  V  infinita  via 

Che  tiene  una  sustanzia  in  tre  persone. 
State  content!,  umana  gente,  al  quia 

Che  se  potuto  aveste  veder  tutto 

Mestier  non  era  partorir  Maria. 

Der  schwierige  Vers  37,  der  mit  Aristotelischen  Begriffen  operiert, 
ist  einfach  weggelassen,  im  Übrigen  aber  der  Gedankengang  Dantes 
getreulich  wiedergegeben  und  nur  die  knappe  Ausdrucksweise  des 
Originals  in  breitere  Umschreibung  umgesetzt  worden,  wodurch  das 
deutsche  Gedicht  schwerfallig  wurde  (man  vergl.  besonders  V.  36  u. 
V.  39,  welch  letzterer  allein  den  drei  Schlufszeilen  Brehmes  entspricht). 
Auch  hier  haben  wir  die  Wiedergabe  der  Terzinen  durch  Vierzeiler, 
aber  mit  der  Reimstellung  aa  bb,  und  mit  Wechsel  männlichen  und 
weiblichen  Ausganges;  die  Verse  sind  fiinf hebig. 

Die  Reihe  der  Übersetzer  unterbrechen  hier  abermals  zwei  ge- 
lehrte Dichter  mit  Zeugnissen,  die  der  Zeit  nach  zwischen  Brehme 
und  Gryphius  fallen ;  und  wieder  ist  der  zuerst  zu  nennende  Verfasser 
einer  der  einflufsreichsten  Litteraten  des  Jahrhunderts.  Das  vielge- 
schäftige  Mitglied  der  fruchtbringenden  Gesellschaft,  der  als  ehren- 
werter Ratsherr  seiner  Vaterstadt  Nürnberg  verstorbene  Stifter  des 
pegnesischenBlumenordens,GeorgPhilippHarsdörffer(i6o7— 1658) 
erwähnt  zunächst  im  dritten  Teile  seiner  „Gesprächsspiele,  So  Hey 
Ehrn-  und  Tugendliebenden  Geselschaften  auszuüben^*  (1643)  den 
italienischen  Poeten.  In  dem  oblongen,  mit  vielen  Bildern  ausge- 
statteten Büchlein  wird  unter  andern  Materien  auch  der  Geiz  abge- 
handelt, und  dabei  erzählt,  wie  ein  sparsamer  Vater  seinem  geizigen 
Sohne  sechs  Tafeln  hinterlassen  habe,  deren  Bilder  nach  den  beige- 
fügten Holzschnitten  beschrieben  werden.  Auf  die  Frage  der  Angelica 
von  Keuschewitz:  „Er  sage  uns  ferner  von  der  fünften  Tafel  Inhalt", 
antwortet  Vespasian  von  Lustgau  (S.  267):    „Darinnen  war  zu  finden 

*)  Abgedruckt  bei  Scartazzini,  1.  c.  II.   193  und  R.  Köhler,  l.  c.   157. 


Dante  in  der  deutschen  Litteratnr  des  15.  bis  17.  Jahrhonderts.    H.  47S 

der  Welsche  Poet  Dantes  f ,  vielleicht  auf  das  Lateinische  absehend,  es 
were  der  Geber  gestorben",  und  die  Anmerkung  am  Rande  lautet: 
„f  Ejus  monumentum  eodem  modo  videre  est  Ravennae  prope  Templum 
D.  Frandsci'.  Die  kleine  Abbildung  zeigt  in  der  durch  mehrere  in- 
einandergelegte  Rahmen  verengten  Tafel  einen  Mann  im  Mönchsge- 
wande  mit  Kaputze  und  Lorbeerkranz  vor  einem  Lesepult  mit  auf- 
geschlagenem Buche  den  Kopf  auf  die  linke  Hand  gestützt,  in  der 
herabhängenden  Rechten  ein  zweites  Buch. 

Liegt  hier  nur  ein  noch  dazu  recht  schwaches  Wortspiel  mit  dem 
Namen  vor,  so  zeigt  dagegen  eine  andere  Stelle,  an  der  HarsdörfFer  sich 
als  Mann  der  Wissenschaft  fühlt  und  giebt,  dafs  er  eine  etwas  genauere 
Kenntnis  von  der  Div.  Com.  hatte.  Er  gab  als  „der  Spieleride" 
seinem  Ordensgenossen  „dem  Suchenden"  in  der  fruchtbringenden  Ge- 
sellschaft, dem  tüchtigsten  wissenschaftlichen  Grammatiker  unserer 
Sprache  in  jener  Zeit,  Justus  Georg  Schottelius  (1612 — 1675),  als 
dieser  1645  seine  „Teutsche  Vers-  oder  Reimkunst"  in  Wolfenbüttel  ver- 
öffentlichte, neben  anderen  Genossen  in  Vers  und  Prosa  sein  bewun- 
derndes Geleit.  Die  Prosa  ist  eine  kurze  aus  Nürnberg  vom  20.  Wein- 
monat 1644  datierte  Abhandlung  über  die  „Gründliche  und  unge- 
zweiffelte  Maasforschung  der  Silben",  wie  sie  der  Suchende  im  Deutschen 
erfunden  habe  und  wie  sie  bisher  auch  die  Ausländer  für  ihre  Verse 
nicht  gekannt  „Die  Frantzösischen,  Italiänischen  und  Spanischen 
Poeten  haben  hierin  noch  zur  zeit  keine  gewissheit,  wie  man  auch 
aus  ihren  vornemsten  Schriften  zubeobachten  hat".  Nachdem  er 
mehrere  französische  Beispiele  für  falsche  Betonung  angeführt,  fahrt 
er  fort:  „Die  Italiäner  sind  hierinnen  nicht  achtsamer.  Petrarcha 
setzet  in  dem  29.  Senetto  (sie)  f.  32*). 

S'io  credesse  per  (credesse  per)  morte  essere  scarco 

(essere  scarco) 
Dante  in  seinem  dritten  Gesang  von  der  Hölle  f.  10. 

Per  me  si  va  nel  eterno  dolore  (eterno)  etc." 

Somit  hat  Harsdörffer  das  Original  der  Div.  Com.  gekannt,  falls 
er  nicht  den  Vers  schon  irgendwo  als  Beispiel  angeführt  gefunden. 
Wörtlich  genau  ist  seine  ganze  Abhandlung  übergegangen  in  Schotteis 
Hauptwerk  die  „Ausführliche  Arbeit  von  der  Teutschen  Haubtsprache" 

*)  Der    citierte  Vers  ist  der  erste  des  in  neueren  Ausgaben  als  XXIII.    stehenden 
Sonettes  „in  vita  di  Madonna  Laura*\ 


474  Emil  Sulger-Gebing. 


(Braunschweig  1663)  wo  sie  (S.  794  fF.)  als  „Des  Hochgelahrten, 
berühmten,  und  nun  mehr  seeligen  Mannes,  Herrn  Harsdorfers  Meinung 
und  Uhrteihl  über  die  invention  Dieses  Buches"  abgedruckt  ist, 

An  zweiter  Stelle  kommt  der  kurfürstliche  Bibliothekar  in  Dresden, 
David  Schirmer  (etwa  1623 — etwa  1682)  hier  in  Betracht.  Voll 
höchsten  Selbstbewufstseins  rühmt  er  in  der  Zueignung  seiner  „Poeti- 
schen Rosengebüsche"  (1657),  wie  herrlich  weit  die  Deutschen  es  nun 
in  der  Dichtkunst  gebracht  hätten.  »Wir  geben  nunmehr  keinem 
frembden  Volke  was  bevor.  Hat  Welschland  seine  Petrarchen,  Dantes" 
u.  s.  w.'*'),  und  nun  werden  ganze  Reihen  von  italienischen,  franzö- 
sischen, englischen,  spanischen  und  niederländischen  Dichtem  aufge- 
zählt, um  ihnen  nicht  weniger  zeitgenössische  Deutsche  als  gleich- 
berechtigt gegenüber  zu  stellen.  Nichts  weiter  also,  als  eine  blofse 
Namensnennung  des  grofsen  Poeten,  die  jedenfalls  nicht  auf  direkter 
Bekanntschaft  beruht. 

Fast  zwanzig  Jahre  nach  Brehmes  Ubersetzungsversuchen  ergreift 
ein  echter  Dichter  das  Wort  als  Verdeutscher  Dantes.  Andreas 
Gryphius  (161 6 — 1664)  der  ja  im  Jahre  1646  Italien  bereist  und  seine 
der  Republik  Venedig  gewidmeten  Gedichte  persönlich  in  der  Lagimen- 
stadt  überreicht  hatte,  veröflfentlichte  1659  das  Trauerspiel  „Grofs- 
müthiger  Rechts-Gelehrter  Oder  Sterbender  Aemilius  Paulus  Papini- 
anus".  Da  schreibt  er  in  den  Anmerkungen  zu  V.  704  der  dritten 
Abhandlung  „Wo  Minos  Urtel  spricht"  folgendes:  „Dantes  in  seinem 
Xn.  Gedichte  der  Höllen  stellet  die  Gewaltthäter  und  Tyrannen  m 
eine  bluttig-sidende  See: 

Picea  gli  occhi  a  valle:  che  s*approccia 
La  rivera  del  sangue  in  la  quäl  bolle 
Qual  che  per  violenza  in  altrui  aoccia 

Und  etwas  ferner: 

Noi  ci  movemmo  con  la  scorta  fida 
Longa  la  proda  del  boUor  vermiglio 
Ove  i  bolliti  facen  (sie!)  alte  strida. 

Beyde  Orte  haben  wir  folgends  nur  überhin  versetzet: 

Schlag  dein  Gesicht  auf  dises  tiffe  Thal 

Es  rauscht  daher,  der  Blutt-Flusz  darinn  kocht 
Der  mit  Gewalt  geschadet  und  gepocht 
Und  nun  die  Straff  erträgt  in  diser  Qual. 

*)  Die  ganze  Stelle  ist  abgedruckt  in  Goedekes  Grundrifs*  TU,  69. 


Dante  in  der  deutschen  Litteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.    II.  475 

Und  folgends: 

Wir  gingen  mit  dem  treuen  Leiter  fort 

Längst  hin  den  Strand  der  Blutt-gefarbten  Bach 
In  welcher  grosz  Geheule  nach  und  nach 
Auszgossen  die  gesotten  umb  den  Mord*)". 

Also  eine  freie  Übersetzung  von  Inf.  XII,  46 — 48  und  100 — 102, 
in  zwei  Vierzeilern  von  funfhebigen  Versen  mit  männlichem  Ausgang 
und  der  Reimstellung  a  b  b  a. 

Die  Übertragung  ist  etwas  breit  und  schwer  ausgefallen;  bei  der 
ersten  Stelle  wird  eine  ganze  Zeile  beigefiigt,  deren  Inhalt  dem  Original 
fremd  ist,  und  das  einfache  Verbum  „noccia"  erscheint  in  „geschadet 
und  gepocht"  doppelt  wiedergegeben,  während  das  „in  altrui"  unüber- 
setzt  bleibt.  Bei  der  zweiten  finden  wir  zwei  verbreiternde  Zusätze, 
die  inhaltlich  völlig  ungerechtfertigt,  weil  überflüssig,  nur  des  Reimes 
wegen  da  sind;  auch  die  Beifügungen  des  ersten  Vierzeilers  dürften 
lediglich  aus  Reimnöten  zu  erklären  sein. 

Gryphius  ist  der  letzte  Übersetzer  des  XVII.  Jahrhunderts,  doch 
reihen  sich  noch  mehrere  Zeugnisse  an,  die  ausnahmslos  gelehrten 
Federn  entstammen.  So  finden  wir  einen  langem  Artikel  über  Dante 
in  dem  grofsen  „Lexicon  universale"  des  Baslers  Joh.  Jakob  Hoff- 
mann (1635 — 1706),  dessen  ersten  Auflage  1661 — 1674  erschien. 
Ich  citiere  nach  der  zweiten:  1677 — 1683.  ^^^  wird  (I.  528) 
Dantes  als  „Poeta  et  Philosophus  insignis  Florentinus,  Regum  et 
Principum  amicitia  clarus"  bezeichnet  und  auf  Volaterranus  als 
die  Quelle  für  sein  Leben  verwiesen.  Seine  politische  Geschichte 
wird  in  kurzen  Zügen  richtig  erzählt,  und  der  Schlufssatz  lautet: 
„Cum  Marsilio  Patavino**)  acerrime  vitia  cleri  insectatus,  Pontificiae 
sedis  odium  in  se  concitavit,  Ravennae  tandem  mortuus,  cum  frustra 
reditum  in  Patriam  tentasset,  an  1321.  aet.  56.  Als  Quellen  nennt  er 
neben  den  uns  schon  bekannten  Petrarca,  Paulus  Jovius  und  Bartolus 
noch  den  Chronisten  Villanius***)  und  Rubeusf).  Die  Conunedia  ist 
gar  nicht    erwähnt;    die   ganze  Fassung  beweist  deudich,    dafs  Alles 


*)  Die  ganze  Stelle  ist  abgedruckt  bei  Sartazzini  1.  c.  II.  38  u.  bei  Reinh.  Köhler 
L  c.  S.  159. 

**)  Marsilius  Patavinus  (f  1328)  wurde  1327  von  Johann  XXII.  gebannt.    Er  hatte 
einen  ^defensor  pacis**  und  ^de  potestate  imperiali  et  papali"  geschrieben. 

***)  Giovanni  Villani  (f  1348)    widmet   im   EX.  Buch    seiner  Chronik  Dante    einen 
Abschnitt.     Erster  Druck  Florenz  1577. 

t)  Hieronymus  Rubeus  (1539—1607)  war  Leibarzt  Papst  Clemens  des  VIII.    Seine 
Historiae  Ravennates  erschienen  zu  Venedig  1590. 


476  Emil  Suls^er-GeUag. 


aus  zweiter  und  dritter  Hand  geschöpft  ist.  Noch  kürzer  &(st  sich 
ein  anderer  Lexicograph,  Georg  Matthias  König  aus  Altdorf 
(1616 — 1699)  in  seiner  1678  erschienenen  „Bibliotheca  vetus  et  nova". 
Doch  findet  sich  in  der  auf*s  Knappste  beschrankten  Angabe,  die 
aber  wenigstens  das  Hauptwerk  wieder  nennt,  ein  falsches  Todes- 
datum. Es  heifst  (S.  235):  „Dantes  Aligerius,  Florentinus,  natus  est, 
An.  1265:  obiit,  An.  1325.  Triplicem  Comoediam  Hetrusco  sermone 
expressit.  Epitaphium  ejus  tale  circumfertur"  und  es  folgt  die  uns 
bekannte  Grabschrift,  Endlich  eine  reichhaltige  Quellenangabe:  neben 
Jovius,  Theod.  Zwinger  und  Olearius  erscheinen  noch  Gyraldus*)  und 
Valerianus  Pierius.**) 

In  weitere  Kreise  mag  Dantes  Name  gedrungen  sein  durch  ein 
Büchlein,  in  welchem  man  ihn  zunächst  kaum  suchen  würde,  durch 
den  „Unterricht  von  der  Teutschen  Sprache  und  Poesie",  den  der 
grofse  Vielwisser  Daniel  Georg  Morhof  (1639 — 1691)  in  Kiel  1682, 
im  gleichen  Jahre  mit  seinen  „Teutschen  Gedichten"  veröffentlichte. 
Der  zweite  Teil:  „Von  der  Teutschen  Poeterey  Ursprung  und  Fort- 
gang" erzählt  im  zweiten  Kapitel  „Von  der  Italiäner  Poeterey",  und 
da  (S.  185  f.)  heifst  es:  „Ihr  (sc.  der  Toscaner  Sprache)  erstes  Auff- 
kommen,  und  gleichsamb  ihre  Jugend  ist  gewesen  umb  das  Jahr  Christi 
1300,  da  Dantes  Petrarcha  und  Boccadus  gelebt  haben  als  die  ersten 
Triumviri  unter  den  Italiänischen  Poeten.***)  Diese  drey  haben  nach 
Melchioris  Jnchoveri  Meinung  f)  angefangen  die  gemeine  Sprache  aus- 
zuüben, so  wohl  in  freyer  als  gebundener  Rede,  weil  sie  sich  nicht 
getrauet,  in  der  Lateinischen  Sprache  etwas  tüchtiges  ausszurichten, 
da  alles  damals  in  voller  barbarie  war.  Wiewohl  Petrarcha  noch  am 
meisten  darinne  gethan,  und  als  ein  unvermutheter  Stern  durch  die  tunckle 
Nacht  hervor  geleuchtet.  Dantes  ist  voll  von  alten  Wörtern,  unter 
welchen  doch  ein  tieffsinniges  Wesen  stecket.  Seine  Poemata  haben 
viel  Widersacher  und  Verthädiger  gehabt".  Er  kommt  nun  auf  den 
Streit  über  Dantes  Wert  zu  sprechen,  den  Castravilla  ff)  und  Jakobus 

*)  VergL  S.  47«  Anm.  **). 

**)  Valerianus  Pierius  (1475  — 1558)  nContarenus  sive  de  infelicitate  literatorom* 
gedr.  Venedig  1620  u.  Amsterdam  1647. 

***)  Diese  noch  heute  in  der  Litteraturgesch.  allgemein  Qbliche  Bezeichnung  hier 
zum  ersten  Mal  in  einem  deutschen  Buche, 
t)  Vergl.  oben  S.  470. 
ff)  Unter  dem  Pseudonym  Rid.  Castravilla  geht  ein  „Discorso  nel  quäle  si  mostia 
rimperfettlone  della  Commedia  di  Dante  contro  11  Dialogo  delle  lingue  del  Varcfai** 
(vergl.  de  Batines,  bibl.  dantesca  I,  417)  gedruckt  in  Annotarioni  owero  Chiose  mar- 
ginali  di  Belis.  Bulgariao.    Siena  1608. 


Dante  in  der  deutschen  Litteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts,    n.  477 

Mazzoni*)  mit  einander  geführt  und  den  Belisarius  Bulgarinus'^'*^  und 
Hieronimus  Zoppius***)  erneuert  haben,  nicht  ohne  in  einer  Klammer 
das  Epitheton  „divinus  homo^,  das  Mazzoni  dem  Dichter  giebt,  her- 
vorzuheben. Seine  Hauptquelle  für  diese  Darstellung  ist  nach  seiner 
eigenen  Angabe  die  „Pinacotheca"  des  Erythraeusf).  Dann  fahrt 
er  fort:  „Jacobus  Gaddiusff)  libro  de  scriptoribus,  tom.  I  pag.  206 
urteilt  von  dem  Dante,  dafs,  wo  sein  Werth  eine  Comödia  sey,  so 
übertreffe  sie  viel  der  Griechen  und  Lateiner,  wo  es  aber  ein  Heroicum 
Poema  zu  nennen,  wäre  es  allein  dem  Lateinischen  des  Virgilii  nicht 
zu  vergleichen,  des  Homeri  seinen  SchriflFten  aber  vorzuziehen".  Dieser 
Schlufssatz  ist  fast  wörtlich  übertragen  aus  Gaddl;f f f )  er  ist  interessant 
auch  für  die  damals  noch  allgemein  übliche  auf  die  Poetik  des  Jul. 
Caesar  Scaliger  (1561)  zurückgehende  Überordnung  Virgüs  über  Homer, 
während  wir  heute  den  Satz  gerade  umkehren  würden.  Immerhin  er- 
scheint hier  zum  ersten  Male  Dantes  Dichterwert  aufs  Nachdrücklichste 
betont  und  sein  Hauptwerk  neben  und  über  die  gröfsten  Epen  des 
klassischen  Altertums  gerückt. 

Diese  Reihe  von  Zeugnissen  im  XVII.  Jahrhundert  mag,  auch 
innerlich  berechtigt  durch  das  Überwiegen  der  Gelehrsamkeit  über 
die  Dichtkunst  während  dieses  Zeitraumes,  als  zeitlich  letztes  das  eines 
gelehrten  Mannes,  des  Nürnberger  Arztes  Paul  Fr  eh  er  (161 1  — 1682), 
beschliefsen.  Erst  sechs  Jahre  nach  seinem  Tode  erschien  in  seinem 
Wohnort  der  gewichtige  Foliant  „Theatrum  Virorum  Eruditione  Cla- 
rorum"  und  darin  (S.  1421)  ein  langer  Artikel  „Dantes  Aligerus"  be- 
ginnend: „Vocatus  ab  aliis  Aldigerius,  Poeta  sui  saeculi  nuUi  secun- 
dus."     Schon  dieser  zweite  Teü  des  Satzes  stimmt  so  wie  das  Meiste, 


*)  Jacopo  Mazzoni  aus  Cesena  (1553 — 1603)  „Discorso  in  difesa  della  Commedia 
di  Dante"  Cesena  1573;  ib.  1587;  ib.   i688. 

**)  Belisario  Bulgarlno  schrieb  zuerst  ,,Alcune  considerazioni  sopraU  discorso  di 
M.  Giacopo  Mazzoni"  Cesena  1573;  ib.  1583;  denen  er  eine  ganze  Reihe  Streitschriften 
über  Dante  nachfolgen  liefs. 

***)  Von  dem  Bologneser  Professor  Hieronymo  Zoppio  erschienen  ,,Ragionamenti 
in  difesa  di  Dante  e  del  Petrarca  Bologna  1583;  ,,Risposto  air  Oppositioni  Sanesi  fatte 
(da  Diomede  Borghesi)  a*  suoi  Ragionamenti  in  difesa  di  Dante"  Fermo  1585:  ,,Particelle 
poetiche  sopra  Dante"  Bologna  1587;  endlich  „la  Poetica  sopra  Dante"  ib.   1589. 

t)  Janus  Nicius  Erythraeus,  eigentl,  Giovanni  Vittorio  Rossi  aus  Rom  (1575 — 1647) 
„Pinacotheca  imaginum  illustrium  virorum"  .erschienen  Colon.  Agrippinae  1645. 

ff)  Jacobus  Gaddi  aus  Florenz  (f  1650)  gab  1648  zu  Florenz  den  I.,  1649  zu 
Lyon  den  U.  Bd.  seines  Werkes:  „de  scriptoribus  non  ecciesiasticis"  heraus. 

ttt)  A*  si  Poema  Dantis  appeletur  Comedia,  haec  multas  Latinorum  Graecorumque 
Comedias  exsuperans,  utrisque  superiores  reddet  Comicos  Italicos,  si  vero  id  inter  heroica 
referatur,  praestantissimo  tantum  Latii  impar,  anteponendum  Homericis  videtur. 


478  Emil  Sulger-Gebing. 


was  Freher  beibringt,  wörtlich  überein  mit  Boissard*).  Die  kurzen 
Notizen  über  seine  ersten  Florentiner  Jahre  bieten  nichts  Besonderes, 
wohl  aber  ist  der  wieder  mit  Boissard  genau  übereinstimmende  Satz 
über  den  Pariser  Aufenthalt  interessant:  proscriptus  primum  exul 
Lutetiae  Parisiorum  propter  excellentem  bonarum  literarum  cognitionem 
cum  honore  exceptus  est:  ubi  saepe  magna  omnium  admiratione  et 
applausu  publice  disputavit  tam  Philosophicis  quam  sacris  literis«  pri- 
mamque  laudem  inter  Viros  doctos  sui  temporis  adeptus  est."  Wir 
haben  es  auch  hier  mit  einer  freien  Ausschmückung,  der  oben  (S.  458  f.) 
besprochenen  Stelle  des  Boccaccio  in  der  Genealogia  Deorum  zu  tun, 
auf  die  allein  wir  auch  den  Vers  des  Hans  Sachs  „da  er  besass  der 
Künsten  Stuhl"  zurückfuhren  konnten.  Weitere  Notizen  über  Dantes 
Exil  folgen,  die  hier  im  Einzelnen  auf  ihre  Richtigkeit  und  öfters  Un- 
richtigkeit nachzuprüfen  zwecklos  ist,  wohl  aber  soll  der  inhaltsreiche 
Satz  hier  stehen:  „ut  exilii  taedia  leniret,  ad  scriptionem  animum  appli- 
cuit:  erat  enim  non  tantum  Graece  et  Latine  peritus,  sed  etiam 
in  lingua  Hetrusca  facundus  (bis  hieher  wörtlich  nach  Boissard, 
das  folgende  dagegen  Frehers  Eigentum)  acri  perspicacis  mentis 
acumine  patrii  Carminis  rüdem  vetustatem  ad  novum  decus  extulit, 
dum  infera,  purgantia  et  beata  Regna,  Virgilio,  Statio  et  Bea- 
trice Portinaria  ducibus  A.  C.  1300  se  perlustrasse  egregio  Poemate 
cecinit,  et  non  humana  ad  Deos  ut  Homerus,  sed  divina  ad  nos  trans- 
tulit."  An  das  Lob  seiner  Gelehrsamkeit  knüpft  sich  also  als  ein  noch 
höheres  das,  dafs  er  der  heimischen  Dichtkunst  durch  sein  Werk  neuen, 
glänzenden  Ruhm  geschaffen,  und  die  Art,  wie  von  der  Commedia 
gesprochen  wird,  scheint,  da  gerade  dieser  Satz  sich  weder  bei  Bois- 
sard, noch  bei  Jovius,  den  beiden  von  Freher  am  Schlufs  selbst  an- 
gegebenen Quellen,  findet,  darauf  hinzuweisen,  dafs  der  Nürnberger 
Arzt  das  so  hoch  gelobte  Werk  selber  gekannt  hat.  Darauf  deutet 
die  richtige  Angabe  der  drei  Führer,  Virgils  für  die  Hölle,  des  Statius 
(neben  Virgil)  für  das  Fegefeuer,  und  Beatrices  (zum  ersten  Mal  auf 
deutschem  Boden  mit  ihrem  vollen  Namen  genannt!)  für  das  Paradies; 
darauf  deutet  auch  die  richtige  Fixierung  des  für  die  Vision  ange- 
nommenen Jahres.  Auch  hier  kehrt  die  Zusammenstellung  mit  Homer 
wieder,  ohne  dafs  dies  Mal  Virgil  bei  der  Vergleichung  erwähnt 
würde.  —  Blicken  wir  von  hier  zurück  auf  den  in  diesem  Punkte 
ganz  von  Gaddi  abhängigen  Morhof  und  weiter  auf  die  diesem  vor- 
angehenden   Lexicographen,    unter    denen  nur  Zwinger  seines  höchst 

*)  J.  J.  Boissard    (1528—1603)  Icones  quinquaginta  virorum  illustrium.  Francoforti 
1597— 1599.  I-  73  ff. 


Dante  in  der  deutschen  Litteratur  des  15.  bis  17.  Jahrhunderts.    II.  479 

wahrscheinlich  von  Gyraldus  abhängigen  Vergleiches  zwischen  Dante 
und  Lucrez  wegen  hervorragt,  so  konstatieren  wir  ein  starkes  und 
rasches  Anwachsen  der  poetischen  Schätzung  des  grofsen  Florentiners 
diesseits  der  Alpen. 

Freher  betont  im  Folgenden  Dantes  Eleganz  der  Rede,  seine 
Beliebtheit  bei  den  Fürsten,  und  erzählt  von  seinem  Aufenthalt  bei 
Cangrande,  der  als  idealer  den  Wissenschaften  ergebener  Fürst  gezeichnet 
wird;  durch  seine  Freigebigkeit  habe  Dante  das  Exil  leichter  getragen 
und  sich  ganz  den  Studien  hingeben  können,  \mi  deren  willen  ihn  heute 
noch  ganz  Italien  hochhalte:  All  das  aus  Boissard  einfach  abge- 
schrieben. Dann  wird  eine  Facezie*)  von  ihm  berichtet,  sein  Todestag 
genannt  und  eine  genaue  Beschreibung  seines  Denkmals  in  wörtlichem 
Anschlufs  an  Boissard  gegeben,  die  mit  dem  Abdruck  der  bekannten 
Grabschrift  schliefst.  Endlich  folgt  ebenso  wörtlich  nach  Boissard  das 
Schriftenverzeichnis,  das  vollständigste,  das  uns  bis  jetzt  in  einem  Buche 
deutscher  Herkunft  begegnete:  „De  monarchia  Mundi  lib.  Comoediarum 
lib.  Disputatio  de  aqua  et  terra,  quae  Mantuae  inchoata,  Veronae 
tarnen  decisa  est.  Epistolae  multae.  Scripsit  et  Hetrusco  sermone 
Poemata  doctissima,  de  Paradiso,  Purgatorio  et  Inferno.**  —  Es  fehlen 
somit  nur  Vita  nuova,  Canzoniere  und  Convito,  d.  h.  die  lyrischen  Ge- 
dichte nebst  den  sie  erklärenden  Prosaschriften;  im  übrigen  stimmt 
das  Verzeichnis  bis  auf  die  Erwähnung  der  drei  Teile  des  grofsen 
Gedichtes  genau  mit  dem  schon  von  Trithemius  (1494)  gegebenen 
überein.  Eigentümlich,  dafs  auch  hier  noch  das  durch  den  mifsver- 
standenen  Titel  des  grofsen  epischen  Werkes  entstandene  Buch  der 
Komödien  fortlebt,  während  die  drei  Teile  der  Commedia  nur  mit 
ihren  Einzeltiteln  aufgeführt  werden.  —  Dieser  lange  und,  wie  wir 
sahen,  ausnahmsweise  inhaltreiche  Artikel  Frehers  ist  das  letzte  Zeugnis, 
das  ich  im  XVII.  Jahrhundert  nachzuweisen  vermag,  abgesehen  von 
einer  beiläufigen  Nennung  des  Namens  in  Gottfried  Arnolds  inter- 
essanter „Unpartheyischer  Kirchen-  und  Ketzerhistorie"  (Frankfurt  a.  M. 
1699),  worin  nur  das  Epitheton  „bekannt",  das  dem  Dichter  verliehen 
wird,  hervorgehoben  werden  mufs**). 

München. 


*}  Nach  Domenichi,  Detti  e  fatti  de'  diversi  si|^ori,  Veo.  1563.  Blatt  106,  2. 
**)  Die    Stelle    steht    im  I.  Bd.  Buch  XIV,   Kap.  II.  §  6  und  lautet  (S.  390):    „Es 
kam  auch  dissmal  die  weise  aufif  Poeten  zu  crönen,    indem    nach    dem    bekanten   Dante 
Aligerio  Carolus  IV  zu  Rom  Franciscum  Petrarcham  zu  erst  dazu  machte,    und    ihn   mit 
einem  grofeen .  lorbeer-krantz  durch  alle  gassen  fQhren  liels.*^ 


-•••- 


VERMISCHTES. 


-»••- 


Johannes  Bockenrod,  ein  vergessener  lateinischer 

Dichter  des  XVI.  Jahrhunderts. 


Von 
F.  Wilhelm  E.  Roth. 


Johannes  Bockenrod  oder  Bockenrhodius  war  zu  Worms  a.  Rh.  zu 
unbestimmter  Zeit  geboren.  Der  Zeitraum  seiner  Geburt  dürfte 
1490  bis  1494  sein.  Über  seine  Familienverhältnisse  ist  Nichts  bekannt. 
Er  machte  seine  Studien  zu  Cöln  a.  Rh.  und  scheint  1514  in  das 
Album  der  Cölner  Hochschule  eingeschrieben  worden  zu  sein.  Von 
den  vier  damals  zu  Cöln  vorhandenen  Bursen :  der  Laurentiana,  Hukana^ 
Corneliana  und  Montana  wählte  er  letztere,  in  welche  auch  Bocken- 
rods  Studiengenosse  der  Cölner  Gerhard  Westerburg  am  25.  Oktober 
15 14  eintrat*).  In  der  nämlichen  Burse  studierten  damals  noch  Conrad 
Heresbach,  der  spätere  Clevische  Rat,  der  Humanist  Petrus  Schade 
genannt  Mosellanus  (gestorben  1524  als  Professor  zu  Leipzig)  und 
Conrad  von  Minden**).  Lehrer  Bockenrods  dürfte  der  Humanist 
Matthias  Kremer  von  Aachen  gewesen  sein. 

Bockenrod  scheint  sich  dem  Humanismus,  insbesonders  der  Dicht- 
kunst, zugewendet  zu  haben.  Wo  er  lebte  und  wirkte,  ist  unbekannt, 
er  scheint  sich  aber  zeitweise  am  pfalzischen  Hofe  zu  Heidelberg  und 
in  seiner  Vaterstadt  Worms  aufgehalten  zu  haben.  Ersteres  läfst  sich 
aus  seiner  dichterischen  Bearbeitung  des  Wirkens  der  Pfalzgrafen  bei 
Rhein  bis  König  Ludwig  IV.  schliefsen,  letzteres  geht  aus  der  genauen 
Kenntnis  der  Wormser  Verhältnisse,  die  sich  in  seinen  Dichtungen 
wiederspiegelt,  bestimmt  hervor.  Bockenrod  ist  vorzugsweise  poli- 
tischer Dichter,  treuer  Anhänger  des  Hauses  Habsburg  und  jedenfalls 
auch  der  katholischen  Sache.  Als  Ferdinand  der  Bruder  Kaiser 
Karls  V.  zum  römischen  König  gewählt  und  gekrönt  ward  (1531), 
besang  Bockenrod  den  Gewählten,  die  Königin,  die  Türkennot,  die 
Beziehungen  des  Kaisers  zu  König  Ferdinand  und  dem  Papst  Cle- 
mens VII.  Den  Druck  dieser  Gedichte  besorgte  Bockenrod  nicht 
selbst,  da  dieselben  jedenfalls  seine  der  Öflfentlichkeit  bestimmten  Erst- 
linge waren,  sondern  bediente  sich  des  ihm  von  Cöln  her  jeden&lls 
bekannten***)  Ortwinus  Gratius  als  älteren  Humanisten  zur  Einfiihrung, 
wobei  er  wiederum  dessen  Verhältnis  zu  dem  Domprediger  Friedrich 
Nausea  zu  Mainz  und  dessen  Beziehungen  zum  Habsburger  Haus  be- 


*)  Vgl.  Archiv  f.  Frankfurts  Geschichte  und  Kunst.     N.  F.  V,  S.  3. 
*»)  Ebenda  S.  3. 
•**)  Ortwin  Gratius  war  Vorsteher  der  bursa  Cucana  zu  Cöln  zur  Zeit,  als  Bocken- 
rod dort  studierte. 


Johannes  Bockenrod,  ein  vergessener  lateinischer  Dichter  des  XVI.  Jahrhunderts.   481 

. t  — — — 

nutzte.  Die  Gedichte  sind  ohne  Zweifel  in  den  Jahren  1531  und  1533 
entstanden;  Ortwinus  Gratlus  gab  dieselben  1533  zu  Cöln  heraus  und 
widmete  solche  unter  Beifügung  eines  Gedichts  auf  König  Ferdinand 
dem  Domprediger  Nausea  zu  Mainz. 

Die  Zeitverhältnisse  zu  Worms  bearbeitete  Bockenrod  ebenfalls 
dichterisch.  Seine  elegia  in  fatales  casus  reverendi  domini  et  domini 
Reinhardi  inter  adversa  patientissimi,  Joannis  Bock.  Wormatiensis, 
auf  Blatt  55  der  Münchener  Handschrift  von  Dichtungen  Bockenrods 
behandelt  den  Wormser  Bischof  Reinhard  von  Rippur  (gestorben 
19.  April  1533)  und  läfst  schliefsen,  dafs  Bockenrod  dem  Bischof  nahe 
gestanden  habe*).  Der  Dichter  bespricht  den  Tod  des  Bischofs, 
dessen  Erlösung  aus  schwerer  Zeidage,  die  sozialreligiöse  Verwirrung 
in  allen  Schichten  der  Bevölkerung  in  Folge  „haeretischer"  Lehren. 
Er  gedenkt  des  Bauernkrieges,  der  Wiedertäufer,  welche  zu  Worms 
einen  Vereinigungspunkt  besessen,  sowie  der  Türkengefahr.  Manche 
Ausdrücke,  wie  das  obige  „haeretisch^^  kennzeichnen  auch  hier  den 
Verfasser  als  Katholik. 

In  seinem  1536  herausgegebenen  colloquium  metricum  aquilae 
cum  gallo  spielte  Bockenrod  auf  die  Kampfe  des  Kaisers  und  des 
Königs  von  Frankreich  unter  den  Sinnbildern  des  Adlers  und  Hahns 
an.  Dabei  ist  er  reicher  an  allgemein  gehaltenen  Ausdrücken  als  an 
geschichtlicher  Darlegung  der  Ereignisse.  —  Aufserdem  bewahrte 
Bockenrod  eine  Menge  anderer  Dichtungen  in  der  von  ihm  angelegten 
Münchener -Handschrift  13 17  auf.  Bockenrod  scheint  nebstdem  das 
der  Dichtkunst  verwandte  Gebiet  der  Musik  gepflegt  zu  haben,  seine 
admiranda  poemata  enthalten  Musiknoten  über  manchen  Gedichten, 
und  bleibt  es  nicht  ausgeschlossen,  dafs  auch  die  Melodieen  von  ihm 
herrühren.  Die  meisten  dichterischen  Erzeugnisse  Bockenrods  sind 
sprachlich  gewandt,  gut  im  Dialog,  abgerundet  im  Versmafs,  häufig 
schwungvoll  in  der  Diktion,  aber  arm  an  geschichtlichen  Angaben. 
Seiner  litterarhistorischen  Stellung  nach  scheint  er  Hütten  nachgeahmt 
zu  haben.  Nach  1536  verschwindet  jede  Spur  seines  Wirkens;  wo  und 
wann  er  starb,  ist  unbekannt.  Bockenrod  ist  so  gut  wie  vergessen, 
keine  Litteraturgeschichte  führt  ihn  nach  seinem  Wirken  auf  Kurz 
behandelt  ist  er  von  K.  und  W.  KrafFt,  Briefe  und  Documente  aus 
der  Zeit  der  Reformation  im  16.  Jahrhundert.  Elberfeld,  o.  J.  S.  192, 
sowie  im  Freiburger  Kirchenlexicon  s.  v.  und  in  Joecher-Adelung, 
Gelehrtenlexicon  I,  1943;  die  allg.  d.  Biographie  übersah  ihn. 

Seine  Schriften  gehören  zu  den  Seltenheiten.  Ihre  bibliographische 
Beschreibung  ist  diese. 

I.  Lindenblättchen  ADMIRANDA  Lindenblättchen  |  QVAEDAM 
POEMATA  DN.  |  Joannis  Bockenrodij  Vuormatiani,  |  vatis  vndecunqz 
rarissimi.  |  Inter  alia.  |  De  laudibus  diui  Ferdinandi  regis  Rhomanorum, 
&c.  1  De  coUoquio  reginae  cum  rege  Ferd.  contra  Turcas  belligeraturo.  | 
De  praeconijs  organicis  Musarum  in  laudem  Ferdinandi.  |  De  colloquio 
reginae    cum  rege  Ferd.  post  victoriam  contra  Turcas.  ]  De  colloquio 


*)  Abdruck  in  Geschichtsblätter  f&r  die  mittelrhein.  Bisthflmer  U.  254. 


489  F.  Wilhelm  E.  Roth. 


regis  Rhom.  Ferd.  cum  fratre  Carolo  Imp.  |  De  colloquio  Caroli  Imp. 
cum  demente  papa.  VII.  |  De  colloquio  Caroli  Imp.  cum  rege  Tur- 
carum.  |  Ad  reuerendiss.  Dn.  Card.  &  Episcopum  Tridentinü.  |  Lege, 
quoniam  legisse  iuuabit.  |  Coloniae,  Anno  M.D.XXXIII.  in  Septembri  j 
Petrus  Quentel  excudebat.  ( 

Blatt  I  Rückseite :  Lindenblättchen  ORTHVINVS  Lindenblättchen  | 
GRATIVS,  FRIDERICO  NAVSEAE,  LL.  |  Doctori  clarissimo,  &  ec- 
clesiae  Moguntinen.,  Ecclesiaste  |  integerrimo.  S.  P.  D.  | 

Am  Ende  Rückseite  des  letzten  Textblattes  mit  Signatur  G^:  DE 
FORTITVDINE  ATQVE  CON-  |  stätia  gloriosiss.  iuxta  ac  inuictiss. 
Rho.  Hung.  &  Bohae.  |  regis  Ferdinandi,  Orthuini  Gratij  Ogdoa-  l  de- 
castichon.    Schliefst:  Seruat,  &  haec  summis  comemoräda  viris.     TeXt)Q, 

Quarto,  29  Blätter  mit  den  Signaturen  A — G.  Blatt  12  ein  Holz- 
schnitt, eine  Orgel  darstellend.     Hie  und  da  Musiknoten. 

Berlin,  Kön.  Bibl.  (Libri  rar.  impr.  Qu.  i). 

Joecher- Adelung  Gelehrtenlexicon  I,  1943.  —  Panzer,  annales  VI, 
403  n.  694.  —  Roth,  Wormser  Buchdruckereien  S.  66  Anm. 

2.  COLLOQVIVM  ME  I  TRICVM  AQVILAE  CVM  |  Gallo.  Joanne 
Bockenrho-  |  dio  Vuormacien.  |  authore.  |  Holzschnitt,  ein  gekrönter 
Adler  kämpft  mit  einem  Hahn.     Titelrückseite  leer. 

BUtt2  mitSignatur  all  Vorseite:  METRICVM  COLLOQVIVM.  |  Aqui- 


Blatt  6  Rück- 
quutus,  in  die 


lae  cum  Gallo,  Joanne  Bocken- 1  rhodio,  Vuormac.  Auto. 
Seite:  AD  VENA  CVM  PA-  |  SQVILLO  RHOMANO  LO 
S.  Marci,  Anno  &c.  36.  Joanne  Bockenrhodio  Vuorma- 1  cien.   Authore. 

Quarto,  6  n.  gez.  Blätter,  letzte  Seite  leer,  mit  Signaturen  au  —  bll. 
O.  O.  u.  J.  u.  F.  (Worms?  1536). 

Darmstadt,  Hofb.  (D  5016),  Jena,  Univ.-Bibl.  (Th.  XXXVH  q.  65), 

Murr,  memorabilia  biblioth.  Norimberg.  II,  S.  283.  —  Roth, 
Wormser  Buchdruckereien  S.  66.  —  Joh.  Jac.  Bauer,  bibl.  libr.  rar. 
Suppl.  I,  227. 

Eine  deutsche  Übersetzung  dieser  Schrift  hat  den  Titel:  Der  Adler 
wider  den  Hauen.  Eyn  schöner  lüschtbarlicher  Dialogus  vnd  be- 
düttnus  Römischer  Keyserlicher  Maiestat  vnd  des  Kunigs  von  Francken- 
reich, wie  sich  der  Adler  vber  den  Hauen  beclagt  x.  O.  O,  1536. 
Quarto,  6  Blätter.  Mit  Titelholzschnitt,  Kampf  des  Adlers  mit  dem 
Hahn.  Übersetzer  ist  der  bekannte  fahrende  Gelehrte  und  Verleger 
Johannes  Haselberg  zu  Reichenau  am  Bodensee. 

3.  Sammlung  von  Dichtungen  Bockenrods.  Hs.  der  K.  Hofbibl, 
zu  München  cod.  lat.  Mon.  131 7.  Papier,  Folio,  XVI.  Jahrhundert, 
308  Blätter. 

Blatt  I :  Catalogi  archiepiscoporum  et  episcoporum  Germaniae 
insertis  multis  carminibus  Jo.  Bockenrhodii  Wormatiensis. 

Blatt  305:  De  principibus  et  ducibus  Bavariae  a  Bavaro  usque 
ad  Ludovicum  imperatorum*).  Vgl.  catalogus  cod.  manuscript.  bibL 
regiae  Monacensis.    IV.    S.  4. 

*)  Briefliche  Mitteilung  aus  MQnchen. 

Wiesbaden.  .•. 


Zu  Hans  Sachsens  31.  Pastnachtspiel  und  zum  Eulenspiegel.  483 


Zu  Hans  Sachsens 
31.  Fastnachtspiel  und  zum  Eulenspiegel, 

Von 
A.  Ludwig  Stiefel. 


Die  Namen  Coridus  und  Medius  für  die  zwei  „Heuchler"  (Parasiten) 
in  diesem  Spiel  („Der  halb  Freundt")  brachten  Michels  in  seiner 
Besprechung  der  Drescher'schen  H.  Sachs-Studien  N.  F,  (Ztschr.  f. 
d.  Altert.  36,  S,  358)  auf  den  Gedanken,  H.  Sachs  müsse  ein  neu- 
lateinisches  Drama  gekannt  haben,  welchem  er  diese  Namen  entlehnte. 
Mir  scheint  diese  Annahme  unnötig.  Zu  denjenigen  Büchern,  die 
Sachs  ganz  besonders  fleifsig  las  und  benützte  gehört  die  Übersetzung 
der  Apophtegmata  des  Plutarch  u.  A.  V05  H.  Eppendorff  und  in 
dieser  (Ausgabe  Strafsburg  1 534)  finden  sich  auf  S.  456  nicht  weniger 
als  vier  „sittlich  Spruch"  d.  h.  Anekdoten,  in  denen  „Corydus,  ein 
suppenfresser"  (Parasit)  der  Held  ist.  S.  575  liefst  man:  „Ein  suppen- 
fresser  vnd  anzeyger  bei  dem  kunig  Alexandro  hyesfs  Medius". 
Offenbar  hat  sich  Sachs  die  Namen  hier  geholt. 


Zu  der  Historie  „Wie  Vlenspiegel  ein  par  schu  kaufft  on  gelt", 
welche  sich  zuerst  in  der  Erfurter  Ausgabe  des  Volksbuches  von  1532 
(als  No.  92)  findet,  bemerkt  Lappenberg  (S.  292  seiner  Ausgabe  des 
Eulenspiegel):  „Diese  Posse,  so  bekannt  sie  uns  erscheint,  ist  unter 
denjenigen,  die  dem  Texte  v.  J.  151 9  eingeschaltet  sind,  die  einzige, 
welche  nicht  weiter  nachzuweisen  ist". 

Die  Erzählung  ist  aus  dem  „Colloquiorum  familiarium  opus"  des 
Desiderius  Erasmus  und  zwar  aus  dem  „Convivium  fabulosum"  ent- 
lehnt, aber  sehr  stark  gekürzt  wiedergegeben.  Dort  nimmt  sie  (la- 
teinisch) etwa  I  Va  Seiten  ein,  hier  ist  sie  auf  8  Zeilen  zusammenge- 
schmolzen. Dort  wird  sie  von  einem  Maccus  erzählt  und  spielt  zu 
Leyden,  hier  verübt  Eulenspiegel  den  Streich  zu  „Erdtfurt". 

Johannes  Gast  nahm  die  Geschichte  wörtlich  in  seine  Convivales  Ser- 
mones  (i.  Ausgabe  1541)  auf  unter  dem  Titel  „De  Bataua  quodam" 
und  sie  findet  sich  auch  sonst  oft  genug  in  der  in-  und  ausländischen 
Litteratur. 

Nürnberg. 

f. 


BESPRECHUNGEN. 


ED  WARD  STILGEBAUER:  Grimmeishausens  ,,Dietwald  und  Ame- 
linde".  Inaugural- Dissertation  y  vorgelegt  der  pkHoL  Fak,  ssu 
Tübingen.  Gera  iSpj.  S4  ^^  ^* 
Die  kleine  Schrift  bildet  eine  sehr  dankenswerte  Bereicherung  der 
Grimmelshausen-Litteratur  (vgl.  S.  268),  indem  sie  ein  zwar  weniger  be- 
deutendes Werk  des  genialen  Erzählers,  dieses  aber  nach  der  Ansicht 
des  Referenten  erschöpfend  und  streng  methodisch  auf  seine  Quellen 
untersucht«  Denn  wenn  man  sich  auch  vorstellen  kann,  dafs  der  Verfasser 
auch  noch  die  Frage  aufgeworfen  und  beantwortet  hatte,  aus  welchen 
der  ihm  vorliegenden  Geschichtswerke  Grimmeishausen  die  einzelnen 
Teile  des  unverhältnismäfsig  umfangreichen  historischen  Hintergrundes 
seines  Romans  geschöpft,  so  wird  man  sich  doch  ^agen  müssen,  dafs 
hierbei  überhaupt  nicht  viel  und  gar  nichts  Interessantes  und  in  Bezug 
auf  Grimmeishausens  schriftstellerischen  Charakter  Belehrendes  heraus- 
gekommen sein  würde.  Die  positiven  Ergebnisse,  welche  der  Verfasser 
auf  der  letzten  Seite  kurz  resümiert,  dürften  in  allen  wesentlichen 
Punkten  kaum  anfechtbar  sein. 

Eine  abweichende  Ansicht,  welche  die  SteQung  der  Aufgabe 
betrifft,  möchte  Referent  zur  Geltung  bringen.  Wenn  der  Herr  Ver£ 
gleich  zu  Anfang  bemerkt,  dafs  die  Litterarhistoriker  mit  Recht  gering- 
schätzig über  Dietwald  und  Amelinde  urteilen,  so  scheint  er  mir  über 
eine  Frage  hinwegzugleiten,  auf  die  ein  Litterarhistoriker,  falls  er  den 
Namen  verdient,  unbedingt  einzugehen  hat,  nämlich,  inwieweit  die 
Individualität  des  Schriftstellers  oder  Dichters  in  seinem  Werke  sich 
kundgebe.  Wenn  sich  das  in  einem  Werke  Grimmeishausens  findet, 
so  darf  der  Litterarhistoriker  mit  diesem  Bestandteile  in  keinem  Falle 
geringschätzig  umgehen.  Das  ist  nun  aber  auch  in  Dietwald  und 
Amelinde  nach  meiner  Ansicht  unstreitig  der  Fall;  es  kommen  Stellen 
vpr,  in  denen  sich  der  unsterbliche  Verfasser  des  Simplicissimus  ganz 
als  der  zeigt,  der  er  ist.  Die  bedeutendste  scheint  mir  die  im  zweiten 
Teile  zu  sein,  wo  Grinmielshausen  nach  der  Besiegung  der  Räuber 
durch  Dietwald  sich  der  moralischen  Albernheit  seines  Stoffes  bewuist 
wird  und  sich  mit  den  schönen  Worten  „O  Lob  würdiger  Ent- 
schlufs  dieser  edlen  Jugend  u.  s.  w."  dagegen  auflehnt.  In  den  echt 
simplidaniischen  Stil  verfallt  er  noch  öfter,  wovon  Referent  seinerzeit 
den  Nachweis  geliefert  zu  haben  glaubt.  Seite  30  f.  spricht  Stil- 
gebauer  allerdings  von  den  Vorzügen  Grimmeishausens  gegenüber 
dem  ihm  anologen  Hagelgansz,  doch  scheint  er  ihm  mit  dem,  was  er 
sagt,  nicht  gerecht  zu  werden.  Indessen  wird  dadurch  der  Wert 
seiner  Dissertation,  der  in  den  klar  und  übersichtlich  dargelegten 
Ergebnissen  exakter  Quellenforschung  liegt,  keineswegs  beeinträchtigt 
Gegen  den  Stil  hat  Referent  nichts  einzuwenden;  Seite  2  begegnet 
der  störende  Druckfehler  Arnim  für  Armin. 


Besprechungen.  485 


LUDWIG  PARISER:  Insomnis  Cura  Parentum  von  H.  M.  Mosche- 
rosch.  Abdruck  der  ersten  Ausgabe  (1643).  Halle  a.  S,,  Max 
Niemeyer.  i8p3.  (Neudrucke  deutscher  Litteraturwerke  des  XVI. 
u.  XVII  Jahrhunderts   No.  loSlg.J     VIII,  13p  S.  <J*. 

Soweit  man  ohne  Vergleichung  des  Originaldruckes  urteilen  kann, 
scheint  der  Herausgeber  seine  Aufgabe  mit  Sorgfalt  und  Umsicht  ge- 
löst zu  haben.  Es  sei  besonders  hervorgehoben,  dafs  Pariser 
wenn  ihn  philologischer  Eifer  angetrieben  oder  richtiger  verfuhrt  hätte, 
die  Citate  des  Verfassers  zu  verbessern,  einen  argen  Fehler  begangen 
haben  würde ;  denn,  wie  Seite  VIII  richtig  bemerkt  wird,  citiert  Mosche- 
rosch  sehr  oft  mit  Überlegung  falsch,  weil  das  richtige  Citat  eben 
nicht  recht  passen  würde;  oft  scheint  er  mit  seinen  Hinweisungen  auf  be- 
stimmte Bücherstelleit  nur  sagen  zu  wollen,  was  ihm  bei  seinen  Worten 
vorgeschwebt  habe,  als  er  sie  niederschrieb.  Vergl.  hierzu  des  Ref. 
Bemerkung  in  Kürschners  National-Litteratur,  Bd.  32,  Einl.  Seite  XIX. 

In  seiner  Einleitung  hat  der  Herausgeber  eine  sich  von  selbst 
aufdrängende  Frage  unberücksichtigt  gelassen.  Wenn  die  Ausgabe  A  i 
(Strafsburg  1647)  ein  Nachdruck  ist,  wie  kommt  dann  die  Übersetzung 
des  Traktats  der  Elisabeth  Joceline  hinein,  die  nach  Seite  IV  „von 
Moscherosch  besorgt"  ist,  und  welche  einige  Exemplare  von  B 
(Strafsburg  1653)  enthalten  (S.  VI)?  Hier  bleibt  doch  jedenfalls  etwas 
rätselhaft.  Wenn  die  Übersetzung  in  Aj  mit  der  in  B  wirklich  iden- 
tisch ist,  so  ist  sie  entweder  in  beide  Ausgaben  ohne  Moscheroschs 
Zutun  gekommen,  oder  Aj  kann  nicht  wohl  ein  Nachdruck  sein,  was 
meines  Erachtens  die  von  dem  Herausgeber  Seite  V  angeführten  Stellen 
auch  nicht  strikt  beweisen,  da  in  diesen  der  Verfasser  einen  blofsen  Neu- 
druck (A^)  der  neuen  umgearbeiteten  Ausgabe  gegenüber  (B)  wohl 
unberücksichtigt  lassen  konnte.  Dies  sind  aber  nur  Vermutungen, 
ein  festes  Ergebnis  könnte  nochmalige  Vergleichung  von  A|  und  B 
liefern. 

Breslau.  Felix  Bobertag. 


LOUIS  G.   WYSOCKI:   Andreas  Gryphtus  et  la  TVagedü  Allemande 
au  XVII  Sücle.    Paris.    E.  Bouillon  1893.    11,  456  S.  gr.  8\ 

Wysocki  hat  in  ungemein  sorgfaltiger  Weise  die  Werke  des  Gry- 
phius  studiert  und  zwar  nicht  allein  die  Tragödien.  Alles,  was  ihm  einen 
Anhalt  bieten  konnte,  die  Persönlichkeit  des  schlesischen  Poeten  aus 
seinen  Dichtungen  zu  beleuchten,  ist  mit  peinlicher  Genauigkeit  hervor- 
gesucht. Es  ist  hierbei  des  Guten  sogar  etwas  zu  viel  geschehen. 
Es  durfte  vorausgesetzt  werden,  dafs  dem  Leser  eines  so  umfang- 
reichen Buches,  selbst  in  der  Heimat  des  Verfassers,  die  Werke  des 
Gryphius  zur  Hand  sein  würden;  eine  Kürzung  der  vielen  Citate,  die 
neben  dem  djeutschen  Original  noch  dazu  in  französischer  Prosa  ge- 
boten werden,  würde  meines  Erachtens  die  Lektüre  des  etwas  weit- 
schweifigen Buches  erleichtern.     Der  Hauptwert  desselben  liegt  in  der 


486  Besprechungen. 

erschöpfenden  ästhetischen  Würdigung  des  Dramatikers  Gryphius 
und  in  der  Gewandtheit  Wysockis  —  nach  dem  Vorbilde  Taines  —  uns 
die  Individualität  des  Dichters  aus  seinen  Werken  anschaulich  zu  machen. 
Dementsprechend  bieten  die  Kapitel  VI  u.  VII  des  dritten  Teils,  in 
welchen  ein  Bild  des  Menschen  Gryphius  gezeichnet  und  seine  düstere 
Weltanschauung  aus  seiner  Lyrik  nachgewiesen  wird,  für  den  deutschen 
Leser  die  meiste  Anregung.  Neue  Gesichtspunkte  allerdings  können 
sich  auch  hier  nicht  ergeben,  da  die  Eigenart  des  Gryphius,  welcher 
von  seiner  Lyrik  selbst  sagt:  ,,mentis  nostrae  speculum  porrigimus^^ 
zu  deutlich  ausgeprägt  und  von  der  deutschen  Forschung  längst  fest- 
gestellt ist 

Für  den  historischen  Teil  seiner  Arbeit  hat  Wysocki  hauptsächlich 
Gervinus,  Creizenach,  Borinski  und  Cohns  „Shakespeare  in  Germany" 
benutzt.  Seinem  Vergleich  des  römischen  Dramas  mit  dem  des  Gry- 
phius ist  im  allgemeinen  zuzustimmen.  Hingegen  wird  man  mit  seiner 
gänzlichen  Ablehnung  eines  Einflusses  der  holländischen  Tragödie  auf 
Gryphius  sich  nicht  einverstanden  erklären  können.  Zunächst  ist  un- 
richtig, wenn  er  Kollewijn  und  diesem  folgend  die  deutschen  Litterar- 
historiker  behaupten  läfst:  ^Tout  est  hollandais  dans  le  drame  de 
Gryphius*'.  Eine  solche  Behauptung  ist  nirgends  aufgestellt  worden. 
Kollewijn  konstatiert  lediglich  eine  Verwandtschaft  der  Stoffe  und  der 
dramatischen  Technik,  sowie  die  Abhängigkeit  der  Holländer  sowohl, 
wie  des  deutschen  Dichters  von  der  römischen  Tragödie.  Die  triftigen 
Beweise  aber,  welche  Kollewijn  bezüglich  der  Benutzung  Vondelscher 
und  Hooftscher  Tragödienstoffe  durch  Gryphius  beibringt,  werden 
nicht  dadurch  entkräftet,  dafs  sich  nirgends  ein  Vers  bei  Gryphius 
findet,  der  Wort  für  Wort  aus  dem  holländischen  Vorbilde  übersetzt 
ist.  Es  liegt  doch  nahe,  dafs  Gryphius,  der  seine  dramatische  Tätigkeit 
mit  der  Übersetzung  der  Vondelschen  Gebroeders  begonnen  hat,  hier- 
durch zugleich  seine  Übereinstimmung  mit  dem  Wesen  der  holländischen 
Tragödie  zum  Ausdruck  brachte.  Dafs  er  dabei  seine  Originalität 
eingebüfst  habe  und  zu  einem  blofsen  Kopisten  der  Holländer  herab- 
gesunken sei  (vgl.  Preface),  ist  meines  Wissens  in  Deutschland  nie 
behauptet  worden. 

Die  Frage  nach  der  Bekanntschaft  des  Gryphius  mit  den  Werken 
Shakespeares  hat  Wysocki  Kap.  III,  Teil  lü  seines  Buches  erörtert.  Er 
sagt:  Cette  question  a  ete  plus  d*une  fois  agitee  en  AUemag^e,  mais 
les  ecrivains  qui  Tont  etudie  ne  Tont  pas  approfondie.  Idh  glaube 
nicht,  dafs  Wysocki  diese  von  ihm  bisher  vermisste  „Vertiefung"  der 
Frage  geglückt  ist.  Er  kommt  zu  dem  Schlüsse,  dafs  Gryphius 
während  seines  Aufenthalts  in  Holland  (1638 — 44  oder  1647)  Shake- 
speares Dramen  habe  aufführen  sehen,  ohne  jedoch  Gefallen  an  ihnen 
zu  finden.  Aus  den  Wanderzügen  englischer  Komödianten  durch  die 
Niederlande,  deren  Daten  Wysocki  aus  Cohns  „Shakespeare  in  Ger- 
many**  zusammenstellt,  kann  natürlich  noch  nicht  gefolgert  werden, 
dafs  Gryphius  auch  Gelegenheit  gefunden  hat,  Aufführungen  englischer 
Dramen  mitanzusehen.  Wysocki  versucht  daher  nachzuweisen,  dafs 
Situationen  und  Motive  aus  Shakespeare  in  die  Dramen  des  Gryphius 


fiespreckungfed.  487 


Eingang  gefunden  haben.  Nicht  verständlich  ist  es  allerdings,  warum 
der  deutsche  Dichter,  von  dem  Wysocki  behauptet,  Shakespeare  sei 
ihm  antipathisch  gewesen  (il  l'a  dedaigne),  ihn  doch  wieder  so  stark 
benutzt  haben  soU.  Denn  nicht  weniger  als  17  Stücke  Shakespeares 
sollen  in  Einzelheiten  vorbildlich  für  Gryphius  gewesen  sein.  Hier 
nur  zwei  Fälle,  in  denen  Wysocki  „Shakespearestudien"  des  Schlesiers 
entdeckt  haben  will.  Leo  Armenius  soll  Anklänge  an  Richard  III. 
enthalten.  Die  Scene  nämlich,  in  welchen  der  Geist  des  Tarasius 
den  schlafenden  Leo  dadurch  ängstigt,  dafs  er  Baibus  auffordert,  den 
Kaiser  zu  durchbohren,  soll  der  Geisterscene  aus  Richard  III.  (Akt.  V. 
Sc.  3)  entsprechen.  Zu  dieser  Annahme  ist  Wysocki  offenbar  dadurch 
g^elangt,  dafs  ihm  ein  französischer  Shakespeare,  nämlich  die  Über- 
setzung von  Fran9ois  V.  Hugo  vorgelegen  hat.  Denn  im  Original 
iwrürde  er  vergeblich  nach  der  Anweisung  gesucht  haben:  Chaque 
spectre  perce  Richard  de  son  poignard  pendant  son  sonuneil  (S.  261). 
Dann  sollen  the  tragedy  of  Locrine  —  die  „doubtful  plays"  werden  näm- 
lich auch  herangezogen  —  und  die  „Catharina  von  Georgien"*)  Überein- 
stimmungen aufweisen.     Die  keineswegs  originellen  Worte  des  Abbas: 

„Gefangne,  die  uns  fieng!     Die  uns  in  Ketten  schlägt" 

findet  Wysocki  in  Locrines  Ausruf  wieder  (Akt  IV,  i):  „I,  being  the 
conqueror,  live  a  lingering  life".  Aus  solchen  Phrasen,  welche  in  der 
dramatischen^  Litteratur  so  häufig  begegnen,  läfst  sich  doch  nichts 
beweisen.  Übrigens  hätte  Wysocki  gerade  diesen  Gedanken  auch 
aus  Vondels  „Maagden"  nachweisen  können;  noch  dazu  wird  er  hier 
von  Attila  in  einer  Situation  ausgesprochen,  welche  mit  der  des  Abbas 
fast  identisch  ist.  —  Die  komische  Ansicht  Wysockis  (S.  24),  „a  mon 
avis  Tengouement  des  Allemands  pour  Shakespeare  n*a  jamais  ete 
que  factice,  que  simule"  bedarf  keiner  Widerlegung.  Was  er  selbst 
über  Shakespeare  zu  sagen  weifs,  verdankt  er  fast  ausschliefslich 
deutschen  Quellen.  —  Im  grofsen  und  ganzen  ein  anregendes  Buch 
—  und  ein  bedeutender  Fortschritt  gegenüber  Wysockis  Flemming  — 
wenngleich  des  Verfassers  neue  Entdeckungen  wenig  Aussicht  haben, 
jemals  Anerkennung  zu  finden. 

München.  Ludwig  Pariser. 


-•••- 


Zur  Gesdiickie  des  Dramas  und  Theaters.     IL 

Schon  einmal  durfte  ich  an  dieser  Stelle**)  einzelne  Untersuchungen 
und  eine  zusammenfassend  darstellende  Arbeit  Wilhelm  Creizenachs 
rühmen,  in  denen  er  die  wichtige  Episode  in  der  Geschichte  des 
deutschen  und  holländischen  Theaters  behandelte,  welche  durch 
die  Wanderzüge  der  englischen  Komödianten  auf  dem  Festlande  her- 
vorgerufen wurde.  Die  gleiche  Sicherheit  in  der  Beherrschung  ver- 
schiedener Litteraturen,  die  Creizenach  dabei  auf  einem  zeitlich  enger 
begrenzten   Gebiete   bewährte,    zeigt    nun    der    erste  Band  seines  auf 

♦)  Über  die  Quellen  der  Katharina  von  Georgien  vgl.  Zeitschrift  V,  207. 
*•)  Vgl.  ffl,  146  f. 
Zttchr.  1  TgL  Litt.-GeKh.    N.  P.  VUl. 


488  Besprechungen. 

breitester  Grundlage  entworfenen  rühmlichen  Werkes,  die  „Geschichte 
des  neueren  Dramas"*),  Die  deutsche  Litteraturgeschichte  weist 
nicht  viele  Werke  auf,  welche  an  Gründlichkeit  und  Ausdehnung  der 
Forschung,  an  Konzentration  des  riesigen  Stoffes,  Geschick  der  Dar- 
stellung vor  oder  auch  nur  neben  Creizenachs  Arbeit  genannt  werden 
dürften.  Und  diese  wird  um  so  verdienstlicher,  als  wir  bis  jetzt 
weder  eine  allgemeine  Geschichte  des  Dramas  noch  eine  Geschichte 
des  deutschen  Dramas  besitzen,  die  auf  streng  wissenschaftlicher 
Grundlage  eine  lesbare  Darstellung  bieten.  Schon  Gustav  Freytag 
hatte  im  Anfang  der  vierziger  Jahre  als  Breslauer  Privatdozent  an 
einer  „Geschichte  der  dramatischen  Poesie  und  Kunst"  gearbeitet  und 
dabei  geklagt,  „dafs  die  Bewältigung  dieses  Stoffes  aus  unserer  Vor- 
zeit eine  höchst  schwierige  ist  und  fast  Alles  aus  den  äufsersten 
Winkeln  der  Bibliotheken  mühsam  zusammengesucht  werden  mufs". 
Während  die  epische  und  lyrische  Litteratur  des  Mittelalters  von 
deutschen  Forschern  früher  als  von  den  Franzosen  und  Engländern 
selbst  durchforscht  wurde,  ist  dem  mittelalterlichen  Drama  nicht 
die  gleiche  Sorgfalt  zugewendet  worden.  Wir  haben  fiir  das  deutsche 
Drama  kein  Buch,  das  auch  nur  Wards  History  of  English  dramatic 
Literature  zur  Seite  zu  stellen  wäre,  geschweige  Arbeiten  wie  Petit 
de  Julevilles  Darstellung  der  Mysteres  oder  Schacks  Geschichte  der 
dramatischen  Litteratur  und  Kunst  in  Spanien.  Ein  Buch  wie  E.  Wilkens 
„Geschichte  der  geistlichen  Spiele  in  Deutschland"  (1872)  kann  jetzt 
eigentlich  nur  mehr  angeführt  werden,  um  zu  zeigen,  wie  mangelhaft 
und  irrtumsvoll  unsere  Kenntnis  von  der  Entwickelung  des  mittel- 
alterlichen Dramas  noch  vor  zwanzig  Jahren  war.  Und  wenn  seit 
dieser  Zeit  das  Material  reich  vermehrt,  durch  die  Arbeiten  von  Milch- 
sack, Lange,  Traube  neue  leitende  Gesichtspunkte  aufgestellt  wurden, 
so  fehlen  doch  noch  manche  Vorarbeiten,  wie  sie  für  die  englischen 
Kollektivmysterien  (vgl.  Kölbings  Englische  Studien  XX,  436)  ge- 
leistet sind.  Die  Verdienste  J.  L.  Kleins  haben  in  der  letzten  Zeit 
an  Wetz  einen  warmen  Fürsprecher  gefunden.  Allein  abgesehen  da- 
von, dafs  Kleins  15  Bände  das  deutsche  und  französische  Drama  noch 
nicht  erreicht  haben,  ist  gerade  ein  Vergleich  mit  Kleins  „Geschichte 
des  Dramas"  ebenso  rühmlich  für  Creizenachs  Fähigkeit,  die  gewaltige 
Stoffmasse  ordnend  zu  beherrschen,  wie  ein  Hinblick  auf  Rob.  Prölfs 
„Geschichte  des  neueren  Dramas"  die  Selbständigkeit  seiner  ausge- 
dehnten Forschung  und  sein  wissenschaftliches  Erfassen  aller  Probleme 
erst  recht  deutlich  zum  Bewufstsein  bringt. 

Im  ersten  Buche  „das  Fortleben  des  antiken  Dramas  im  Mittel- 
alter" bewegt  sich  Creizenach  auf  dem  Arbeitsgebiete  W.  Cloettas, 
zu  dessen  Behauptungen  er  öfters  in  Gegensatz  tritt.  Diese  lateinischen 
Komödien  enthalten  durchaus  keinen  Keim  der  späteren  Entwickelung, 
sondern  sind  nur  als  eine  Art  von  Ersatz  für  das  fehlende  Drama  zu 
betrachten  (S.  45).  Die  Fortwirkung  der  verzwickten  mittelalter- 
lichen Theorien  und  Definitionen  läfst  sich  aber,  glaube  ich,  noch  ins 


♦)  Halle  a.  S.,  Verlag  von  M.  Niemeyer.     1893.     XV,  586  S.     8« 


Besprechungen.  489 


i6.  Jahrhundert  hinein  verfolgen.  Hans  Sachsens  Erklärung  der 
Komödie  ^sehr  traurig  hin  bis  zu  dem  End,  da  es  sich  erst  zu 
Freuden  wend",  entspricht  der  mittelalterlichen  Regel,  die  in  der 
Komödie  auf  traurigen  Anfang  fröhlichen  Schlufs  fordert.  Die  Lehren 
des  13.  Jahrhunderts  von  dem  alltäglichen  Stil  der  die  Angelegen- 
heiten des  Privatlebens  behandelnden  Komödie  (S.  9)  finden  wir  wieder 
bei  Scaliger  und  Opitz.  Die  Durchforschung  der  mittelalterlichen 
Elegienkomödien  hat  Creizenach  dazu  geführt,  in  der  vierten  Dekla- 
mation Quintilians  die  Quelle  von  Lessings  Tragödienbruchstück  „das 
Horoskop"  zu  entdecken. 

Auf  die  Einleitung  folgen  im  2.  Buche  „die  Anfange  des  geist- 
lichen Dramas  in  lateinischer  Sprache",  im  3.  die  Anfange  in  den 
Volkssprachen,  das  4,  behandelt  dann  die  grofsen  Passionsspiele,  Le- 
genden, Mirakel  in  Deutschland,  Frankreich,  der  Provenze,  die  Gesamt- 
mysterien in  England,  die  besondere  Art  der  aus  dem  Volksgesang 
hervorgehenden  italienischen  Spiele,  vor  allem  der  Florentiner  Reprä- 
sentationen, und  die  dürftigen  Überlieferungen  der  Niederlande,  aus 
Schweden,  Ungarn  und  Byzanz.  Die  keltischen  Spiele  hat  bereits 
Klein  eingehend  besprochen.  Aus  Spanien  sind  aufser  dem  von  Baist 
1887  veröffentlichten  misterio  de  los  reyes  magos  nur  spärliche  Notizen 
für  die  ältere  Zeit  überliefert.  Das  slavische  Drama  ist  fast  nur  durch 
czechische  Osterspiele  vertreten,  bei  denen  man  wohl  Abhängigkeit 
von  deutschen  Mustern  voraussetzen  darf.  Die  „internationalen  Ent- 
lehnungen in  den  geistlichen  Spielen"  hat  Creizenach  am  Schlüsse  der 
Darstellung  des  kirchlichen  Dramas  eigens  erörtert. 

Das  religiöse  Schauspiel  des  Mittelalters  „ist  aus  den  kirchlichen 
Gesängen  hervorgegangen".  Die  Richtigkeit  dieses  Satzes,  mit  dem 
Creizenach  die  Geschichte  des  geistlichen  Dramas  eröffnet,  wird  heute 
niemand  mehr  bestreiten,  und  Creizenach  hat  durch  die  Verwendung 
des  bei  Milchsack  und  Lange  fehlenden  St.  Gallener  Tropus  aus 
Tutilos  Zeit  die  Anfänge  sogar  ein  Stück  weiter  zurückverfolgen 
können.  Das  Alter  der  Handschriften  selbst,  fiir  deren  sprachliche 
Kriterien  die  Einzeluntersuchungen  noch  meistens  fehlen,  ist  übrigens 
nicht  entscheidend,  da  in  nachweisbar  jüngeren  Handschriften  sich 
öfters  noch  die  weniger  entwickelte  Dramenform  findet  (S.  58).  Die 
einzelnen  Sätze  des  Evangeliums  wurden  „in  der  Form  übernommen, 
wie  sie  bereits  zu  kirchlichen  Gesängen  verarbeitet  waren",  ein  Stamm- 
baum des  Abhängigkeitsverhältnisses  lasse  sich  für  diese  dramatischen 
Liturgien  nicht  aufstellen.  So  zweifellos  Creizenach  mit  dieser  Dar- 
stellung der  Anfange  Recht  hat  und  so  wenig  Jakob  Grimms  Vor- 
stellungen von  dem  Einflufs  älterer  heidnischer  Spiele  auf  die  christ- 
lichen sich  aufrecht  halten  liefsen,  auf  die  dramatischen  Ansätze,  wie 
sie  in  den  Streitgedichten  von  Sommer  und  Winter  und  ähnlichem 
vorkommen,  hätte  Creizenach  immerhin  wenigstens  bei  Besprechung 
der  „Ansätze  zu  einem  ernsten  weltlichen  Drama"  (5.  Buch)  oder  in 
der  Einleitung  zum  komischen  Drama  des  Mittelalters  (6.  Buch)  ein- 
mal verweisen  können.  Er  hat  diese  Streitgedichte  erst  im  7.  Buche 
„die  Moralitäten"  behandelt. 

88* 


490  Besprechung^en. 


Die  Frage  nach  ursprünglichen  dramatischen  Ansätzen  in  der  ger- 
manischen Poesie  ist  ja  neuerdings  von  anderer  Seite  wieder  ange- 
regt worden.  Carus  Sterne  hat  das  Osterspiel,  als  ^germanisches  Ur- 
sprungsspiel betrachtet"  und  Rudolf  Kögel*)  spricht  geradezu  von 
dramatischen  Spielen,  zu  denen  man  schon  in  der  Urzeit  von  der 
hymnischen  Behandlung  eines  Mythus  durch  Darstellung  mit  verteilten 
Rollen  fortgeschritten  sei  (S.  ii).  Ich  kann  für  diese  weitgehende 
Behauptung  in  den  Streitgesprächen  zwischen  Sommer  und  Winter 
doch  keinen  genügenden  Beweis  erblicken.  In  den  dialogisierten 
Liedern  der  Edda  wären  dramatische  Elemente  vorhanden,  aber  für 
die  Annahme  einer  Teilung  zwischen  zwei  Vortragenden  fehlt  gerade 
bei  ihnen  jede  Andeutung.  In  dem  angeblich  gotischen  Weihnachts- 
spiel, das  durch  den  byzantinischen  Kaiser  Konstantin  VII.  in  seiner 
Schrift  über  das  Ceremonienwesen  überliefert  ist,  glaubt  Kögel  aus 
der  lateinischen  Fassung  sogar  den  altdeutschen  Versbau  herauszu- 
finden (S.  39).  Ich  habe  von  dieser  byzantinischen  Hofbelustig^ung 
einen  ganz  anderen  Eindruck  gewonnen  und  glaube,  dafs  sie  so  wenig 
von  Theoderich  und  den  Goten  stammt,  wie  etwa  Ben  Jonsons  Irish 
Masque  aus  Irland.  Ich  wähle  absichtlich  dies  Gleichnis,  weil  mich 
diese  byzantische  HofFestlichkeit  an  die  Masken  des  Elisabetanischen 
und  Stuarthofes  erinnert.  Wenn  gotisches  Kostüm  und  einzelne 
gotische  Worte  bei  dieser  höfischen  Unterhaltung  zur  Anwendung 
kommen  und  die  Masque  darnach  genannt  wiu'de,  so  ist  dies  bei  der 
Stellung  der  Goten  zu  Byzanz  ganz  natürlich.  Einen  gotischen  Ur- 
sprung der  Sache  selbst  braucht  man  daraus  noch  keineswegs  zu 
folgern.  Krumbacher  hat  das  Stück  denn  auch  mit  den  ^  öffentlichen  Ver- 
spottungen" zusammen  genannt  (Gesch.  d.  byzantinischen  Litt.  S.  299)**). 

Für  die  Überführung  des  geistlichen  Dramas  auf  weltliches  Gebiet 
waren  die  fi-anzösischen  Marienmirakel  von  besonderer  Wichtigkeit. 
Die  Marienerscheinung  ist  nach  Creizenach  (S.  147)  nur  in  weltliche 
Stoffe  eingefügt  worden,  um  die  Aufführung  des  weltlich  roman- 
tischen Dramas  im  Puy  zu  rechtfertigen.  In  Deutschland  haben 
wir  an  ähnlichen  Spielen  nur  den  Theophilus  und  die  Päpstin 
Jutta.  Die  alte  klassische  Bezeichnung  für  das  Drama  taucht  zum 
erstenmale  1467  in  Frankfurt  auf:  tragoedia  passionis.  Die  beiden 
umfangreichen  Frankfurter  Spiele  selbst  sind  erst  1893  im  14.  Bande 
von  Kürschners  Nationallitteratur  durch  R.  Froning  vollständig  ver- 
öffentlicht worden.  Neben  den  grofsen  Aufführungen  dauerten  in  den 
Kirchen  auch  die  Auffühnmgen  der  früheren  einfacheren  Art  noch 
fort  (S.  169).  Eigentümliche  Entwicklung  zeigten  die  Fronleichnams- 
spiele,   unter    denen    das  Künzelssauer   wieder  besondere  Beachtung 


*)  Geschichte  der  deutschen  Litteratur  bis  zum  Ausgange  des  Mittelalters.     I.   Bd. 
Stralsburg,  Verlag  von  K.  J.  Trübner  1894. 

**)  Diese  Zeilen  waren  bereits  vor  dem  Erscheinen  der  gründlich  vorsichtigen  Arbeit 
von  Karl  Kraus  im  XX.  Bde.  von  Paul  und  Braunes  Beiträgen  geschrieben.  Um  so 
mehr  freue  ich  mich  der  Obereinstimmung,  die  in  der  Hauptsache  zwischen  Kraus  um- 
fassender Untersuchung  und  meiner  kurzen  Bemerkung  herrscht. 


Besprechungen.  491 


verdient.  Für  die  Weihnachtsspiele  hat  ungefähr  gleichzeitig  mit 
Creizenachs  allumfassender  Darstellung  Wilhelm  Koppen  Beiträge 
für  ihre  Geschichte  in  Deutschland  geliefert*).  Für  das  Verhältnis 
des  Sterzinger  Spiels  zum  hessischen  und  die  Grundlagen  der  Erlauer 
und  des  Sankt  Gallner  Spiels  hat  Koppen  wirklich  förderndes  beige- 
bracht. Die  Versuche,  den  Einfiufs  eines  verlornen  Erlösungsspiels 
auf  die  mittelalterlichen  Weihnachtsspiele  nachzuweisen,  sollen  mehr 
philologischen  Spürsinn  bekunden  als  Ergebnisse  liefern.  Die  Vorsicht 
und  Sdbstbescheidung  in  Feststellung  von  chronologischen  und  Ab- 
hängigkeitsfragen, wie  Creizenach  sie  eben  bei  der  gründlichsten  Durch- 
arbeitung der  ganzen  Stoffmasse  gewonnen  hat,  zeigt  sich  Köppens 
kritischen  Entschiedenheit  gegenüber  als  die  weit  überlegene  Forscher- 
tätigkeit. Die  Geschichte  der  lateinischen  Weihnachtsspiele  hat 
Creizenach  im  Rahmen  des  ganzen  viel  ergebnisreicher  behandelt  als 
Koppen  in  seiner  Einzeluntersuchung.  Fast  die  Hälfte  von  Köppens 
Buch  ist  der  Untersuchung  des  Verhältnisses  von  Hans  Sachsens 
Christi  Geburtspiel  zum  volkstümlichen  Weihnachtsspiel  gewidmet. 
Das  Material  für  die  deutschen  Weihnachtsspiele  ist  wohl  genügend 
ausgenutzt,  aber  Creizenachs  Bedenken  gegen  die  Aufstellung  von 
Stammbäumen  ist  bei  mir  wenigstens  durch  Köppens  Untersuchung 
nicht  widerlegt  worden. 

Creizenach  ist  im  ersten  Bande  noch  nicht  bis  zu  Hans  Sachs 
gelangt.  Seine  drei  letzten  Bücher  behandeln  das  komische  Drama 
des  Mittelalters,  die  Moralitäten  und  die  ersten  Versuche  der  Humanisten. 
Die  deutschen  Fastnachtsspiele  zerMlen  in  die  zwei  grofsen  Gruppen 
der  Nürnberger  und  solcher  aufserhalb  Nürnbergs,  unter  denen  wieder 
die  Lübecker  besonders  wichtig  sind.  Zwei  interessante  „Regensburger 
Fastnachtspiele"  von  1618,  ein  Schreinerspill  und  ein  kurtzweiliges 
Fafsnachtspill  von  dem  kriegslustigen  Knecht  Hänsl  Frischen,  hat  Aug. 
Hartmann  zum  erstenmale  herausgegeben**).  Das  personenreiche 
Handwerkerspiel  in  neun  Akten  zeigt,  wie  die  sozialen  Gegensätze 
von  Arbeitgebern  und  Arbeitsuchenden  jeder  Zeit  sich  geltend  machten. 
Klagen  zwischen  Meistern  und  Gesellen,  der  Streit  um  die  Länge  des 
Arbeitstages  sind  mit  dem  alten  Frühjahrs-Brauche  des  Ertränkens  des 
Lichts,  das  so  lange  zur  Arbeit  geleuchtet  hat,  verbunden.  Halten 
wir  die  Depositionsspiele,  wie  N.  F.  I,  280  mehrere  norddeutsche  er- 
wähnt sind,  mit  diesem  süddeutschen  Handwerkerspiele  zusammen, 
so  sehen  wir,  dafs  reiche  Ansätze  zu  einem  Drama,  Lust  und  Liebe 
zum  dramatischen  Spiele  auch  noch  im  17.  Jahrhundert  in  unsern 
Handwerkerkreisen  vorhanden  waren.  Zu  den  reichen  Zeugnissen 
für  das  stille  Fortleben  einer  anspruchslosen  dramatischen  Kunst  bei 
der  süddeutschen  Landbevölkerung,  die  Hartmann  gesammelt  hat, 
lieferte  Oskar  Brenner  einen  besonders  sprachlich  interessanten  Bei- 


*)  Paderborn,  Verlag  von  Ferd.  Schöning  1893.     ^3^  S.  8®. 
**)  Sonderabdruck    aus    Band    II    der    Zeitschrift:    Bayerns  Mundarten.     München, 
Verlag  von  Christian  Kaiser.     1893.     68  S.  gr.  8*. 


498  Besprechui^en. 


trag  durch  die  Ausgabe  der  ^altbairischen  Possenspiele***).  Es  sind 
die  komischen  Zwischenspiele  im  oberbayrischen  E^alekt,  welche  bei 
den  AuflFührungen  der  vom  Schulmeister  Franz  Kiennast  (gest.  1783) 
geleiteten  Liebhaberbühne  zu  Dachau  ernsten  Stücken  eingefügt  wurden. 
Zu  dem  Dachauer  Spielplane  gehörten  unter  andern  eine  Maria  Stuarda 
und  Joanna  von  Are.  Aus  der  letzteren,  aus  der  „von  Neydt  und 
Eifersucht  verfolgten  Unschuldt,  das  ist  Hyrlanda  Herzogin  aufs  Bur- 
gundt"  und  aus  der  „heiligen  Itta"  hat  Brenner  die  lustigen  Zwischen- 
scenen  mit  Hansdampf  und  Kasperle  mitgeteilt. 

Wenn  bei  den  übrigen  von  Schiller  behandelten  Stoffen  auch 
nicht  ein  Zusammenhang  zwischen  seiner  Dichtung  und  älteren  Drama- 
tisierungen stattgefunden  hat,  wie  ihn  Gustav  Roethe  für  den  Teil 
nachzuweisen  bestrebt  ist**),  so  bietet  eine  Obersicht  der  vorangehen- 
den Bearbeitungen  seiner  DramenstofFe  doch  immer  ein  besonderes 
Interesse.  Es  wird  noch  erhöht,  wenn  sich  damit  die  Frage  nach  der 
Beurteilung  geschichtlicher  Vorgänge  durch  die  Zeitgenossen  verbindet, 
wie  dies  der  Fall  ist  bei  Theodor  Vetters  Buch  „Wallenstein  in  der 
dramatischen  Dichtung  des  Jahrzehnts  seines  Todes"***).  Ohne  die 
von  Vetter  beobachtete  zeitliche  Einschränkung  ist  über  „die  dramatische 
Behandlung  des  WallensteinstoflFes  vor  Schiller"  schon  einmal  von 
Gg.  Irmer  eine  Zusammenstellung  gegeben  worden,  aber  eben  Vetters 
Arbeit  zeigt,  wie  völlig  ungenügend  Irmer  zu  Werk  gegangen  ist. 
Johann  Rists  „Wallenstein",  der  vor  1638  vollendet  ward,  ist  bis  jetzt 
noch  nicht  wieder  aufgefunden  worden.  Wir  haben  von  dem  firucht- 
baren  Gründer  des  Elbschwanordres  jetzt  nur  das  lebende  Bild  von 
Wallensteins  Ermordung,  das  er  im  dritten  Aufzug  des  Zwischenspiels 
vom  „friedewünschenden  Teutschland^^  auftauchen  lafst,  und  sein  1638 
gedrucktes  Gedicht  „Als  der  Herzog  von  Friedland  zu  Eger  war  er- 
mordet worden",  beide  von  Vetter  nicht  erwähnt.  Dafür  schildert  er 
mit  Wiedergabe  der  Titelblätter  zwei  lateinische  und  ein  deutsches 
Drama  (Pomeris,  tragico-comoedia  nova;  Parthenia,  ein  new  Comoedien 
Spiel;  Agathander  pro  Sebasta  vincens),  in  denen  der  Stettiner  Schul- 
rektor Micrälius  (Johann  Lütkesch wager)  1631,  32  und  33  in  leicht 
erkennbaren  Allegorien  die  politischen  Vorgänge  darstellte.  EHe  Be- 
drückung Pommerns  und  Mecklenburgs  durch  Lastlewen  (Wallenstein) 
und  ihre  Befreiung  durch  Agathander  (Gustav  Adolf)  bilden  den  Inhalt 
des  ersten  Stückes,  die  blutige  Hochzeit  Parthenias  (Magdeburgs)  mit 
ihrem  ungütigen  Bräutigam  Contilli  (Graf  Tilly)  den  Inhalt  der  Con- 
tinuatio,  der  dann  im  „neuen  poetischen  Spiel"  Agathanders  Sieg  wider 
die  beyden  Wüteriche  Contill  und  Lasdew  folg^.  In  jeder  Hinsicht 
bedeutender  ist  die  Tragödie  „Fritlandus"  des  Löwener  Gelehrten  Niko- 
laus von  Vernulz  (Vernuläus).    Historische  Arbeiten  von  Vemuläus  hat 


*)  Fflr  die  Dachauer  Bühne  bearbeitet  von  Franz  von  Paula  Kiennast;  zum  ersten 

Male  herausgegeben  und  erklärt.    München,  Verlag  von  Christian  Kaiser  1893.    40  S.  8*. 

*•)  „Die    dramatischen    Quellen    des    Schillerschen    Teil**   in  den  Forschungen  rur 

deutschen  Philologie.     Festgabe  für  Rudolf  Hildebrand.     Leipzig,    Verlag  von    Veit  und 

Comp.   1894. 

***)  Frauenfeld,  Verlag  von  J.  Huber  1894.     42  S.  8«, 


Besprechungen.  493 


Schiller  für  die  Geschichte  des  dreifsigjährigen  Krieges  benutzt.     Die 
Möglichkeit,    dafs    er  auch  seine  Tragödie  kannte,  liegt  vor.     Vetter 
betont  die  Übereinstimmung  einzelner  Charaktere  und  Situationen  ohne 
jedoch  mehr  als  ein  durch  den  Stoff  gegebenes  Zusammentreffen  be- 
haupten zu  wollen.     Unter  den  14  lateinischen  Tragödien  des  Vernuläus 
ist    auch    eine    „Joanna    Darcia    vulgo    Puella  Aurelianensis"  und  ein 
„Ottocarus  Bohemiae  Rex".    Für  Wallenstein  Partei  nahm  der  modene- 
sische  Dichter  Fulvio  Testi,  der  1632  den  Herzog  kennen  gelernt  hatte, 
in    einem    gleich    nach  der  Tat  geschriebenen  Monologe  Wallensteins 
an    seine    Mörder.     In  Madrid  wurde  eben  eine  Wallenstein  verherr- 
lichende Komödie  gespielt,   als  die  Nachricht  von  seinem  Verrat  und 
Untergang  eintraf,  worauf  das  (noch  nicht  wieder  aufgefundene)  Stück 
natürlich  nicht  mehr  gegeben  werden  durfte.    Da  die  englischen  Drama- 
tiker seit  langem  gerne  zeitgenössische  Vorgänge  auf  die  Bühne  brachten 
und    das    Interesse    an    dem  Kriege,  in  dem  eine  englische  Prinzessin 
ein  Kurfürstentum  und  eine  Königskrone  eingebüfst  hatte,  im  Publikum 
besonders  lebhaft  war,  wurde  die  „tragedy  of  Albertus  Wallenstein*' 
schon  1636  in  London  gespielt.     In  seiner  Ausgabe  der  „Schauspiele 
der  englischen  Komödianten"  behauptet  Creizenach,  dafs  dieses  Stück 
von  Henry  Glapthome  allen  Wallenstein-Aufführungen  der  deutschen 
Wandertruppen  zur  Grundlage  gedient  habe.     Für  die  1690  in  Berlin 
gespielte  ,, weltbekannte  Historie  von  dem  tyrannischen  General  Wallen- 
stein" giebt  auch  Vetter  dies  zu.     Bei  einer  vorangehenden  Wallenstein- 
aufführung    in    Bremen    nimmt    er,    wohl    mit  Unrecht,   ein  deutsches 
Original  an. 

Creizenachs  treffliche  Geschichte  der  englischen  Komödianten  in 
Deutschland  (vgl.  III,  147)  hat  nach  einer  Seite  eine  wichtige  und 
ivesentliche  Ergänzung  erfahren,  indem  Johannes  Bolte  mit  dem 
ihm  eigenen  Finderglück  und  Eifer  „die  Singspiele  der  englischen 
Komödianten  und  ihrer  Nachfolger  in  Deutsahland,  Holland  und 
Skandinavien***)  zum  Gegenstand  einer  eigenen  Untersuchung  machte. 
Bolte  vermochte  ein  Verzeichnis  von  32  Singspielen  aus  den  Jahren 
1596  bis  1743  aufzustellen,  denen  er  dreizehn  Texte  und  Melodien 
beigesellte.  Die  Erfindung  des  Singspiels  schreibt  Bolte  den  routinierten 
englischen  Komödianten  zu,  „die  dem  schaulustigen  Publikum  ein  neues 
Unterhaltungsmittel  bieten  wollten**.  Merkwürdig  ist,  dafs  wie  die 
Anfange  im  16.  so  auch  das  Wiederaufleben  des  Singspiels  im  18.  Jahr- 
hundert (Weisses  „Der  Teufel  ist  los")  durch  englische  Vorbilder  er- 
folgt. Für  die  Geschichte  mancher  Schwankstoffe,  unter  ihnen  auch 
des  für  Goethe  vorbildlichen  von  Harlekins  Hochzeit,  sind  Boltes 
Aufstellungen  sehr  wichtig.  In  dem  „singenden  Possenspiel  die  selt- 
zame  Metamorphis  der  Sutorischen  in  eine  Magistrale  Person"  spricht 
Hans  Sachsens  Geist  den  Prolog.  Über  das  nach  dem  Aufhören  der 
englischen  Wanderzüge  erfolgende  Auftreten  holländischer  Komödianten 
in  Deutschland,    fiir  das  HeitmüUer  im   achten  Bande    der  „theaterge- 


*)  Theatergeschichtliche    Forschungen    Bd.  VII.     Hamburg    und    Leipzig,    Verlag 
von  Leopold  Vofs.    1893.    VII,  194  S.  8'. 


494  Besprechung^. 


schichtlichen  Forschungen  urkundliche  Nachweise  lieferte,  hat  A.  Leitz- 
mann  bereits  im  vorangehenden  Hefte  (S.  436/7)  berichtet.  Für  die  Thea- 
tergeschichte des  18.  Jahrhunderts  bringen  die  drei  folgenden  Bände  der 
„theatergeschichtlichen  Forschungen"  wichtiges  Material.  Das  Ver- 
dienst, das  B.  Litzmann  sich  durch  Begründung  dieser  Sammlung  um 
die  deutsche  Kultur-  und  Litteraturgeschichte  erworben  hat,  tritt  erst 
jetzt  recht  hervor.  Seiner  musterhaften  Biographie  Schröders,  die 
zugleich  die  Geschichte  der  Ackermannschen  Truppe  und  wichtigster 
Abschnitte  der  Hamburger  Bühne  enthält*),  gliedern  sich  nun  die 
Untersuchungen  über  die  Schönemannsche  Truppe  an**),  deren  her- 
vorragendstes Mitglied  Eckhof  dann  die  Leitung  des  Hoftheaters  zu 
Gotha  übernahm,  wo  Gotter  als  Theaterdichter  wirkte***).  Für  die 
Wiener  Theaterausstellung  hat  Karl  Heine  einen  „Stammbaum  der 
bedeutendsten  deutschen  Wandertruppen"  aufgestellt.  Wie  Heine  selbst 
bei  Veiten  (vgl.  III,  149  und  VI,  i;  150)  dem  überlieferten  Namen 
ein  historisch  beglaubigtes  Bild  der  Persönlichkeit  und  Wirksamkeit 
neu  hinzufügte,  so  wird  der  vielversprechende  Fortgang  von  Litzmaons 
Sammlung  allmählich  auch  die  übrigen  Namen  des  Stammbaums  zu 
festumrissenen  Erscheinungen  ausgestalten. 

Mit  der  Forschung  über  Schönemanns  Wandertruppe  hat  Hans 
Devrient  eine  mehr  schwierige  als  dankbare  Aufgabe  übernommen. 
Um  so  freudigere  Begrüfsung  gebührt  dem  jungen  Forscher,  der, 
Träger  eines  in  der  Bühnengeschichte  berühmten  und  um  sie  ver- 
dienten Namens  hier  strenge  historische  Schulung  bewährt  hat  und  so 
die  HoflFnung  weckt,  dafs  wir  von  ihm  die  lang  versprochene  not- 
wendige Neubearbeitung  von  Eduard  Devrients  Geschidbte  der  deut- 
schen Schauspielkunst  erwarten  dürfen.  Zu  zusammen^sender  Dar- 
stellung und  künstlerischer  Abrundung  der  gewonnenen  Forschungs- 
ergebnisse bot  die  Arbeit  über  Schönemann  wenig  Gelegenheit. 
Immerhin  hätte  Devrient  hier  dem  in  Litzmanns  „Schröder"  gegebenen 
Beispiele  von  Vereinigung  der  Forschung  und  Darstellung  mehr  Folge 
leisten  können.  Trotz  des  umfangreichen  Anhanges  von  40  Nummern 
ist  auch  der  Text  selbst  mehr  Materialsammlung  als  Darstellung  ge- 
worden. Devrient  hat  eben  das  Hauptgewicht  auf  die  vielen  Berich- 
tigungen anfechtbarer  Überlieferung  und  Ausfüllung  ihrer  Lücken  ge- 
legt und  darin  dankenswerte  mühevolle  Arbeit  geleistet.  Er  selbst 
mufs,  trotz  alles  liebenswürdigen  Bestrebens  seinem  Helden  die 
günstigste  Seite  abzugewinnen,    doch  zugestehen,  dafs  die  Geschichte 


*)  Friedrich  Ludwig  Schröder.  Ein  Beitrag  zur  deutschen  Litteratur-  und  Theater- 
geschichte. Erster  und  zweiter  Teil.  Hamburg  und  Leipzig,  Verlag  von  Leopold  Vofs 
1890  und  1894.     XV,  350  und  XU,  315  S.  8». 

**)  Hans  Devrient,  Johann  Friedrich  Schönemann  und  seine  Schauspielergesell- 
schaft. Ein  Beitrag  zur  Theatergeschichte  des  18.  Jahrhunderts.  Hamburg  und  Leipzig, 
Verlag  von  L.  Vois  1895  (Theatergeschichtl.  Forschungen  Bd.  XL).     398  S.  8®. 

•**)  Richard  Hodermann,  Geschichte  des  Gothaischen  Hoftheaters  1775 — 1779. 
Nach  den  Quellen  183  S.  8»  —  Rudolf  Schlösser,  Friedrich  Wilhelm  Gotter,  sein 
Leben  und  seine  Werke.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Bühne  und  Bühnendichtung  im 
18.  Jahrhundert.  XI,  308  S.  80.  Hamburg  und  Leipzig,  Verlag  von  L.  Vois,  1894 
(Theatergeschichtliche  Forschungen  Bd.  IX  und  X). 


Besprechungen.  495 


der  Schönemannschen  Truppe,  als  Ganzes  genommen,  unbefriedigend 
sei  (S.  286).  „Sie  war  eben  kein  Ganzes.  3ie  war  nur  Teil,  nur 
Mittel,  nur  Hülfslinie.  Sie  zog  die  Folgerungen  aus  dem  Wirken  der 
Neuber,  sie  war  die  Vorschule,  der  Keim  für  kommende  Geschlechter". 
1730  trat  der  am  21.  Oktober  1704  zu  Crossen  a.  d.  Oder  geborene 
Joh.  Fr.  Schönemann  von  der  Försterschen  Truppe  zu  der  Neuberschen 
über.  V.  Reden-Esbecks  Verzeichnis  der  Wanderfahrten  der  Neuberschen 
Truppe  hat  Devrient  (S.  303)  berichtigt  und  ergänzt.  Als  Prinzipal 
begann  Schönemann  am  15.  Januar  1740  zu  Lüneburg  mit  der  Auf- 
fuhrung von  Racines  „Mithridates"  und  beendete  seine  Tätigkeit  mit 
der  von  Schlegels  „Hermann**  am  2.  Dezember  1757  zu  Hamburg. 
Vom  Spielplan  der  Schönemannschen  Truppe  werden  im  Anhang  die 
Verzeichnisse  in  zeitlicher,  alphabetischer  Ordnung  und  nach  den  Ver- 
fassern g^ppiert  gegeben,  daneben  eine  eigene  Zusammenstellung 
der  in  Hamburg  und  Schwerin  öfters  gespielten  Stücke.  In  Leipzig 
und  Hamburg  suchte  Schönemann  zuerst  festen  Fufs  zu  fassen.  Da 
Gottscheds  Zerwürfnis  mit  der  Neuberin  mit  Schönemanns  erstem  Auf- 
treten zeitlich  zusammenfallt^  gelang  es  ihm  als  Vertreter  des  regel- 
mäfsigen  Schauspiels  sich  Gottscheds  Gunst  zu  erringen.  Aber  dieser 
Vorkämpfer  des  regelmäfsigen  Schauspiels  hat  noch  in  seiner  letzten 
Hamburger  Spielzeit  es  wieder  mit  der  ex  tempore  Komödie  versucht, 
wie  er  1741  noch  die  Haupt-  und  Staatsaktion  von  Karl  XII.  (vgl. 
in,  151)  neben  Gottscheds  sterbendem  Cato  spielte.  Hat  Schönemann 
Molieres  Don  Juan  wirklich  als  Schauspiel  des  Herrn  von  Voltäre  an- 
gezeigt (S.  33)  oder  ist  dies  nur  ein  Druckfehler,  da  Devrient  diesen 
Irrtum  Schönemanns  (?)  unbeachtet  läfst?  Für  Schönemanns  litterarische 
Bildung  zeugen  vor  allem  die  Vorreden  zur  „Schönemannschen  Schau- 
bühne" (begonnen  1 748).  Er  ist  der  erste,  welcher  die  Zahl  der  Hand- 
lungen (Akte)  auf  dem  Theaterzettel  angab;  diese  Neuerung  begann 
1 747.  Bei  der  ersten  Aufführung  von  Lillos  „Kaufmann  von  London" 
durch  seine  Truppe  (Hamburg,  25.  Oktober  1754)  vermerkte  der  Zettel: 
„Dieses  Stück  ist  der  erste  Versuch  auf  unserm  Theater  von  dem 
heutigen  Geschmack  der  Engelländer  in  Trauerspielen* ^  Friedrich  II. 
hatte  sich  Schönemann  1742  durch  die  Versicherung  empfohlen,  dafs 
er  seit  einigen  Jahren  die  eifrigste  Mühe  anwende,  „eine  deutsche 
Schaubühne  zu  Stande  zu  bringen,  welche  der  französischen  in  allen 
Stücken  ähnlich  w  Ire".  Die  Aussichten  in  Berlin  eine  ständige  Bühne 
zu  errichten,  erfil.hen  sich  trotzdem  nicht,  und  aus  Breslau,  das 
Devrient  übrigens  für  1749  mit  Unrecht  zu  den  Universitätsstädten 
rechnet  (S.  158),  hören  wir  mehr  von  Geldstreitigkeiten  mit  seinem 
Rivalen  Schuch  und  den  Behörden  als  von  künstlerischem  Wirken. 
Eine  feste  Stellung  gewann  die  Schönemannsche  Stellung  in  Schwerin, 
als  Herzog  Christian  Ludwig  sie  1751  mit  festem  Gehalte  zu  seinen 
Hofkomödianten  ernannte.  In  diese  Glanzzeit  der  Truppe  fallt  dann 
auch  Eckhofs  kurzlebige  Gründung  der  „Schauspielerakademie  der 
Schönemannschen  Gesellschaft* S  die  in  Hamburg  und  Mannheim  teil- 
weise Nachahmung  fand,  deren  litterarische  Wiederspiegelung  wir  in 
„Wilhelm  Meisters  Lehrjahren"  gewahren.    Neben  den  bereits  bekann- 


496  Besprechungen. 


ten  Satzungen  konnte  Devrient  auch  bisher  ungedruckte  Reden  ihres 
Gründers  und  Leiters  Eckhof  abdrucken. 

Wenn  Eckhof  schon  in  den  letzten  Jahren  des  Bestehens  der 
Schönemannschen  Truppe  auf  Gestaltung  des  Spielplans  und  Bildung  der 
Schauspieler  den  Haupteinflufs  übte,  so  stand  er  dem  am  2.  Oktober 
1775  eröffneten  Gothaischen  Hoftheater  in  Tat  und  Namen  in  Gemeinschaft 
mit  Reichard  als  Direktor  vor.  Durch  Friedrich  Wilhelm  Gotter,  der 
bereits  in  Wetzlar  und  Göttingen  sich  als  Veranstalter  von  Liebhaber- 
auffuhrungen  hervorgetan  hatte,  war  in  Gotha  dem  französischen 
Liebhabertheater  ein  deutsches  zur  Seite  gestellt  worden.  Die  so 
erweckte  Theaterlust  fand  dann  reiche  Nahrung  als  im  Juni  1774 
Abel  Seyler  durch  den  Weimarer  Schlofsbrand  veranlafst  ward,  mit 
seiner  Truppe  nach  Gotha  überzusiedeln.  Als  Seyler  seinem  Wander- 
triebe folgte,  wurde  das  Gothaer  Hoftheater  gegründet,  dessen  Spiel- 
plan und  Schicksale  durch  die  vier  Jahre  seines  Bestehens  Hoder- 
mann  aus  den  Akten  und  mit  Benützung  von  Eckhofs  Tagebuch  dar- 
stellt. Für  die  allgemeine  Theatergeschichte  ist  besonders  der  in 
Gotha  unternommene  Versuch  einer  Pensionskasse,  die  Eckhof  (gest. 
16.  Juni  1778)  gerne  auf  alle  deutschen  Schauspieler  ausgedehnt  ge- 
sehen hätte,  bemerkenswert.  Für  die  wenig  glückliche  Gestaltung 
des  Spielplans,  die  zum  Mifslingen  des  Hoftheaters  beitrug,  fallt  ein 
Teil  der  Schuld  auf  Eckhof,  der  bereits  kränklich  und  allem  neuen 
gegenüber  ängstlich  sich  zeigte.  Wäre  statt  Reichards  jedoch  Gotter 
erster  Direktor  gewesen,  so  würde  sich  die  Sache  wohl  besser  ge- 
staltet haben.  Gotter  war  freilich  nicht  der  Mann,  neue  Bahnen  zu 
betreten;  aber  ^gegebenen  Stoffen  und  Werken  durch  sorgfaltige 
Behandlung  und  geschmackvolle  Umgestaltung  neuen  und  erhöhten 
Reiz  zu  geben,  war  sein  Talent  und  seine  Lust"  (Schlösser  S.  278). 
Wie  er  selbst  aufsergewöhnliche  schauspielerische  Begabung  besafs 
und,  freilich  in  engeren  Grenzen  als  später  Tieck,  ein  berühmter 
Vorleser  war,  so  lebte  und  webte  er  in  Theaterinteressen.  Schröder 
gab  sich  alle  Mühe  ihn  als  Dramaturgen  und  Theaterdichter  für  Ham- 
burg zu  gewinnen  (vgl.  Litzmann,  Schröder  und  Gotter.  Hamburg 
1887),  Dalberg  holte  seinen  Rat  für  Mannheim  ein,  IfQand  pries  noch 
nach  Gotters  Tode  ihn  dankbar  als  seinen  Lehrer  und  Führer.  Seine 
Singspiele  und  Lustspiele  wurden,  wie  Schlössers  jedem  einzelnen 
Stücke  beigefügte  Statistik  zeigt,  im  ganzen  Bereich  der  deutschen 
Bühnen  aufgeführt,  mit  den  hervorragendsten  Schauspielern  und 
Schauspielerinnen  war  er  befreundet.  Als  der  Gothaer  Hof  1 780  von 
neuem  ein  Liebhabertheater  haben  wollte,  mufste  abermals  Gotter  es 
schaffen  Den  begabten  und  tüchtigen  Helfer  und  Freund  der  Bühne 
(S.  145)  wieder  in  die  ihm  gebührende  litterargeschichtliche  Stellung 
einzusetzen,  ist  die  Aufgabe,  die  Schlösser  sich  in  seiner  Monographie 
gestellt  und  sowohl  in  gründlicher  Forschung  wie  abgerundeter  an- 
ziehender Darstellung  recht  gut  gelöst  hat. 

Schlösser  hat  seiner  zusammenfassenden  Arbeit  über  Gotter  eine 
Reihe  von  Einzeluntersuchungen  (vgl.  VI,  421),  für  die  ihm  der  hand- 
schriftliche Nachlafs  (vgl.  VII,  291;  VIII,  417)   zur  Verfügung   stand, 


Besprechung^.  497 


vorangeschickt  und  auch  für  die  Biographie  neues  Material,  vor  allem 
Gotters  Briefwechsel  mit  Lenz  benutzen  können.  Von  den  beiden 
ungefähr  gleichstarken  Hälften  seines  Buches  ist  die  erste  der  Dar- 
stellung von  Gotters  Leben  (Göttingen,  Wetzlar,  Lyon,  Gotha)  und 
persönlichen  Beziehungen  (Kästner,  Goethe,  Iffland,  Schröder,  Karo- 
Üne  Schlegel)  gewidmet,  die  zweite  der  Besprechung  von  Gotters 
Balladen  und  Liedern,  Trauerspielen  (7),  Lustspielen  (28),  Sing- 
spielen (8).  Gotter  hat  nicht  so  grofse  Bühnenerfolge  gehabt  wie 
Chr.  Felix  Weifse,  dem  ja  auch  sein  Einflufs  als  Leiter  der  „Bibliothek 
der  schönen  Wissenschaften"  in  Leipzig  zu  gute  kam.  Allein  ge- 
rade Schlössers  Monographie  zeigt,  wie  verwandt  beider  litterarische 
Stellung  tatsächlich  gewesen  ist.  So  einseitig  und  eigensinnig  wie 
man  aus  den  Vorreden  zu  seinen  Gedichtsammlungen  (1787/88)  ge- 
folgert hat,  stand  Gotter  doch  nicht  auf  dem  Standpunkte  der  fran- 
zösischen Litteratur.  Allerdings  gehen  sämtliche  Trauerspiele  und 
mit  ganz  wenigen  Ausnahmen  alle  seine  dramatischen  Arbeiten  auf 
französische  Vorlagen  zurück,  aber  als  höchste  Muster  galten  ihm  doch 
Lessings  Minna  und  Emilia.  Als  er  in  Göttingen  gemeinsam  mit  seinem 
Freund  Boie  den  ersten  deutschen  Musenalmanach  gründete,  handelte 
es  sich  um  eine  Nachbildung  des  „Almanach  des  Muses",  aber  in  Wetzlar 
übersetzte  er  im  Wetteifer  mit  Goethe  aus  Goldsmith,  zeigte  Verständnis 
far  den  Götz  von  Berlichingen  und  Werther,  so  dafs  Bodmer  ihn  der 
neuerungslustigen  Jugend  zuwies.  Wenn  er  neben  dem  Alexandriner 
sich  auch  der  Prosa  und  des  neuen  Blankverses  bediente,  so  handelte 
er  auch  hier  wie  Weifse,  hinter  dem  er  freilich  noch  immer  an  Selb- 
ständigkeit zurücksteht.  Für  Gotters  Beurteilung  ist  es  ein  Glück, 
dafs  nun  auch  das  einzige  Lustspiel,  für  dessen  Inhalt  man  ihn  allein 
verantwortlich  machte,  die  in  Mannheim  auf  Schiller  bezogene  Posse 
„Der  schwarze  Mann",  von  Schlösser  als  Bearbeitung  einer  franzö- 
sischen Vorlage  nachgewiesen  wurde.  Bei  der  einzigen  Bühnendichtung 
Gotters,  die  heute  noch  auf  den  Brettern  erscheint,  dem  Monodram 
„Medea"  ist  Rousseaus  Pygmalion  das  Vorbild  gewesen.  Das  fran- 
zösische Theater  lernte  er  während  seines  Aufenthalts  in  Lyon  kennen. 
Bestimmender  jedoch  als  dieser  Eindruck  war  für  ihn  nach  seinem 
eigenen  Zeugnisse  „das  Spiel  Eckhofs  und  seiner  Schule".  Von  Eck- 
hof erbte  er  die  Vorliebe  für  die  Franzosen  und  das  Mifstrauen  gegen 
Shakspere  als  eine  Lebensbedingung  der  deutschen  Schauspielkunst. 
Den  Nutzen  der  französischen  Tragedie  für  die  deutschen  Schauspieler 
haben  ja  dann  auch  Goethe  und  SchiUer  (Prolog  zu  Goethes  Mahomet- 
übersetzung)  anerkannt.  Gotter  aber  ist  wie  Weifse  und  AyrenhofF 
niemals  über  die  Anschauungen,  wie  sie  im  Anfang  der  sechziger 
Jahre  herrschten,  hinausgekommen.  Sein  Schauspiel  mit  Gesang 
„Romeo  und  Julie"  (1776)  ist  wichtig,  weil  den  komischen  Singspielen 
hier  zum  erstenmal  eine  ernste  Oper  zur  Seite  tritt,  im  übrigen  wird 
dabei  nur  Weifses  Verballhomung  der  Tragödie  fortgesetzt.  In  der 
Bearbeitung  des  „Tempest"  als  „die  Geisterinsel",  Gotters  letzter 
Arbeit,  ist  das  Streben  nach  einer  Vernüchterung  Shaksperes  noch 
ebenso  mafsgebend  wie  1777  in  der  für  Schröder  ausgeführten 
Bühneneinrichtung    des    „Kaufmanns    von   Venedig",    die    in    Genees 


498  Besprechungen. 


Geschichte  der  Shakspereschen  E)ramen  in  Deutschland  als  Schröders 
alleinig^e  Arbeit  verzeichnet  steht. 

Schröders  Hamburger  Shakspereaufführungen,  die  für  die  Ein- 
bürgerung Shaksperes  auf  der  deutschen  Bühne  entscheidend  waren, 
stehen  im  Mittelpunkte  des  zweiten  Bandes  von  Litzmanns  Monographie. 
Nachdem  Litzmann  im  ersten  Bande  die  Wanderfahrten  der  Ackermann- 
schen  Truppe  und  Schröders  stürmische  Jugendschicksale  bis  zum 
Austritte  aus  der  zum  deutschen  Nationaltheater  in  Hamburg  umge- 
wandelten Gesellschaft  seines  Stiefvaters  behandelt  hatte,  fuhrt  uns 
der  zweite  bis  zum  Antritt  seiner  Wiener  Stellung.  Nicht  ganz  zwei 
Jahre  (1767/8)  dauerte  Schröders  letzte  Teilnahme  an  den  alten  Wander- 
truppen. In  Mainz  und  Frankfurt  lernte  er  bei  der  Truppe  Kurz- 
Bernardon  noch  die  alte  Stegreifkomödie  kennen,  dann  kehrte  er  zu 
dem  bereits  scheiternden  Nationaltheater  in  Hamburg  zurück,  um  bald 
selbst  die  Leitung  der  alten  Ackermannschen  Truppe  zu  übernehmen. 
Von  1771  bis  1780  dauerte  Schröders  erste  Direktion  des  zum  Vorteil 
seiner  Mutter  geführten  und  nun  in  Hamburg  ansässig  gewordenen 
(S.  70)  Theaters.  Ackermanns  letzte  Tätigkeit  und  die  Leistungen 
von  Schröders  Stiefschwestern  Dorothea  (Wilhelm  Meisters  Aurelia) 
und  Charlotte  Ackermann  sind  von  dem  trefflichen  Biographen  (der 
nur  bei  der  Angabe  von  Charlottens  Alter  als  Emilia  S.  96  und  128 
sich  widerspricht)  mit  besonderer  Vorliebe  geschildert.  Für  Susanna 
Mecour,  deren  veredelnder  Einflufs  Schröders  Erziehung  erst  vollendete, 
wird  mit  Glück  eine  Rettung  versucht.  Die  einzelnen  Mitglieder 
(Brockmann,  Reinicke)  werden  charakterisiert,  Bodes  wohltätiger  Ein- 
flufs wird  nachgewiesen  und  die  Geschichte  des  vielberufenen  Freis- 
ausschreibens von  1775  richtig  gestellt.  Nicht  um  eine  Preisbewerbung 
handelte  es  sich  dabei  (S.  140),  sondern  um  den  nach  Wiener  Vor- 
gang unternommenen  Versuch,  den  Dichtern  ein  Einkommen  vom 
Theater  zu  gewährleisten  und  dadurch  sie  zur  Arbeit  für  die  Bühne 
zu  ermuntern.  Wie  der  Augenblick  für  Gründung  des  Nationaltheaters 
1767  durch  die  Produktionsarmut  einer  litterarischen  Übergangszeit 
besonders  unglücklich  war  (S.  21),  so  war  „die  litterarische  Kon- 
stellation einem  Bühnenunternehmen  nie  günstiger,  als  dieser  ersten 
Schröderschen  Direktion"  (S.  54).  Dafs  Schröders  Truppe  aber  mit 
der  neuen  Litteraturbewegung  (Klingers  Zwillinge,  Goethes  Götz, 
Klavigo,  Stella,  Lenz  Hoftneister)  Schritt  halten  und  das  Publikum 
zu  einem  neuen  Geschmacke  erziehen  konnte,  war  durch  die  lange 
Geschichte  der  Ackermannschen  Schule  vorbereitet  (S.  134  und  198). 
Die  Schönemannsche  Truppe,  deren  Darstellung  durch  Devrient  nun 
von  Litzmanns  freilich  ungleich  anschaulicherer  Charakteristik  glücklich 
ergänzt  ist,  war  wie  Eckhof  selbst  bei  der  französisch-  Gottschedischen 
Tragödie  stehen  geblieben;  die  Ackermannsche  Truppe  hatte  zuerst 
Lessings  bürgerliches  Trauerspiel  in  Prosa,  Wielands  Jambentragödie 
gegeben.  Es  war  nur  folgerichtig,  dafs  gerade  diese  Truppe  nun 
die  Eroberung  Shaksperes  wagte  und  mit  Erfolg  wagen  konnte. 
„Die  Anfange  Shakespeares  auf  der  Hamburger  Bühne'*  hat  erst  vor 
kurzem  (Hamburg  1890)  Merschberger  in  dem  Osterprogranmi  des 
Johanneum,  die  erste  Aufnahme  Hamlets  in  Deutschland,   Lönning  in 


Besprechungen.  499 


seinem  tiefgreifenden  Hamletbuche  (Stuttgart  1895)  verdienstlich  ge- 
schildert. Litzmann  hat  neben  der  litterarischen  Aufgabe  noch  die 
besondere  und  schwierigere  zu  erfüllen,  die  Eigentümlichkeit  von 
Schröders  Spielweise  als  Hamlet,  Lear,  FalstafF,  Shylock  anschaulich 
zu  machen.  Was  Litzmann  dabei  geleistet  hat,  verdient  rückhaltlose 
Anerkennung.  Mir  wenigstens  erscheint  sein  Werk  über  Schröder 
als  eine  Musterleistung,  die  nicht  nur  im  Vergleich  zu  Meyers,  seiner 
Zeit  (1823)  verdienstlichem  Beitrage  zur  Kunde  des  Menschen  und 
Künstlers  Schröder,  sondern  auch  mit  den  besten  neueren  Monographien 
zusanunengestellt,  ihrem  Verfasser  zur  Ehre,  unserer  Litteraturgeschichte 
zur  Zierde  gereicht. 

Wer  mit  so  hellem  Auge  wie  Litzmann  die  Theatergeschichte  ver- 
gangener Zeiten  mustert,  mufs  auch  den  dramatischen  Bestrebungen 
der  Gegenwart  seine  Teilnahme  zuwenden.  Liest  es  sich  nicht  wie 
die  Schilderung  eines  freundlich  gesinnten  Beobachters  der  jüngsten 
Litteraturströmungen  aus  unsern  Tagen,  wenn  Litzmann  von  1768 
schreibt:  „das  deutsche  Theater  befand  sich  in  einer  gewaltigen  Krisis. 
Aus  langem  Winterschlafe  erwacht,  drängten  unzählige  triebfahige, 
verheifsungsvolle  Keime  ans  Licht;  der  Saft  trat  in  die  Zweige.  Aber 
überall  auch  erst  Knospen  und  Ansätze.  Es  galt,  abzuwarten;  was 
reifen,  was  Früchte  tragen  werde,  wer  konnte  das  jetzt  schon  ent- 
scheiden, und  vor  allem,  wer  wollte  in  dieser  neue  Hoffnung  er- 
weckenden Frühlingsstimmung  pomphaft  zu  einem  Erntefeste  laden? 
Was  früher  gemundet,  mundete  jetzt  nicht  mehr".  Das  unklare  aber 
ungestüme  Verlangen  nach  etwas  Neuem  und  das  Hervordrängen  zahl- 
loser Versuche  sind  auch  heute  wieder  wahrnehmbar.  „Das  deutsche 
Drama  in  den  litterarischen  Bewegungen  der  Gegenwart"*)  in  einigen 
typischen  Erscheinungen  zu  veranschaulichen,  welche  „die  charakte- 
ristischen Merkmale  bestimmter  Strömungen  in  der  heutigen  Litteratur" 
aufweisen,  ist  eine  für  die  Litteraturgeschichte  wie  für  die  Dichtung 
selbst  fruchtbare  Arbeit.  Mag  man  im  Einzelnen  nun  Litzmann  zu- 
stimmen oder  widersprechen,  das  Verdienst  seines  frischen  Wagnisses 
wird  auch  der  Widersprechende  nicht  verkleinern  wollen.  Eine  arge 
Übertreibung  ist  es  allerdings,  wenn  Litzmann  als  der  erste  und  einzige 
Litterarhistoriker  gefeiert  worden  ist,  der  vor  den  Erscheinungen  der 
Gegenwart  nicht  absichlich  die  Augen  schliefse.  Die  warmherzige 
Begrüfsung,  die  einstens  W.  Scherer  den  neu  erscheinenden  „Ahnen"  und 
George  Eliots  Romanen  gewidmet,  Erich  Schmidts  Essays  über  Storm, 
Heyse,  Rudolf  Lindau,  Schönbachs  Studium  der  neuesten  realistischen 
und  der  amerikanischen  Litteratur,  dies  allein  würde  genügen,  den  Vor- 
wurf in  solcher  Allgemeinheit  als  ungegründet  zurückzuweisen.  Dafs  aber 
Unterlassungssünden  vorliegen,  ist  ebenso  unleugbar.  Das  hartnäckig 
haftende  Vorurteil,  dafs  es  unwissenschaftlich  sei  über  moderne  Er- 
scheinungen zu  sprechen,  ist  weit  verbreitet,  und  seine  Anhänger  mögen 
sich  ja  für  ihre  Person  wirklich  aufser  Stande  fühlen  durch  ihre  Be- 
handlung den  schwer  fafsbaren  Stoff  würdig  zu  gestalten.     Nur  sollten 

*)  VorlesuQgen  gehalten  an  der  Universität  Bonn.     Zweite  Auflage.    Hamburg  und 
Leipzig,  Verlag  von  Leopold  Vofs,  1894.    Vü,  216  S.  8*. 


500  Besprechoagen. 


nicht  diese  Leute  uns  mafsgebend  sein,  sondern  auch  hier  der  Leit- 
spruch bleiben:  das  Was  bedenke,  mehr  bedenke  Wie.  „Es  kann", 
sagft  Litzmann  mit  Recht,  „gar  kein  Zweifel  darüber  bestehen,  dais 
jede  ernsthafte  Beschäftigung  mit  der  zeitgenössischen  Litteratur  ebenso 
fruchtbringend  und  förderlich  ist  für  unser  Verständnis  der  litterarischen 
Bewegungen  vergangener  Epochen,  wie  umgekehrt  das  Studium  der 
Vergangenheit  uns  oft  für  die  richtige  Würdigung  gewisser  aufkommen- 
der Moderichtungen  und  Krisen  die  Augen  öffnet".  Und  weil  die  ge- 
schichtliche Kenntnis  der  Gegenwart  Nutzen  bringen  kann  und  soll, 
darum  ist  es  durchaus  nicht  vornehm,  sondern  bequeme  Unterlassung 
eines  nobile  officium,  wenn  wir  nicht  suchen  die  geschichtliche  Kenntnis 
und  Schulung  für  die  zeitgenössische  Litteratur  nutzbringend  zu  machen. 
In  einer  jüngst  erschienenen  Gedicht-  und  Aphorismensammlung  steht 
zwar  der  Satz:  „Aus  der  Geschichte  lernen  wir,  dafs  die  Völker  nichts 
aus  ihr  lernen  mögen".  Allein  die  trübselige  Erfeihrung  entbindet  uns 
nicht  von  der  Pflicht,  ihre  Widerlegung  anzustreben. 

Der  Schwierigkeiten,  welche  einer  litterargeschichtUchen  Betrach- 
tung der  Gegenwart  entgegenstehen,  bin  ich  mir  mit  Litzmann  bewufst, 
der  seine  Ausführungen  bezeichnet  nur  als  den  Niederschlag  derjenigen 
Eindrücke,  die  er  „selbst,  als  ein  aufmerksamer  Beobachter  der  zeit- 
genössischen Litteratur  im  Laufe  der  Jahre  empfangen  habe.  Es  wird 
und  mufs  daher  manches  in  meinen  Ausfuhrungen  eine  subjektive 
Färbung  erhalten**.  Ich  sehe  eine  solche  stark  subjektive  Färbung 
vor  allem  in  dem  Bilde,  das  Litzmann  von  Wildenbruchs  Dramatik 
entwirft.  Ich  gehöre  keineswegs  zu  den  Wildenbruch  feindlich  ge- 
sinnten „politischen  und  ästhetischen  Parteifanatikern"  (S.  67),  kann 
mich  aber  beim  besten  Willen  nicht  davon  überzeugen,  dafs  Wilden- 
bruchs Auftreten  „eine  neue  Epoche  frischen  Aufschwungs  in  der 
Litteratur  nach  der  Stagnation  der  siebziger  Jahre"  bedeute  (S.  114). 
Litzmann  scheint  mir  die  vorangehende  Zeit  doch  stark  zu  unter- 
schätzen, wenn  er  die  Jahre  von  Goethes  Tod  bis  zum  Auftreten 
Wildenbruchs  mit  wenigen  Ausnahmen  als  das  „Labyrint  charakterlosen 
Epigonentums"  (S.  6)  bezeichnet.  Aber  man  wird  vielleicht  mir  am 
wenigsten  die  Berechtigung  zugestehen,  Litzmanns  Datierung  einer 
neuen  Epoche  mit  Wildenbruchs  Auftreten  anzugreifen,  da  ich  mich 
selbst  des  ungeheuren  Frevels  schuldig  gemacht  habe,  für  Richard 
Wagner  nicht  nur  einen  Platz  in  der  Litteraturgeschichte  in  Anspruch 
zu  nehmen,  wie  dies  ja  schon  vor  mir  Heinrich  Kurz  und  einige 
wenige  andere  getan  haben,  sondern  sogar  einen  Abschnitt  „von  Goethes 
Tod  bis  zu  den  Bayreuther  Festspielen"  zu  überschreiben.  Es  ist  ganz 
in  der  Ordnung,  dafs  man  ohne  jede  Beachtung  der  dafür  schon  früher*) 
von  mir  vorgetragenen  Gründe  und  offenkundiger  Tatsachen  mich  dafür 
als  Wagnerfanatiker  zu  denunzieren  suchte.  Dafs  jemand  aufser- 
halb  aller  Parteischablone  mit  eignen  Augen  die  Wirklichkeit  zu  sehen 
und  warmherzig  seine  Überzeugung  auszusprechen  sich  erlaubt,  wie 
dies  auch  Litzmann  in  seinem  Buche  getan   hat,    dünkt  eben  den  auf 

*)  Vgl.  Litterarische  Volkshefte  Nr.  8 :  «Was  kann  das  deutsche  Volk  von  Richard 
Wagner  lernen?"*     Berlin,  K.  Eckstein  Nachfolger  t888. 


Besprechungen.  601 


Parteifanatismus  eingeschworenen  Unfehlbarkeitsaposteln  ganz  undenk- 
bar. Dagegen  kommt  es  solchen  honorable  men  nichts  weniger  als  sauer 
an,  ihre  persönliche  Gehässigkeit  und  dreiste  Entstellung  als  Kritik  auszu- 
geben. Warum  sollte  das  jetzt  anders  geworden  sein,  da  doch,  so  lange 
Wagner  lebte,  selbst  solche  Kreise,  die  sonst  eigene  Prüfung  einer 
Sache  für  Voraussetzung  eines  wissenschaftlichen  Urteils  als  nicht  ent- 
behrlich achten,  ohne  jede  Kenntnis  von  Wagners  Absichten  ihm  das 
gerade  Gegenteil  von  dem  unterschoben,  was  in  den  zehn  Bänden  seiner 
Schriften  zu  lesen  steht!  Selbst  der  ehrlich  und  sachlich  urteilende 
Litzmann,  der  Wagners  befruchtende  Anregung  fiir  unser  gesamtes 
künstlerisches  Leben  fiir  unleugbar  erklärt  (S.  42),  scheint  Wagners 
Bestrebungen  nicht  eben  aus  besten  Quellen  zu  kennen,  wenn  er  vor 
dessen  „letzten  Zielen"  warnen  zu  müssen  glaubt.  Was  war  denn 
dieses  letzte  Ziel  Wagners?  Nicht  die  alleinige  Herrschaft  des  musi- 
kalischen Dramas,  an  die  nur  seine  Gegner  aber  niemals  er  selbst  ge- 
dacht hat,  sondern  die  Erhebung  des  von  allen  Künsten  unterstützten 
Dramas  zum  würdigsten  Ausdruckmittel  echt  deutscher  Kultur. 
Ob  ihm  das  nun  mit  seinen  Dramen,  bei  denen  ihm  die  Musik  nur 
Mittel  zum  Zweck  war,  in  einer  Weise  gelungen  ist,  welche  die  Bay- 
reuther Festspiele  zu  einem  weithinragenden  Marksteine  in  der  deutschen 
Litteratur-  und  Theatergeschichte  machen,  dafür  kann  das  Urteil  und 
die  Huldigung  des  unbefangeneren  Auslands  ein  entscheidendes  Zeugnis 
ablegen.  Wie  Wagner  daran  dachte  Wallenstein  und  Faust  neben  Mozart 
und  Weber  in  Bayreuth  zur  Aufführung  zu  bringen,  so  wäre  wohl 
auch  für  Neuschöpfungen  des  rezitierenden  Dramas,  wenn  sie  die 
deutsche  Eigenart  in  dichterischer  Gröfse  zum  Ausdruck  gebracht 
hätten,  in  Bayreuth  Platz  geworden  —  wenn  Wagners  weitgehende 
Pläne  bei  der  so  kunstsinnigen  und  trefflich  geleiteten  öffentlichen 
Meinung  überhaupt  Beachtung  gefunden  hätten. 

Mit  diesen  „letzten  Zielen"  scheint  mir  auch  Litzmann  nach  allen 
Bekenntnissen,  die  sein  Buch  enthält,  im  Grunde  durchaus  einverstanden. 
Er  findet  nur  eben  in  Wildenbruchs  Dichtungen  das  gewaltige,  aus 
der  Gegenwart  und  für  sie  geborne  nationale  Drama,  wo  ich  nur  edle 
Begeisterung,  schwungvolle  Frische  und  Schneidigkeit  aber  nicht  den 
grofsen  Dramatiker  entdecken  kann.  Und  noch  viel  weniger  kann 
ich  Litzmanns  vertrauensvolle  Haltung  Hauptmann  gegenüber  teüen. 
Ich  fühle  mich  in  meiner  völligen  Ablehnung  der  Hauptmannschen 
Werke  nur  bestärkt,  wenn  ich  sehe,  wie  sich  ein  Verehrer  Hauptmanns, 
wie  Paul  Mahn*)  bewundernd  abquält  und  schliefslich  doch  gezwungen 
ist,  mehr  Bedenken  als  Zustimmung  auszusprechen.  Für  mich  bleibt 
das  einzige  wirklich  bedeutende  Werk  der  neuesten  Schule,  dem  ich 
dauernden  Wert  zutraue,  Sudermanns  „Heimat".  Allein  mit  allen 
Widersprüchen  und  Zustimmungen  im  einzelnen  wird  man  Litzmanns 
treflflichem  und  nur  nach  Verdienst  erfolgreichem  Buche  nicht  ge- 
recht. Wenn  der  Leser  für  sein  Gefühl  und  nach  seiner  kritischen 
Überlegung  auffallende  Lücken    empfindet,    wie    z.  B.   das  schon  von 

*)  Gerhart  Hauptmann  und  der  moderne  Realismus.     Berlin,  Verlag  von  R.  Neu- 
meister.    1894.     68  S.     8*. 


602  Kurze  Anzagtn. 


Creizenach  gerügte  Übergehen  Anzengrubers,  so  haben  diese  süd- 
deutschen Volksstücke  auf  Litzmann  eben  nicht  die  entsprechende 
Wirkung  ausgeübt.  Und  Auffuhrungen  Anzengrubers,  wie  man  sie 
noch  Ende  der  siebziger  Jahre  in  Berlin  erdulden  mufste,  waren 
wirklich  nicht  geeignet,  Wert  und  Wesen  seiner  Werke  zum  Bewufst- 
sein  zu  bringen.  Litzmann  spricht  aber  in  diesen  Vorlesungen,  die 
man  als  Bekenntnisse  eines  in  Theater-  und  Litteraturgeschichte  wohl 
bewanderten  Dichterfreundes  bezeichnen  könnte,  nur  von  dem,  was 
auf  ihn  selbst  tiefere  Wirkung  ausgeübt  hat.  So  hat  er  sein  Buch 
mit  einer  Frische  und  Anschaulichkeit  ausstatten  können,  dafs  ihm 
weiteste  Leserkreise,  wie  auch  die  Fachgenossen,  wirklich  fördernde 
Anregung  danken.  Aus  der  lebendigen  Gegenwart  und  ihren  Ein- 
drücken entsprungen,  wird  das  Buch  noch  seinen  Zeugenwert  behalten, 
wenn  die  in  ihm  geschilderte  Bewegung  längst  geschichtliche  Ver- 
gangenheit geworden  und  dann  erst  für  die  kritisch  sichtende  und 
endgiltig  urteilende  Geschichte  in  einer  Weise  darstellbar  sein  wird, 
von  der  Creizenach  ein  so  mustergiltiges  Beispiel  für  die  ältere 
Periode  des  europäischen  Dramas  aufgestellt  hat. 

Breslau.  Max  Koch. 

»»» 


Kurze  Anzeigen. 


Die  vor  Jahren  begonnene  Publikation  der  ältesten  lateinisch>dänischen  (bezw. 
schwedischen)  Sprichwörtersammlung,  die  unter  dem  Namen  Peder  Laales  geht,  liegt 
nunmehr  vollständig  in  zwei  stattlichen  Bänden  unter  dem  Titel  ^Östnordiska  och 
latinska  medeltidsordspräk**  (Kopenhagen,  Samfiind  til  Udgivelse af  gammel'nordisk 
Litteratur)  vor;  die  Texte  sind  von  Carl  af  Petersens  und  Axel  Kock  herausge^ben, 
Kock  hat  außerdem  die  Einleitung  und  den  ganzen  zweiten  Band,  den  Kommentar 
enthaltend,  geliefert.  In  der  Einleitung  kommt  Kock  zu  dem  Resultate,  dafs  die  ursprüngliche 
Sammlung,  die  uns  in  zwei  Versionen,  einer  schwedischen  und  einer  dänischen  vorliegt 
(erstere  in  einer  Handschrift  des  15.  Jahrhunderts,  letztere  in  Drucken  von  1506,  1508 
und  15 15)  in  Dänemark  im  14.  Jahrhundert  entstanden  ist  und  wirklich  den  von  der 
Tradition  genannten  Peder  Laale  zum  Urheber  haben  dürfte.  Die  Texte  beider  Versionen 
sind  diplomatisch  wiedergegeben,  der  Kommentar  bringt  Worterklärungen,  Deutung^en, 
nordische  Parallelen  und  textkritische  Bemerkungen.  Text  wie  Kommentar  sind  mit 
mustergiltiger  Sorgfalt  gearbeitet,  und  das  wertvolle  Werk  kommt  nicht  blos  dem 
philologischen  Studium  zu  gute,  sondern  wird  auch  allen  Forschem  auf  dem  Gebiete 
der  Sprichwörterlitteratur  sehr  willkommen  sein,  da  es  die  älteren  schwer  zugänglichen 
Ausgaben  der  dänischen  Version  von  Nyerup  (i8a8)  und  der  schwedischen  Version  von 
Reuterdahl  (1840)  nicht  blofs  ersetzt,  sondern  auch  weit  überflügelt,  und  eine  so  alte  und 
reichhaltige  Quelle  der  Sprichwörterkunde  in  exakter  Textgestalt,  versehen  mit  allen 
wünschenswerten  Erläuterungen  und  Aufklärungen,  bequem  zugänglich  macht       —  k. 

Unter  Hinweis  auf  Erich  Petzets  Untersuchung  über  den  Einfluls  der  komischen 
Elemente  in  Alexander  Popes  Dichtung  auf  die  deutschen  Nachahmungen,  N.  F.  IV,  409  flf., 
handelt  R.  Maack  in  einem  Programm  „Ober  Popes  Einfluls  auf  die  Idylle  und  das 
Lehrgedicht  in  Deutschland*"  (Realschule  am  Eilbeckerwege,  Hamburg  1895).  Die 
Beispiele  fQr  den  Einflufs  des  Naturgef&hls  und  der  Naturschilderung  Popes  entnimmt 
er  den  Werken  von  Brockes,  Kleist  und  Dusch.  Der  Lehrdichter  Pope  wirkte  durch 
seinen  «Essay  on  Man"*  auf  Brockes,  Haller  („Ursprung  des  Übels**),  Kleist,  Zemiu 
(„der  Mensch  in  Absicht  auf  die  Selbsterkenntnis^'},  Vz  („Theodicee**),  Dusch  („die 
Wissenschaften**),  Lessing  („das  Muster  der  Ehen**,  „die  Reb'gion**,  „über  die  menschliche 
Glückseligkcsit*«),  Wieland,  Schiller  („die  KünsUer*'). 


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